Es war einer dieser Momente, in denen das Schicksal unter Beweis stellt, dass Weinen dieselbe Wirkung wie Lachen hat. Annas hübsches Gesicht sah aufgequollen aus. Sie saß mit überkreuzten Beinen auf ihrem Bett und hielt den Blick gesenkt.
„Sag’ es mir!“ Er sah sie eindringlich und flehend an.
„Ich kann nicht.“
„Du vertraust mir nicht. Wieso?“
Sie schloss die Augen und verkrampfte sich noch mehr. „Doch. Ich vertraue dir.“
„Dann sag’ mir endlich, was los ist!“
Christian beugte sich zu ihr herunter. Anna saß immer noch auf ihrem Bett und wagte es kaum, ihn anzusehen.
„Bitte“, sagte er und griff nach ihrer Hand. Als er sie berührte, zuckte sie zusammen.
„Es geht nicht.“
„Wieso? Verdammt noch mal, Anna. Ich verstehe dich nicht.“ Er drückte zärtlich ihre Hand und streichelte sie. Bei jeder seiner Bewegungen zuckte sie erneut zusammen.
„Sag’ mir, was ich tun soll“, bat er. „Soll ich gehen?“
Als er ihre Hand losließ begann sie heftig zu schluchzen.
Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, lies es dann aber und biss die Zähne zusammen. Verzweifelt stand er auf und ging mit hängendem Kopf zur Tür. Seine Unterlippe schmerzte von dem Druck, den seine Zähne auf sie ausübten. Er zögerte und war im Begriff sich noch einmal zu ihr umzudrehen.
Wieso tat sie ihm das an? Warum redete sie nicht mit ihm?
„Chris“, brachte sie mühsam hervor. Immer noch liefen ihr Tränen übers Gesicht. Er schüttelte den Kopf und umklammerte den Türgriff. Er musste an die frische Luft. Sie waren beide vollkommen übermüdet und sein Herz fühlte sich an als ob Milliarden kleiner Insekten darauf einstächen, um es auszusaugen und aufzufressen. Und er hatte das Gefühl dem nur entgehen zu können, in dem er dieses Zimmer und diese Wohnung verließ und draußen die klare Nachtluft einatmete.
„Auf dem Schreibtisch“, flüsterte sie mit müder, zitternder Stimme. Er kämpfte gegen den immer stärker werdenden Wunsch an, die Treppe hinunterzurennen und wandte sich ihr wieder zu.
Sie warf einen kurzen, aber vielsagenden Blick in Richtung Schreibtisch und verbarg ihr Gesicht gleich darauf in den Händen. Unsicher ging er zum Schreibtisch hinüber und nahm das weiße, an ihn gerichtete Couvert an sich.
„Gute Nacht“, sagte er und unterdrückte das Bedürfnis, sie in den Arm zu nehmen, bevor er ging.
Die Angst, sie könne die Umarmung wie am Abend zuvor nicht erwidern, hielt ihn zurück. Noch nie zuvor hatte er sich so hilflos gefühlt wie an jenem Abend, als er ohne anzuklopfen in ihr Zimmer gekommen war und sie mit einem Messer in der Hand und einem von Blut überströmten Handgelenk schluchzend da gesessen hatte. Er hatte sie in den Arm genommen und nicht mehr losgelassen, bis der Arzt kam. Dieser Anblick hatte ihn seitdem keine Sekunde lang losgelassen.
Und nun war ihm klar, dass es ein Fehler war, sie jetzt alleine zu lassen, aber er hielt es nicht länger aus, sie so zu sehen. Er ging auf den Flur hinaus, schloss die Tür hinter sich und stolperte auf der Treppe beinahe.
Als er unten war und die Haustüre hinter ihm ins Schloss fiel, konnte er die Tränen nicht mehr zurückhalten.
Der Mond stand hell am Horizont und die Nacht war sternenklar. Christian hielt Annas Brief in seiner rechten Hand und atmete ungleichmäßig ein und aus.
Seine Lungen füllten sich mit der milden Luft dieser Sommernacht und der Mond verschwamm vor seinen tränenden Augen.
Dann lief er los. Er lief die Straße entlang, vorbei an den vom Mond hell erleuchteten Neubauten und den Fassaden alter, verlassener Gebäude, in die im Laufe der Jahre der Schwamm eingezogen war und deren Fensterscheiben zertrümmert waren.
Seine dumpfen Schritte hallten über den grauen Asphalt und kurz darauf lief er unter dem Tor des Stadtparks hindurch, in dem die Wipfel der Bäume das Licht des Mondes unaufhaltsam zu verschlingen schienen. Allmählich verlangsamte er seine Schritte und blieb vor einer Parkbank stehen.
Er setzte sich hin und stützte seinen rechten Ellenbogen auf sein Knie. Annas Brief lag ungeöffnet vor ihm. Er hob den Brief auf und strich langsam mit dem Zeigefinger der linken Hand über die sorgfältig geschriebenen Buchstaben in der Mitte des Briefes.
„Für Christian“, stand da in verzierter, verschnörkelter Schrift. Er sah sie vor sich mit ihren wunderschönen blauen Augen und ihrem traurigen Blick. Die Hand, in der er den Umschlag hielt, verkrampfte sich.
Ohne es zu merken biss er immer wieder wie mechanisch auf seine Unterlippe. Er lehnte sich auf der Bank zurück und schloss die Augen. Er zwang sich dazu, ruhig ein und aus zu atmen und zählte langsam bis dreißig. Dann öffnete er die Augen und nahm das Couvert in beide Hände. Erst jetzt bemerkt er, dass es gar nicht zugeklebt war und das Briefpapier lose in dem Umschlag steckte.
Was würde er daraus erfahren?
Und wieso konnte Anna es ihm nicht genauso gut ins Gesicht sagen? Was war es, das sie davon abhielt, ihm wirklich nah zu sein? Was verdammt noch mal war der Grund dafür, dass er jetzt hier saß, ohne sie, anstatt mit ihr gemeinsam?
Seine Finger zitterten leicht, als er das Papier aus dem Couvert holte und vorsichtig auffaltete, als könne sich darin eine explosive Botschaft befinden.
Das Briefpapier war weiß und ohne jede Verzierung.
„Ein Unfall…? Was ist ein Unfall?
Etwas Schlimmes, das passiert ohne dass man Einfluss darauf hat?
Ein Ereignis, das plötzlich über uns kommt – unerwartet – und uns verletzt?
Etwas, das man so nicht wollte, auch wenn man vielleicht selbst dafür verantwortlich ist, oder auch nicht?
Der Sturz von einer Leiter oder das Abkommen eines Autos von der Fahrbahn? Eines Autos, das in der Dunkelheit der Nacht mit überhöhter Geschwindigkeit in einen Baum rast unter dem Tannenzapfen liegen, denen keiner der Autoinsassen Beachtung schenkt?
Oder ein zwischenmenschlicher Konflikt, der sich verselbständigt und die Beteiligten ohne Rücksicht in unendliche Tiefen stürzt?
Etwas, das die Kontrolle übernimmt – von einem Moment zum anderen – und von jetzt auf gleich über Leben und Tod, Angst oder Vertrauen entscheidet, ohne dass wir etwas dagegen tun können?
Ist es ein Unfall, wenn ein kleines Mädchen eines Abends in vertrauter Umgebung des Spielplatzes von einem älteren Freund angefasst wird? Und aufgrund dessen in den folgenden Jahren eine panische Angst vor Männern entwickelt?
Oder muss dieses Mädchen erst von dem Baum fallen, unter dem sich die Szene abspielt, um es als Unfall bezeichnen zu können? Von dem Baum, unter dem sie ihre Blicke auf Tannenzapfen richtete um ihm nicht in die Augen schauen zu müssen?
Was ist das, ein Unfall?
Kann ein Unfall uns das Herz brechen? Oder nur einen klinisch nachweisbaren Herzfehler verursachen?
Ist es ein Unfall, wenn jede Beziehung, die man führt, in die Brüche geht?
Oder reicht es, nie eine Beziehung gehabt zu haben, weil man sich immer in diejenigen verliebt, die unerreichbar für einen sind?
Reicht es, immer nur von Liebe zu träumen, sie aber nie in die Tat umsetzen, weil man nicht vergessen kann, was einem viele Jahre zuvor auf einem Spielplatz passiert ist? Dass einen selbst beim Anblick eines Tannenzapfens ein ungutes Gefühl beschleicht und an jenen Abend auf dem Spielplatz erinnert? Dem Spielplatz, den man seit diesem Abend gemieden und auf dem man sich nie wieder zu spielen getraut hat? Selbst wenn die beste Freundin es wollte? Und man nichts dagegen tun kann, dass es einem das Herz zerreißt? Ist das ein Unfall?“
In seinem Kopf machte sich eine unheimliche Leere breit. Alles drehte sich, als er die Zeilen erneut durchlas. Hatte Anna über sich geschrieben? Oder…? Konnte es überhaupt eine andere Erklärung geben? Und wenn nicht, was sollte er dann tun?
Er starrte auf den dunklen Waldboden und schüttelte sich vor der Kälte, die an ihm hoch kroch. Die Tannenzapfen, die überall um ihn herum verstreut lagen, zogen seine Blicke auf sich und er kniff die Augen zusammen, um ihnen zu entkommen. Der plötzliche Ruf einer Eule lies ihn zusammenzucken. Wie konnte er hier sitzen? War es möglich, dass er hier im Stadtpark saß, einfach nur dasaß, während Anna ihn dringender brauchte denn je? Wieso war er nicht bei ihr? Jetzt, wo er die Erklärung für ihr abweisendes Verhalten in den Händen hielt und er es kaum ertragen konnte, ihr Geheimnis zu kennen?
Er richtete den Blick zum Himmel und stand auf. Fast automatisch lief er den Weg zu Annas Wohnung. Was sollte er ihr sagen? Wie sollte er ihr gegenübertreten? Er wusste es nicht. Er wusste nur, dass er bei ihr sein musste. Und dass er sie nie wieder alleine lassen würde. Nie mehr.
Tag der Veröffentlichung: 22.08.2009
Alle Rechte vorbehalten