Er saß aufrecht in seinem Bett und umklammerte einen Zipfel seiner Bettdecke, als könne er sich damit schützen. Allmählich gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit und er kniff sie zusammen, als er die Nachttischlampe anknipste und von ihrem Licht geblendet wurde. Er war immer noch schweißgebadet und sah Annas Gesicht vor sich. Ihren vorwurfsvollen Blick, der ihn durchbohrte und nicht mehr loszulassen schien. Sie hatte sich so verändert. Die Härchen, die sich auf seinem Körper wie Warnsignale aufgestellt hatten, legten sich langsam wieder, als er sich die Worte seines Therapeuten ins Gedächtnis rief.
„Das darf sein“, hatte er gesagt, „Sie müssen sich Zeit geben.“ Zeit. Christopher biss mechanisch auf seine Unterlippe.
Waren acht Jahre nicht lange genug? Und wie sollte er sich verhalten? Er schloss die Augen, um Annas verängstigten Blicken zu entgehen, aber sie brannten sich wie Kerzenlicht im Dunkeln in sein Gedächtnis ein. Obwohl es eine laue Sommernacht war und sich das Quecksilber im Thermometer tapfer bei zehn Grad plus hielt, trug er warme Wollsocken. Die Gedanken in seinem Kopf überschlugen sich und er versuchte, sie wie lästige Fliegen zu verscheuchen. Aber er konnte nicht mehr einschlafen.
Müde raffte er sich auf und griff nach dem Collegeblock, der zwischen ein paar Büchern auf dem Boden vor seinem Bett lag. Da war er. Der Text, den er noch vor wenigen Stunden geschrieben hatte, um ihn bei ihr in den Briefkasten zu werfen. Er zerknüllte das karierte DinA4 Blatt und warf es mit dem Versuch den Mülleimer zu treffen durch den Raum. Aber statt fein säuberlich für immer in diesem Mülleimer zu verschwinden, landete es einige Zentimeter daneben auf dem Teppich, um dort liegen zu bleiben. Was hatte er auch erwartet? Natürlich hatte er nicht getroffen. Und natürlich lag das zerknitterte Blatt direkt in seinem Blickfeld. Er versuchte nicht hinzusehen, aber immer wieder wanderte sein Blick automatisch in seine Richtung, um daran kleben zu bleiben wie ein ausgelutschter Kaugummi, in den man trat, und der sich an einen heftete und bei jedem Schritt hartnäckig daran erinnerte, dass etwas nicht stimmte.
Sein Fuß wippte in gleichmäßigem Rhythmus auf und ab, ohne dass er es merkte.
Wieso konnte er dieses Kapitel nicht einfach zuschlagen wie eines seiner Lehrbücher nach einer Prüfung? Doch diese Prüfung schien nie ein Ende zu nehmen. Es musste eine Lösung geben, verdammt! Was wenn er wegging? Er könnte die Universität wechseln und diese Sache ein für allemal hinter sich bringen. Er feuerte ein weiteres Blatt in Richtung Mülleimer. Irgendwann musste er doch einmal treffen! Er hatte schon so oft vorgehabt, den Mülleimer direkt neben seinen Schreibtisch zu stellen, aber weil er sich zum Schreiben doch jedes Mal in eine andere Ecke des Zimmers hockte, hatte er beschlossen, ihn einfach stehenzulassen wo er war. Wie sollte es werden, wenn sie jetzt auch auf seine Uni ging? Warum hatte sie sich nicht irgendeine andere Universität ausgesucht, um dort zu studieren?
Er erinnerte sich daran, wie sie ihm einen ihrer vielen Teddybären geschenkt hatte, als er sie einmal vom Kindergarten abgeholt hatte. Damals, als er für sie noch der nette Nachbarsjunge von nebenan gewesen war. Und er? Nachdem was er ihr angetan hatte konnte er nicht einfach so weiterstudieren und ihr jeden Tag begegnen. Er hatte sie fünf Jahre lang nicht gesehen. „Nur wegen mir ist sie damals nach England gegangen. Kein Wunder, dass sie es nicht mehr ertragen hat, mich zu sehen“, dachte er. „Sie muss mich so sehr gehasst haben. Es wäre nur fair, wenn jetzt ich gehen würde.“
Er streckte sich und knipste das Licht seiner Nachttischlampe aus. Unruhig streckte er sich auf seinem Bett aus. Die letzten Stunden dieser Nacht drehte er sich mehr von einer Seite auf die andere als zu schlafen. Immer wenn er kurz einnickte, wachte er wenige Minuten später wieder auf und wusste nicht, wie er eine Antwort auf all seine Fragen finden sollte. Als sein Wecker klingelte, schreckte er hoch und stolperte über die vielen Bücher, die immer noch vor seinem Bett lagen und darauf warteten, von ihm in seinen Rucksack gepackt und zur Universität getragen zu werden. Er schlüpfte in die schwarze Jeans, die wie immer über seinem Schreibtischstuhl hing und zog das erstbeste T-Shirt über, das er fand. Ohne darüber nachzudenken, was er tat, ging er in den Flur und ließ die Wohnungstür hinter sich ins Schloss fallen. Er drehte den Wohnungsschlüssel intuitiv zweimal um und übersprang auf der alten Treppe wie immer jede zweite Stufe. Jeder, der an diesem Morgen gesehen hätte, wie er in zwei verschieden farbigen Socken und seinen ausgetretenen Sandalen auf die Straße hinaustrat, hätte sich gewundert. Er achtete nicht auf die Leute, die vorüber gingen. Seine Stirn sah aus, wie der Entwurf eines Graphikstundenten im ersten Semester, der ein paar tausend Striche wahllos auf ein Blatt Papier geworfen hatte. Sie schienen sich wie verängstige kleine Kinder auf einem Spielplatz zu tummelten, die man bei Gewitter alleine gelassen hatte und die vollkommen orientierungslos waren. Christophers Füße verselbstständigten sich auf dem Weg zur Universität, den er auf halber Strecke bei einer Ampel abbrach und in eine völlig andere Richtung weiterlief. Noch Jahre später sah er ihr Gesicht vor sich wie sie an der Ampel gewartet hatte. Sie sah ihn nicht einmal an, als er sie grüßen wollte und doch nur stumm an ihr vorbei lief, um nicht neben ihr den Weg zur Uni gehen zu müssen. Er zwang sich dazu ruhig und gleichmäßig zu atmen und an ihr vorüberzugehen, als kenne er sie nicht. Seine Füße liefen geradeaus weiter, während er gegen den immer stärker werdenden Druck ankämpfte umzudrehen und ihr nachzulaufen. Seine Hände zitterten leicht und er verbarg sie tief in seinen Hosentaschen. „Lauf weiter“, sagte er zu sich selbst. „Nur nicht stehen bleiben.“
Er musste zur Seite sehen und möglichst schnell einen möglichst großen Abstand zu ihr bekommen. Aber sie schien ihn wie einen Magneten anzuziehen und er taumelte leicht als er sich umdrehte und seine Schritte beschleunigte, um noch bei Grün über die Ampel zu kommen. Was tat er hier? Er schüttelte den Kopf und verlangsamte sein Tempo wieder, als er nur noch wenige Schritte von ihr entfernt war. Hatte sie ihn bemerkt? War es überhaupt möglich, dass sie ihn nicht bemerkt hatte? Was wenn sie geradewegs in den Lehrsaal gehen würde, in den er wollte? Und was wenn nicht? Sollte er ihr dann weiter folgen? Er könnte ihr nachlaufen, sich wie zufällig in ihre Nähe setzen und ihr zeigen, dass er immer noch Macht über sie hatte. Aber wollte er das überhaupt? Hatte er sich nicht noch vor wenigen Minuten gewünscht, für sie einfach wieder irgendjemand zu sein? Er wusste, dass es sinnlos war, sich darüber Gedanken zu machen. Und da war die Uni auch schon. Kurz nach ihr betrat er gemeinsam mit einigen weiteren Studenten die Stufen zur Universität. Und jetzt? Er blieb so abrupt auf dem Flur stehen, dass ein anderer Student fast mit ihm zusammengestoßen wäre, und tat so, als interessiere er sich für die Gemälde abstrakter Kunst, die zu beiden Seiten des Ganges an den Wänden hingen und ihm genauso skurril vorkamen wie seine momentane Situation. Er würde niemals mehr einen Lehrsaal mit dem Gefühl betreten können, einer der unzähligen anderen Studenten zu sein, wenn er wusste, dass sie sich in genau diesem Saal aufhielt. Was, wenn er mit ihr redete? Er könnte versuchen, es zu erklären. Nein. Er sah zur Decke hoch und schüttelte den Kopf.
„Reden. Was für ein Unsinn“, dachte er. Und was hätte er ihr schon groß sagen können? Dass es ihm leid tat? Sie würde ihn nur verächtlich anblicken. Er würde das nicht ertragen. Und sie? Wie es ihr wohl dabei gehen würde…? Nein! Er wollte diesen Gedanken nicht zu Ende denken, sich nicht vorstellen, was sie dachte und fühlte. Und in diesem Moment drehte sie sich um. Sie war stehen geblieben, suchend und irritiert. Als sie ihn sah schnappte sie kaum merklich nach Luft. Unsicher sah er zur Seite. Sie hatte ihn sofort erkannt. Wie konnte er ihr in die Augen sehen? Sie hatte sich keinen Zentimeter mehr von der Stelle gerührt. Er glaubte zu wissen, was sie über ihn dachte. Er brauchte sie nur sekundenlang anzusehen und ihre Blicke verrieten es ihm. Blicke, mit denen sie ihn mühelos in seine Einzelteile hätte zerlegen können. Wie spitze Nadeln bohrten sie sich in sein Inneres und wühlten alles auf, was in den letzten Jahren unter einer dicken Schutzschicht geschlummert hatte. Er nahm all seinen Mut zusammen, um die Unsicherheit zu überspielen, und sah ihr fest in die Augen. Als sie dieser Blick traf, zuckte sie zusammen und wich einen Schritt zurück. Da war sie wieder.
Die Angst. Sie schlich sich in ihr Herz und drohte, die alten Eisenketten, die sich darum gelegt hatten, noch enger zu ziehen. Sie wünschte sich weg. Weg aus diesem Flur und dieser Universität. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, hierher zu kommen? Ihr hätte doch klar sein müssen, dass sie ihm begegnen würde. Wie hatte sie nur glauben können, er wäre ihr inzwischen egal? Automatisch wich sie noch einen Schritt zurück und sah ihn misstrauisch aus den Augenwinkeln heraus an. Erst jetzt wurde ihm wieder bewusst, wie sehr sie in den letzten Jahren unter all dem gelitten haben musste. Unter diesem einen Fehler, den er nicht mehr rückgängig machen konnte, so sehr er es sich auch wünschte. Darunter, dass er ihr damals näher gekommen war, als sie wollte.
Würde sie ihm das jemals verzeihen? Würde sie? Er wusste es nicht. Aber er wusste, dass sie es genauso wenig vergessen hatte wie er. Wie auch? Aber es half nichts, darüber nachzudenken und alles neu aufzuwühlen. Oder? War das nicht vielleicht sogar die einzige Möglichkeit, damit abzuschließen?
Er sah sie an. Sie stand da und war vollkommen überfordert. Konnte er ihr helfen? Er sah an sich herunter. Erst jetzt bemerkte er, dass er zwei ungleiche Socken angezogen hatte. Und auch sie schien es gemerkt zu haben, denn auf ihrem Gesicht tauchte ein verunsichertes, zaghaftes Lächeln auf. Vielleicht konnte er ja doch noch wieder etwas gut machen. „Es tut mir leid“, sagte er aufrichtig und versuchte, ihr nicht in die Augen zu sehen. „Ich… ich geh dann mal.“
Langsam drehte er sich um und ging Richtung Tür. Er hatte hier nichts mehr zu suchen. „Mir auch“, hörte er sie sagen. „Mir auch.“
Tag der Veröffentlichung: 26.07.2009
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