Cover

M

an braucht nicht viele Worte, um jemanden zu beschreiben, der nicht beschrieben werden kann. Annas Tisch war voll mit zerknüllten DinA4 Blättern, die im gleichen Maße zunahmen wie ihre gescheiterten Versuche, ihn zu malen. Ja, ihn. Ihn, den sie erst ein einziges Mal gesehen hatte. Früher hatte sie nie an die Liebe auf den ersten Blick geglaubt, aber jetzt? Nicht, dass da auch nur annähernd etwas gewesen wäre oder sich gar entwickeln könnte; sie konnte einfach nicht anders als sich vorzustellen, wie es wäre, wenn…
Anna seufzte und legte den Bleistift, der mittlerweile stumpf geworden war, beiseite. Es war absurd, überhaupt an ihn zu denken. Selbst wenn sie im nächsten Schuljahr in seine Klasse kommen würde, was würde das schon ändern? Sie kaute auf ihrer Unterlippe herum. Selbst wenn sie sich noch so sehr wünschte, dass er sie auch mögen könnte, würde das niemals Wirklichkeit werden.
Es war vorprogrammiert, dass sie von ihm träumen würde. Und dieser Traum würde für alle Zeiten ein Traum bleiben. Aber wieso eigentlich? War es denn nicht möglich, dass sich auch einmal einer in sie verliebte? Oder war sie etwa tatsächlich zu ewigem Liebeskummer verdammt? Obwohl all ihre bisherigen Erfahrungen darauf hindeuteten, wollte und konnte sie das nicht glauben. Aber er

? Wieso sollte ausgerechnet er

derjenige sein, der als erster ihre Gefühle erwiderte? Wo er doch einige Ligen über ihr spielte und mit Sicherheit nicht im Traum daran dachte, sich in eine wie sie zu verlieben. Eine wie sie, wie das klang. Und außerdem suchte man sich ja schließlich nicht aus, in wen man sich verliebte. Sonst hätte sie es vermutlich einfach ganz sein gelassen, um das Liebeskummer – Risiko in Zukunft von vornherein auszuschließen. Obwohl auch das wieder ganz und gar nicht zu ihr gepasst hätte. Im Grunde genommen war sie schließlich die so ziemlich romantischste Person, die man sich vorstellen konnte. Aber was brachte es einem schon, von der großen Liebe zu träumen, wenn man ungefähr 20 Kilo zu viel auf den Rippen hatte und so ängstlich war wie ein Elefant, der sich in einen Raum voller Mäuse verirrt hatte. Und obwohl sie sich immer wieder einzureden versuchte, dass nicht alle Männer nur auf das Aussehen einer Frau achteten, fiel es ihr schwer, zu glauben, dass genau dies nicht doch eine entscheidende Rolle spielte.
Wie auch immer. Sie ließ die zerknitterten Blätter in ihren Mülleimer fallen und kramte den alten Jahresbericht aus ihrer Schreibtischschublade hervor. Sie war noch nie in seiner Klasse gewesen. Leider. Aber wahrscheinlich war es besser so. Andernfalls hätte sie doch nur die ganze Zeit an ihn gedacht und sich schwer damit getan, sich auf den Unterricht zu konzentrieren. Sie kaute auf ihrer Unterlippe. Und so? Gut. Sie war nicht in seiner Klasse. Aber einfacher machte es das auch nicht gerade. Als ob mich das davon abhalten würde an ihn zu denken, dachte sie und schüttelte den Kopf. Ihr Spanischbuch lag aufgeschlagen vor ihr und die Seiten warteten begierig darauf, von ihr begutachtet zu werden. Sie stützte ihren Ellenbogen auf dem Schreibtisch ab und legte ihr Kinn in die halbgeöffnete Faust ihrer rechten Hand. Kein Wunder, dass sie bei dieser Hitze nicht lernen konnte. Das Quecksilber im Thermometer war mittlerweile bei 32 Grad angelangt und sie kam sich so vor wie ein liebeskranker Eisbär, der, anstatt gemütlich auf einer Eisscholle vor sich hinzuschwimmen, irgendwo in der Sahara kurz vorm Austrocknen war. Wie schön wäre es jetzt im Freibad die neue Liegematte zu testen, die sie letzte Woche zu ihrem 22. Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Vielleicht würde sie ihn sogar treffen, wenn sie jetzt einfach doch noch Schwimmen gehen würde. Sie könnte ihr Buch mitnehmen und sich die Grammatikübungen im Schwimmbad anschauen.
Anna musste grinsen. Wahrscheinlich würde sie die Bücherseiten dann wirklich nur anschauen

und bis zum Abend keine einzige Übung auch nur annähernd richtig gelöst haben. Im Schwimmbad lernen? Sie? Da hätte sie genauso gut versuchen können, den Schönheitswettbewerb in irgendeiner dieser Modezeitschriften gewinnen zu können, die sich im Zimmer ihrer Schwester stapelten. Na gut. Wenn sie es sich recht überlegte, hätte sie für diesen Vergleich wohl eher an einem Schlankheitswettbewerb teilnehmen müssen. Schließlich war sie nicht hässlich, sondern hatte einfach nur ein paar Kilo zu viel, die sie einfach nicht loswurde. Sie schlug den Jahresbericht auf und blätterte suchend darin herum. Da war es. Das Foto. Er war nur ganz klein darauf unter all den Schülern. Aber wenigstens war er darauf. Das ist besser als gar kein Foto von ihm zu haben, dachte sie. Sie hatte jetzt nur noch dieses eine, nachdem sie das etwas größere, das sie aus einem Prospekt ihrer Schule ausgeschnitten hatte, Dana geschickt hatte, die sie im vergangenen Jahr bei ihrem Urlaub in Spanien kennengelernt hatte und die seitdem ihre beste Freundin war. Wo war bloß ihre Schere schon wieder? Wieso musste dieses dumme Ding immer dann verschwinden, wenn sie es brauchte? Natürlich wusste sie, dass sie selbst daran schuld war, dass sie sie immer erst fünf Minuten suchen musste. Sie hatte sich schon so oft vorgenommen, Ordnung auf ihrem Schreibtisch zu halten, aber aus ihr unbegreiflichen Gründen, schien das Chaos durch all ihre guten Vorsätze nur noch mehr zuzunehmen. Als sie ihre Schere endlich unter einem Stapel Stifte gefunden hatte, den sie wieder einmal nicht in ihr Mäppchen zurückgeräumt hatte, fing sie an, das winzige Bild vorsichtig herauszuschneiden. Sie konnte kaum glauben, was sie da tat. Sorgsam legte sie es beiseite und nahm stattdessen das Legomännchen, das sie nur wenige Stunden zuvor so umständlich aus einer eingestaubten Kiste im Keller herausgekramt hatte, in die Hände. Liebevoll hielt sie das Gesicht des jungen Mannes vor das Gesicht des Legomännchens und klebte es mit einem dünnen Streifen Klebeband fest. Ja. So würde es gehen. So konnte sie ihn den ganzen Sommer lang ansehen, ohne ihm direkt gegenüberzustehen. Würde sie in seine Klasse kommen? Sie war jetzt schon aufgeregt, obwohl die Sommerferien gerade erst angefangen hatten und es noch gut sechs Wochen dauern würde, bis die Schule wieder losging und sie es endlich erfahren würde. Falls wirklich musste sie unbedingt ihr Spanisch aufbessern, um vor ihm zu glänzen. Sie kicherte in sich hinein. Vielleicht würden sie dann irgendwann zusammen in Spanien am Stand liegen und den warmen Sonnenschein genießen, während sie gemeinsam aufs Meer blickten. Sie würden stundenlang Spanisch reden und sich zwischendurch auch noch leidenschaftlich küssen. Er war letzte Woche schon so süß gewesen, als er ihr sein Spanischbuch ausgeliehen hatte. Und er hatte sie zum Lachen gebracht. Ihre Mundwinkel verzogen sich nach oben und schienen für die nächsten Wochen dort zu bleiben. Es musste toll sein, immer im Spanischunterricht bei ihm zu sein. Er könnte ihr Nachhilfe geben. Wenn er es nicht schaffen würde, ihr Spanisch beizubringen, wer dann? Sie hielt das kleine Legomännchen liebevoll in ihrer Hand. Früher hatte sie es immer für ein Klischee gehalten, dass sich Schülerinnen in ihre Lehrer verliebten. Aber nun wusste sie es besser. Er war der absolut coolste Lehrer, dem sie je begegnet war. Und er war Spanier! Sie wusste, dass sie den Rest des Sommers über an nichts anderes denken würde. "Vamos a la playa", lachte sie laut auf. Entschlossen packte sie ihr Spanischbuch und ging nach draußen. Vielleicht war er ja wirklich im Schwimmbad? Und wenn nicht würde sie einfach von Spanien träumen. Sie war sich sicher: Ihr Spanisch konnte davon nur profitieren....



E

s gibt Momente im Leben, an die man sich gerne erinnert und solche, die man am liebsten in eine Kiste sperren und auf dem Grund des Meeres versinken würde. Was ich an diesem Tag erlebte, gehörte definitiv zu ersteren.
Zum einen war ich endlich einen Schritt weiter. Was im Grunde nur gerecht war, wenn man bedachte, dass ich in den vergangen Wochen eher kläglich versagt hatte, als vorwärts zu kommen. Aber jetzt war ich hier und es gab kein Zurück mehr. Ich konnte immer noch nicht glauben, dass Gott meine Bitte tatsächlich erhört hatte und lachte zufrieden in mich hinein. Wieso ich so glücklich war?
Ich hatte ihn endlich wieder gesehen. Ich schloss die Augen und sah ihn wieder vor mir. Ohne es zu merken, grinste ich vor mich hin. Kein Wunder, dass mich Sarah fast zu Tode erschreckte, als sie plötzlich neben mir stand und mir auf die Schulter tippte.
„Hey“, sagte sie und setzte sich neben mich. „Warum bist du so gut gelaunt.“
Ich verkniff mir ein Lachen und grinste still. Wie sollte ich ihr erklären, was gerade in mir vorging? Ich konnte es ja selbst nicht glauben. Es war einfach vollkommen absurd und gleichzeitig war mir von Anfang an klar gewesen, dass es so kommen würde.
Und obwohl ich wusste, dass es definitiv das Letzte war, das ich im Moment gebrauchen konnte, fühlte es sich gut an. Noch.
„Ich freue mich auf Spanisch“, erklärte ich Sarah. Ich konnte ihr unmöglich mehr erzählen, zumindest im Moment. Wahrscheinlich würde sie mich auslachen und mir sagen, dass ich jetzt total spinnen würde. Und vermutlich hätte sie damit sogar recht. Aber ich konnte einfach nicht anders. Ich meine, hast du schon einmal ernsthaft versucht, dich gegen deine Gefühle zu wehren und damit Erfolg gehabt? Mal ehrlich.
Und außerdem: War es denn zu viel verlangt, einmal in dieser Hinsicht Glück zu haben? Ein einziges Mal? Ich war oft genug unglücklich verliebt gewesen, um zu wissen, dass ich mich kopfüber in mein Unglück stürzte. Ich war nun mal keine Schönheit und noch dazu das schüchternste Mädchen, das man sich vorstellen konnte. Und doch.
Aber jetzt musste ich es erst einmal schaffen, das neue Klassenzimmer zu finden. Ohne Sarah und die anderen aus meiner Klasse. Ich versuchte ruhig zu atmen, als ich Sarah umarmte und die Treppe in den dritten Stock hoch lief, um meine neue Klasse zu suchen. Raum 303. In diesem Moment wünschte ich mir, doch lieber Technik zu wählen und somit in meiner alten Spanischklasse bleiben zu können. Aber Technik?
Ich konnte mich nicht mit dem Gedanken anfreunden, Technik als Hauptfach zu haben. Um ehrlich zu sein, verursachte mir dieser Gedanken eher Bauchschmerzen als mich aufzubauen. Und wenn ich in Wirtschaft bleiben wollte, würde ich wohl oder übel die Klasse wechseln müssen. Zumindest was Spanisch anging. In allen anderen Fächern würde ich bei Sarah und den anderen bleiben können. Aber jetzt musste ich mich zunächst der Herausforderung stellen, in die neue Klasse zu gehen, anstatt mich heimlich still und leise zu verdrücken. Und außerdem war da ja noch er.
Ich dachte daran, wie enttäuscht ich gewesen war, als ich erfuhr, dass ich nicht in seine Klasse kommen würde. Ich hatte es mir so sehr gewünscht und die meiste Zeit der Sommerferien damit verbracht, mir vorzustellen, wie es wohl werden würde. Und dann? Dann war alles anders gekommen und ich hätte mich am liebsten in einer Ecke meines Zimmers verkrochen und auf bessere Zeiten gehofft.
Und dann, ganz plötzlich, hatte Gott meine Bitte doch noch erhört. Und da war ich. Die Tür stand offen und ich versuchte, möglichst normal zu wirken, als ich den Klassenraum betrat. Normal. Wie ist man denn bitte, wenn man sich möglichst normal verhält? Ich atmete ruhig aus und entspannte mich, als ich merkte, dass er noch nicht da war. Zwei Mädels, die in der vorletzten Reihe saßen grüßten mich freundlich. „Kann ich mich zu euch setzen?“, fragte ich und fing an, mich mit ihnen zu unterhalten.
Dann kam er herein. Am liebsten hätte ich mich unter meinem Tisch versteckt und den Rest der Stunde dort verharrt. Ich war so nervös, dass ich das Gefühl hatte, jeden Moment vor Anspannung zu explodieren. Meine Finger verschränkten sich ineinander und ich blätterte beschäftigt in meinem Spanischbuch.
„Eine neue Schülerin?“, sagte er und sah mich fragend an.
„Sí“, war das einzige, was ich herausbrachte, bevor ich mein Notizbuch herausholte und darin herumkritzelte. Super! Wieso konnte ich nicht einmal eine normale Konversation führen, wenn er mich schon angesprochen hatte.
Dann fing der Unterricht an. Der Stoff war nicht neu für mich, da man mir im Sekretariat gesagt hatte, die ersten beiden Bücher wären schon im ersten Jahr durchgenommen worden, weshalb ich sie in den Sommerferien durchgearbeitet hatte, um jetzt festzustellen, dass sich die Frau im Sekretariat geirrt hatte.
Ich meldete mich kein einziges Mal und wenn ich aufgerufen wurde, stammelte ich vor mich hin. Er musste denken, ich könne keinen einzigen zusammenhängenden Satz auf Spanisch sagen. Was die anderen dachten, war mir so ziemlich egal. Aber er? Egal war anders. Am Ende der Stunde packte ich schnell meine Sachen zusammen und ging enttäuscht auf den Flur hinaus. Was hatte ich eigentlich erwartet?
Das ich kurz Hallo sagen würde und wir sofort beste Freunde sein würden? Oder er sich besser gesagt Hals über Kopf in mich verliebte? In diesem Moment hatte ich das ungute Gefühl, dass sich ohnehin nie jemand in mich verlieben würde und mir wurde wieder einmal schlagartig bewusst, dass er einfach unerreichbar für mich war. Egal wie gut oder weniger gut mein Spanisch auch sein würde. Es spielte ganz einfach keine Rolle.
Ich lief die drei Stockwerke nach unten und verabschiedete mich kurz von ein paar Leuten aus meiner Klasse, die vor der Schule standen und rauchten. Vorgestern noch hätte ich auf dem Heimweg von der Schule losheulen können, weil ich nicht in seine Klasse gekommen war und jetzt? Ich war so wütend gewesen, wütend auf die Umstände und wütend auf mich selbst, weil ich mich der Illusion hingegeben hatte, dass er sich für mich interessieren könnte.
Ich kickte einen Stein vor mir her und bog um die Ecke. Was sollte ich hier überhaupt? Es war gerade einmal Montag und somit dauerte es noch vier Tage bis zum Wochenende. Ich wollte nach Hause. Nicht in das Zimmer, das ich mir hier ganz in der Nähe von der Schule gemietet hatte und in dem ich jetzt für die nächsten Monate wohnen würde, sondern zu meinem richtigen Zuhause, das zweieinhalb Busstunden von hier entfernt war.
Und ich wollte, dass es wieder wärmer wurde und ich zurück in meine alte Klasse konnte. Zuhause wohnen bleiben, bei meinen Freunden und meinen Traumberuf lernen. Aber das war jetzt endgültig vorbei. Es gibt eben Träume, die man vergebens träumt und die sich nicht erfüllen, so sehr man es sich auf wünscht oder man auch darum kämpft. Und obwohl ich mir bereits vor zwei Wochen bei meinem Umzug geschworen hatte, einfach neu anzufangen und meinen alten Traum hinter mir zu lassen, hätte ich auf der Stelle losheulen können.
Stattdessen kämpfte ich gegen die Tränen an, während ich weiterlief und schließlich vor der Wohnung stehen blieb. Ich hatte keinen Hunger. Normalerweise aß ich ständig. Ich gehörte zu den Menschen, die so gut wie immer Appetit hatten und diesem auch meistens nachgaben. Aber meine Situation war nicht normal und ich wollte nichts anderes, als mich in meinen vier Wänden zu verkriechen und über nichts nachzudenken. Das einzige, das mir positiv erschien, war, dass ich endlich wieder Spanischunterricht hatte. Und ich hatte Sarah und Michelle kennengelernt. Aber sonst...?



A

m nächsten Tag hatte ich mich wieder beruhigt und nach einem Glas Orangensaft und einem Käsebrötchen putzte ich schnell meine Zähne, schnappte mir meine Tasche und ging zur Schule. Dienstag. Bei dem Gedanken daran, dem Wochenende wieder einen Tag näher zu sein, hellte sich mein Gesicht auf. Sarah wartete bereits vor dem Schulgebäude auf mich und wir gingen zusammen in unseren Klassenraum.
„Hast du die Übersetzung für die Schmitt?“, fragte sie und kramte ihren Block aus ihrer Tasche. „Den Text über Argentinien?“, fragte ich zurück und sie nickte. Wir verglichen, was wir geschrieben hatten und lachten über ein paar sehr merkwürdige Formulierungen, die in beiden Texten nicht gerade selten waren.
„Hi ihr“, kam Michelle ins Zimmer und setzte sich zu uns. „Hi, na wie geht’s?“, sagte ich und korrigierte schnell einen Fehler, auf den mich Sarah aufmerksam gemacht hatte. „Ganz gut“, seufzte Michelle. „Heute habe ich überhaupt keine Lust auf den Text da“, fügte sie hinzu und deutete auf den Text, den wir vor uns liegen hatten.
„Ich hab was mitgebracht“, verkündete sie und gab jedem von uns einen Müsliriegel. Ich bedankte mich und Michelle drückte mir eine ganze Packung davon in die Hand. Ich sah sie fragend an. „Lass sie einfach herumgehen“, lachte sie und ich gab die Packung mit den Riegeln weiter. „Ich geh nach der dritten Stunde.“
„Wieso denn?“, wollte Sarah wissen, aber Michelle zuckte nur mit den Schultern. „Schade“, meinte ich und schlug mein Grammatikbuch auf, als Frau Schmitt ins Zimmer kam. Mittlerweile war allen in der Klasse aufgefallen, wie häufig sie fehlte und es war nicht das erste Mal, dass die früher ging, weil sie ganz einfach keine Lust mehr hatte. Ich fing an, mich ernsthaft zu fragen, ob sie auf der richtigen Schule war.
Ich dachte an vorgestern zurück.
Wir hatten eine Freistunde und gingen in die Stadt. „Wolltest du schon immer Dolmetscherin werden?“, hatte sie gefragt und mich neugierig angesehen. Ich schüttelte den Kopf. „Nein“, zögerte ich. „Im Grunde wollte ich nie etwas anderes werden als Erzieherin.“
„Erzieherin? Im Ernst?“, sah sie mich fragend an. „Wieso bist du dann hier auf der Schule?“ „Das ist eine lange Geschichte“, sagte ich und wir setzten uns auf eine der vielen Bänke in der Fußgängerzone. Ich hatte keine Lust, ihr alle Einzelheiten zu erzählen. „Es war einfach ganz anders als ich es mir vorgestellt hatte.“
Michelle machte ein undefinierbares Geräusch und nickte dabei. „Ich wollte immer Tierpflegerin werden.“ Wie immer nuschelte sie und ich musste wieder einmal nachfragen. Es war wirklich schwer, sie zu verstehen und ich kam mir irgendwie dämlich vor, weil ich andauert nachhaken musste.
„Ich bin allergisch gegen die Haare“, erklärte sie und lächelte traurig. Wir hatten also etwas gemeinsam. Zumindest ein Stück weit. Ich erfuhr, dass sie es noch nie tatsächlich probiert hatte, mit Tieren zu arbeiten und dass sie sich auch nie näher informiert hatte. Ich dagegen hatte alles getan, was mir möglich gewesen war und nichts unversucht gelassen. Wie auch immer. Jetzt hatten wir beide Sprachen in den Blickpunkt unser Ausbildung gestellt und ich grinste, als ich an Spanisch dachte.
Als Michelle schließlich ging und jeder seinen Müsliriegel gegessen hatte, fragte ich mich, warum sie der ganzen Klasse davon mitgebracht hatte. „Weiß einer von euch, wie alt sie geworden ist?“, hörte ich jemanden hinter mir. Hatte Michelle etwa Geburtstag? Wieso hatte sie nichts gesagt? Ich drehte mich nach hinten um und klingte mich in das Gespräch ein. Aber dann kam auch schon der nächste Lehrer und eine neue Stunde begann.
Ich nahm mir vor, Michelle am nächsten Morgen darauf anzusprechen, warum sie nichts gesagt hatte. Und das tat ich auch. Ich wartete vor dem Klassenzimmer auf sie und wir gingen zusammen hinein. „Hattest du gestern Geburtstag?“, fragte ich vorsichtig.
„Ich wollte nicht, dass jemand es weiß“, erklärte sie mir. Aber wieso dann die Müsliriegel? „Ich hätte dir doch gratuliert“, sagte ich und holte zwei Minigeschenke aus meiner Tasche, die ich heute morgen noch schnell gekauft und noch im Laden verpackt hatte.
„Alles Gute nachträglich“, sagte ich und überreichte sie ihr. „Es ist nur eine Kleinigkeit“, fügte ich schnell hinzu, als sie mich verwirrt ansah. Ich hatte mich daran erinnert wie ich in einer Stunde Traubenzucker dabei hatte und mit ihr teilte. Wie ich war sie auch der Meinung, dass man sich mit Traubenzucker besser konzentrieren konnte – zumindest hatte sie das gesagt. „Danke“, meinte sie und grinste mich an.
„Hi, ihr“, kam Sarah ins Klassenzimmer und rieb sich die Hände. „Es ist echt kalt draußen.“ Ich wusste genau, was sie meinte. Ich war grundsätzlich immer verfroren und konnte es kaum erwarten, dass wieder Sommer wurde. Aber jetzt war Herbst und danach würde es erst einmal Winter, bevor endlich wieder der Frühling Einzug halten würde.
Die erste Stunde an diesem Tag verging zum Glück schnell. Und dann hatte ich wieder Spanisch. Ich kaute auf meiner Unterlippe, ohne es zu bemerken. Würde es heute besser sein? Ich freute mich darauf, ihn zu sehen. „Bis später“, sagte ich Michelle und Sarah und schnappte mir meine Jacke. Die beiden winkten mir zu und grinsten. Konnte ich nicht mit ihnen zusammen Spanisch haben? Das hätte es für mich um Einiges leichter gemacht. Ich ging in das Klassenzimmer, in dem der Spanischunterricht stattfand und setzte mich wieder zu den beiden Mädchen, neben denen ich auch gestern schon gesessen hatte.
Als er hereinkam fing der Unterricht gleich an. Es fiel mir schwer, mich zu konzentrieren. Dann war Gruppenarbeit und wir sollten uns im Raum verteilen. Er kam zu meiner Gruppe und zeigte aus dem Fenster. „Seht ihr den Baum dort? Wie bunt und schön er aussieht?“ Nick, der mir gegenübersaß, flüsterte uns etwas zu, und wir lachten laut auf. Er war der Einzige, der es nicht verstanden hatte und warf Nick einen fragenden Blick zu.
„Was hast du gesagt, Nick?“ Ich kicherte immer noch. Ich war genau Nicks Meinung, was ich aber sicher nicht vor ihm zugegeben hätte. Nick lachte auch, als er wiederholte, was er vorher gesagt hatte. „Deprimierend.“
„Findet ihr?“, wunderte er sich und sah wieder aus dem Fenster. „Ich find es super schön!“
Oh je, dachte ich. Er mochte den Herbst! Ja, zugegeben, der Herbst hat definit seine schönen Seiten und ich kenne viele, die ihn als die schönste Jahreszeit bezeichnen würden. Aber mich erinnerte der Herbst an den Wintereinbruch, der bald folgen würde und da ich mich nur dann richtig, richtig wohl fühlte, wenn ich ein T-Shirt anhatte ohne zu frieren, war ich nicht besonders begeistert von dieser Vorstellung.
Aber noch war ja nicht Winter. Und ich hoffte, dass es noch lange dauern würde, bis der erste Schnee fallen würde. Von mir aus, konnte er den Herbst toll finden, solange er nicht vorhatte, die Natur davon zu überzeugen, dass das ganze Jahr über Herbst sein sollte. Ich wette, dass er mit seinem Charme selbst das geschafft hätte. Aber auf diese Idee würde er hoffentlich nicht kommen. Ich versuchte mich also damit anzufreunden, dass er den Sommer nicht genauso zu lieben schien wie ich. Zu diesem Zeitpunkt konnte ich ja noch nicht wissen, dass es sogar noch schlimmer kommen würde...

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Tag der Veröffentlichung: 05.07.2009

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