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Prolog



Die Kirchturmglocke läutete. Eine Frau trug eine schwarze Sonnenbrille, um ihre verheulten Augen zu verbergen. Die Kälte kroch unter die Mäntel der Trauernden und das offene Grab schien zu stöhnen. Schwarz gekleidete Männer trugen den Sarg heran und er wurde langsam nach unten gelassen. Marc Thomson zitterte. Der Wind war eisig und der Vollmond warf ein schauriges Licht auf den Friedhof. Freddy Mc Gibson, ein guter Freund von Marc, sah blass aus. Er zog sich den Hut weit ins Gesicht. Die Stille wurde von einem lauten Seufzer unterbrochen. Marc kniete vor dem Grab nieder. Der Matsch heftete sich an seine Hose, doch er schien es nicht wahrzunehmen. Regen prasselte auf ihn hinab und Freddy half ihm aufzustehen. Erde wurde ins Grab geschüttet. Mit einem widerlichen Platschen kam sie auf dem Sarg auf und das Holzkreuz, das die ganze Zeit ne-ben dem Grab gelegen hatte, wurde aufgestellt. Marc legte einen Kranz aus Blumen dazu.

Dann gingen beide. Sie wussten nicht wohin. In ihren Köpfen spielte sich alles immer und immer wieder ab.
Marc, Freddy und Danny waren wenige Tage zuvor in Urlaub gefahren. Freddy hatte seine Frau und sei-ne kleinen Zwillinge dabei gehabt und auch Dannies Freundin war mitgekommen. Marc war der einzige, der die Richtige noch nicht gefunden hatte. Die Freunde verbrachten den Urlaub ganz in der Nähe von Scearfeeld, einer ziemlich alten, aber interessanten Stadt. Sie wohnten in dem Ferienhaus von Freddy und dessen Frau, Nora. Eines Tages waren die drei Männer zu einem See gefahren, der ganz in der Nähe war. Chase, einer der kleinen Söhne von Freddy, war auch dabei. Der andere Junge, den die jungen Eltern Charlie genannt hatten, war bei seiner Mutter geblieben, die gemeinsam mit Dannies Freundin einkaufen gehen wollte. Freddy, Marc und Danny waren weit hinaus gerudert. Das Wetter schien perfekt. Freddy hatte seinen Zögling beruhigend hin und her geschaukelt. Schließlich waren ein paar Wolken aufgezogen. Danny wollte zurückrudern. Aber Marc und Freddy waren dagegen. „Die verziehen sich bestimmt gleich wieder“, meinten sie. Sie alberten herum und nahmen sich gegenseitig die Ruder weg. Als es anfing zu tröpfeln wollte auch Freddy zurückrudern. Chase fing zu schreien an und Freddy hatte das ungute Gefühl, dass doch noch ein Gewitter aufziehen würde. Aber es war zu spät. Marc war ein Ruder ins Wasser gefallen. Es war weg. Jetzt blieb ihnen nichts anderes übrig als mit den Händen zu rudern. „Der Regen hört doch eh gleich wieder auf“, war sich Marc sicher.
„Glaub ich nicht“, erwiderte Danny. Und auch Freddy war skeptisch. Die beiden behielten Recht. Bald wurde aus dem Regen Gewitter. Blitze zuckten über den Himmel. Sie waren in dem Boot nicht mehr sicher. Freddy umklammerte die Tragetasche, in der Chase lag, fester. Sie mussten schwimmen.
Ihnen blieb keine andere Wahl. Marc war der beste Schwimmer von ihnen. Aber als er das kleine Kind zu sich zu nehmen wollte, lehnte Freddy ab. Er schien es zu schaffen, sich und den Kleinen zu retten. Aber Danny drohte unterzugehen. Er war ein miserabler Schwimmer gewesen. Marc eilte ihm zu Hilfe und schaffte es mit eisernem Willen ihn an Land zu ziehen. Gerade, als Marc Danny an Land gebracht hatte, begann auch Freddy zu erschlaffen. Er hielt Chase so fest er konnte.
Auf keinen Fall würde er zulassen, dass seinem Sohn etwas passierte. Seine Arme wurden schwer und er hatte größte Mühe weiter zu schwimmen. Die Strömung war viel stärker, als er geglaubt hatte. Aber die Angst um Chase ließ ihn durchhalten. Er war fast da. Er konnte bereits im Wasser stehen. Gleich würde er es geschafft haben. Doch dann spürte er wie sich der Boden seinen Füßen entzog. Er war auf dem matschigen Schlamm ausgerutscht und versuchte das Gleichgewicht wiederzuerlangen. In diesem Moment überschwappte ihn eine Welle und er schluckte Wasser. Erneut verlor er den Halt und schaffte es nicht den Griff von Chases Tragetasche festzuhalten.
Obwohl seine Lungen brannten und seine Augen schmerzten warf er sich zurück in die Flut um Chase zu erwischen, der von der Strömung mitgerissen zu werden drohte.
„Chaaase!“, schrie er und kämpfte verzweifelt gegen die Wassermassen an. „Neeeeiiiiinnn!“, brachte er mühsam hervor, als ihn zwei kräftige Hände von hinten packten. Marc hielt ihn eisern fest.
„Du schaffst es nicht!“, redete er auf ihn ein.
Aber Freddy hörte nicht auf ihn. Er versuchte sich zu befreien, aber er war zu schwach. „Du bringst euch noch beide um!“, schrie Marc ihn an und zerrte ihn in Richtung Ufer. Freddy war völlig fertig, als Marc ihn neben Danny bettete. Der Schmerz in seiner Brust war unbeschreiblich. Er hatte es nicht geschafft seinen Sohn zu retten. Wenige Minuten später war Danny gestorben. Sei-ne Freundin war schwanger.


Kapitel 1

„Du weist doch, dass Ron Übermorgen Geburtstag hat. Ich hab’ total vergessen ein Geschenk für ihn zu besorgen“, erklärte Jim und spielte dabei mit dem Telefonkabel herum.
„Hast du nicht zufällig eine Idee, was ich ihm schenken könnte?“
„Mmh“, überlegte Nick am anderen Ende der Leitung, „Ich hab’s! Hast du nicht gesagt, er interessiert sich für Außerirdische und so? Ich glaube ich hab’ irgendwo im Keller noch ein altes Bilderbuch von mir. Das müsste genau sein Geschmack sein.“
„Okay. Ich komme heute Mittag bei dir vorbei und helfe dir suchen, wenn du willst.“ „Okay, bis dann, Jim!“
Nick legte den Telefonhörer auf. Er hatte mit Jim telefoniert, der zu seinen besten Freunden gehörte. Hoffentlich fand er dieses Buch, sonst würde Jim an Rons Geburtstag ziemlich dumm dastehen.
Jim konnte seinen Bruder zwar nicht ausstehen, aber seine Eltern würden ihm die Hölle heiß machen, wenn er Ron nichts schenkte. Das war ihm das letzte Mal vor drei Jahren passiert.
Damals war Ron fünf Jahre alt geworden. Und er war damals schon unglaublich fies gewesen. Eine Woche vor seinem Geburtstag hatte Ron im Kindergarten Mist gebaut und Jim hatte den Ärger einkassiert. Jim hatte Ron nach der Schule vom Kindergarten abholen sollen. Er hatte ein ungutes Gefühl dabei gehabt. Aber als er ankam hatte sein kleiner Bruder friedlich im Sandkasten gesessen und mit den anderen Kindern gespielt.
Jim hatte noch einen Moment am Eingang gewartet und Ron beobachtet, der plötzlich richtig lieb ausgesehen hatte.
Dann war er durch den Gruppenraum hindurch hinaus ins Freie gegangen und hatte die Erzieherin begrüßt, die ihm entgegen gekommen war. Als er auf die Wiese heraus trat, sah er dass Ron sich zu ihm umdrehte. Sein friedliches Kindergesicht wandelte sich in ein gemeines Grinsen um.
„O o“, dachte Jim, ging aber unbeirrt auf seinen jüngeren Bruder zu. Der hatte sich wieder den anderen Kindern zugewandt und begann weiterzuspielen. Jim hockte sich neben ihn und Rons Gesicht sah wieder genauso lieb aus wie zuvor.
„Ihn hat bestimmt nur die Sonne geblendet“, dachte Jim und legte seinen Rucksack auf dem Gras ab. Die Erzieherin kam zurück und verabschiedete die ersten Kinder.
„Wir müssen auch gleich gehen“, sagte Jim zu Ron, der zwar nickte, aber seelenruhig weiterspielte.
„Was soll’s. Geb’ ich ihm halt noch fünf Minuten“, dachte er und ging kurz auf Toilette. Als er zurückkam saß ein kleines Mädchen mit Sommersprossen auf einer Bank, und weinte. Die Eltern versuchten vergeblich sie zu beruhigen.
„Banni!!“, schluchzte es und weigerte sich nach Hause zu gehen. „Ihr Teddybär ist verschwunden“, erklärte die Kindergärtnerin und forderte ein paar andere Kinder auf zu suchen. Weil er nicht dumm herumstehen wollte und Ron suchen helfen wollte, beschloss Jim ebenfalls zu suchen.
„Da!“, schrie ein kleiner Junge in Latzhose und steuerte auf Jims Rucksack zu. „Was will er bei meinem Rucksack?“, fragte sich Jim und lief dem Jungen entgegen. Zu spät. Der Junge war bereits an Jims Rucksack angekommen und deutete auf einen hellbraunen Zipfel der aus Jims Tasche hervorlugte.
„Was?!“, stieß Jim hervor und konnte es kaum glauben, als der kleine Junge das Stofftier des Mädchens, das immer noch weinend bei seinen Eltern saß, hervorholte. Jim versuchte sich zu verteidigen, aber die Situation war zu eindeutig, als dass ihm jemand geglaubt hätte.
Ron grinste zufrieden. Das sagte ja wohl alles, oder? Kein Wunder, dass Ron nichts von Jim zum Geburtstag bekommen hatte. Aber seine Eltern sahen das anders. Als sie merkten, dass Jim kein Geschenk für seinen Bruder hatte, waren sie völlig aufgebracht. Also erzählte er ihnen, was Ron angestellt hatte.
Das Ergebnis: Taschengeldentzug und Hausarrest für Jim! Und das nicht etwa, weil er Ron verpetzt hatte. Seine Eltern hatten ihm einfach nicht geglaubt.
Vielmehr damit er endlich damit aufhörte sich so „dumme Geschichten“, wie seine Eltern es genannt hatten, auszudenken.


Kapitel 2

Nick stand im Arbeitszimmer seiner Mutter, die an einem Zeitungsartikel arbeitete. „Jim kommt später noch vorbei.“, meinte er, als er den Locher auf den Schreibtisch zurückstellte. Er hatte ihn gebraucht, um ein paar Arbeitsblätter zu lochen.
„Vielleicht kann er ja noch zum Essen bleiben?“, fragte Mrs. Chatterson und lächelte Nick an. „Ich brauch hier nicht mehr all zu lange.“ Nick ging in sein Zimmer zurück und machte mit seinen Hausaufgaben weiter, die er vorhin unterbrochen hatte, als Jim angerufen hatte.
Aber er konnte sich nicht konzentrieren. Also beschloss er schon Mal damit anzufangen nach dem Buch für Ron zu suchen. „Es ist bestimmt irgendwo im Keller“, dachte er. „Am besten ich geh’ gleich runter.“ Er legte seinen Kuli beiseite und lief die Kellertreppe hinunter.
Er war ewig nicht mehr in dem Zimmer gewesen, in dem seine alten Sachen aufbewahrt wurden. Außerdem befand sich auch jede Menge anderer Krempel dort, der oben nicht gebraucht wurde.
Nick sah sich im Raum um. In der einen Ecke stand ein großer Schrank, in dem alte Kinderklamotten hingen. Daneben stapelten sich lauter Kisten. Nick schnappte sich eine und fing an, sie zu durchwühlen.
„Cool!“ entfuhr es ihm, als er ein paar seiner alten Comichefte entdeckte. Aber die meisten waren total unbrauchbar geworden.
Wenn sie nicht völlig verknittert gewesen wären und immer wieder Seiten gefehlt hätten, hätte er sie noch irgendwo verscherbeln können. Aber so... Er stopfte sie zurück in den Karton und machte mit dem Nächsten weiter.
Doch auch da war das Bilderbuch nicht. Durchwühlen, alles zurückstopfen, nächste Kiste. Nach der fünften Kiste hatte Nick allmählich keine Lust mehr weiter zu suchen. „Wo ist es nur?“, fragte er sich, als er die Kartons wieder aufeinander stapelte und sich erneut im Raum umsah.
An der einen Wand hing ein großer Spiegel unter dem ein Schreibtisch stand. Daneben war ein weiteres Regal, das mit lauter Kleinkram voll gestopft war. Nick ging auf das Regal zu.
„Vielleicht ist es da ja irgendwo dabei.“
Es war alles ziemlich eingestaubt und er musste aufpassen, dass er nicht zu viel Staub aufwirbelte. In seiner Nase fing es bereits an zu jucken und er musste niesen. Endlich entdeckte er das Bilderbuch, das zwischen einer alten Vase und einem kleinen Spielzeuglastwagen lag. Er blätterte es kurz durch.
Sein Zustand war noch gut genug um es zu verschenken. Somit würde Jim nichts Neues für seinen Bruder kaufen müssen. Obwohl es dafür ja ohnehin zu spät gewesen wäre. Als Nick gerade wieder nach oben gehen wollte, fiel sein Blick auf seine alten Kinderschuhe. Es waren die stylischsten Schuhe, die er je gehabt hatte.
Er wollte sie sich unbedingt noch mal genauer ansehen. Nick ließ das Bilderbuch fallen und steuerte auf seine alten Schuhe zu. „Dass wir die noch haben“, staunte er.
Als er sie ausreichend betrachtet hatte, bückte er sich um das Buch für Ron wieder aufzuheben, das er vorhin hatte fallen lassen. Dabei konnte er aus den Augenwinkeln unter dem Schreibtisch einen Karton sehen.
„Was ist da wohl drin?“, fragte er sich und konnte es nicht lassen die Kiste hervorzuholen. Sie war im Gegensatz zu den anderen mit Klebeband zugeklebt, was ihn nicht davon abhielt sie zu öffnen.
Im Gegenteil. Dadurch wollte er erst Recht wissen, was sich darin befand. Er riss den Klebestreifen ab und machte den Karton auf.
„Wie langweilig“, dachte er enttäuscht, als sein Blick auf ein altes Fotoalbum fiel. Er holte es heraus und rechnete mit ein paar netten Familienbildern von früher.
„Wer ist das denn?“ Das Bild eines fremden Mannes lächelte ihm entgegen. Er konnte sich nicht daran erinnern, ihn jemals gesehen zu haben. War er irgendein Verwandter von Nicks Familie? Ein Onkel von ihm? Seine Mutter hatte ihm mal erzählt, dass ihr Bruder irgendwo in Afrika leben würde. Vielleicht war er es ja?
Sollte er sie fragen? Nein. Zumindest noch nicht. Er wollte sich das Album erst zu Ende ansehen, bevor er seine Mutter fragte. Wahrscheinlich tauchten noch mehr Gesichter auf, die er noch nie gesehen hatte. Dann konnte sie ihm gleichzeitig erzählen, wer sie waren. Nick blätterte um.
Es war schon wieder der Mann von eben abgebildet. Aber diesmal war noch eine Frau dabei. Sie standen eng umschlungen auf einem Schneehügel. Daneben sah man einen Schneemann, den die beiden gebaut hatten. Als Nick genauer hinsah, erkannte er, wer die Frau war.
„Dann ist das...“, überlegte er. Sollte der Mann etwa sein Vater gewesen sein? Er hatte noch nie ein Bild von seinem Vater gesehen. Als er noch jünger gewesen war, hatte er seine Mutter öfter darum gebeten, aber irgendwann hatte er eingesehen, dass es zwecklos war.
Jetzt starrte er auf das Foto und spürte völlige Fremde. Wenn es wirklich sein Vater war, war es wahrscheinlich besser, seine Mutter nicht darauf anzusprechen. Auf einmal wurde Nick wütend.
Warum hatte sein Vater Nick und seine Mutter verlassen, wo seine Eltern auf dem Bild doch so glücklich wirkten?
Er war abgehauen, bevor Nick auf die Welt gekommen war. Als er erfahren hatte, dass Mrs. Chatterson schwanger war, hatte er seine Sachen gepackt und war auf nimmer wieder sehen verschwunden. Seine Mutter hatte nie wieder etwas von ihm gehört.
Also, wenn der Mann der Vater von Nick war, würde auf den nächsten Seiten mit Sicherheit kein nettes Familienfoto auftauchen. Nick holte das Foto aus dem Album und steckte es in den Geldbeutel, der in seiner Hosentasche steckte.
Seine Mutter würde es ganz sicher nicht vermissen. Es war wahrscheinlich Ewigkeiten her, dass sie es sich angesehen hatte. Somit würde es auch nicht auffallen, wenn er es mitnahm.
Er legte das Fotoalbum beiseite und nahm eine Mappe heraus, die unter dem Album gelegen hatte. Als Nick sie öffnete, fiel sein Blick auf alte Zeitungsartikel.
„Was ist das?“, fragte er sich, während er sich einen Artikel näher betrachtete.
„Familienurlaub wird zum Albtraum – Strömung reißt Kind mit“, lautete die Überschrift des Kommentars, den er in den Händen hielt. Nick fragte sich, wieso seine Mutter diesen Zeitungsartikel aufgehoben hatte und sah nach von wann er stammte.
„Schon so alt?“ Der Artikel war bereits vor über 18 Jahren erschienen. Er war aus einer Zeit, in der es Nick noch nicht einmal gegeben hatte.


Kapitel 3

Ungläubig starrte Nick das Stück Zeitung an. Er hatte es zu Ende gelesen und war völlig verwirrt.
„Bei dem 25 jährigen, jungen Mann, der noch an der Unfallstelle starb, handelte es sich um Danny Chatterson aus Ohio. Von dem Baby seines Freundes, Freddy Mc Gibson 26 ebenfalls aus Ohio, fehlt bislang jede Spur.“ Die Buchstaben drohten vor seinen Augen zu verschwimmen.
„Die Polizei geht davon aus, dass es in den Fluten nicht lange überlebt hat. Mr. Mc Gibson wäre beinahe selbst von der Strömung mitgerissen worden, wenn ihn nicht der dritte Mann an Bord, Marc Thomson, gerettet hätte.“
Diesen Ausschnitt las Nick erneut durch.
„Danny Chatterson aus Ohio.“
Er hatte zwar nie ein Bild von seiner Mutter erhalten, auf dem sein Vater abgebildet war, aber sie hatte ihm erzählt, dass er Danny geheißen hatte. Dann hatte ihn seine Mutter sein ganzes Leben lang belogen.
Nick konnte das nicht glauben. Vielleicht war es irgendein Klatschblatt, dass einfach krottenschlecht informiert war.
Oder es gab eben noch mehr Leute in Ohio, die Danny Chatterson hießen. Welchen Namen gab es schließlich nicht öfter.
Er musste herausfinden, wie viele Leute es noch gab oder gegeben hatte, die den Namen seines Vaters trugen. Aber wie? Wo sollte er anfangen Informationen zu suchen?
Jim! Wenn Jim nachher kam, konnte er ihn gleich bitten, ihm zu helfen. Ihm würde bestimmt etwas einfallen. Schließlich hatte Nick auch für ihn das Kinderbuch gefunden. Doch was sollte er tun, wenn sie herausfanden, dass seine Mutter ihn wirklich belogen hatte? Wie hatte sie ihm dann nur die Wahrheit vorenthalten können?
In der Hoffnung einen Hinweis darauf zu finden, dass es nicht um seinen Vater ging, las er den Kommentar erneut. Fehlanzeige.
Er beschloss sich den weiteren Inhalt der Mappe anzusehen, in die der Kommentar abgeheftet war. Aber im Gegenteil. Er fand nichts, das diesen Fund angenehmer für ihn machte.
Die anderen beiden Männer, die noch bei dem Unfall dabei gewesen waren, kannte Nick. Es waren die Väter seiner engsten Freunde, Jim und Charlie.
„Marc Thomson und Freddy Mc Gibson.“, las er laut. Unter dieser Bedingung war es so gut wie unmöglich, dass es sich nicht um seinen Vater gehandelt hatte.
Nick kratzte sich am Kopf. In den Unterlagen, die er gefunden hatte, stand, dass die Väter seiner Freunde mit Nicks Vater befreundet gewesen waren. Das war das Einzige, was er einigermaßen begriff. Und die beiden waren bei dem Unfall dabei gewesen, als Nicks Vater gestorben war.
Falls es stimmte, was in den Berichten stand, war er bei einem Bootsausflug ertrunken. Nick hielt die Todesanzeige in seinen Händen. „Er ist tot“, dachte er und spürte, wie sich ein dicker Kloß in seinem Hals breit machte. Nick schluckte, als er die Zeilen erneut durchlas.
„Marc Thomson erklärte: Danny hatte zurückrudern wollen, aber Freddy und ich waren der Meinung wir könnten noch warten. Dann wollte auch Freddy zurück, aber das Ruder war verschwunden. Wenn ich geahnt hätte, dass Freddies Baby...“
Nick atmete tief durch. „Mein Vater wäre nicht gestorben, wenn Jims Vater aufgepasst hätte.“ Sein Gesichtsausdruck war verzerrt.
„Nein!“, versuchte er den Gedanken daran loszuwerden, dass Jims Vater etwas mit dem Tod seines Vaters zu tun haben sollte. Doch es half nichts. Je mehr er sich einzureden versuchte, dass es nicht stimmte, desto klarer wurde ihm, dass es doch so war.
Und Charlie? Nick hatte gelesen, dass das Kind von Charlies Vater auch ertrunken war. „Aber Charlie lebt. Wie also kann das sein? Ein Zwilling? Hatte Charlie einen Zwillingsbruder gehabt?“
Nick schüttelte den Kopf.
Und wenn schon. Falls wirklich, dann war er auch tot und vielleicht wusste Charlie es ja sogar schon. Nick wollte nicht darüber nachdenken. Was würde es auch groß ändern? Wenn die beiden auf Nicks Vater gehört hätten, hätte er überlebt.
Aus Nicks Augen war plötzlich nur wichtig, wieso sein Vater gestorben war. Und er war sich sicher, die Schuldigen gefunden zu haben: Nicks und Jims Väter. Er hatte ein unheimlich schlechtes Gefühl. Alles schien auf einmal anders zu sein, als er immer geglaubt hatte. Und ob er wollte oder nicht.
Nick konnte nicht anders. Er wusste nicht, ob er Jim und Charlie weiterhin als seinen Freunden in die Augen schauen können würde.


Kapitel 4

Nick wurde aus seinen Gedanken gerissen, als es an der Haustür klingelte.
„Jim ist da“, dachte er und stopfte alles in den Karton zurück. Sollte er ihm davon erzählen? Er hatte keine Zeit darüber nachzudenken. Nick rannte die Kellertreppe nach oben und öffnete die Tür.
„Hi!“, sagte er zu Jim, der grinsend hereinkam. „Ist irgendwas?“, fragte Nick und vergaß für einen Moment lang die Geschichte ihrer Väter.
„Nein“, grinste Jim immer noch.
„Aber dein T-Shirt sieht irgendwie eingestaubt aus.“ Erst jetzt bemerkte Nick, dass er überall Fussel hängen hatte.
„Oh“, entfuhr es ihm und er versuchte sich von ihnen zu befreien.
„Ich war schon im Keller weißt du, wegen dem Buch“, erklärte er Jim, der ihm half die Staubflocken zu entfernen.
„Und?“, wollte er wissen. „Hast du’s gefunden?“ Nick nickte und wollte ihm das Bilderbuch zeigen.
„Oh“, sagte er schon wieder. „Ich muss es unten vergessen haben. Ich hol’ es schnell.“
„Soll ich mitkommen?“
„Nein, lass mal. Es ist ziemlich unordentlich da unten. Und außerdem willst du dich bestimmt nicht auch noch einstauben, oder?“, witzelte Nick.
Er hatte es total vergessen, als Jim geklingelt hatte. Er schnappte es sich und beeilte sich wieder nach oben zu kommen. Er wollte Jim nicht zu lange warten lassen.
„Da bist du ja endlich!“, sagte Jim ungeduldig, aber nicht böse, als Nick mit dem Buch in der Hand zurückkam.
„Ich hab’ aber noch mehr gefunden“, sagte er leise und war kurz davor Jim alles zu erzählen. „Hallo ihr beiden!“, unterbrach ihn seine Mutter, die gerade auf den Flur herauskam.
„Wie geht es dir, Jim? Hast du Lust zum Essen zu bleiben?“, fragte sie freundlich.
Doch bevor Jim antworten konnte, sagte Nick gereizt: „Das geht nicht, Mum. Wir müssen noch mal in die Schule, weil ich meine Sportsachen liegengelassen habe.“
Nick wusste, was für eine schlechte Ausrede das war. Er gab Jim ein Zeichen hinauszugehen und verschwand schließlich mit ihm bevor seine Mutter irgendwelche unangenehmen Fragen stellen konnte.
„Was war das denn jetzt?“, sah ihn Jim fragend an, als sie um die Hausecke bogen.
„Heute ist Donnerstag. Wir hatten heute überhaupt keinen Sport. Und außerdem: Wann hast du das letzte Mal Sportsachen dabei gehabt. Du schwänzt Sport doch immer!“
Nick war klar, dass Jim Recht hatte.
„Mir ist eben nichts Besseres eingefallen.“, druckste Nick herum. „Aber Kino ist doch eigentlich gar keine schlechte Idee, oder?“, versuchte er abzulenken. Jim hatte keine Lust darauf, noch weiter nachzuhaken.
„Ja klar“, nickte er.
„Wir könnten ja die anderen fragen, ob sie mitkommen wollen. Lass uns doch einfach bei Charlie vorbeischauen.“ Charlie. Sollte er jetzt beiden etwas vorspielen? „Ja, warum nicht“, stimmte Nick zu.
Er konnte Charlie ja nicht einfach aus dem Weg gehen. Vielleicht würde er ihnen gleichzeitig von seinem Fund erzählen.
„Woran denkst du?“, fragt Jim.
„Weiß nicht“, log Nick. „Vielleicht daran, dass wir nur noch eine Woche Schule haben und ich mich schon wahnsinnig darauf freue Ferien zu haben.“
Das war zwar nicht besonders überzeugend, weil er eindeutig den falschen Gesichtsausdruck dafür hatte, dass er an so etwas Positives wie Ferien dachte, aber ihm fiel einfach nichts Besseres ein. Jim entging das natürlich nicht.
„Wie? Du denkst an Ferien und ziehst dabei so ein Gesicht? Was ist los mit dir, Mann?!“
„Ich mein ja nur, dass es vielleicht ziemlich anstrengend wird mit euch allen in Urlaub zu fahren.“ Nick zwang sich dazu, ernst zu bleiben. Jim sah ihn entgeistert an.
„Was soll bitte anstrengend daran sein, mit seinen Freunden in Urlaub zu fahren?“ Nick prustete los, als er Jims Gesichtsausdruck sah: „War doch nur Spaß!“
Jetzt musste auch Jim grinsen: „Ich hatte schon Angst, du kommst vielleicht doch nicht mit.“
„Keine Sorge“, entwarnte Nick: „Ihr könnt vergessen, dass ich zu Hause bleibe.“
Die beiden schlenderten nebeneinander her.
„Vielleicht können wir bei Charlie was essen“, schlug Nick vor, der so gut wie immer Hunger hatte und es klang mehr nach einer Tatsache, als nach einer Frage.
Sie konnten bereits das Haus erkennen in dem ihr Freund wohnte. Es war ein kleines Einfamilienhäuschen mit Garten. Als sie näher kamen, sahen sie Charlie, der Kaugummi kauend auf der Vordertreppe saß. „Hi!“, begrüßte er die beiden und stand auf.
„Hört mal. Ich hab einen neuen Witz. Den muss ich euch gleich erzählen!“
„Bitte nicht“, hoffte Nick innerlich. Er hatte noch nie besonders viel von Charlies Witzen gehalten.
„Also“, begann Charlie und lachte sich bereits halb tot: "Herr Doktor, Sie müssen mir helfen. – Was ist ihr Problem? – Mir fallen die Haare aus! – Aha. Und wie äußert sich das?“
Charlie kugelte sich vor Lachen. Jim und Nick fanden den Witz zwar nicht wirklich komisch, mussten aber auch lachen, weil sie es witzig fanden, wie Charlie lachte.
„Der ist echt gut, was?“, sah Charlie seine Freunde an und beruhigte sich allmählich wieder. Dann ging die Tür von innen auf und Charlies Vater kam heraus. „Oh Hallo, Jungs.“, lächelte er entspannt. „Müssten Sie nicht auf der Arbeit sein?“, fragte Jim höflich nach.
„Da weißt du mehr als ich, Junge. Nein. Ich hab heute meinen freien Tag. Ich muss mich ja auch ab und zu um meine Familie kümmern.“
Er klopfte seinem Sohn auf die Schulter. „Wer weiß, was Charlie alles anstellen würde, wenn ich nicht wenigstens hin und wieder ein Auge auf ihn hätte.“
„Ich bin kein Kleinkind mehr, Dad“, beschwerte sich Charlie spielerisch und sah seinem Vater nach, der hinters Haus verschwand um es sich im Garten gemütlich zu machen.
„Wir wollten dich fragen, ob du Bock hast ins Kino zu gehen.“, meinte Jim.
„Sorry, Leute.“, lehnte Charlie ab. „Ich hab keine Zeit. Ich hab meinem Vater versprochen, ihn zu Oma zu fahren. Er sieht sie ziemlich selten.“
„Er hat ihr versprochen, dass er sie besuchen kommt. Aber sein Wagen ist in der Werkstatt, also muss er mit meinem fahren.“, fügte er nach einer kurzen Pause hinzu.
„Und es kommt natürlich nicht in Frage, dass er am Steuer sitzt, nicht wahr?“, lachte Jim.
„Tut mir Leid, Leute. Ich konnte ja nicht ahnen, dass ihr ausgerechnet am freien Tag meines Vaters ins Kino wollt.“ Nick schluckte.
Er wollte es nicht, aber er hatte das ungute Gefühl, dass Jim und Charlie ihm besser nicht zeigen sollten, wie glücklich sie mit ihren Vätern waren.


Kapitel 5

„Dann eben kein Kino“, sagte er und war fast froh darüber, dass nichts daraus wurde.
„Wieso?“ Jim schien immer noch ins Kino zu wollen.
„Lass uns doch erst mal noch Chrissie und Sandy fragen, ob sie Lust haben mitzukommen.“
Chrissie und Sandy gingen auf dieselbe Schule wie die drei Jungs und sie steckten ziemlich oft mit ihnen zusammen. Sie waren in derselben Klasse und Chrissie war mit Charlie in der Sport AG.
Ganz im Gegensatz zu Nick und Sandy waren sie regelrechte Sportfanatiker. Nick und Sandy waren da eher Sofasportler und vertraten die Ansicht, dass Sport Mord war. Jim lag irgendwo mittendrin. Er hatte zwar nichts gegen Sport, erzielte im Sportunterricht aber immer nur mittelmäßige Leistungen.
Verwirrt fragte er sich, wieso Nick nicht unbedingt ins Kino wollte. Es war ihm nicht entgangen, dass er Sandy in letzter Zeit immer öfter hatte sehen wollen. Und die hatte eine Vorliebe für Kino.
Weist du, sie findet alles toll, was mit Filmen zu tun hat. Schon mit sieben wollte sie immer Schauspielerin werden. Deshalb ist sie bereits als kleines Kind immer ins Kino gegangen. Sie wusste immer als erste über die neuesten Filme Bescheid und die waren für sie dann oft Gesprächsthema Nummer Eins.
„Vielleicht solltet ihr einfach alleine hingehen, du und Sandy“, sagte er zu Nick und grinste breit. „Haha!“, lachte Nick ironisch. „Ich glaube die hat sowieso keine Zeit.“
„Wieso das denn? Mit einem besseren Vorschlag kann man bei ihr doch gar nicht ankommen.“, meldete sich Charlie zu Wort. Nick hatte trotzdem keine Lust. „Ich glaube ich hab mir eine Erkältung eingefangen. Am Ende stecke ich noch jemanden an.“
„Quatsch!“, sah ihn Jim an: „Du siehst völlig gesund aus. Obwohl, wenn du dich nicht so gut fühlst, solltest du dich vielleicht doch nicht mit Sandy treffen. Am Ende verbockst du’s noch.“
Nick schüttelte den Kopf.
„Ich weiß nicht. Aber ich hab’ einfach irgendwie keine Lust, was zu machen.“ – „Ich glaube du wirst wirklich krank. Willst du was Essen? Vielleicht fühlst du dich dann besser.“
Bei diesem Gedanken hellte sich Nicks Gesichtsausdruck auf. Sein Hungergefühl von eben meldete sich zurück.
„Na klar!“, sagte er: „Was hast du denn zu bieten?“
Sie gingen ins Haus und machten sich in der Küche ein paar Brote. Nick aß ein Erdnussbuttersandwich nach dem anderen. Als er bei einem Marmelade dazugab, verzogen Charlie und Jim angewidert das Gesicht.
„Wie kann er das nur lecker finden?“, rätselte Charlie, sagte aber nichts.
„Ich glaub, dass mach’ ich jetzt immer so!“, freute sich Nick darüber, diese neue Kombination ausprobiert zu haben.
Jim wäre beinahe schlecht geworden, als er sah, wie Nick das zweite Erdnuss-Marmeladen-Sandwich verschlang.
„Vielleicht hast du ja eine Magenverstimmung, oder so“, vermutete Charlie und erntete einen verständnislosen Blick von Nick, dessen Laune mit jedem dieser gewöhnungsbedürftigen Sandwichs zu steigen schien.
Jim wollte ihm nicht noch länger dabei zusehen, wie er es sich schmecken ließ und beschloss zu verduften, bevor er sich tatsächlich noch übergeben musste.
„Du Nick?“, sagte er und versuchte nicht auf dessen Essen zu sehen.
„Ja?“ antworte Nick schmatzend, „Wms gibmst?“ „Kannst du mir das Bilderbuch geben? Ich muss es noch einpacken, sonst veranstaltet mein Bruder wieder ein Theater.“
Nick schluckte und zeigte auf das Buch, das er neben sich auf die Eckbank gelegt hatte. Jim hatte es völlig übersehen.
„Danke!“, sagte er und erklärte, dass er außerdem noch irgendein Lied proben wollte, das er am nächsten Tag bei der Bandprobe in der Schule können musste.
„Wenn du willst kann ich mit dir zusammen üben“, bot ihm Nick an, der auch in der Schulband war. Aber mehr als Mädchen für alles, statt als Musiker.
Ihr Lehrer war nämlich regelmäßig überfordert, wenn es um Kabel oder andere technische Dinge ging.
„Lass mal“, lehnte Jim ab, „Oder hast du die gerissenen Seiten bei deiner Luftgitarre mittlerweile ausgewechselt?“
Nick schüttelte den Kopf und rückte seine Baseballkappe zurecht. Charlie musste lachen.
„He! Was ist?“, fragte Nick und auch Jim verstand nichts. Charlie deutete auf Nicks Kappe und auch Jim musste grinsen.
„Leute!“, protestierte Nick, ohne die Kappe abzusetzen.
„Du hättest dir vielleicht die Hände waschen sollen, bevor du die Kappe zurechtgerückt hast.“
Nick warf einen Blick auf seine Hände. „Oh!“, entfuhr es ihm, als er sah, dass sie voller Erdnusscreme waren. „Ich denke wir haben heute alle noch genug zu tun, was?“, scherzte Charlie.
„Vielleicht sollten wir uns einfach morgen wieder treffen und uns jetzt unseren Aufgaben widmen“, stimmte Jim nach einem Blick auf die Uhr zu.
Er schnappte sich das Bilderbuch und ging mit den anderen zur Haustür. Nick würde sich wohl den restlichen Abend mit seiner Baseballkappe beschäftigen und versuchen, die Flecken herauszubekommen.
Und Charlie musste seinen Vater schließlich noch zu seiner Oma fahren.
„Also, dann“, verabschiedeten sie sich. „Man sieht sich.“
Nachdem sie noch eine Weile planlos herumgestanden hatten gingen Nick und Jim schließlich. Sie mussten ein Stück in die gleiche Richtung laufen.
„Wie alt wird Ron noch mal?“, fragte Nick um nicht gar nichts zu sagen.
„Acht. Aber wenn du mich fragst, ist er geistig bei Sechs hängen geblieben.“
Nick war klar, dass Jim es nicht böse meinte, aber Ron war eben ein Bruderschreck.
Die beiden waren vor Nicks Haus angekommen und machten noch schnell aus, dass sie sich am nächsten Tag zehn Minuten früher treffen würden um noch mal an einen der Schulcomputer zu gehen, weil sie noch ein paar Dinge ihrer Dateien löschen mussten, bevor das Schuljahr zu Ende ging.
Außerdem waren ihre Dateien so undurchschaubar, dass sie nicht wollten, dass ihr Lehrer ihnen zuvor kam. „Okay, dann seh’n wir uns morgen!“, verabschiedeten sie sich.
Nick verschwand ins Haus während Jim die Straße überquerte und ausprobierte wie er Rons Geschenk am besten hinter seinem Rücken verbergen konnte, damit dieser es nicht sah, wenn Jim nach Hause kam. Nicks Mutter saß im Wohnzimmer, als er hereinkam.
Er hoffte, dass sie ihm keine bohrenden Fragen stellen würde.
Vorsichtshalber versuchte er sich an ihr vorbeizuschleichen.
„Nick?“, hörte er sie kommen. Ausgerechnet sie würde er jetzt ganz sicher nicht als Moralapostel akzeptieren. Er spielte bereits mit dem Gedanken, seiner Mutter die Meinung dazu zu sagen, dass sie ihn belogen hatte.
„Wollte Jim nicht noch mit hereinkommen?“, fragte sie und Nick wusste, dass kein weiteres Verhör folgen würde.
„Nein“, sagte er kurz angebunden und ging in die Küche, um sich Etwas zu knabbern zu holen.
„Wir haben noch Kuchen, Nicki“, meinte seine Mutter. Er hasste es, wenn sie ihn so nannte.
„Mum!“, bat er sie. „Das klingt wie ein Mädchenname!“ Sie nannte ihn immer so, wenn sie besonders gut gelaunt war.
„War irgendwas?“, fragte er, obwohl es ihn eigentlich gar nicht interessierte. Seine Mutter schien es nicht zu merken.
„Ach, ich habe einen Brief von Tante Andrea bekommen. Sie will uns besuchen kommen.“
„Was?“, staunte Nick: „Wann kommt sie?“ Tante Andrea war seine Lieblingstante. Es wäre genial, wenn sie tatsächlich käme.
„Sie will uns noch Bescheid sagen, wann genau, aber am liebsten würde sie anscheinend sofort kommen.“ Nick konnte es nicht fassen.
„Das wäre fantastisch!“, freute er sich.
„Ja. Aber vergiss nicht, dass du in den Ferien gar nicht da bist. Du fährst doch mit Jim und Charlie und den Mädchen weg.“
Nick schluckte. Dann fiel ihm ein: „Sie muss eben gleich kommen! Es ist immerhin noch eine Woche lang Schule.“
Seine Mutter lief in den Flur und begann in einer Schublade eines Schränkchens zu wühlen. „Was suchst du?“, wollte Nick wissen und stand daneben. „Hier ist irgendwo mein Adressbuch mit den Telefonnummern.“
Sie machte eine kurze Pause und holte ein kleines Notizbuch hervor und drückte es Nick in die Hand.
„Du kannst sie gleich anrufen und mit ihr reden. Am besten sagst du ihr, wann ihr wegfahrt, sonst kommt sie am Ende genau dann, wenn du abreist.“
„Okay“, nickte er und wartete, bis seine Mutter wieder ins Wohnzimmer verschwand. Sie wusste, dass er nicht gerne telefonierte, wenn jemand anderes dabei war und zuhörte.
Dann suchte er die Nummer heraus. „3915“, sprach er die Zahlen laut aus, während er sie eintippte. Er hörte einen lang gezogenen Piepton.
„Na toll, besetzt“, murmelte er und legte wieder auf. Er beschloss, es später noch mal zu probieren und ging ins Badezimmer. Er musste unbedingt die Flecken von seiner Kappe auswischen.
Als er es geschafft hatte sie einigermaßen herauszubekommen, ging er nach oben in sein Zimmer und holte sich eine andere Baseballkappe, damit er sie noch ein wenig im Wasser einweichen lassen konnte. Er hoffte, dass auch die letzten Überreste seines Essens bei Charlie noch herausgehen würden.
Danach rief er noch einmal bei seiner Tante an und erreichte sie schließlich. Sie versprach noch vor den Sommerferien zu kommen, wusste aber noch nicht genau, wann.
„Ich werde dich in den nächsten Tagen anrufen und euch Bescheid sagen, Junge“, erklärte sie ihm und bat ihn seiner Mutter schöne Grüße auszurichten.
„Sie kommt!“, rief er voller Vorfreude.


Kapitel 6

Rons Geburtstag lag nun eine Woche zurück und die Ferien hatten begonnen. Als Jim seinem Bruder das Buch überreicht hatte, hatte Ron schnell ein paar Eselsohren hinein gemacht, als ihre Eltern in der Küche gewesen waren um die Kerzen auf der Torte anzuzünden.
„Wie kannst du deinem Bruder nur so etwas schenken?“, hatten sie mit ihm geschimpft, als Ron zu ihnen gerannt war, um es ihnen zu zeigen.
Jim hatte sich zwar verteidigt, hatte aber keinerlei Chance gegen seinen jüngeren Bruder gehabt, der sich nicht einmal bei ihm bedankt hatte.
Als er dann am nächsten Tag ins Wohnzimmer gekommen war, war Ron dagesessen und hatte in dem Buch geblättert. Als er Jim gesehen hatte, hatte er es schnell weggelegt und so getan, als würde es ihm nicht im Geringsten gefallen.
Typisch Ron. Er hätte sich wahrscheinlich lieber die Zunge abgebissen, als zuzugeben, dass ihm das Bilderbuch gefiel. Jim war total angenervt von ihm. Wenigstens konnte er sich zu Nick zurückziehen, wenn er keine Lust mehr auf seinen Bruder hatte.
Tante Andrea war vor drei Tagen gekommen und hatte richtig gute Stimmung mitgebracht. Sie war eine rundliche Dame, die oft und gerne aß und sich einem merkwürdigen Klamottenstil verschrieben hatte.
Als sie angekommen war, hatte sie eine gelbe Tunika und eine weite, grüne Stoffhose getragen.
Ihren Kopf hatte ein überdimensionaler Strohhut geschmückt, um den ein hellblaues Band gewickelt gewesen war.
Nicks Mutter hatte sich bei ihrem Anblick ein Lachen verkneifen müssen. Es war zwar tatsächlich gewöhnungsbedürftig, aber an sich sah es gar nicht so schlecht aus. Nick fragte sich jedes Mal, wenn sie zu Besuch kam, wo sie diese Sachen herbekam. Er wusste, dass seine Mutter fand, dass Tante Andrea wie ein bunter Kanarienvogel aussah.
Und so war sie manchmal auch. Sie war aus ihrem Taxi gestiegen und hatte Nick stürmisch umarmt. Dann hatte sie seine Mutter begrüßt und war ins Haus gedüst um ihren Koffer ins Gästezimmer zu tragen.
Nachdem sie eine halbe Stunde herumgewuselt hatte, war sie endlich zu Nick und seiner Mutter ins Wohnzimmer gekommen, die dort auf sie gewartet hatten, weil sie wussten, dass man sie in solchen Phasen auf keinen Fall stören durfte.
Als sie endlich Platz nahm, strahlte sie auf einmal völlige Ruhe aus. Nick kannte das schon. „Jetzt will sie gleich was essen“, dachte er, „gleich ist die Ruhe vorbei.“ Und da stand sie auch schon wieder auf und marschierte in die Küche.
Nick musste lachen, als er ihr folgte.
„Wir haben nicht viel Zeit zusammen“, sagte er sich, „bevor ich in Urlaub fahre. Ich muss die Zeit mit ihr also voll und ganz auskosten.“ Er hatte schon fast vergessen, wie gut sie kochen konnte.
Er setzte sich auf einen der Küchenstühle und sah zu, wie seine Mutter gemeinsam mit seiner Tante sein Lieblingsessen zubereitete: Spaghetti Napoli.
Es schmeckte fantastisch!
Wieso konnte er nicht einfach den Urlaub mit Charlie und den anderen absagen? Er stopfte sich einen Löffel Spaghetti in den Mund.
„Nein“, verwarf er diesen Gedanken sofort wieder.
„Ich werde mit meinen Freunden wegfahren. Und wenn es nur deshalb ist, um herauszufinden, ob sie tatsächlich meine Freunde sind.“


Kapitel 7

Jim Thomson

Die Leere war ermüdend. Ich lag im Bett. Die Hitze machte mich völlig fertig. Mein Kopf dröhnte und auf nichts konnte ich mich konzentrieren. Sogar mein Lieblingslied klang in meinen Ohren beinahe monoton.
Die Langeweile nahm mir jegliche Lust an den Ferien. Morgen würde endlich Mal was los sein. Es war geplant, dass ich mit ein paar Kumpels wegfuhr. Mein bester Freund Nick Chatterson würde auch dabei sein.
Ich seufzte bei dem Gedanken endlich Ruhe vor meinem jüngeren Bruder Ron zu haben. Als ich auf das Nachtkästchen griff um meine Uhr zu holen, fühlte ich etwas Schleimiges. Mir wurde sofort klar, dass das nur Ron gewesen sein konnte.
„Ron“, schrie ich, „was zum Teufel soll denn das schon wieder sein?“
Triumphierend trat Ron ins Zimmer und erklärte, das sei die neueste Kreation von „Grusel & Co“ einem Scherzartikelgeschäft, das jeder in Ohio kennen sollte.
„Und was genau, bitte, soll dieses ekelhafte Ding darstellen wenn man fragen darf?“, hakte ich sichtlich genervt nach.
„Na das ist doch klar!“, spielte sich Ron auf, „eine Herzattrappe, das sieht doch ein Blinder, Mann!“
„Alles klar“, nickte ich und tippte mir an die Stirn.
„Aber jetzt verzieh dich. Und nimm dieses scheußliche Ding mit.“
Ron grinste breit und verließ ohne ein weiteres Wort das Zimmer. Ungläubig schüttelte ich den Kopf. Morgen, morgen würde ich ihn für drei lange Wochen nicht mehr ertragen müssen. Er kam ständig mit solchem Zeug an, das ja „eindeutig zu identifizieren“ war.
Gerade, als ich es mir wieder bequem gemacht hatte, klingelte es. Ach ja, ich hatte ganz vergessen auf die Uhr zu schauen. Ich stand auf und beeilte mich zur Tür zu kommen.
Doch Ron war schneller und ließ Nick herein - um ihn dann in das von ihm versteckt ausgebreitete Schleimherz treten zu lassen. Er hatte es unter den Fußabtreter gelegt und zeigte, als Nick einen Ausruf des Ekels hören lies, auf mich.
„Du bist total unmöglich!“, brüllte ich ihn an.
„Nimm verdammt noch mal dieses hässliche Teil mit und verschwinde! Und wehe du machst so was heute noch Mal!“
Ron schnappte sich das Herz, machte aber keinerlei Anstalten zu gehen. „Entschuldige dich wenigstens bei Nick!“, fügte ich hinzu, was er dann - widerstrebend - auch tat.
Dann zischte ich gemeinsam mit Nick ab um zu Charlie zu gehen.
„Hi, Charlie“, begrüßten wir ihn, „alles klar im BH?“
„Aber natürlich. Und bei euch, alles fitt im Schritt?“, zischte er zurück.
So ging das immer bei uns ab. Diese alten Sticheleien gehörten einfach dazu. Wir gingen ins Wohnzimmer, das mit Kerzenlicht beleuchtet war.
Charlies Eltern waren nicht zu Hause, sondern verbrachten ein paar Tage bei Verwandten, kurz, wir hatten sturmfreie Bude.
Chrissie und Sandy waren auch schon da. Nick und ich machten es uns auf dem Sofa bequem und Charlie erzählte einen seiner bescheuerten Witze, die voll auf den englischen Humor abzielen.
Jedenfalls bekam Sandy einen Lachanfall und weil sie gerade ein großes Stück Sandwich im Mund hatte, musste sie würgen. Dann zündete sie sich eine Zigarette an, obwohl Charlies Eltern strengstes Rauchverbot verordnet hatten.
Nick und mir machte es tierischen Spaß dabei zuzugucken, was sich Charlie alles einfallen ließ, um ihr die Zigarettenschachtel abzunehmen. Dann rief ich gemeinsam mit Nick den Pizzaservice an.
Irgendwann drohte er sogar damit, die Polizei einzuschalten, weil Nick und Chrissie Telefonterror veranstalteten.
Und Chrissie war meine große Liebe, nur wusste sie das damals noch nicht. Aber Nick! Und der flirtete die ganze Zeit mit ihr herum, obwohl er - wie ich genau wusste, auf Sandy stand. Wahrscheinlich versuchte er sie eifersüchtig zu machen.
Schließlich spielten wir Wahrheit oder Tat. Natürlich traf es mich zuerst. Ich entschied mich für Tat und musste zu einem der Nachbarn gehen, was nicht schlimm gewesen wäre, wenn ich es nicht in Sandys Nachthemd hätte tun müssen. Wir machten fast die ganze Nacht durch. Als wir irgendwann in die Gästezimmer gingen um wenigstens ein paar Stunden zu schlafen und ich meinen Koffer öffnete, war es stockfinster.
Ich hatte noch kein Licht angemacht, da es in diesem Sommer unglaublich viele Stechmücken gab und das Fenster nicht zuging. Ein kalter Luftzug wehte herein. Von draußen hörte ich unheimliche Geräusche. Der laute Ruf einer Eule erschreckte mich fast zu Tode. Zu dumm, dass mein Schlafanzug ganz unten im Koffer war. Beim Einpacken hatte ich nicht daran gedacht, dass ich ihn ja bereits bei Charlie brauchen würde. Aber ich war eben wieder Mal total genervt von Ron gewesen, der meine Lieblingsjeans versteckt hatte. Als ich sie jetzt herauskramen wollte, streifte meine Hand zum zweiten Mal an diesem Tag etwas wirklich Widerliches.
„Iihhh!“, rief ich angeekelt aus und starrte den toten Fisch an, der sich zwischen meinen Klamotten befand.
Ein durchdringender Geruch drang mir in die Nase.


Kapitel 8

„Beruhige dich, Jim“, forderte ich mich auf, „er ist natürlich nicht echt. Das bildest du dir nur ein.“
Dann wurde mir klar, von wem dieser nette Gruß sein musste.
„Oh nein!“, stöhnte ich, „nicht schon wieder!“
Es war so klar gewesen, dass ich auch hier keine Ruhe vor Ron haben würde. Das ging einfach zu weit!
Er hatte sich heimlich in mein Zimmer geschlichen, um irgend so ein ekliges Schleimteil in meinen Koffer zu stecken?
Im Grunde war er ja ganz okay, aber manchmal ging mir sein schräger Humor echt auf den Keks. Andererseits war das hier wirklich harmlos.
Im Gegensatz zu dem was er sonst immer anstellte, meine ich.
Du wirst es nicht glauben. Aber ich bin mir sicher, dass du Ron, nach dem ich dir das erzählt habe, nie mehr in Schutz nehmen wirst. Jeder wusste, dass ich der ultimativste Gitarrenfan überhaupt war.
Mein ganzes Zimmer war voller Poster von Bryan Adams und Avril Lavigne. Ich spielte beinahe rund um die Uhr Gitarre – zumindest immer, wenn ich nicht gerade mit Nick abhing.
Und in diesem Sinne hatte es Ron vor ungefähr zwei Monaten geschafft, mich aufs Übelste zu blamieren. Es ging um den Auftritt bei dieser Schulveranstaltung, bei der ich in der Band spielen sollte. Erinnerst du dich? Natürlich wusste Ron davon. Er sorgte dafür, dass ich nicht rechtzeitig kam, bzw. total unerwartet.
Bei der Generalprobe war ich krank gewesen und hatte dadurch nicht erfahren, wann unser Auftritt sein würde. Besser gesagt, hatte Ron mir eine halbe Ewigkeit zuvor weisgemacht, der Auftritt sei eine Woche später.
Frag mich nicht, wie ich so blöd sein konnte ihm zu glauben. Ich gehörte eben zu den Menschen, die positiv eingestellt sind.
Und dass ich trotz Rons ständiger Nerverei immer noch das Gute in ihm sah, spricht doch eigentlich für mich, oder? Vielleicht lag es aber auch daran, dass ich nicht im Entferntesten auf die Idee gekommen wäre, dass er mich anlog.
Jedenfalls ging ich an diesem Tag völlig ahnungslos in die Schule. Man muss wissen, dass die Bühne in unserem Musikraum genau da war, wo auch die Eingangstür war. Unser Musikraum war sozusagen gleichermaßen auch Aula.
Wer das Schulhaus betrat, stand auf der Bühne. Ich muss zugeben, dass das etwas ungewöhnlich klingt, aber für uns war es total normal.
Und genau diese Ungewöhnlichkeit hatte Ron genutzt. Er hatte meinen Wecker manipuliert und somit sichergestellt, dass ich verschlafen würde.
Was ich auch tat. Alle meine brauchbaren Klamotten waren in der Wäsche. Also zog ich so ziemlich das dämlichste an, was ich hatte. Dann schüttete ich mir beim Frühstück auch noch Saft über die Hose, was einen unübersehbaren Fleck hinterließ.
Aber das war mir so ziemlich egal. Ich wusste ja nicht, dass ich eine halbe Stunde später in diese Schülerveranstaltung platzen und sich alle über mich- und meine Klamotten- halbtot lachen würden. Die Einzelheiten erspare ich dir lieber.
Rons Grinsen gab mir den Rest. Verstehst du jetzt, was ich mit „schrägem Humor“ gemeint habe? Mich zu ärgern war eine seiner Lieblingsbeschäftigungen. Man könnte sagen, dass er es zu seiner – wie er sagte- Lebensaufgabe gemacht hatte.
Nimm zum Beispiel letztes Weihnachten. Ich hatte mir das tollste T-Shirt überhaupt gewünscht. Warum ich es so toll fand? Es war von meiner Lieblingsband den „Hot Stars“.
Meine Eltern schenkten es mir. Und es war verdammt teuer. Limited Edition, du weist schon. Jedenfalls fand Ron auch da eine Möglichkeit um mir eins auszuwischen.
Er steckte es – aus Versehen - in den falschen Wäschekorb. Das Ergebnis: Es ist jetzt zwei Nummern zu klein. Ich hatte es kein einziges Mal an! Und meine Eltern hatten ihm natürlich geglaubt.

Zurück zum Thema. Ich hatte keine Lust, mich ausführlicher mit Rons „Reisegruß“ zu beschäftigen und legte das „Was auch immer Teil“, das er in meinen Koffer gesteckt hatte, beiseite.
Vielleicht würde ich es mir am nächsten Morgen ja ansehen und Nick damit erschrecken. Aber ich war zu müde um länger darüber nachzudenken. Ich hatte meinen Schlafanzug endlich gefunden und mich umgezogen.
Trotzdem konnte ich nicht einschlafen. Ich lag im Bett. Die Bettdecke lag zusammengeknüllt am Fußende. Wieso gab es eigentlich kein Wort dafür gab, wenn man an Hitze starb?
Ich meine, wenn ich mich zugedeckt hätte, wäre ich schließlich nicht erfroren. Denn obwohl das Fenster nicht zuging, schwitzte ich mich fast zu Tode. Die anderen schliefen sicher längst.
Ich schloss die Augen und freute mich schon wahnsinnig auf den nächsten Tag. Kein Wunder also, dass ich wie von der Tarantel gestochen hochfuhr, als mit einem Mal die Tür mit einem widerlich quietschenden Geräusch aufgerissen wurde.
Mir stockte der Atem, als ich in die Stille horchte. Der Durchzug ließ die Vorhänge flattern und ich spürte einen leichten Luftzug auf meiner Haut.
Ich versuchte in der Dunkelheit irgendetwas zu erkennen, die Augen starr Richtung Tür gerichtet.
Wer war da?
„Hallo?“
Für einen Moment erhellte ein Blitz das Zimmer, aber der Donner, der gleich danach losbrach ließ mich zusammenzucken und ich erkannte überhaupt nichts mehr. Stille.
„Na toll“, dachte ich: „Ist jetzt auch noch die Tür kaputt, oder was?“ Wahrscheinlich hatte der Wind sie aufgeblasen. Aber so plötzlich? Irgendjemand musste da sein. Ich hielt den Atem an. Mein Puls schlug schneller. Ich zwang mich ruhig zu bleiben.
„Hallo“, fragte ich erneut. Es blieb absolut still. Also ließ ich mich wieder auf die Matratze sinken und schloss die Augen.
„Waaaaaaaaahhhhh!!“, heulte jemand auf und verursachte ein ohrenbetäubendes Geräusch, das mich aufschrecken ließ. Ich spannte meine Muskeln an und war bereit, jeden Moment aus dem Bett zu springen.


Kapitel 9

Wenn es einer von den anderen war, warum sagte er dann nichts? Es gab nur eine Möglichkeit. Es war jemand den ich nicht kannte und der hier nichts zu suchen hatte. Und ich hatte keine Ahnung was ich tun sollte.
„Ich bin’s nur“, flüsterte jemand, dessen Stimme ich nur zu gut kannte. Ich stöhnte.
Es war Nick. Er war über einen meiner Schuhe gestolpert, an den kleinen Schreibtisch gestoßen, der in meinem Zimmer stand und hatte dabei eine Lampe umgestoßen. Eben typisch Nick.
Weißt du, wenn er etwas tut, dann mit vollem Einsatz. Und jetzt wollte er unbedingt noch etwas essen.
Habe ich schon erwähnt, dass Nick ein richtiger Vielfraß ist? Wenn nicht, weißt du es jetzt.
Ich rappelte mich auf. Er wartete auf mich. Leise gingen wir in die Küche um die anderen nicht zu wecken. Dann fiel mir auf wie kalt der Boden war und ich lief schnell in mein Zimmer zurück um mir Socken anzuziehen.
Als ich in die Küche kam, mampfte er bereits ein Sandwich und hatte sich ein Stück Pizza in die Mikrowelle gestellt. Er konnte pausenlos essen. Ich begnügte mich mit einem Glas Mineralwasser.
Nick war kräftig gebaut, hatte dunkle Haare, breite Schultern und trug immer dieselbe Baseballkappe.
Sogar jetzt, mitten in der Nacht! Ich dagegen war eher der schlaksige Typ. Blonde Haare und Brille. Wir waren ungefähr gleich groß. Sonst sahen wir uns nicht im Geringsten ähnlich.
„Bist du überhaupt nicht müde?“, sagte ich zu Nick, der gerade irgendetwas im Kühlschrank suchte. “Nee.“, antwortete er. „Aber jetzt ist nichts mehr zum Essen da.“
„Wie?“, fragte ich. „Und was essen wir Morgen?“
Nick zuckte die Schultern und gähnte. Ich grinste. Also wenn es ihm egal war, dass er morgen vielleicht nichts frühstücken konnte, dann musste er schon ganz schön durcheinander sein. Woran das wohl lag?
Unter anderen Umständen hätte ich ihn bestimmt ausgequetscht. Aber ich wollte endlich schlafen gehen. Wir verzogen uns wieder in unsere Zimmer. Ich seufzte. Mir war klar, dass die Nacht nicht mehr sehr lange dauern würde. Über diesen Gedanken schlief ich schließlich ein. Ich hatte einen Alptraum.
Drei Mal darfst du raten um wen es darin ging. Richtig. Um meinen Lieblingsbruder Ron.
Was nicht schwer ist, wenn man nur einen hat. Er sah aus wie ein Marsmensch. Sollte ich damit irgendeinen Marsmenschen beleidigen, tut es mir leid. Aber diese Rolle passte wirklich zu ihm. Er hatte diese Fühler, wie in den Filmen über Außerirdische und trug einen grünlichen Raumanzug.
Naja, er schaut sich immer Star Treck an. Manchmal steigert er sich wie wahnsinnig in diese Filme hinein. Dann tut er so, als sei er der Captain eines Raumschiffes und nervt absolut jeden damit.
Wenn er wenigstens etwas Realistischeres schauen würde. Aber ich glaube in diesem Punkt wird er sich nie ändern.
Unsanft wurde ich geweckt. Ich rieb mir die Augen und sah Charlie, der irgendetwas von beeilen redete. Dann verschwand er nach draußen. Langsam wurde ich wach.
Ja! Heute war der Tag an dem wir wegfahren würden! Mit einem Mal war meine Laune fantastisch. Ich zog mich in Rekordzeit um und lief in die Küche. Die anderen warteten bereits auf mich. „Morgen“, begrüßten sie mich.
„Morgen!“, antwortete ich und wir besprachen alles Wichtige, was wir noch erledigen mussten, bevor wir fahren konnten.
Ich räumte gemeinsam mit Nick das Wohnzimmer auf, während die Anderen sich um die restlichen Zimmer kümmerten. Wir machten unsere Arbeit nicht gerade ordentlich, aber das musste reichen. Dann trafen wir uns vor dem Haus.
Wir packten unsere Koffer in Charlies alten BMW. Es gab keine Klimaanlage und wir schwitzten bei offenen Fenstern.
Im Radio liefen immer wieder dieselben Lieder. Nick und ich spielten Luftgitarre und soweit es im Auto möglich war rockten wir zur Musik.
Unterwegs aßen wir in einem Schnellimbiss. Wir hatten Mühe unser Essen hinunterzuwürgen. Es schmeckte scheußlich!
Nick war der Einzige, der dabei nicht das Gesicht verzog. Er bestellte sich sogar noch mehr! Ich fragte mich ernsthaft ob seine Geschmacksempfindung irgendwie gestört war.
Als er endlich satt war, waren Charlie und ich heilfroh. Ich glaube, uns wäre schlecht geworden, wenn wir ihm dabei hätten zusehen müssen, wie er noch weiter gegessen hätte.
Dann überlegten wir uns, was wir am Abend machen wollten.
„Wir könnten doch mal wieder ins Kino gehen. Ich glaub es kommt grad ein ziemlich guter Film, “ schlug Nick vor.
„Stimmt, der mit Jonny Winter. Tja, Jim, der Film ist erst ab sechzehn. Ich weiß ja nicht, ob die dich da rein lassen, “ versuchte Charlie mich zu ärgern.
„Ha,ha! Wie komisch!“, meinte ich sarkastisch.
„Was ist mit euch zwei?“, fragten wir die Mädels. Chrissie zuckte die Schultern: „Von mir aus.“
„Sandy?“, hakte ich nach.
„Was?“, sie sah uns fragend an. “Willst du jetzt ins Kino oder nicht?“, langsam verlor Charlie die Geduld. „Kino?“, stutzte sie, “klar, aber wie kommt ihr auf einmal darauf?“
Entgeistert sahen wir sie an. „Was habt ihr denn alle?“, wollte sie wissen. „Falls es dir entgangen sein sollte: Wir haben die letzten zehn Minuten darüber geredet ob wir heute Abend ins Kino gehen sollen.“ Das war zwar etwas übertrieben, aber von mir aus sollte sie es ruhig glauben.
Sie war total aus dem Häuschen.
„Echt?“, fragte sie fast etwas beleidigt, “ihr habt die ganze Zeit über DEN Film geredet? Ohne mich?“
„Entschuldige mal!“, mischte sich jetzt Chrissie ein, „Was können wir denn dafür, wenn du nicht zuhörst?“
Ich hatte genug. „Also, Sandy? Willst du in den Film oder nicht?“ „Natürlich!“, sagte sie, “Ich hab’ so eine Kritik in der Zeitung gelesen, der Film soll voll toll sein! Moment mal, ihr meint doch Quiet death oder?“
„Sicher“, nickte Nick, „war ja klar, dass du schon davon gehört hast.“ Sie begann uns in allen Einzelheiten von dem Kinofilm zu erzählen, den sie als Letztes von demselben Regisseur gesehen hatte und Nick bereute seinen Vorschlag.
„...Als der Verbrecher dann über den Gartenzaun klettern wollte, blieb er hängen…“, kicherte sie.
Nach einer viertel Stunde war Charlie so genervt, dass er sie unterbrach: „Mein Gott, es interessiert mich nicht, okay?!“ Sandy sagte nichts mehr.
„Toll gemacht, du Superhirn!“, dachte ich und musste mich tierisch zusammenreißen, nicht meine Meinung zu sagen. Aber irgendwo hatte er ja schon Recht.
Dann standen wir eine geschlagene Stunde im Stau. Natürlich verschonte uns Charlie nicht mit seinen Witzen. Höflichkeitshalber lachte ich, aber innerlich seufzte ich erleichtert auf, als er endlich den Mund hielt. Neben mir schmatzte Nick wie ein kleines Kind auf seinem Kaugummi. Also schmatzte ich auf meinem noch lauter, in der Hoffnung, er würde merken, wie laut er kaute.
Aber der Schuss ging voll nach hinten los. Sandy meckerte mich an, dass ich mich unmöglich benehmen würde. Nick kaute seelenruhig weiter. Es war nicht zu fassen.
Nach einer halben Ewigkeit kamen wir schließlich an. Du glaubst gar nicht, wie froh ich war. Völlig erschöpft von der langen Fahrt genossen wir die Ruhe. Allerdings gab es hier nicht genug Zimmer. Die Mädels waren bereit sich eins zu teilen. Was kein Problem war. Matratzen gab es im Überfluss.
„Ich glaube, es dürfte noch genug Dosenfutter da sein um uns fürs Erste satt zu bekommen“, versicherte Charlie Nick, der schon wieder Hunger hatte
„Zwar nicht restaurantreif, aber allemal besser als der Fraß von heute Mittag.“ Nick sah ihn verständnislos an. War ja klar gewesen, dass er anderer Meinung sein würde.
Auch ich hatte Hunger und wir beschlossen, eine Dose Ravioli aufzumachen. Weil es am Anfang etwas fad war, mischten Charlie und ich alle möglichen Gewürze hinein. Nick ließen wir nicht ran.
Ich meine: Er würde am Ende irgendwas Verschimmeltes hinein tun und es auch noch lecker finden. Nur über meine Leiche. Allerdings war ich auch nicht der perfekte Koch. Ich hatte einfach nicht damit gerechnet, dass der Pfefferstreuer so große Löcher hatte…
Sandy und Chrissie waren wenig begeistert. Ich ließ es mir schmecken. Während Nick fertig aß, suchten Charlie und ich das Kinoprogramm heraus. Wir hatten vergessen, wie der Film hieß, in den wir wollten.
Was? Du meinst wir hätten doch Sandy fragen können? Natürlich hätten wir das tun können. Aber als wir das das letzte Mal gemacht haben, hat sie in den darauf folgenden Wochen überall herumerzählt, dass wir keine Ahnung von nichts hätten. Wenn wir jetzt fragten, würde sie uns das wahrscheinlich bis in alle Zeiten aufs Butterbrot schmieren.
Nein danke. „Da! Quiet death!“, jubelte Charlie triumphierend.
„Psst! Nicht so laut!“, warnte ich ihn. Zu spät. Da waren die Beiden schon. Tuschelnd standen Sandy und Chrissie in der Zimmertür.
Jeder Versuch, die Situation abzustreiten, wäre sinnlos gewesen. Wir versuchten es trotzdem.
„Hi! Ich hab´ nur schon Mal nachgesehen, wann der Film läuft.“, erklärte Charlie.
„Klasse!“, freute sich Chrissie, “Wann denn?“
„Mist!“, dachte ich, „so was Dummes!“ Verzweifelt versuchte ich einen Blick auf das Programm zu erhaschen.
„Achtzehn Uhr.“, kam Nick aus der Küche.
„Huu“, das war die Rettung. Ich glaube, die Beiden hatten doch nichts gemerkt. Als sie wieder in ihr Zimmer verschwunden waren, fragten wir ihn: „Woher wusstest du das, Mann?“
“Was?“, wollte er wissen.
„Achtzehn Uhr?“, half ihm Charlie auf die Sprünge. „Ach so, das.“, begriff er endlich, was wir wollten, „Na ja. Ehrlich gesagt, habe ich auf meine Uhr geschaut.“
„Hääh?“, ich verstand nicht, „Wieso auf die Uhr?“
„Ja, ihr wolltet doch wissen wie spät es ist, oder?“
„Ach du Scheiße…“, Charlie dachte dasselbe wie ich. Wahrscheinlich lachten sich Chrissie und Sandy bereits halb tot über uns.
Ich klopfte Nick auf die Schulter: „Danke für die Information.“ Natürlich begann der Film nicht um Achtzehn Uhr, sondern erst um Zwanzig Uhr. Somit hatten wir uns total blamiert.
Zehn Minuten später kamen die Mädels und ließen uns auflaufen. „Schade, ihr hättet uns ruhig vorher sagen können, wann der Film anfängt. Jetzt kommen wir eh zu spät“, meinte Sandy.
„Jungs haben eben ein Händchen für Timing.“, setzte Chrissie drauf. Unbeholfen drucksten wir etwas von wegen „Zeit vergessen“ herum. Wie auf Kommando prusteten sie los.
Ich wäre am liebsten im Erdboden versunken.


Kapitel 10

Ich sei selbst Schuld, sagst du? Ja, ja, ich weiß. Du brauchst mir nicht auch noch zu verstehen geben, dass wir wieder total ins Fettnäpfchen getreten waren.
Als wir im Kino waren, fiel mir auf, dass fast alle älter waren als wir. Rechts neben mir saß Nick, links Chrissie. In der einen Szene konnte ich aus den Augenwinkeln erkennen, dass sie sich die Hand vor die Augen hielt. Sie sah ziemlich blass aus.
„Alles klar?“, fragte ich. Sie nickte, was nicht sehr überzeugend war.
„Sicher?“, fügte ich skeptisch hinzu.
Sie sah immer noch nicht auf, sondern nickte nur wieder. Der Film war so spannend! Bald war ich so sehr mitgerissen, dass ich nicht bemerkte, dass Chrissie aufstand und hinausrannte. Ich glaube, sie musste sich übergeben.
Als der Film aus war, saßen nur noch Nick, Charlie und ich da. Dass Chrissie und Sandy gegangen waren, wunderte mich nicht sonderlich. Teilweise war der Film wirklich etwas überdreht gewesen.
Die beiden warteten bestimmt ungeduldig auf uns. Also standen wir auf und gingen in Richtung Ausgang. Ich bemerkte, dass Charlie und Nick schwindlig war. Charlie wäre fast gestolpert. Draußen blickte ich auf meine Uhr. Der Krimi hatte beinahe drei Stunden gedauert! Chrissie saß auf der Bordsteinkante und winkte uns zu.
„Huhu! Hier drüben!“
Wo ist Sandy?“, rief ich zurück.
„Sandy?“, blickte sie uns fragend an, „Ich dachte, sie ist bei euch!“
„Was?“, meldete sich Nick zu Wort, „Du hast sie nicht gesehen? Sie ist doch kurz vor dir hinausgegangen!“
Charlie meinte, dass sie vielleicht schon mit dem Bus vorgefahren sein könnte.
„Ja“, stimmte ihm Chrissie zu, „Sie hatte nur ein dünnes T-Shirt an und muss gefroren haben. Wir haben gar nicht damit gerechnet, dass es heute Abend so kühl wird.“
„Nein“, hielt ich dagegen, „Sie hätte mit Sicherheit gewartet, wenn ihr kalt gewesen wäre. Zwischendurch war ihr schlecht. Ich glaube, sie ist nur kurz hinausgegangen um Frischluft zu atmen.“
„Möglicherweise ist sie noch drinnen. Da muss doch irgendein Warteraum sein. Lasst uns nachsehen.“
Ich winkte den anderen, mir zu folgen. Als wir zurück ins Kino gingen, kam uns ein heftiger Geruch von Popcorn entgegen. Den hatten wir vorher gar nicht richtig wahrgenommen.
„Bääh!“, ächzte Charlie, „Das ist ja widerlich!“ Es gab tatsächlich einen Warteraum.
Der war ziemlich verqualmt. Entlüftungsschächte gab es hier wohl keine. Sandy war nicht da.
„Jim? Hast du dein Handy dabei?“, fragte Nick: “Ich habe meins vergessen. Du könntest Sandy anrufen und fragen wo sie steckt.“ Ich hatte es dabei. Wieso war ich da nicht selbst drauf gekommen. Ich gab Sandys Handynummer ein und wartete.
„Mist!“, fluchte ich: “Sie hat ihr Handy ausgeschaltet!“ Chrissie gähnte. Es war offensichtlich, dass sie müde war. Ich musste auch gähnen.
“Wir müssen uns aufteilen“, schlug Nick vor, „Wenn wir sie so schnell wie möglich finden wollen. Jim, Chrissie, ihr fahrt mit dem Bus nach Hause. Charlie und ich können hier die Stadt absuchen.“
Charlie war einverstanden.
„Wenn du uns dein Handy gibst, können wir euch Bescheid sagen, wenn wir sie finden. Wenn ihr sie finden solltet, ruft ihr von zu Hause aus an.“
Ich gab ihm mein Handy. Aber Chrissie passte das nicht: „Wir sollten zusammen bleiben. Es ist schon fast Mitternacht.“
„Na gut.“, räumte Charlie ein. „Aber bevor wir hier noch lange diskutieren, sollten wir endlich was untenehmen!“
Wir nahmen alle das Auto. Sandy war nirgends zu finden. Eine Stunde später beschlossen wir zurückzufahren. Charlie parkte im Hof und wir liefen ins Haus. Nick war zuerst drinnen.
„Sandy?“, rief er, “Bist du da?“
Nichts.
„Sandy?“, jetzt riefen wir alle nach ihr. Nick und Charlie rannten nach oben. Doch da war sie auch nicht. Nick machte sich am meisten Sorgen. Er sagte, dass er, obwohl wir schon die ganze Stadt abgesucht hatten, noch mal hinfahren wollte. Vorsichtshalber ging ich mit. Charlie war todmüde und borgte uns sein Auto. Ich holte unsere Mäntel. Trotz der Hitze, die tagsüber herrschte, kühlte es abends ziemlich ab. Das Kino hatte längst geschlossen.
„Warte“, sagte ich, weil Nick weiter fahren wollte. „Da!“ Nick konnte Sandy nicht sehen. Er saß auf der anderen Seite. Sie saß zusammen gesunken gegenüber vom Kino auf einer Treppe und schlief.
„Da!“, zeigte ich in ihre Richtung und auch Nick erkannte sie. „Wieso haben wir sie vorhin nicht gesehen“, fragten wir uns.
Nick parkte den Wagen, während ich bereits zu Sandy lief. Einen kurzen Augenblick später kam er hinter mir hergehastet. Er zog seine Jacke aus, um sie Sandy zu geben und kniete sich zu ihr herunter.
Als ich mich auf der anderen Seite neben ihr in der Hocke setzte, um sie zu wecken, hielt ich inne. Das Licht der Straßenlaterne gab den Blick auf Sandy frei.
Nick sah nicht, was ich sah. Und mir war klar: Es würde ihm ganz und gar nicht gefallen.
Er saß im Schatten. Er sah sie, wie sie immer aussah. Beziehungsweise sah er im Dunkeln sowieso nicht viel.
Aber ich sah es. Das Blut. Das Blut, das aus ihrer Schläfe über die rechte Gesichtshälfte lief. Langsam rinn es aus einer Wunde.
Tropf. Tropf.


Kapitel 11

Ich sah, wie blass ihr Gesicht war.
“Nick?“, flüstert ich „Gib mir mein Handy.“
“Wieso“, fragend blickte er mich an. „Gib!“
Er gab es mir und ich rief sofort den Notdienst an.
„Was verdammt noch Mal ist los?“, wollte Nick endlich wissen. Ich gab ihm einen Wink, auf meine Seite zu kommen. Ich wusste, dass er in Sandy verliebt war.
Er hätte es nie zugegeben. Aber manchmal war es einfach zu offensichtlich. Du hättest mal sehen sollen, wie er sich jetzt benahm. Zum Glück kam der Krankenwagen gleich.
Der Arzt meinte, jemand müsste mit etwas Hartem, Spitzem nach ihr geworfen und sie an der Schläfe getroffen haben.
„Möglicherweise ein Stein.“, setzte er hinzu.
Nick und ich sahen zu, als Sandy verarztet wurde. Sie wurde nicht ins Krankenhaus gebracht. Etwas verstört lächelte sie Nick an. Ich verdrehte die Augen.
„Oh, Mann!“, dachte ich.
Der Arzt verband die Wunde und erklärte, am nächsten Tag könnten wir den Verband abnehmen. Ein Pflaster würde dann reichen. Als der Krankenwagen längst weg war, machten auch wir uns auf den Weg.
Ich fuhr. Nick und Sandy saßen auf der Rückbank und flirteten. “Hat ja lange genug gedauert“, dachte ich.
Nick stellte sich in dieser Hinsicht immer ziemlich dumm an. Das hatte er öfter als einmal bewiesen. Das beste Beispiel dafür war eindeutig Julia.
Hör zu: Vor einigen Jahren hatte sich Nick „unsterblich“ in dieses Mädchen verliebt. Er himmelte sie geradezu an. Immer wenn er sie auf den Gängen in der Schule sah, passierte ihm irgendein Missgeschick.
Einmal war er auf einem feuchten Putzlappen ausgerutscht, der mitten im Weg gelegen hatte und eigentlich überhaupt nicht zu übersehen gewesen war.
Die Reinigungskraft hatte ihn noch nicht weggeräumt, weil sie noch nicht ganz fertig gewesen war und nur schnell frisches Wasser hatte holen wollen.
Jedenfalls war er direkt vor Julias Füßen gelandet. Ihr Brot, das sie aus Versehen fallen gelassen hatte, als er über den Boden geschlittert war, hatte zermatscht in der Seifenwasserlauge gelegen und Julia hatte angewidert das Gesicht verzogen.
Dass Nick dann wie ein kleiner Schuljunge gegrinst hatte, was meiner Meinung nach ziemlich daneben gewesen war, hatte die Situation nicht gerade einfacher für ihn gemacht.
Julia hatte ganz offensichtlich ein Lachen unterdrückt, als er etwas unbeholfen aufstand und sagte: „Oh, tut mir leid. Ich kann dir mein Brot geben, wenn du willst. Ich meine, das da kannst du vergessen.“
Verlegen hatte er ihr sein Schinkensandwich gereicht. Ich glaube, er hatte es regelrecht genossen, etwas für sie tun zu können. Leider hatte der Arme vergessen, dass Julia Vegetarierin war.
„Nett von dir“, sagte sie und machte Anstalten ins Brot zu beißen. In diesem Moment kam ich die Treppe hinunter. Was ich mitbekam war, dass Julia das Gesicht verzog und Nick ein Sandwich vor die Füße warf.
„Hossa!“, wunderte ich mich: “Was ist denn da los?“ Julia hatte sich auf dem Absatz umgedreht und war wütend in Richtung Pausenhof verschwunden.
„Was war das denn gerade?“, hatte ich wissen wollen.
„So ein Mist! Ich hab´ mich wie der letzte Vollidiot benommen. Dabei wollte ich doch nur…“
„Was?“, hatte ich noch Mal gefragt und Nick hatte es mir erzählt. Er hatte mir richtig Leid getan. Von da ab war ihm Julia regelrecht aus dem Weg gegangen.
Zuhause wurde Nick wieder zum Vielfraß. Ich verzog mich mit Charlie nach oben. Chrissie schlief denke ich schon. Sie ließ sich an diesem Abend jedenfalls nicht mehr bei mir blicken. Irgendwann ging ich auch ins Bett. Ich schlief wunderbar.

Glas splitterte. Blitzschnell war ich wach. Was war das gewesen? Ich sprang aus dem Bett. Es war 4 Uhr morgens. Ich raste die Treppe hinunter.
Da war nichts. Absolut nichts. Aber ich hatte etwas gehört. Ein Geräusch, als sei eine Glasscheibe zerbrochen worden. Ich rannte in jedes Zimmer.
Nichts! Das konnte ich nicht glauben. Ich lief wieder nach oben und weckte Nick.
„Nick?“, rüttelte ich ihn wach. Er zuckte zusammen: „Jim? Was ist los?“ Verschlafen sah er mich an. „Hast du das etwa nicht gehört?“, entgegnete ich ihm.
„Was sollte ich denn gehört haben?“ fragte er, „Etwa dass du hier mitten in der Nacht herumbrüllst wie ein Verrückter?“ Ich seufzte.
„Glas hat gesplittert!“, erklärte ich, „Aber nirgends ist irgendwas kaputt!“ Nick verstand immer noch nicht.
„Na und?“, fragte er ironisch, „Was hast du vor? Mit dem Auto loszufahren und bei jedem Haus zu fragen, ob es bei ihnen einen Einbruch gab? Freu’ dich doch einfach, dass nichts passiert ist.“
„Trottel!“, setzte ich erneut an. „Das ist es! Das Auto! Da hab´ ich noch nicht nachgeschaut.“
Nick sah mir verwirrt hinterher, als ich nach draußen rannte
„Das Auto!“, rief ich, „Es ist weg!“
Charlie war auch wach geworden und lief mir entgegen: „Was?! Das Auto ist weg? Aber die Schlüssel waren doch im Haus, oder?“
Verlegen sah ich zu Nick, der eben angetrottet kam. Wir mussten die Schlüssel irgendwie vergessen haben, als wir ins Haus gegangen waren. Nick zuckte nur die Schultern.
„Wollt ihr mich verarschen?!“, Charlie wurde wütend.
„Bleib cool, Mann!“, versuchten wir ihn zu beruhigen, „Wir finden deine Karre schon wieder!“
Charlie kochte innerlich: „Dann macht Mal! Und wehe…!“ Er wurde von Donner unterbrochen.
Ein Gewitter war aufgezogen. Nick und ich beteuerten ihm er würde den Wagen wiederbekommen und drängten ihn, ins Haus zurückzugehen. Die Mädels schliefen. Wenigstens waren sie nicht auch noch wach geworden.
Nick und ich hatten ein Problem.
„Lass uns erst mal ausschlafen“, schlug Nick mir vor, „Jetzt sind wir doch viel zu müde.“
Ich war auch dafür. Andererseits war Charlie ganz schön sauer. Und ich konnte es ihm nicht mal wirklich verübeln.
Er hing sehr an seinem Auto. Ich erinnerte mich noch sehr gut daran, was letzten Sommer passiert war. Da hatte er uns das gründlich bewiesen. Damals hatten sich seine Eltern einen neuen Wagen gekauft und ihm ihren alten geschenkt. Seitdem pflegte er dieses Auto ständig!
Jedenfalls waren wir beide auf der Landstraße unterwegs gewesen. Wir hatten kein direktes Ziel gehabt, sondern sind einfach so durch die Gegend gefahren. Uns war oft langweilig gewesen.
Hätte ja sein können, dass wir irgendwas entdeckten, das wir noch nicht kannten. Wir sind ziemlich langsam gefahren, da vor uns ein Fahrradfahrer fuhr, den wir auf der engen Strecke nicht überholen konnten.
Dann war ein Lastwagen hinter uns aufgetaucht. Wir waren überrascht gewesen, da hier eigentlich gar keine LKWs fahren durften.
Außerdem war er weit über dem Tempolimit gewesen. Charlie hatte es überhaupt nicht eingesehen, schneller zu fahren.
Der Fahrer hupte.
Charlie und ich dachten nur: “Hat der ´ne Schraube locker?“
Er hupte erneut, aber wir hätten wegen dem Radfahrer sowieso nicht schneller fahren können. Dieser versuchte so weit wie möglich an den Rand zu fahren, aber wäre er noch weiter ausgewichen, wäre er wohl gegen die Leitplanke gefahren. Im Rückspiegel erkannten wir, dass der Fahrer weiter beschleunigte.
„Der spinnt ja total!“
Charlie wurde unruhig. Der Lkw fuhr bedrohlich nah heran.
“Verdammt!“, zischten wir gleichzeitig.
Uns blieb nichts anderes übrig, als hinter dem Radfahrer zu bleiben. Als wir fast glaubten keine Chance mehr zu haben, sahen wir, dass etwas weiter vorne ein größeres Loch in der Leitplanke war.
Es würde zwar auf jeden Fall gefährlich für den Radfahrer sein hindurch zu fahren, da dann ein steiler Abhang kam, aber wenn er es geschickt anstellte würde er es schaffen. Ich sah noch mal in den Rückspiegel. Der Lkw hielt direkt auf uns zu. Charlie sah mich an.
Er dachte dasselbe wie ich.
„Wink ihn zur Seite.“, befahl mir Charlie. Ich hupte. Gleich würden wir bei der Lücke sein. In diesem Moment rammte uns der Lkw. Der Wagen wurde zur Seite gedrängt.
Wir prallten mit dem Fahrrad zusammen. Der Fahrer verlor das Gleichgewicht und stieß mit voller Wucht gegen die Leitplanke. Charlie versuchte auf die andere Seite zu lenken.
Doch der Lkw rammte uns erneut. Ich sah nicht, was mit dem Fahrer passierte. Der Lkw schob uns von der Fahrbahn und Charlie verlor die Kontrolle über den Wagen. Uns beiden drehte sich der Magen um. Wir rasten den Hang hinunter. Das Auto wurde immer schneller.
„Bremms!“, schrie ich.
Endlich verlangsamte sich das Tempo.
Charlie und ich fingen uns langsam wieder.
„Such nach dem Radfahrer!“, gab ich ihm zu verstehen, als der Wagen endgültig zum Stilstand gekommen war.
Du wirst mir nicht glauben, was er tat. Er suchte nicht nach ihm. Nein. Er stand da und bejammerte sein Auto! Traurig, nicht? Ich entschloss mich so schnell wie möglich die Polizei anzurufen. Sie sollte den Lkw anhalten.
Vor allem aber brauchten wir sie, um den Radfahrer zu finden und möglicherweise zu verarzten. Mein Schädel brummte.
„Aua“, entfuhr es mir, als ich den Fahrer entdeckte. Er lag hilflos am Boden und rührte sich nicht. Sein linkes Bein blutete stark. Neben ihm am Straßenrand sah ich das verbogene Rad.
„Hallo“, wollte ich ihn anreden.
Kläglicher Versuch, ich weiß. Charlie schien das nicht zu interessieren.
„Wenn ich den in die Finger kriege! Den bring´ ich vors Gericht!“, brüllte er. Die Polizeisirene ertönte von weitem.
„Na los!“, hoffte ich auf den Krankenwagen, „Beeilt euch.“ Da kam er auch schon. Schon? Endlich! Es hatte ja lange genug gedauert!
Am meisten regte mich bei dieser Sache Charlies Getue um sein Auto auf. Er brachte es in eine Werkstatt. Zumindest fuhr es noch. Es verdiente aber nicht mehr den Namen „Auto“, höchstens „Karre“.
Ach, wenn wir schon dabei sind: Sag´ in Charlies Anwesenheit nie „Schrottkarre“. Merk dir das. Es könnte gefährlich werden.
Als wir Nick, Chrissie und Sandy von dem Unfall berichtetet hatten, hatten sie uns zuerst nicht geglaubt. Wir mussten Alles bis ins kleinste Detail schildern. Sie hörten aufmerksam zu. Natürlich entging ihnen nicht, dass Charlie sich weniger um den Radfahrer als um sein Auto gesorgt haben musste.
Wenn du mir jetzt immer noch nicht glaubst, wie sehr er an seinem Wagen hing, hör dir das an: Ca einen Monat nach diesem Umfall waren wir alle zusammen auf dem Weg zu einem Live-Konzert.
Wir waren spät dran und fuhren etwas schneller als sonst. Plötzlich kam aus einer Seitengasse ein kleiner Junge mit seinem Roller.
Charlie sah ihn und bremste ab. Trotzdem konnte er es nicht mehr verhindern, den Jungen leicht anzufahren. Dem Jungen war nichts passiert, aber vor Schreck rannte er davon und sein Roller fiel um. Dabei hinterließ er einen langen Kratzer auf der Motorhaube.
Auch hier regte Charlie sich fürchterlich auf. Als der Junge zurückkam, um seinen Roller zu holen wollte ihm Charlie eine Ohrfeige verpassen. Wir schafften es gerade noch rechtzeitig, ihn davon abzuhalten.So viel dazu.
Jetzt verstehst du wahrscheinlich, warum Nick und ich das Auto von Charlie unbedingt wiederbekommen mussten. Nur leider hatten wir keinen blassen Schimmer, wie wir das anstellen sollten.


Kapitel 12

„Jim! Wach auf!“, wurde ich unsanft geweckt. „Was ist denn?“, gähnte ich genervt. „Was ist? Mein Auto kommt bestimmt nicht von Alleine zurück!“ Mit einem Mal war ich hellwach.
„Aua!“, dachte ich: „Das hab´ ich ja total vergessen!“ Zu Charlie, der mich wachgerüttelt hatte, sagte ich: “Komm mal wieder runter! Deinem RIESENBABY wird schon nichts passiert sein!“
Im selben Moment bereute ich meine letzten Worte. Charlie lief knallrot an. „Nein?“, brüllte er und drohte wie ein Luftballon zu zerplatzen. Zum Glück kam Sandy ins Zimmer und half mir ihn zu beruhigen.
Ich will nicht wissen was er sonst mit mir gemacht hätte. Als er wieder einigermaßen „normal“ war – und sich mindestens zehn Kaugummis in den Mund gestopft hatte – ging er joggen. Nick und ich nutzten die Gelegenheit.
„Also“, begann ich, „Wir brauchen dringend einen Plan, sonst sind wir aufgeschmissen.“
„Stimmt“, pflichtete mir Nick bei, „Lass uns doch erst mal die Polizei verständigen. Sie kann uns bestimmt bei der Suche helfen.“
„Wer kann euch bei was helfen?“, fragte Sandy, die gerade verschlafen ins Zimmer kam.
„Hey, wie geht’s dir?“, fragten wir zurück.
„Geht schon. Aber sagt mal, wo ist eigentlich Charlie?“
„Der ist nicht da“, erklärte ihr Nick und sah sie besorgt an. „Ich verstehe das von gestern überhaupt nicht. Du musst doch irgendwen gesehen haben.“
„Nein“, erwiderte sie, „Ich kann mich nicht daran erinnern. Ich weiß nur noch, dass ich nach draußen gegangen bin, um frische Luft zu schnappen und mich dann kurz hingesetzt habe. Keine Ahnung warum, aber mehr weiß ich einfach nicht mehr. Bis zu dem Zeitpunkt, als ihr mit dem Arzt aufgetaucht seid.“
Sie nahm sich eine Tasse und schenkte sich Kaffee ein. „Aber jetzt erzählt ihr mal. Habt ihr den Film wirklich zu Ende angesehen? Ich fand ihn absolut grauenvoll.“
Nick und ich erzählten ihr unsere Geschichte. Vielmehr war es Nick, der erzählte.
„…Und da dachten wir, die Polizei könne uns ja wegen des Autos helfen“, endete er. Ich hörte die meiste Zeit zu. Eigentlich kein Wunder, wenn man bedenkt, dass die Beiden frisch verliebt waren. „Tja“, sagte sie nun: „Wir könnten euch auch helfen.“
„Du und Chrissie?“, stellte ich mich dumm, froh, auch endlich mal was sagen zu können. Das war wohl meine einzige Chance, mich an diesem Gespräch halbwegs zu beteiligen. Sicherlich, die Frage hätte wahrscheinlich eher zu Nick gepasst.
Ganz zu schweigen davon, dass er sie hundertprozentig auch noch ernst gemeint hätte. „Wer denn sonst? Die Polizei wird vermutlich nicht gerade begeistert sein, wenn sie hört, dass ihr die Schlüssel stecken habt lassen. Ich meine…“, Sandy sah mich an als ob ich total hirnlos wäre.
Warum musste ich auch so blöd sein und so tun als verstünde ich nichts.
„Ja, du hast ja Recht.“, stimmte ich ihr zu. Aber aus der Rolle des Nullpeilers würde ich nicht so schnell wieder rauskommen.
Das war mir klar. Gerade als ich den Telefonhörer in die Hand nahm, kam Chrissie gähnend die Treppe hinunter. Sie rieb sich die Augen und lief etwas unbeholfen an mir vorbei in die Küche.
„Hallo, hier Jim Thomson“, meldete ich mich: „Ich möchte einen Diebstahl melden…“ Als ich geendet hatte, hörte ich die ernste Stimme des Polizisten am anderen Ende der Leitung.
Er bat mich so bald wie möglich aufs Revier zu kommen. Dann legte er auf.
„Na toll!“, sagte Sandy, die mitgehört hatte, weil ich auf die Lautsprechtaste gedrückt hatte, „Und wie bitte ohne Auto?
So weit ich weiß, ist die Polizeistation mindestens eine Stunde zu Fuß von hier entfernt.“
„Na ja, es gibt ja noch die Fahrräder im Schuppen“, meinte ich. Die Sonne stand schon wieder hoch am Himmel.
Jedenfalls kam es mir so vor. Es war zu heiß für mich. Ganz anders Nick. Der machte sich gerade auf dem Weg in den Schuppen im Garten, um die alten Fahrräder herauszuholen, von denen uns Charlie einmal beiläufig erzählt hatte.
Er hatte sie mit „nicht unbedingt Traumräder“ beschrieben. Aber in Wirklichkeit glichen sie in Etwa seiner „Superkarre“, die wir jetzt suchen wollten. Sandy und ich warteten auf Chrissie, die sich schnell umziehen wollte, weil sie noch im Schlafanzug war. Dann folgten wir Nick.
“Mist!“, hörten wir ihn schon von weitem.
“Was ist los?“, wollte Chrissie wissen.
„Die Reifen sind platt“, erklärt er. Die letzte Hoffnung, nicht in dieser Hitze laufen zu müssen, schmolz dahin wie Vanilleeis, das man in der Sonne stehen ließ.
Ich malte mir aus, wie wir total k.o. und nass geschwitzt ankommen würden. Natürlich fehlte in meiner Vorstellung auch der knallrote Sonnenbrand nicht. Wir stöhnten.
Doch da bog ein Streifenwagen um die Ecke. Der Polizist kam auf uns zu und gab uns Bescheid, dass er geahnt hatte, dass wir ohne Auto nicht weit kommen würden.
„Und als du dann die Adresse genannt hast, hab ich mich in den Wagen gesetzt und bin losgefahren.“ Unsere dankbaren Blicke sagten alles.
“Der Polizist ist schwer in Ordnung“, dachte ich.
„Dumm gelaufen mit deinem Auto, was?“, fragte er mich jetzt. „Mmh, das ist nicht mein Auto. Sondern das eines Freundes“, verneinte ich.
Innerlich freute es mich, dass er annahm, ich hätte schon ein eigenes Auto. Ich meine, er wusste ja nicht, dass es eine Schrottkarre war.
Zufrieden sah ich Nick im Rückspiegel an, der mir unmissverständlich zu verstehen gab, dass das überhaupt nichts heißen musste.
Ich konnte sehen, dass er seine Kappe zurechtrückte. Auch Sandy zupfte an ihrer Frisur herum. Das tat sie immer, wenn sie aufgeregt war.
Im Auto war es noch viel heißer als draußen und wir waren erleichtert, als wir endlich beim Präsidium waren. Aber dieses Gefühl wurde bald von der weniger guten Atmosphäre, die darin herrschte, zunichte gemacht.
Ein anderer, etwas älterer und dickerer Polizist, stellte uns Fragen und wir antworteten brav .Irgendwann begann ich die Kompetenz des Beamten anzuzweifeln.
Er fragte zum Beispiel: „Wollt ihr euren Freund nicht lieber gleich als vermisst melden? Joggen - alleine- wo doch ein wild gewordener Autodieb und vielleicht Mörder durch die Gegend läuft.“
„Hä?“, dachte ich. “Bin ich hier im falschen Film gelandet?“ Dann erklärte ich im, dass nichts auf einen Mörder hindeutete und die Beamten brachen in schallendes Gelächter aus. Ich kam mir wie der letzte Vollidiot vor.
„Jungs, wie stellt ihr euch das vor?“, sah mich der eine an und wischte sich die Lachtränen aus den Augen. Meine Performance musste tierisch komisch gewesen sein. Denn sie schienen uns die ganze Zeit auf den Arm genommen zu haben.
Langsam war ich heilfroh, dass Charlie nicht dabei war. In meiner Phantasie stellte ich mir vor, wie er neben mir sitzen und einen Polizeiwitz nach dem anderen erzählen würde.
Er würde bestimmt sofort einen Praktikumsplatz angeboten bekommen - natürlich mit Garantie auf Ausbildungs- und späteren Arbeitsplatz. Er würde hundertprozentig zu diesen Schwachmaaten passen.
Auf einmal stürzten sich die Polizisten auf uns und nahmen uns fest.
„Nicht schlecht der Versuch“, sagte der ältere von beiden und, „auf so eine ausgeklügelte Geschichte muss man erst mal kommen.“
„Ihr steht unter dringendem Tatverdacht. Ihr solltet wirklich gestehen. Mit der Nummer kommt ihr nicht weit.
“Was soll das?“, protestierten wir: „Wir haben nichts getan!“
„Ganz blöd sind wir dann ja doch nicht.“, entgegnete der Polizist, der uns zum Präsidium gebracht hatte. Ich verstand überhaupt nichts mehr.
“Aber eine blühende Phantasie habt ihr, das muss man euch lassen. Einen Banküberfall mit dem Autodiebstahl eines anderen vertuschen wollen, tztztz.“, schüttelte er den Kopf.
„Banküberfall vertuschen?“, stutzte Chrissie.
„Die spinnen ja!“, dachte ich.
„Jetzt tut doch nicht so scheinheilig. Heute Nacht wurde eine Bank ausgeraubt. Die Täter flohen in eurem Auto, das ganz in der Nähe eines alten Schrottplatzes gefunden wurde.“
„Es waren deine Fingerabdrücke darauf.“, heftete sich sein Blick auf mich, „Lasst mich also zusammenfassen: Überfall, Vortäuschen von Diebstahl, somit Falschaussage und für dich mein Freundchen zusätzliches Fahren ohne Führerschein.“
Nick verteidigte mich: „Er hat den Führerschein…“ Ich konnte mich nicht mehr zurückhalten und prustete los: „Wow! Ihr habt´s echt drauf! Fast wäre ich schon wieder auf euch reingefallen! Jetzt lasst uns geh’n, die Show zieht nicht mehr.“
Ich hielt mir immer noch den Bauch vor Lachen, als mich der stechende Blick des Polizisten traf. Ich begriff. Diesmal hatten sie nicht gescherzt.


Kapitel 13

„Hier muss eine Verwechslung vorliegen…“, mischten jetzt die Mädchen mit.
„Ja, ja. Und ich bin der Papst. Wir informieren erst mal eure Eltern“, kam die Antwort, die keinen Widerspruch duldete.
Ich war mir immer noch nicht sicher ob das Ganze nicht doch ein dummer Scherz war, den sie bis zum Ende durchziehen wollten, aber das wäre wohl doch zu weit gegangen.
Spätestens nach meinem Ausrutscher vorhin hätten sie aufgeben müssen. Die Polizisten wechselten viel sagende Blicke. Sie nahmen uns die Handschellen ab und verschwanden, schickten uns aber sicherheitshalber zwei ihrer Kollegen als „Aufpasser“, wie sie es nannten, damit wir ja nicht abhauten.
“Warum behandeln sie uns als wären wir Verbrecher?“, flüsterte mir Nick zu.
„Weil sie denken, dass wir welche sind? Was ich mir eigentlich nicht vorstellen kann. Oder weil sie uns wieder reinlegen wollen?“, antwortete ich.
Langsam fühlte ich mich unwohl. Sandy und Chrissie wirkten auch ziemlich genervt.
„Hey! Macht nicht solche Gesichter. Das ist doch gar nicht so schlimm hier. Wetten, in zehn Minuten sind wir hier wieder draußen?“, versuchte Nick sie aufzumuntern. Aber da irrte er sich gewaltig.
Es dauerte mindestens eine halbe Ewigkeit und fünf Minuten bis die netten, höflichen und vor allen so ernsten Polizisten zurückkamen. Und in der Zwischenzeit durften wir uns die Gespräche ihrer Arbeitskollegen anhören.
„Wie geht es deiner Frau? Wollte sie heute nicht zur Vorsorgeuntersuchung gehen? Ich hab´ daheim noch einen wunderschönen Strampelanzug, den ich euch gerne schenken würde. Bla, bla, bla…“, ging es ohne Unterbrechung.
Da ging man zur Polizei, weil man Hilfe brauchte und wurde gleich als Bankräuber „enttarnt“. Na ja, irgendwie fand ich es schon irgendwie gut, dass sie uns das zutrauten, aber…
Endlich wandten sie sich wieder uns zu. „Mancher Gauner könnte sich etwas von euch abgucken!“, machte der Polizist, der mir gegenübersaß ein Kompliment. Sollte das etwa ernst gemeint gewesen sein?
Mich störte, dass scheinbar alle außer uns wussten, was wir „angestellt hatten“. Langsam könnten sie uns wirklich mal genauer über die Tat aufklären. Banküberfall? Was Besseres war ihnen wohl nicht eingefallen. Unter uns gesagt: Mir reichte das hier allmählich.
Es dauerte mindestens eine Stunde, bis die Polizisten wieder zurückkamen. Der eine kratzte sich nachdenklich am Kopf: „Mmh, mmh.“
Der andere warf uns nacheinander musternde Blicke zu.
„Kommt zum Punkt“, hätte ich beinahe gemotzt.
„Mmh, mmh“, machten sie nur wieder.
„Ja?“ fragte Sandy.
Es war so ein Tonfall, der zwischen total genervt und ängstlich lag. Ebenso gut hätte sie auch: „Ihr Großkotze sagt mir endlich was Sache ist, sonst kriege ich die Krise“, sagen können.
Ich stimmte ihr voll und ganz zu.
„Nun ja“, begannen sie: „Wie es aussieht wollt ihr wissen? Wenn ich seit zehn Minuten nicht genau wüsste, dass ihr es gar nicht gewesen sein könnt, würde ich meinen Hintern darauf verwetten.“
„Bitte?“, das war ja mal wieder eine tolle Erklärung gewesen.
Die Mundwinkel des Polizisten begannen zu zucken. Ich brauchte einen Moment um zu kapieren, dass das schon wieder pure Show gewesen war. Hatten die uns etwa wirklich umsonst warten lassen? Nachdem sie sich mindestens eine halbe Stunde über uns totgelacht hatten, in der wir sie am Liebsten in der Luft zerrissen hätten, hatten sie knallrote Köpfe.
„Tut uns Leid, Kinder. Aber nach deinem Auftritt vorhin… So einen Spaß hatten wir lange nicht mehr“, kicherte der eine und sah mich an.
Bei dem Wort „Kinder“ konnte ich förmlich spüren, wie ich immer wütender wurde.
„Ich muss hier raus sonst wird mir schlecht!“, dachte ich. Es fehlte nicht mehr viel und ich hätte angefangen, ein Vater Unser für die Beiden zu beten.
Nach einem Blick zu Sandy, Chrissie und Nick wusste ich wenigstens, dass ich mit der Meinung über die zwei Spatzenhirne nicht alleine war. Beim Gedanken an Charlie riss ich mich zusammen und presste ziemlich mühsam „Und das Auto?“ hervor.
„Wir kümmern uns darum“, versicherte mir der Polizist, der etwas älter war.
„Können wir gehen?“, fragte Chrissie, die es ebenfalls einige Überwindung zu kosten schien.
„In Ordnung“, nickten die Polizisten und ließen uns aus dem Zimmer.
„Moment, wartet mal!“, riefen sie uns zurück.
„Oh nein!“, flehte ich. Der Polizist der uns hergefahren hatte, kam auf uns zu: “Ich fahr´ euch.“
Erleichtert atmete ich auf. Ich hatte schon mit dem Schlimmsten gerechnet.
Unterwegs musste er sich sichtlich beherrschen nicht wieder loszulachen. Mann, war das nervig! So was Gestörtes war wohl nicht mehr zu überbieten.
„Wir werden euch sofort Bescheid geben, wenn wir mehr wissen“, startete der Polizist erneut einen Versuch, uns in ein Gespräch zu verwickeln. Es war eine Art Frage und Aussage zugleich.
Ich dachte nicht mal daran zu antworten. Außerdem kam es mir so vor, als würde er uns nur fahren, weil er wissen wollte, was wir als nächstes Bescheuertes machen würden.
Aber die Frage war ja wohl eher, wer hier überhaupt derjenige war, der nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte. Auch Nick schien offenbar keine Lust zu haben, sich mit dem Polizisten zu unterhalten, der sich uns mittlerweile als Kriminalkommissar Anderson vorgestellt hatte.
Die Einzige, die Interesse zeigte, war Sandy, was wahrscheinlich daran lag, dass ihre Eltern sie so gut erzogen hatten. In diesem Punkt unterschied sie sich doch ziemlich von Nick und mir.
Dass Chrissie nichts sagte, wunderte mich ehrlich gesagt nicht im Geringsten. Ich wusste, dass ihr Bruder früher immer ziemlich heftige Filme mit korrupten Polizisten geschaut hatte.
Natürlich war mir klar, dass sie inzwischen eines Besseren belehrt worden war, aber irgendwie glaubte ich, dass sie immer noch eine etwas verzerrte Vorstellung von dem hatte, was Polizisten eigentlich machten.
So kam es, dass sich Sandy recht gut mit unserem Fahrer unterhielt, während wir anderen schmollten.
Das fand ich zwar auch irgendwie blöd, aber immerhin berechtigt. Nur als Nick schließlich seinen Diskman auspackte und demonstrativ Musik hörte, was natürlich ein unmissverständliches Zeichen dafür war, dass er keinen Wert auf diese Unterhaltung legte, fand ich, dass er etwas übertrieb.
Trotzdem gab ich ihm in einem günstigen Moment zu verstehen, dass er es wieder mal genau auf den Punkt getroffen hatte.
Nur Sandy schien das anders zu sehen. Ich warf ihr einen kurzen Blick zu und fand, dass sie ziemlich sauer auf Nick war. Denn schließlich war sie an dem Gespräch, das ihn nicht zu interessieren schien, beteiligt.
Sicherlich war sie fest davon überzeugt, dass Nick kindisch und unhöflich reagierte. Also, ich an seiner Stelle hätte jetzt wohl klein beigegeben und mich entschuldigt. Ich glaube, dass hätte fast jeder, den ich kenne, gemacht.
Auf der anderen Seite war mir klar, dass er es nicht tun würde. Dafür war er viel zu stur.
Die Atmosphäre im Auto wurde dadurch nicht gerade besser. Noch nicht Mal als Sandy ihn ansprach, drehte er die Musik leiser.
„Wenn das Mal gut geht“, ging es mir durch den Kopf. Jetzt zog Sandy Nick den Stöpsel auf ihrer Seite aus dem Ohr.
„Sag was!“, versuchte ich es mit Gedankenübertragung. Fehlschlag.
Wäre ja auch zu schön gewesen. Ich warf ihm einen Blick zu, der soviel bedeutete wie: “Reiß dich endlich zusammen, Mann!“
Das wirkte. Doch gerade als er den Mund öffnete, riss ihm Chrissie den zweiten Stöpsel aus dem Ohr. Aber er ließ sich davon nicht verwirren und legte los.
„Was!?! Ich hab´ eben keinen Bock mehr, mich als durchgeknallt hinstellen zu lassen.“
Nicht dass er es irgendwie in einem wütenden Tonfall gesagt hätte. Seine Stimme war ruhig und ausgeglichen. Ich glaube, er dachte, Sandy würde das als Entschuldigung akzeptieren.
Da sieht man Mal, wie sich unterschiedliche Erziehungsarten im Endeffekt auswirken können.
Sandy jedenfalls fasste es so auf, als ob ihm das, was hier ablief, immer noch völlig egal wäre.
Der Polizist war offenbar ein wenig überfordert. Er öffnete sein Fenster, um frische Luft zu bekommen. Ich achtete nicht weiter auf ihn.
Und nun machte er auch keine weiteren Anstalten mehr, noch irgendetwas zu sagen. Vielleicht fühlte er sich in irgendeiner Hinsicht für diesen Streit verantwortlich. Was er in gewisser Weise ja auch war.
Kurz bevor wir um die letzte Ecke bogen, kurbelte auch Sandy ihr Fenster herunter, schnappte sich blitzschnell Nicks Kappe und warf sie hinaus.
„Hey!“, rief er protestierend, ohne weitere Rettungsaktionen für die Kappe zu unternehmen.
Erst jetzt begriff er, dass Sandy seine „Entschuldigung“ nicht angenommen hatte.
„Es tut mir Leid…“, wollte er ansetzen, doch Sandy unterbrach ihn, indem sie ihm eine saftige Ohrfeige verpasste und - da wir gerade ankamen - aus dem Auto sprang und gemeinsam mit Chrissie in den Bus stieg, der wenige Meter vor uns hielt.
Nick rannte ihnen nach, aber genau in dem Moment, als er vor dem Bus stand, fuhr der auch schon los.
„Mist!“, zischte er und schlug mit der Faust in die Luft. Er warf mir einen Hilfe suchenden Blick zu und ich schleppte ihn ins Haus.
Dabei winkte ich noch schnell dem Polizisten zu, der ziemlich verwirrt aussah, als er wendete und zur Polizeistation zurückfuhr.
Dann hockte ich mich mit Nick ins Wohnzimmer, wo er sich Vorwürfe darüber machte, dass er sich so unmöglich aufgeführt hatte.
Zwischendurch schob ich einen Kommentar über die zwei beknacktesten Polizisten der Welt ein, um nicht vollständig die Rolle des Seelenklempners zu übernehmen, obwohl ich mir teilweise trotzdem so vorkam.


Kapitel 14

Nach einer halben Ewigkeit klingelte mein Handy. Es war Chrissie, die nur schnell Bescheid sagen wollte, dass sie mit Sandy einkaufen war und es möglicherweise später werden konnte.
Das ganze Telefonat lief nach der „Nur so zur Info“ Masche ab, also steckte in dem Tonfall von Chrissie immer eine Art: “Eigentlich geht es euch ja nichts an.“
Mit Nick war überhaupt nichts mehr anzufangen. Sandy hier, Sandy da. Nicht, dass ich ihm sein Glück oder besser sein momentanes Unglück nicht gegönnt hätte...
Aber mit seinem Selbstmitleid konnte ein durchschnittlicher Mittelmaßschüler, der gerade in den Ferien ist, also in diesem Falle ich, einfach nichts anfangen.
„Wir könnten heute ja mal ´ne Runde schwimmen geh´n“, versuchte ich seine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Gedankenversunken saß Nick in seinem Sessel und antwortete nicht.
„Hallo, jemand zu Hause?“, sah ich ihn an. Keine Reaktion.
„Was soll´s?“, dachte ich: „Wer nicht will der hat schon.“
Fehlte nur noch, dass er anfing, Gänseblümchen zu zerrupfen. Ich stellte mir Nick auf einer blühenden Wiese vor: „Sie liebt mich, sie liebt mich nicht.
Sie liebt mich, sie liebt mich nicht.“ Das war auch so eine Angewohnheit von ihm.
Doch wirklich. Du ahnst gar nicht, wie oft er mich mit diesem Spielchen schon fast zur Weißglut gebracht hatte. Ich hatte nämlich Heuschnupfen.
Und jeder halbwegs vernünftige Mensch geht, wenn er Heuschnupfen hat, nicht mitten im Hochsommer auf eine Wiese voller Blütenstaub. Aber Nick hatte mich schon unzählige Male dazu überredet.
Dann saß ich mit Augentropfen und Taschentüchern neben ihm und sah zu, wie er seelenruhig sein Gänseblümchen zupfte. Aber jetzt war gar nichts mit ihm anzufangen. Ich überlegte, wie ich ihn zurück in die Realität holen könnte.
„Hey! Der Sturm wird immer stärker. Wir müssen uns in Sicherheit bringen!“, langsam wurde mir klar, dass ich wohl den allergrößten Mist erzählen könnte, er würde mir immer noch nicht zuhören. Doch auf einmal hatte ich einen Geistesblitz.
Ich flitzte in die Küche. Was ich vorhatte? Denk´ mal scharf nach. Nick liebte Essen. Also wollte ich ihm irgendwas richtig Leckeres bringen. Zugegeben, ich war kein besonderes Genie, was Kochen anging. Aber für ein Fertiggericht würde es allemal reichen.
Es lief wirklich gut. Bis auf die Tatsache, dass ich aus Versehen die Hälfte anbrennen ließ. Die andere Hälfte servierte ich Nick. Aber der verzichtete freiwillig. Also gut, er nahm es gar nicht wahr, dass ich es ihm vor die Nase hielt. Zumindest tat er so.
Endlich sagte er: „Ich hab´ keinen Hunger.“ Jetzt war ich echt fertig.
„Mann, Mann, Mann! Willst du hier immer noch so rumhängen, wenn Sandy kommt? Dann ist sie bestimmt begeistert von dir, “ meinte ich sarkastisch. Aber das interessierte ihn nicht.
„Dann glotz’ halt weiter vor dich hin. Ich geh’ jetzt ´ne Runde joggen“, sagte ich gutgelaunt. „Kannst ja nachkommen, wenn du doch noch Bock hast.“ Was ich als unwahrscheinlich einstufte. Einen Versuch war es ja wohl trotzdem wert.
Gerade als ich eine Fuß vor die Haustür setzen wollte, begann es zu tröpfeln. Nicht, dass mich das sonderlich gestört hätte. Ich wäre wahrscheinlich sogar bei Gewitter losgelaufen.
Aber ich glaubte, dass ich spätestens nach fünf Minuten ein schlechtes Gewissen wegen Nick kriegen würde. Obwohl es irgendwie deprimierend war, ihm dabei zuzusehen, wie er vor sich hinkrümelte und ich daran zweifelte, ihn aufmuntern zu können, beschloss ich, dazubleiben.
Weißt du, mein „Freundschaftsinstinkt“ sagte mir, dass ich ihn in diesem Zustand nicht allein lassen durfte. Am Ende würde er sich noch was antun. Na gut, dafür war er wohl im Moment zu faul. Aber irgendwas musste mir doch einfallen, um seine Stimmung zu heben!?!
Mit breitem Grinsen ging ich zurück ins Wohnzimmer. „Wie wär´s mit einem Candle light dinner?“, fragte ich ihn. Nick sah mich verständnislos an: „Hä? Ich hab´ doch gesagt, dass ich keinen Hunger hab´. Außerdem ist es grad´ Mal vier Uhr.“ Meine Fresse, war der schon wieder begriffsstutzig!
„Für Sandy, Mann!“, erklärte ich: „Oder willst du dich nicht mit ihr versöhnen?“
Nicks Gesicht hellte sich auf. Plötzlich war er nicht mehr zu bremsen. So was nannte ich Rollentausch. Im Vergleich zu seinem Tatendrang war ich jetzt wohl der Lahme, dem man auf die Sprünge helfen musste. So kam ich mir bei Nicks Eifer jedenfalls vor. Innerhalb einer viertel Stunde hatten wir hinterm Haus alles für ein romantisches Date vorbereitet.
„Und was machen wir jetzt?“, wollte er wissen. Das Radio beantwortete seine Frage und spielte unser Lieblingslied.
„Die Gitarren auspacken!“, riefen wir gleichzeitig und rannten die Treppe zum Speicher hoch. Da oben war irgendwo die alte Gitarre von Charlies Vater verstaut worden. Er benutzte sie nur noch, wenn er hier war. Ich schnappte sie mir und wir beeilten uns nach unten zu kommen, um wenigstens den Rest vom Lied noch mitzukriegen.
Nick packte seine Luftgitarre aus. Das war der gute alte Nick! Wir drehten die Anlage voll auf. Deshalb hörten wir es auch nicht, als Charlie klingelte. Wir bemerkten ihn erst, als er ans Wohnzimmerfenster klopfte und davor herumhüpfte, um auf sich aufmerksam zu machen. Nick warf die Gitarre weg und eilte zur Haustür. Ich drehte die Musik leiser.
„Alles klar bei dir?“, fragte ich Charlie. Er sah müde aus: „Die Typen bei der Polizei waren vielleicht total seltsam drauf. Ich bin dort vorbeigekommen um… Ihr wisst ja weshalb. Jedenfalls soll ich euch einen schönen Gruß ausrichten.“
„Echt?“, sah ihn Nick an: „Bei uns waren die auch voll komisch. Die haben uns die ganze Zeit verarscht!“
Charlie nickte: „Ihr müsst einen ziemlichen Eindruck bei ihnen hinterlassen haben. Der eine hat schon die Panik gekriegt, als ich gerade erst gesagt hatte, dass mein Auto gestohlen worden ist. Er ist voll aus dem Zimmer geflüchtet und der andere hat die ganze Zeit blöde rumgekichert.“
„Wo sind die Mädels?“, fügte er schließlich noch hinzu und ich erzählte es ihm. Ich befürchtete bereits, dass Nicks Laune hiermit wieder beim Nullpunkt landen würde. Doch zum Glück irrte ich mich.
Er war immer noch gut drauf. Also stand einem Badmintonspiel nichts im Weg. Wir schnappten uns die Schläger und schon ging´s los. Ich spielte gegen Charlie und Nick. Was kein Problem war.
Nick war zwar heute richtig in Topform, dafür brachte Charlie nicht die gewohnte Leistung. Was er hinlegte, war ehrlich gesagt ziemlich lahm.
Während Nick und ich schließlich völlig k.o. literweise Wasser in uns hineinschütteten, um wieder zu Puste zu kommen, trank er gerade Mal einen Schluck. Was einen nicht wunderte, wenn man gesehen hat, wie waschlappenmäßig er beim Spiel rumgehangen hatte.
Trotzdem ging der Punkt irgendwie an ihn. Als Chrissie und Sandy vom Einkaufen zurückkamen, war er so entspannt wie es besser nicht ging. Er blühte regelrecht auf. Wir dagegen standen total nass geschwitzt und mit knallroten Gesichtern da. Charlie sagte: „Hi! Wow, Chrissie, dass T- Shirt steht dir echt gut. Habt ihr noch mehr so tolle Sachen gefunden?“
Ich hatte ganz vergessen, wie gut er schleimen konnte. „Tropf, tropf, tropf. Rutsch bloß nicht auf deiner Schleimspur aus“, dachte ich. Ein gezielter Blick zu Nick sagte mir, dass er derselben Meinung war.
Für meinen Geschmack trug Charlie hier etwas zu dick auf. Und wie er sie anstarrte! Er stahl uns regelrecht die Show. Nick versuchte zu retten, was noch zu retten war: „Hallo Sandy. Heute morgen, dass tut mir Leid. Weißt du… Du warst so schnell weg und… Ich…“
Meine Güte. Der arme Kerl geriet so richtig ins Stottern. Sandy war das egal. Sie wollte an ihm vorbeigehen. „Na los Nick!“, dachte ich: „Worauf wartest du?“ Endlich hielt er sie zurück: „ Nur eine Minute, bitte.“ „Na gut“, sagte Sandy: „Was ist?“
Charlie, Chrissie und ich verzogen uns in die Küche - in der Hoffnung, dass die beiden sich versöhnten. Nick würde das wieder geradebiegen. Dessen war ich mir sicher. Im Moment machte ich mir um etwas ganz anderes Sorgen.
„Willst du zufällig Eis?“ fragte ich Chrissie: „Wir haben noch welches von heute Mittag da.“ „Oder vielleicht Müsli?“, versuchte es Charlie.
„Lieb von euch“, lehnte Chrissie ab: „Aber ich hab´ in der Stadt schon so viel gegessen…“
Unruhig rutschte Charlie auf der Eckbank hin und her. „Wolltest du nicht noch nach oben gehen und duschen?“, sah er mich an. Es war zu offensichtlich, dass er mich loswerden wollte.
„Und wolltest du nicht eigentlich aufhören, dumme Fragen zu stellen?“, entgegnete ich ihm. Ist doch wahr. Du hättest hören sollen, wie er es gefragt hat.
„Ich hab´ ja wohl das Recht, ´ne Frage zu stellen! Außerdem – bei den bescheuerten Fragen, die du immer stellst, brauchst du grad was zu sagen!“
„Ach ja? Wann hab´ ich bitte ´ne dumme Frage gestellt?“, wurde ich langsam sauer.
„Soll ich das wirklich sagen? Na gut: Wie war das noch gleich: Was ist der Unterschied zwischen Rahm und Creme?“
„Was kann ich denn dafür, wenn du so schlecht hörst und anstatt Raben Rahm und statt Krähen Creme verstehst?“, brüllte ich zurück.
Charlie provozierte mich weiter: „Na und? Die Frage war ja wohl auch so schon blöd genug. Oder gefällt es dir besser, wenn ich Chrissie verrate, dass du vorgestern in ihren Sachen rumgeschnüffelt hast?!“
Damit war er eindeutig zu weit gegangen. „Das ist überhaupt nicht wahr! Und das weißt du auch!“, schrie ich mit überschnappender Stimme.
„Ach ja?“, machte er weiter: „Das sehe ich aber anders…“ - „Hör endlich auf damit! Du weißt ja wohl, dass das nicht stimmt!“, wiederholte ich ernst und sah ihm scharf in die Augen. Ich hatte keine Lust, mich mit ihm zu prügeln, aber wenn er jetzt nicht aufhörte, tat es mir Leid.
Er ließ mir keine andere Wahl. Charlie nahm seinen Löffel und bespritzte mich mit Kirschsaft.
„Uuups, das tut mir jetzt aber Leid“, meinte er ironisch. Wütend schnappte ich mir sein Nutellabrot und klatschte es ihm mit voller Wucht ins Gesicht.
Fünf Sekunden später schlugen wir mit Händen und Füßen aufeinander ein. Ich konnte mir so was doch nicht einfach gefallen lassen!
„Verdammt!“, dachte ich, als er mich ziemlich heftig gegen den Küchenschrank schupste, wobei ich meinen Hinterkopf anschlug und verpasste ihm einen kräftigen Schlag in die Bauchgegend. Dann ging Chrissie dazwischen: „Hört auf! Das reicht! Was soll das überhaupt?!“
Ich hoffte, dass sie Charlie seine fiesen Lügen nicht abgekauft hatte. „Der hat doch angefangen!“, verteidigte sich Charlie. „Bitte?“, das war nicht zu fassen: „Ich soll angefangen haben? Du hast mich doch die ganze Zeit dumm angemacht!“
Ungläubig starrte ich ihn an. Ein gefährliches Funkeln lag in seinen Augen.


Kapitel 15

Ich hätte ihm zu gerne noch einen Kinnhaken verpasst. Aber mir war klar, dass ich dadurch keinen guten Eindruck auf Chrissie machen würde. Und mir war auch klar, was Charlie mit dieser Aktion bezwecken wollte: Er hatte es darauf angelegt mich vor ihr schlecht zu machen.
„Na toll“, ging es mir durch den Kopf: „Jetzt haben wir uns auch noch beide in Chrissie verliebt!“
Deutlicher konnte er es mir gar nicht mehr zeigen. „Gebt euch die Hände und entschuldigt euch gefälligst!“, befahl Chrissie.
„Oh, Mann! Wieso soll ich mich entschuldigen?“, meckerte ich, „Schließlich hat er Lügen über mich erzählt und nicht ich über ihn. Und ich hab´ versucht die Sachen friedlich zu regeln!“
„Friedlich? Wenn du das friedlich nennst, will ich nicht dabei sein, wenn du dich mit jemandem streitest“, mischte sich Sandy ein, die eben zusammen mit Nick ins Zimmer kam.
Sie hielten Händchen, was ein eindeutiges Zeichen dafür war, dass sie sich ausgesprochen hatten. Auch Nick warf mir einen prüfenden Blick zu. Ich verdrehte die Augen.
„Bitte lass das nicht wahr sein!“, flehte ich innerlich, „Nick!?!“ Und da half er mir auch schon.
„Ehrlich gesagt bin ich davon überzeugt, dass Jim niemanden ohne Grund schlägt. Warum sollte er auch. Aber eigentlich“, er machte eine kurze Pause, „ eigentlich gilt dasselbe für Charlie. Wahrscheinlich habt ihr beide einen schlechten Tag.“
Das konnte ja wohl nicht sein Ernst sein. Wütend sah ich Charlie an. „Andererseits bin ich mir sicher, dass Nick sich - wenn überhaupt - nur dann freiwillig geprügelt hätte, wenn ich dabei gewesen wäre. Was ich aber nicht war.“
Ich seufzte. Wenigstens er war nicht auf Charlies Seite.
„Trotzdem. Ich glaube nicht, dass Charlie gelogen hat. Warum sollte er so was erfinden?“, entgegnete ihm Chrissie.
„Ganz einfach: Er will dich gegen mich aufhetzten!“, protestierte ich. Charlie tippte sich an die Stirn: „Das grenzt schon an Paranoia. Was habt ihr eigentlich für ein Problem mit mir?“
Er fixierte mal mich, mal Nick.
„Das selbe könnte ich dich fragen, findest du nicht?“, meldete ich mich zu Wort. Irgendwie begann Charlie mich zu stressen. Konnte er nicht einfach mal klein beigeben?!
Auf einmal hielt er mir seine Hand hin. Verwirrt überlegte ich, was das schon wieder sollte. Aber eigentlich hatte ich es mir doch eben noch gewünscht, oder?
„Tut mir leid! Ich…ich weiß auch nicht, was mich da eben geritten hat“, fing er an. Ich war mir nicht sicher, ob das nicht irgendein Trick war.
„Na los!“, forderte Sandy mich auf. Immer noch zögernd reichte ich ihm meine Hand. „Na also. Geht doch!“, sagte Chrissie: „Und Jim. Eine Sache noch. Meine Sachen sind tabu - okay?“ – „Natürlich – ich würde eh nie… Chrissie, ich war doch gar nicht in deinem Zimmer!“, wehrte ich mich.
Warum glaubte sie Charlie das? Traute sie mir das etwa tatsächlich zu? Nimm’s mir nicht übel, dass ich mich dann aus dem Stab machte, aber mein Bedarf an Stress war fürs Erste mehr als gedeckt.
Und Charlie dabei zuzusehen, wie er sich an Chrissie ranschmiss, darauf konnte ich verzichten. Ich musste ihr beweisen, dass Charlie mich voll gelinkt hatte. Mein T-Shirt klebte regelrecht an mir. Ich war immer noch nicht dazugekommen zu duschen. Also nutzte ich die Gelegenheit.
Außerdem sollten die unten ruhig auf mich warten. Nicht das ich schmollen wollte oder so. Aber alles konnte man nicht mit mir machen. Wie sollte ich Chrissie bloß von meiner Unschuld überzeugen? Ich ließ mir beim Duschen so viel Zeit wie nur möglich.
Hauptsache, ich musste nicht gleich wieder runter. Deshalb wartete ich schließlich auch noch extra ein bisschen, obwohl ich längst fertig war.
„Jim?“, klopfte jemand an die Tür. „Moment“, rief ich und bewegte die Duschtür, damit es sich so anhörte, als wäre ich gerade erst fertig geworden. Dann klatschte ich mir schnell noch Wasser ins Gesicht, damit es auch echt aussah.
„Oh! Tschuldige, ich wusste nicht, dass du noch nicht…“, öffnete Chrissie die Tür einen Spalt breit. Es war perfekt. Sie sah nur mein triefend nasses Gesicht! „Quatsch! Was ist denn?“, unterbrach ich sie. Erwartungsvoll sah ich sie an: „Na los, sag´ schon.“
Etwas verlegen druckste sie herum: „Ich wollte nur fragen, ob du vielleicht noch Lust hast, mit uns Scrabble zu spielen.“
Ich zog die Augenbrauen hoch und fragte: „Wer sind WIR?“
„Na ja, Charlie und ich. Weißt du, ich hab das Gefühl, dass es ihm Leid tut, dich beschuldigt zu haben“, erklärte sie.
„Hat er zugegeben, dass es nicht gestimmt hat?“, wollte ich wissen. „Nein. Aber ich glaube dir. Ich hab’ noch Mal drüber nachgedacht. Ich hätte dich nicht verdächtigen dürfen.“ Mir fiel ein Stein vom Herzen.
„Danke“, sagte ich, „dass du mir glaubst. Geh schon Mal runter, ja? Ich komm gleich nach.“
„Gut“, stimme sie zu, „Charlie wird sich freuen.“ Dessen war ich mir nicht sicher. Ich hoffte inständig, dass er seinen Fehler wirklich eingesehen hatte.
Was sollte ich zu ihm sagen? „Egal“, dachte ich, „Reiß dich einfach zusammen, Jim!“
Entschlossen stieg ich die Treppe hinunter und lief ins Wohnzimmer.
„Hi!“, sagte ich und hielt Charlie meine Hand hin: „Frieden?“
Er schlug ein. Ich denke, er meinte es ernst.
„Dann kann´s ja losgehen!“, freute sich Chrissie. Draußen war es bereits dunkel.
Sandy und Nick hatten ein paar Kerzen angezündet. Ich warf noch schnell einen Blick hinaus und sah, wie die beiden sich lebhaft über irgendwas unterhielten. Dann konzentrierte ich mich ganz auf das Spiel.
Zwar spielte Chrissie gegen die Regeln, indem sie Wörter wie „Isnofhoppel“ zusammenstellte (falls du zufälligerweise weißt, was das bedeutet, wäre es jetzt an der Zeit, es mir zu verraten), aber weder Charlie noch ich wagten es, etwas dagegen zu unternehmen. Bald mogelten wir uns einfach auch Dinge wie „Mopsball“ zusammen.
Obwohl man sich darunter wenigstens ansatzweise etwas vorstellen kann. Nur einmal konnte ich mich nicht zurückhalten. Charlies neue Erfindung laute „Krutzenleuchtfischgerät“.
„Was ist das denn?“, kugelte ich mich vor Lachen. „Na ein Gerät, das man benutzt, um Fische zu durchleuchten!“, verkündete Charlie.
„Und warum durchleuchtet man sie?“, fragte Chrissie, die mit dem Begriff genauso wenig anfangen konnte wie ich.
„Natürlich um zu sehen, ob sie Krutzen enthalten!“, kam seine Antwort. Einen Moment später prustete auch er los. Chrissie hatte sowieso schon die ganze Zeit lachen müssen.
Nicks und Sandys Gesichtsausdrücke glichen dementsprechend Fragezeichen, als sie herein kamen und wir drei vor lauter Lachen schon fast Bauchweh hatten.
Wir wischten uns die Lachtränen aus den Augen. Als wir zum Schluss unsere Punkte zusammenzählten, hatte ich die Auseinandersetzung mit Charlie völlig vergessen.
Doch leider erinnerte er mich wieder daran. „Looser!“, flüsterte er mir ins Ohr, als er sah, dass ich die niedrigste Punktzahl hatte, „Looser! Looser! Looser!“


Kapitel 16

Als ich aufwachte, waren die anderen bereits mit dem Frühstück fertig. „Morgen!“, begrüßte mich Nick: „Wir haben alles für dich stehen lassen.“
„Danke, dass ihr mich nicht geweckt habt!“, meinte ich. Es hatte echt gut getan, Mal wieder so richtig auszuschlafen.
Ich machte mir einen Toast und setzte mich zu Charlie auf die Eckbank.
„Ich war schon ´ne Runde joggen“, teilte er mir mit: „Es ist perfektes Wetter um an den See zu gehen.“
Mein Gesicht hellte sich auf: „Oh ja Wir könnten doch eigentlich Mal das Paddelboot mitnehmen, oder?“, fragte ich ihn.
„Klar! Wir können auch gucken, ob wir noch irgendwo ´nen Volleyball auftreiben können“, sagte er. „Gute Idee!“, nickte ich. So würde heute auf jeden Fall keine Langeweile aufkommen.
Die anderen waren auch einverstanden, den Tag am See zu verbringen. Nick und Sandy wollten einen Picknickkorb für mittags machen. Sie waren schließlich die Essens – Spezialisten.
Chrissie, die Sportfanatikerin, suchte einen Ball und Charlie holte mit mir das Boot aus dem Schuppen. Das sah zwar auch ziemlich mitgenommen aus, würde aber seien Zweck erfüllen.
„Fertig!“, jubelten Nick und Sandy und rannten zu uns in den Garten. „Klasse!“, entgegnete ihnen Charlie: „Hat Chrissie schon einen Ball gefunden?“ Nick zuckte mit den Schultern: „Keine Ahnung. Sie kommt bestimmt gleich.“
Er hatte Recht. Höchstens eine Minute später kam sie tatsächlich.
„Also los!“, riefen Charlie und ich und machten uns mit den anderen auf den Weg. Das Wetter war wirklich fantastisch! Ich konnte es kaum erwarten, ins kühle Wasser zu springen.
Wobei man eigentlich nicht von springen reden konnte. Man musste nämlich ein ganzes Stück in den See hineinwaten, bis einem das Wasser bis zum Bauchnabel reichte.
Weiter draußen konnte man dann tatsächlich schwimmen. Aber das Beste waren die Bäume auf der Wiese, die so hoch und dick waren, dass man voll weit klettern konnte.
„He!“, sagte ich zu Charlie, der mich mit dem einen Paddel ärgerte: „Pass auf, sonst komm ich rüber!“ Obwohl das Boot verhältnismäßig leicht war, wurden meine Arme langsam schwer.
Gerade als ich Nick fragen wollte, ob er für mich einsprang, sah´ ich den See. Wenn ich jetzt aufgab würde dass für Charlie ein Grund sein, sich den Rest des Tages über mich krank zu lachen.
Vielleicht sogar die nächsten Wochen. Bei diesem Gedanken hielt ich durch. Mann, war ich erleichtert, als wir da waren. Charlie schien doch gemerkt zu haben, dass ich außer Pust gekommen war und wollte mich aus der Reserve locken.
„Los Jim! Wie wär´s mit einem Wettschwimmen?“ Na toll. „Der Supersportler hat wieder Mal gesprochen“, dachte ich. “Hast du noch einen Kaugummi für mich? Dann kann´s losgehen!“, antwortete ich in der Hoffnung, damit Zeit zu gewinnen.
„Klar!“, sagte er und warf mir einen zu. Dann gingen wir in Position. „Bis zu den Kindern da vorne und zurück“, schlug er vor. Ich schluckte. Aber da musste ich durch. Es gab kein zurück mehr.
„Eins, zwei, drei!“, zählte ich und schon schwammen wir los. „Um was wetten wir eigentlich?“, nutzte ich die Chance bevor er zu weit weg war, um mich zu verstehen. Charlie war nämlich schon fast da, während ich völlig ausgepowert auf der Hälfte der Strecke herumgurkte.
Was? Es sei nicht anders zu erwarten gewesen? Vielleicht hast du Recht. Er ließ sich Zeit mit seiner Antwort. „Charlie! Sag endlich was! Sonst können wir die Wette vergessen!“, murmelte ich.
Langsam rechnete ich damit, dass er sich was Fieses überlegte. Also nahm ich mir vor, mich durch nichts schocken zu lassen. Außerdem war Charlie sowieso viel zu oft fies, sodass es fast schon normal war. Ich war das von ihm gewohnt. Aber was dann kam, hätte ich nie von ihm gedacht.
Und wenn er es nicht mit so einem widerlichen Beiklang gesagt hätte, hätte ich wohl laut losgelacht. Aber ich wusste, es war sein voller Ernst. Weißt du, wenn er lügt, oder einen reinlegt, merkt man das sofort. Ich kannte ihn lange genug, um das zu wissen.
Und wenn er etwas wirklich wollte, dann bekam er es auch. Normalerweise hätte ich mich ins Zeug legen müssen, um zu gewinnen. Ich konnte nicht. Bisher hatte ich Charlie für einen Freund gehalten.
Ich meine, bis auf den kleinen Streit letztens, war zwischen uns doch alles in Ordnung gewesen, oder? Doch soeben hatte er mir seine Feindschaft angesagt. Er war gefährlich, ich spürte es.
Was er sagte, übertraf meine kühnsten Vorstellungen. Es war kein Kinderspiel um den letzten Schokokeks oder ein Eis. Nein. Seine Stimme klang seltsam hohl, als er es sagte. Er sagte: „Um Chrissie!“


Kapitel 17

Ich fröstelte. Mein Magen krampfte sich zusammen, als ich versuchte, gegen den Brechreiz anzukämpfen. Vor lauter Panik war mir fast schwindelig geworden. Als er sich umdrehte, sah ich sein ausdruckloses Gesicht. Dann grinste er. Eigentlich war sein Grinsen wie immer.
Aber ich wusste: Es war nicht wie immer. Dieses Mal lag ein gewisser Hohn darin. Überlegenheit und Größenwahn. Charlie würde bis zum Äußersten gehen, um sein Ziel zu erreichen.
Es war nicht gut, ihn zum Feind zu haben. Und wenn es darauf ankam, würde ich auf jeden Fall den Kürzeren ziehen. Ich gab mir einen Ruck und schwamm weiter. Mir war egal, dass ich eh keine Chance mehr hatte, ihn einzuholen.
Ich wollte auf keinen Fall wie ein Schlappschwanz wirken. Als ich an Land ankam, war Charlie längst da.
„Willst du auch was essen?“, fragte mich Nick und reichte mir gleichzeitig ein belegtes Brot. „Danke“, sagte ich und setzte mich zu ihm und den anderen auf die Decke.
Ich hatte schon Angst, dass Charlie eine weitere Attacke auf mich vorhatte. Aber er ließ mich in Ruhe. Schließlich war ja Chrissie da - und vor ihr mimte er das Unschuldslamm.
„Was soll´s“, ging es mir durch den Kopf. Ich war froh, dass er eingesehen hatte, dass es nichts brachte, mich zu ärgern, solange sie dabei war. Also ließ ich mir erst Mal mein Brot schmecken. Im Wasser war ich für meine Bedürfnisse lange genug gewesen.
Als ich fertig war, spielten wir alle zusammen Volleyball. Es machten noch ein paar weitere Jugendliche mit, die Charlie schon von anderen Urlauben hier zu kennen schien.
Ich befürchtete, dass er das Spiel nutzen würde, um mir eins reinzuwürgen. Möglicherweise, indem er mir ganz „unabsichtlich“ den Ball ins Gesicht feuerte.
Er war Sportler und geschickter, als ich es je sein werde. Er würde bestimmt keine Probleme damit haben, es wie einen „Unfall“ aussehen zu lassen, wie man so schön sagt.
Glücklicherweise hielt er sich an die Regeln und spielte fair. Mir kam es fast so vor, als hätte er den Wettkampf um Chrissie vergessen. Im Laufe des Spiels wurde ich mir dessen immer sicherer.
Ich zeigte vollen Einsatz und glaubte, alles sei wieder gut. Leider irrte ich mich. Du wirst es nicht glauben. Charlie hatte die ganze Zeit die Punkte mitgezählt. Er war in der gegnerischen Mannschaft.
Sein Team gewann. Als das Match vorbei war und die anderen bereits wieder auf der Decke hockten, klopfte er mir auf die Schulter.
Für die anderen sah es so aus, als ob er etwas in der Art: „Gut gespielt“, oder so sagte.
In Wirklichkeit flüsterte er: „Der Punkt geht an mich!“ Und als die anderen wegsahen, wanderte seine Hand von meiner Schulter nach unten und traf als Faust knallhart in meine Rippen.
Es tat verdammt weh. Natürlich machte ich den Fehler, genau dann zurückzuschlagen, als Chrissie sich umdrehte. Im selben Moment sagte Charlie: „Und wieder ein Punkt verschenkt Jim!“
Ich biss die Zähne zusammen und lief zu den anderen. Nick stand auf und gab mir ein Zeichen, dass er auf den See hinausrudern wollte.
„Charlie hat keine Lust“, bootete ich ihn aus, bevor er sich äußern konnte.
Ich hatte keinen Bock darauf, mir auch noch den Rest des Tages vermiesen zu lassen.
„Sandy und Chrissie auch nicht“, meinte Nick.
Also fuhren wir allein. Vom Wasser aus sah ich, wie die Anderen die Sachen packten und sich auf den Heimweg machten.
„Endlich haben Mal unsre Ruhe“, seufzte ich. Nick gab mir Recht: „Charlie spinnt doch! Soll ich noch Mal mit ihm reden?“
Ich schüttelte den Kopf: „Der ist voll blöd. Der bildet sich auf einmal sonst was ein! Was soll eigentlich ständig dieses dumme Gerede über Chrissie. Ich hätte nie gedacht, dass wir uns wegen ihr Mal so in die Haare kriegen würden.“
Ich warf einen Blick auf die Wiese.
Immer mehr Leute gingen nach Hause. Bald waren nur noch wir da. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie erholsam es jetzt war. Unser einziges Problem war, dass Nick wieder Hunger bekam.
Zum Glück hatten wir noch Soft-Kekse dabei. Du weißt schon, diese weichen, mit Schokolade überzogenen Kekse, mit Cremefüllung.
Eigentlich waren diese sie das einzige Essbare, das Nick nicht ausstehen konnte. Schon früher hatte er sich nicht gemocht.
Aber Sandy hatte darauf bestanden, sie mitzunehmen. Und jetzt war er doch ziemlich froh darüber. Er zwang sich, einen Keks zu essen und fand schließlich, dass er gar nicht so schlimm schmeckte, wie er immer gedacht hatte.
Er hatte ein paar kleine Steinchen mitgenommen, die wir jetzt übers Wasser warfen. Du kennst es bestimmt, wenn es im Sommer so heiß ist, dass, wenn die Zeit abends schon weit fortgeschritten ist, die Schwüle immer noch nicht nachlässt.
So war es auch an diesem Tag. Nach einem Blick auf die Uhr konnte ich gar nicht fassen, dass wir schon so lange hier waren. Aber ich wollte noch lange nicht gehen.
„Warum?“, fragte Nick plötzlich. „Warum was?“, sah ich ihn an. Aber der zog die Schultern hoch und wiederholte nur noch Mal sein: „Warum!“
„Hä?!“, dachte ich. Und dann : „Ach so!“
Laut sagte ich: „Mann!“ Endlich hatte ich kapiert was er meinte. „Also, WARUM (!?!) haben Sie das getan?“
Unschuldig sagte ich: „Was?“
„Nun tun Sie doch nicht so. Ihre arme Tante hat fast einen Herzinfarkt bekommen!“
„Warum?“
„Das will ich doch von ihnen wissen! Sie hätten an sie denken müssen. Der arme Hund. Wenigstens die Reste hätten sie wegräumen können!“ – „Welche Reste?“
„Also! Das ist ja wohl unerhört! Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind?“
„Warum?“, antwortete ich nur wieder, immer noch ohne die leiseste Ahnung. Es ging darum herauszufinden, was „der Verbrecher“ getan hatte. Der war gerade ich. Der Abend war spät geworden- nach dem x-ten Bier wusste er nicht mehr, was er tat.
Und nun sollte er sich vor dem Gericht verteidigen. Aber wie - wenn man keinen blassen Schimmer hatte „warum“? Hast du vielleicht eine Idee? Na los, ich brauch’ Vorschläge.
„Ich kann mich an nichts erinnern“, mimte ich den Angeklagten.
Der Richter – also Nick – runzelte die Stirn: „Sie meinen, Sie geben zu, dass Sie stockbetrunken waren?“
„Ja , somit unzurechnungsfähig. Das müsste doch eigentlich mildernde Umstände geben, oder?“
„Ha! Wie kommen Sie dazu, es zu wagen! Mildernde Umstände? Grobfahrlässig haben Sie gehandelt. Nur durch ein schnelles Geständnis wird es Ihnen gelingen, die Strafe mäßig zu halten. Also raus mit der Sprache. Warum haben Sie nicht wenigstens die Versicherung aus Ihrem Spiel gelassen?“
Nicks Miene passte perfekt.
Langsam hatten wir´s echt drauf. Kein Wunder. Früher hatten wir das fast jeden Tag gespielt. Es war verdammt lange her.
Ich kratzte mich am Hinterkopf und erwiderte: „Nun ja, wissen Sie, die alte Dame tut mir natürlich Leid – obwohl ich nicht genau weiß, was ihr widerfahren ist. Und was den Köter betrifft, werde ich selbstverständlich alles Notwendige in Gang setzen.“
Nick atmete schwer. „Genial!“, dachte ich.
„Einen feuchten Dreck werden Sie tun. Dem Hund ist sowieso nicht mehr zu helfen. Wir werden für eine angemessene Beerdigung sorgen. Sie bleiben vorläufig in Untersuchungshaft. Ich hoffe, Sie haben einen guten Anwalt, einen sehr guten Anwalt!“, explodierte Nick scheinbar.
„Hhäää???“, war ich verwirrt: „So schlimm? Und warum reden Sie von Beerdigung? Reicht es nicht, ihn einfach irgendwo zu vergraben? Wollen Sie wirklich Pfarrer und alles dabei haben?!?“
Jetzt erschien ein vorsichtiges Grinsen in Nicks Gesicht: „ Natürlich nicht mit Pfarrer. Sie werden ja wohl noch wissen, dass ihre Tante unreligiös war! Die Frau hatte absolut nichts mit der Kirche am Hut! Glauben Sie ernsthaft, wir würden zulassen, dass bei ihrer Beerdigung ein Priester anwesend ist?“
„Bei meiner Beerdigung? Herr Richter. Das hat, denke ich, Zeit. Hier geht es doch um den Hund, nicht?“, fragte ich sichtlich nervös.
„Wie bitte? Ich glaube, Sie sollten doch mildernde Umstände bekommen. Sie sind ja krank im Kopf. Natürlich geht es um die Beerdigung ihrer Tante - nicht um die eines Hundes.“
„Oh…“, schluckte ich betroffen. Damit hatte ich nicht gerechnet: „Wenn das so ist.“
Nick verkniff sich das Lachen: „Ist das alles, was Ihnen dazu einfällt?“
„Also, mmh, dass ist mir jetzt wirklich unangenehm. Ich weiß wirklich nicht… nicht mehr, was sich am besagten Abend zugetragen hat. Andererseits – wahrscheinlich ist das Alles ein großes Missverständnis. Mir ist so was noch nie passiert. Ich kann mich nicht entsinnen, als ich betrunken war, noch irgendetwas gemacht zuhaben, euer Ehren.“
„Das ist gewöhnlicher Weise so. Ich kann Ihnen da auch nicht weiterhelfen“, konterte Nick: „Außerdem haben Sie zusätzlich eine Anzeige wegen Versicherungsbetrug.“
Er hörte kurz zu Reden auf, um wieder zu Atem zu kommen: „Als ob Sie nicht von Anfang an gewusst hätten, dass diese „Freunde“ von Ihnen krumme Dinger machen. Spätestens als Sie merkten, dass sie Sie nicht einfach aussteigen lassen, hätten Sie zur Polizei gehen müssen.“
Wieder machte er eine kurze Pause. Diesmal, um seinen Worten Nachdruck zu verschaffen. Er hatte schon früher immer solche Pausen gemacht und mir erklärt, dass das „Künstlerpausen“ seinen.
Ich hatte ihm zwar geglaubt, aber immer behauptet, er müsse bloß überlegen wie seine Geschichte weitergehen sollte. Ich denke, ich war neidisch auf ihn, weil er jedes Mal so gute Ideen hatte.
Zum Glück hatte ich mich mittlerweile damit abgefunden und hackte nicht mehr auf ihm herum. Gespannt hörte ich ihm zu, als er weitererzählte: „Bei aller Menschenfreundlichkeit, aber in Punkto Vertrauen muss Ihnen doch klar gewesen sein, dass die Leute dann irgendetwas gegen Sie unternehmen würden“, prahlte Nick und sah mich fragend an.
Dann setzte er seinen „missbilligenden Blick“ auf, für den er Jahre geübt hatte. Den benutzte er jedes Mal, wenn sich unser Spiel dem Ende zu neigte: „Gut, dass es ausgerechnet ein Bruch war, bei dem ihre Tante zu Schaden kam, dafür konnten Sie wohl nichts.“
Kurze Pause: „Aber das entschuldigt nicht, dass Sie, als Sie mitbekamen was los war, nicht eingegriffen haben. Ganz zu schweigen davon, dass auch noch der Hund unter dem Fluchtfahrzeug landete. Und dann noch Mal bei der Versicherung eine große Geldsumme abzusahnen, ist wirklich der Gipfel.“
Ich wollte protestieren, aber Nick ließ mir keine Gelegenheit. Es war Wahnsinn, wie schnell er sprach.
„Nein – sagen Sie nichts. Ich will nur die Namen der Hintermänner wissen. Dann kann ich mir das mit den mildernden Umständen noch Mal durch den Kopf gehen lassen“, vervollständigte er seine Geschichte.
Manchmal verblüffte mich seine Phantasie. Wahrscheinlich lag es daran, dass ich immer wieder freiwillig die Rolle des Täters übernahm.
Ich saugte mir noch ein paar Namen aus den Fingern, was ich gerade noch hinbekam. Bei zusammenhängenden Storys hatte ich ernsthafte Probleme. Möglicherweise hältst du uns jetzt endgültig für ziemlich bescheuert.
Was soll´s. Solange du mir das nicht ständig unter die Nase reibst oder es bei anderen rumerzählt, hab´ ich damit kein Problem.
Zugegeben: etwas seltsam war das schon, aber wenigstens kam so keine Langeweile auf. Und das hatte meiner - beziehungsweise unserer - Meinung nach oberste Priorität.
Nick gähnte. Damit steckte er mich an. „Bist du müde?“, fragte ich schließlich. Er schien sich nicht sicher zu sein. Wahrscheinlich war er müde, wollte aber noch nicht zurückgehen.
Trotzdem packten wir langsam die Sachen, die wir noch dabei hatten, in unsere Rucksäcke.
„Geh´n wir“, meinte er mit weit aufgerissen Mund, sodass ich ihn fast nicht verstand.
Es war immer noch erstaunlich hell. Nur die Hitze hatte nachgelassen. Wir ruderten an Land und machten uns auf den Heimweg. Dieser kam uns viel länger vor als am Vormittag.
Zu allem Überfluss begann es auch noch zu tröpfeln. Unter anderen Umständen wäre uns diese Erfrischung sicherlich gerade recht gekommen. Aber wir mussten uns regelrecht zusammenreißen, nicht gleich einzuschlafen. Die Müdigkeit legte sich wie Nebel über uns.
Dass wir das Boot schleppen mussten, hielt uns nicht im Geringsten wach. Wir zogen es beinahe – besser gesagt, es schleifte am Boden entlang, was sicherlich nicht gut für die ohnehin schon traktierten alten Holzbretter war, die mit Lack bestrichen waren, um es vor dem Wetter zu schützen.
Erschöpft verstauten wir es schließlich im Schuppen und liefen ins Haus. Die anderen guckten irgendeinen Krimi oder so. Ich bekam nur eine kurze Szene mit, in der jemand durch eine dunkle Straße rannte und ziemlich unglücklich schaute.
Dann kamen aus lauter Seitengassen noch mehr Leute, die sich der mysteriösen Person anschlossen. Irgendwie erinnerte es entfernt an >Emil und die Detektive<. Nur dass Alles viel dunkler und unheimlicher war und die Leute eben erwachsen.
Mich interessierte das nicht sonderlich. Ehrlich gesagt fragte ich mich, wie die sich so was angucken konnten. Aber wie gesagt, ich sah nur einen kleinen Ausschnitt.
Vielleicht war der Film sogar ganz in Ordnung. Ich meine, wenn Chrissie ihn sich ansah, konnte er doch gar nicht so schlecht sein, oder? Möglicherweise handelte es sich sogar um eine Komödie. Nicht dass ich nur witzige Filme gut fand. Im Grunde mochte ich Krimis eigentlich.
Vor ein paar Jahren hatte ich alles gierig verschlungen, was auch nur im Entferntesten danach roch. Aber mittlerweile hatte ich mehr oder weniger genug davon. Versteh mich nicht falsch.
Wenn Mal ein richtig guter Krimi kommt, sehe ich ihn mir natürlich an. Und auch wenn ich Lust habe fernzusehen und ich entdecke. dass gerade einer läuft, kann ich nicht anders als zugucken.
Aber es ist nicht so, dass ich ständig irgendwelche Gruselromane lese oder dauernd ins Kino renne, um die neuen Folgen von „Nijsoy“ zu sehen. Genauso rätselhaft wie der Name sind auch die Filme an sich.
Damit kenne ich mich bestens aus. Ich bin schließlich nicht umsonst bis heute im Besitz der wohl größten Nijsoy – Sammlung der Welt. Warum ich diese Filme früher so toll fand, willst du wissen? Um ehrlich zu sein, habe ich keine Ahnung, was genau mich so faszinierte.
Eigentlich habe ich nur aus einem Grund aufgehört sie zu gucken: Ich fand es krank, in einem überfüllten Kinosaal zu sitzen, in dem sich alle vor Angst die Seele aus dem Leib brüllten, während ich mir das Lachen verkneifen musste, weil die Szene total überdreht war.
Mal im Ernst. Würdest du dir wegen einem großen, grünen, sabbernden Monster auf der Leinwand in die Hosen machen? Also ich bestimmt nicht. Okay, zugegeben. Meistens sahen die Monster ziemlich echt aus. Und es war, glaube ich, auch nur einmal ein sabberndes dabei.
Aber trotzdem. Es kann doch nicht angehen, dass man wegen dem ganzen Geschrei gar nichts mehr vom Film versteht. Also beschloss ich, mein Hobby zu ändern. Und weil ich mein Geld nicht mehr für dämliche Kinofilme ausgab, konnte ich mir irgendwann eine Gitarre kaufen.
Was ich damit sagen will: Im Prinzip hätte ich mich zu den anderen auf die Coach setzen und mitgucken können. Aber ich war viel zu müde. Ich ging lieber nach oben und haute mich aufs Ohr.
Und meine Variante war immer noch besser als Nicks. Er setzte sich zu den anderen ins Wohnzimmer und pennte schon nach zehn Minuten ein.
Ich hab´ ihn noch kurz geseh´n als ich noch mal runter ging, um ein Glas Wasser zu trinken. Eigentlich wäre es ja gar nicht schlimm gewesen. Peinlich war nur, dass er schnarchte.
Sandy verkniff es sich zu Lachen und versuchte krampfhaft, sich weiterhin auf die Sendung zu konzentrieren, was ihr anscheinend nicht gelingen wollte. Als ich mich endlich hingelegt hatte und meinte, mich ausruhen zu können, klopfte es. Sofort schreckte ich aus dem Halbschlaf hoch.
„Bloß nicht schon wieder Nick“, hoffte ich inständig: „Muss der Kerl immer Hunger haben?“
Ich drehte mich auf die andere Seite und versuchte, das leise Quietschen der Tür zu ignorieren, die langsam geöffnet wurde. Das passte nicht zu Nick. Er hätte die Tür aufgerissen und wäre ohne Rücksicht auf Verluste ins Zimmer gekommen.
Nur dachte ich nicht daran.
Ich schoss die Augen und wollte mich von nichts und niemandem dazu überreden lassen, aufzustehen. Irgendetwas juckte an meinem Rücken, aber nicht Mal davon ließ ich mich stören.
Sogar als sich Charlie räusperte, ging ich immer noch davon aus, dass Nick hereinkam, obwohl mir das natürlich hätte auffallen müssen. Ich reagiert erst, als ich seine Stimme hörte.
Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie schnell ich aus dem Bett raus war. Keine Sekunde länger wäre ich bei diesen Worten liegen geblieben. Ich spürte die Gänsehaut, die meine Haare zu Berge stehen ließ.
Charlie begann, seine Widerlichkeiten auszuspielen: „Na, liegst du weich? Kein Wunder.. schließlich bin nicht umsonst den ganzen Tag am See rumgerannt um Kakerlaken, Engerlinge und Schaben zu sammeln…“


Kapitel 18

Eine Minute später stand ich im Bad und übergab mich. Es war zu ekelhaft. Was verdammt noch Mal war mit Charlie los?
Er konnte doch nicht wegen Chrissie so fies zu mir sein. Vor allem nicht so plötzlich.
Die restliche Nacht über hatte ich Alpträume. Ich hatte die Bettdecke ausgeschüttelt und alles „Ungeziefer“ wieder in den Garten verbannt. Trotzdem kam es mir so vor als wären überall schleimige Kleintiere.
Kein Wunder also, dass ich träumte, dass sich Charlie in einen übergroßen Marshmallow – Typen verwandelte und sich zu einem Insekten fressenden Monster entwickelte.
Nick kam in diesen Träumen nicht vor. Doch, ich glaube ein Mal: in Form einer Made. Natürlich musste ich dabei zusehen wie Charlie ihn genüsslich verspeiste. Sei bloß ruhig. Ich will gar nicht wissen, was du dir immer für einen Mist zusammenträumst.
In den nächsten Tagen passierte nicht wirklich viel. Abgesehen davon, dass die Polizei Charlies Auto wieder gefunden hatte und wir jetzt wieder Spitztouren machen konnten, gibt es eigentlich nichts Wesentliches, von dem ich dir erzählen könnte.
Sogar Charlie ließ mich einigermaßen in Ruhe. Nur ab und zu feuerte er eine seiner Gemeinheiten auf mich ab, die dafür umso gemeiner waren. Wahrscheinlich war er der Meinung, dass sich das dann ausglich. Möglicherweise hatte er aber auch eine „schöpferische Phase“, wie Nicks Theorie lautete, in der er das Sprichwort „Viele kleine Freuden sind besser als eine große“ in „ Wenige richtig fiese Gemeinheiten sind besser als viele harmlose“ umänderte. Was mich anging, zweifelte ich daran, dass Charlie über so viel Grips verfügte.
Ich vermutete eher, dass es ihm einfach Spaß machte mich zu ärgern, egal auf welche Art.
Und dabei dachte er höchstwahrscheinlich überhaupt nichts. Zuerst hatten Nick und ich noch versucht ihn dazu zu bringen aufzuhören, aber dann haben wir ihn einfach genauso zugetextet wie er uns. Sozusagen ausgleichende Gerechtigkeit, wenn du willst.
Das dumme war nur, dass er immer ein glücklicheres Händchen hatte als wir. Ich weiß nicht, wie er das machte, aber jedes Mal, wenn er über uns herzog, waren Sandy und Chrissie nirgends zu sehen.
Sobald wir dann mal einen gezielten Vergeltungsschlag verüben wollten, tauchten sie auch schon auf. In diesem Zusammenhang hatten wir einfach das perfekte Timing.
Allmählich hatten wir uns beinahe schon an seinen heimtückischen Gesichtsausdruck gewöhnt, den er jedes Mal auflegte, wenn er uns wieder da hatte wo er uns haben wollte: im Fettnäpfchen.
Nick und ich traten immer wieder brav rein. Zum ersten Mal hatte nick das Vergnügen. Und das hatte gehörig gesessen. Es war aber echt unfair, dass Charlie alles so genau inszeniert hatte.
Hör zu: Charlie hatte es darauf angelegt, dass Nick sich mit Chrissie wegen eines Joghurts stritt. Was ihm auch fast gelungen wäre. Die Betonung liegt auf fast.
Nick hatte gerade noch rechtzeitig begriffen, wie hirnrissig es war, sich deswegen zu streiten. Charlies Plan hatte so ausgesehen: Er hatte absichtlich alles bis auf einen Vanillepudding versteckt.
Und zwar zu dem ungünstigsten Zeitpunkt, den er sich nur aussuchen konnte. Natürlich gerade an dem Tag, als auch sonst nichts anderes Essbares da war.
Charlie lief zu Chrissie und fragte sie, ob sie was essen wolle – natürlich nicht ohne Hintergedanken. Als sie dann den letzten Pudding aus dem Kühlschrank holte und auf den Tisch stellte, sagte er, dass er gerade oben gewesen wäre und Musik aus ihrem Zimmer gekommen wäre.
Die Arme dachte, sie hätte den CD Player angelassen und rannte schnell hoch um nachzusehen. Natürlich hatte Charlie den CD Player selber angemacht um sie aus der Küche zu locken.
Und während sie oben war erzählte er Nick, der schon wieder nur von Essen sprach: „Wir ham noch ´nen Pudding da. Den will eh keiner mehr. Ich hab die Mädels schon gefragt.“
Gerade als er den Rest ausleckte kam Chrissie, die ebenfalls ziemlich hungrig war. „Hey! Den hab ich mir extra rausgestellt! Kannst du nicht fragen, bevor du dir einfach irgendwas nimmst?“, motzte sie ihn an. „Tut mir Leid. Ich hätte ja gefragt, aber es sind doch sowieso noch welche da“, entschuldigte er sich.
Er wusste ja nicht, dass Charlie die anderen versteckt hatte. „Gar nicht wahr. Das war der Letzte. Das kommt davon, wenn man so viele hintereinander isst“, sagte sie. Diese Anspielung hätte sie sich echt sparen können. „Bitte?“, fragte Nick: „Ich hab erst EINEN gegessen. Außerdem bin ich mir sicher, dass noch welche da sind.“
Jetzt zeigte sie ihm, dass wirklich keine mehr im Kühlschrank waren. „Trotzdem“, beteuerte er: „Charlie hat gemeint, dass er dich gefragt hätte, ob du ihn willst und…“
„Was? Ob ich Charlie will? Fällt dir nichts Blöderes ein?“, schnitt sie ihm das Wort ab.
„Quatsch. Nicht Charlie! Den Pudding natürlich!“, berichtigte er sich. Nur leider kam Sandy dazu und hackte darauf herum dass wir immer alles auf Charlie schieben würden.
Das führte dazu, dass Nick aus der Diskussions- Nummer nicht mehr so leicht herauskommen würde. Aber zum Glück hatte er ja noch den Helfer in der Not. Ich tauchte genau im richtigen Moment auf.
Nämlich dann, als Nick die Argumente ausgingen. Gemeinsam schafften wir es schließlich, sie davon zu überzeugen, dass wir weder böse Absichten hatten noch streitsüchtig oder eigensinnig waren. Somit war unsere Ehre vor ihnen wiederhergestellt gewesen und Charlie hatte sich damit abfinden müssen.


Kapitel 19

Mittlerweile hatte Charlie ihn schon unzählige Male reingelegt. Langsam fragte ich mich ernsthaft, ob Nick das mit Absicht machte. Ich will damit nicht sagen, dass ich nie auf Charlie hereinfalle, aber an Nicks „Eifer“, kam ich dann doch nicht heran.
Irgendwann musste man doch checken, dass man einfach nicht auf Charlie hören konnte. Wahrscheinlich lag es daran, dass Charlie jedes Mal Nicks größte Schwäche ausnutzte. Bei diesem Thema dachte Nick eben nicht nach. Apropos, wo liegen eigentlich deine Schwachpunkte?
Wie? Na gut, dann will ich dir die Rolle als Mr- oder Ms? - Perfekt Mal nicht streitig machen. Aber das gilt auch für dich, okay?
So in der Art war auch mein erstes Treffen mit Charlie abgelaufen. Du musst wissen, dass wir beide nie gerne Fehler zugaben. Damals war er neu in unsere Klasse gekommen. Das halbe Schuljahr der vierten Klasse war schon vorbei und es gab schon die typischen Grüppchen.
Der einzige Platz, der noch frei war, war in der ersten Reihe. Also blieb ihm nichts anders übrig, als sich dort hinzusetzen. Er wurde ständig aufgerufen, hatte aber nie die leiseste Ahnung.
Trotzdem faselte er immer irgendwas und fast jedes Mal überzeugte er unsere Lehrerin sogar damit.
Nur einmal wurde er knallhart bloßgestellt. Drei Mal darfst du raten, von wem. Richtig. Von mir höchstpersönlich.
Es störte mich, dass er mit seinem Drumherumgerede mehr erreichte, als ich mit meinem. Ich hatte nämlich genauso wenig Durchblick wie er. Nur, dass ich nie Recht bekam, bei dem was ich mir einfallen ließ.
Dabei waren Charlies Antworten auch nicht gerade besser. Einmal behauptete er ernsthaft, grün sei eigentlich dasselbe wie blau – bis auf die Tatsache, dass man die Farbe ein wenig geändert hätte.
Atemberaubende Glanzleistung, nicht? Ja! Er bekam sogar einen Pluspunkt dafür.
Und als ich am nächsten Tag versuchte die Lehrerin mit: „ Äpfel sind im Prinzip das gleiche wie Pflaumen, nur dass man sie von anderen Bäumen pflückt“, musste ich dafür 20 Mal den Satz: „Ich muss den Unterricht ernst nehmen und darf meine Lehrerin, Frau Johnson, nicht ständig mit unsinnigem Gerede aus dem Konzept bringen“, schreiben.
Danach beschloss ich, etwas zu unternehmen. So fand ich es geradezu gigantisch, dass wir bald darauf einen Aufsatz zum Thema „Was ich einmal werden will“ schreiben sollte.
Charlie war eine Niete darin, was in den wenigen Deutschstunden, die wir bis dahin gehabt hatten kaum zu übersehen gewesen war.
Ich schleimte mich also bei ihm ein, um herauszufinden, wie er an die nötigen Informationen kommen wollte. Erst war er misstrauisch. Doch dann gab er zu, dass er den Aufsatz von einer meiner Mitschülerinnen bekommen würde.
„Von wem?“, hatte ich unschuldig nachgehakt. Und auch das hatte Charlie ohne Bedenken preisgegeben. Das verunsicherte mich und ich war mir plötzlich nicht mehr sicher, ob ich ihn wirklich blamieren wollte. Schließlich hatte er mir gerade sein Vertrauen gezeigt.
Sollte ich es – oder konnte – ich es da einfach so ausnutzen? Ich glaube, ich hätte es fast gelassen, wenn Nick mich nicht dazu ermutigt hätte. Und der wusste schließlich immer über alles Bescheid was ich tat.
Ich meine wir taten ja sowieso immer alles zusammen. Mal abgesehen von bestimmten Kleinigkeiten wie aufs Klo geh´n natürlich. Aber ansonsten waren wir wie Pech und Schwefel.
Ganz klar also, dass er auch von Anfang an mitbekam, wie sehr mich Charlie annervte und ich ihn in meinen Plan einweihte.
„Sarah Ryan“, hat er gemeint“, berichtete ich Nick brühwarm. Der stieß einen leisen Pfiff aus und beschloss sofort mir zu helfen. Und weil ich sowieso ein schlechtes Gewissen wegen Charlie hatte, übernahm er den ersten Part des Komplotts.
Er erzählte Sarah, dass er in dieser Woche absolut keine Zeit hätte, um diese Arbeit zu schreiben, da sein Opa zu Besuch sei und er unbedingt Zeit mit ihm verbringen wollte.
Ihm war klar, dass Sarah ein totaler Familienmensch war, der für nichts mehr Verständnis hatte, als für eine solche Angelegenheit. Unter der Bedingung, seinem Opa schöne Grüße auszurichten, gab sie ihm ihre Notizen. Letzteres konnte er schlecht einhalten. Vielleicht rief er ihn auch an. Ich weiß es nicht mehr.
Der schwierigste Teil bestand aber darin, dafür zu sorgen, dass Sarah Charlie haargenau dieselben Sachen gab wie uns.
Um das zu erreichen flötete Nick ihr am nächsten Tag etwas von wegen: „Ich hab´ mir überlegt, dass es wohl doch besser ist, wenn ich den Aufsatz selbst schreibe, du weißt schon wegen der Übung und so.“
Er machte das richtig gut fand ich: „Und mein Opa bleibt jetzt sowieso länger als wir anfangs dachten. Aber danke noch Mal. Ich hoffe, du hast noch keinen neuen Aufsatz geschrieben und kannst den hier doch noch verwenden?“
Natürlich hatte sie längst einen anderen Aufsatz geschrieben, aber so musste sie keinen neuen für Charlie gestalten. Sie konnte ja nicht ahnen, dass wir ihre Notizen vorher noch schnell kopiert hatten…
Die Sache hatte nur einen Hacken. Wer war schon so blöd und änderte einen „geklauten“ Aufsatz nicht wenigstens annähernd um?
Meine Aufgabe bestand lediglich darin, den feinsäuberlich per Computer gedruckten Aufsatz, nach dem Motte „Der Zweck heiligt die Mittel“ zwei Tage später mit strahlendem Gesicht meiner Lehrerin zu überreichen.
„Ich hatte gestern nicht sonderlich viel zu tun, also hab´ ich schon Mal die Arbeit dabei…“, säuselte ich. Ich glaube, im ersten Moment war sie etwas verwirrt, aber sie versicherte mir, dass ich einen Pluspunkt bekommen würde.
Eine Woche später war der offizielle Abgabetermin. Charlie wurde sichtlich nervös. Aber auch ich war aufgeregt. Sogar so sehr, dass ich in der Mathestunde vergaß, mir Notizen zu machen. Auf keinen Fall wollte ich verpassen, wenn sie es merkte, dass Charlie exakt den gleichen Text abgab.
Den ganzen Vormittag hatte ich nichts anderes im Kopf als diesen blöden Aufsatz. Endlich war es soweit. Charlie ging nach vorne. Ich konnte sehen, wie er sich die schweißnassen Finger an der Hose abwischte. Er legte seine Blätter auf den Stapel der bereits eingesammelten Aufsätze und war schneller wieder auf seinem Platz, als du bis drei zählen kannst.
Ich wartete. Mein Blick haftete auf dem Bogen Papier, das meine Lehrerin jetzt in die Hand nahm, um es zu überfliegen. Das machte sie immer. Egal bei welcher Arbeit. Stell’ dir ihr Gesicht vor! Und da…
„Charlie?!“, ertönte die schrille Stimme: „Kannst du mir das hier erklären?“ Wow, war die sauer. Als Strafe, musste er eine Woche lang nachsitzen!! Natürlich war er tierisch böse auf uns, als er herausbekam, dass wir dahinter steckten.
Im Nachhinein war er vermutlich trotzdem ganz froh darüber, dass wir ihm diesen Streich gespielt haben, denn wir trafen uns nach der Schule und klärten alles.
Er musste hoch und heilig versprechen, dass er sich nicht mehr so bei unserer Lehrerin einschleimte, was ihn einiges an Überwindung kostete. Schließlich hatten wir einen Deal: Uns nicht gegenseitig die Show zu stehlen. So hatte also unsere Freundschaft begonnen.
Nur leider hatte er sich nicht an unsere Abmachung gehalten. Ich bedauerte es immer noch ein wenig, denn im Grunde war er immer ein guter Freund gewesen.
Aber inzwischen hatte er sich eben geändert. Vielleicht lag es auch an mir. Oder an Chrissie.


Kapitel 20

In diesem Moment hoffte ich inständig, dass Charlie wieder zur Vernunft kommen würde. Immerhin war er es gewesen, der mit diesem, anfangs noch albernen Wettstreit angefangen hatte, der sich mittlerweile um einiges zugespitzt hatte.
Ich seufzte. Es war ganz schon anstrengend geworden. Zumindest hatten sich die Ferien bisher so entwickelt, wie ich mir erhofft hatte. Ohne es zu merken, gähnte ich immer und immer wieder und steckte damit auch Nick an.
Dann ging ich nach oben und haute mich aufs Ohr. Aber auch diesmal wurde ich aus meinen Träumen gerissen.
„Hi“, stürmte Nick in mein Zimmer.
„Mann, musst du immer so reinplatzen?!“, beschwerte ich mich. Ich denke, ich habe schon erwähnt, dass Nick das immer so machte?
„Tschuldigung, ich wollt nur fragen ob du was essen willst“, sagte er und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Seine khakifarbene Hose spannte und drohte an einer Naht aufzuplatzen. Doch das störte ihn nicht im Geringsten. „Ja, warum nicht“, antwortete ich.
Und: „Was machen die anderen eigentlich?“
„Keine Ahnung. Charlie ist glaub´ ich joggen gegangen. Dabei ist es knallheiß draußen. Und er hat noch nicht Mal Sonnencreme benutzt“, erklärte er.
Wir gingen in die Küche und machten „Obstsalat á la Nick und Jim“. Das bedeutete, dass Nick außer Obst noch alle möglichen anderen Sachen dazumischte.
Sicherheitshalber nahm ich mir vorher schon ein paar Löffel, man konnte ja nie wissen, was am Ende dabei herauskam. Normalerweise konnte man sich echt auf Nick verlassen, aber was seinen Geschmack anging musste man vorsichtig sein.
Dieses Mal schmeckte das Endprodukt ausnahmsweise auch mir.
„Sollen wir was für die anderen übrig lassen?“, fragte er.
„Oh ja! Am besten machen wir für Charlie was extra Leckeres“, grinste ich: „Mit Spinnweben und so.“
„Damit er Mal wieder richtig schön herum spinnen kann!“, prustete Nick los.
Aber nach einer Diskussion darüber, wer die Spinnweben einsammeln sollte, entschieden wir uns doch lieber für Radieschen. Die konnte Charlie nämlich überhaupt nicht ausstehen. Dann schmissen wir noch schön viel Pfeffer dazu und sorgten mit einem Esslöffel Salz – natürlich nur in der extra für ihn zurechtgemachten Portion- dafür, dass es schrecklich schmecken würde.
Wir nahmen sicherheitshalber Schüsseln mit verschiedenen Farben, damit uns kein Fehler unterlaufen und wir aus Versehen Chrissie oder Sandy die „Spezialität des Hauses“ servieren würden.
Aber das Wichtigste war, dass Charlie keinen Verdacht schöpfte. Außerdem sollten sie alle zusammen essen, damit es für ihn auch schön peinlich wurde.
Denn in ihrer Anwesenheit konnte er es sich erstens nicht erlauben abzulehnen, wusste er doch, dass sie ihn für denjenigen von uns hielten, der die Versöhnung tatsächlich wollte.
Und zweitens würden sie ihm nie glauben, dass wir uns die Mühe gemacht hätten, extra etwas anderes für ihn zu entwerfen. Sie hätten mit Sicherheit gedacht, dass wir viel zu faul wären und es, wenn überhaupt, nicht geschafft hätten, dass Charlie diese Schüssel bekam und nicht eine der Mädels.
In diesem Falle war es also endlich Mal von Vorteil, dass sie uns für etwas – sagen wir Mal – unfähig hielten. Noch nicht einmal das Argument, er könne Radieschen nicht leiden, würde ihn weiter bringen, weil die Mädels dann behaupten würden, das sei eine billige Ausrede. Denn die beiden – vor allem Chrissie – waren total fasziniert von diesen kleinen roten Dingern und aßen gerne haufenweise davon.
Schließlich ging unser Plan auf. Es war eine richtige Genugtuung zu sehen, wie Charlie die Pampe herunterwürgte. „Ein Löffelchen für Mami, ein Löffelchen für Pappi“, flüsterte Nick ihm heimlich ins Ohr, als er sich neben ihn stellte, um das Fenster einen Spalt weit zu öffnen.
Und einen Moment später konnte Charlie nicht mehr. Er rannte aus der Küche, als wollte er einen neuen Weltrekord aufstellen.
„Was ist denn mit dem los?“, fragten uns Chrissie und Sandy.
„Magenverstimmung, hat er euch nichts davon erzählt?“, machten wir einen auf gute Freunde und meinten, wir würden Mal nach ihm schauen.
Wir mussten nicht lange nach ihm suchen. Wo sollte er auch schon groß sein? Wie zwei Detektive schlichen wir uns Richtung Bad. Natürlich musste Nick wieder alles ins Lächerliche ziehen und die Melodie von „Der rosarote Panther“ summen.
Du weist schon, diese Spannung aufbauende Anschleicher- Hymne. Dann strotzten wir nur so vor Sarkasmus.
„Können wir irgendwas für dich tun?“, fragte ich Charlie, der sich gerade übergeben musste. „Brauchst du Hilfe?“, machte Nick weiter.
Charlie schien es so elend zu gehen, dass er es noch nicht einmal schaffte, etwas zu erwidern. Das einzige Zeichen, das dafür sprach, dass er am Liebsten auf uns losgegangen wäre, war, dass sich seine Hände zu Fäusten verkrampften.
„Armer, kleiner Charlie…“, säuselten wir, „was machst du nur für Sachen.“ Nachdem wir dieses Spektakel genügend ausgekostet hatten, verzogen wir uns zurück in die Küche.
Dort waren wir wieder die wahren Engel. Erst als wir allein im Garten waren, genossen wir noch Mal unseren Sieg. „Wer weiß, wie lange es dauert bis Big Charlie zurückschlägt, so begründeten wir unsere Ausgelassenheit. Ich habe keine Ahnung, wie oft wir an diesem Tag noch „Schlag ein!“, zueinander gesagt haben.
Aber ich erinnere mich noch genau an Charlies Blick, als er zu uns in den Garten kam und verkündete, dass er es uns heimzahlen würde. Was wir ihm sogar glaubten. Aber noch war es nicht so weit. Und das breite Grinsen auf unseren Gesichtern reichte vollkommen aus, ihm das klarzumachen.
Dann gingen Nick und ich zum See und ließen Charlie links liegen. Das Einzige, was mich dabei etwas beunruhigte war, dass er so die Zeit hatte, seine neuen Rachepläne auszutüfteln.
Aber auch dieser Gedanke verschwand, als ich es mir mit Nick im Schatten eines besonders großen Baumes gemütlich machte. Zum Glück waren nicht all zu viele kleine Kinder da, die kreischend durch die Gegend sprangen und unschuldige Leute anfielen.
Guck nicht so. Das stimmt wirklich. Du weißt gar nicht, wie schlimm es war, als Ron noch jünger war.
Jünger deswegen, weil kleiner einfach nicht passen würde. Ich glaube, in den letzten drei Jahren ist er nicht wesentlich gewachsen Also war er ziemlich klein für sein Alter. Und das war das Einzige womit ich ihn aufziehen konnte.
Alles andere störte ihn schon lange nicht mehr. Ich erinnere mich noch genau daran, dass ich einmal, als wir mit unserer Mutter in einer Apotheke waren, einen Witz machte und behauptete, mein Bruder interessiere sich für Wachstumshormone.
Mir war eben damals schon klar, dass er ein Zwerg bleiben würde. Leider sah meine Mutter das anders und ich bekam Hausarrest.
Ich hatte Hausarrest immer gehasst. In meiner Vorstellung war es das Schlimmste überhaupt gewesen. Du kannst dir gar nicht vorstellen wie froh ich war, diese Zeiten hinter mir gelassen zu haben.
Jedenfalls war Ron früher der Schrecken aller Leute, die in unserer Stadt mit ihren Kindern auf den Spielplatz gingen und sich dabei selber etwas Ruhe gönnen wollten. Zuerst traktierte er nur die Kinder, indem er ihr Sandburgen kaputt macht und ihnen mit allem Möglichen auf die Nerven ging. Aber anscheinend muss ihm das irgendwann zu langweilig geworden sein.
Und dann fing er an, die herumstehenden Ehepaare zu ärgern. Ein Mal bekam ich mit, dass er einem Mann die Zeitung aus den Händen riss und auf ihr herumtrampelte. Frag mich nicht wie er das geschafft hat.
Ich habe mich das auch ziemlich lange gefragt. Aber ab da habe ich jedes Mal dagegen protestiert, wenn ich mit ihm auf den Spielplatz gehen sollte. Nur leider ließ mir meine Mutter dann keine andere Wahl als mit ihm im Park spazieren zu gehen.
„Da kann er nicht viel anstellen“, hatte sie gemeint und uns losgeschickt. Aber auch hier hatte Ron eine Möglichkeit gefunden. Sobald ich ihn einen Moment aus den Augen ließ, lief er zu den Omas und Opas, die auf den Parkbänken saßen und quatschte sie an.
„Na gut“, dachte ich.
“Solange die Leute sich nicht gestört fühlen, kann er sich ja mit ihnen unterhalten.“
Ich konnte es ihm doch nicht einfach so verbieten. Und den Leuten schien es sogar Spaß zu machen. Ich selber hatte keine große Lust dazu zu gehen, blieb aber immer in der Nähe, um sicher zu gehen, dass alles in Ordnung war.
An einem Vormittag unterhielt er sich so prima mit einer älteren Frau aus unserer Nachbarschaft, dass diese immer wieder auflachte. Das wollte ich dann doch genauer wissen und ging in Hörweite.
Was ich dann hörte, war unglaublich. Da plauderte mein Bruder doch tatsächlich intime Familiengeschichten aus – oder besser gesagt: Jim-Geschichten.
Am Liebsten wäre ich hingegangen und hätte ihm eine richtig fette Moralpredigt gehalten. Andererseits hätte die alte Frau mich dann bestimmt für einen Grobian gehalten. Was im Eigentlichen nicht schlimm gewesen wäre, wenn ich sie nicht gekannt hätte.
Und mein durch Ron zerstörtes Image würde das sicherlich auch nicht wieder geradebiegen. Moment Mal. Woher sollte die Frau eigentlich wissen, dass er von mir redete? Bis jetzt schien er meinen Namen noch nicht erwähnt zu haben. Jedenfalls seit ich zuhörte.
Er konnte ebenso gut über einen Kindergarten- oder Schulfreund sprechen. Als mir das klar wurde, wäre ich fast vor Freude in die Luft gesprungen - sei es weil mein kleiner Bruder anscheinend doch ganz lieb war oder weil ich mich aus dem Schneider fühlte.

Ich wollte mich gerade zu ihnen gesellen und ihn drücken, als er alles kaputt machte. „Jim“, kicherte er und dass die Frau nicht überrascht war, verriet mir, dass sie es eh schon wusste.
„Du kleine Ratte!“, zischte ich, hielt mich aber zurück, um ihn auf dem Heimweg zur Rede zu stellen, wo er alles abzustreiten versuchte. Wenn er es wenigstens zugegeben hätte – von mir aus auch ohne Entschuldigung, wobei das ja wohl das Mindeste war – hätte ich mich möglicherweise noch Mal darauf eingelassen, mit ihm irgendwo hinzugehen.
Aber so dachte ich nicht im Traum daran. Das hatte auch meine Mutter wohl oder übel einsehen müssen, obwohl sie mir wie immer kein Wort glaubte. Ich hatte mich einfach strickt geweigert.
Kein Wunder also, dass ich es umso besser fand, dass keine derartigen Kinder da waren. Eine Zeit lang hatte ich sogar geglaubt, dass es an mir liegen könnte, dass Ron auf dem Spielplatz so abgegangen war, weil meine Mutter behauptet hatte, bei ihr wäre er nie so. Aber dann wusste ich, dass es ganz einfach daran lag, dass sie nicht da war.
Wie auch immer. Ich beschloss für den Rest des Tages keinen Gedanken mehr an R zu verschwenden. Mit Charlie hatte ich schließlich genug Probleme. „Woran denkst du?“, fragte mich Nick jetzt. „Nichts Besonderes“, sagte ich, was zwar nicht ganz der Wahrheit entsprach, aber immerhin auf dasselbe herauskam.
Ich jedenfalls hätte Charlie und Ron zu diesem Zeitpunkt nicht als etwas Besonderes bezeichnet. Höchstens als etwas besonders Nerviges. Das fügte ich als Erklärung für Nick hinzu.
„Jetzt krieg dich Mal wieder ein, Jim.“, meinte er mehr oder weniger gelassen: „Charlie ist immer noch unser Freund. Vielleicht sieht es im Moment nicht danach aus, aber er wird sich schon wieder einkriegen. Jeder hat doch mal ´ne schlechte Phase.“
Ich zog die Augenbrauen hoch: „Auf einmal? Was ist denn mit dir los? Bereust du unsere Aktion etwa schon wieder?“
„Nein. Er hat es verdient. Aber ich find´ s nicht gut, dass wir uns überhaupt mit ihm streiten. Vielleicht hat er sich ja inzwischen beruhigt.“
Beruhigt? Ich verstand nicht so ganz, was Nick meinte. Aber ich hatte auch keine Lust, darüber nachzudenken. Woran er dachte, brauchte er mir nicht näher zu erläutern. Ich hoffe, ich dir auch nicht.
Es war ja auch zu offensichtlich, da sein Magen knurrte, als habe er seit drei Tagen nichts mehr bekommen. Aufmunternd hielt ich ihm einen Grashalm hin. Aber sein Gesichtsaudruck entsprach eindeutiger Ablehnung.
„Dann eben nicht“, zuckte ich die Schultern und sah einem kleinen Mädchen zu, das versuchte, auf einen der Bäume zu klettern.
„Willst du auch Mal?“, schlug Nick vor, was eine Anspielung darauf war, dass er es früher immer geschafft hatte, auf alle möglichen Bäume zu klettern, während ich immer kläglich versagt hatte.
Und als ich es dann zum ersten und letzten Mal auch einmal geschafft hatte – denn danach war dieses Thema für mich tabu, war ich nicht mehr hinunter gekommen. Dementsprechend verneinte ich natürlich, froh darüber, dass er das Thema wechselte.
„Wollen wir ´ne Runde schwimmen geh´n?“, fragte er. Im ersten Moment glaubte ich mich verhört zu haben.
„Bei der Hitze?“, sah ich ihn an.
„Na und? Ist doch gar nicht mehr so heiß“, zuckte er die Schultern. Ich räumte ein, dass wir uns ganz sicher Sonnenbrand holen würden. Ich erinnere mich, dass ich absolut keine Lust hatte zu baden und verzweifelt nach Argumenten suchte, mit denen ich ihn überreden konnte. Doch als er mir einen Wink gab, nach hinten zu sehen, erblickte ich Charlie, der auf uns zusteuerte.
„Na, das ging ja schnell“, sagte ich. „Willst du jetzt wegen dem abhauen, oder wie. Das ist doch bescheuert. Der soll uns gefälligst in Ruhe lassen.“
Aber dann fiel mir auf, dass Charlie keine Badesachen an hatte und uns somit wohl kaum folgen würde. „Und hier lässt er uns sowieso nicht in Ruhe. Das kannst du vergessen“, schüttelte er den Kopf. Als Charlie uns fast erreicht hatte, standen wir auf und gingen zum Wasser.
Weder Nick noch ich drehten sich noch mal nach ihm um. Ich war mir sicher, dass er wieder nach Hause gehen würde. Als wir weit genug im Wasser waren schauten wir doch noch Mal nach hinten um sicher zu gehen, dass er auch wirklich weg war.
Er war nirgends zu sehen.
„Puh“, seufzte Nick: „Glück gehabt!“, und hielt seine Hand hoch.
„Hallo!“, brüllte mir jemand ins Ohr.


Kapitel 21

Die Stimme kam mir leider allzu bekannt vor. Ich brauchte mich nicht umzudrehen, um zu wissen, wer es war. Ich hatte ihn wohl unterschätzt. Wie, um Himmels Willen, hatte Charlie es geschafft da hin zu kommen?
Das fragte ich ihn jetzt Und die Antwort ist er mir bis heute schuldig geblieben. Alles was er sagte war: „Ein bisschen Höflichkeit könnte euch nicht schaden. Guten Freunden gibt man doch ein Küsschen“, und damit hielt er uns zwei Ferreroküsschen hin.
Damit war die Verwirrung perfekt. Ich spürte, wie mir übel wurde. Als ich mich dann umdrehte und Charlie mir auch noch ein Bussi auf die Wange drückte, wurde mir endgültig schlecht. Ich schaffte es gerade noch ans Ufer, bevor ich mich übergeben musste.
Was Charlie da gerade abgezogen hatte war fast noch widerlicher als seine bisherigen Nummern. Gott, fühlte ich mich elend. Zum Glück dauerte dieses Gefühl nicht lange.
Ich atmete tief durch und ging dann auf Charlie los, der bereits von Nick verprügelt wurde. Das war das erste Mal, dass Nick und ich mit vereinten Kräften gewaltsam einen Streit mit Charlie austrugen. Natürlich hatten wir uns davor auch schon mit ihm geprügelt, aber eben nur aus Spaß. Ganz im Gegensatz zu jetzt.
Das einzig dumme war, dass Charlie viel stärker war, als wir. Ich hatte zwar gewusst, dass er regelmäßig trainierte, aber dass er so stark war, damit hatte ich dann doch nicht gerechnet.
Wahrscheinlich war er bei unseren früheren Prügeleien einfach auf Sparflamme gelaufen, weil er uns nicht wirklich hatte wehtun wollen. Nachdem wir ein paar Treffer erzielt hatten, riss er sich zusammen. Nicht, dass er dann uns verprügelt hätte.
Das überließ er ziemlich schrägen Typen, die auf einmal auftauchten. Und dann wünschte ich mir, dass wir diesen Streit nie angefangen hätten. Der eine Typ verpasste mir einen Tritt nach dem nächsten und Nick ging es nicht besser Bei alldem stand Charlie mit verschränkten Armen daneben und grinste breit.
Mir wurde klar, dass er die Jungs von früher kennen musste. Am Ende tat mein ganzer Körper weh. Als ob das nicht genug gewesen wäre, bespuckten sie uns dann auch noch. Und da tat sich auch Charlie keinen Zwang an. Nick und ich waren vollkommen machtlos.
Konnte uns nicht irgendwer der anderen Leute helfen? Natürlich nicht. In solchen Fällen will nie jemand etwas sehen. Und hören. Die Rowdies veranstalteten nämlich so einen Höllenlärm, dass ich mir am liebsten die Ohren zugehalten hätte.
Auf einmal durchzuckte ein Schmerz meinen rechten Arm und ich musste mir alle Mühe geben, nicht loszuschreien. Wenn die nicht bald aufhörten, würde ich wohl die nächsten Tage Wahnvorstellungen haben. Aber sie schienen gerade erst anzufangen. Denn jetzt packten sie ihre Baseballschläger aus.
Das darf doch nicht wahr sein!“, flehte ich und schluckte. Warum konnte Charlie sich nicht einfach damit begnügen seinen Kaugummivorrat aufzubrauchen, um sich zu beruhigen?
Ich erinnere mich nur zu genau an seinen Blick. Dazu spielte er mit seinem Schläger. Ich kam mir vor wie – ja, wie eigentlich? Ich denke die Beschreibung Ball (?) würde passen. Schließlich wollten sie nicht wirklich Baseball spielen.
Bei dem, was dann folgte, ziehe ich es vor, nicht in Details zu gehen. Nur so viel: Sie prügelten uns im wahrsten Sinn des Wortes windelweich. Von meiner Brille war am Ende jedenfalls nichts Brauchbares mehr übrig. Erst hätte ich beinahe angefangen loszuheulen. Doch dann hätten sie endgültig ihr Ziel erreicht.
Ich biss die Zähne zusammen und sagte knallhart: „Verschwindet endlich! Findet ihr nicht, es reicht langsam?“ Ich erwartete schon dafür noch mal eine gehörige Tracht Prügel zu bekommen.
Aber die Typen schnappten doch tatsächlich ihre Schläger und machten sich aus dem Staub. „Lasst uns Einen trinken geh’n“. sagte der Größte von ihnen und schlug Charlie auf die Schulter. „Nette Freunde hast du da.“ – „Das sind nicht meine Freunde“, antwortete Charlie.
Als sie nicht mehr zu sehen waren, waren auch alle anderen Badegäste verschwunden. „Feiglinge“, dachte ich. Sie hätten wenigstens versuchen können, irgendwas zu machen. „Glaubst du, Charlie hat das geplant?“, wollte ich von Nick wissen und rappelte mich auf.
„Aua“, stöhnte ich dabei, als sich all die Stellen meines Körpers meldeten, an denen über kurz oder lang blaue Flecken auftauchen würden. „Nick“, wiederholte ich meine Frage, da er mir immer noch nicht geantwortet hatte. „Nick, was soll das?“, hakte ich nach. „Sie sind weg. Du kannst mit mir reden.“
Schmollte der jetzt, oder was? Ich drehte mich zu ihm um. „Ihr verdammten Dreckskerle!“, brüllte ich, als ich Nick sah. Er sah ernsthaft verletzt aus und lag in einer unnatürlichen Haltung am Boden. Ihn hatten sie um einiges Schlimmer zugerichtet als mich. „Nick!“, rief ich jetzt: „ Scheiße!“, Nick rührte sich nicht. Auch als ich immer wieder seinen Namen wiederholte, reagierte er nicht darauf. Zumindest atmete er noch.
Ich kniete mich zu ihm herunter und das dürre Gras knisterte. Jetzt in der Stille hörte man das erst. Es war total vertrocknet von der Sonne. Nicks Atem ging schwer. Ich wusste nicht was ich tun sollte. Obwohl es nicht kühler geworden war, begann ich zu frösteln.
„Nick verdammt!“, flehte ich. Ein dicker Kloß machte sich in meinem Hals breit. In meinem Kopf spukte nur ein Gedanke. Ich wischte mir eine Träne aus dem Gesicht: Dann rannte ich los. Ich glaube, so schnell war ich noch nie in meinem Leben gerannt.
Ich rannte, als ginge es um mein Leben. Mein Puls raste. „Wenn ich Charlie in die Finger kriege...!“ Wie hatte er zulassen können, dass seine Freunde Nick das angetan hatten? Ich weiß nicht, wie ich es geschafft habe, den ganzen Weg durchzurennen.
Ich weiß nur noch, dass ich, obwohl ich schon völlig erschöpft war, einfach weiterlief. Ich hätte nicht im Traum daran gedacht, eine Pause zu machen. Meine Schritte schallten laut. Mit letzter Kraft hetzte ich ins Haus. Ich musste dafür sorgen, dass Nick so schnell wie möglich Hilfe bekam.
„Aus dem Weg!“, rief ich, als Sandy mir entgegenkam. Ich stürzte in den Flur Richtung Telefon, um einen Krankenwagen zu rufen. Als ich fast da war, hörte ich Charlie. Die Wut in mir war unbeschreiblich. „Du mieses Schwein!“, brüllte ich ihn an. Es interessierte ihn überhaupt nicht.
Er telefonierte einfach weiter. „Hau ab, verdammt!“, riss ich ihm den Hörer aus der Hand und wählte den Notruf. Charlie war so verblüfft, dass er einen Moment lang nur dumm glotzte. „Was hab ich gesagt? Hörst du schlecht?!“, fauchte ich ihn an.
Dabei nutzte ich die wenigen Sekunden, in denen er nichts kapierte, um der Person am anderen Ende der Leitung die Informationen zu geben, die nötig waren. Aber noch bevor ich fertig war, nahm Charlie mir den Hörer weg. Er sah mich verständnislos an.
„Was Besseres fällt dir wohl nicht ein, um mich zu ärgern? Du spinnst ja!“ In meiner Verzweiflung versuchte ich, so laut ich konnte weiterzureden. Vielleicht würde man mich ja noch verstehen. Ich glaube, ich war so aufgeregt, dass ich alles durcheinander schmiss.
Aber das war egal, solange man verstand , was ich vermitteln wollte. Charlie baute sich wie ein Riese vor mir auf: „Was hab ich dir eigentlich getan?!“ Sein Gesichtsausdruck mimte den perfekten Unschuldsengel. Nur ein blauer Fleck an seinem Ellenbogen zeugte noch von der Prügelei.
Mir war klar, dass Chrissie aufgetaucht sein musste. Im selben Moment, als mich ein Stich im Arm wieder die Zähne zusammenbeißen ließ, ertönte das Besetztzeichen aus dem Telefonhörer. „Du verlogener Heuchler!“, ging es mir durch den Kopf.
Egal ob Chrissie es mitbekam, ich warf ihm diesen Gedanken an den Kopf. Was er da ablieferte war das Letzte. Ich hielt es nicht mehr aus, in seiner Nähe zu sein und rannte nach oben, um mein Handy zu holen.
Ich musste sicher gehen, dass mein Notruf angekommen war. Wie konnte Charlie nur so kalt sein? Er hatte doch mitbekommen, was los war. Nach einigen Worten mit einem Beamten war klar, dass der Krankenwagen schon unterwegs war. Ich ging an den Anderen vorbei nach draußen.
Jetzt brauchte ich zwar nicht mehr rennen, aber ich wollte trotzdem nicht zu lange brauchen. Ich musste wissen, wie es Nick ging. Ich merkte, dass mir jemand gefolgt war. Ich konnte nur hoffen, dass es nicht Charlie war. Ich sah kurz nach hinten und erkannte, dass es Sandy war. Sie sah ziemlich aufgebracht aus. Einen Moment lang wartete ich auf sie.
Während wir gemeinsam weiter liefen, hätte ich ihr am liebsten alles erzählt. Doch stattdessen musste ich mir Vorwürfe anhören. „Wie kommst du dazu, so gemein zu Charlie zu sein? Ihr könntet euch endlich mal wieder vertragen, findest du nicht?“ Es klang mehr nach einer Aufforderung als nach einer Frage.
Ich hatte keine Lust, jetzt mit ihr darüber zu diskutieren, wer hier zu wem gemein war. Du kannst dir sicher denken, dass es aus meiner Sicht der Dinge niemand anderes war als Charlie. Chrissie entging natürlich nicht, wie wenig ich ihre Meinung teilte. „Vielleicht sagst du mir endlich mal was los ist?“, fuhr sie mich scharf an.
Ich lief immer noch ziemlich schnell und sie kam kaum mit. Mir war klar, dass ich das Tempo unmöglich noch bis zum See durchhalten konnte. Endlich hörten wir die Sirene des Krankenwagens und wurden langsamer. Wir wussten, dass wir uns nicht mehr beeilen mussten. Besser gesagt, wusste ich es. Sandy verstand ja überhaupt nicht, was los war.
Sie sah mich verwirrt an. „Was? Charlie hat sich mit Nick geschlagen?“ „Ja. Oder nein. Nick hatte gar keine Chance sich zu wehren. Charlie hat da so ein paar Typen mitgebracht...“ Sandys Augen weiteten sich. Ich war mir trotzdem nicht sicher, ob sie mir glaubte.
Aber bald würde sie sich ja mit eigenen Augen davon überzeugen können, dass ich sie nicht anlog. Wenn sie Nick erst mal sah, würde sie mit Charlie bestimmt kein Wort mehr reden. Als wir endlich da waren, wurde er gerade auf eine Liege gebettet und in den Krankenwagen geschoben. In diesem Moment war Sandy tatsächlich fest davon überzeugt, dass ich die Wahrheit gesagt hatte.
Nur leider hielt das nicht lange an. Wir beschlossen, im Krankenwagen mitzufahren und die Ärzte hatten zum Glück nichts dagegen. Die Fahrt kam mir ewig vor. Ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen, bevor wir schließlich bei der Klinik ankamen.
Sandy und ich hatten keine andere Möglichkeit, als im Flur zu warten. Gedankenversunken saßen wir auf ein paar Stühlen, die vor den einzelnen Krankenzimmern standen.
Irgendwann tauchte einen Krankenschwester auf, die uns sagte, dass wir vorerst nicht zu Nick durften. „Es wird noch einige Stunden dauern bis er wieder zu sich kommt.“, meinte sie, „Ich bezweifle, dass es viel bringt, wenn ihr hier so lange wartet.“
„Um acht Uhr endet ohnehin die Besuchszeit.“ Damit verschwand sie wieder ins Schwesternzimmer und ließ uns alleine. Wir wussten zwar nicht, was wir tun sollten, aber nach Hause gehen wollten wir auch nicht.
„Lass uns Chrissie Bescheid sagen, wo wir sind“, meinte Sandy schließlich und holte ihr Handy hervor. Das Telefongespräch dauerte nicht besonders lange. Sandy war so durcheinander, dass sie ihrer Freundin nicht wirklich viel sagen konnte.
Aber es beruhigte mich auf seltsame Weise, dass sie ihr von Charlie erzählte. Also glaubte sie mir doch. Ich fragte mich, wie er aus dieser Sache wieder herauskommen wollte. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm.
„Sie hat gesagt, dass sie so schnell wie möglich auch herkommen will“, berichtete Sandy mir, als sie auflegte und das Handy zurück in ihre Hosentasche steckte.
Also warteten wir. „Da seid ihr ja!“, kam plötzlich Chrissie um die Ecke. Sie hatte sich anscheinend ziemlich durchfragen müssen, um uns zu finden. „Charlie hat mich hergefahren. Ich kann gar nicht glauben, was du da erzählt hast.“
Fragend sah sie ihre Freundin an. „Ich weiß nicht, was genau passiert ist“, sagte Chrissie, „aber Jim war dabei.“ Jetzt richteten sich die Blicke der beiden Mädels auf mich.
„Er hat uns gemeinsam mit ein paar anderen Kerlen geschlagen. Keine Ahnung warum er so ausgetickt ist. Fragt ihn am besten selber, okay?“
Viel mehr wusste ich schließlich nicht. Ich konnte mir auch nicht erklären, warum Charlie das getan hatte. Kurz bevor die Besuchszeit zu Ende war, beschloss die Schwester uns doch noch zu Nick zu lassen.
Wir schoben Stühle an sein Bett heran und setzten uns zu ihm. Er sah ziemlich müde aus. Sein linker Arm war eingegipst, ansonsten schien ihm nichts passiert zu sein.
Wir umarmten unseren Kumpel einer nach dem anderen. Sandy wurde rot. Es muss ihr ziemlich peinlich gewesen sein. Ich strich mein Haar zurück und Nick machte es mir nach. Ich kapierte. Ich rollte mit den Augen, so, dass nur Nick es sehen konnte.
Auch er begann mit den Augen zu rollen. Er übertrieb etwas. Dazu machte er ein ganz ernstes, fast Hilfe suchendes Gesicht. Chrissie fiel total darauf rein.
„Nick, was hast du? Was ist los? Der Alarmknopf! Schnell!“
Nick spielte seine Rolle perfekt! Sandy wurde auch schon unruhig. Das war zu viel. Ich konnte nicht anders.
„Ich weiß, was man da machen muss“, prahlte ich. Bevor die anderen mich zurückhalten konnten, schlug ich Nick mit der flachen Hand auf den Bauch. Spielerisch natürlich. Nicht fest.
Als ich Sandys erschrockenen Gesichtsausdruck sah, prustete ich los. Chrissies böse Blicke trafen mich und ich bemerkte, dass Sandy gar nicht mich ansah. Sie schielte an mir vorbei zu Tür.
Ich sah noch mal kurz zu Nick hin. Der rührte sich nicht mehr. Dann drehte ich mich langsam zur Tür um. Der durchdringende Blick eines Arztes traf mich. Ich schluckte. Er musste uns die ganze Zeit zugesehen haben.
„Wie geht es dem Patienten?“, fragte er und warf mir einen prüfenden Blick zu. Nick antwortete nicht sofort. Wir wurden ungeduldig. „Nick?“, hakte Chrissie nah. Der Arzt kam näher.
Nick machte immer noch keine Anstalten, etwas zu sagen. Genau genommen lag er da, als hätte er die Frage des Arztes überhaupt nicht wahrgenommen. „Hörst du mich?“, fragte der Arzt und begann Nick zu untersuchen.
Wir wurden hinausgeschickt. Der Arzt meinte, Nick brauche Ruhe. Ich verstand nicht ganz. Gerade war es ihm doch noch richtig gut gegangen, oder? Die Mädels brauchten nichts zu sagen. Mir war klar, was sie dachten.
„Was hast du dir eigentlich dabei gedacht?“, begann Chrissie auch schon. „Nichts. Es war doch nur ein Spiel.“ Zumindest hatte ich das angenommen. Uns war klar, dass wir an diesem Abend nicht mehr zu Nick gelassen werden würden.
Also blieb uns nichts anderes übrig, als zurück zum Ferienhaus zu fahren. Ich wusste, dass mir Sandy und Chrissie Vorwürfe machten. Ich selbst fühlte mich auch nicht gerade toll.
„Vielleicht habe ich unbeabsichtigt doch etwas zu fest zugeschlagen?“, ging es mir durch den Kopf, während wir zur Bushaltestelle liefen. „Der nächste Bus geht in fünf Minuten“, sagte Sandy, „Wir müssen uns etwas beeilen.“
Wir beschleunigten unser Tempo. „Rennen müsst ihr aber auch nicht unbedingt“, beschwerte ich mich und erntete genervte Blicke von Chrissie. Sie hatte ja Recht.
Falls ich tatsächlich daran schuld sein sollte, dass es Nick jetzt schlechter ging, wollte ich nicht auch noch dafür verantwortlich sein, dass wir den Bus verpassten.
Trotzdem. So fest konnte der Schlag nicht gewesen sein. Aber woran sollte es sonst liegen? Ich malte mir in meiner Phantasie alles Mögliche aus. Ein Hirngespinst folgte dem nächsten.
Doch ich hatte immer wieder diesen einen Gedanken:
Werde gesund, Nick. Bleib nicht wegen mir krank. Nicht wegen mir, wegen mir, wegen mir.


Kapitel 22

Charlie Mc Gibson

Hatte ich irgendwas verpasst?
Es wäre zwecklos gewesen, ihnen zu folgen. Ich verstand sowieso nicht, was hier eigentlich abging. War Jim etwa immer noch sauer, weil ich Chrissie weiß gemacht hatte, er habe in ihren Sachen geschnüffelt?
Ich hatte doch nicht ahnen können, dass sie mir das abkauft. Außerdem passten die beiden nicht zusammen. Jim und Chrissie? Darf ich mal lachen?
Jim war ein guter Freund für sie. Nicht mehr und nicht weniger. Irgendwer musste ihm das ja klar machen. Schau ihn dir doch mal an.
Er hatte bei unserem Wettschwimmen am See ja schon nach wenigen Metern schlapp gemacht. Wie dumm er geguckt hatte, als ich ihm gesagt hatte, dass wir um Chrissie schwimmen würden.
Ich könnte mich jetzt noch halb totlachen. Hatte er wirklich geglaubt, dass man so etwas bei einem Wettschwimmen entscheiden konnte? Ich hatte nicht damit gerechnet, dass er das tatsächlich ernst nehmen würde.
„Der Arme glaubt also immer noch, eine Chance bei Chrissie zu haben“, schüttelte ich den Kopf. Unter diesem Blickwinkel konnte ich sogar einigermaßen verstehen, dass er mir mit diesem ekelhaften Fraß von heute Mittag eine Revanche hatte liefern wollen.
Aber das gab ihm noch lange nicht das Recht zu erfinden, dass ich Nick verprügelt hätte
Wie kam er überhaupt auf den Gedanken, dass er als Sportniete auch nur den Hauch einer Chance hatte, bei ihr zu landen? Wenn er sich noch weiter Hoffnungen machen würde, würde es ihm glatt das Herz brechen, wenn er herausfand, dass Chrissie sich in mich verliebt hatte.
Meiner Meinung nach hatte ich ihm einen Gefallen getan. Und ich würde nicht zulassen, dass er mich bei Chrissie schlecht machte. Vor allem nicht so! Schließlich hatte ich im Gegensatz zu ihm sogar sehr gute Chancen bei ihr. Ich musste einen Weg finden, um ihr klar zu machen, dass er log.
Das einzige Problem war, dass alles zu passen schien. Nick lag im Krankenhaus. Und ich war am See gewesen. Zwar nur kurz, aber danach war ich planlos durch die Gegend gelaufen, anstatt gleich zurück zum Ferienhaus zurückzukehren.
Ich hatte keine Ahnung, wie ich den Mädels beweisen sollte, dass ich während meiner Abwesenheit nicht bei Nick und Jim gewesen war. Natürlich hätte ich ins Krankenhaus fahren können, um mit ihnen zu reden.
Doch was hätte ich sagen sollen? Außerdem hätte mich Jim hochkantig wieder hinausgeworfen. Dessen war ich mir sicher.
Ich wusch mir einen Apfel und hockte mich an den Tisch in der Küche, um zu überlegen, was ich tun konnte, um sie von meiner Unschuld zu überzeugen.
Schließlich stand ich auf und beschloss, doch ins Krankenhaus zu fahren. Jim musste einfach zugeben, dass er gelogen hatte. Und hier würde mir vor lauter Grübeln noch die Decke auf den Kopf fallen.
Ich lief in den Flur und zog meine ausgelatschten Turnschuhe an. Dann schnappte ich mir die Autoschlüssel, die ich vorhin ans Schlüsselbrett gehängt hatte, nachdem ich Chrissie zu Nick und den anderen ins Krankenhaus gefahren hatte, und ging zum Auto.
Ich ließ den Motor an und fuhr die Ausfahrt hinaus. Obwohl ein paar Wolken aufgezogen waren, war es immer noch extrem warm. Ich schaltete das Autoradio ein und bekam wieder bessere Laune.
„Sobald ich am Krankenhaus ankomme, werden Jim und die anderen einsehen müssen, dass ich nichts mit dieser Sache zu tun hatte“, sagte ich mir, während ich das Tempo beschleunigte.
Ich fuhr am Schlosspark vorbei, in dem wir noch gar nicht gewesen waren, weil wir lieber im See baden gingen.
„Was ist das denn da vorne?“ Vor mir entdeckte ich eine Baustelle, die vor einer Stunde noch nicht da gewesen war, als ich Chrissie gefahren hatte. Wenigstens war vor der Ampel keine lange Autoschlange, sodass ich nicht lange würde warten müssen.
Um auf den letzten Metern eine Vollbremsung zu vermeiden, trat ich rechtzeitig schon mal vorsichtig auf die Bremse. „Moment Mal“, entfuhr es mir, denn zu meiner Überraschung rührte sich der Geschwindigkeitsmesser keinen Millimeter.
Ich raste weiter auf die paar Autos zu, die vor der Ampel darauf warteten, dass der Gegenverkehr die Baustelle passiert hatte. Verzweifelt trat ich erneut auf die Bremse, aber der Wagen wurde nicht langsamer.
Ich war nur noch wenige Meter von der Baustelle entfernt. „Werde grün!“, betete ich im Stillen, um nicht auf den letzten der haltenden Wagen auffahren zu müssen. Mein Wunsch ging nicht in Erfüllung: Die Ampel blieb rot.
Ich lenkte mein Auto auf die Gegenfahrbahn, in der Hoffnung, dass kein Auto entgegenkommen würde. Und dann ging alles ganz schnell. Ich sah einen schwarzen Opel auf mich zukommen. „Oh nein!“. Ich riss das Lenkrad herum und kniff die Augen zusammen.
„Aaaaah!“


Kapitel 23

Meine Befürchtung erwies sich als falsch. Kein Krachen, kein Ruck, nichts… Ich öffnete die Augen. Der Wagen war zum Stillstand gekommen. Vorsichtig stieg ich aus und sah, dass ich ein ganzes Stück auf die frisch geteerte Straße gefahren war. Dabei hatte ich so gut wie alle Hütchen über den Haufen gefahren, die der Absperrung dienten.
Auch ein paar Bänder hatte der Wagen mitgenommen. Ich bückte mich, um die Reifen meines Wagens zu mustern, aber mir fiel nichts auf. Als ich aufblickte, sah ich, dass bereits ein Streifenwagen heranfuhr.
Der Wagen hielt an und zwei Polizisten stiegen aus. Der eine beachtete mich gar nicht, sondern kümmerte sich darum, die Baustelle, die jetzt gleichermaßen zur Unfallstelle geworden war, neu abzusichern.
Der andere Officer steuerte auf mich zu. Nachdem er meine Personalien aufgenommen hatte, erzählte ich ihm, dass die Bremsen versagt hätten. Ich war mir nicht sicher, ob er mir glaubte.
Er trug eine übergroße Nickelbrille und hatte eine Halbglatze. Die ganze Zeit über stierte er mich mit bohrendem Blick an. Wahrscheinlich glaubte er, ich hätte getrunken.
Und da bestätigte er meine Vermutung auch schon. „Pusten Sie mal bitte hier hinein.“, sagte er streng, wobei er mir ein Röhrchen hinhielt.
„Ich habe nichts getrunken.“, beteuerte ich ehrlich, aber er bestand darauf.
Also tat ich, was er verlangte. „Gut“, sagte er schließlich etwas netter, „Du wirst mit ins Präsidium kommen müssen.“
Ich wusste nicht genau, was ich erwidern sollte und nickte stumm. Ohne auf ein Okay von mir zu warten, begann er, ein Abschleppseil auszupacken und sich an meinem Wagen zu schaffen zu machen. Ich hinderte ihn nicht daran. Ich wäre sonst ja eh nicht weit gekommen.
Als wir beim Revier ankamen, bat er mich, mit in sein Büro zu kommen und ich musste den Wagen dem Polizisten überlassen, der sich um die Absperrung gekümmert hatte.
Nachdem er sich noch einmal vergewissert hatte, dass meine Personalien stimmten, nahm er meine Angaben zu Protokoll. Ich hatte den Eindruck, dass er meiner Version des Unfalls glaubte. Er jammerte eine halbe Ewigkeit darüber, wie schlimm die Jugend in den letzten Jahren geworden war.
Er sprach es zwar nicht direkt aus, aber ich spürte, dass er den Verdacht hatte, dass auch ich irgendwelche krummen Dinge am Laufen hatte. Es war eine Art allgemeiner Moralpredigt.
Ich hörte nur mit halbem Ohr hin. Es war schon eine ganze Stunde vergangen und ich hatte keine Lust mehr, noch länger dazubleiben. Ich nickte nur ab und zu, um nicht total desinteressiert zu wirken. Irgendwann klopfte es an die Tür.
„Herein“
„Entschuldigen Sie die Störung“, sagte der Kollege des Polizisten, der mir gegenübersaß, „Es gibt Ergebnisse zu dem Wagen des Jungen.“ Damit reichte er ihm eine Akte und verschwand wieder. Prüfend überflog der Polizist die Papiere.
„Hier steht“, sagte er wieder in strengerem Ton, „dass die Bremsleitung manipuliert gewesen ist.“ Skeptisch sah ich ihn an. „Wer sollte das denn gewesen sein?“ Er stützte seine Ellenbogen auf dem Schreibtisch ab. Fragend sah er mich an. „Hast du eine Vermutung?“
„Nein“, sagte ich wahrheitsgemäß, „kann es nicht ein Marder gewesen sein?“
„Du darfst nicht vergessen, dass dein Auto einen Marderschutz hat.“ Wie peinlich! Das war mir in der Aufregung total entfallen.
Aber ich kannte hier doch überhaupt niemanden. Außer... Ich verwarf den Gedanken sofort wieder. Fast hätte ich Jim verdächtigt, etwas mit der Sache zu tun zu haben.
Er war ja ziemlich sauer auf mich. Andererseits war mit dem Wagen noch alles in Ordnung gewesen, als ich Chrissie zum Krankenhaus gebracht hatte und seitdem war ich alleine in der Wohnung gewesen.
„Jedenfalls“, unterbrach der Polizist, „kannst du den Wagen jetzt noch nicht mitnehmen. Du kannst in etwa einer Stunde wiederkommen und ihn abholen.“
Er schüttelte meine Hand und ehe ich mich versah, fand ich mich vor dem Revier wieder.
„Na toll“, dachte ich, „und jetzt?“ Ich kickte einen Kieselstein vor mir her und holte einen Kaugummi aus meiner Hosentasche.
Planlos lief ich die Straße entlang. „Mal schauen, was die Gegend noch so zu bieten hat.“
Zum Krankenhaus laufen wollte ich nicht. Ich entdeckte auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine Gruppe Jugendlicher und fragte mich, ob ich sie anquatschen sollte.
Vielleicht konnten sie mir sagen, wie man von hier aus am besten in eine Geschäftstraße kam, falls es hier überhaupt eine gab. Ich hatte vor, mich nach neuen Turnschuhen umzusehen.
Irgendwie musste ich mich schließlich ablenken. Also rief ich den Jungs etwas zu und hoffte, dass sie mich hörten. Einer drehte sich zu mir um. Abrupt blieb er stehen. Fassungslos starrten wir uns an.
Er sah mir zum Verwechseln ähnlich. Jetzt drehten sich auch die anderen Jungs um. Ihre Blicke waren voller Verwirrung, als sie mich skeptisch ansahen.
Ich war so sehr auf den Jungen fixiert, dass ich gar nicht merkte, dass eine Straßenbahn ankam. Als ich es merkte war es bereits zu spät, die Straße zu überqueren. Die Straßenbahn versperrte mir die Sicht auf die Jungendlichen. Ungeduldig wartete ich darauf, dass sie wieder verschwand. Ich musste wissen, wer dieser Junge war. Endlich gab die Straßenbahn den Blick auf die andere Straßenseite wieder frei.
Von den Jungs fehlte jede Spur.


Kapitel 24

Jim Thomson

An diesem Abend brachte ich keinen Bissen mehr herunter. Dafür aßen Chrissie und Sandy umso mehr. Erschöpft ließ ich mich auf mein Bett fallen. Meine Gedanken waren bei Nick.
Charlie sah ich an diesem Abend zum Glück nicht mehr. Die Mädchen schauten im Wohnzimmer noch ein Video. Da ich sowieso nicht einschlafen konnte, beschloss ich hinunter zu gehen und mitzugucken.
Ich achtete nicht wirklich auf den Film. Es schien eine Komödie zu sein, denn die beiden lachten immer wieder laut auf. Meine Augenlider wurden schwer. Ich bekam gerade noch einen ihrer Lacher mit, dann schlief ich ein.
Es war ein unruhiger Schlaf.
Es war dunkel und ich wusste nicht wo ich war. Blitze zuckten am Himmel. Für einen Augenblick erhellte sich alles grell. Ich erkannte, wo ich mich befand. Auf dem Friedhof. In der Stadt, in der meine Großeltern lebten.
Äste knackten. Der fahle Mondschein warf unheimliche Schatten auf die Grabsteine. Der Wind heulte. Hinter mir raschelte etwas. Oder jemand? Eine kalte Windbö fegte durch meine Klamotten.
Ein Blitz erhellte erneut den Himmel und gab den Blick auf ein offenes Grab frei. Es lag direkt vor mir. Schwer atmend starrte ich hinein. Ein eiskalter Schauer lief mir über den Rücken, als sich meine Augen langsam an die Dunkelheit anpassten..
Knochen. Von einer Hand… Und noch mehr Knochen… Ein ganzer Arm, seltsam verdrehte Knochen… Mein Magen krampfte sich zusammen. Die Hand gab mir einen Wink. Sie deutete mir an, mich umzudrehen.
Ich konnte nicht. Wieder forderte die Hand mich auf, nach hinten zu sehen. Langsam drehte ich den Kopf und blickte über meine Schulter.
Ein Skelett stierte mich mit hohlen Augen auf mich und hob dann seine knochigen Finger. Mein Puls raste. „Ich bin Nick.“, sagte es mechanisch. Seine Stimme klang hohl.
„Nein!“, stöhnte ich. Er lachte höhnisch.
Ich schauderte. Vor dem, was ich sah. Oder besser: Nicht sah. Ihm fehlte ein Arm. Der Arm, der in dem offenen Grab lag. Der Arm, den sich Nick am See gebrochen hatte, und der eingegipst worden war.
Wieder öffnete er den Mund zu einem höhnischen Lachen. Er lachte mich aus. Immer lauter und lauter. Spottend. Langsam bewegte sich das Knochengestell auf mich zu.

Ich war wie gelähmt. Ich konnte fauligen Atem riechen. Er kam immer näher. Ich spürte, wie er mich fest an der Schulter packte. Sein Griff war eisern. Er hatte leichtes Spiel. Ich wehrte mich nicht.
Er schob mich vorwärts. Richtung Grab. „Das ist dein Ende“, krächzte Nick und lachte grauenhaft. Ich presste die Hände auf meine Ohren. Und dann stieß er mich in die Tiefe.
Etwas krachte. Ich war auf Nicks Arm gefallen. Der Boden war feucht. Unkontrolliert lachte ich los. Noch schlimmer als Nick. Die Erde bebte. Ich sah an mir herunter. Mein Körper begann, sich in ein Skelett zu verwandeln. „Neeiinnn!“, wollte ich schreien, es entfuhr mir aber nur ein Lachen. Ein Blitz zuckte und ich entdeckte plötzlich Nicks leblosen Körper neben mir.
Sein Unterkiefer bewegte sich: „Es ist vorbei“.
Von meinem Stöhnen erwachte ich. Nassgeschwitzt setzte ich mich im Bett auf. Die Decke lag zerknüllt am Boden. Mir war heiß. Ich knipste die Nachttischlampe an. Mein Atem ging immer noch schnell, mein Puls raste.
Ich stand auf und lief ins Badezimmer, um in den Spiegel zu schauen. Was erwartete ich eigentlich zu sehen? Einen Zombie? Oder ein Skelett? Nein. Ich sah aus wie immer. Ich klatschte mir Wasser ins Gesicht.
„Puh“, seufzte ich erleichtert.
Zurück im Bett wagte ich es nicht, einzuschlafen. Der Traum schien so echt gewesen zu sein. Was, wenn noch so ein Traum kam? Und was, wenn dieser Traum wahr wurde?


Kapitel 25

Ich wachte am frühen morgen auf. Es war kein neuer Albtraum mehr gekommen. Im Zeitraum zwischen Tiefschlaf und Wachsein - von mir aus kannst du es auch Halbschlaf nennen – kam es mir vor, als sei alles wie immer.
Bis mir wieder einfiel, was sich am Vorabend ereignet hatte. Mit einem Mal war ich hellwach. Ich sprang aus dem Bett und hob die Decke auf, die ich nachts anscheinend herausgeschubst hatte.
Kein Wunder bei dem Wetter. Sogar, wenn es draußen dunkel war, war es fast etwas schwül in den Zimmern. In diesem Punkt stimmte ich nicht mit meiner Mutter überein, die der Meinung war, man könne sich an alles gewöhnen.
Ich war so nass geschwitzt, dass ich erst mal duschen ging. Danach konnte der Tag losgehen. Chrissie war auch schon wach. Wir deckten den Tisch und redeten ein bisschen. Über nichts Wichtiges.
Versteh’ mich nicht falsch. Es war kein langweiliges Gespräch über das Wetter oder so. Unter anderen Umständen wäre es sicher interessant gewesen. Aber ich musste die ganze Zeit nur an Nick denken.
Ich weiß auch nicht wieso. Eigentlich hätte ich mich über die Gelegenheit freuen müssen, mich mal alleine mit Chrissie zu unterhalten. Aber es war einfach der falsche Zeitpunkt.
Das hielt sie nicht davon ab, von dem Film zu erzählen, der gestern gekommen war. „Findest du nicht auch, dass das irgendwie total übertrieben war?“, fragte sie schließlich.
„Wenn du wüsstest, dass ich von dem Film überhaupt nichts mitbekommen habe“, dachte ich und druckste irgendwas von wegen ich wäre da ganz ihrer Meinung. Chrissie stützte ihre Hände in die Hüften und schüttelte den Kopf. Sie kicherte dabei.
„Mann, Jim!?! Die Frage war doch gar nicht ernst gemeint. Glaubst du ich hab nicht mitgekriegt, dass du eingepennt bist? Du könntest wenigstens zugeben, dass du nicht den blassen Schimmer hast, um was es bei dem Film ging.“, beschwerte sie sich spielerisch.
Ich wusste, dass sie mich einfach hatte ablenken wollen. „Tut mir leid. Ich gelobe Besserung. So wahr ich Jim Thomson heiße.“ Dann lachten wir beide los.
Als wir uns wieder beruhigt hatten, kam Sandy herein und beschwerte sich, es wäre unmöglich, dass ich meine Sachen im Bad herumliegen lassen würde. „Was meinst du damit?“, fragte ich nach, weil ich mir sicher war, alles weggeräumt zu haben.
„Na was wohl?“, entgegnete sie mir: „Einfach alles. Wenigstens die nassen Handtücher hättest du aufhängen können.“ Ich verstand nur Bahnhof. Hatte Sandy gerade Handtücher gesagt?
Ich wusste ja nicht, wie sie das handhabte, aber ich gebrauchte nie mehr als eines, denn ich war der festen Überzeugung, dass das vollkommen ausreichte. Das erklärte ich ihr dann auch.
„Ach ja?“, ließ sie nicht locker, „Warum sind dann gleich drei oben?“ Jetzt war ich baff. Das wollte ich dann doch nicht auf mir sitzen lassen und ging nach oben, um nachzusehen. „Das gibt’s doch nicht“, entfuhr es mir, als ich sah, dass Sandy Recht hatte.
Total verwirrt sammelte ich sie ein und hängte sie zum Trocknen auf. Wenn sie mir schon nicht glaubte, dass sie nicht von mir waren, wollte ich zumindest verhindern, dass sie mir auch noch vorwerfen würde, ich wäre faul oder so was von der Art. Trotzdem verstand ich die Welt nicht mehr.
„Charlie!“, dachte ich, „er muss auch schon geduscht haben.“ Ich war mir sicher, dass ich nicht an Alzheimer litt und mit ihm hatte ich eh noch ein Hühnchen zu rupfen
Ich lief wieder nach unten und war nicht wenig überrascht, als Charlie bei den beiden Mädels in der Küche saß und Witze riss. „Dir wird das Lachen schon noch vergehen“, dachte ich.
Jetzt sah er mich und begann, seine Theorie des vergangenen Nachmittags zu erzählen. „Ich wollte noch mal mit dir und Nick reden“, sagte er seelenruhig, „aber ihr seid ja sofort in den See abgehauen, als ihr mich gesehnen habt. Und dann bin ich eben wieder gegangen.
„Und wo kommen die dann her?“, fragte ich und zeigte ihm ein paar meiner Blutergüsse, die sich über Nacht entwickelt hatten. Wie konnte er nur so dreist sein? „Verdammt noch mal! Ich war’s nicht, Jim!“
Das konnte er von mir aus tausend Mal betonen. Ich wusste ja wohl, was ich gesehen hatte. Wie konnte er einfach so tun, als ob er nicht mal dabei gewesen wäre?
„Ich schwöre.“ Charlie versuchte es doch tatsächlich immer noch. Wahrscheinlich kreuzte er heimlich die Zehen. Er log mir richtig ins Gesicht. „Ich glaube dir“, sagte Chrissie plötzlich.
Meinte sie das etwa ernst? „Aber Chrissie“, begann ich zu protestieren, „Glaub’ ihm kein Wort!“ Sie sah mich verständnislos an. Wie konnte sie das nur tun! „Nick liegt wegen ihm im Krankenhaus!“, machte ich weiter und deutete dabei auf Charlie.
„Das ist nicht wahr!“, beteuerte er, „Lügner!“
Was? Hatte er mich eben Lügner genannt? Er verdrehte die Tatsachen so wie er sie brauchte. Normalerweise müsste er doch längst ein furchtbar schlechtes Gewissen haben.
„Du nennst mich Lügner?“
„Ja! Hör endlich auf und nimm diese Lügengeschichte zurück. Ich bin doch nicht bescheuert und prügle mich mit meinen besten Freunden! Was glaubst du eigentlich von mir?!“
„Beste Freunde? Du spinnst ja! Ausgerechnet du willst mein bester Freund sein? Nach dem, was du getan hast?“
„Ich sag doch: Ich war’s nicht!“
Ich wollte gerade erwidern, dass ich ihm kein Wort glaubte, als die Mädels eingriffen. Sie glaubten ihm. Es war zwecklos, noch weitere Bedenken gegen Charlie zu äußern. Wenn nicht, wäre doch wieder nur ich als der Böse dagestanden.
Obwohl es mir verflixt schwer fiel, nahm ich meine Anschuldigungen gegen ihn zurück. „Na gut“, dachte ich, „den Mädels zuliebe. Was nicht heißt, dass ich dir auch nur ein Wort von dem abgekauft habe, was du gesagt hast.“
Schließlich gaben wir uns die Hand. Chrissie bestand darauf. Ich kam mir vor wie im Kindergarten. Auf diese Geste sollte Charlie sich bloß nichts einbilden.
Für Chrissie und Sandy aber war es ein Zeichen dafür, dass alles wieder in Ordnung war. Es war ungefähr so, wie an meinem 15. Geburtstag, an dem ich meiner Oma versprochen hatte, mit dem Rauchen aufzuhören. Sobald ich aus ihrer Wohnung draußen gewesen war, hatte ich mir die nächste Kippe angezündet. Der einzige Unterschied war, dass mir meine Oma geglaubt hatte. Ich dagegen glaubte Charlie kein Wort.
Ich war der festen Überzeugung, dass er log. Mittlerweile hatte ich es zwar tatsächlich geschafft, das Rauchen aufzugeben, aber ich bezweifelte, dass Charlie jemals einsichtig werden würde.
„Dann ist ja alles geklärt zwischen uns“, sagte ich trotzdem.
Das Ganze entwickelte sich allmählich zu einer Art Schauspielkurs. Wenn es ein Film gewesen wäre, hätten Charlie und ich wahrscheinlich auch keine Probleme damit gehabt, uns so zu verstellen.
Durch diese Gedanken bestärkt, beschloss ich, Nick bei Gelegenheit zu fragen, ob er nicht Bock hätte, Schauspieler zu werden. Schließlich brauchten die im Fernsehen ja auch neben den Bösewichten – wie Charlie – die Guten, die für Gerechtigkeit und so kämpften.
In diesem Moment fiel mein Blick auf die Uhr und ich bemerkte, wie spät es schon wieder war. „Sollten wir nicht langsam mal Nick vom Krankenhaus abholen?“, schlug ich vor.
Sandy war sofort Feuer und Flamme. „Ja, Leute. Worauf warten wir noch?“, freute sie sich und obwohl sie nichts von wegen Ich kann’s kaum abwarten ihn zu sehen sagte, war uns allen klar, dass sie es dachte.
Ich verzichtete darauf, mich darüber lustig zu machen. Schließlich ging es mir ähnlich. Wahrscheinlich freuten wir uns alle darauf, ihn zu sehen. Zumindest die Mädels und ich.
Charlie gab sich zwar vor ihnen alle Mühe so zu tun, aber mich konnte er dadurch nicht überzeugen. Wie auch? Schließlich hatte er mir längst deutlich gezeigt, was er wirklich dachte. Und dass er das niemals vor den Mädels zugeben würde, verstand sich wohl von selbst.
„Also, dann. Nichts wie los, was?“, drang schon wieder seine Stimme an mein Ohr. Ich atmete tief durch und ließ mir nicht anmerken, wie angenervt ich von ihm war.
Stattdessen forderte ich Chrissie und Sandy auf, mit nach draußen zu kommen. Ich wollte Nick nicht noch länger warten lassen. Ehe wir uns versahen, saßen wir auch schon im Auto.
Wobei ich tausendmal lieber den Bus genommen hätte, als mit Mister Oberlügners Fahrzeug zu fahren, das jeden Moment in sich zusammenzufallen drohte. Da stellte man sich halt die Frage, was oder wer nun das größere Problem war.
Nach fünf Minuten stellte sich nämlich ein durchdringender Kaugummigeruch ein. Vielleicht denkst du jetzt, ich würde übertreiben, aber es war wirklich ekelhaft. Also wollte ich das Fenster öffnen, um frische Luft hereinzulassen, bevor uns allen übel wurde. Und wie nicht anders zu erwarten gewesen war, klemmte es nach ca. fünf Millimetern.
Obendrauf behauptete Chrissie, dass es ziehen würde und ich kurbelte das Fenster brav wieder nach oben. „Riecht ihr das etwa nicht?“, war mein kläglicher Protest.
Ich machte mir ernsthaft Gedanken darüber, warum ich trotz verstopfter Heuschnupfennase noch soviel roch, dass mir fast schlecht wurde, während die anderen keine Ahnung zu haben schienen, wovon ich redete.
Somit war ich sichtlich erleichtert, als ich schließlich vor dem Krankenhaus die Autotür hinter mir zuschlagen und Nick entgegen laufen konnte, der bereits ungeduldig auf der Treppe davor wartete.
Und jetzt stell dir seinen Blick vor, als Charlie mit Sandy und Chrissie angetrottet kam und so tat, als wäre er auf einem Sonntagsspaziergang. Unter anderen Umständen hätte ich mich sicher krankgelacht.
Aber ich fand Charlie dermaßen unverschämt, verstehst du. Er hätte wenigstens ein bisschen schuldbewusst aussehen können.
Doch das war er nur, wenn eine von den Mädels seinen Gesichtsausdruck sah. „Was will der denn hier?“, sagte Nick gereizt zu mir. Ich wusste nicht, wie ich ihm erklären sollte, dass ich indirekt Frieden mit Charlie geschlossen hatte.
„Tu mir den Gefallen und tu so, als ob du Charlie glauben würdest. Nur solange die Mädels dabei sind. Okay?“ Nick schien ganz und gar nicht einverstanden zu sein. Aber mir wurde klar, dass er nicht damit gerechnet hatte, dass Charlie ein Geständnis ablegen würde. Er schien auf alles gefasst zu sein.
Vor allem deswegen tat es mir leid, dass ich nichts dagegen tun konnte, als Charlie ihn, nachdem er den Wagen geparkt hatte, umarmte. Es war unglaublich. „Der lässt auch nichts anbrennen“, rutschte es mir heraus.
Ich befürchtete bereits, jemand hätte mich gehört. Aber zum Glück waren alle derartig mit sich beschäftigt, dass meine Worte ganz untergingen. Es wäre auch zu dumm gewesen, wenn ich jetzt aufgeflogen wäre.
Obwohl ich im Grunde ja gar nicht derjenige war, der Mist gebaut hatte. Natürlich hatte ich in letzter Zeit auch meine Finger im Spiel gehabt, aber wie sagen kleine Kinder immer so schön? Charlie hat angefangen, nicht wahr? Also sollte gefälligst er auffliegen und uns endlich in Ruhe lassen.
Doch das würde wohl noch dauern. Denn gerade, als sich Nick aus seiner Umarmung befreien und zu Sandy hinübergehen wollte, die gemeinsam mit Chrissie am Treppengeländer lehnte, packte er einen mehr oder weniger hässlichen Strohhut aus und reichte ihn Nick.
„Da!“ Ich dachte mir, wo doch deine Baseballkappe flöten gegangen ist...“, sagte er scheinheilig. Ich war so erstaunt darüber, dass ich mich gar nicht wunderte, woher er davon wusste. Er war schließlich nicht dabei gewesen, als Sandy Nicks Kappe aus dem Streifenwagen geworfen hatte.
Was mich wirklich überraschte war, was für einen seltsamen Geschmack Charlie doch bewies. Hatte er etwa noch Geld für dieses Teil ausgegeben? Das konnte ich mir absolut nicht vorstellen. Wahrscheinlich gehörte das wieder zu irgendeinem miesen Plan.
Also wartete ich darauf, dass jeden Moment eine Attacke von ihm kommen würde. Nichts passierte. Auch die Mädels schienen weniger angetan von Charlies neuster Errungenschaft zu sein.
Doch im Gegensatz zu Nick und mir äußerten sie das sofort. „Ehrlich gesagt, gefällt es mir doch besser, wenn Nick Baseballkappen trägt“, erklärte Sandy, „Dieser Hut sieht irgendwie merkwürdig aus. Wo hast du den überhaupt aufgegabelt?“
Charlie spielte den Gekränkten. „Was hast du denn dagegen? Ich dachte Nick würde sich freuen.“
„Na ja,“ versuchte Chrissie, „so schlecht sieht er doch gar nicht aus. Ich wette, das wird noch die tollste Strandmode. Denkt doch mal an die hässlichen Badekappen vom letzten Jahr, mit denen jeder herumgerannt ist. Die sahen auch erst dadurch gut aus, dass man sie ordentlich aufgepeppt hat. Ihr wisst schon, durch anmalen und so.“
„Ja“, sagte Charlie, „das könnten wir damit auch machen, oder?“
Chrissie nahm den Strohhut in die rechte Hand, während sie mit der linken wild und unkontrolliert durch die Luft gestikulierte, um uns zu zeigen, an welchen Stellen des Hutes etwas abgeschnitten bzw. verändert werden sollte.
Sie hatte eine Idee nach der anderen und war beinahe nicht mehr zu bremsen. „Wow!“, meinte ich, als sie geendet hatte und hatte fast vergessen, dass es Charlies Hut war. Na gut, es war Nicks Hut. Aber Charlie hatte ihn ihm geschenkt, was die Sache erheblich verkomplizierte.
Doch Nick machte es mir gerade noch rechtzeitig klar, bevor ich auch noch anfing, mir Gedanken darüber zu machen, wie man sein Geschenk verbessern könnte.
„Trotzdem, Charlie“, kratzte er sich am Kopf, „Das Ding ist einfach nicht mein Geschmack. Was glaubst du, warum ich nie was anderes als Baseballkappen getragen habe? Was anderes steht mir einfach nicht. Außerdem brauchst du mir nichts zu schenken“
Wie würde Charlie reagieren? Er blieb ganz locker. „Wenn du meinst.“ War das etwa alles, was er dazu sagte? Er bestand also nicht darauf, dass Nick sein Geschenk annahm?
„Wenn du willst, kann ich dir auch eine neue Baseballkappe besorgen?“ Ich musste husten. Hatte ich mich eben verhört, oder hatte Charlie das wirklich gesagt?
Als Nick bestätigte, dass ich mich nicht getäuscht hatte, war ich unglaublich froh darüber, dass er ablehnte. Das wäre auch zu blöd gewesen. Was wollte Charlie überhaupt bezwecken? Er hatte Chrissie und Sandy doch längst überzeugt! Nick und mich konnte er eh nicht einwickeln. Außerdem, was hätte das plötzlich gesollt?
„Was machen wir jetzt?“, fragte ich, um so schnell wie möglich das Thema zu wechseln. Nick zuckte mit den Schultern und Charlie tat so, als wäre er irgendwie doch unglücklich darüber, dass Nick den Hut nicht angenommen hatte und weigerte sich, überhaupt irgendwas zu sagen.
„Na toll“, dachte ich und zu allem Überfluss versuchte Charlie jetzt auch noch, seinen bescheuerten Hut mir anzudrehen. Langsam nervte er echt. Also behielt ich ihn auf, weil Chrissie fand, dass er mir so gut stehen würde. Und darauf schien Charlie spekuliert zu haben.
Nein. Natürlich nicht darauf, dass Chrissie fand, dass mir der Hut gut stand. Vielmehr darauf, dass ich den Hut aufsetzte. Denn sobald Charlie mir den Hut aufgesetzt hatte, kam ein kräftig gebauter, mindestens zwei Meter großer Mann angebraust, der knallrot im Gesicht war.
Ich war mir nicht sicher, ob es sich um einen Sonnenbrand handelte oder was sonst mit ihm los war. „Haltet den Dieb!“, schrie er so laut, das ich dachte dass mein Trommelfell platzen würde.
„Hat der eine Schraube locker?“, fragte Sandy, „Wen meint der?“
„Keine Ahnung“, pflichtete ihr Nick bei, „aber er sieht verdammt wütend aus.“ Damit hatte er absolut Recht. Und auch ich konnte mir keinen Reim darauf machen, wen wir festhalten sollten.
Zumindest solange nicht, bis ich merkte, dass er genau auf uns zugelaufen kam. Sein dicker Bauch schwabbelte regelrecht hin und her, als er einen Fuß nach dem anderen in diesem schnellen Tempo vorwärts hastete.
„Oh, oh...“, ging es mir durch den Kopf. Ich warf einen fragenden Blick zu Nick und der schien genau derselben Meinung zu sein.
„Ich habe keine Lust, mich mit ihm zu unterhalten“, gestand ich den anderen, „Vielleicht sollten wir schnell von hier verschwinden.“
Was wir dann auch taten. Wir rannten zum Auto, um uns aus dem Staub zu machen. Doch der Typ war schneller, als wir ihn eingeschätzt hatten. Es war ziemlich knapp. Die Mädels hatten einen kurzen Vorsprung, weil Nick und ich nicht schnell vorankamen.
Schließlich hatten wir neben unserer Unsportlichkeit auch noch überall blaue Flecken, die uns bei jedem Schritt an den letzten Ausflug zum See erinnerten. Als Charlie, der Supersportler, obwohl er längst beim Auto hätte sein können, immer noch auf gleicher Strecke mit uns war, hielt ich das zuerst für sehr seltsam.
Und als er endlich einen Meter vor uns war, sah es beinahe so aus, als liefe er für einen Moment lang Gänsefüßchen. Ich legte noch einen Zahn zu, um nicht doch noch von dem brüllenden Monster hinter mir geschnappt zu werden.
Und hier setzte Charlie an. Charlie schoss blitzschnell in meine Richtung hinüber und schob sein rechtes Bein so in meinen Weg, dass klar war, was passieren würde. Ich landete der Länge nach auf dem Boden.
„Ah!“, schrie ich, als mir der Schmerz signalisierte, wie meine Knie und Ellenbogen aussehen würden. Natürlich waren auch meine Handflächen in Mitleidenschaft gezogen worden.
Ich würde es nicht mehr rechtzeitig zum Auto schaffen. Als ich aufstehen wollte, wurde ich unsanft nach unten gedrückt. Er hatte mich gefasst.
Und ich hatte das ungute Gefühl, dass ihm jedes Mittel recht war, um das zu bekommen, was er haben wollte.


Kapitel 26

„Oh nein!“, betete ich, als mir auch noch klar wurde, dass weder die Mädels noch Nick Charlies Attacke beobachtet hatten, sondern nur mitbekommen hatten, dass ich „gestolpert“ war.
Das sagten mir ihre Gesichtsausdrücke, als sie versuchten, den Mann von mir wegzubekommen, der mich gerade in den Würgegriff nehmen wollte. Es war hoffnungslos. Auch wenn Charlie gewollt hätte, er wäre nie gegen diesen Schwergewichtler angekommen.
Fehlte nur noch, dass er sich auf mich draufsetzte. Aber er begnügte sich damit, mich grob an den Schultern zu packen und meinen restlichen Körperteilen, die bisher unverschont geblieben waren, blaue Flecken zu verpassen.
Ich stöhnte. Hatte der nichts Besseres zu tun? Die verzweifelten Versuche von Nick und den anderen, dem Mann klarzumachen, dass ich nichts gestohlen hatte, überhörte er einfach.
Nicht einmal als ein Streifenwagen ankam, ließ er mich los. Den musste einer der Schaulustigen gerufen haben, die sich mittlerweile um uns herum eingefunden hatten.
Und obwohl ich nicht vergessen hatte, wie schlimm meine letzten Erfahrungen mit der Polizei gewesen waren, war ich unglaublich froh darüber, als ich aus den Augenwinkeln sah, dass zwei uniformierte Männer aufkreuzten. Wenige Momente später hatten sie mich aus den Griffen befreit und ich erkannte einen Beamten aus dem Präsidium wieder.
„Alles klar bei dir? Bist du o.k.?“, sah er mich an und als er dann auch noch Nicks Verletzungen ah, schüttelte er endgültig den Kopf.
„Was macht ihr bloß für Sachen, Jungs“, murmelte er und half mir auf die Beine. „Geht schon“, sagte ich, bedankte mich aber doch lieber bei ihm. Wer weiß, wann wir ihn wieder treffen würden.
Der andere Polizist kümmerte sich um den Mann und versuchte, ihn zu beruhigen. Ich hoffte, dass er einsah, dass er den Falschen verdächtigt hatte. Außerdem war ich gespannt zu hören, was eigentlich gestohlen worden war. „Spinner!“, meckerte Charlie, „Dem geht’s wohl zu gut.“
Wieso regte er sich so auf? Er war ja nicht verprügelt worden. Bereute er vielleicht doch endlich, dass er auf mich und Nick losgegangen war? Ich wusste es nicht.
„Hast du irgendwas gemacht, von dem wir wissen sollten?“
Ungläubig sah ich Sandy an. Verdächtigte sie mich etwa? „Nein“, antwortete ich gereizt, „Ich hab diesen Mann nie vorher gesehen.“
„Ist ja schon gut“, entschuldigte sie sich, „Es war dumm von mir zu denken, dass...“ Sandy wurde von einem der Beamten unterbrochen. „Wem gehört dieser Hut?“, fragte er streng und deutete auf Charlies Strohhut, der auf dem Boden lag.
Er musste mir vom Kopf gefallen sein, als der Mann auf mich losgegangen war. „Gute Frage“, dachte ich, „Wem gehört der Hut eigentlich. Charlie oder Nick?“
„Charlie“, sagte ich entschlossen und deutete auf ihn. Besser gesagt, wollte ich das tun. Ich weiß nicht, was mich davon abhielt. Der Polizist sah mich prüfend an. „Der Mann dort behauptet, dass der Hut seiner Mutter gehört und ihr im Park gestohlen worden ist.“
Was? Charlie hatte den Hut gestohlen? Und ihn dann Nick unterjubeln wollen? Fragend sah ich Charlie an. „Jetzt bin ich aber mal gespannt“, dachte ich. Nicht dass ich ernsthaft damit gerechnet hätte, dass sich Charlie gestellt hätte. Aber er hätte wenigstens etwas Vernünftiges sagen können.
Er gab weder zu, dass er es gewesen war, noch warum er sich ausgerechnet am Hut einer wehrlosen alten Dame vergriffen hatte. Deren Sohn hingegen alles andere als wehrlos war, wie ich zu spüren bekommen hatte.
Stattdessen erzählte er einen seiner billigen Witze, was ich einfach geschmacklos fand.
„Herr Doktor. Mein Mann hält sich für einen Hut. – Wie äußert sich das denn? – Er ist meistens in der Kirche und lässt sich herumreichen.“
Urkomisch, nicht? Zugegeben. Der Witz war gar nicht soo schlecht. Jedenfalls nicht, wenn man ihn mit den anderen von Charlies Witzen verglich. Dann klopfte er mir auch noch auf die Schulter.
Ich hatte das Gefühl, mein Schlüsselbein wäre gebrochen. Und die anderen glaubten, er wolle mich nur aufheitern. Falls das wirklich seine Absicht sein sollte, hatte er sein Ziel erheblich verfehlt.
„Toll“, dachte ich stattdessen, „echt toll, Charlie. Eine wahre Glanzleistung, die du da wieder hingelegt hast. Jetzt, nachdem Nick schon eine Nacht im Krankenhaus verbracht hat, können wir ja mit Jim weitermachen, oder wie?“ Na gut.
Vielleicht war ihm nicht bewusst gewesen, dass der Mann sich den Hut seiner Mutter gewaltsam wiederholen würde. Möglicherweise hatte er nicht einmal gewusst, dass die alte Frau einen Sohn hatte.
Aber darum ging es mir gar nicht. Was hatte er sich eigentlich dabei gedacht, Nick einen gestohlenen Hut zu schenken? Ich fragte mich, wie ich jemals mit ihm hatte befreundet sein können.
Er hatte sich zu einem richtigen Kotzbrocken entwickelt. Als endlich alle Leute gegangen waren und die Polizei alles geklärt hatte, zumindest mehr oder weniger, hatte ich absolut keine Lust, noch irgendetwas zusammen mit Charlie zu machen.
Ich beschloss ihn zu ignorieren, solange ich nicht der Mädels wegen unbedingt mit ihm reden musste. Ich wollte ihm aus dem Weg gehen, soweit das machbar war. Zugegeben, das war im Grunde keine neuartige Entscheidung, aber ich wollte alles daran legen.
Was sollte ich auch anderes machen? Auch wenn mein Einfallsreichtum sonst nichts zu wünschen übrig ließ, hatte ich eine wirkliche Alternative? Vielleicht fiel Nick ja noch etwas Besseres ein. Ich schloss mich also den anderen an, wobei ich unauffällig einen möglichst großen Abstand zu Charlie hielt. Sandy und Nick liefen etwas weiter vorne, Händchen haltend.
Diese Gelegenheit nutzte Charlie. Er versuchte mit Chrissie zu flirten. Aber sie blockte immer wieder ab. Ich hätte beinahe laut losgelacht, als Charlie irgendwann beleidigt abzog und meinte, er wäre müde. „Ich hab Kopfweh und fühl mich nicht gut“, schmollte er, „Ich fahr schon Mal nach Hause, ihr könnt ja später mit dem Bus fahren.“
Er hätte mir fast ein bisschen Leid getan, aber dafür hatte er wohl einfach zuviel verbockt. Ich sah schon einen wunderschönen erholsamen Tag ohne ihn vor mir, als Chrissie plötzlich wie ausgewechselt war.
Du glaubst nicht, wie elend ich mich fühlte, als sie ihn bat, wenigstens noch ein bisschen zu bleiben. „Wir können ja dann alle zusammen nach Hause fahren“, schlug sie vor.
Charlie spielte den Kranken und rieb sich die Stirn. Ich konnte nicht glauben, dass sie ihn dann auf die Stirn küsste und fragte, ob es dadurch schon besser würde.
„Nicht bewegen, Charlie“, dachte ich, „Das wäre schlecht, ganz schlecht.“ Und Charlie hielt brav still, wie ich gehofft hatte. Er wollte Chrissie schließlich nicht unterbrechen.
Also konnte ich loslegen. Auf einmal wusste ich nämlich ganz genau, was ich zu tun hatte. Ich zeigte mit meinem Finger auf ihn und formte mit meine Lippen lautlos die Worte Du bist.
Und dann kam das Entscheidende. Dabei half mir der große Unbekannte. Ein Hund. Jetzt deutete ich nämlich auf einen Hundehaufen. Auf den, in den Charlie gerade in diesem Augenblick hineintrat.
Er war langsam rückwärts weitergelaufen. Und zu dem schleimigen Geräusch, das dadurch entstand, dass er hineintrat, formte ich lautlos das unanständige Wort mit S.


Kapitel 27

Ich hatte ja mit Einigem gerechnet. Aber wie er reagierte, das übertraf meine kühnsten Vorstellungen. „Ihhh! Ist das ekelhaft!“, schrie er und drohte mir kurz darauf: „Du miese Ratte! Das wirst du nie wieder tun!“
Ich dachte nur: „Selbst schuld! Hättest du mal zur Abwechslung auf den Weg geschaut...“ Doch der beste Effekt meiner Tat, wenn man das überhaupt so nennen kann, war, dass Chrissie glaubte, er meinte sie.
„Oh!“ stieß sie ihn von sich weg, „Was soll das denn, du Idiot? Du kannst mich mal!“ Dabei verpasste sie ihm gleich zwei Ohrfeigen. Sie hatte ihn Idiot genannt! Fantastisch!
Nick und Sandy waren stehen geblieben und hatten nur mitbekommen, wie Charlie sozusagen Chrissie angebrüllt hatte und waren sofort auf ihrer Seite. „Ja!“, jubelte ich innerlich.
Ich hatte Charlie endlich gezeigt, wie es war, als Depp dazustehen. Und als er mich beschuldigte, war er total unten durch bei den anderen. Mal ehrlich. Soviel Grips hätte ich ihm gerade noch zugetraut.
Obwohl - er musste doch gemerkt haben, dass Nick und ich uns auch immer alles hatten gefallen lassen. Schließlich ging es dabei nicht darum, seinen guten Ruf zu wahren, sondern was viel wichtiger war, nicht als Angeber oder Rechthaber dazustehen und, wie er es gerade tat, den Macho heraushängen zu lassen.
Aber mir sollte es recht sein, wenn er sich noch weiter hineinritt. Chrissie war wirklich wütend auf ihn.
„Los, fahr nach Hause, damit dein Kopfweh aufhört! Wenn du noch länger hier herumstehst, wäre es möglich, dass...“,
Schimpfte sie, wurde aber von Sandy unterbrochen, die sofort wissen wollte, was Chrissie mit dem Kopfweh meinte.
Es war mir ein Vergnügen, denn so ging ich sicher, dass weder sie noch Chrissie heute noch mal zu Charlie ins Auto steigen würden. Der Tag war gerettet. Charlie blieb nichts anderes übrig, als sich zu verkrümeln.
„Also, was machen wir jetzt?“, fragte ich zum zweiten Mal an diesem Tag, überglücklich darüber, dass Charlie nicht mehr da war. „Wie wäre es, wenn wir irgendwo was essen?“, schlug Nick vor. Sandy war sofort dafür. “Oh ja! Ich hab einen Riesenhunger“, gestand sie und weil ich auch langsam etwas zwischen die Zähne kriegen wollte, willigte ich ein.
Nur Chrissie hatte sich wohl etwas anderes erhofft. „Müsst ihr immer nur ans Essen denken?“, nörgelte sie, „Ich dachte, wir gehen schwimmen oder so.“ – „Das können wir doch immer noch. Am besten kaufen wir uns im Schwimmbad irgendwas. Oder wollt ihr zum See?“, meinte Sandy. Ihr Magen knurrte inzwischen verhältnismäßig laut.
Zum See? Bloß nicht. Zumindest vorerst nicht. Zum Glück, war Nick derselben Auffassung. „Ich hab viel mehr Lust, Klamotten zu kaufen“, meinte er, „ich schwitze mich in dieser Hose noch zu Tode.“
„Und ich könnte mal wieder ein neues T-Shirt gebrauchen“, stimmte ich ihm zu. Also beschlossen wir, das Schwimmbad ausfallen zu lassen und stattdessen einkaufen zu gehen.
Aber vorher aßen wir in einem Imbiss Pommes mit Ketchup und Mayo. Es hatte zwar einige Zeit gedauert, bis wir Chrissie dazu überredet hatten, aber irgendwann schafften wir es doch. „Wisst ihr eigentlich, wie ungesund das ist?“, hatte sie protestiert und erst nachgegeben, als sie selber Hunger bekam.
Danach bahnten wir uns unseren Weg zu den Kaufhäusern, in denen wir erst mal die Kühle genossen. Im Gegensatz zu der drückenden Hitze, die draußen herrschte, war das mega erfrischend.
Dem entsprechend waren massenweise Leute da, die an allen möglichen Ständern herumstanden und alle Umkleidekabinen besetzten. „Toll!“, dachte ich bei diesem Anblick und befürchtete bereits, hier nie etwas anprobieren zu können.
Dabei sahen die Klamotten echt stark aus. Nick schien der gleichen Meinung zu sein. Er schnappte sich eine Hose nach der nächsten und verschwand in Richtung der Umkleiden.
Dort wartete er geduldig, bis eine frei wurde, um die Shorts auszutesten. In der Zwischenzeit hatte ich auch einige T-Shirts beisammen, die ich unbedingt anprobieren musste und quetschte mich einfach noch in Nicks Kabine dazu.
Der meckerte zwar zuerst, hatte schließlich aber doch nichts dagegen und ließ mich seinen Berater spielen. „Zu eng“, sagte ich, als er sich gerade in eine dunkelblaue kurze Hose gezwängt hatte und kaum noch Luft bekam.
„Wie willst du dich denn in der bewegen? Soll ich sie dir eine Nummer größer holen?“
„Nein. Das ist schon XXL“, lehnte er ab, „somit schon die fünfte Hose, die nicht passt.“
Der Arme. Ich zog gerade das erste T-Shirt an, um festzustellen, dass es viel zu groß war. „Zu weit“, erklärte Nick grinsend und „zu eng“, was wiederum auf die nächste Hose bezogen war, die er gerade angezogen hatte. Nach dem zehnten Hemd hatte ich genug.
Ich überließ die Kabine kurzerhand wieder ganz Nick, dem ich dann eine Hose nach der anderen brachte. Aber ihm ging es nicht besser als mir. „Zu eng“, sagte er jedes Mal, wenn er mir die bereits anprobierten wiedergab, um sie zurückhängen zu lassen.
Und da entdeckte ich auf einmal eine furchtbar kitschige Hose mit Herzchen. Ich konnte es mir nicht verkneifen, sie ihm zu bringen. Ich rechnete damit, dass er sich halb totlachen würde. Von wegen. „Sie passt, sie passt!“, schrie Nick triumphierend. „Endlich, Jim! Jetzt habe ich eine neue Hose!“ Das hatte ich nun davon.
Ich konnte nicht fassen, dass er in Erwägung zog, dieses Teil ernsthaft anzuziehen.
Zu spät. Mit dem Kassenzettel und der Hose in der Hand kam er mir entgegen. Er machte ein Gesicht, wie ein Kleinkind an Weihnachten, wenn es einen Teddy bekommen hat.
„Wo sind eigentlich Sandy und Chrissie?“, fragte er und sah sich nach allen Seiten um. „Keine Ahnung“, musste ich mir Schultern zuckend eingestehen und einen Moment später rannten Nick und ich mehr oder weniger planlos durchs Kaufhaus, fuhren die Rolltreppe hoch und wieder hinunter und gaben schließlich erschöpft auf.
Nick stöhnte. „Ich hab schon wieder Hunger.“
„Was sollen wir jetzt machen?“, fragte ich und reichte ihm den Rest meiner Pommes, die inzwischen total vermatscht und kalt geworden waren.
Aber das war ihm egal. Er aß sie seelenruhig auf, während ich mir den Kopf darüber zerbrach, wo die Mädels abgeblieben sein könnten. „hast du’s bald?”, wollte ich von ihm wissen, weil er mich damit nervös machte, dass er zum Schluss auch noch die Pappschachtel ausleckte.
Warum musste Nick immer alles um sich herum vergessen, wenn er aß? Als er endlich fertig war, verließen wir das Kaufhaus und liefen die Straße entlang. „Die hätten ja mal was sagen können“, bemerkte Nick.
„Wo sollen wir jetzt langgehen?“
Unentschlossen blieben wir bei einer Wegkreuzung stehen und versuchten, uns einen Überblick zu verschaffen. „Handy dabei?“, sah ich Nick an, aber er kratzte sich nur am Arm und meinte irgendetwas in der Art „Akku leer“. „Genial“, dachte ich und stopfte erst mal Nicks Hose in seinen Rucksack. Es sah zu dämlich aus, wenn er sie mit sich herumtrug.
„Hey!“, protestierte er, sah dann aber ein, dass ich Recht hatte. Möglicherweise war er aber auch einfach nur zu faul, sie weiterhin so zu tragen. Nachdem wir ungefähr fünf Minuten lang so dagestanden hatten, war uns klar geworden, dass wir, wenn wir rechts abbogen, in ein normales Wohnviertel gelangen würden.
Und links, nun ja, daran kann ich mich nicht mehr so genau erinnern. Ich weiß nur noch, dass ich unter keinen Umständen in diese Richtung gehen wollte. Also gingen wir geradeaus. „Ich habe Hunger“, schwächelte Nick schon wieder.
„Du hast doch gerade erst gegessen, Mann!?“, erwiderte ich und unterdrückte ein Grinsen.
„Das ist nicht witzig!“, beschwerte er sich, gab aber auf und zeigte auf ein Werbeplakat. „Cool!“, rief ich und klopfte ihm auf die Schulter. Ich hätte es glatt übersehen. Es war ein Plakat der Red Sox, du weißt schon, unserer Lieblingsband.
„Komm, lass uns gucken, wann sie spielen!“, drängte ich ihn. Du musst verstehen, er wollte viel lieber wieder in den Imbiss zurück, in dem wir schon gewesen waren. „Dafür haben wir jetzt absolut keine Zeit“, sagte ich, „Wir müssen erst Sandy und Chrissie finden.“
„Stimmt ja“, fiel ihm wieder ein, „die sind ja verschwunden.“ Wie hatte er das nur schon wieder vergessen können? Sah er sie hier vielleicht irgendwo?
Ich kramte einen Zettel aus meiner Hosentasche und schrieb mir schnell – und mit entsprechend verschnörkelten Buchstaben – die nötigen Informationen vom Plakat ab. Dann liefen wir weiter.
Wir entschieden uns dafür, dass Nick alle Läden auf der linken Straßenseite ablaberte, während ich mir die auf der rechten vornahm. „Da waren sie auch nicht“, erstatte Nick mir Bericht, als er gerade aus einer Boutique herauskam.
„Wo verdammt noch mal sind die hingegangen?“, wunderten wir uns und irgendwann bekam sogar ich wieder Hunger. „Komm, wir gehen jetzt was essen. Ich brauche eine Pause“, meinte ich und Nick hatte selbstverständlich nichts dagegen.
Ich glaubte, noch nie so viel in meinem Leben gegessen zu haben. Ich bestellte exakt die Sachen, die Nick bestellte und war danach so voll, dass ich mich fragte, wo Nick das alles hinsteckte. Schließlich aß er immer so viel. Aber es war eben Nick.
Da war das normal. Jedenfalls so ziemlich. Als wir dann bezahlen wollten, gab uns die Bedienung einen Briefumschlag und sagte, der sei für uns abgegeben worden. „Kappe“, meinte der Ober als Erklärung, als er unsere erstaunten Blicke sah und deutete auf Nick, „und viel Essen.“
Hatte er uns etwa daran erkannt? Wir konnten ihn nicht mehr fragen, weil er bereits zwischen den anderen Tischen verschwunden war. „Hä?“, hielt ich den Umschlag in den Händen, „Was ist das denn?“
„Das ist ein Briefumschlag“, klärte mich Nick auf.
„Das sehe ich auch. Aber was sollen wir denn damit?“
„Aufmachen und lesen?“
„Ja schon. Aber wieso bekommen wir hier einen Brief?“
Ich sah Nick an, der auf diese Frage hin auch ganz schön verwirrt wirkte und mit den Schultern zuckte. „Soll ich den wirklich aufmachen?“, wollte ich wissen. „Gib her“, antwortete er und war total neugierig, was sich darin verbarg. Was ich natürlich auch war. Aber eher auf skeptische Art und Weise.
Woher wollte die Bedienung wissen, dass tatsächlich wir gemeint waren? Es gab bestimmt noch mehr Leute, die viel aßen und Baseballkappen trugen. Was? Du willst wissen, darum Nick auf ein mal wieder eine neue Kappe hatte?
Die hatte er sich natürlich in einem der Geschäfte gekauft. Irgendwann war er sich komisch dabei vorgekommen, in einen Laden zu gehen ohne etwas zu kaufen. Obwohl wir ja in unzählige Läden gingen.
Wenn er sich da jedes Mal etwas gekauft hätte... Aber schließlich brauchte er ja dringend eine neue. Ich sah mich unauffällig um, nur um zu schauen, was für andere Leute da waren.
Aber es war tatsächlich niemand anderes mit Kappe da. „Was soll’s“, dachte ich, „wir können ja mal kurz nachschauen, was drin ist.“ Damit gab ich Nick ein Zeichen, dass er den Umschlag endlich öffnen sollte. Nick ließ sich das nicht zwei Mal sagen.
Er riss das Kuvert auf und zog ein gefaltetes Blatt Papier heraus. Ungeduldig faltete er es auseinander. „Und?“, fragte ich nach.
„Schau dir das an! Das gibt’s doch nicht!“
Er reichte mir den Zettel herüber und bald waren meine Augen genauso groß wie seine. Die Buchstaben waren in Druckschrift verfasst.

„Hallo ihr. Schön euch zu sehen. Haben die Pommes geschmeckt? Neben deinem rechten, hinteren Stuhlbein liegt auch noch eine, Nick. Allerdings solltet ihr hier nicht ewig bleiben. So was Zeitraubendes, in jedes Geschäft hineinzugehen. Und Jungs im Schminkgeschäft, also wirklich, Jim! Von dir hätte ich doch mehr erwartet. Und wenn es um Sandies Beauty cream geht, die braucht sie jetzt sowieso nicht mehr. Also, nichts wie geradeaus laufen. Wir sehn uns. Wartet nicht zu lange.“

„Na toll“, sagte ich, „Werden wir etwa die ganze Zeit beobachtet, oder was?“, Ich warf einen vorsichtigen Blick unter den Tisch. Natürlich bestätigten sich meine Befürchtungen.
Genau an der Stelle an Nicks Stuhl lag wirklich eine Pommes. „Und jetzt?“, ging es mir durch den Kopf. Was sollten wir tun? Konnten wir überhaupt was tun? „Lass uns von hier verschwinden“, schlug Nick vor, „Der Typ kann uns doch nicht ewig nachlaufen!“
„Und wenn doch? Siehst du Charlie irgendwo? Vielleicht ist er es ja.“ Ich sah mich noch mal um. Aber da war niemand, der mir bekannt vorgekommen wäre.
Wahrscheinlich hatte Nick Recht. Es war besser zu gehen. Nur wohin? Sollten wir etwa geradeaus laufen, nachdem wir den Imbiss verlassen hatten? Ich war mir nicht sicher, ob das eine gute Idee war.
Wir wussten ja gar nicht, mit wem wir es zu tun hatten. Mit Charlie? Vielleicht. Doch inzwischen war ich mir sicher, dass keine Verwechslung vorlag. Es waren eindeutig wir gemeint.


Kapitel 28

Charlie Mc Gibson

„Ich könnte dich umbringen, Jim!“
„Ich werde dafür sorgen, dass du dich nie wieder bei Chrissie blicken lassen kannst, darauf kannst du wetten!“
Diese Gedanken gingen mir durch den Kopf, als ich wütend die Straße entlang lief. Er hatte mich total bloßgestellt. „Na warte!“ Mir musste etwas einfallen, womit ich es ihm so richtig heimzahlen konnte.
Etwas, das ihn dazu brachte, gut zu sein. Gut zu mir. Ich war sein Freund. Wusste er denn nicht, wie man einen Freund behandelte? Ich spuckte auf die Straße. Jim würde noch sein blaues Wunder erleben.
Wenn er erst einmal erfuhr, dass sich Chrissie längst für mich entschieden hatte, würde ihm dass hoffentlich das Herz brechen. Und ich hatte ihn auch noch davor bewahren wollen.
„Du wirst leiden, Jim! Und dann wirst du erkennen, wieso ich dir zeigen wollte, dass Chrissie kein Mädchen für dich ist. Du wirst endlich begreifen, was für ein guter Freund ich bin. Aber dann werde ich nicht mehr dein Freund sein wollen.“
Jim war so dumm. Aber er würde es nicht schaffen, Chrissie für sich zu gewinnen. Nie. Niemals.
Mich in einen Hundehaufen treten zu lassen, was fiel ihm eigentlich ein! Jetzt brauchte ich erst recht neue Schuhe. Auf dem Weg zu den Kaufhäusern überlegte ich, was ich tun konnte, um Jim eine Revanche zu liefern.
Ich dachte an nichts anderes mehr. Als ich endlich da war, betrat ich das erstbeste Schuhgeschäft und sah mich um. Vielleicht würde ich hier einen guten Kauf machen.
Ich lief zu dem Regal, in dem Schuhe meiner Größe gestapelt waren und betrachtete sie. Es gab leider nicht viele Sportschuhe. Und bei den wenigen, die es gab, war nur ein Paar dabei, das mir gefiel.
Ich zog meine Turnschuhe aus und stellte sie beiseite, um die anderen anzuprobieren. Fehlanzeige. Sie sahen zwar gut aus, waren aber total unbequem. Also stellte ich sie zurück ins Regal und ging weiter zum nächsten Schuhgeschäft.
Auch hier war die Auswahl begrenzt. Aber ich fand ein paar wirklich gute Schuhe und lief ein paar Mal im Geschäft hin und her, um zu prüfen, ob ich tatsächlich gut damit laufen konnte. Weiter hinten im Geschäft stand ein großer Spiegel.
Obwohl ich ziemlich weit weg stand, konnte ich mich sehen. Ich drehte mich um, und ging auf eine Verkäuferin zu, um zu fragen, ob sie mir auch den zweiten Schuh geben konnte, damit ich mit beiden laufen konnte.
Sie verschwand in einer Art Lagerraum. Es dauerte eine Weile, bis sie zurückkam und mir den zweiten Schuh reichte. Ich ging ein paar Schritte. „Moment mal“, sagte ich überrascht, „da stand doch ein Spiegel?“
„Was?“, fragte die Verkäuferin, die mich gehört hatte, „Hier im Geschäft?“
„Ja, da vorne.“
„Tut mir leid. Da hat noch nie ein Spiegel gestanden.“
„Aber ich hab ihn doch gesehen. Sind Sie sich sicher, dass...“
Natürlich war sie sich sicher. Aber ich hatte mir das doch nicht eingebildet. Ich hatte den Spiegel hundertprozentig gesehen!
Ich schüttelte den Kopf. Vielleicht sollte ich mal zum Augenarzt gehen. Ich bezahlte die Schuhe und verließ den Laden. Es war vielleicht besser, wenn ich nach Hause ging.
„Das kann doch nicht sein, dass ich mir das nur eingebildet habe.“
Ich war mir sicher: Ich hatte einen Spiegel gesehen. Egal was die Verkäuferin sagte. „Oder“, sagte ich mir, „eigentlich habe ich mich gesehen.“
Ich war mir auf einmal nicht mehr sicher, ob da auch ein Spiegel gewesen war. Versteh’ mich nicht falsch. Wenn ich nicht dabei war, den Verstand zu verlieren, gab es noch diese Möglichkeit: Was, wenn der merkwürdige Junge von neulich wieder aufgetaucht war?
Der Junge, der mir so ähnlich gesehen hatte.
Er musste es gewesen sein. Wieso verschwand er jedes Mal gleich, wenn er mich sah? Ich musste ihn finden, herausfinden wer er war. Er konnte sich doch nicht in Luft auflösen.
„Moment mal“, ging es mir plötzlich durch den Kopf, „Er sieht mir dermaßen ähnlich, dass ich dachte, ich würde in einen Spiegel schauen.“ Wenn ich mich so getäuscht hatte, dann würde das anderen Leuten erst Recht passieren können.
Auch Nick und Jim, verstehst du? Auf einmal wurde mir klar, wieso er mir aus dem Weg ging. Er hatte die beiden verprügelt. Und sie hatten nicht gemerkt, dass ich es nicht war.
Aber warum?
Warum hatte er das denn getan?
Ich wusste es nicht. Aber er hatte mich dadurch vor den anderen schlecht gemacht. Gut, vielleicht hatte er nicht gewusst, dass sie mich mit ihm verwechseln würden.
Möglicherweise hatte er nicht einmal gewusst, dass es jemanden gab, der ihm so sehr ähnelte.
Aber er hatte Nick den Arm gebrochen. Das würde er mir erklären müssen. Und wenn diese Erklärung nicht wirklich gut sein würde, würde er sich wünschen, die Finger von ihm gelassen zu haben.


Kapitel 29

Ich lief zurück ins Geschäft. Vielleicht war er noch da.
Nein. Er war nirgends zu sehen. Wo war er nur wieder hin verschwunden? Ich verließ den Laden wieder und sah mich draußen um. Und dann erblickte ich ihn. Er stand mit denselben Leuten zusammen, mit denen ich ihn auch beim ersten Mal gesehen hatte. Sie sahen sich ein Schaufenster an und kehrten mir den Rücken zu.
Das war meine Chance. Ich musste hingehen und ihn ansprechen. Langsam lief ich auf das Grüppchen zu. Wenn sie mich zu früh entdeckten würden sie vielleicht wieder abhauen. Das durfte auf keinen Fall passieren. Als ich nah genug bei ihnen war, überrumpelte ich sie. Oder besser: Ich setzte gerade dazu an, einen der Jungs von hinten zu schubsen, als sich mein Doppelgänger umdrehte.
Er musste mein Spiegelbild im Schaufenster gesehen haben. Einen Augenblick lang sahen wir uns in die Augen. Dann rannte er los. „Bleib stehen!“, rief ich und hastete hinterher.
Ich hätte nie damit gerechnet, dass er auf mich hören würde. Er drehte sich auf dem Absatz um und kam zurück. „Sag das noch mal!“, forderte er mich auf.
Die anderen Jungs beobachteten uns verwirrt und gespannt. „Wieso habt ihr meinen Kumpel geschlagen?“, redete ich nicht lange Drumherum. Seine Augen wurden zu schmalen Schlitzten.
„Ich hab deinen Kumpel nicht geschlagen! Verstanden?“, sagte er bestimmt und kam näher.
„Und wer soll es sonst gewesen sein?“
Plötzlich lachte er los.
„Was?“, raunzte ich ihn an.
„Die beiden Idioten waren deine Freunde? Da haben sich ja drei gefunden.“, lachte er noch lauter. Seine Freunde begannen mitzulachen.
„Beleidige nicht meine Kumpels!“
„Ich habe auch dich beleidigt, falls du es nicht mitgekriegt hast.“ Jetzt reichte es mir. Ich ballte meine Hände zu Fäusten und ging auf ihn los. Warum sollte ich mir das länger gefallen lassen?
Normalerweise bin ich gegen Gewalt. Aber in diesem Fall sah das anders aus. Er hatte Nick verprügelt und das auch noch völlig ohne Grund.
„Hey! Was soll das?“, wehrte er sich und hielt seine Hände vor sich.
„Bitte? Erst grundlos meine Freunde schlagen und beleidigen und sich dann wundern, wenn was zurückkommt?“
„Mann! Die waren voll frech! Glaubst du, ich lass mir das gefallen?“
„Was?“, stutzte ich, „Was sagst du?“
„Ich war friedlich im See, ja? Total gut gelaunt. Da sah ich diese zwei Volltrottel...“ Ich warf ihm einen strafenden Blick zu.
„...deine beiden Freunde, und hab ihnen was von meinen Süßigkeiten angeboten. Ich hatte halt einen guten Tag, okay? Und was machen die beiden? Sie haben so getan, als wäre ich ein Verbrecher, oder so.“
Er stockte, als er meinen skeptischen Gesichtsausdruck sah.
„Und dann hast du Nick kurzerhand den Arm gebrochen, oder wie?“
Er zuckte mit den Schultern.
„Wenn dir das als Erklärung nicht reicht, dann regeln wir das. Aber nicht hier.“ Was meinte er damit? Wollte er damit eine Prügelei anzetteln?
„Wie wäre es mit einer Entschuldigung?“, sah ich ihn an.
Sein Gesichtsausdruck verriet mir, dass er dazu nicht bereit war. Ich warf einen flüchtigen Blick auf die anderen Jungs. „Was ist mit euch?“ Auch sie machten keine Anstalten dazu, sich dafür zu entschuldigen, was am See passiert war.
„Feigling!“
Ich sah wieder den Jungen an. „Selber!“
„Weißt du was? Du hast ja nur Angst davor, dass sie glauben, dass du es warst!“ – „Ach ja? Was sollten sie denn sonst denken?“
„Tolle Freunde, gratuliere“, meinte er verächtlich, „sie geben wohl ziemlich viel auf dein Wort, was?“ Dann drehte er sich um und ging ein paar Schritte. Ich folgte ihm. Am Ende versuchte er wieder abzuhauen.
„Warum haust du eigentlich immer ab, wenn du mich siehst?“
Er ignorierte die Frage. Stattdessen bog er um eine Hauswand, wurde aber nicht schneller. Er würde mir nicht entwischen.
Die anderen Jungs wussten anscheinend, wo er hinwollte.
Auch sie blieben dicht hinter ihm. Bis er sie plötzlich aufforderte wieder zurückzugehen.
„Leute, lasst ihn mal mit mir alleine, okay. Wir sehen uns später.“ Einer meckerte zwar kurz, ging dann aber mit den anderen zurück zu den Geschäften. „Was wird das denn?“, fragte ich mich, sagte aber nichts.
Auch er ließ sich Zeit damit, sich zu äußern. Er führte mich in eine andere Straße und sah mich den ganzen Weg über kein einziges Mal an. Hatte er am Ende gar nicht mitgekriegt, dass ich noch immer hinter ihm war? Nein. Jetzt drehte er sich zu mir um.
„Ich bin übrigens Chase“, sagte er, „Chase Almeida.“ Was? Hatte er sich mir gerade vorgestellt? Was sollte das denn? Sein Gesichtsausdruck hatte sich verändert. Auf einmal wirkte er freundlicher.
Ich wartete. Worauf? Keine Ahnung. Vielleicht darauf, dass er mir erklärte, was das zu bedeuten hatte, dass er sich so verhielt. Fragend sah ich ihn an. „Was ist los?“, wollte er wissen.
„Dasselbe könnte ich dich auch fragen“, erwiderte ich und verstand allmählich gar nichts mehr. Er kam näher.
„Tu nicht so“, meinte er, „Ich weiß genau, warum du hergekommen bist.“ „Was willst du damit sagen?“
Er schien sich plötzlich nicht mehr so sicher zu sein. „Na ja. Du bist doch nach Scearfeeld gekommen, um mich zu sehen.“
„Was?“, starrte ich ihn an. Ich kannte ihn doch überhaupt nicht.
Ich sah ihn heute erst zum zweiten Mal! Wie konnte er da behaupten, ich sei wegen ihm hierher gefahren.
„Wow! Ich habe solange auf dich gewartet und jetzt bist du endlich da!“
Was redete er denn da? Er hatte gewartet? Auf mich? Ich wollte ihm ja nicht seine Illusionen zerstören, aber ich musste ihn aufklären.
„Hey“, sagte ich, „Ich bin nicht wegen dir hier. Ich bin mit meinen Freunden im Urlaub. Dass ich dich getroffen habe, ist ein unglücklicher Zufall, mehr nicht.“ Seine Stirn legte sich in Falten. Mir wurde klar, dass das etwas zu hart gewesen war. Aber es musste sein.
„Ich verstehe, dass du etwas überfordert bist. Für mich ist die Situation ja auch neu. Aber du brauchst mir nichts vorzumachen. Ich weiß, dass du wegen mir da bist.“
Ich dachte, ich wäre deutlich gewesen. „Ich bin nicht wegen dir hier“, versuchte ich es noch einmal. „Wie kommst du überhaupt darauf?“
„Ich habe auch oft mit dem Gedanken gespielt, dich zu suchen.“
„Du hast was?“
„Das ist doch ganz normal. Wer ist schon gerne von seinem Bruder getrennt? Vor allem bei Zwillingen.“
Ich war mir nicht sicher, ob ich ihn nicht falsch verstanden hatte. Zwillinge? Ich hatte keinen Zwillingsbruder. Ich meine: So was weiß man doch normalerweise, oder?
Jedenfalls sollte man es wissen. Und ich hatte noch nie auch nur annähernd daran gedacht, einen Bruder zu haben. Selbst das dürfte man normalerweise nicht einfach so nicht mitbekommen.
„Das kann gar nicht sein.“, sagte ich schließlich überzeugt.
„Du heißt Chase Almeida, richtig? Ich heiße aber Charlie Mc Gibson. Verstehst du? Mc Gibson und Almeida sind zwei völlig verschiedene Namen. Schon allein deshalb können wir gar keine Zwillinge sein.“
„Darf ich mal lachen?“, antwortete er, „Sieh dich doch mal an.“ Ich sah an mir herunter. „Und jetzt sieh mich an“, forderte er mich auf.
Mir war klar, was er meinte. Wir sahen uns wirklich so ähnlich, dass wir Zwillinge hätten sein können. „Wir könnten nicht nur Zwillinge sein“, sagte er, „wir sind welche!“


Kapitel 30

War ihm eigentlich klar, was er da sagte?
„Ich hätte das ja wohl gewusst, wenn ich einen Zwillingsbruder hätte!“
„Deine Eltern haben dir nichts gesagt?“
Er biss sich auf die Unterlippe. „Also bist du wirklich nicht wegen mir hier?“, fragte er gekränkt. „Nein!“, wiederholte ich mich, „wie oft denn noch?“ „Aber sie wissen, dass du in Scearfeeld bist?“
Natürlich wussten meine Eltern, dass ich hier war. Und das sagte ich ihm jetzt. Es schien ihn doch tatsächlich zu überraschen. „Und sie haben dir wirklich nie etwas erzählt?“
Oh doch. Meine Eltern hatten mir viel erzählt. Abenteuergeschichten, Märchen und auch Dinge aus ihrem eigenen Leben. Aber ein Zwilling? Das war mir neu. Langsam ging er mir auf die Nerven.
„Dann wollen sie dich bestimmt nicht hergeben.“
Was? Sobald ich das Gefühl hatte, ihn ein bisschen zu verstehen, gab er wieder irgendetwas von sich, das mein Gehirn auf Nullniveau herabzusetzen schien.
„Wieso sollten sie mich hergeben?“
„Damit wir wieder eine Familie werden. Du, ich und meine Eltern.“ Jetzt hatte ich ihn. „Du, ich und deine Eltern? Du willst, dass meine Eltern mich hergeben, damit du, ich und deine Eltern eine Familie sind? Komisch. Ich dachte immer, dass Zwillinge grundsätzlich dieselben Eltern hätten.“
Ungeduldig sah er mich an. „Meine Zieheltern“, verbesserte er sich, „aber sie sind bessere Eltern, als unsere wirklichen.“ Woher wollte er das denn wissen? Er kannte meine Eltern doch überhaupt nicht.
„Oder warum haben sie mich sonst hier gelassen, als sie dahin zurückgegangen sind, wo sie außerhalb der Ferienzeit wohnten?“
Und wieder verstand ich nur Bahnhof.
„Sie sind total verantwortungslos. Sonst hätte mich dein Vater, natürlich unser Vater, nie auf diesen Ausflug mitgenommen.“
Verständnislos sah ich ihn an. Er schien zu merken, dass ich keinen blassen Schimmer hatte, wovon er redete und erklärte es mir.
„Hör zu“, sagte er, „Unsere Eltern waren damals hier im Urlaub. Und dein Vater, ich meine natürlich unser Vater, hat mich mal im Boot auf den See mitgenommen.“
„Wieso hat er nur dich mitgenommen und nicht uns beide? Wenn wir Zwillinge sind, hätte er uns doch bestimmt beide mitgenommen.“
„Nein“, schüttelte er den Kopf, „du warst bei deiner Mutter. Deshalb hat er nur mich mitgenommen. Viel mehr weiß ich auch nicht. Jedenfalls waren da noch so ein paar Freunde von unserem Vater dabei...“
Während er sprach wurde seine Stimme immer unruhiger. Was er sagte ergab für mich keinen Sinn. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er die Wahrheit sagte. Und vor allem wollte ich es nicht. In meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken.
Je weiter er mit dieser Geschichte kam, umso bewusster wurde mir, dass er sie sich gar nicht ausgedacht haben konnte. Er musste die Wahrheit sagen.
„Sie halten ihn für tot“, dachte ich.
„Sie halten mich wahrscheinlich für tot“, endete er schließlich ernst, „Ich hab immer daran geglaubt, dass du eines Tages hier auftauchst. Und irgendwie habe ich auch damit gerechnet, dass du nichts von mir weißt.“
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
„Glaubst du mir jetzt, dass wir Zwillinge sind?“
Ich starrte ihn nur weiter an. Wollte er etwa hören, dass ich ihm die Geschichte geglaubt hatte? Mein Verstand sagte mir, dass er nicht gelogen hatte. Aber ich begriff es trotzdem nicht.
„Lass uns zu meinen Eltern gehen. Endlich sind wir alle zusammen. Mann, werden die sich freuen, wenn sie erfahren, dass du da bist. Nachher können wir zu dir fahren und deine Sachen holen. Vorerst kannst du bei mir im Zimmer schlafen, aber wir haben noch ein Gästezimmer, das größer ist. Da können wir dann ein gemeinsames Zimmer für uns beide einrichten.“
Fassungslos sah ich ihn an. Gemeinsames Zimmer? Sachen holen? Glaubte er etwa, dass ich bei ihm einziehen würde? Das konnte doch nicht sein ernst sein. Ich musste ihm klar machen, dass daraus nichts werden würde. „Los komm!“, forderte er mich auf.
„Nein“, sagte ich mit fester Stimme, „ich werde nicht mit dir nach Hause kommen.“
„Was?“
„Vielleicht für kurz. Um Hallo zu sagen. Aber nicht für immer. Ich gehe zurück zu meinen Eltern.“
Seine Augen funkelten.
„Das kannst du nicht tun“, sagte er mit ruhiger, aber fester Stimme, „wir sind Zwillinge, verstehst du? Du musst hier bleiben. Du kannst nicht zurück zu deinen Eltern.
Dein Vater hat mich fast umgebracht! Du hättest genauso gut an meiner Stelle sein können!“
Am liebsten hätte ich mir die Ohren zugehalten. „Dann sind wir eben Zwillinge“, entgegnete ich ihm, „aber...“ Mir fehlten die Worte. Verstand er denn nicht, dass ich hier nicht bleiben wollte?
„Aber mein Leben ist nicht hier, sondern in Ohio“, sagte ich bestimmt.
„Du irrst dich. Du kannst nicht einfach gehen und mich hier zurücklassen. Und du kannst auch nicht erwarten, dass ich mit dir nach Ohio komme. Ich geh da nicht hin. Niemals, hörst du?“
Seine Stimme klang schrill. „Wir sind Zwillinge!“, hörte ich ihn, „ist dir das denn völlig egal?“ „Nein“, dachte ich, „Aber ich wollte doch gar keinen Zwillingsbruder. Jedenfalls nicht so!“
„Ich weiß, dass es dir nicht egal ist“, sagte er, „aber du hast sowieso keine Wahl.“ Was meinte er damit? Natürlich hatte ich eine Wahl.
„Ich kann zurück nach Ohio gehen, ihn vergessen und alles ist in bester Ordnung“, sagte ich mir. Doch gleichzeitig war mir klar, dass ich das doch nicht konnte. Ich würde ihn nicht so einfach aus meinem Kopf bekommen. Aber ich würde auch nicht mein ganzes Leben wegen ihm umkrempeln. Ich war so durcheinander, dass ich ihn verantwortlich machte.
„Wieso tauchst du plötzlich in meinem Leben auf und verlangst, dass ich es für dich ändere? Ich brauche keinen Zwilling. Und ich will keinen! Mein Leben war perfekt so, wie es war, hörst du?“
Meine Stimme wurde lauter.
„Ich habe Freunde mit denen ich abhängen kann und mit denen ich auf derselben Wellelänge liege. Und dass wir nicht zusammen auskommen werden sieht man ja schon daran, dass du Nick verprügelt hast.“
Ungläubig sah er mich an. Ich war zu weit gegangen. Das hatte ich gar nicht sagen wollen. Aber dann wurde mir klar, dass es stimmte.
„Du machst es dir leicht“, sah er mich traurig an, „du willst wirklich einfach so wieder von hier verschwinden?“
„Ja“, wollte ich sagen, brachte aber keinen Ton heraus. Er machte mir Angst. Irgendetwas in seinen Augen verriet mir, dass er mich nicht einfach gehen lassen würde.
„Du hast keine Wahl“, wiederholte er sich. „Du musst hier bleiben! Ich musste Nick angreifen. Ich musste es tun, damit du hier bleibst.“
„Toller Grund, dazubleiben, gratuliere.“
„Versteh doch. Ich habe dich gesehen, als du hier angekommen bist. Anfangs war ich mir sicher, dass du wegen mir hier bist. Aber irgendwann wurde mir klar, dass du möglicherweise nichts von mir weißt. Ich musste dafür sorgen, dass wir uns treffen, damit du erfährst, dass es mich gibt.“
„Was hat das mit Nick zu tun?“
Er lächelte. „Ich musste damit rechnen, dass du nicht da bleiben willst. Auch wegen deinen Freunden. Deshalb musste ich dafür sorgen, dass sie dich nicht suchen würden, wenn du verschwindest. Ich musste etwas tun, wodurch sie dich sowieso nicht wieder würden sehen wollen.“
Ich wich einen Schritt zurück.
„Du kannst unbesorgt hier bleiben, Charlie. Meine Freunde haben dafür gesorgt, dass wir uns nicht trennen müssen. Nick und dieser andere Kerl hassen dich. Sie sind nicht mehr deine Freunde.“
Er schien auch noch stolz auf das zu sein, was er sagte. Doch plötzlich verschwand sein Lächeln.
„Es tut mir leid, aber ich muss dir noch etwas erklären. Ich wusste nicht, wie ich dich treffen sollte, um mit dir zu reden. Dann habe ich mitbekommen, dass du alleine zu Hause warst. Also habe ich versucht, dafür zu sorgen, dass du nicht weggehst.“
Skeptisch sah ich ihn an. Das konnte er doch nicht getan haben. Doch dann bestätigte er meine Befürchtung. „Ich habe dein Auto manipuliert“, gestand er, „aber nicht um dir Schaden zuzufügen. Ich dachte, du merkst es rechtzeitig und wir können reden. Ich habe nicht gewollt, dass dir was passiert. Das musst du mir glauben.“
Er war ja völlig durchgeknallt. Auf so einen Bruder konnte ich echt verzichten.
„Du willst immer noch weg?“, sah er mich böse an. Ich wusste, dass er einen Weg finden würde, mich festzuhalten. Und im nächsten Moment wurde mir klar, was er vorhatte.
„Du wirst nicht zurückgehen!“, flüsterte er, „Nie!“
Er zog eine Waffe.
„Er wird mich umbringen!“, wurde mir bewusst. Seine Hände hielten den Griff fest umklammert.
„Ich wollte das nicht.“, sagte er kühl, „Aber ich kann dich nicht gehen lassen. Du hättest auf mich hören sollen.“
Sein Gesicht war ausdruckslos. Ich saß in der Falle.
„Er wird schießen!“ „
Er wird mich umbringen!“


Kapitel 31

Jim Thomson

Wir standen auf und verließen den Imbiss. Ohne Worte zu wechseln liefen wir automatisch in die gleiche Richtung. Wie von einer unsichtbaren Schnur gezogen. So kam es mir irgendwie vor.
Endlich brach Nick das Schweigen: „Was sollte das mit Chrissies Beauty cream?“ Ich hatte nicht die leiseste Ahnung. „Glaubst du, die beiden sind schon nach Hause gefahren?“, fragte ich, statt ihm eine Antwort zu geben, „könnte doch auch sein, oder? Dann suchen wir hier völlig umsonst nach ihnen.“
„Nein“, war Nick überzeugt, „sind sie nicht. Diese Nachricht muss etwas mit ihrem Verschwinden zu tun haben.“ Verwirrt sah ich ihn an. Er konnte tatsächlich Recht haben.
„Los! Wir müssen schneller laufen!“
Das hatte ich noch nie erlebt. Dass Nick darauf bestand, dass ich einen Zahn zulegte, war so neu wie die Situation, in die wir hier geraten waren. „Wir wissen doch nicht einmal, wo wir hinmüssen“, warf ich ein, „das ist doch voll blöd!“
Aber Nick hatte schon wider etwas entdeckt, das mir erst jetzt auffiel. „Wo guckst du eigentlich die ganze Zeit hin?“, fragte er, „Wir spielen jetzt Schnitzeljagd. Da, die Pfeile. Denen folgen wir einfach mal. Auch, wenn das eine falsche Fährte sein sollte. Ich will wissen, was hier läuft.“
Nick hatte Recht. Auf dem Boden waren in regelmäßigen Abständen bunte Kreidepfeile gemalt worden. Ich klopfte ihm auf die Schulter. Wie hatte ich sie nur übersehen können?
Ich schüttelte den Kopf und lief Nick hinterher, der am Ende der Straße links abbog. „Hey, warte mal!“, rief ich, aber er war so neugierig, dass er weiterlaufen musste.
„Oh nein!“, schimpfte er enttäuscht, „Die Spur hört auf. So was dummes!“
„Tja, da kann man wohl nix machen“, sagte ich nur und betrachtete die letzten paar Pfeile, die mit roter Kreide gemalt worden waren.
„Sollen wir jetzt einfach wieder zurückgehen?“, fragte ich, weil wir hier wohl nicht weiterkommen würden. „Quatsch Jim! Wir müssen doch wenigstens abwarten was passiert“, lehnte Nick ab. „Was soll schon groß passieren? Lass uns einfach die Straße entlang laufen und gucken, was da noch so ist“, nörgelte ich.
„Das ist bestimmt irgendein blöder Scherz von Charlie. Und diesen Brief hat hundertprozentig einer seiner komischen Schlägerfreunde geschrieben. Kein Wunder, dass wir niemanden erkannt haben. Ich will gar nicht wissen, wie viele Leute er hier kennt.“
Nick stimmte mir schließlich zu und wir beschlossen auf Erkundungstour zu gehen, wie er es nannte. Unterwegas malten wir uns alles Mögliche aus, was wir am Ende der Straße finden könnten.
Umso enttäuschender war es natürlich, als wir vor ein paar alten stinkenden Müllcontainern ankamen. „Was soll’s“, dachte ich und sagte zu Nick, der sich die Nase zuhielt: „Jetzt kannst du in dein Tagebuch schreiben, dass wir eine Müllentsorgungsanlage besichtigt haben.“
Ich wusste zwar, dass Nick gar kein Tagebuch führte, aber vielleicht war jetzt der Moment dafür gekommen, damit anzufangen. „Lass uns zurück zur Einkaufsstraße gehen“, meinte ich und Nick hatte nichts dagegen einzuwenden.
Dort diskutierten wir darüber, ob wir heimfahren oder noch dableiben sollten. Wir entschieden uns für Ersteres. So konnten wir gleichzeitig Ausschau halten, ob die Mädels zu Hause waren oder ob wir sie weiterhin suchen mussten.
Andererseits würden wir dann vielleicht auch Charlie treffen. „Weißt du, wann der nächste Bus fährt?“, fragte Nick, während ich den Fahrplan aus seinem Rucksack kramte.
„Warte, ich schau nach“, versuchte ich, mich auf dem Plan zurechtzufinden. „Oh“, entfuhr es mir, als mir auffiel, dass jemand etwas in krakeliger Schrift darauf geschrieben hatte.
„Och nein! War das etwa dein kleiner Bruder, oder was?“, stöhnte Nick, „Man kann gar nichts erkennen.“
„Quatsch!“, verteidigte ich Ron, obwohl er sicherlich oft nervte, „Ließ doch mal was da steht. Du wolltest doch unbedingt einen neuen Hinweis. Da hast du ihn.“
„Tatsächlich. Los, vielleicht stecken ja sogar die Mädels selbst dahinter. Ich wette, die wollen uns ärgern.“
Ich sah ihn skeptisch an. Irgendwie konnte ich mir das nicht vorstellen. Warum hätten sie uns denn ärgern sollen. Andererseits - du weist gar nicht, auf was für seltsame Ideen die manchmal kamen.
Und an den Fahrplan hätten sie jedenfalls ohne Schwierigkeiten heran kommen können. „Dann wollen wir die Person nicht länger warten lassen“, meinte Nick und las vor, was auf dem Plan stand.
„Wollt ihr etwa schon nach Hause? Dabei fängt es doch gerade erst an, lustig zu werden. Außerdem fährt erst heute Abend ein Bus. Also wird euch wohl nichts anderes übrig bleiben, als noch ein wenig mitzuspielen. Man erwartet euch ganz in der Nähe des Spielplatzes. Da können wir unsere kleine Schnitzeljagd auflösen. Ihr seid doch keine Spielverderber, oder? Ach, noch was. Es gibt zwei Spielplätze hier. Der, zu dem ihr gehen sollt, liegt im Urnenfeld. Die Uhr läuft.“

Ich kratzte mich am Kopf. Ein Spielplatz? War das ein Zeichen dafür, dass hier jemand ein Spiel mit uns spielte, oder was? Wie sollten wir diesen Spielplatz überhaupt finden? Ich wollte gerade Nick fragen, der zielstrebig auf eine Gruppe kleiner Jungs zulief. Wahrscheinlich wollte er von ihnen wissen, wie wir zum Spielplatz kamen.
Unschlüssig blieb ich neben ihm stehen und hörte den Kindern zu, die zwar auf den ersten Blick brav wirkten, aber dann doch ziemlich frech waren. Ich war nur deswegen dazu bereit, mir ihren Wegvorschlag anzuhören, weil ich keine große Lust dazu hatte, den Spielplatz auf eigene Faust zu suchen.
Um ehrlich zu sein, war ich mir gar nicht sicher, ob ich überhaupt zum Spielplatz wollte. Als sie uns dann erzählten, dass wir uns durch eine Lücke im Zaun neben den Müllcontainern quetschen sollten, um auf dem schnellsten Weg zum Spielplatz zu gelangen, war ich noch weniger begeistert von ihrem Vorschlag.
Aber Nick bestand darauf, dass die Kinder uns begleiten sollten. Nur für den Fall, dass sie gelogen hatten und wir uns aus Spaß an den Containern vorbeizwängen sollten.
Wir gingen also zu den Containern zurück und stellten missbilligend fest, dass der Schlitz so klein war, dass sich nur Kinder in der Größe unserer Begleiter hindurchzwängen konnten.
Nick und mir blieb nichts anderes übrig, als drüberzuklettern. Ich half Nick, der zu erst hinüber musste, weil er es nicht allein geschafft hätte. Als er drüben war, rief er: „Mist! Die sind weg, Jim!“
„Wie? Wer ist weg?“, fragte ich nach. „Na, die Kinder!“, antwortete er ungeduldig. Ich schlug mir mit der Hand vor den Kopf. Natürlich die Jungs. Wer auch sonst?
Ich kletterte zu ihm hinüber und sah mich um. „Na toll“, entfuhr es mir. Auch Nick schien nicht besonders begeistert von der neuen Situation zu sein. „He!“, erschreckte er mich fast zu Tode, „da vorne, schau doch!“
„Der Spielplatz!“ Er hatte Recht. Der Spielplatz lag sozusagen direkt vor unserer Nase. Nick steuerte auf ihn zu. „Warte!“, sagte ich, „Willst du da jetzt einfach so hingehen, oder wie?“ Mir gefiel das nicht. Es gefiel mir sogar ganz und gar nicht. Wer auch immer hinter diesen merkwürdigen Botschaften steckte mochte, was hatte er vor?
Und was wollte er von uns?
War es Charlie, der dahinter steckte?
Und was, wenn das Ganze hier tatsächlich etwas mit dem Verschwinden der Mädels zu tun hatte?
Wir hatten ja gesehen, wozu Charlie und seine Kumpels fähig waren. Ich wollte nicht riskieren, dass den Mädels etwas Ähnliches zustieß oder dass wir ein zweites Mal das Vergnügen mit ihnen haben würden.
Und ich konnte mir nicht vorstellen, wen wir hier sonst antreffen würden. Wenn er es war, würde zumindest Chrissie nichts passieren. Aber was war mit Sandy?
War sie sicher vor ihm?
Wie weit würde Charlie gehen?
Würde er ihr etwas antun?


Kapitel 32

„Hast du denn gar keine Bedenken?“, fragte ich Nick, der ein paar Meter vor mir stehen geblieben war.
„Wer soll es denn sein, wenn nicht Charlie?“, antwortete er ohne wirklich auf meine Frage einzugehen.
Ich zuckte mit den Schultern.
„Aber gerade das gefällt mir nicht. Ich traue Charlie nicht mehr.“ Nick wurde unsicher. „Genau deshalb müssen wir herausfinden, was er vorhat.“ Ich wusste, dass er Recht hatte.
„Also, lass uns jetzt rübergehen“, sagte er und wartete, bis ich ihn eingeholt hatte. Ich sah mich um. Es fiel mir nichts Ungewöhnliches auf. Nick und ich betraten den Spielplatz und hockten uns auf eine Bank.
„Wieso sind hier eigentlich keine Kinder?“, wunderte ich mich. Das Wetter war schließlich gut und besonders spät war es auch noch nicht. Andererseits gab der Spielplatz nicht wirklich viel her.
Es waren gerade mal zwei Schaukeln und eine Wippe vorhanden. Kein Wunder, dass sich die Kinder da andere Plätze suchten. Nach einer Weile entdeckte ich wenigstens noch einen Sandkasten. Der war aber ziemlich klein. Mehr als vier Kinder würden bestimmt nicht darin spielen können.
Und wenn, dann würden sie wohl auf Sandburgen verzichten müssen. „Jetzt könnte langsam jemand auftauchen!“, beschwerte sich Nick. „Ich hab keine Lust, ewig hier zu warten. Wenn das noch lange dauert, fahren wir heim.“
Ich sah auf meine Uhr. „Es sind erst zehn Minuten vorbei, seid wir hier sind. Vielleicht hat Charlie gedacht, dass wir länger brauchen, um den Spielplatz zu finden.“ „Wenn es überhaupt Charlie war“, fügte ich hinzu. Aber mittlerweile war ich mir so gut wie sicher.
„Hast du Lust eine Runde zu wippen?“ Hatte Nick das ernst gemeint? „Ich will hier nicht einfach so herumsitzen.“
Okay. Er hatte es ernst gemeint. „Es taucht bestimmt gleich jemand auf“, sagte ich in der Hoffnung, dass ich ihn von dieser Idee abbringen konnte, „willst du dann etwa auf der Wippe sitzen?“
Es schien ihm egal zu sein. Er stand doch tatsächlich auf und ging in Richtung Wippe. „Nick“, bat ich ihn, ließ es dann aber bleiben, ihn davon abzuhalten. Alleine konnte er ja ohnehin nicht wippen. Und ich hatte nicht vor, mich zu blamieren.
„Los, Jim! Ich kann nicht alleine wippen!“
„Nein. Ich werde ganz bestimmt nicht mitmachen.“
„Bitte! Bitte!“
Er fing an, mich an Ron zu erinnern. Aber Ron war acht. Nick dagegen achtzehn. Doch als Nick weitermachte, mich zu bitten, konnte ich nicht anders. Ich stand auf und ging zu ihm hin.
„Wieso kann ich ihm eigentlich nichts abschlagen?“, dachte ich, „Was, wenn jemand kommt?“
Ich war kurz davor, mich ihm gegenüber auf die Wippe zu setzen, als zwei kleine Mädchen ankamen. Sie setzten sich zwar auf die Schaukeln, aber es war offensichtlich, dass sie eigentlich auf die Wippe wollten. Schweren Herzens verzogen wir uns wieder auf die Bank. Das galt jedenfalls für Nick. Dass ich im Grunde froh darüber war, schien er allerdings nicht zu bemerken.
Machte er sich eigentlich gar keine Sorgen um Sandy? Vielleicht war das mit dem Brief und der Botschaft doch nur ein Bluff. Möglicherweise hatte sich Charlie nur einen schlechten Scherz erlaubt.
Das hoffte ich zumindest. Auch Nick schien langsam wieder klar zu werden, warum wir eigentlich da waren. Im Gegensatz zu den Mädchen, die gerade dabei waren den Spielplatz wieder zu verlassen, waren wir ja nicht hergekommen, um uns auszutoben.
Anscheinend war ihnen langweilig geworden. Sie verschwanden durch eine Lücke zwischen ein paar Sträuchern, die den Spielplatz umgaben. „Du Nick“, fiel mir ein, „Was, wenn wir beim falschen Spielplatz gelandet sind? Stand da nicht irgendwas von wegen, es gäbe zwei hier.“
Wir mussten herausfinden, wo wir waren. Ich holte den Fahrplan hervor, um mir noch mal anzusehen, was darauf geschrieben worden war.
„Der Spielplatz, zu dem wir sollten, liegt im Urnenfeld. Keine Ahnung, wo das sein soll. Hast du das schon mal gehört?“
„Nein, natürlich nicht. Charlie hätte ja auch mal darüber nachdenken können, dass wir hier noch nie waren.“ Wir standen auf und liefen auf die Straße, um nach einem Straßenschild zu suchen.
Als Nick es entdeckte, wurde uns klar, dass wir dadurch nicht weiterkommen würden. Man konnte überhaupt nicht lesen, was darauf stand. Wir hatten möglicherweise völlig umsonst gewartet. „Nick! Was machen wir denn jetzt?“
„Ich weiß nicht. Wir müssen eben noch jemanden fragen. Sonst finden wir den richtigen Spielplatz nie.“ Er hatte Recht. Wir würden mit Sicherheit ewig brauchen.
Dummerweise war niemand zu sehen. „Wir müssen irgendwo hin, wo mehr Leute sind“, stellte Nick fest. „Wieso haben wir nicht gleich darauf geachtet, welcher Spielplatz das ist?“
Wir liefen zurück in Richtung der Einkaufsstraße, aus der wir gekommen waren. „Oh nein!“, stöhnte Nick, als wir wieder vor den Müllcontainern standen. „Muss das sein?“
„Lass uns einen anderen Weg suchen“, schlug ich vor, weil ich ebenso wenig Lust darauf hatte noch einmal darüber zu klettern.
Es würde ja wohl auch einen normalen Weg geben. Wir gingen die Straße entlang. Meine Füße taten bereits weh. Trotzdem beschleunigte ich meine Schritte, um mit Nick mitzuhalten, der keine Zeit mehr verlieren wollte.
„Nick, ich glaube, da kommt gerade jemand aus dem Haus“, sagte ich, als ich merkte, dass eine Frau mit Hund auf die Straße getreten war. „Sollten wir sie nicht besser nach dem Weg fragen?“
Nick sah sich um. „Wo? Ich sehe niemanden.“ Ich zeigte auf die Frau, die wenige Häuser vor uns, damit beschäftigt war, ihre Haustür zuzuschließen. Er schien sie immer noch nicht zu sehen.
Ich seufzte. Dann musste ich sie wohl fragen. Sie ging auf ein parkendes Auto zu und holte ihren Autoschlüssel aus ihrer Handtasche. Ich rannte zu ihr hin, um sie zu erwischen, bevor sie in ihr Auto steigen konnte. Doch gerade, als ich ankam, schlug sie die Autotüre zu. „Hallo“, sagte ich, in der Hoffnung, dass sie noch kurz Zeit hätte, uns eine Wegbeschreibung zu geben, „Wir müssen ins Urnenfeld.“
Ich war mir nicht sicher, ob sie mich hören konnte. Doch dann ließ sie das Fenster einen Spalt herunter. „So? Da seid ihr genau richtig hier.“ Fragend sah ich sie an. „Aber auf dem Straßenschild da vorne steht etwas ganz anderes.“
„Vergiss das Schild. Es ist unwichtig. Ihr seid richtig hier, glaub mir.“ Damit kurbelte sie das Fenster wieder herunter. Hatten wir uns etwa doch nicht geirrt? Erst jetzt kam Nick an. „Mit wem redest du denn da?“, sah er mich verwirrt an. Was sollte die Frage denn? Er hatte doch selber vorgeschlagen, dass wir einen Passanten nach dem Weg fragen sollten. Ich deutete auf die Frau im Wagen.
„Da ist doch gar niemand.“
„Ich glaube, du brauchst eine Brille“, erklärte ich ihm, während ich ihn musterte. Hoffentlich hatte die Frau ihn nicht gehört. Wieso fuhr sie eigentlich nicht los. Sie hatte es doch so eilig gehabt.
„Jim was soll das? Findest du nicht, dass wir uns beeilen sollten?“ „Die Frau hat gesagt, dass wir hier im Urnenfeld sind. Wir haben uns gar nicht im Spielplatz geirrt.“
„Welche Frau denn?“
Sah er sie etwa nicht? Wollte er mich auf den Arm nehmen? Ich deutete in den Wagen. „Na, die Frau. Oder siehst du hier noch...“
Ich brach mitten im Satz ab und starrte in das Auto. „Das...“ Ungläubig sah ich Nick an. „Sie ist verschwunden.“


Kapitel 33

„Lass den Quatsch“, bat mich Nick und zog mich vom Auto weg. „Da war wirklich jemand!“, protestierte ich und warf noch einen letzten Blick in den Wagen.
So gut konnte man sich gar nicht verstecken. Der Wagen war eindeutig leer. Natürlich musste Nick glauben, dass ich ihn veräppelte. Aber die Frau war da gewesen. Sah ich jetzt Gespenster oder wie?
Gespenster. Glaubst du an Gespenster? Bis jetzt hatte ich das eigentlich nicht getan. Vielleicht war es an der Zeit, meine Meinung zu ändern. „Nein!“, sagte ich mir, „Es gibt keine Gespenster.“
Wurde ich etwa verrückt? Ich hatte diese Frau gesehen. Und der Hund? Wie hatte er sich einfach in Luft auflösen können?
„Glaubst du an Geisterhunde?“
Nick tippte sich an die Stirn. „Natürlich nicht“, dachte ich.
„Findest du nicht, wir haben im Moment andere Probleme?“, wurde er langsam ärgerlich. „Nick. Ich habe dich nicht veräppelt! Warum sollte ich so tun, als hätte ich jemanden gesehen, der gar nicht da ist?“
„Du willst mir also allen ernstes erzählen, dass du ein Gespenst gesehen hast? Lass uns lieber die Mädels suchen. Oder willst du hundert Jahre brauchen und sie erst dann finden, wen wir schon alle zu Gespenstern geworden sind?“
Er lachte. Nein. Er lachte mich aus. „Es war wirklich da!“, sagte ich überzeugt, „Ich lüge nicht!“
Toll. Wie sollte ich ihm denn beweisen, dass ich jemanden gesehen hatte, der auf einmal nicht mehr da war?
„Ich glaube jedenfalls, dass wir doch in der richtigen Gegend sind. Die Frau hat gesagt, dass das hier das Urnenfeld ist.“
„Fängst du schon wieder mit dieser Frau an? Es reicht, Jim. Nur weil du keine Lust mehr hast, noch weiter zu laufen, musst du nicht gleich ein Gespenst erfinden, das dir zuflüstert, dass wir hier richtig sind.“
„Erstens habe ich es nicht erfunden und zweitens hat es nicht geflüstert, sondern normal geredet.“
„Na gut. Wenn du es nicht zugeben willst, dann kannst du von mir aus alleine hier bleiben und noch länger warten. Vielleicht taucht ja noch Charlie auf“, sagte er sarkastisch, „Ich geh jetzt den anderen Spielplatz suchen. Wenn du dich wieder eingekriegt hast, kannst du ja nachkommen.“
Er glaubte mir immer noch nicht. Demonstrativ drehte er sich von mir weg und lief weiter. Ich sah es gar nicht ein, mitzukommen. Sollte ich etwa einfach so tun, als hätte es diese merkwürdige Begegnung nicht gegeben?
Sie ignorieren? Oder hatte es sie wirklich nicht gegeben und ich war auf dem besten Weg, den Verstand zu verlieren? Es hatte so real gewirkt. Aber ein Gespenst?
Konnte ich es Nick ernsthaft übel nehmen, wenn er mir das nicht abnahm? Keine Ahnung, wie ich reagiert hätte, wenn er mir mit so einer Geschichte gekommen wäre.
Er bog gerade um eine Ecke und verschwand somit aus meiner Sichtweite. Sollte er doch. Ich würde jedenfalls hier warten. Es würde schon noch jemand auftauchen.
Gerade als ich mich zurück auf die Bank des Spielplatzes setzen wollte, schreckte ich auf. Ein gellender Schrei durchschnitt die Luft.
Nicks Schrei.


Kapitel 34

Nicks Schrei schallte immer noch in meinen Ohren. Ich rannte in die Richtung, in die er verschwunden war. Was war passiert? Wieso hatte Nick geschrieen? Ich bremste meine Schritte.
Gleich würde ich an der Ecke sein, die in die Straße führte, aus der sein Schrei gekommen war. Ich horchte. Mittlerweile war es wieder vollkommen still. War er etwa Charlie in die Falle getappt?
Ich musste vorsichtig sein. Wenn sie ihn erwischt hatten, konnte ich ihm nur helfen, wenn man mich nicht bemerkte. Sie wussten bestimmt, dass ich ganz in der Nähe war.
Ich schlich mich an der Hauswand entlang näher. Ein falscher Schritt und sie würden mich hören. Oder hatten sie ihn etwa schon irgendwo hin verschleppt? In diesem Moment kam eine unheimliche Wut auf Charlie hoch.
Natürlich wusste ich nicht sicher, dass er wirklich hinter diesen merkwürdigen Botschaften steckte. Aber wer sollte es sonst sein? Dieses Versteckspiel konnte nur er sich ausgedacht haben.
Ich verfluchte ihn regelrecht. Dann bereitete ich mich darauf vor, hinter der Ecke hervorzuspringen und die Übeltäter zu überraschen. Ich konnte mich hier nicht ewig verstecken.
Früher oder später würden sie mich entweder finden oder mit Nick abhauen. Und da ich keine Waffe hatte, musste ich eben den Überraschungseffekt nutzen, um sie zu überrumpeln.
„Attacke!“
Blitzschnell sprang ich aus meinem unsicheren Versteck hervor.
„Hilfe!“
Nick zuckte zusammen, als wir zusammenstießen.
„Aua!“, rieb ich mir die Stirn.
„Was stehst du denn da so hinter der Ecke und erschrickst mich fast zu Tode?“, beschwerte ich mich bei Nick.
Er sagte nichts.
„Wieso hast du geschrieen?“
Es kam immer noch keine Antwort. Hatte er mich etwa hereingelegt? Als Rache für meine angebliche Erfindung dieser Frau? Es war niemand zu sehen. „Hey Nick! Was ist los?“
Er sah mich ernst an. „Ich kann keine Gedankenübertragung“, pflaumte ich ihn an, „Du musst es mir sagen! Was ist passiert?“
Er rührte sich nicht vom Fleck. Dann machte er einen Wink nach hinten. Wieso sagte er mir nicht einfach, was sein Problem war? Genervt sah ich an ihm vorbei, um zu sehen, was ihn so durcheinander gebracht hatte.
„Oh Gott!!“ Fassungslos starrte ich auf einen zusammengekrümmten Körper, der neben einer Hauswand lag. Meine Muskeln verkrampften sich, als ich langsam einen Schritt auf die regungslose Gestalt zumachte.
Nick rührte sich nicht von der Stelle. Ich konnte hören, wie er zu schluchzen begann. Sandys Haare hingen ihr wirr ins Gesicht. Sie rührte sich nicht. Behutsam näherte ich mich ihr.
Vielleicht gab es noch Hoffnung. Mein Hals schnürte sich zusammen, als ich mich zu ihr hinunterbeugte und vorsichtig ihr Handgelenk ergriff. „Sie ist tot“, wurde mir bewusst.
Nicks Schluchzen wurde lauter. Seine Knie gaben nach und er sank auf den Boden. Ich stand auf und ging zu ihm hin. Er hatte sein Gesicht in den Händen vergraben. Sachte legte ich meinen Arm um seine Schulter.
Ich konnte spüren, dass er zitterte.
„Sie...sie ist tot.“ Nick sah mich voller Entsetzen an. Sein ganzer Körper war verkrampft. „Sandy ist tot“, sagte er noch einmal. Dann weinte er hemmungslos weiter.
„Ich weiß, wie du dich fühlst“, versuchte ich. Aber ich wusste es nicht. Für mich war Sandy eine Freundin. Für ihn war es seine. Wie konnte ich da wissen, wie ihm zumute war.
Der Tod eines Menschen ist immer schlimm. Für diejenigen, die ihn kannten, aber vor allem für diejenigen, die ihn geliebt haben. Nick hatte Sandy geliebt. Er musste sich schrecklich fühlen.
Er hatte den Blick gesenkt und atmete unruhig. Sein Brustkorb hob und senkte sich, gefolgt von bitterlichen Schluchzern. Unbeholfen suchte ich in meiner Hosentasche nach einem Taschentuch.
Ich kramte eins hervor, um es ihm zu geben. Seine Augen waren völlig gerötet. Ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte. „Hey“, flüsterte ich sanft und sah, wie ihm weitere Tränen über die Wange liefen.
„Ich bringe ihn um“, sagte er, ohne mich anzusehen. Er atmete heftig. „Ich bringe ihn um!“


Kapitel 35

Charlie. Wie hatte Charlie das tun können? Hatte er jetzt komplett den Verstand verloren? Kein Wunder, dass Nick ihn umbringen wollte. Charlie hatte etwas zu erwarten, wenn wir ihn in die Finger kriegten.
Versteh mich nicht falsch. Ich hatte nicht vor, ihn umzubringen. Aber er würde auf jeden Fall für das büßen müssen, was er getan hatte. Egal was Nick mit ihm vorhatte, ich würde ihm dabei jede Unterstützung geben, die er brauchte.
Es hatte lange gedauert, bis Nick sich wieder etwas gefasst hatte. Ich hatte die Polizei angerufen und versucht, Chrissie zu erreichen. Wo war sie gewesen? Wieso war sie nicht bei Sandy, als wir sie fanden? Als sie endlich an ihr Handy ging und ich ihr von Sandys Tod erzählte, glaubte sie mir nicht.
„Du denkst doch nicht ernsthaft, dass ich dir das abkaufe? Mit so etwas macht man keine Witze, Jim!“
„Wo warst du eigentlich? Wieso warst du nicht bei Sandy?“
„Ich bin mit dem Bus heimgefahren, nachdem wir euch eine halbe Ewigkeit gesucht hatten. Ihr wart ja plötzlich verschwunden. Und Sandy wollte unbedingt auf euch an der Bushaltestelle warten. Mir hat das zu lange gedauert und da bin ich eben schon mal alleine gefahren.“
„Sie ist wirklich tot. Nick hat sie gefunden.“
Chrissie wollte mir immer noch nicht glauben.
„Hast du zu viel Alkohol getrunken? Hör endlich auf damit, zu behaupten, dass Sandy tot sei!“, sagte sie aufgebracht.
„Es ist die Wahrheit.“
Meine Stimme drohte nachzugeben. Ich biss mir auf die Lippe. Chrissie schien gemerkt zu haben, dass meine Stimme zitterte.
„Pass auf, wenn du Charlie siehst, okay? Ich bin mir sicher, dass er etwas damit zu tun hat“, bat ich sie, „Nick und ich kommen gleich. Du bist doch im Ferienhaus, oder?“
Ich hörte, dass Chrissie anfing zu weinen.
„Sie ist...ist sie...wirklich tot?“
„Ja“, zwang ich mich zu antworten, „es tut mir leid.“
Nachdem ich aufgelegt hatte, kümmerte ich mich wieder um Nick, der gerade von einem Polizisten verhört wurde. Ich merkte, wie schwer es ihm fiel, auf dessen Fragen zu antworten.
„Können Sie ihn nicht in Ruhe lassen?“, fragte ich den Beamten höflich, aber bestimmt.
Er erklärte sich zwar dazu bereit, Nick vorerst keine weiteren Fragen mehr zu stellen, wollte aber mit ins Ferienhaus kommen und dort mich unter die Lupe nehmen. Vielleicht war das gar keine so schlechte Idee.
Wenn ich ihm von unserem Verdacht, was Charlie anging, erzählte, würde Charlie in Schwierigkeiten kommen. Und ich würde es mit Sicherheit tun. Wir stiegen in den Streifenwagen und fuhren los.
Nick sah fertig aus. Er starrte aus dem Fenster und sagte kein Wort. „Wir haben da einen Verdacht“, sagte ich zu dem Polizisten und wollte den Fahrplan und den seltsamen Brief aus meinem Rucksack hervorholen.
Aber ein warnender Blick von Nick hielt mich zurück. Wieso wollte er nicht, dass ich etwas sagte? „Na gut“, dachte ich und beschloss, es für mich zu behalten. Ich wusste zwar nicht, was Nick vorhatte, aber er hatte mit Sicherheit einen Grund.
Zu spät. „Was denn für einen Verdacht?“, wollte der Beamte wissen und sah mich fragend an. Ich gab diesen Blick an Nick weiter. Jetzt mussten wir etwas sagen. Ich merkte, dass es ihm nicht passte.
„Charlie“, begann er mit verzerrter Stimme.
„Wer ist Charlie?“
„Ein...Bekannter“, antworte ich und erzählte von den merkwürdigen Botschaften. Es kam mir so vor, als ob Nick gar nicht zuhören würde. Er hatte seine Baseballkappe abgenommen und zerknautschte das Schild.
Er musste doch auch wollen, dass Charlie bestraft wurde. Wir bogen in die Straße ein, in der das Ferienhaus stand. Der Polizist lenkte den Wagen in die Auffahrt und parkte neben Charlies Auto.
Er war also da. Und das bedeutete, dass Chrissie in Gefahr war. Ich sprang aus dem Wagen und lief aufs Haus zu. Der Polizist und Nick folgten mir. Vielleicht war es besser, ihn zuerst hineinzuschicken. Er als Polizist würde bestimmt mehr tun können, falls Charlie etwas mit Chrissie vorhatte.
Er öffnete die Tür und betrat den Flur. Es war still.
„Hallo?“
„Wer ist da?“, hörte ich Charlie aus Richtung Küche rufen.
Ich gab dem Polizist ein Zeichen, dass es sich um Charlie handelte. „Charlie?“, fragte er, als er die Küche betrat, „hast du uns etwas zu sagen?“
Charlie tat so, als wüsste er nicht, was wir von ihm wollten. Wie konnte er einfach so tun, als sei nichts gewesen? Er musste wissen, wo Chrissie war. Am Ende hatte er ihr auch schon etwas angetan.
Doch in diesem Moment erschien sie im Flur. Zum Glück. Ihr war nichts passiert. „Alles in Ordnung bei dir?“, fragte ich und ging auf sie zu. Es war nicht zu übersehen, dass sie geweint hatte. Als sie uns sah, stießen neue Tränen hervor.
Ich nahm sie in den Arm, aber es half nichts. Sie konnte nicht aufhören zu weinen. Und Charlie spielte den Ahnungslosen. Ich hasste ihn. Er würde nicht so einfach davon kommen.
Er hatte kein Alibi. Spätestens, wenn er danach gefragt wurde, würde er zugeben müssen, dass er es gewesen war. Er war ein Mörder.
„Ich muss dich fragen, wo du heute Nachmittag gewesen bist“, sagte der Polizist auch schon. Jetzt würde er sich nicht herausreden können.
„Ich war bei einem Kumpel“, antwortete Charlie ganz ruhig, „aber was ist eigentlich los?“
Ich konnte es nicht fassen. Bei einem Kumpel? Dann hatte er eben seine Schlägerfreunde als Komplizen gehabt! Wie konnte er behaupten, keine Ahnung zu haben. Nick funkelte ihn böse an. Uns war klar, dass er sich jederzeit ein Alibi verschaffen konnte. Wie hatte ich nur vergessen können, dass er hier Freunde hatte?
Wir hatten nichts gegen ihn in der Hand. Ich konnte nicht glauben, dass wir ihn einfach so laufen lassen sollten. Der Polizist erklärte, dass er den Fall weiter untersuchen werde, aber dass die Beweislage gegen Charlie zu dünn sei.
„Können Sie ihn nicht wenigstens in Untersuchungshaft stecken?“
„Bedaure. Ich habe meine Vorschriften. Ich melde mich bei euch.“
Nachdem Charlie von ihm gehört hatte, dass Sandy ermordet worden war, hatte Charlie den Betroffenen gespielt. Es hätte nichts gebracht, ihn weiterhin vor dem Polizisten zu beschuldigen. Stattdessen versuchte ich Nick zu beruhigen, der Charlie am Liebsten den Hals umgedreht hätte. Aber abgesehen davon, dass ich ihn verstand, hätte ich eigentlich sogar gerne mitgemacht. Doch damit mussten wir warten, bis der Polizist weg war. Er hatte gerade die Haustüre hinter sich geschlossen. Ich beobachtete vom Küchenfenster aus, wie er zum Wagen lief und davonfuhr.
„So Charlie. Jetzt noch mal von vorne. Wir glauben dir nicht, dass du nichts mit Sandys Tod zu tun hast. Du könntest es wenigstens zugeben, du Feigling!“
Ich ballte meine Hände zu Fäusten und ging auf ihn zu.
„Ich habe sie nicht umgebracht! Sehe ich etwa aus wie ein Mörder?“
„Nein. Aber du bist einer! Mörder!“ Nick stürzte sich auf ihn. „Ich bringe dich um!“


Kapitel 36

Es war ihm egal, dass er einen gebrochenen Arm hatte. Er wusste auch, dass Charlie stark genug war, um ihm auch noch den zweiten zu brechen. Aber er konnte nicht anders.
„Aufhören!“
Erschrocken drehte ich mich zur Küchentür um. Der Polizist war zurückgekommen.
„Aufhören habe ich gesagt!“
Nick ließ von Charlie ab, warf ihm aber einen vernichtenden Blick zu.
„Ich brauche noch deinen Personalausweis.“, wurde Charlie von dem Beamten aufgefordert. „Kein Problem.“, sagte er und holte einen kakifarbenen Geldbeutel hervor. „Komisch“, wunderte ich mich, „den Geldbeutel kenne ich gar nicht.“
Hatte er ihn etwa auch gestohlen? So wie den merkwürdigen Hut, den er Nick schenken wollte?
„Wo hast du den her?“
Überrascht sah er mich an. „Was meinst du?“
Ich deutete auf den Geldbeutel.
„Den Geldbeutel? Den habe ich heute in der Stadt gekauft. Zusammen mit meinem Kumpel.“
Sofort ließ er den Geldbeutel wieder in seiner Hosentasche verschwinden. Ich wusste, dass er log.
„Ich habe total vergessen, meinen Ausweis aus dem alten Geldbeutel herauszunehmen und in den neuen zu tun. Wo hab ich den nur hin? Ich glaube, ich habe ihn im Auto liegengelassen.“
Im Auto?
Charlie hatte seinen Geldbeutel normalerweise immer in der hinteren, rechten Hosentasche gehabt. Und jetzt behauptete er, er habe ihn im Auto liegengelassen?
„Er hat jetzt ja einen neuen. Er muss ja nicht zwei Geldbeutel mit sich herumtragen“, sagte ich mir. Trotzdem war irgendetwas faul.
„Lass nur. Du brauchst ihn nicht holen. Wenn du willst, kannst du auch hier unterschreiben“, bot ihm der Polizist an, der es offenbar eilig hatte. Er hielt ihm einen amtlichen Zettel hin.
„Klar“, meinte Charlie, „wo genau?
„Seltsam“, dachte ich, als ich sah wie er unterschrieb. Ich meine, ich kannte seine Unterschrift. Und so sah sie nicht aus. Aber ich fragte nicht nach. Er hatte sich in letzter Zeit dermaßen geändert, dass es mich auch nicht gewundert hätte, wenn er plötzlich eine andere Unterschrift gehabt hätte. Und erklärt hätte er es mir ja sowieso nicht.
Höchstens mit irgendeiner weiteren Lüge. Und darauf konnte ich verzichten. Als der Polizist endgültig gegangen war, machte sich auch Charlie aus dem Staub. Und glaub mir: Das war das Beste, was er machen konnte.
Ich war so wütend auf ihn! Von mir aus konnte er auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Ich würde ihn nicht vermissen. Und Nick ganz bestimmt auch nicht. Chrissie hatte die ganze Zeit über im Esszimmer gesessen. Ihre Nerven lagen blank.
Immer wieder erschienen neue Tränen auf ihrem hübschen Gesicht. Ich konnte nicht mit ansehen, wie schlecht es ihr und Nick ging. Vor meinem inneren Auge tauchte das Bild von Sandys Leiche auf.
Chrissie war ihre beste Freundin. Gewesen. Wieder wurde mir klar, dass Sandy tot war. Einfach tot. Ein dicker Kloß machte sich in meinem Hals breit. Charlie war so mies! Wie hatte er das nur tun können? Ich hätte nie gedacht, dass er zu so etwas fähig war. Natürlich hatte ich in letzter Zeit mitbekommen, dass er hart austeilen konnte. Aber ein Mord? An einer Freundin? Das hätte ich ihm nicht zugetraut. War Sandy ihm so gleichgültig gewesen?
Ich wusste es nicht. Aber ich wusste, dass Charlie so nicht davon kommen würde. Er würde dafür bezahlen müssen, dass er sie umgebracht hatte. Und mit dieser Erkenntnis stand ich nicht alleine da.
Nick würde Charlie auch nicht ungestraft entkommen lassen. Das stand fest. Wir würden ihn im Auge behalten. Sobald er einen falschen Schritt machte, würden wir ihm die Polizei auf den Hals hetzen. Und wenn nicht, würden wir einen anderen Weg finden, mit ihm fertig zu werden.


Kapitel 37

Eine Woche später.

„Ich will nichts essen“, sagte Nick, als ich eine Pizza Margarita vor ihn hinstellte. Er aß so gut wie nichts mehr. Lustlos sah er die Pizza an. „Du musst was essen“, meinte ich erfolglos.
Auch ich musste ständig an Sandy denken. Und er brachte sie noch weniger aus seinem Kopf. Chrissie war oben in ihrem Zimmer und ruhte sich aus. Sie hatte die letzten Nächte unruhig geschlafen und war immer wieder wach geworden.
Mir und Nick war es nicht viel besser gegangen. Ich glaube, der Einzige, der während der letzten Woche wirklich hatte schlafen können, war Charlie. Es kam mir so vor, als hätte er nicht einmal ein schlechtes Gewissen.
Nick hatte seine Pizza immer noch nicht angerührt. Wir beide hatten oft mit dem Gedanken gespielt, uns in den nächsten Zug zu setzen und nach Hause zu fahren. Aber unsere Eltern hielten nichts davon.
Ich hatte meine Eltern am Abend von Sandys Tod angerufen. Sie hatten bereits Bescheid gewusst. Durch Sandys Eltern, die von der Polizei informiert worden waren. Zuerst waren sie auch dafür, dass wir so bald wie möglich zurückkommen sollten.
Doch als ich ihnen von Charlie erzählte, blockten sie ab. Sie glaubten nicht, dass er etwas mit Sandys Tod zu tun hatte. Sie waren der Meinung, dass es besser war, wenn wir noch blieben, um uns mit ihm auszusprechen.
Außerdem fanden sie, dass wir uns hier besser ablenken konnten. Ich sah das zwar anders, aber andererseits hatten wir hier wesentlich größere Chancen, uns an Charlie zu rächen.
Mir wurde schon schlecht, wenn ich nur merkte, dass er in der Nähe war. So weit ich mitbekommen hatte, hatte er Sandy keine einzige Träne nachgeweint. Wie auch? Er hatte sie ja schließlich auf dem Gewissen.
Ich wusste, dass er gerade im Schuppen war. Aber es wäre zu auffällig, wenn wir ihn nach draußen gefolgt wären. Wir mussten uns etwas Anderes einfallen lassen. „Nick?“, fragte ich, „Findest du nicht, wir sollten doch nach Hause fahren? Schon jetzt?“
Er biss sich auf der Lippe herum. „Und Charlie?“
„Er wird seine Strafe bekommen, glaub mir. Aber wir müssen nicht hier bleiben, wenn du nicht willst.“
Er stützte seinen Ellenbogen auf dem Tisch ab. „Nein“, sagte er hart, „Ich werde hier mit ihm abrechnen. Und zwar sofort.“
„Nick, was hast du vor?“
Die Wut, die sich in ihm aufgestaut hatte, ließ sich nicht mehr länger zurückhalten. Er stand auf und lief aus dem Haus. Ich ahnte, dass Charlie nichts Gutes erwartete.
Nick ging Richtung Schuppen.
„Charlie!“
Es kam keine Antwort. Nick marschierte in den Schuppen.
„Mist! Er ist weg!“
„Wie weg?“
„Er ist eben nicht da.“
Nick kochte. „Wenn ich den in die Finger kriege!“
„Er ist bestimmt joggen gegangen.“
„Joggen?“
Wir drehten uns um. Charlie war in den Garten gekommen.
„Ich bin noch nie...“, abrupt brach er seinen Satz ab.
Nein. Ich bin...spazieren gegangen.“
Nick verschränkte die Arme und sah Charlie schief an. Spazieren gegangen? Charlie? Was sollte das schon wieder? Charlie ging nie spazieren. Er hatte das bisher immer als Rentnersport bezeichnet.
Was hatte er tatsächlich gemacht?
„Was hast du diesmal angestellt?“, wollte ich wissen und funkelte ihn böse an. „Nichts, Mann! Glaubst du, ich hab wieder jemanden umgebracht?“
Er sah Nick herausfordernd an.
„Halt die Klappe!“
Jetzt fixierte er mich. „Du hältst mich wirklich für einen Mörder, ja? Dann pass mal besser auf, wie du mit mir sprichst. Sonst könnte es ungemütlich für dich werden. Hörst du?“
Ich war drauf und dran, ihn in seine Einzelteile zu zerlegen. Wenn hinter ihm nicht Chrissie aufgetaucht wäre, hätte ich mich nicht mehr zurückhalten können. Sie sah müde aus.
„Na? Traust du dich nicht, dich mit mir zu prügeln? Hast du Angst?“ Charlie hatte Chrissie noch nicht bemerkt.
„Hör auf, Charlie!“, sagte sie schrill, „Was soll das?!“
Er drehte sich zu ihr um.
„Geh zurück ins Haus! Hier findet gleich eine Prügelei statt. Wenn du nichts abkriegen willst, solltest du verschwinden!“
Was fiel ihm ein, so grob zu sein? Ich dachte, er mag sie! Damit würde er sein Image vor ihr bestimmt nicht verbessern. Ihm musste doch klar sein, dass er so nicht bei ihr punkten konnte.
Und sowieso. Er hatte ihre Freundin ermordet. Chrissie würde Charlie nicht mal mehr mit dem Hintern angucken. Vielleicht dachte er, er hätte ohnehin nichts mehr zu verlieren.
„Ich glaube, es ist besser, wenn du verschwindest!“, schrie sie ihn an.
Sein Kopf lief vor Wut rot an.
Er widmete ihr keinen Blick mehr und ging wortlos an ihr vorbei.
„Wow“, sagte ich, „Seht euch das an. Er geht!“
Nick war anzusehen, dass er ihm am Liebsten nachgelaufen wäre, um ihn fertig zu machen. Ich weiß nicht, wie er es schaffte, es nicht zu tun. Ein gefährliches Glitzern erschien in seinen Augen.
„Der Plan geht auf!“
„Welcher Plan?“ Fragend sah ich ihn an.
„Was? Ach so. Ich meine natürlich: Wir brauchen einen Plan!“
„Was denn für einen Plan?“
Chrissie kam zu uns herüber. Sie schien sichtlich erleichtert darüber zu sein, dass Charlie gegangen war. Endlich hatte sie gemerkt, wieso Nick und ich gegen ihn waren.
„Ihr seid euch wirklich sicher, dass er...?“
Entrüstet sah Nick sie an.
„Ist ja in Ordnung“, gab sie nach, „also: Was für ein Plan?“
„Irgendetwas, womit wir Charlies Schuld beweisen können“, meinte er. Ich wurde den Gedanken nicht los, dass er schon etwas am Laufen hatte. Er würde alles daran setzen Charlie heimzuzahlen, was er getan hatte.
Während ich versuchte, etwas aus ihm herauszubringen, gingen wir zurück ins Haus. Chrissie und er sagten, sie hätten Hunger bekommen. Chrissie glaubte ich das sogar. Aber bei Nick hatte ich das Gefühl, dass er das Thema wechseln wollte.
Jetzt war ich mir sicher. Er führte irgendetwas im Schilde. Es gab bereits einen Racheplan. Was hatte Nick vor? Und wieso durfte ich es nicht wissen?


Kapitel 38

Die beiden teilten sich die Pizza, die ich ihm vorhin warm gemacht hatte und ich beschloss, Nick später erneut auf seinen Plan anzusprechen, wenn Chrissie nicht dabei war. Vielleicht lag es an ihr, dass er nicht mit der Sprache herausrückte.
Charlie war mit dem Wagen weggefahren. Ich hoffte, dass er nicht zurückkam, bevor ich mich mit Nick ausgesprochen hatte. Als er und Chrissie satt waren und sie in den Flur ging, um ihre Eltern anzurufen, nutzte ich die Gelegenheit. Wenn er tatsächlich schon eine Idee hatte, wie wir Charlie eine Lektion erteilen konnten, würde ich es jetzt herausfinden.
„Nick?“, fragte ich, „Hast du schon einen Plan?“
„Wegen Charlie?“, fragte er zurück. Ich nickte. Er überlegte einen Moment. Dann erklärte er mir, was er tun wollte.
„Wie? Du willst einfach nur sein Zimmer durchsuchen? Mehr nicht?“ Irgendwie hatte ich etwas Spektakuläreres erwartet. Aber es war immerhin ein Anfang. „Okay“, stimmte ich ihm schließlich zu, „lass uns hoch gehen und nachsehen, ob wir was finden, das ihn belastet.“
Nick blockte ab. „Nein. Noch nicht. Morgen vielleicht.“
„Was macht das denn für einen Unterschied, ob heute oder morgen? Jetzt ist Charlie nicht da. Es wäre perfekt.“
„Ich habe Nein gesagt. Wir gehen erst morgen in sein Zimmer. Es ist sicherer.“ Wieso sollte es morgen sicherer sein?
Nick wartete keine Antwort ab. „Ich muss auf Toilette. Ich weiß nicht warum, aber ich habe irgendwie Blähungen.“, sagte er stattdessen und verschwand Richtung Bad.
„Komisch“, dachte ich, „wenn wir Pech haben, bleibt Charlie morgen den ganzen Tag hier. Dann können wir vergessen, dass wir unbemerkt in sein Zimmer kommen.“
Ich stand auf und ging ebenfalls die Treppe nach oben. Chrissie telefonierte immer noch. Wahrscheinlich tat es ihr einfach gut, mit ihren Eltern zu reden. Nick war auch noch im Bad.
„Was soll’s“, überlegte ich, „Charlie ist nicht da. Und er wird bestimmt nicht so schnell zurückkommen.“ Und so lange Nick mir keine Argumente nannte, warum wir nicht heute schon in Charlies Zimmer gehen sollten, würde ich mich nicht davon abhalten lassen.
Na gut, ich gebe es zu. Nicks Einfall hatte mich neugierig gemacht. Und wenn es tatsächlich etwas in Charlies Zimmer gab, das dort nicht hingehörte, oder das ihn auf irgendeine Weise verriet, würde ich es lieber heute als morgen finden. Schon allein deswegen, damit er keine Chance hatte, es heute Abend doch noch irgendwie verschwinden zu lassen.
Ich öffnete Charlies Zimmertür und trat ein. Auf den ersten Blick sah alles ganz normal aus. Wo würde man am Ehesten etwas finden? Ich sah auf dem Schreibtisch nach. Nichts.
Auch in den Schreibtischfächern war nichts Auffälliges zu entdecken. Ich sah mich im Zimmer um. Vielleicht war etwas unterm Bett. Ich kniete mich hin und warf einen Blick darunter. Nein. Da war nichts.
Ich nahm mir den Schrank vor. Fehlanzeige. Auch in den Regalen war nichts zu finden. Außer einer dicken Staubschicht, die sich über alles gelegt hatte, konnte man rein gar nichts beanstanden.
„Was machst du da?“
Ich erschrak fast zu Tode. Nick stand in der Tür.
„Ich habe dir doch gesagt, wir gehen erst morgen hier rein!“
„Wieso?“
„Weil...weil“, es fiel ihm nichts ein, als er hereinkam.
„Weil es sicherer wäre?“
„Ja, genau. Er weiß, dass wir ihn nicht in Ruhe lassen, bis wir ihm seine Schuld nachgewiesen haben.“
„Ach was. Hier ist sowieso nichts.“
Ich ging an ihm vorbei aus dem Zimmer.
„Hey! Was ist das denn?“, rief er überrascht.
Ich ging wieder hinein. „Hast du was gefunden?“
Er zeigte mir einen kleinen Zettel.
„Sie sind nun seit über dreißig Jahren verheiratet. Haben Sie denn niemals an Scheidung gedacht?“. – „An Scheidung nicht, nein… Aber an Mord“, las er vor.
„Schon wieder einer von Charlies bescheuerten Witzen“, sagte ich, „komm, lass uns gehen.“
„Wieso? Das ist doch ein Beweisstück, oder?“
„Was soll das schon beweisen? Dass Charlie einen schlechten Humor hat? Wo hast du den Zettel überhaupt gefunden?“
„Der lag hier auf dem Schreibtisch.“
Was? Auf dem Schreibtisch? Ich hatte den Schreibtisch doch abgesucht.
„Bist du sicher?“, hakte ich nach.
„Ja klar“, sagte er, „genau hier.“
Das war unmöglich.
„Nick“, fragte ich, „wo hast du den Zettel wirklich her? Ich weiß, dass da kein Zettel gelegen hat, als du rein gekommen bist.“
„Was willst du mir damit unterstellen?“
„Nichts. Aber da war kein Zettel.“
Wütend sah er mich an. „Du glaubst mir nicht? Willst du etwa sagen, dass ich den Zettel hier herein gebracht habe?“
Das hatte ich doch gar nicht gemeint.
„Ich sag dir mal was. Du hast Recht. Ich habe den Zettel wirklich mitgebracht. Du kennst mich zu gut. Aber Charlie kennst du nicht.“
Er war total aufgebracht.
„Wieso hast du das mit dem Zettel gemacht? Das ist doch kein Beweis gegen ihn. Außerdem gibt es bestimmt genug richtige, echte Beweise. Wir müssen eben weitersuchen.“
Nick schüttelte den Kopf.
„Du verstehst es nicht, oder? Wo keine Beweise sind, muss man eben welche hintun!“
Ich verstand ihn wirklich nicht. Das brachte doch gar nichts.
„Vielleicht gibt es in der Garage irgendetwas“, schlug ich vor, „Oder was ist mit seinem neuen Geldbeutel?“
„Hör auf!“, schrie Nick mich an. Er war voll am Durchdrehen. Sandys Tod hatte ihn zu sehr mitgenommen. Es war klar, dass er um jeden Preis Rache wollte. Die würde er bekommen.
Es war nur noch eine Frage der Zeit. Aber falsche Beweise?
„Hör endlich mit Charlie auf! Du wirst nie Beweise gegen ihn finden!“
„Quatsch, Nick! Er wird für das büßen, was er getan hat.“
Er atmete heftig.
„Es gibt keine Beweise gegen ihn, verstehst du nicht?“
Nick stellte sich in den Türrahmen und versperrte mir den Weg. Sein Gesichtsausdruck war verzerrt. Ich glaube, er hielt es einfach nicht aus, dass wir Charlie noch nichts anhaben konnten.
„Ich weiß, dass du Sandy geliebt hast“, beteuerte ich, „und genau deshalb müssen wir Charlie das Handwerk legen. Wir wissen doch beide, dass er sie umgebracht hat. Es muss Beweise geben!“
„Nichts weißt du!“, flippte er aus, „Als ob es mir um Sandy gehen würde. Diese Schlampe!“
Was? Jetzt war er völlig am Austicken. Sandy eine Schlampe? Wusste er überhaupt, was er da sagte?
„Oh ja. Charlie wird dafür büßen, was er getan hat. Dieser Mistkerl! Du denkst, dass er mit dir um Chrissie kämpfen will? Vergiss es! Er hat sich an Sandy herangemacht. Und sie...“
So wütend hatte ich ihn noch nie erlebt. Jeder Muskel in seinem Körper war angespannt. „...sie...“ Er sank auf den Boden. „Nick“, flüsterte ich und machte einen Schritt auf ihn zu.
Mir war klar, was er sagen wollte. Ich konnte es mir einfach nicht vorstellen. Charlie und Sandy? Er musste etwas falsch verstanden haben.
„Aber dann hätte er sie doch niemals umgebracht...“, sagte ich und versuchte eine Erklärung zu finden, „...sie war dir bestimmt treu. Das hat er nicht eingesehen und sie deshalb...“
„Hör auf!“, zitterte Nick, „Hör endlich auf damit! Sandy war mir nicht treu! Verstehst du? Sie hat nur mit mir gespielt!“
„Nein Nick. Das glaub ich nicht. Wieso hätte Charlie denn dann...“
„ER hat sie nicht umgebracht, du Nullpeiler!“
Er stand auf und kam auf mich zu. Ich wich einen Schritt zurück. Auf einmal wurde mir klar, was er versuchte, mir zu sagen. Aber das konnte nicht sein. Charlie war der Böse. Nicht Nick.
Doch dann bestätigte mir Nick meine Gedankengänge.
„Ich habe Sandy umgebracht.“
Mir lief ein Schauer über den Rücken, als er näher kam. Was sollte ich tun? Nick war ein Mörder.
„Du hättest das nicht erfahren sollen, Jim. Das...“
Er war nur noch einen halben Meter von mir entfernt. Wie hatte er seine Freundin umbringen können? Auch wenn es stimmte, dass sie fremdgegangen war, was ich mir nicht vorstellen konnte, war sie doch immer noch eine Freundin von ihm!
Ich lief rückwärts und stieß gegen den Schrank. Ich konnte nicht davonlaufen. Aber das musste ich doch auch gar nicht, oder? Er wusste doch, dass ich ihn nicht verpetzen würde. Dann hatte er auch keinen Grund, mir etwas anzutun. Ich spürte: Ich hatte Angst vor ihm.
„Ich sage niemanden etwas“, drückte ich mich an den Schrank.
„Das bringst du nicht fertig. Ich kenne dich. Du wirst nicht damit klar kommen, dass ich ein Mörder bin. Aber ich musste es tun!“
Was redete er da? Er hätte sie nicht umbringen müssen! Er hätte sie überhaupt nicht umbringen dürfen! Ich sah ihm an, dass er von dem, was er gesagt hatte, überzeugt war.
„Nick!“, flehte ich.
Er stand direkt vor mir. Was würde er tun?
„Du hättest das nicht erfahren sollen“, wiederholte er.
Dann riss er die Hände nach vorne. Er packte meine Kehle und drückte zu.


Kapitel 39

Verzweifelt versuchte ich mich aus seinem Griff zu befreien. „Lass los!“
Ich schnappte nach Luft. Nicks Hände schlossen sich noch enger um meinen Hals. „Hör auf!“, wollte ich mich wehren, brachte aber nur ein leises Gekrächz hervor. Ich fing an, nach ihm zu treten, um ihn loszuwerden.
Als ich ihn am Schienbein traf, lockerte er für einen Moment seinen Griff und schrie auf. Das war meine Chance. Ich duckte mich an ihm vorbei. Doch er hatte sich wieder gefasst und war kurz davor, mich zu packen.
„Nein!“ Fassungslos blieb ich stehen. Charlie stand in der Tür und versperrte mir den Ausweg. Ich saß in der Falle.
„Was ist denn hier los? Wieso schnüffelt ihr in meinem Zimmer herum?!“
„Wieso bist du zurückgekommen?!“
Auf einmal wusste ich, wie ich mich retten konnte. Ich saß doch gar nicht in der Falle. Charlie war kein Mörder. Er würde mir helfen können.
„Charlie! Nick ist der Mörder! ER hat Sandy umgebracht!“
„Lügner!“
Nick stritt es doch tatsächlich ab.
Er hatte Sandy getötet und gab Charlie die Schuld daran?
Das konnte ich nicht glauben.
„Glaub ihm kein Wort! Er war es! Jim hat sie auf dem Gewissen!“
Schockiert sah ich ihn an. Ich? Ich sollte der Mörder sein? Charlie sah uns verwirrt an. Hoffentlich glaubte er nicht, dass ich es tatsächlich gewesen war.
„Charlie, nein! Ich war es nicht!“, beteuerte ich meine Unschuld und hob abwehrend die Hände.
„Wer von euch war es?!“
Wenn er jetzt Nick glaubte, würde ich hier nicht wieder heil herauskommen. Was konnte ich sagen?
„Stimmt es, dass du was mit Sandy hattest?“, wagte ich es Charlie zu fragen, „Nick hat gesagt er hat euch gesehen. Deshalb hat er sie umgebracht! Ich dachte, du wolltest unbedingt mit Chrissie zusammenkommen. Wie kommst du dann dazu, Nick die Freundin auszuspannen?!“
„Was? Chrissie?“
Charlie tat so, als wäre er überrascht.
„Charlie hat vielleicht einen komischen Geschmack“, murmelte er leise, aber laut genug, dass Nick und ich es hören konnten.
Was hatte er damit gemeint? Er war doch schließlich Charlie. Obwohl er sich in letzter Zeit drastisch verändert hatte. Aus einem Freund war ein richtiger Feind geworden. Er war so anders. Sogar seine Unterschrift hatte er abgeändert.
Und Nick? War er noch mein Freund? Er wollte mir einen Mord unterschieben. Ich musste wissen, ob es ihm wenigstens Leid tat, Sandy getötet zu haben. Es gab doch so etwas wie Reflexhandlungen.
„Nick, du hast das im Affekt getan, nicht? Es tut dir bestimmt leid, oder?“ Charlie fixierte Nick.
„Warum sollte es? Sie hat mich betrogen“, sagte er kalt.
„Aber deshalb hättest du sie doch nicht gleich umbringen müssen!“
Charlie sah Nick an. „Du warst es? Du bist ein Mörder? Und du beschuldigst mich? Ich hätte wissen müssen, dass du es warst!“
„Du bist doch selber ein Mörder!“, schrie Nick mit überschnappender Stimme. Wie konnte er Charlie die Schuld an Sandys Tod geben? Charlie würde sich das nicht gefallen lassen.
Nick konnte froh sein, wenn er hier heil herauskam.
„Jim? Ruf die Polizei! Oder willst du einen Mörder laufen lassen?“
Was? Charlie wollte das nicht auf seine Art regeln? Keine Prügelei? Nick warf mir einen durchdringenden Blick zu. Konnte ich es bringen, ihn anzuschwärzen? Wenn ich jetzt die Polizei anrief, würde das unsere Freundschaft zerstören.
Aber hatte Nick das nicht längst getan?
„Na los! Worauf wartest du? Mach endlich!“, forderte Charlie mich erneut auf. Unsicher holte ich mein Handy hervor.
„Tu das nicht!“, ermahnte mich Nick. Mit zitternden Händen schaltete ich das Handy ein. „Der Akku ist fast leer“, wurde mir klar, als ich das Mobiltelefon anstarrte. Ich wusste nicht, ob ich erleichtert sein sollte.
Charlie schien nichts zu merken. Meine Hände waren feucht.
„Du machst einen großen Fehler“, redete mir Nick ins Gewissen, „leg das Ding weg!“
„Mach endlich!“
Ich wusste nicht, ob ich es tun sollte. Unentschlossen drückte ich auf dem Handy herum. Dann gab ich mir einen Ruck. Nick war ein Mörder. Und er hatte nicht davor zurückgeschreckt, auch mir wehzutun.
Es würde ihm nichts bringen, auf mich einzureden. Kurz bevor ich tatsächlich die Polizei gerufen hätte, war der Akku endgültig leer. Ich konnte nicht mehr anrufen und Nick verpetzen.
Als ich es Charlie sagte und er mir sein Handy gab, wurde mir klar, dass Charlie doch nicht ganz astrein war. Es war nicht sein Handy. Hatte er es geklaut? Nick hatte angefangen, Charlie zu beschimpfen und die beiden waren drauf und dran, aufeinander los zu gehen.
Sie bekamen nicht mit, dass ich eine SMS entdeckt hatte. Und ich konnte es nicht lassen sie zu lesen.
„Hi Chase! Wo bist du? Wann können wir uns sehen? Ich muss mit dir reden. Morgen um drei im Urnenfeld? Sandy.“
Ungläubig starrte ich die SMS an. Was hatte das zu bedeuten? Chase? Wer war Chase? Und wieso hatte Charlie sein Handy? War es wirklich geklaut? Oder gehörte es doch Charlie und er hatte sich am Ende als Decknamen Chase genannt, damit wir, falls wir herumschnüffelten, nicht dachten, es sei seins? Aber was hätte das gebracht?
Was, wenn es unsere Sandy war, die die SMS geschrieben hatte? Charlie hatte mir keine Antwort gegeben, als ich ihn gefragt hatte, ob er tatsächlich etwas mit ihr gehabt hatte. Ich konnte unmöglich die Polizei anrufen, bevor ich nicht wusste, was hier gespielt wurde. „Jim! Was ist los? Wieso rufst du nicht endlich an!?“
Oh nein! Was sollte ich Charlie sagen? Sollte ich ihm die SMS zeigen? Nein. Oder doch? Ich hatte keine Zeit, lange zu überlegen.
„Und wen von euch beiden soll ich als Täter angeben?“, versuchte ich, ihn aus der Reserve zu locken. „Hier ist gerade eine Nachricht gekommen. Aber sie ist nicht für dich, Charlie.“
„Gib das Handy her!“, schrie mich Charlie an und versuchte, es mir wegzunehmen. Also doch! Wenn er nichts zu verbergen gehabt hätte, hätte er sich nicht so aufgeregt.
„Wieso willst du sie lesen? Sie ist doch nicht für dich!“
Ich sah ihn forschend an. „Chase!“
„Chase?“, fragte Nick, der uns beobachtete. Auch ich war gespannt, was Charlie uns erzählen würde.
„Wer ist Chase?“
„Tu doch nicht so, Charlie! Du hast ein Handy, das einem Chase gehört und bekommst eine SMS von Sandy?“
Charlie lief rot an. „Ja! Sandy ist ein tolles Mädchen! Das wollt ihr doch hören, oder? Als ich sie zum ersten Mal gesehen habe, habe ich mich sofort in sie verknallt.“
Mir verschlug es die Sprache. Es stimmte also? Aber etwas war faul. Auf einmal hatte ich ein merkwürdiges Gefühl. Er kannte sie doch auch schon ziemlich lange. Es waren mindestens fünf Jahre.
Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er die ganze Zeit Gefühle für Sandy gehabt hatte. Nicks Blick sagte mir, dass auch er ihm nicht glaubte.
„Und wer ist Chase?“
„Woher soll ich das wissen?“, log er. Nick war auch klar, dass Charlie uns nicht die Wahrheit sagte. Was versuchte er uns zu verheimlichen?
„Hast du das Handy geklaut, oder was?“, hakte ich nach. „Nein, äh, ja...“
Was denn nun? Hatte er es geklaut oder nicht? Nick biss die Zähne zusammen. „Jetzt sag endlich, wer Chase ist!“, brachte Nick zähneknirschend hervor, „Was hast du mit diesem Typen gemacht? Ihn umgelegt?“
Mir fiel wieder ein, wieso ich überhaupt Charlies Handy genommen hatte. Nick war ein Mörder.
Und jetzt wollte er bei Charlie den Moralapostel spielen? Ich wusste nicht, was Charlie getan hatte. Aber ein Mörder war er jedenfalls nicht. Nick konnte Charlie nicht für Sandys Tod verantwortlich machen.
„Mörder!“, fauchte Nick ihn trotzdem an.
„Er hat Sandy nicht umgebracht!“, verteidigte ich Charlie. Nick funkelte mich böse an. „Misch dich nicht ein! Du bist doch selber nicht sauber!“
„Ich habe niemanden umgebracht! Und Charlie auch nicht!“, schrie ich zurück und schüttelte den Kopf. Wollte Nick mich jetzt auch noch schlecht machen? Das ging einfach zu weit!
„Mörder! Alle Beide!“ Nick drohte zu explodieren. Er konnte die Tatsachen doch nicht so verdrehen, wie er sie haben wollte! Er musste endlich begreifen, dass nur er alleine für Sandys Tod verantwortlich war. Doch als ich es ihm sagte, ging er auf mich los. Charlie versuchte zwar ihn zurückzuhalten, aber Nick war nicht zu bremsen.
„Ihr habt meinen Vater auf dem Gewissen! Ich hasse euch!“


Kapitel 40

Ich glaubte mich verhört zu haben. „Ich hasse euch!“, wiederholte Nick und hämmerte mit den Fäusten auf mich ein. Er drückte mich auf den Boden hinunter. Wieso half mir Charlie nicht?
„Lass ihn los!“, rief Charlie endlich, doch Nick konnte sich nicht beruhigen. „Nick!“ Plötzlich hörte Nick auf Charlie. Was war passiert? Ich sah auf. „Was?“, dachte ich entsetzt, als ich sah, dass Charlie eine Pistole auf Nick gerichtet hatte.
„Wie hieß dein Vater?“, fragte er ihn, während er die Waffe langsam senkte.
„Wieso interessiert dich das? Es geht dich nichts an!“
„Wie hieß er? Danny Chatterson?“
„Ja. Woher weißt du das?“ Nicks Stirn legte sich in Falten.
„Charlie war angespannt. Was sollte das? Ich verstand überhaupt nichts. Wieso ging es plötzlich um Nicks Vater? Ich hatte seinen Vater nie gesehen. Und auf einmal behauptete er, dass Charlie und ich etwas mit seinem Tod zu tun haben sollten?
Nick brach zusammen. Er brauchte Hilfe. Charlie legte die Pistole weg und griff nach seinem Handy, das vor mir auf dem Boden lag. Ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte.
Was war mit Nick los? Er rührte sich nicht. Auf einmal machte ich mir Sorgen um ihn. Was, wenn er psychisch total überfordert war? Wahrscheinlich konnte er mit Sandys Tod nicht umgehen. Wer konnte das schon?
Er hatte es bestimmt nicht wirklich gewollt. Und jetzt wurde er nicht damit fertig. Charlie wählte den Notruf. Was würde mit Nick passieren? Ich sah ihn an und schaffte es gerade noch, Charlie zu warnen.
„Vorsicht!“, rief ich, als Nick sich blitzschnell aufrichtete und die Pistole in seinen Besitz brachte. Ich bereute, mir Sorgen um ihn gemacht zu haben.
„Charlie und Jim. Ihr seid nicht meine Freunde!“
Damit hob er die Waffe.
„Tu das nicht! Ich bin nicht Charlie!“
Verblüfft sah ich Charlie an. Nick ließ sich nicht beeindrucken.
„Eure Väter haben meinen Vater umgebracht! Und Sandy hat mich betrogen! Ihr seid doch keine Freunde!“
„Ich bin nicht Charlie! Du bestrafst den Falschen, wenn du jetzt schießt!“
Wer sollte er denn sonst sein? Er glaubte doch nicht etwa, dass er einfach sagen konnte, er sei nicht Charlie und Nick würde ihm glauben?
„Nick! Ich bin Chase! Charlies Zwilling.“
„Und wo bitte ist dann Charlie?“, wollte Nick wissen.
„Er ist tot. Er hat nicht glauben wollen, was früher passiert ist.
Er wollte mich nicht als Zwilling akzeptieren.“
Was erzählte er da? Ein Zwilling? Damit würde er Nick nie überzeugen können. Doch Nick schien tatsächlich in Erwägung zu ziehen, dass er die Wahrheit sagte. „Charlies Zwilling? Du lügst! Du bist Charlie! Dein Zwilling ist tot! Und du wusstest, was mit meinem Vater passiert ist und hast mir nie etwas gesagt?“
„Nein! Du verstehst nicht! Ihr wart doch am See, nicht? Das war ich, der euch verprügelt hat. Nicht Charlie! Ich dachte, er würde bleiben wollen. Ich bin schließlich sein Zwilling. Ich wollte, dass ihr ihn hasst und ihn gehen lasst.“
„Und Sandy? Du würdest sie gar nicht kennen, wenn du nicht Charlie wärest!“ – „Ich habe sie getroffen. Am Kino. Ich wusste, dass sie auch zu euch gehört. Das mit dem Stein, das war auch ich. Es sollte so aussehen, als wäre es Charlie gewesen. Und dann habe ich sie näher kennen gelernt.“
„Du bist es wirklich?“
„Ja!“
„Du lebst? Alle denken, du bist tot! Außerdem ändert das nichts. Mein Vater ist tot. Deiner lebt!“
„Mich haben meine Eltern im Stich gelassen. Sie haben einfach nicht weiter nach mir gesucht. Ich hatte genauso wenig von meinem Vater wie du!“ Nick fuchtelte mit der Pistole in der Luft herum.
„Glaub mir! Ich bin nicht Charlie!“
„Und du hast Charlie umgebracht? Er hat nichts gewusst? Heißt dass, dass der See...“
Charlie nickte. Charlie? Oder Chase? Ich wusste überhaupt nicht, worüber die beiden die ganze Zeit redeten!
„Okay! Chase. Du hast Charlie getötet. Somit muss ich es nicht mehr tun. Aber was ist mit Jim?“
Beide sahen mich an. Das konnte doch nicht ihr ernst sein! Doch Nick richtete die Waffe tatsächlich auf mich. Und Charlie? Würde er das einfach so zulassen? Auf einmal hatte ich einen merkwürdigen Gedanken.
Was, wenn er die Wahrheit gesagt hatte. Wenn er wirklich nicht Charlie war? Die Unterschrift. Sein komisches Verhalten. Es würde erklären, wieso er plötzlich Sandy gemocht hatte.
Weil er nicht Charlie war. Sondern jemand anderes. Chase. Aber ich verstand nicht, warum Charlie einen Zwilling haben sollte. Konnte er nichts davon gewusst haben? Nick schien ihm jedenfalls zu glauben. Wie viel wusste er? War er wirklich im Stande, mich umzubringen?
„Nick! Ich weiß nicht, was mit deinem Vater passiert sein soll! Ich habe nichts mit seinem Tod zu tun!“ Er musste mir doch glauben!
„Du nicht. Aber dein Vater! ER war dabei, als mein Vater gestorben ist!“ Was wollte er damit sagen? In meinem Kopf drehte sich alles. Charlie war nicht mehr Charlie und mein bester Freund drohte auf mich zu schießen? Ich kam mir vor wie im falschen Film.
Und dann kam die mit Abstand unangenehmste Filmszene.
Nick drückte ab.


Kapitel 41

Nein!“, schrie Chrissie und kam ins Zimmer gestürzt. Sie lief auf mich zu und kniete sich zu mir hinunter. Im nächsten Moment tauchten zwei Polizisten auf, die Nick und Charlie festnahmen.
Mir war klar, dass Chrissie sie gerufen haben musste. Ich glaube, ich war nie erleichterter gewesen, Polizisten zu sehen, als jetzt. Zum Glück hatte ich nur einen Streifschuss abbekommen. Ich sagte mir immer wieder, dass Nick absichtlich daneben geschossen hatte.
Was würde jetzt mit ihm passieren? Musste er ins Gefängnis? Konnte es wirklich sein, dass mein bester Freund im Gefängnis landen würde? Und wenn schon“, sagte ich mir, „er hat auf dich geschossen.“
Als die Polizisten Nick und Chase aus dem Zimmer zerrten, wurde mir schlecht. Mein Mageninhalt entleerte sich auf dem Teppichboden und ein übler Geruch verbreitete sich im Zimmer, sodass auch Chrissie würgen musste.
Ich warf Nick einen letzten Blick zu. Dann konnte ich ihn nicht mehr sehen. Ich hatte Charlie für einen Mörder gehalten und dann? Dann hatte sich herausgestellt, dass nicht er, sondern Nick der Mörder war. Und Charlie war von seinem eigenen Zwillingsbruder ermordet worden.
Das wollte alles nicht in meinen Kopf. Es machte für mich keinen Sinn. Wahrscheinlich wollte ich es auch gar nicht begreifen. Auch in den nächsten Tagen war ich völlig durcheinander.
Chrissie und ich waren mit dem Zug zurück nach Ohio gefahren. Ich hatte erfahren, dass Nick in eine psychiatrische Klinik gekommen war. Was mit Charlies Zwillingsbruder passieren würde, war noch unklar, aber ich hoffte, dass ich ihn nie wieder sehen würde.
Die Stimmung war gedrückt. Chrissie stand dicht neben mir und ich hatte einen Arm um ihre Schultern gelegt. Vergeblich versuchte sie, die Tränen zurückzuhalten. Sie hatte die goldblonden, schulterlangen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Die Farbe der Haare hob sich auf dem schwarzen Blazer, den sie trug, besonders ab.
Auch ich war schwarz gekleidet. Wir waren auf der Beerdigung von Sandy und Charlie. Ihre Gräber lagen direkt nebeneinander. Es wehte ein kühler Wind. Der Sommer war zu Ende und der Herbst hatte begonnen.
Während der Pfarrer ein Gebet sprach, sah ich in die Runde. Neben unseren Eltern waren auch ein paar unserer Klassenkameraden da. Ihre Gesichter sahen verstört aus. Auch Ron war mitgekommen. Er verschonte mich. Ja, er war sogar nett zu mir. So hatte ich ihn noch nie erlebt.
Mir fiel auf, dass meine Eltern nicht zum Pfarrer hinsahen. Und dann entdeckte ich eine etwas abseits stehende Frau. Ihr Gesicht war verheult. Es war Nicks Mutter. Wahrscheinlich wagte sie es nicht, näher zu kommen. Irgendwie tat sie mir leid. Aber wieso hatte sie Nick nicht die Wahrheit gesagt?
Dann wäre das Ganze vielleicht gar nicht passiert. Vielleicht hatte sie verhindern wollen, dass Nick von dem Unfall seines Vaters erfuhr, damit er Charlie und mir nicht die Freundschaft kündigte.
Und genau das war ja letzten Endes passiert. Sie hatte ja gewusst, dass wir uns so gut verstanden und geahnt, wie Nick reagieren würde, falls er herausfand, dass meine und Charlies Eltern am Tod seines Vaters nicht ganz unschuldig gewesen waren.
Chrissie bemerkte, was in mir vorging. „Wirst du Nick besuchen?“
„Ich weiß es nicht“, flüsterte ich und gab ihr einen sanften Kuss.
„Irgendwann werde ich ihm vielleicht auch so wieder über den Weg laufen. Vielleicht.“


Impressum

Tag der Veröffentlichung: 03.07.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für meine beste Freundin

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