Dies ist die Geschichte meiner Mutter, die ich schon lange niederschreiben wollte. Doch irgendwie fehlte mir die Zeit und die Muße, dies zu tun.
Da es keine Biographie werden sollte, sind dieser Geschichte Gespräche beigefügt, die teilweise der Realität entsprechen, teilweise Fiktionen sind, doch die wichtigsten Inhalte sind wahrheitsgemäß. Für die jeweiligen Zeiten lege ich nicht die „Hand ins Feuer“. Denn alle Tatsachen entsprechen meiner Erinnerungen und den Erzählungen meiner Großtante Frieda und meiner Mutters Tagebücher, die sie seit ihrem 10. Geburtstag geführt hatte.
Ich habe dieses Buch meiner Großtante Frieda und meiner Mutter gewidmet, denn sie waren zu Lebzeiten für mich das, was man heute wohl „Leitfigur“ nennt.
Tante Frieda war eine große, schlanke, intelligente und vornehme Frau, die leider verarmt gestorben ist.
Sie war die ältere Schwester meines Großvaters und fügte in den Kriegswirrungen die Familie immer wieder zusammen.
Meine Mutter starb mit 58 Jahren an Krebs und hatte immer den Wunsch, einmal in ihre Heimat zurückzukehren. Diesen Wunsch konnte sie sich nie erfüllen…
Viele, in diesem Buch vorkommenden Personen sind mittlerweile verstorben. Ihre Namen habe ich geändert, da mir viele Personen nicht bekannt sind und ich nicht weiß, was aus ihnen geworden ist. Lediglich die Freundin meiner Mutter, die hier im Buch „Judith“ heißt, meine Tante und mein Onkel leben noch.
Danken will ich Judith, für ihre Unterstützung zu diesem Buch.
Als Du das das Buch gelesen hast, Dir die Tränen der Erinnerung, des Schmerzen und der Anstrengungen des Erlebtens gekommen sind, wusste ich, dass es richtig war, auch Deine Erinnerungen nieder zu schreiben.
Du wirst immer eine Freundin und eine besondere „Tante“ für mich sein….
„Es ist ein Mädchen.“
„Sie soll Waltraut heißen“ , sagte mein Großvater Kurt. Leicht enttäuscht ging er zu meiner Großmutter und nahm sie in den Arm und gab ihr einen kurzen Kuss auf die Wange. Noch völlig entkräftet von der Geburt sagte sie: “Das nächste Kind wird ein Stammhalter.“
Mein Großvater verließ die Geburtsstätte meiner Mutter und machte sich auf den Weg von Dembowo nach Wirsitz, um dort meine Mutter in das hiesige Geburtenbuch eintragen zu lassen.
Unterwegs vom Gut nach Wirsitz gab es die eine oder andere Wirtschaft, wo er mit seinem Verwalter einkehrte, um auf die Geburt meiner Mutter einen zu trinken. Ganz, wie es halt üblich war.
Einen Tag später kam er dann auf das Amt an und der Standesbeamte, polnischer Herkunft, des Deutschen nicht mächtig, trug als Geburtsdatum meiner Mutter den 30.03.1931 ein und aus dem Namen „Waltraut, machte er „Waldtraudt“.
Obwohl – der Name Waldtraudt passte zu meiner Mutter. Das Gut, in dem meine Mutter das Licht der Welt erblickte, war umgeben von einem herrlichen Wald. Und auf einer Lichtung des Waldes gab es einen kleinen See, wo sie später sehr oft mit ihrer Freundin spielen sollte.
Meine Mutter wuchs in einem alten Rittergut in Dembowo auf und hatte eine unbeschwerte Kindheit. Auch wenn mein Großvater sich einen Stammhalter wünschte, ging er doch liebevoll mit dem kleinen Mädchen um. Er zeigte ihr alles, was es in der Umgebung gab, ging mit ihr im Wald spazieren, zeigte ihr, wie man mit Pferden umgeht und lehrte ihr das Reiten.
Meine Mutter sagte mir, dass sie es genoß, solch einen Vater zu haben, der immer Zeit für sie hatte. Wenn es auf dem Gut Verwaltungsarbeiten gab, saß sie meistens bei ihrem Vater auf dem Schoß und lernte so, irgendwann seine Aufgaben selbst zu übernehmen, denn von einem Stammhalter war nach wie vor nichts in Sicht.
Meine Mutter liebte das große Haus, den großen Empfangssaal, das Arbeitszimmer, das sogleich von dem Empfangssaal abging. Die große Küche, in der es nach ihren Erzählungen von Personal nur so wimmelte, den Keks, den sie immer von der Köchin eingesteckt bekam, dem Verwalter, der sie auf das Pferd setzte, wenn mein Opa keine Zeit für seine Tochter hatte und natürlich von dem großen Park, der sich vor und hinter dem Gut erstreckte.
Mein Großvater hatte eine Schwester, Tante Frieda, die als „Hausdame“ auf dem Gut fungierte und die ein sehr gutes, schwesterliches Verhältnis sowohl zu ihrem Bruder, als auch zu ihrer Schwägerin hatte. Hatten weder Mutter noch Vater Zeit, kümmerte sich Tante Frieda um ihre kleine Nichte.
Tante Frieda erzählte meiner Mutter vorm Schlafengehen Geschichten und zeigte ihr schon von klein auf, welche Haushaltspflichten eine „Dame aus gutem Hause“ hat,
So vergingen einige glückliche Jahre.
Meine Mutter war bereits 7 Jahre alt, als sie sich am 24.12.1938 einem Schwesterchen gegenüber stand.
Meine Tante wurde geboren. Wieder kein Stammhalter. Meine Großtante erzählte mir, dass mein Großvater sehr niedergeschlagen war, denn es war üblich, dass ein männlicher Nachfolger die Geschicke des Gutes und der dazugehörigen Wirtschaften übernahm, auch war der Gutsbesitzer gleichzeitig „Richter“ bei nachbarlichen Streitigkeiten. Das dies von einer Frau übernommen werden könnte, war undenkbar.
Meine Mutter freute sich, dass nun auch sie ein Schwesterchen hatte und behütete mit Tante Frieda die kleine Christa. Es war klar, dass an Christus Geburt nur der Name Christa in Frage kam, denn meine Großmutter war eine gläubige Person.
Aber, was kann man mit einem Baby schon anfangen? Nicht viel….
Gut, dass meine Mutter Judith hatte. Judith war die Freundin meiner Mutter. Obwohl mein Großvater es nicht gerne sah, hatten sich meine Mutter und Judith angefreundet.
Judith war die Tochter einer Angestellten, tagtäglich im Gut unterwegs und hatte allerlei Streiche im Kopf.
„Willst du mein Schwesterchen sehen?“, fragte meine Mutter Judith.
„Ich darf doch nicht in euer Schloss.“ entgegnete Judith.
„Das ist kein Schloss, das ist ein Gut! Und wenn ich dir erlaube, mit mir zu gehen, wer sollte da was gegen haben?“
„Ich weiß nicht…“
„Schluss, du kommst mit, ich zeige dir Christa.“
Meine Mutter nahm sich Judiths Hand und ging auf die Freiheitstreppe zu, die zum Haupteingang des Gutes führte.
„Wir sollten lieber durch den Seiteneingang gehen, da wo die Bediensteten das Gut betreten,“ meinte Judith.
„Da kannst du Recht haben, sonst laufen wir dem Karl in die Arme.“ Karl war der Gutsverwalter meines Opas, der ihn in allen Sachen vertrat, weilte er einmal nicht auf dem Hof, so wie jetzt, wo mein Großvater Christa ins Geburtsbuch eintragen ließ.
Also gingen sie rechts an der Freiheitstreppe vorbei und schlichen sich in den Boteneingang. Dadurch mussten sie jedoch durch die Küche und trafen auf die Köchin.
„Was machst du denn hier, Judith, du hast hier im Gutshof nichts zu suchen“ schimpfte dies auch sofort los, als sie die beiden gewahr wurde.
„Ich wollte mit Taudl mit, das Schwesterchen anschauen.“
„Raus mit dir, du Göre, noch einmal… Du hast hier nichts zu suchen“.
„Ich will aber, dass Judith mein Schwesterchen kennen lernt“, setzte meine Mutter sich für ihre Freundin ein.
„Das kommt gar nicht in Frage. Judith ist im Gutshof nicht erwünscht. Du solltest dich auch nicht immer mit ihr herumtreiben!“
„Liesel, ich bin hier das gnädige Fräulein, also mach uns jetzt den Weg frei und lass mich und Judith durch. Judith ist meine Freundin und ich nehme wen mit, wie es mir passt. Zur Seite!“ schrie meine Mutter die Köchin an und schritt Hand in Hand mit Judith durch die große Küche, ohne der Köchin auch nur eines weiteren Blickes zu würdigen.
Judith machte große Augen, das war sie bisher von ihrer Freundin nicht gewohnt. Noch größer wurden ihre Augen, als sie den Empfangssaal betraten. So etwas Großes und Beeindruckendes hatte sie nicht erwarten. Dominiert wurde der Empfangssaal von einem großen Kamin, an den Wänden standen lediglich einige Stühle und große Gemälde beherrschten sie.
„Wer sind all diese Menschen auf den Bildern?“ fragte Hudith schüchtern.
„Ach nur irgendwelche meiner Vorfahren. Ich finde sie stellenweise gruselig. Sieh dir nur mal den da an,“ sie zeigte auf ein großes Bild, das zu ihrer Rechten hing, "die Augen machen mir immer Angst. Ich mag hier nicht gerne sein. Komm lass uns nach oben gehen. Wir gehen jetzt zu Christa.“
Meine Mutter zog Judith an der Hand und sie liefen die Treppe, die für Judith irrsinnige groß erschien, hoch. Oben angekommen lehnte sich Judith erst einmal über das Treppengelände und betrachtete die Halle von oben.
„Man ist das groß hier.“
„So groß ist der Saal gar nicht. Du musst mal herkommen, wenn wir hier Weihnachten mit allen Bediensteten feiern, da hat man keinen Platz.“
„Gibt es hier auch Tanzbälle, wie sie in den Geschichten vorkommen, so mit Prinzessinnen und Prinzen?“
Meine Mutter lachte. „Früher gab es das hier bestimmt. Aber seit ich denken kann, haben wir hier immer nur mit den Bediensteten Weihnachten gefeiert. Aber ich kann ja mal bei Gelegenheit Tante Frieda fragen. Die weiß alles…. Aber nun komm schon, da hinten ist mein Zimmer, aber zuerst gehen wir uns Christa angucken. Du musst aber ganz leise sein, sonst wacht sie auf und schreit wieder. Christa schreit den ganzen Tag, wenn sie wach ist. Ich weiß nicht wieso…“
Leise schlichen sie auf Zehenspitzen in das Zimmer, wo Christa mit einer Amme untergebracht war und schlichen sich an das Bett von Christa, doch bevor die beiden auch nur einen Blick auf Christa werfen konnte, wurden sie von der Amme gepackt, an den Ohren gezogen und vor die Tür gesetzt.
„Aua, was war denn das?“ fragte Judith.
„Das ist die Amme. Die macht immer kurzen Prozess!“
„Das hättest du gleich sagen sollen, dann täte mein Ohr mir jetzt nicht weh.“ Böse funkelte Judith meine Mutter an.
„Komm, wir gehen in mein Zimmer und spielen da.“
„Lebt da auch so ein Drachen?“
„Nein, ich habe kein Kindermädchen mehr, ich bin ja auch schon 7 Jahre alt!“
Als meine Mutter die Tür zu ihrem Zimmer öffnete, musste für Judith eine Welt zusammen gebrochen sein.
„Hier schläfst du?“ fragte sie eingeschüchtert.
„Ja, wieso?“
„Dein Zimmer ist ja größer als unsere komplette Hütte. Ich habe nur ein Bett in einer Ecke, du ein großes Bett, Spielsachen, zwei Sessel, einen Tisch und….“ Judith bekam den Mund nicht zu und drehte sich staunend um. So einen großen Raum hatte sie noch nie gesehen, sie kannte nur kleine Räume. Und da – da war tatsächlich auch ein Kamin, in dem ein Feuer brannte, deswegen war es hier so mollig warm, denn es war ja Ende Dezember.
„Bist du eine Prinzessin?“, fragte Judith meine Mutter.
„Nein, ich bin das gnädige Fräulein. Jetzt lass das, lass uns mit den Puppen spielen.“
So spielten sie eine Weile, bis die Tür geöffnet wurde und Tante Frieda den Raum betrat.
„Wen haben wir denn hier?2“fragte sie und sah auf Judith.
„Das ist Judith, meine Freundin.“ antwortete meine Mutter, denn Judith war zu erschrocken auch nur einen Ton herauszubekommen.
„Wo kommst du denn her, Judith.“
„Ich komme von unten, aus dem Dorf. Aber meine Mama arbeitet hier und so bin ich immer jeden Tag hier.“
„Ich habe dich noch nie hier gesehen, wer ist denn deine Mama?“
„Meine Mama ist die Zofe der gnädigen Frau.“
„Du bist die Tochter von Helena?“ fragte meine Mutter dazwischen, „das wusste ich nicht.“
„Ja, meine Mutter heißt Helena.“
Tante Frieda runzelte die Stirn... „Das wird deinem Vater nicht gefallen, Traudl, dass Judith eine Freundin ist, aber mir soll es Recht sein. Die Wege des Herrn sind unergründlich…“
„Papa wird nichts dagegen haben, dass Judith meine Freundin ist.“
„Aber Judith ist eine Jüdin.“ Warf Tante Frieda ein.
„Was ist eine Jüdin?“
„Ach Kind…. Wir sind evangelisch, was an und für sich schon ein Unglück ist, denn wir waren früher katholisch, was viel besser ist, aber eine Jüdin…“
Tante Frieda sprach nicht weiter, dafür meine Mutter: „Was ist den nun eine Jüdin?“
„Das erkläre ich dir, wenn du älter bist. Wenn ihr spielen wollt, dann geht in der Scheune spielen, draußen ist es zu kalt, aber nicht hier im Zimmer.“ tadelte nun Tante Frieda.
Tante Frieda war eine Respektsperson, also machte sich meine Mutter mit ihrer Freundin schnell aus dem Staub. Sie zogen ihre Mäntel an und machten sich auf dem Weg durch die Küche, nicht ohne vorher noch ein paar Kekse stibitzt zu haben, in die Scheune.
„Was ist denn nun eine Jüdin?“ fragte meine Mutter Judith.
„Ich weiß das auch nicht.“ antwortet Judith ihr
„Ist ja auch egal, wir sind Freundinnen, lass uns spielen. Und auf dem Neujahrsfest, dass wir diese Jahr wegen der Geburt meines Schwesterchens anstatt des Weihnachtsfestes feiern, wirst du dabei sein.“
„Meinst du das wirklich?“ strahlte Judith.
„Ja, das meine ich.“
Am 29. des gleichen Monats kam mein Großvater zurück und man teilte ihm mit, dass meine Mutter eine Freundin, die die Tochter der Zofe seiner Frau, meiner Großmutter, war hätte.
Er lies seine Tochter sofort zu sich kommen.
„Traudl, ich habe gehört, du hast eine Freundin?“
„Ja, Vater, die Judith.“
„Das geht aber nicht. Du bist hier das gnädige Fräulein, auch schon in jungen Jahren. Diese Judith passt nicht hier her. Sie ist kein Umgang für dich.“
„Aber Vater, Judith ist doch ein ganz normales Kind, genauso groß wie ich. Und ich habe doch niemanden außer sie, Mutter, Tante Frieda und Christa. Doch mit Christa kann ich nicht spielen, sie ist ja noch soooooo klein.“
Mein Großvater wurde lauter. „Waldtraudt,“ schrie er fast, „ich verbiete dir als dein Vater den Umgang mit diesem Balg.“
„Aber ich habe doch Judith schon zu unserer Feier eingeladen,“ weinte meine Mutter nun.
„Kind“, zornig ging mein Großvater auf seine Tochter zu, „ ich bin dein Vater und wenn ich dir diesen Umgang nicht erlaube, erlaube ich ihn dir nicht. Sei gehorsam, du bist das gnädige Fräulein! Gewöhne dich bei Zeiten an deine Rolle! Und mit dem Spielen ist es jetzt auch aus! Du wirst dich an deine Rolle in unserer Familie und diesem Hof einfinden!“
Meine Mutter weinte still. Die Tür ging auf und meine Großmutter betrat den Raum, sichtlich noch geschwächt von der Geburt.
„Was ist hier los?“ fragte sie und sah zwischen ihrer Tochter und ihren Mann hin und her.
„Ich..“ setzte meine Mutter an.
„Schweig!“ herrschte mein Großvater sie an.
„Lass sie sprechen.“ Milderte meine Großmutter den Einwurf meines Großvaters ab und setzte sich an den Schreibtisch vor dem meine Mutter stand, während mein Großvater hinter diesem großen massiven Tisch saß.
„Ich habe eine Freundin,“ setzte meine Mutter ihre Mutter in Kenntnis, „die Judith. Sie ist die Tochter deiner Zofe Helena. Und niemanden scheint es zu passen, dass Judith meine Freundin ist. Aber ich habe doch hier niemanden, mit dem ich spielen kann.“
„.. und wo liegt nun das Problem, dass ihr Beiden euch streitet?“ fragte meine Großmutter.
„Das Problem? Wo das Problem liegt? Du scheinst dich der Situation mit Helena und ihrem Balg nicht klar zu sein“ fuhr mein Großvater fort.
„Judith ist wie Helena jüdisch!“
„Was soll s“, warf meine Großmutter ruhig ein, während Tante Frieda ins Zimmer kam und meine Mutter, die leise weinte, in ihre Arme nahm.
„Judith ist ein Kind. Was stört dich jetzt daran, das Traudl mit einem Kind unserer Bediensteten spielt? Wir hatten nie Standesdünkel. Und Helena kenne ich, seitdem wir zusammen zur Schule gegangen sind, was deine Tochter hier nicht kann und sie deswegen von Privatlehrern unterrichtet wird. Ich habe nichts gegen Helena noch etwas gegen ihre kleine Tochter.“
„Ruth!“ brauste mein Großvater auf, „du vergisst wohl, in welcher Lage wir uns befinden. Hast du vergessen, was im letzten Monat passiert ist? Was sich seit über 5 Jahren in unserem Reich abspielt? Hast du vergessen, dass ich der Gemeindevorsteher bin und der Partei beigetreten bin? Ich kann das..“ und damit fuchtelte mein Großvater mit seinen Armen um sich „doch alles nicht nur wegen einer Jüdin verlieren! Meine Position, unser Gut, alles!“
„Geh auf dein Zimmer, Traudl.“ Sagte meine Großtante zu meiner Mutter, „das ist jetzt nichts für dich.“ Und schnell verdrückte sich meine Mutter und schloss die Tür hinter sich.
„Seit wann bist du in der Partei?“ fragte Tante Frieda ihren Bruder. „Weißt du was davon Ruth?“
„Nein, ich höre das auch zum ersten Mal! Was soll das, Kurt, bisher waren wir doch immer neutral und nun bist du in der Partei? Das kann doch nicht dein Ernst sein!“
„Ich musste doch! Andernfalls hätten wir alles hier verloren. Ihr wisst doch, was letzten Monat im Reich passiert ist. Überall Brände, überall Vertreibungen. Und man hat mir Nahe gelegt, in die Partei einzutreten. Was sollte ich denn tun? Unser Gut, unser Leben verlieren? Ich wollte euch damit nicht belasten, deswegen hatte ich euch nichts erzählt.“
„Wie konntest du?“ entrüstete sich Tante Frieda, “wir leben hier seit Generationen. Wenn wir nicht zum evangelischen Glauben konvertiert wären, wären wir noch heute Adelig. Wir hatten nie in unserer gesamten Familiengeschichte Probleme mit religiösen Ansichten. Und nur – weil sich ein Herr Hitler wie Gott höchstpersönlich benimmt, trittst du dieser Partei bei? Machst alles kaputt, was uns heilig ist? Das kann doch nicht dein Ernst sein?“
„Ihr seht die Lage nur aus eurer eingeschränkten Sicht,“ entgegnete mein Großvater. „Seht doch was im Reich passiert! Keiner ist sich mehr sicher. Alle Gesetzte des Kaiserreiches und des Deutschen Reiches wurden ausser Kraft gesetzt. Die Reichskristallnacht ist nicht das Ende. Glaubt es mir!“
„Berlin ist so weit weg“, meinte meine Großmutter. „Was kann uns hier schon passieren? Wenn wir hier zusammenhalten, kann uns doch gar nichts passieren. Lass Traudl ihre Freundin und verschone uns von der Politik. Hier wird uns nichts passieren. Wir haben hier alles was wir brauchen. Ich muss mich hinlegen, ich fühle mich noch schwach. Kurt, tu mir einen Gefallen, lass uns so leben, wie wir bisher gelebt haben. Sei in der Partei, aber mach dich nicht hier für diesen Herrn Hitler stark, auch der ist bald wieder weg.“
„Wenn du dich da mal nicht täuschst…“ Meine Großmutter verließ zusammen mit Tante Frieda das Büro meines Großvaters, der geknickt den beiden hinterher sah.
Was sollte er auch machen. Er liebte seine Frau, seine beiden Töchter und auch seine Schwester. Hatte er wirklich einen Fehler gemacht?
Und warum war auch Tante Frieda zunächst gegen die Freundschaft zwischen meiner Mutter und Judith? Wusste sie mehr, als sie sagte?
An diesem Abend fand das große Fest statt, ein Neujahrsfest anstatt eines Weihnachtsfestes, das aufgrund der Geburt ja verschoben werden musste. Der große Empfangssaal war schon geschmückt, Tische, Bänke und Stühle aufgestellt. Aus der Küche kamen die schönsten Gerüche nach Braten und Gemüse.
Alle waren hocherfreut. Nur meine Mutter saß in ihrem Zimmer und war unglücklich.
Seit zwei Tagen hatte sie Judith nicht gesehen und Helena war auch sehr schweigsam.
Meine Mutter nahm allen Mut zusammen und ging zu Helena, als diese von meiner Großmutter für kurze Zeit entlassen wurde.
„Helena.“
„Ja, gnädiges Fräulein.“
„Wo ist Judith?“
„Judith ist zu Hause.“
„Aber wieso, sonst war sie auch den ganzen Tag hier und wir konnten im Hof spielen.“
„Es ist besser für uns alle, wenn Judith eine Zeitlang nicht hier ist.“
„Das heisst, dass Judith auch heute Abend nicht beim Fest dabei sein wird?“
„Ja, Judith wird nicht dabei sein und ich werde auch nicht da sein. Das ist für alle so am besten.“
„Wieso bist du nicht dabei? Es ist doch ein Fest für alle.“
„Ich bin Jüdin.“ Weinend verließ Helena meine Mutter, die überhaupt nicht verstand, was „jüdisch“ sein ist. Dazu war sich nun doch auch noch zu klein. Nur dass das irgendwie schlecht war, das hatte sie verstanden.
Meine Mutter ging dann in ihr Zimmer und wie immer, wenn sie Probleme hatte, tauchte Tante Frieda auf, die ihr helfen wollte, sich für den Abend fertig zumachen.
Tante Frieda bürstete ihr langes braunes Haar und flechtete es in zwei Zöpfe,
„Was hast du für traurige Gedanken, Traudl?“
„Ich versteh nicht, was es ist, jüdisch zu sein. Wenn man jüdisch ist, wieso kann man dann nicht zu unserer Feier kommen. Ich habe schon keine Lust mehr auf unsere heutige Feier. Warum musste Christa auch am 24.12. geboren sein. Wäre sie später geboren, hätten wir alle zusammen feiern können.“
„Was sagst du da“, entsetzte sich Tante Frieda, „ so was darfst du nicht einmal denken. Christa ist deine Schwester und der Herr hat beschlossen, dass sie an seinem Geburtstag die Erde begrüßen darf. Das soll ihr und uns eine Ehre sein.“
„Wenn der Herr so mächtig ist, warum können dann Helena und Judith nicht mit uns feiern?“
„Wieso feiert Helena nicht mit uns mit heute Abend?“
„Nein Helena hat mir gesagt, sie feiert nicht mit uns mit, weil sie jüdisch sei. Ich weiß nicht, was es ist jüdisch zu sein, aber es muss schlecht sein….“
„Jüdisch zu sein ist nichts Schlechtes, das darfst du nicht denken, kleine Traudl, es ist nur im Moment - unpassend, Jude zu sein…“
Damit konnte meine Mutter auch nichts anfangen. Aber wie erklärt man einer 7 Jährigen die damaligen Umstände?
Das große Fest begann. Alle, die auf dem Gut beschäftigt waren, befanden sich schon im großen Festsaal. Meine Mutter, begleitet von ihren Eltern und Tante Frieda stiegen die Treppe herab und setzten sich an den Kopf eines erhöht stehenden Tisches. Nachdem sich alle gesetzt hatten, erhob sich mein Großvater und hielt eine Rede.
„Meine lieben Dembowoer, heute feiern wir unser nachträgliches Weihnachtsfest. Ihr dient mir und meiner Familie teilweise schon länger, als ich lebe. Trotzdem bin ich heute sehr traurig, dass nicht alle an unserem Tisch sitzen.
Ihr alle wisst, dass wir seit einigen Jahren einen Führer haben und seinen Gesetzten müssen wir uns alle fügen. Deswegen war es mir heute nicht erlaubt, einen Juden an unserem Tisch zu haben. Auch hier unterliegen wir den Gesetzten Berlins. Ob wir es verstehen oder nicht.
Wir sollten alle froh sein, dass wir zumindest unsere jüdischen Mitbürger noch bei uns beschäftigen lassen dürfen. Deswegen, lasst uns alle fröhlich sein und trotzdem ein bisschen an unsere jüdischen Mitbürger denken, die an diesem Fest nicht teilnehmen können.
Ich wünsche euch und uns ein frohes Neues Jahr.“
Damit erhob er sein Glas und alle taten es ihm nach.
8 Monate später begann der 2. Weltkrieg mit dem Übergriff auf Polen.
Im November 1943 wurde mein Großvater zur Wehrmacht eingezogen. Das Gut wurde ab dem Zeitpunkt von meiner Großmutter, die zu diesem Zeitpunkt schwanger war und Tante Frieda weitergeführt. Von den Gräueltaten der Deutschen im „Groß-Deutschen-Reich“ bekamen sie nicht viel mit.
„Es ist ein Junge, er soll wie sein Vater Kurt heißen“, sagte meine Großmutter; von ihrem Mann hatte sie lange nichts gehört. Er kämpfte irgendwo an der Ostfront. Auch wurde es immer schwerer, das Gut zu halten. Die Polen, die lange Jahre zu ihr gehalten hatten, die über Jahrzehnte hinweg der Familie treu gedient hatten, verließen das Dorf, um gegen Hitler zu kämpfen und damit auch gegen unsere Familie, die ja „Reindeutsch“ waren.
Meine Mutter war in den letzten Jahren wohlbehütet aufgewachsen, von den ganzen Kriegswirrungen hatte sie nichts mitbekommen. Die Freundschaft zu Judith wurde immer enger, obwohl Judith das Gut nie wieder betreten hatte. Judith und meine Mutter trafen sich halt in der Scheune oder im Dorf oder in Judiths Eltern Kate.
Zuerst war es ein totaler Schock, als meine Mutter sah, dass Judith in einer kleinen Kate mit nur zwei Zimmern und einer Wohnküche lebte. Ihr Zimmer musste sich Judith mit ihren beiden Brüdern (Daniel und Joachim) teilen. Aber sie wurde von allen herzlich aufgenommen. Auch Helena, Judiths Mutter, stand immer noch im Dienst meiner Großmutter. Von ihr, hätte sie sich nie getrennt.
Meiner Großmutter interessierte es nicht, dass Helena jüdisch war und sie war froh, dass meine Mutter eine gleichaltrige Freundin hatte, trotzdem hielten meine Mutter und Judith sich fern von allen anderen. Sie spielten lieber im Wald, am See oder in der Scheune.
Meine Großmutter war sehr erschöpft. Sie musste nicht nur die Bücher führen, sondern legte auch Hand an bei der Ernte. Überall fehlten plötzlich die Männer, die entweder zum Wehrdienst an die Ostfront einberufen wurden oder aber zu den Russen übergelaufen waren.
Die heile Welt war kaputt!
Im Dezember kam mein Großvater auf Heimaturlaub nach Dembowo. Er sah schlecht aus und war gereizt. Selbst, dass er nun einen Stammhalter hatte, interessierte ihn wenig.
Er machte sich große Sorgen. Das, was er an der Front gesehen hatte, war nicht das, was er zu hoffen gewagt hatte. Deutschland zerfiel. Und damit auch er. Er hatte an Hitler geglaubt, geglaubt was im Radio erzählt wurde, aber an der Front wurde er eines Besseren belehrt.
„Ihr müsst weg,“ sagte mein Großvater meiner Großmutter und Tante Frieda. „Wir werden den Krieg verlieren, der Russe steht praktisch schon vor der Tür.“
Meine Großmutter bekam es mit der Angst zu tun. „Was sollen wir machen? Wo sollen wir hin? Der kleine Kurt ist doch noch viel zu jung für eine Reise.“
„Eine Reise? Ihr müsst fliehen, schnellstmöglich! Packt, was ihr tragen könnt, bereit euch zumindest vor. Ich muss übermorgen wieder an die Front. Bis da hin müssen wir alles vorbereitet haben.“
„Was machen wir mit allem hier?“
„Stehen und liegen lassen. Vielleicht kommen wir ja wieder.“
„Aber Kurt“, meinte Tante Frieda, „wenn wirklich der Russe kommt, dann können wir doch nicht alles hier lassen. Die plündern doch genauso hier alles aus, wie die Deutschen in Polen und Russland!“
„Dann lass uns die wertvollen Sachen verstecken, den Großteil des Schmucks nehmt ihr mit. Und du, Frieda, du fährst morgen schon mal nach Frankfurt. Gehst da zum Ernst und bereitest die Ankunft von Ruth mit den Kindern vor. Ernst wird uns helfen. Von da aus fahrt ihr dann nach Berlin und dann nach Lübeck. Dort lebt unser Cousin, er wird euch aufnehmen. Was immer auch kommt, bringt euch in Sicherheit, und du Frieda, sorge für Ruth und die Kinder, aber du musst ihr den Weg bereiten…. Versprich mir, dass ich mich auf dich verlassen kann. Ihr müsst so schnell wie möglich weg.“
„Ja, ich mache das für Ruth und die Kinder, aber wieso können wir nicht zusammen reisen?“
„Weil es schwer ist Verbindungen für Zivilisten nach Frankfurt zu erhalten. Wie lange Verbindungen von Franfurt nach Berlin gehen, weiß ich nicht. Wahrscheinlich auch nicht mehr sehr lange….“
„Nun gut, dann werde ich morgen früh abreisen und versuchen noch eine Bahnverbindung nach Frankfurt zu erhalten. Aber du, Ruth“ und damit sprach Tante Frieda meine Großmutter direkt an, "siehst zu, dass jemand von hier mit dir kommt. Nicht dass du alleine dich auf den Weg machst. Nimm so viele mit, wie es geht.“
„Ja“, seufzte meine Mutter. Sie konnte nicht glauben, dass sie ihr schönes Dembowo verlassen sollte, ihre Heimat, ihre Liebe, ihr Glück….
Am nächsten Morgen verließ Tante Frieda Dembowo und machte sich auf den Weg nach Posen um von dort nach Franfurt (Oder) zu kommen, was ihr auch gelang.
Mein Mutter wurde ernst, als sie sah, wie traurig und überhastet Tante Frieda Dembowo verließ. Krieg? Steht der Krieg auch schon hier vor der Tür? Bisher hatte sie nichts davon mitbekommen, ja, es wurden immer weniger Männer im Dorf, aber Krieg? Doch nicht hier.
„Traudl, bring mir deinen Mantel und den von Christa auch!“ wies meine Großmutter meine Mutter an. In den Säumen aller Mäntel versteckte meine Großmutter so viel Schmuck, wie irgend möglich. Alle anderen Sachen, wie das Familiensilber und andere Wertgegenstände vergrub sie zusammen mit meinem Großvater im Wald.
Heute gibt es davon nur noch ein einziges Foto, dass die Kriegswirren überstanden hat, wo eingezeichnet ist, wo sich der „Familienschatz“ befindet. Von diesem Foto wissen heute nur noch meine Tante und ich und wir wollten immer nach Dembowo, um den Schatz zu heben…..
Mein Großvater verließ am darauf folgenden Tag Dembowo und meine Großmutter war mit ihren Kindern allein. Meine Mutter 13 Jahre alt, Christa 7 Jahre alt und Kurt im Kinderwagen mit 7 Monaten.
Würde sie es schaffen, sich und ihre Kinder in Sicherheit zu bringen?
Es war noch dunkel, als meine Mutter von Helena geweckt wurde und es war kalt. Mitten im Dezember.
„Traudl, wach auf, es geht los.“
„Ich will nicht, hier ist es so schön kuschelig warm.“
„Judith sitzt schon unten in der Küche und wartet auf dich.“
„Was? Judith kommt mit uns mit?“ freute sich meine Mutter.
„Ja, Judith, Daniel und Joachim und ich begleiten euch. Wir können euch doch nicht alleine gehen lassen. Außerdem kommt Karl mit, er ist ja der einzige Mann noch hier auf dem Gut. Er hat keine Familie, wo soll er auch hin.“
Meine Mutter machte sich dann fertig und ging in die Küche, wo Judith schon auf sie wartete und eine heiße Milch trank.
„Schön, dass du mitkommst“, begrüßte meine Mutter ihre Freundin. Doch Judith winkte nur ab: „Wir sind doch Freundinnen und da muss man sich doch darauf verlassen können. Wenn ihr nicht mehr hier seid, was sollen wir dann hier. Meine Mutter hat doch dann keine Arbeit mehr.“
Meine Großmutter kam mit der verschlafenen Christa und dem kleinen Kurt in die Küche, sah ihre Tochter Waldtraudt an und fragte, ob sie fertig sei, was diese bejahte.
„Gnädige Frau..,“ „Lass endlich das gnädige Frau sein, Helena, ich bin lange nicht mehr so gnädig wie ich sein sollte, außerdem, du bist die einzige Freundin, die ich habe. Schluss jetzt endlich mit dem Unsinn, wenn wir schon den weiten Weg nach Lübeck machen, nenn mich wieder wie früher Ruth.“ Und meine Großmutter fiel ihrer Freundin und Zofe in die Arme und weinte bitterlich.
„Ich bringe es nicht übers Herz, meine Heimat zu verlassen, steh mir bei, Helena.“
„Ich steh dir bei, Ruth, wir schaffen es. Wie wir bisher alles geschafft haben.“
Nachdem sich alle gestärkt hatten und meine Mutter noch die Keksdose, die immer am Herd stand, mitgenommen hatte, traten sie nach draußen in den dunklen, kalten Hof. Dort standen zwei Fuhrwerke, auf dem einen mit den Sachen meiner Familie, auf dem anderen mit den Sachen Judiths Familie. Viel war es nicht.
Der Kinderwagen vom kleinen Kurt war der größte Gegenstand, der mitgenommen wurde. Sonst nur ein paar kleine Koffer und Papiere, wie Dokumente und Ausweise. Alles andere wurde hinterlassen.
Eigentlich wusste keiner, dass meine Großmutter diese frühen Morgen zur Flucht nutzen würde, trotzdem fand sich der eine oder andere ihrer Angestellten ein, der die Flüchtenden verabschiedeten und natürlich flossen die Tränen in Strömen. Denn bei den Flüchtenden hatten es alle gut gehabt.
„Machen Sie sich keine Sorgen, gnädige Frau, wie beschützen das Gut“, weinte Liesel die Köchin, die sich zu der kleinen Gesellschaft begeben hatte, um sie zu verabschieden und legte einen Sack voll mit Lebensmittel hinten auf dem Wagen.
So verließen sie das Gut und meine Mutter drehte sich immer wieder weinend um, traurig, ihre Heimat verlassen zu müssen. Nicht wissend, was die Zukunft bringen wird…
Meine Großmutter hatte geplant, von Dembowo nach Posen zu ziehen und von dort mit der Eisenbahn Richtung Frankfurt/Oder. Bis nach Posen waren es ca. 100 km. Und das im tiefsten Winter, auf einem Fuhrwerk…
Der Wagen war mit viel Stroh ausgelegt, so dass es unter dem Stroh für die Kinder einigermaßen erträglich warm war. Aber Gesicht, Nase und Hände froren erbärmlich. Alle konnten froh sein, dass die Plane, die über den Wagen gespannt war, den eisigen Wind abhielt, nur meine Großmutter war allem ausgesetzt. Sie hüllte sich in eine Decke ein und zügelte das Pferd.
Auch die aufgehende Sonne brachte keine Wärme, so froren alle. Nur selten wurde gerastet, denn man wollte schnell in Posen sein, um von dort aus mit der Bahn nach Frankfurt/oder zu kommen.
Der kleine Kurt wurde mit einem Brei aus Wasser und Mehl gefüttert und schrie die ganze Zeit, weil er wohl davon Bauchschmerzen bekam. Die Amme war nicht unter den Flüchtenden. Meine Großmutter schien für ihren kleinen Sohn keine Muttermilch zu haben.
Diese einst so stolze und trotzdem liebevolle Frau schien um Jahre gealtert. Sie, die bis dahin ihr Gut geleitet hatte, fühlte sich verantwortlich für ihre Kinder, Helena mit Familie und Karl.
Irgendwann wurde doch eine Rast eingelegt und Karl machte ein Feuer, an dem sich alle wärmten. Sie rasteten abseits der entlegenen Strasse, die direkt nach Posen führte. Bisher waren sie niemanden begegnet und meine Großmutter machte sich schon Vorwürfe, ob es richtig war, das Gut verlassen zu haben und ob es nicht besser sei, umzukehren.
Meine Großmutter setzte sich mit dem kleinen Kurt, Helena und Karl an das Feuer. Karl sammelte Schnee, der überall um sie herum war und stopfte ihn in einen großen Topf, brachte ihn über das Feuer zum Schmelzen, um daraus Tee zu kochen. Alle erhielten einen Becher heißen Tees und aßen dazu trockenes Brot.
Die Kinder stürzten sich auf den Tee und tranken ihn, da er sehr heiß war, schlückchenweise. Die Sonne stand am Himmel und der kleine Kur schlief in den Armen seiner Mutter ein.
„Helena, meinst du nicht, wir sollten umkehren?“
„Ich würde gerne umkehren, aber wir sollten doch viel lieber versuchen, weiterzukommen. Wer weiß, wie es in Posen aussieht.“
„Muten wir uns und den Kindern nicht vielleicht das Falsche zu?“ Meine Großmutter, die zu diesem Zeitpunkt ganze 35 Jahre alt war, aber nach den ersten Strapazen, des ersten halben Fluchttages sich fühlte, als wäre sie eine alte Frau, schaute bekümmert zu Helena.
„Wir haben bisher vielleicht 15 km geschafft, und das in nahezu 6 Stunden. Bis Posen sind es noch mindestens 80 km. Wir wären dann noch mindestens 3 Tage unterwegs. Das bei dieser Kälte.“
„Gnädige Frau“, schaltete sich nun Karl ein. „Es ist das Richtige, was wir machen. Die Russen werden kommen, und was dann mit uns als Deutsche passiert, will ich mir gar nicht ausmalen. Wir müssen zusehen, dass wir so schnell wie möglich Posen erreichen. Wer weiß, wann die Russen hier sind. Sie müssen für die Kinder stark sein, wie sie es auch bisher waren…“
Meine Großmutter liefen die Tränen. Sie hatte Angst, ihr war kalt und sie fühlte sich längs nicht mehr so stark, wie am Morgen. Die Kälte machte ihr zu schaffen. Sie war verzweifelt, trotzdem raffte sie sich auf und alle bestiegen wieder die Fuhrwerke. Selbst Christa, die während der kurzen Rast mit Judith und meiner Mutter rumgetollt hatte, legte sich wieder unter das Stroh. Alle hatten nun eine rosige Hautfarbe, nur meine Großmutter war blass, blass vor Angst und blass von der Kälte.
Der kleine Treck schaffte es bis zum Abend bis nach Elsenau, so hatten sie an einem Tag etwas mehr als 25 km geschafft. Der Wind wurde stärker und eisiger, doch wo sie unterkommen sollten, wussten sie nicht, auch mieden sie die großen Strassen, denn keiner von ihnen wusste, wen oder was sie auf den großen Strassen begegnen würden.
Meine Großmutter zog weiter, weiter Richtung Gnesen, trotz der Dunkelheit und der Kälte. Sie wollte Posen erreichen, in jedem Fall, so schnell wie möglich, dort hatte sie eine Freundin und dort konnte sie unterkommen, bis sie eine Bahn nach Frankfurt ergattern konnte.
Kurz hinter Elsenau fand sie dann eine abgelegene Scheune, die im Sommer wohl von Kühen als Unterstand genutzt wurde. Dort wollten sie übernachten.
Karl spannte die Pferde aus und stellte sie in der Scheune mit unter. In der Scheune befand sich Heu und Stroh, so dass die Pferde versorgt waren. Die Kinder schliefen zwar, wurden aber von den Erwachsenen von den Wagen geholt und ins Stroh gelegt. Sie bekamen etwas Brot zu essen und tranken geschmolzenen Schnee.
Auch meine Großmutter und alle anderen legten sich in das Stroh und schliefen, schliefen einen kurzen, tiefen Schlaf. Früh am nächsten Morgen sollte es weitergehen.
Meine Mutter erzählte mir, als ich ca. 18 Jahre alt war, dass gerade die erste „Etappe“ von Dembowo nach Posen für sie sehr anstrengend war. Sie sah, wie ihre Mutter hart gegen sich selbst war, wie aus der liebenswerten, stolzen Frau eine abgehärtete, in sich gekehrte Frau wurde, die ihre Tränen immer wieder aufs neue versuchte zu unterdrücken.
Meine Mutter gab zu, Angst gehabt zu haben und doch war sie fröhlich, um ihrer kleinen Schwester Christa das Gefühl zu vermitteln, alles wäre gut und ihnen könne nichts passieren. Judith stand ihr bei allem bei und saß meistens mit meiner Mutter auf deren Fuhrwerk. Beide, eigentlich alle, wussten nichts von den politischen Ereignissen im Westen, das Gut war fernab von allem. Eine Insel im Nazireich.
Judith und ihre Familie trugen auch zu keinem Zeitpunkt den gelben Stern, den sie hätten tragen müssen. Irgendwie kamen sie damit durch, In dem kleinen Dorf, in denen sie wohnten, fragte keiner nach Rasse oder Religion. Auch hatten sie kein „J“ in ihren Ausweisen, was sie eigentlich nach der damaligen Gesetzgebung hätten haben müssen. Es interessiere sich halt niemand dafür, was im fernen Berlin passierte.
Kurz vor Posen stellte meine Großmutter fest, dass immer mehr Flüchtlinge unterwegs waren und auf Posen zustrebten. Sie konnte nicht glauben, was ihr Gewahr wurde. Sie hatte Glück, dass sie mit einem, bzw. zwei Fuhrwagen unterwegs waren. Viele Menschen überholte sie, die nur mit einem Fahrrad, einem Schlitten oder einem Kinderwagen unterwegs waren und dort ihre Koffer verstaut hatten. Und sie hörte von überall, dass die Russen kurz vor der Grenze standen und Polen wieder besetzen wollten. Das Polen, das dem Deutschen Reich unterworfen war. Sie hörte von Gräueltaten, die sie nicht hören und auch nicht wahrnehmen wollte. Alteingesessene Deutsche wurden von ihrem Besitz von den Polen vertrieben. Ihre Welt geriet aus den Angeln.
Es war der 21.12.1944. Der Bahnhof war voll von Menschen, die mit dem Zug Richtung Westen flüchten wollten. Während meine Großmutter versuchte, Bahnfahrkarten für alle zu besorgen, blieben Helena und Karl bei den Kindern.
Doch es gab keine Möglichkeit, per Bahn Posen zu verlassen. Entweder fuhren die Züge nur durch Posen durch und hatten Kriegsmaterial geladen, oder der Zug war so überfüllt, dass keiner von ihnen mitgenommen werden konnte. Auch waren die Preise einer einzelnen Bahnfahrkarte ins unermessliche gestiegen.
Frustriert und erschöpft kehrte meine Großmutter zu ihren Leuten zurück.
„Was jetzt? Wir kommen mit der Eisenbahn nicht nach Frankfurt. Wohin?“ Verzweifelung machte sich in meiner Großmutter breit.
„Dann müssen wir eben mit den Fuhrwerken nach Frankfurt gehen.“ War alles, was Karl dazu zu sagen hatte. „Wir können uns ja einem Treck anschließen.“
„Mit den Wagen und den Pferden nach Frankfurt?“ fragte meine Großmutter. „Wie stellst du dir das vor? Bis Frankfurt sind es über 200 km. Bei diesem Schnee und der Kälte? Das schaffen wir nicht mit den Kindern.“
„Ruth, wir haben wohl keine andere Wahl. Es ist unsere einzige Möglichkeit, nach Frankfurt zu kommen. Hast du eine bessere Idee?“
„Wir können nicht mit einem Treck nach Frankfurt ziehen. Helena, du bist Jüdin. Wenn ich alles richtig mitbekommen habe, knüpfen sie jeden Juden, egal ob Mann, ob Frau oder Kind an den nächsten Baum auf. Bisher haben wir Glück gehabt. Keiner hat uns beachten.“
„Sieht man mir an, dass ich Jüdin bin? Sehe ich jüdisch aus?“ klagte Helena meine Großmutter an.
„Helena, hör auf, das meine ich gar nicht und darum geht es mir auch nicht. Ich will nur nicht in einer großen Gruppe mitziehen. Wer weiß, was da für Leute mit unterwegs sind. Und ich weiß auch nicht, ob wir es wirklich mit den Kindern und den beiden Pferden bis nach Frankfurt schaffen. Wie lange sind wir bis Frankfurt unterwegs? 5 Tage? 10 Tage? 20 Tage? Erfrieren wir oder die Kinder bis dahin?“
„Gnädige Frau“, meldete sich Karl zu Wort, „ es bringt nichts, wenn wir uns hier streiten und verzweifeln. Wir wollen und müssen nach Frankfurt, dort werden Sie mit Ihren Kindern von Ihrer Frau Schwägerin erwartet. Lassen Sie uns eine Stelle finden, wo wie geschützt übernachten können und vorher überlegen wir, wie wir am besten nach Frankfurt kommen. Vielleicht sieht morgen ja alles ganz anders aus.“
„Wir ziehen zu dem Gut der Familie von W.. Frau von W. ist eine alte Freundin von mir, dort können wir die Nacht sicherlich verbringen und uns einmal frisch machen“, entschied meine Großmutter.
Das Gut der Familie von W. lag südöstlich von Posen. Für diesen kurzen Weg benötigten sie ca. 40 Minuten. Dort angekommen erschraken alle.
Das Gut war verlassen. Kein Mensch, kein Tier, die gewaltige Eingangspforte des Guthauses offen. Es herrschte eine unheimliche Ruhe.
Karl und meine Großmutter hielten die Pferde vor der langen Außentreppe an.
„Helena, du bleibst bei den Kindern, Karl und ich werden uns anschauen, wie es drinnen aussieht. Die Kinder bleiben aber auf dem Wagen!“
Meine Großmutter begab sich mit Karl in die Empfangshalle. Was sie dort sahen, stockte ihren Atem. Zerbrochene Möbel, alle Gemälde zerstört, es roch verbrannt.
Sie begaben sich in die Küche. Keine Scheibe war mehr in den Fenstern, Geschirr lag zerschlagen auf dem Boden, die Speisekammer, die sich der Küche angliederte, war fast restlos geplündert.
Sie gingen dann die Treppen in den ersten Stock, den Unterkünften der Familie von W., empor. Auch dort war alles zerstört. Kein Möbelstück war ganz. Die Matratzen und Betten aufgeschlitzt.
Meine Großmutter verließ fassungslos die Räumlichkeiten und begab sich in den zweiten Stock, dort wo die Bediensteten wohnten. Hier gab es noch einige Betten, die die Verwüstungen überlebt hatten.
„Wir werden heute hier oben nächtigen“, entschied meine Mutter gegenüber Karl.
„Gnädige Frau, ich werden die Pferde abspannen, sie in den Stall führen, dort schlafen und auf sie wachen. Die Pferde sind für uns im Moment das Wichtigste, was wir haben.“
„Du hast Recht, Karl. Lass uns die Kinder holen. Wir lassen alles andere auf den Wagen und nehmen nur das, was wir für eine Nacht benötigen.“
Mein Großmutter und Karl verließen das Gebäude und holten die Kinder und Helena und richteten notdürftig drei Räume des Gesindetraktes her. Ein Raum war für Helenas Jungs vorgesehen, einer für die Mädchen und einer für Helena, meiner Großmutter und dem kleinen Kurt. In einem gab es einen Kamin, wo sie Feuer machen konnten und sich wärmten.
Helena ging in die Küche, um zu schauen, ob sie dort etwas Essbares finden würde, dass sie zubereiten konnte.
„Ruth, komm mal in die Küche“, rief Helena, indem sie in den bereits warmen, schlicht eingerichteten Raum stürzte. „Ich habe etwas gefunden!“
„Ihr bleibt hier Kinder, du Traudl, passt auf alle auf!“ bevor sie mit Helena in der Küche verschwand.
In der Küche hatte Helena einen Sack Kartoffeln und Eingemachtes gefunden, dass aussah, wie eingemachtes Schweinefleisch. Dazu eine Kiste mit Äpfeln. Meine Großmutter konnte gar nicht glauben, was für ein Glück sie hatten. Ihre Vorräte gingen zur Neige und nirgendwo gab es etwas, was man kaufen konnte.
Helena entschloss, Kartoffeln zu kochen und dazu das eingemachte Schweinefleisch zu reichen.
„Oh, Helena, mach das, ich sage Karl Bescheid, dass er in einer halben Stunde oben sein soll. Wir sind alle nach den anstrengenden Tagen ausgehungert und werden uns an diesem Mahl laben und wahrscheinlich Bauchschmerzen bekommen.“
Meine Großmutter ging, nachdem sie Karl informiert hatte zu den Kindern. Als sie den Raum betrat, wo sie die Kinder zurückgelassen hatte, wurde sie von 5 neugierigen Augenpaaren angeschaut.
„Was hat Helena gefunden“, fragte meine Mutter.
„Lasst euch einfach überraschen.“
Helenas Brüder saßen etwas abseits, was meiner Großutter wohl nicht gefiel. Sie rief Daniel und Joachim zu sich.
„Was ist mit euch?“ fragte sie die beiden.
„Nichts, aber Sie sind doch die gnädige Frau. Und unser Vater hat uns gesagt, dass wir in Ihrer Nähe nichts zu suchen haben. Auch sollten wir uns von den gnädigen Fräuleins fern halten“, antwortet Daniel, der der Ältere der beiden Brüder war.
„So, jetzt hört mal gut zu. Ab heute sind die gnädigen Fräuleins Traudl und Christa. Mit ihnen könnt ihr genauso spielen wie mit jedem anderen aus eurem Dorf. Wir machen eine weite Reise zusammen und da gibt es nichts „gnädiges“. Und ab sofort sagt ihr nicht mehr gnädige Frau, sondern Tante Ruth zu mir. Und das, Judith, gilt auch für dich“, entschied meine Großmutter und blickte zu ihr hin.
Judith strahlte, denn was gab es mehr, als eine gnädige Frau zur Tante zu haben und ein gnädiges Fräulein zur Freundin.
Karl betrat den Raum und auch er wurde gleich zu meiner Großmutter gezogen.
„Karl“, sagte sie, „wenn wir alle diesen beschwerlichen Weg jetzt zusammen gehen, möchte ich darum bitten, dass du ab sofort die „gnädige Frau“ weglässt und mich wie Helena Ruth nennst.“
„Aber gnädige Frau…“
„Karl, die gnädige Frau gibt es nicht mehr. Wir sind jetzt eine kleine Gemeinschaft, wo jeder auf jeden angewiesen ist, vergiss die gnädige Frau und nenn mich Ruth.“
„Ganz wie sie wollen, gnä … äh… Ruth. Daran muss ich mich erst einmal gewöhnen…“
Karl setzte sich auf einen Stuhl und Helena kam mit ein paar leicht angebrochenen Tellern und ein paar Gabeln in den Raum. Auf ihrem Gesicht zeichnete sich eine freudige Röte.
„Was gibt es Schönes zu essen?“ fragte Judith.
„Lass dich überraschen.“
Sie verließ den Raum und kam nach wenigen Minuten mit einem großen Topf und ein paar Einweckgläsern zurück, stellte alles auf den Tisch und verschwand wieder. Meine Großmutter gab jedem der Kinder ein paar kleine Kartoffeln und etwas von dem eingemachten Schweinefleisch. Alle strahlten. Auch sich selbst und Karl legte sei etwas auf.
Die Tür ging erneut auf und Helena betrat den Raum mit einem kleinen Topf und einer Schüssel voller Äpfel und – einem Stück Butter.
„Wo hast du das her?“ fragte meine Großmutter.
„Ich habe noch viel Sachen gefunden“ lachte Helena und gab jedem zu den Kartoffeln etwas Butter.
Im kleinen Topf war für den kleinen Kurt ein Brei hergerichtet worden, den meine Großmutter ihm gab.
Obwohl die Kartoffeln nicht gesalzen waren, war es doch für alle ein Festmahl. Sie hatten ein Dach über dem Kopf, einen warmen Raum und etwas zu essen.
Nach dem Essen schickte meine Großmutter die Kinder ins Bett und so saßen meine Großmutter, Karl und Helena zusammen, um zu beratschlagen, was sie tun würden.
Den nächsten Tag wollten sie ausruhen. Meine Großmutter fuhr mit Karl nach Posen, um vielleicht doch noch Bahnfahrkarten für die Fahrt nach Frankfurt zu ergattern.
Niedergeschlagen kamen sie zurück. Die Neuigkeiten, die sie in mitbrachten, waren auch nicht dazu angetan, ihre Stimmungen aufzuheitern.
Die Russen standen kurz vor der Grenze. Hitlers Wehrmacht hatte der Font nichts entgegen zu bringen. Trotzdem gab es Durchhalteparolen, doch von denen hörte man in der Abgeschiedenheit nichts. Auch glaubte keiner mehr an den großen Endsieg. Alle wollten nur in Frieden leben dürfen.
Die Kinder hatten an diesem Tag noch einmal Zeit, auf dem Hof zu spielen und sich auszutoben, während Karl sie bewachte. Es war eine unruhige Zeit und Karl hatte ständig Furcht, andere Flüchtlinge könnten genau wie sie, auf diesen Hof kommen und sie von diesem Ort vertreiben. Auch befürchtet er, die Polen könnten hier ein weiteres Massaker, das seiner Meinung nach hier stattgefunden hatte, anrichten.
Meine Großmutter und Helena durchsuchen während dessen alle Räume, ob sie noch irgendwas Nützliches finden konnten, das sie auf ihrer langen Reise gebrauchen konnten. Nützlich war alles, was man essen oder tauschen konnte. Das Geld hatte keinen Wert mehr, deswegen wurde getauscht oder mit Schmuck oder Gold- und Silbergegenstände gehandelt.
Helena und meine Großmutter fanden schließlich noch Lebensmittel, hauptsächlich Einweckware wie Obst, Gemüse und ein bisschen eingelegtes Schmalzfleisch das für den nächsten Morgen unter dem Stroh der Fuhrwerke versteckt wurde.
Alle hatten noch einmal Zeit, sich ordentlich auszuruhen und richtig zu schlafen.
Der nächste Morgen begann im Morgengrauen. Die Pferde waren gestärkt, hatten genug Heu gefressen, das in der Scheune war und genug Wasser getrunken.
Sie verließen das Gut und machten sich auf in Richtung Westen.
Dadurch das sie noch Lebensmittel gefunden hatten, und mit diesen sparsam umgehen wollten, sollten die Vorräte 3 Wochen reichen, ohne dass sie irgendwo Halt machen und neue kaufen/eintauschen müssten.
Zunächst ging es zurück Richtung Posen. Auf den Weg dorthin schlossen sie sich einer kleineren Gruppe an, doch meiner Großmutter war klar, dass sie sichch nicht den ganzen Weg nach Frankfurt dieser Gruppe anschließen wollte. Sie war überzeugt, dass es für sie besser wäre, alleine einen Weg nach Frankfurt zu finden, abseits der eigentlichen Route. Sie fühlte sich wohler, nicht von so vielen Menschen umschlossen zu sein.
Am ersten Tag schafften sie es über Seehofen bis nahe an Buchenstadt zu kommen (dem heutigen Buk/Polen). Dort suchten sie sich eine Lagerstätte.
Karl machte eine einsame Lichtung weit ab von der Stadt in einem Waldstück aus, wo sie ihr Lager aufschlugen. Die Kinder mussten im Stroh bleiben, während Karl die Planen der Wagen abnahm, um sie als Zelt und Abschirmung gegen den eisigen Wind und neugieriger Augen aufzubauen. Dies nahm einige Zeit in Anspruch. In dieser Zeit suchten meine Großmutter und Helena Reisig und trockenes Holz, um daraus ein Lagerfeuer zu machen.
Als das Zelt fertig aufgebaut und das Feuer entfacht war, holten sie die Kinder, damit sie sich am Feuer wärmen konnten und aßen ein karges Mahl.
Meine Mutter erzählte mir, dass sie sich auch später an jede Einzelheit erinnern konnte, an die Gerüche des Feuers, an den Geschmack des Essens und an die Furcht, die sie alle hatten. Sie hätte sich manchmal als erwachsene Frau bei einem Geruch oder einer Bewegung erschrocken oder erinnert, was sie auf ihrer Flucht erlebt hatte. Sie wunderte sich und konnte doch nicht erklären, wie ruhig sie, ihre Schwester, ihr kleiner Bruder und Judith mit ihren Brüdern auf der Flucht waren, hatten sie doch als Kinder alle herum getollt.
Aber auf der Flucht waren sie stille, verschreckte Kinder.
Auch der nächste Morgen begann schon in den frühen Morgenstunden mit einem kurzen Mahl und reichlich Tee. Es war nach wie vor eisig kalt. Karl, Helena und meine Großmutter hatten sich nachts abgewechselt und Wache gehalten. Auch passten sie darauf auf, dass das Feuer nicht nieder brannte. So schützten sie sich vor der nächtlichen Kälte.
Die Planen wurden wieder über die Fuhrwerke gespannt und die Kinder legten sich in das Stroh. Es war wärmer als nur unter einer klammen Decke.
Die Pferde waren noch kräftig, so dass sie an diesem Tage eine weite Strecke schafften. Kurz vor Bentschen fanden sie einen geeigneten Lagerplatz, wo wiederum das Zelt aufgebaut wurde.
Meine Großmutter war froh, unterwegs nur einige Bauer getroffen zu haben. Flüchtlinge trafen sie keine und an diesem Tage waren sie gut vorangekommen. Frankfurt war nicht mehr weit.
Es war der 24.12.1944, der Geburtstag von Christa und der Heiligabend. Aber keiner hatte daran einen Gedanken verschwendet. Die Stimmung war betrübt. Der Heiligabend und der Geburtstag Christas allein unter freiem Himmel, in der Kälte.
Helena hatte aus einigen Äpfeln und Kartoffeln einen Apfel/Kartoffelbrei gezaubert und einige Rosinen dazugelegt. Das war das Festmahl am heiligen Abend.
Meine Großmutter stimmte das Lied „Stille Nacht, heilige Nacht“ an, das alle tränenreich mitsangen, selbst Helena und ihre Kinder, dabei nahmen sie ihre Kinder fest in die Arme.
Karl unterbrach die rührselige, traurige Stimmung nach dem das Lied beendet war und alle still vor sich hinweinten. Auch er hatte Tränen in den Augen, schnäuzte sich und ging auf Christa zu.
„Hier, Christa“, sagte er, „das ist für dich“ und überreichte ihr eine aus Stroh gefertigte Puppe.
Christa drückte die Puppe fest an sich und freute sich über das Geschenk, nahm Karl ganz fest in ihre kleinen Arme und sagte nur „Danke“.
Meine Großmutter stand auf und holte aus ihrer Manteltasche kleine, in Packpapier gewickelte Päckchen und überreichte jedem Kind ein Päckchen. Christa bekam das größte Päckchen und auch das war nur klein.
Die Kinder wickelten die Päckchen schnell aus und was beinhalteten diese Päckchen?
Schokolade!!!!!!!!!!!!!!!!
„Wo hast du denn die Schokolade her?“ fragte Helena.
Meine Großmutter schmunzelte. „Ich hatte mir gedacht, dass wir Weihnachten vielleicht noch nicht in Frankfurt sind und hatte bereits zu Hause in Dembowo diese Päckchen gepackt. Ich hätte zwar nie gedacht, dass wir unter freien Himmel, in dieser von Gott verlassenen Gegend, Weihnachten feiern würden, sondern irgendwo im Warmen, aber sei es drum.“
Die Kinder strahlten, trotz der bitteren Kälte und aßen ihre Schokolade auf. Selbst der kleine Kurt durfte ein bisschen an der Schokolade, die meine Großmutter in der Hand hielt, schlecken.
Das war Heiligabend 1944.
„So, wenn alle ihre Schokolade aufgegessen haben, wird jetzt geschlafen.“ Entschied meine Großmutter. „Morgen ist ein anstrengender Tag. Wenn wir viel Glück haben, schaffen wir es, in drei Tagen in Frankfurt zu sein.“
Der nächste Morgen, es war der 25.12.1944 begann wie die vorherigen mit dem Abbau und Spannen der Planen nach einem kargen Frühstück, das hauptsächlich aus trockenem Brot und Tee bestand.
Etwa zur Mittagszeit machten sie eine kleine Rast und aßen eine Kleinigkeit, wo das war, ist heute nicht mehr nachvollziehbar. Lediglich, das weit und breit kein Dorf oder Gehöft sichtbar war.
Plötzlich hörten sie Geräusche und wurden auf Polnisch angerufen.
Meine Großmutter ließ wieder alle sofort auf die Fuhrwerke aufsitzen und sie fuhren weiter und taten so, als wenn sie nichts gehört hatten. Aber sie wurden verfolgt und schließlich auch eingeholt.
(Anmerkung: Diesen Wortlaut habe ich aus der Erinnerung Judiths. Sie sprach ein sehr gutes Polnisch, während meine Mutter nur ein paar Bocken Polnisch sprach. Meine Großmutter sprach Deutsch, Polnisch und Russisch.)
„Sofort anhalten“, befahl ein uniformierter Mann.
Meine Großmutter zog das Pferd an und stellte sich aufrecht.
„Was wollt ihr.“
„Sehen, was ihr auf den Wagen habt.“
Die Wagen wurden nun von 6 Männern, alle in Uniform, umstellt.
„Wagt es nicht, näher zu kommen“, rief meine Großmutter dem Rädelsführer zu.
Als dieser jedoch näher trat und die Zügel des Pferdes in die Hand nahm, zog meine Großmutter die lange Reitpeitsche aus ihrer Halterung und schlug damit auf den Rädelsführer ein. Dies war ein Zeichen für die anderen Uniformierten, die Wagen zu stürmen. Alles was sich auf den Wagen befand, warfen sie herunter und schauten nach, was sie für sich gebrauchen konnten.
Hauptsächlich stahlen sie den Proviant und einige silberne Gegenstände, die unter dem Stroh versteckt waren.
Der Rädelsführer bedrohte meine Großmutter und Karl wollte ihr zu Hilfe eilen, als ein Schuss ertönte und Karl tot umfiel.
Die Kinder fingen an zu weinen und suchten Schutz bei den Müttern.
„Habt ihr jetzt alles, was ihr wollt“, fragte meine Großmutter den Anführer kalt, obwohl auch sie ihre Tränen nicht zurück halten konnte. „Dann lasst uns jetzt weiter.“
„Noch lange nicht“, antwortete der Anführer und strich sich mit einer Hand über die Wange, die vom Peitschenhieb aufgeplatzt war und blutete. „Dafür musst du und du“, erzeigte auf Helena und meine Großmutter, „zahlen. Und wenn ihr nicht zahlen wollt, dann zahlen es die da“, wobei er auf Judith und meine Mutter zeigte.
Meine Mutter wurde blass, sie verstand sofort, was der Anführer wollte, auch Helena wusste was gesehen sollte und fing an „Nein“ zu schreien.
„Ihr beiden“, sagte der Anführer, „oder die beiden kleinen hübschen.“
„Nimm uns“, befahl meine Großmutter. „Traudl, Judith, Daniel, Joachim, ihr bleibt hier und passt auf Christa und dem kleinen Kurt auf. Wir sind gleich wieder da.“
Helena und meine Großmutter wurden von zwei Uniformierten gepackt und etwas weiter weg hinter einen Gebüsch gezogen. Die anderen Uniformierten lachten, unterhielten sich, rauchten und bewachten zum einen die Kinder, zum anderen ihre Beute mit vorgehaltenen Gewehren.
Die ersten beiden kamen zurück und zwei andere gingen hinter das Gebüsch. Die Kinder konnten seltsame, laute Geräusche und das Gewimmer ihrer Mütter hören, die sie nicht zuordnen konnten.
Nachdem auch die letzten beiden ihrem Vergnügen nachgegangen waren, sagte der Anführer den Kindern, sie sollten lieber hier bleiben und warten, bis ihre Mütter wieder zurück seien. Die Uniformierten nahmen auch die Fuhrwerke mit den Pferden mit und verschwanden.
Die Kinder setzten sich in den Schnee, weinten und warteten.
Es war schon dämmerig, als meine Großmutter erschöpft, schwankend und weinend aus dem Gebüsch kam.
„Wo ist meine Mama“, fragte Daniel tränenüberströmt.
„Deine Mama kommt nicht mehr mit uns mit. Wir müssen alleine weiter ziehen. Wo sind die Pferde?“ entsetzte sich meine Großmutter als sie erst jetzt bemerkte, dass die Fuhrwerke fort waren.
„Die haben die Soldaten mitgenommen“, beantwortete Daniel die Frage. „Und all unsere Sachen, nur den Kinderwagen haben sie hier gelassen.“
Meine Großmutter ging in die Knie und schrie und weinte.
Die Kinder stürzten zu ihr und weinten mit. Was war mit Helena geschehen? Diese Frage erhielt meine Großmutter immer wieder von Judith, Daniel oder Joachim, doch meine Großmutter sagte nichts.
Sie stand auf, ging zum toten Karl, kniete sich zu ihm und gab ihm einen Kuss auf die Stirn und ging zurück zu den Kindern, die sich nicht trauten einen Fuß vor den anderen zu setzen.
Sie nahm den kleinen Kurt, legte ihn in den Kinderwagen, und schaute unter der dünnen Matratze, ob die Dokumente, die sie dort versteckt hatte, noch da waren. Wenigstens die Dokumente hatte niemand gefunden.
„Kommt, Kinder, wir müssen gehen“, sagte meine Großmutter steif und setzte sich in Bewegung.
„Aber Karl“, fragte Joachim, „und wo ist unsere Mutter?“
Meine Großmutter ließ den Kinderwagen stehen, kniete sich nieder, nahm alle Kinder in den Arm und weinte: „Ihr seid ab jetzt alle meine Kinder. Karl liegt in Gottes Hand, und eure Mutter… Kommt, wir müssen gehen.“
So gingen sie durch den tiefen Schnee. Jetzt blieb ihnen keine andere Wahl, als sich einem anderen Flüchtlingstreck anzuschließen. Das wusste meine Großmutter. Sie bereute jetzt, die einsamen Wege gewählt zu haben. Ob und wann sie in Frankfurt ankommen würden, das lag nicht mehr in ihrer Hand.
Irgendwann spät abends fanden sie ein Gehöft, das bewohnt war. Meine Großmutter bat um Unterkunft und Verpflegung. Sie bekamen eine Unterkunft und auch Essen, wofür meine Großmutter mit einigen Schmuckstücken, die sie in den Mänteln der Kinder und in ihrem eigenen eingenäht hatte, bezahlte. Welches Gehöft das war, in welchem Ort, ist heute nicht mehr nachvollziehbar, doch muss es sich in der Nähe von Schwiebus befunden haben.
Sie konnten sich dort einige Tage verstecken, denn sie hörten von den Besitzern des Gehöfts, dass die Russen die Grenze überwunden hätten. Dies war der 1. Januar 1945.
Am folgenden Tag nahm meine Großmutter alle Kinder und sie begaben sich zu Fuß nach Schwiebus, dazu brauchten sie einen Tag. Es war zwar kalt, aber es schneite nicht mehr und der Schnee war auch nicht sehr hoch. Trotzdem war es für alle eine Anstrengung. Spät abends erreichten sie Schwiebus, wo immer mehr Flüchtlinge auftauchten. Aber auch von hier gab es keine Verbindung mehr mit der Bahn nach Frankfurt.
Meine Großmutter, die nur noch das notwendigste sprach, versuchte Tante Frieda in Frankfurt zu erreichen. Sie sandte der Kontaktadresse ein Telegramm, in dem sie angab, dass sie mit den Kindern kommen würde, aber nicht wüsste, wann sie Frankfurt erreichen würde.
Meine Großmutter war davon ausgegangen, dass Tante Frieda nach wie vor in Frankfurt sein würde. Etwas anderes kam für sie gar nicht in Frage.
Sie suchten sich eine Unterkunft, die sie dann auch fanden. Wieder mussten einige Schmuckstücke herhalten. Und es gab auch etwas zu essen, nicht viel, aber etwas.
Am nächsten Tag gab es keine Möglichkeit, weiter an Frankfurt heranzukommen. Erst am darauf folgenden Tag.
Meine Großmutter ergatterte für sich und die Kinder Platz auf einem Fuhrwerk. Wie viele Schmuckstücke sie dafür her lassen musste, ist nicht bekannt.
Es war der 4. Januar 1945 als sie weiter zogen Richtung Frankfurt. Eisiger Wind wehte und es fielen ein paar Schneeflocken. Es waren viele, die sich zusammen getan hatten, um Polen schnellstmöglich zu verlassen, und es hatte sich herum gesprochen, dass die russischen und polnischen Soldaten eine Hetzjagd gegen die deutschen Besatzer und Soldaten veranstalteten.
Meine Großmutter sagte kein Wort mehr, sie hielt nur den kleinen Kurt im Arm und wog ihn die ganze Zeit. Auf dem Wagen war es kalt, hier war kein Stroh ausgelegt, in dem man sich vergraben konnte, doch auch die Kinder murrten nicht. Sie waren müde, ausgelaugt und ausgebrannt.
Würden sie heute bis Frankfurt kommen? Was würde sie dort erwarten?
Aber sie kamen nicht bis Frankfurt. Der Treck war viel langsamer, als ihr eigener kleinerer. Sie kamen bis nach Reppen (Rzepin), Frankfurt war schon in greifbarer Nähe gerückt. 20 km trennten sie jetzt noch von Frankfurt, aber es ging nicht weiter.
Man hörte aus Frankfurt, dass Luftalarm ausgelöst wurde, etwas, was meine Großmutter bis dahin nicht kannte. Wie die Anderen blieb sie mit den Kindern auf dem Wagen liegen und sehnte sich nur nach Ruhe – und nach Essen, denn sie hatten kein Proviant mehr. Sie erhob sich und brachte den Kindern frisch gefallenen Schnee, mehr gab es nicht. Diese Nacht und den folgenden Tag mussten sie auch so überstehen.
Keines der Kinder wagte auch nur zu sagen, dass es Hunger hätte oder dass es durstig wäre, sie sahen, dass meine Großmutter sich nur noch mit großer Mühe halten konnte. Sie war ein Wrack, entehrt, verzweifelt.
Nur dem kleinen Kurt schenkte sie ihre Aufmerksamkeit, zwar wachte sie nach wie vor über die Kinder, aber sie sprach nur mit ihnen, wenn es unbedingt notwendig war.
Am 06.01.1945 erreichten sie Frankfurt. Alle schauten sich um, Frankfurt war teilweise zerstört. Wie sollten sie jetzt Tante Frieda finden?
Meine Großmutter nahm sich ihre Kinder, legte Kurt in den Kinderwagen und begab sich zu der Straße, die ihr als Kontaktadresse genannt wurde. Sie gingen durch Straßen, die von einigen Bomben zerstört waren, an niedergebrannten Häusern vorbei und trafen viele andere Flüchtlinge und sie sahen – Kinder - Jungen, die mit Panzerabwehrraketen und ihren Fahrrädern die Strasse in Richtung der Oder gingen. Jungen, im Alter zwischen 13 und 18 Jahren, die nach wie vor an den Endsieg glaubten. Die glaubten, mit ihrem Einsatz, auch wenn es der Einsatz des eigenen Lebens war, dem Führer zu dienen.
Sie kamen in die Strasse, die ihnen als Kontaktadresse genannt wurde. Aber das Haus war ausgebrannt. Kein Mensch lebte dort. Es war später Nachmittag.
Meine Großmutter konnte nicht mehr, sie ließ sich einfach auf den Gehweg nieder und weinte. Die Kinder waren erschüttert, was sollten sie tun? Alle setzten sich um meine Großmutter herum und nahmen sie in den Arm, teilweise, weil sie nicht wussten, was sie tun sollten, aber vielleicht auch teilweise, weil sie ihr Trost spenden wollten. Nur meine Mutter blieb stehen und wippte den kleinen Kurt in seinem Kinderwagen und schaute von rechts nach links, von links nach rechts.
Plötzlich schrie sie aus Leibeskräften, sie ließ den Kinderwagen stehen und lief und schrie, und lief und schrie. „Tante Frieda, Tante Frieda.“
Eine hoch gewachsene, schlanke Frau in einem schwarzen Mantel kam die Straße direkt auf sie zugehend und als sie den Schrei hörte, fing auch sie an zu laufen und die Arme auszubreiten.
„Traudl!“, Tante Frieda weinte, „Traudl, da seid ihr ja endlich. Wo ist deine Mama?“
Auch meine Großmutter hatte das Rufen meiner Mutter gehört und sich aufgesetzt, auch sie lief auf Tante Frieda zu, weinend, aber auch erlöst, im Schlepptau kam Christa hinter ihr her gerannt. Nur Judith, Daniel und Joachim blieben an der Stelle, an der sie eben noch gehockt hatten, naja, und der kleine Kurt…
„Ihr habt es geschafft!“ sagte Tante Frieda, nicht ohne einen sehr prüfenden Blick auf meine Großmutter werfend. „Dann können wir ja gehen. Wir müssen nach Forst, hier in Frankfurt können wir nicht bleiben. Ich habe ein Fahrzeug, mit dem können wir fahren. – Also kommt.“
„Tante Frieda, wir müssen doch noch Judith, Daniel und Joachim mitnehmen.“
„Wen?“
„Frieda“, stammelte meine Großmutter, „das wird jetzt eine längere Geschichte, aber Traudl hat Recht, sie müssen wir auch mitnehmen. Und natürlich Kurt.“
„Gut, dass ich ein großes Fahrzeug ergattern konnte. Ich komme immer jeden Tag hierher, seit dem ich weiß, dass ihr abgereist seid.“
„Nicht abgereist, Frieda, geflüchtet!“
„Sei es drum, immer zur gleichen Zeit, da ich nicht wusste, ob ihr mein Telegramm erhalten habt, dass das Haus der B. ausgebombt wurde.“
„Nein, ich habe kein Telegramm erhalten, hast du denn meines erhalten?“
„Nein, auch ich habe kein Telegramm von dir erhalten. Aber ist ja auch egal, ihr seid jetzt ja da!“
Typisch Tante Frieda, kurz knapp und bestimmend.
Tante Frieda führte alle zu einem kleinen LKW.
„So, dass wir jetzt aber eng werden. Ruth du kommst mit mir und Kurt mit nach vorne, da werden sicherlich drei Erwachsene Platz haben… Ach so, das ist Herr T., er wird uns nach Forst fahren. Ihr Kinder, auch wenn es kalt ist, müsst euch hinten auf die Ladefläche setzen. Setzt euch eng zusammen und kuschelt euch an, dann wird es nicht zu kalt. Herr T. lassen Sie doch bitte die Plane herunter, damit die Kinder uns nicht erfrieren. Ach so, es sind auch ein paar Decken hinten drauf, darin könnt ihr euch einwickeln.“
So fuhren sie von Franfurt nach Forst, für die Strecke brauchten sie ca. 2 Stunden.
Durchgefroren kamen sie mit der Abenddämmerung in Forst an. Der LKW hielt vor einem großen Gebäude.
Ein älterer Herr kam ihnen entgegen.
„Das ist Herr Z. ihm gehört dieses Anwesen und er ist unser Gastgeber, also verhaltet euch ordentlich und ruhig, so lange wir hier verweilen.“
Herr Z. begrüßte alle mit einem freundlichen Handschlag.
„Nun, da ihr Euch alle vorgestellt habt, muss ich mal überlegen, wie wir die Betten verteilen. Das wird heute Nacht etwas eng werden, aber morgen können wir dann ja alles wieder umstellen. Also, Du Bub und du Bub, wie waren doch gleich noch Eure Namen?“
„Ich bin Daniel.“
„Ich bin Joachim.“
„Nun gut, wie auch immer, ihr beide teilt euch heute Nacht ein Bett, und du, Traudl, schläfst mit Judith in einem Bett. Du, Christa, hast das Glücklos gezogen, du hast ein eigenes Bett für dich.“
„Ich will aber nicht alleine schlafen.“ meinte Christa.
„Hmmm… da bleibt uns dann nur eine Lösung. Wir stellen zwei Betten zusammen und darauf schlaft ihr drei zusammen. Einverstanden?“
„Danke, Tante Frieda.“
„Aber jetzt gehen wir alle erst einmal in die Küche, dort ist es schön warm und da wird erst einmal gegessen. Hinterher kommt ihr alle in den Zuber, und wenn ich alle sage, gilt das auch für euch Buben,“ wobei sie Daniel und Joachim eine Blick zu warf.
„Ist gut, gnädiges Fräulein,“ sagte Daniel.
(Anmerkung: Es war früher so, dass unverheiratet Frauen mit Fräulein angesprochen wurden. Tante Frieda war zu keinem Zeitpunkt je verheiratet und blieb bis zu ihrem Lebensende ein „Fräulein“. Daniel, Joachim und Judith kannten meine Großtante Frieda nur als Schwester meines Großvaters und deswegen war die höfliche Ansprache „gnädiges Fräulein“.)
„Nu gut, wie auch immer (Lieblingsspruch meiner Großtante, besonders, wenn sie konzentriert oder besorgt war), gehen wir jetzt etwas essen.“
„Ich möchte lieber erst ein Bad nehmen und meine Wäsche wechseln“, gab endlich auch mal meine Großmutter einen Ton von sich. „Hast du vielleicht Wäsche zum Wechseln für mich und kannst du mir bitte ein Bad zubereiten lassen?“
„Aber natürlich, Ruth. Ihr - Kinder -“, sie zeigte auf die gegenüber liegende Tür, „geht da rein, dass ist die Küche. Setzt euch an den Tisch und wartet, bis ich wieder da bin. Also Abmarsch! Komm Ruth“, sie hakte sich bei meiner Großmutter unter, „Stopp, Traudl, zurück, nimm Kurt mit, ich denke der wird auch Hunger haben, auch wenn er im Moment schläft.“
Tante Frieda drehte sich zu Herrn Z. um. „Wollen Sie auch mit in die Küche gehen, oder gehen Sie in die Bibliothek?“
„Ich werde das Bad bereiten lassen, danach finden Sie mich in der Bibliothek, lassen Sie sich aber so viel Zeit, wie Sie benötigen.“
„Danke Herr Z.“ Damit verließen meine Großmutter und Tante Frieda den großen Flur und begaben sich in den ersten Stock, wo Tante Frieda ihr Zimmer hatte.
„Was ist passiert?“ fragte Tante Frieda meine Großmutter. „Wieso sind Helenas Kinder hier, wo ist Helena? War sie nicht mit dir mitgekommen?“
„Frieda, ich möchte erst ein Bad und ich möchte frische Wäsche, kannst du bitte so gut sein, und mir Wäsche geben und zeigen, wo das Bad ist? Ich habe keine Sachen mehr zum Wechseln, alles ist verloren…“ und damit brach sie weinend zusammen.
„Ruth, Liebes, weine nicht, alles wird gut. Natürlich, hier“, sie ging zum Schrank, “hast du Wäsche und etwas zum Anziehen. Mit dem Bad musst du sicherlich noch warten, es dauert etwas bis das Wasser heiß ist, aber ich zeige dir, wo das Bad ist.“
Tante Frieda ging mit meiner Großmutter in das Badezimmer, wo eine Angestellte des Hauses den Wasserkessel gerade beheizte. Als sie meine Großmutter mit Tante Frieda sah, knickste sie vor beiden und verschwand.
„Es ist hier wie auf Dembowo“, weinte meine Großmutter.
„Nein“, jetzt liefen auch Tante Frieda die Tränen, „nirgendwo ist es so wie auf Dembowo. Wir werden bald wieder auf Dembowo sein, wenn dieser verdammte Krieg endlich vorbei ist, wenn sie den Hitler am Galgen aufhängen.“
„So darfst du nicht sprechen, Frieda, er ist der Führer!“
„Ich habe nur einen Führer, dass ist mein Herr, mein Gott. Gott, wie konntest du das zulassen?“
„Das ist nicht Gottes Schuld, Frieda, es ist des Menschen Schuld. Zweifel nie an Gott, er ist der einzige, der uns schützt, uns, die an Ihn glauben.“
„Was meinst du, Ruth? Sieh mich an!“
Meine Großmutter schaute Tante Frieda direkt in die Augen. „Ich erzähle dir alles später, Frieda. Ich will jetzt wirklich nur mich reinigen.“
„Nun gut, wie auch immer. Ich gehe jetzt zu den Kindern und gebe ihnen zu essen und wasche sie gründlich, später bringe ich sie zu Bett.“ Tante Frieda verließ das Badezimmer nicht ohne von meiner Großmutter ein „Dank für alles“ zu vernehmen.
In der Küche angekommen, konnte sie erkennen, dass die Köchin den Kindern bereits eine Fleischsuppe gegeben hatte, dazu tranken sie Milch.
Als Daniel und Joachim Tante Frieda erblickten, standen sie auf und deuteten ihrer Schwester an, sich ebenfalls zu erheben, was diese auch zögerlich tat.
„Hört zu, Kinder, es ist sehr höflich von euch, euch zu erheben, wenn ich einen Raum betrete. Aber lasst das jetzt bitte sein und esst. Sobald ihr aufgegessen habt, kommt ihr in den Zuber. Habt ihr noch irgendwelche Wechselsachen?“ fragte sie direkt Daniel und Joachim, die sich auch sofort wieder setzten und ihre Suppe weiterlöffelten.
„Nein, gnädiges Fräulein, die haben die Männer auch mitgenommen?“
„Welche Männer haben eure Sachen mitgenommen?“
„Die Männer, die…“, weiter kam Daniel nicht, weinte lauthals auf und lief aus der Küche.
Tante Frieda war verdutzt, sprang aber ebenso schnell auf und lief hinterher.
„Bub, nun bleib stehen“, rief sie ihm hinterher. Aber Daniel lief weiter, bis er in eine dunkle Ecke kam, in der er sich verkroch und weiter laut schluchzte.
Tante Frieda kam bei ihm an und hockte sich vor ihm. „Was ist denn los, Bub, wie war noch dein Name?“
„Daniel“, schluchzte er.
„Nun gut, wie auch immer, Daniel, was ist denn geschehen?“
„Die Männer, die Männer….“ Daniel konnte nichts sagen und sein Weinen wurde immer lauter.
Herr Z. kam aus der Bibliothek.
„Lassen Sie es gut sein, Frieda, aus dem jungen Mann bekommen sie nichts heraus. Komm Junge, wir gehen wieder in die Küche und du isst erst einmal weiter… später werden wir uns alle unterhalten…“
Tante Frieda folgte Herrn Z. und Daniel, der von Herrn Z. sanft in den Arm genommen und gestreichelt wurde.
Als sie die Küche betraten, bemerkten sie die Totenstille, keiner der Kinder hatte weiter gegessen. Alle sahen zur Tür hin.
Tante Frieda übernahm wieder das Kommando. „Seid ihr etwa schon satt? Dann kommt ihr alle in den Zuber.“
„Wo bekomme ich jetzt Wäsche für die Buben her?“ fragte sie Herrn Z..
Der lächelte und sagte: “Nichts einfacher als das. Ich habe da einiges, was vielleicht ein bisschen zu groß ist und abgenäht werden müsste, aber zur Not wird es auch so gehen.“ Drehte sich um und verließ die Küche.
Auf dem Herd wurde heißes Wasser in großen Töpfen gekocht. Diese wurden in den Zuber gebracht, worin die Kinder gebadet werden sollten.
Nach dem Essen wurden zunächst die Mädchen im Zuber gebadet, danach von Tante Frieda ins Bett gebracht und dann die Jungs, die sich zuerst sträubten, von dem gnädigen Fräulein nackt im Zuber versenkt zu werden. Doch wer Tante Frieda kennen gelernt hatte, weiß, dass nur ein Blick ausreichend ist, und dann tut man alles, was Tante Frieda wollte. Ja, Tante Frieda war streng, aber auch lieb….
Herr Z. hatte inzwischen auch für die Jungs neue Wäsche aufgetrieben, so dass sie sich mit dieser ins Bett begeben konnten.
Tante Frieda sah dann noch nach meiner Großmutter, die war aber inzwischen eingeschlafen. Tante Frieda erkundigte sich bei Herrn Z., ob er noch etwas benötigte, wurde aber von ihm entlassen.
„Ich möchte mich bei Ihnen bedanken, Herr Z., dass Sie gestatten, meine Familie hier unterzubringen, auch wenn sie innerhalb kurzer Zeit so angewachsen ist, von dem ich nichts wusste.“
„Machen Sie sich deswegen keine Sorgen, Frieda. Deswegen nicht. Wir müssen nur sehen, wie alle nach Lübeck kommen, denn das ist ja ihr Ziel. Wie wir das schaffen, weiß ich jetzt wirklich nicht. Sprechen Sie morgen erst mit Ihrer Schwägerin und lassen Sie sich berichten. Wenn es Ihnen beliebt, bin ich bei dem Gespräch oder bei Bedarf dabei. Lassen Sie morgen einmal Ihre Aufgaben Aufgaben sein und kümmern Sie sich um Ihre Familie.“
Damit entließ Herr Z. Tante Frieda, die sich auch auf dem Weg ins Bett machte. Sie würde diese Nacht sicherlich eine unruhige Nacht haben, dessen war sie sich bewusst.
Der nächste Morgen begann und alle Kinder hatten sich, nachdem sie sich gewaschen hatten, in der großen Küche versammelt. Dort hatte die Köchin bereits Kakao gekocht und für jedes Kind eine Scheibe Brot mit Marmelade zubereitet.
Tante Frieda hatte der Köchin dabei geholfen und achtete darauf, dass nicht nur jeder sein Brot aß und seinen Kakao trank, nein, sie achtete auch darauf, dass es sittsam beim Essen zuging.
„Wenn ihr aufgegessen habt, zieht ihr Euch warm an und geht im Hof etwas spielen. Aber – bitte seid leise und stört Herrn Z. nicht.“
Die Kinder begaben sich auf dem Hof und schauten sich um.
Tante Frieda machte sich auf dem Weg zu meiner Großmutter. Zusammen mit einem Brei für Kurt und einem Frühstückstablett für meine Großmutter betrat sie das Zimmer, das sie meiner Großmutter zugewiesen hatte.
„Guten Morgen Ruth.“
„Guten Morgen Frieda“, kam es schwach aus dem Bett meiner Großmutter.
„Ich habe dir dein Frühstück gebracht und für den kleinen Kurt einen Brei.“
„Danke, aber ich kann nichts essen.“
„Papperlapp, du hast gestern schon nichts gegessen, heute wirst du etwas essen und wenn ich dich füttern muss.“
„Ich kann nicht.“
„Schluss, aus. Es wird gegessen.“ Tante Frieda half meiner Großmutter in eine sitzende Position zu setzen und stellte das Tablett mit dem Kaffee und ein paar Scheiben Brot auf dem Bett ab, nahm den kleinen Kurt in den Arm und begann ihn zu füttern.
„Siehst du, dem Kurt schmeckt es. Du musst wieder zu Kräften kommen. Du siehst ja aus, als wenn du dem Leibhaftigen gegenüber gestanden hättest.“
„Ach Frieda“, weinte meine Großmutter. „Du weißt ja gar nicht, was alles in den letzten Tagen passiert ist.“
„Du wirst jetzt erst mal essen, dann dich noch etwas ausruhen. Ich nehme Kurt mit und wenn es dir etwas besser geht, sprechen wir. Ich dulde keinen Widerspruch.“
Tante Frieda fütterte den kleinen Kurt weiter und meine Großmutter begann zu frühstücken.
Sie war erschöpft. Und sie ließ sich nach dem Frühstück wieder in die Kissen zurückfallen. Niemals hatte Tante Frieda ihre Schwägerin so entkräftet gesehen und sie machte sich Sorgen um ihre Schwägerin.
„Schlaf noch etwas, Liebes, wenn du etwas brauchst, läute hier“, wobei sie auf eine Schnurr hinwies, die mit der Küche verbunden war, „ dann kommt eines Mädchen“, sagte Tante Frieda, nahm den kleinen Kurt mit sich und verließ den Raum.
Auf der Treppe begegnete sie Herrn Z.
„Frieda?“
„Ja, Herr Z..“
„Wie geht es ihrer Schwägerin?“
Tante Frieda traten Tränen in den Augen. „Ich weiß es nicht, Herr Z.. Sie ist so kraftlos, so abwesend.“
„Sie wird einige durchgemacht haben. Und, vergessen Sie nicht, sie hat ihr Zuhause verloren, genauso wie Sie.“
„Ja“, schluchzte Tante Frieda, „unser Dembowo..“
„Bringen Sie den Kleinen in Ihr Zimmer. Es sieht so aus, als wenn auch er noch etwas Schlaf benötigt und kommen Sie dann bitte in die Bibliothek. Wir müssen noch Einiges besprechen. Wie es hier weiter geht, mit den Kindern, und wie wir es schaffen, dass sie alle nach Lübeck kommen, wobei ich der Ansicht bin, Sie und Ihre Familie sollten hier bei mir bleiben bis der Krieg zu Ende ist. Lange kann es nicht mehr dauern.“
„Herr Z., das geht nicht. Wir müssen weiter. Wir können Ihnen hier nicht zur Last liegen.“
„Frieda, das Haus hier ist groß genug nochmals 10 Kinder aufzunehmen. Wenn Sie es wollen, bleiben Sie hier, was meiner Ansicht nach, auch das Beste für Ihre Schwägerin wäre.“
„Ich danke Ihnen für Ihr Angebot und werde das Gesagte in Betracht ziehen.“
„Kommen Sie bitte, wenn Sie den Kleinen hingelegt haben, in die Bibliothek. Ich erwarte Sie dort.“
Herr Z. ging die Treppe nach unten, während Tante Frieda Kurt in ihr Zimmer brachte. Dort legte sie Kurt in ihr Bett, der sich dort sofort einkuschelte, seinen Daumen in den Mund nahm und friedlich einschlief, kaum dass er im Bett lag. Vor das Bett stellte Tante Frieda zwei Stühle, damit Kurt nicht aus dem Bett fiel, sollte er zu viel strampeln.
Sie informierte ein Hausmädchen, dass diese ab und zu in das Zimmer schauen möchte, um zu sehen, ob der Kleine schlief. Sollte er erwachen, wollte sie informiert werden.
Tante Frieda begab sich, nicht ohne vorher anzuklopfen, in die Bibliothek, wo Herr Z. am Fenster stand und dem Treiben der Kinder im Hof zuschaute.
„Schön, dass Sie da sind, Frieda“, sagte er und drehte sich zu Tante Frieda um. „Nehmen Sie bitte dort Platz“ und wies ihr einen bequemen Ohrensessel am Kamin zu.
Tante Frieda setze sich und Herr Z. nahm im gegenüber liegenden Ohrensessel Platz.
„Frieda, Sie sind erst seit kurzem meine Haushälterin und ich möchte Ihnen sagen, dass es mir sehr Leid täte, Sie zu verlieren.“
„Ich danke Ihnen, Herr Z.. Auch mir gefällt es hier sehr gut, aber ich muss meine Familie nach Lübeck bringen. Ich habe es meinem Bruder versprochen.“
„Ich weiß, das sagten Sie, als ich Sie in meine Dienste einstellte. Und ich hatte Ihnen gesagt, dass ich Sie unterstützen werde, wenn Ihre Familie in Frankfurt ankommt. Zumal die Familie von B. (Anmerkung: Kontakt in Frankfurt) ausgebombt und Frankfurt schon verlassen hat. Vielleicht sind Sie aber auch schon tot. Wir wissen das nicht. Was wollen Sie in Lübeck? Bleiben Sie doch lieber hier!“
„Ich fühle mich geehrt. Und ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken kann. Aber ich habe in Lübeck einen Cousin, der dort einen großen Hof hat, wo wir unterkommen können. Ich habe ihm bereits telegrafiert und er ist über unser Kommen informiert. Auch hat er zurück telegrafiert, dass wir jederzeit Willkommen sind.“
„Also ist die Entscheidung gefallen? Es lässt sich nichts daran rütteln?“
„Ich denke nicht, Herr Z.. Ich will jetzt erst mal schauen, was mit meiner Schwägerin passiert ist und sobald sie wieder bei Kräften ist, werden wir Forst verlassen. Ich kann Sie nicht in Gefahr bringen.“
„In welche Gefahr bringen Sie mich denn?“
„Herr Z., Sie waren und sind immer gut zu mir gewesen und beweisen auch jetzt, wo meine Schwägerin mit den Kindern hier ist, ein großes Herz. Aber da gibt es etwas, was Sie nicht wissen. Und ich habe Angst, es Ihnen zu offenbaren.“
„Frieda, Sie sind zwar erst kurz in meinem Haushalt, aber ich habe das Gefühl, das Sie seit Jahren hier Schalten und Walten. Seit dem Tod meiner geliebten Frau und unserer Kinder, war es hier nicht mehr so lebendig in diesem Haus. Und seit gestern sind hier auch Kinder, das alles erinnert mich an vergangene Zeiten.“
Herr Z. war einer der vielen Tuchfabrikanten in Forst. Er war um die 60 Jahre alt und hatte seine Frau im vorherigen Jahr an einer Krankheit verloren. Er hatte drei Söhne, die alle innerhalb weniger Wochen an der Ostfront gefallen waren.
„Herr Z., ich weiß nicht, wie ich es Ihnen sagen soll. Hier in und um Forst herum gibt es so viele Lazarette, wenn jemand etwas erfährt….“
„Raus mit der Sprache, Frieda. Das, was hier in diesem Raum besprochen wird, bleibt in diesem Raum!“
„Die Kinder, die Kinder Judith, Daniel und Joachim sind Juden…“
„Was? Das sind Juden? Aber sie tragen doch gar keinen Stern!“
„Ja, das weiß ich. In Dembowo hat nie jemand nach der Religion des anderen gefragt. Für uns war es nicht wichtig. Aber hier sind so viele Soldaten und die SS-Männer. Ich habe Angst, dass wenn jemand herausfindet, dass die Kinder jüdisch sind… In Dembowo hatten wir keine Angst, aber hier…“
„Frieda, machen Sie sich keine Sorgen. Das Geheimnis ist bei mir sicher. Wir werden eben darauf achten müssen, dass die Kinder den Hof nicht verlassen. Ich finde es eh besser, sie blieben hier im geschützten Bereich, bei dem, was da draußen im Moment so herumläuft.“
„Danke, Herr Z., ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken kann.“
„Beten Sie, Frieda, beten Sie für uns alle. Und jetzt kümmern Sie sich um Ihre Schwägerin. Ich würde sie gerne heute an unserem Mittagstisch sehen. Und bitte, Frieda, heute speisen wir zusammen mit den Kindern im großen Esszimmer. Wie eine große Familie. Und nun gehen Sie bitte“
Tante Frieda machte sich auf den Weg zu meiner Großmutter. Vorher betrat sie ihr Zimmer und sah in ihr Zimmer. Kurt schlief noch, also konnte sie nach ihrer Schwägerin sehen.
Meine Großmutter lag im Bett und weinte still vor sich hin.
„Was hast du, Ruth?“
„Ach, Frieda“, weinte meine Großmutter, „wenn du wüsstest…“
Tante Frieda ging zum Bett und nahm meine Großmutter in den Arm, strich ihr übers Haar.
„Erzähl…“
Und meine Großmutter erzählte, dass sie von den polnischen Soldaten mehrfach vergewaltigt wurde. Auch Helena hatten sie vergewaltigt. Als Helena immer lauter schrie, stopfte ihr einer der Soldaten Schnee in den Mund und drückte ihren Mund zu.
Nachdem die Soldaten von ihnen gelassen hatten, kroch meine Großmutter weinend zu Helena. Sie bemerkte, dass Helena nicht mehr atmete. Wahrscheinlich war sie bei der Vergewaltigung, als man ihr Schnee in den Mund steckte und ihr den Mund zu hielt, erstickt. Meine Großmutter richtete sich einigermaßen her und schichtete Reisig und Schnee auf den Leichnam.
(Anmerkung: Ich hatte meinen ersten Entwurf für diese Buch Judith per eMail an einen ihrer Söhne geschickt, mit der Bitte, dass er oder jemand anderes dabei sein sollte, wenn seine Mutter diesen Entwurf lesen würde. Judith ist heute 81 Jahre alt. Ich wusste nicht, was passieren würde, wenn sie liest, was ihrer Mutter widerfahren war.
In der darauf folgenden Nacht bekam ich einen Anruf von Judith. Sie fragte mich unter Tränen, seit wann ich wüsste, dass ihre Mutter bei der Vergewaltigung umgekommen wäre, und wieso ich ihr dies niemals erzählt hätte.
Ich antwortete, dass es mir schwer gefallen sei, ihr das direkt zu erzählen, und dass es mir leid täte, ihr es auf diesem Wege mitzuteilen, aber ich weiß es seit meinem 14. Lebensjahr, als ich die Geschichte meiner Großmutter zum ersten Mal komplett erzählt bekommen habe . Auch meine Mutter wusste, dass Helena bei der Vergewaltigung gestorben war, konnte es Judith jedoch nie sagen.
Judith verstand und sagte, es wäre wahrscheinlich für alle so das Beste. Aber sie wüsste nun endlich, dass ihre Mutter sie nicht verlassen hatte. Sie und ihre Brüder hatten immer geglaubt, Helena hätte sie verlassen. Nun konnte Judith ihrem noch lebenden, jüngeren Bruder mitteilen, dass ihre Mutter bei der Vergewaltigung gestorben war.)
Als meine Großmutter alles erzählt hatte, sie lag immer noch in den Armen ihrer Schwägerin, legte Tante Frieda sie wieder ins Bett und sagte: „Judith, ich kann mir nicht vorstellen, was dir widerfahren ist, aber wir müssen an die Kinder denken. An deine und an Helenas. Wir müssen nach Lübeck! Ruhe dich aus und sieh zu, dass du wieder zu Kräften kommst. Du hast nun auch eine Verantwortung gegenüber Helenas Kinder. Sei stark! Wir schaffen es!“
Damit verließ Tante Frieda das Zimmer ihrer Schwägerin. Entkräftet, psychisch angeschlagen ging sie in ihr Zimmer zu Kurt und legte sich zum ihm aufs Bett.
Sie hasste Adolf Hitler!!!! Nicht nur dass sie wegen ihm Dembowo verlassen mussten, nein, für meine Großtante war er verantwortlich, dass meine Großmutter vergewaltigt wurde.
Meine Großtante schrieb noch am gleichen Abend einen Brief an ihren Bruder, meinem Großvater, dass seine Frau mit den Kindern bei ihr in Forst wäre und dass sie weiter über Berlin nach Lübeck wollten. Dass meine Großmutter vergewaltig wurde, verschwieg sie. Sie hoffte, dass dieser Brief ihn erreichen würde.
Die nachfolgenden Tage verliefen ereignislos. Meine Großmutter kam wieder zu Kräften.
In Forst selbst spitzte sich die Lage zu. (Forst liegt an der unmittelbaren Grenze zum heutigen Polen.)
Die Lazarette der Wehrmacht wurden mehr und mehr aufgelöst und es kamen immer mehr Flüchtlinge aus dem Osten, die in den Westen wollten.
„Ruth, ich glaube wir müssen weiter. Der Russe steht vor der Tür. Es wird Zeit, dass wir nach Lübeck gehen“, sagte Tante Frieda.
„Du hast Recht, es bleibt uns wohl nichts anderes übrig.“
„Wir werden Herrn Z. informieren.“
Tante Frieda und meine Großmutter gingen zu Herrn Z., der sich wie gewöhnlich in der Bibliothek aufhielt. Nachdem sie dort angeklopft hatten, betraten sie die Bibliothek.
„Frieda, Frau D., was kann ich für sie tun?“
„Herr Z.“, übernahm Tante Frieda das Wort. „Es wird Zeit, dass wir Forst verlassen. Sehen Sie sich die Flüchtlingsströme an, die jeden Tag über Forst einbrechen und die dazugehörigen Neuigkeiten. Wir können nicht mehr bleiben.“
„Das tut mir leid. Ich hätte mir gewünscht, Sie würden bleiben. Der Krieg ist sicherlich bald zu Ende.“
„Nein, Herr Z., so lange Hitler lebt, werden wir immer Krieg haben. Selbst die Luftangriffe der Britten rücken immer näher. Und dass jetzt auch die Lazarette abgebrochen werden, spricht ebenfalls für sich. Kommen Sie mit uns!“
„Ich? Nein Frieda, ich bleibe hier. Was soll ich in Lübeck? Hier ist alles, was ich habe, hier ist mein Leben! Hier ist meine Fabrik! Nein, ich kann und ich will und ich werde Forst nicht verlassen.“
„Herr Z., die Russen werden Forst überrollen.“
„Und wenn schon, ich werde mich nicht von Fleck rühren. Ich bleibe. Aber ich werde alles Mögliche tun, um Ihnen bei Ihrer Reise zu helfen. Wissen Sie, wann Sie abreisen werden?“
„Herr Z., wir werden nicht Reisen, wir werden Fliehen!“ sagte Tante Frieda entschieden und energisch. „Fliehen müssen!“
„Frieda, nun behalten Sie Ruhe. Wann werden Sie gehen?“
„Ich werde morgen nach Cottbus fahren und Fahrkarten nach Berlin besorgen. Von da aus werden wir weitersehen.“
„Ich werde Sie nach Cottbus begleiten“, entschied Herr Z.. „Sagen Sie den Kindern noch nichts, sie sind hier so glücklich und können schon wieder lachen. Ich weiß gar nicht, wie ich es ohne die Kinder aushalten werde. Mit wäre es wirklich viel lieber, Sie blieben hier.“
„Nein, Herr Z., wir werden in den Westen gehen.“
Am nächsten Morgen fuhren Herr Z. und Tante Frieda nach Cottbus, am frühen Abend waren sie wieder zurück.
Tante Frieda begab sich sofort in das Zimmer meiner Großmutter.
„Wir müssen morgen früh los. Du kannst Dir gar nicht vorstellen, was in Cottbus los ist, überall Flüchtlinge. Das nimmt kein Ende.“
Meine Großmutter sprang erregt auf.
„Morgen schon?“
„Ja. Morgen! Wir kommen sonst nicht mehr hier raus. Die ganzen Lazarette um Forst herum werden auch schon aufgelöst.“
„Aber wir müssen uns doch vorbereiten.“
„Wir haben nur noch diese Nacht Zeit. Pack alles, was du brauchst ein. Auch die größeren Kinder können einen kleinen Koffer tragen. Sie sollen zunächst ihre Wäsche einpacken. Alles andere bleibt hier. Das holen wir dann ab, wenn der Krieg vorbei ist. Nun pack deine Sachen.“
Wie ein Wirbelwind, lief Tante Frieda zwischen den einzelnen Zimmern herum, scheuchte die Kinder, ihre Sachen zu packen. Und kontrollierte, ob sie auch nur Wäsche einpackten. Lediglich bei Christa lies sie eine Ausnahme zu. Sie durfte ihre Strohpuppe, die sie von Karl geschenkt bekommen hatte, mit einpacken.
Spät am Abend war alles verpackt. Auch die letzten Schmuckstücke, die noch übrig waren, waren wieder in den Mänteln vernäht.
Sie setzten sich alle zum letzten gemeinsamen, ruhigen Abendessen in die Küche.
Herr Z. betrat die Küche.
„Frieda, Frau D.. Wenn Sie beide gespeist haben, die Kinder zu Bett gebracht haben, kommen Sie doch bitte in die Bibliothek.“ Damit verließ er die Küche.
Nachdem die Kinder zu Bett gebracht waren, gingen Tante Frieda und meine Großmutter zu Herrn Z..
„Ich glaube nach wie vor“, eröffnete Herr Z. das Gespräch, „ dass Sie hier sicherer sind als auf der Reise nach Lübeck. Doch da ich Sie hier nicht halten kann, nehmen Sie das bitte.“ Er überreichte Tante Frieda eine kleine Schatulle.
Tante Frieda öffnete die Schatulle, wurde blass und wollte die Schatulle Herrn Z. wieder zurück reichen.
„Das können wir nicht annehmen, Herr Z.“ In der Schatulle waren mehrer Goldmünzen, 20 Reichsmark Wilhelm II in Gold. Ein zu damaliger Zeit unfassbarer Wert.
„Nehmen Sie es, Frieda. Nehmen Sie es für sich, Ihre Schwägerin und die Kinder. Sie werden jeden einzelnen Pfennig gebrauchen. Wo immer Sie sich niederlassen, es ist eine Starthilfe für Ihr neues, unbekanntes Leben. Ich habe hier alles was ich brauche. Wem soll ich auch noch etwas hinterlassen, ich habe keine Familie mehr. Nehmen Sie es, es kommt aus tiefstem Herzen.“
Meine Großmutter und Tante Frieda brachen in Tränen aus.
„Ich weiß nicht, was ich sagen soll“, sagte Tante Frieda. „Sie waren in der kurzen Zeit, in der ich bei Ihnen arbeiten durfte, immer sehr gut zu mir und jetzt das. Das werde ich Ihnen nie vergessen.“
Tante Frieda ging auf Herrn Z. zu und gab ihm einen Kuss auf die Wange.
„So, jetzt gehen Sie schlafen. Morgen fängt der Tag früh an.“
Der Tag am 14. Februar 1945 begann um 6 Uhr in der Frühe. Die Kinder wurden geweckt und gewaschen. Danach gab es ein reichhaltiges Frühstück. Alle verabschiedeten sich von der Köchin und dem Hauspersonal. Dem einen oder anderen kamen die Tränen. Man hatte sich eingelebt und war traurig, sich wieder trennen zu müssen.
Um 7 Uhr stand ein kleiner LKW vor dem Haus und die Kinder wurden wieder auf die Ladefläche gesetzt, zusammen mit den Koffern und Kurts Kinderwagen. Tante Frieda und meine Großmutter saßen vorne im Wagen. Den Wagen lenkte nun Herr Z.. Er wollte es sich nehmen lassen, alle persönlich nach Cottbus zu bringen.
Obwohl Cottbus keine 30 km entfernt von Forst war, brauchten sie 1 Stunde. Am Bahnhof angekommen, sahen sie Massen von Menschen, die alle nach Berlin wollten. Fahrkarten gab es keine, und man brauchte auch keine. Die Fahrt nach Berlin war umsonst. Sie warteten Stunde um Stunde, bis sie alle zusammen Platz in einem Waggon hatten.
Herr Z. verabschiedete sich von jedem mit einer herzlichen Umarmung. Tante Frieda hatte ein Abteil gefunden, wo alle unterkamen, es war zwar eng, aber so waren sie für sich. Es roch nach Menschen, nach Dreck, nach Schweiß. Doch das war halb so schlimm. Hauptsache, sie kamen ihrem Ziel näher.
Tante Frieda öffnete das Fenster ihres Abteils. Herr Z. trat heran und sagte.
„Wir sehen uns nach dem Krieg. Kommen Sie jederzeit wieder, Frieda.“
„Das werde ich“, antwortete Tante Frieda und schon liefen ihr die Tränen die Wange hinunter.
Heute glaube ich, Tante Frieda hatte sich in Herrn Z. verliebt. Niemals, nach der Flucht, hatte Tante Frieda einen Mann oder Freund gehabt. Doch leider ist Herr Z. Ende April 1945 bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen.
Der Zug brauchte Stunden, bis er in Berlin ankam. Immer wieder hielt er an, immer wieder stiegen Menschen dem Zug zu, alle wollten nach Berlin. In Berlin, glaubte jeder, wären sie sicher.
In Berlin angekommen, wurden ihnen zunächst gewahr, dass Berlin total zerstört war.
„Hier bleiben wir nicht“, entschied Tante Frieda, „wir sehen zu, dass wir noch heute, spätestens Morgen eine Verbindung nach Lübeck bekommen.“
Tante Frieda bekam dann für alle Karten bis nach Magdeburg. Sie wollte nur raus aus Berlin. Berlin war ihr unheimlich.
Im Zug nach Magdeburg bekamen sie keine Sitzplätze, und so saßen die Kinder mit Tante Frieda und meiner Großmutter einfach in den Gängen. Kontrolliert wurden sie nicht. Jeder, der im Zug war, war still. Obwohl es bereits dunkel wurde, wurde im Zug kein Licht eingeschaltet. Man hatte wohl Angst vor Fliegerangriffen. Die Flieger griffen schon längst nicht mehr nur in der Nacht an, auch am Tag gab es immer wieder Luftangriffe.
Deutschland war das Land der Sirenen.
In Magdeburg spät angekommen versuchte Tante Frieda Verbindungen nach Hannover herauszubekommen. Erst am nächsten Tag fuhr ein Zug nach Hannover. Sie blieben im Bahnhof und übernachteten dort.
Die Kinder mussten auf die Toilette.
„Ihr Buben“, sagte Tante Frieda, „ geht da hin. Und ihr bleibt zusammen! Geht zusammen auf den Abort, keiner von Euch geht alleine!“
Die Mädchen nahm Tante Frieda mit. Auch ihnen schärfte sie ein, nicht alleine zu bleiben.
Die Toiletten waren überfüllt und es stank nach Fäkalien. Überall war es dreckig. Trotzdem verrichteten die Kinder ihre Notdurft.
Als Tante Frieda mit den Kindern zu meiner Großmutter zurückkam, war diese total aufgewühlt, zitterte am ganzen Leib. Grund war, sie sah einige Männer in Uniform.
Tante Frieda nahm meine Großmutter in den Arm und sprach ihr zu.
Meine Großmutter war ein Wrack.
Die Nacht verbrachten sie wieder auf dem Bahnhof und am nächsten Morgen verließen sie Magdeburg in Richtung Hannover. Dort angekommen fanden sie die nächste zerstörte Stadt vor, aber sie erhielten sofort Anschluss nach Hamburg.
Am 18. Februar 1945 erreichten sie Lübeck. Aber meine Großmutter nahm davon nichts mehr wahr. Sie vegetierte im Haus ihres Cousins nur noch vor sich hin. Letztendlich blieb nichts anderes übrig, als sie ins Krankenhaus zu bringen.
Sie wurde im März 1945 in das Landeskrankenhaus Heiligenhafen überwiesen, wo sie im Dezember 1945 verstarb. Sie hatte die psychischen Wunden der Vergewaltigung und des Todes ihrer Freundin nicht überwunden. Sie starb an gebrochenen Hernzen, so wurde es uns, den Enkeln immer wieder gesagt.
Tante Frieda kümmerte sich ab diesem Zeitpunkt um alle 6 Kinder, wie eine Mutter und wurde dabei von der Familie ihres Cousins tatkräftig unetrstützt.
Mein Großvater stieß im Jahre 1949 zu Ihnen, bis dahin war er in Kriegsgefangenschaft. Zu diesem Zeitpunkt war meine Mutter selbständig genug, einen Arbeitsplatz zu finden. Da sie keine Ausbildung hatte, war sie zunächst als Krankenpflegehelferin tätig und später Haushaltshilfe.
An ihrer Seite immer Judith. Judith und meine Mutter lebten so lange zusammen, bis jede von ihnen ihren jeweils späteren Ehemann traf.
Und Tante Frieda? Als "ihre" Kinder groß genug waren, arbeitet sie in einem Haushalt bei einem Arzt. Irgendwann ging sie in Rente und lebte von ihrer kleinen Rente, die mit Sozialhilfe aufgestockt war. Trotzdem hatte sie, wenn sie ihre Großneffen und Großnichten besuchte, immer etwas an Naschereien für uns dabei.
Für uns, war sie nicht nur Großtante, sondern gleichzeitig "Oma-Ersatz". Eine schlanke, stolze, aufrechte, gläubige und vor allem liebe Tante Frieda.
Dembowo hatte sie nicht wieder gesehen, ebenso wenig wie meine Großeltern oder Judith, oder Daniel, oder Joachim.
Aber über eines hätte sich meine Großmutter sicherlich gefreut.
Helenas und ihre Kinder kamen unbescholten durch den Krieg. Auch wenn es eine schwere Zeit für die Kinder war, ihre Mütter hatten sie gerettet. Gerettet und eine Zukunft vorbereitet.
Vom Familienschmuck meiner Großmutter blieben nur eine Kette und zwei Ohrringe aus dunkelrotem Rubin übrig. Diesen Schmuck erhält immer die älteste Tochter.
Diesen Schmuck hat nun meine Schwester und sie wird ihn an ihre Tochter weitergeben. So bleibt immer ein Stück Erinnerung an die Vergangenheit.
Eine Erinnerung an Dembowo und meiner Großmutter, die wir, die Enkel, niemals kennen gelernt haben.
Texte: RaiGay
Bildmaterialien: keine
Tag der Veröffentlichung: 04.09.2012
Alle Rechte vorbehalten