„Das mach ich sicher nicht!“
Ein neunjähriger Junge sitzt zitternd im kalten Schnee vor den Mauern eines gelb gestrichenen Hauses in der Innenstadt. Sein Name ist Samuel Willard. Vor seinen Füßen liegt eine kleine Schüssel aus Plastik, in der ein paar Münzen liegen. Der Mond hat die Sonne schon längst vertrieben und nur noch wenige Leute tummeln auf den eisigen Straßen umher. Es wird Zeit, einen Unterschlupf für die Nacht zu finden.
Zu den anderen Obdachlosen will er nicht gehen. Sie wirken zwar nett, aber wenn sie sich betrunken haben werden sie laut und sagen böse Dinge, ja sie prügeln sich manchmal sogar untereinander. Samuel hat Angst vor denen. Er zieht es vor, sich auf dem Spielplatz zurückzuziehen, und in der grünen Plastikrutsche zu schlafen. Bis jetzt hat ihn dort niemand gestört, und er wacht immer rechtzeitig auf, bevor andere Kinder zum Spielen kommen.
Mit zittrigen Händen nimmt er die gesammelten Münzen aus seiner Plastikschüssel (die ihm einer der Obdachlosen gegeben hat) und zählt sie. Sieben Dollar und zwanzig Cent. Glücklicherweise bekommt er mehr als die anderen Bettler, weil er ein Kind ist. Er steckt sich die Münzen in seine Manteltasche, hebt die Schüssel vom schneebedeckten Boden auf und macht sich auf dem Weg zum Spielplatz. Es ist bereits dunkel, und lediglich die Straßenlaternen spenden ein wenig Licht.
Samuel kann sich nicht an die Gesichter seine Eltern erinnern. Er weiß nicht einmal, ob er sie jemals gesehen hat. Er kann sich bloß vage daran erinnern, dass ihn sein Onkel Moe großziehen sollte. Aber wie diese Obdachlosen hat auch Moe ein Alkoholproblem gehabt, und hat den Jungen immer misshandelt und geschlagen, ohne Grund. Einmal hat er ihn so fest geschlagen, dass Samuel einen lauten, schrillen Schrei ausgestoßen hat. Die Nachbarn haben daraufhin die Polizei angerufen. Als zwei Polizisten dann vor der Tür standen und Samuels Veilchen sahen, erklärte Onkel Moe, dass das Kinder von der Straße waren, die ihn verprügelt hatten. Den Schrei stritt er ganz ab. Er habe niemanden schreien gehört. Die Polizisten sahen dem Jungen in die Augen und fragten ihn, ob das stimmte. Und Samuel nickte. Denn Moe hatte ihm gedroht, ihn lebendig zu begraben, wenn er auch nur einen Mucks von sich geben sollte. Samuel hatte Angst vor ihm. Also nickte er. Und obwohl die beiden Polizisten dem ganzen nicht trauten, kehrten sie niemals wieder zurück.
Nur wenige Wochen später drohte Moe Samuel, ihn mit einem Küchenmesser die Kehle durchzuschneiden. Der Junge musste sich sechs Stunden lang in seinem Zimmer einsperren, bevor sein Onkel in seinem Alkoholrausch fest in seinem eigenen Erbrochenem eingeschlafen war. Dann entschied er sich für immer zu verschwinden. Er packte seinen Rucksack mit einigen Lebensmitteln aus der Küche und das bisschen Kleidung, das er hatte, und ließ das Monster von einem Onkel zurück.
Und nun hat er niemanden, der auf ihn aufpasst, außer ihm selbst. Ein halbes Jahr hat er so schon gelebt, und inzwischen hat er sich gut daran gewöhnt. Doch jetzt, da der Winter am intensivsten wird, wird es immer schwerer, durchzubeißen. Die Nächte sind eisig kalt, selbst mit dem Mantel, den er ebenfalls von einem der Obdachlosen bekommen hatte. Er hat bereits versucht, an verschiedenen Türen zu klingeln und die Leute anzuflehen, ihn bei ihnen wohnen zu lassen, wenn nur den Winter über. Er war sogar bereit, für sie zu arbeiten. Doch niemand wollte etwas mit einem dahergelaufenen Straßenkind zu tun haben. Alle haben sie ihn fortgeschickt, zurück in die klirrende Kälte.
Samuel ist am Spielplatz angekommen. Eine dunkle Gestalt verlässt ihn gerade, als er kurz stehen bleibt, um sich den Jungen anzusehen. Zwei Sekunden später geht er wieder weiter. Dem Burschen ist kurz das Herz stehen geblieben. Er hat befürchtet, dieser Kerl würde auf ihn losgehen, und ihm sein Geld abluchsen.
Langsam begibt sich Samuel zur grünen Rutsche, auf dem sich eine dünne Schicht Schnee gebildet hat. Niemand anderes ist hier. Er will gerade in das Innere der Rutsche klettern, um es sich so gemütlich wie möglich zu machen, als er merkt, dass etwas drin liegt. Eine kleine, durchsichtige Plastiktüte mit einer seltsamen weißen Substanz als Inhalt. Es sieht aus wie Mehl. Samuel nimmt die Tüte und betrachtet sie aus nächster Nähe. Wer würde Mehl in so etwas lagern, und es dann in der Rutsche liegen lassen? Wie auch immer, vielleicht kann er es ja in Notzeiten auf der Zunge zergehen lassen, um wenigstens ein bisschen Hunger zu stillen. Ohne groß nachzudenken steckt er das Tütchen in seinen Rucksack. Dann klettert er in die Rutsche, so dass die Beine noch raushängen und seine Schuhsohlen den Schnee berühren. Sein Magen knurrt, aber mit der Gewissheit, sich morgen ein Stück Brot mit Käse leisten zu können, schließt er die Augen und schläft trotz der erbarmungslosen Kälte ein.
Doch sein Schlummer ist nicht von langer Dauer, denn eine laute Männerstimme reißt ihn aus seinen Träumen.
«Yo, was soll’n der Scheiß?»
Noch bevor Samuel reagieren kann packt ihn jemand bei beiden Füßen und zieht ihn aus der Rutsche raus. Das Kind hängt nun kopfüber, und alles was er sieht sind die dreckigen, eingerissenen Jeans des Kerls, der ihn hochhebt.
«Hey, hast du dir meinen Schnee in die Nase geschoben, du Bengel?», fragt er mit aggressiver Stimme. Die ganze Situation macht Samuel ängstlich und panisch, und ihm ist als ob er wieder seinem Onkel begegnen würde.
«Hey, lass ihn los!», brüllt eine zweite Stimme in der Distanz, «Hörst du? Lass los!»
«Wie du willst, Arschloch!», entgegnet der Fremde und lässt den Jungen mit dem Kopf voran in den Schnee stürzen. Er schafft es rechtzeitig, den kleinen Sturz mit seinen Armen abzuprallen, und landet relativ sanft. Seine Hände sind mit Schnee bedeckt und zittern, aber weniger aus Kälte sondern mehr aus Angst. Der Kerl hat sich von dem Jungen abgewandt und ruft nun der anderen Stimme zu, «Yo, ich hab dich bezahlt, okay? Ich will meinen Stoff, pronto! Ich lass mich nicht verarschen!»
«Ich kümmer mich darum!», antwortet die andere Stimme. Samuel erkennt den Mann, der aus der Ferne auf ihn zukommt wieder: Es war der Kerl, der den Spielplatz verlassen hatte, als er gerade gekommen war. Ein Afroamerikaner mit Rastafrisur und einer rot-blauen Winterjacke. Eine Zigarette steckt zwischen seinen Lippen, deren Rauch langsam hinter ihm herzieht, als er hastigen Schrittes auf Samuel zuschreitet.
«Nichts für Ungut, Sportsfreund!», sagt er, «aber hast du zufällig eine kleine Tüte mit Mehl hier gesehen? In der Rutsche?»
Samuel versucht zu sprechen, aber dafür steckt ihm ein viel zu großer Kloß im Hals. Stattdessen nickt er einfach nur, und greift nach seinem Rucksack. Der Mann, der ihn hochgehoben hat, tritt ihm die Hand sofort weg.
«Au!»
«Was soll das schon wieder, Drew?», fragt der Afroamerikaner, und schubst den Kerl von sich.
«Hey, wer weiß was der kleine Wichser in seinem Rucksack hat? Vielleicht zieht er ´ne Knarre raus und schießt mir ein Loch in den Kopf!»
«Ernsthaft, vielleicht sollte der Junge dir das Koks nicht geben. Deine Paranoia geht mir auf den Geist.»
«Fick dich! Ich hab bezahlt, ich will die Ware. Los jetzt!»
Der Mann mit den Rastas blickt Samuel an und nickt langsam. Der Junge öffnet seinen Rucksack und kramt die kleine Tüte mit dem Mehl hervor.
«Meint ihr das?», fragt er mit zittriger Stimme.
«Ja, genau das. Komm, gib her.», sagt der Schwarze mit ruhiger Stimme, und nimmt dem Burschen das Koks ab. Dann wirft er es zu seinen Kunden rüber, der es mit beiden Händen auffängt.
«Na also!», freut er sich, und verlässt die Szene ohne auch nur ein weiteres Wort zu sagen. Der Mann mit den Rastas streckt Samuel freundlich die Hand entgegen, und hilft ihm auf die Beine zu kommen.
«Tut mir leid, Kleiner. Manche Leute haben einfach nicht mehr alle Tassen im Schrank.»
«Ist schon okay», erwidert Samuel, der von seinem Onkel schon Schlimmeres gewöhnt war, «Aber wieso braucht der das Mehl so dringend?»
Der Afroamerikaner zieht überrascht eine Augenbraue nach oben, atmet dann erleichtert auf.
«Das ist besonderes Mehl, weißt du? Dadurch wird das Brot extralecker.», erklärt er, «Übrigens, ich heiße Jimmy. Wie heißt du denn?»
Samuel zögert eine kurze Weile, bevor er dem Fremden eine Antwort gibt. Er wirkt nett und freundlich, und lächelt den Jungen mit strahlend weißen Zähnen an.
«Samuel.»
«So? Toller Name! Und was machst du hier draußen, ganz allein in der kalten Winternacht?»
«Schlafen.»
«Was? Hast du etwa kein Zuhause, Kleiner?», fragt Jimmy, und seine Miene verzieht sich zu einem besorgten Gesichtsausdruck.
«Naja… nein.»
«Und deine Eltern?»
«Ich weiß nicht. Tot, glaube ich. Bin mir nicht sicher.»
Jimmy fühlt Mitleid für den obdachlosen Jungen. Er war selbst einige Zeit lang ohne Zuhause und musste um sein Überleben kämpfen, bis er vor einigen Tagen jemanden kennen gelernt hatte, der ihm ein Dach über den Kopf und warmes Essen gegeben hatte. Und Jimmy fände es nur gerecht, wenn er jetzt diesem kleinen Burschen hilft.
«Hey, wie wär’s mit einem warmen, kuscheligen Bett und eine leckeres Essen? Wenn du mit mir mitkommst, kannst du dir den Wanst vollschlagen, und ich mach dir Kakao. Na, was sagst du?»
Samuel überlegt ein wenig, doch das Angebot klingt viel zu verlockend, als das er „Nein“ sagen könnte.
«Okay.»
«Gut! Nimm deine Sachen mit, und ich zeig dir den Weg!»
Eine halbe Stunde später stehen die beiden in den dunklen, leergeräumten Hallen eines riesigen Gebäudes. Der Sichelmond, der durch die riesigen Fenster hindurch scheint, ist die einzige Lichtquelle weit und breit. Ein modriger Geruch liegt in der Luft. Hier und da stehen vereinzelt Maschinen, Förderbänder und Holzkisten.
«Wo sind wir?», fragt Samuel.
«Das war mal ´ne Textilfabrik oder sowas. Sie steht jetzt allerdings seit vielen Jahren leer.»
Zusammen wandern sie durch die Räume, wobei ihre Schritte von den Wänden als Echo zurückgegeben werden. Samuel ist skeptisch. Ihm hat die Rutsche bisher besser gefallen als diese gruseligen, leeren Hallen. Ihm kommt sogar vor dass es hier kälter ist als auf dem Spielplatz.
«Geduld, Kleiner!», beruhigt ihn Jimmy, als hätte er seine Gedanken gelesen, «Du wirst sehen, ich verarsch dich nicht!»
Sie steigen eine Treppe hoch zu einem Fahrstuhl. Jimmy deutet dem Jungen, hineinzugehen, und folgt ihm dann selbst.
«Funktioniert der überhaupt?», fragt Samuel verwundert.
«Der Fahrstuhl ist das einzige, das hier funktioniert.», bestätigt Jimmy, und drückt den Knopf mit der 4 darauf. Doch daraufhin drückt er drei weitere Knöpfe, als ob er einen Code eingeben würde. Gerade als Samuel denkt, dass das alles Humbug ist, schließen sich die Türen des Lifts automatisch. Dann ruckelt der ganze Fahrstuhl kurz, bevor sich in Bewegung setzt. Nach Samuels Gefühl werden sie nach unten transportiert, in den Keller vielleicht. Auf einmal bekommt der Junge ein flaues Gefühl im Magen. Vielleicht hätte er Jimmy doch nicht so blindlings vertrauen sollen. Was ist, wenn er gelogen hat? Dieser wirft ihm gerade einen freundlichen Blick zu. Es ist der Blick von jemandem, der seinem Freund etwas Tolles zu zeigen hat und es kaum erwarten kann, es ihm zu präsentieren. Das gibt Samuel ein besseres Gefühl bei der Sache. Er atmet einmal tief durch, als der Fahrstuhl anhält, und sich die Stahltüren zur Seite schieben.
Es ist, als wäre er von einer Welt in einer andere geraten. Vor ihm befinden sich lange, tunnelartige Gewölbe aus Ziegelstein, erleuchtet von knisternden Fackeln. Eine Menge Leute wandern durch die Gänge, die meisten mit einem hastigen Tempo. Viele von ihnen haben Koffer in ihren Händen, was Samuel an einen Flughafen erinnert. Man sieht eine Vielfalt an verschiedensten Menschen, Männer und Frauen von anderen Ländern mit anderen Hautfarben und Religionen. Eines allerdings haben sie alle gemein: Jeder trägt eine weiße Robe. Ein wenig sehen sie aus wie Gespenster, findet Samuel.
«Wo sind wir?», fragt er ungläubig, während er in alle Richtungen schaut.
«Unter der Textilfabrik. Ist wie eine kleine, unterirdische Stadt hier unten. Und wir sind wie eine Gruppe, verstehst du?»
«Arbeitet ihr hier?»
«Nun ja, ich glaub schon. Weißt du, Kleiner, ich kenne diesen Ort auch erst seit vier Tagen, als mich einer von ihnen hergeholt hat. Ich kenn mich also noch nicht so wirklich aus hier. Komm, wir gehen weiter. Drinnen gibt es Heizung, und wie versprochen Futter und ein Bett.»
Zu zweit schreiten sie voran, während der Schnee unter ihren Sohlen auftaut und wässrige Spuren auf dem polierten Fliesenboden hinterlässt. Eine Mischung aus vielen Sprachen, die Samuel nie gehört hatte, dringt in seine Ohren. Die Leute wirken alle sehr beschäftigt, und ernst. Doch so beschäftigt sie auch sind, hatten sie alle einen Augenblick Zeit, um sich die beiden mit musternden Augen anzusehen. Vielleicht liegt es daran, dass sie keine Roben tragen, denkt Samuel.
Tatsächlich wird es immer wärmer, je tiefer sie in das Herz dieser unterirdischen Welt eindringen. Die langen Gänge verzweigen sich öfters, führen in andere Richtungen, doch Samuel und Jimmy gehen immer nur geradeaus.
«Ich kann mir vorstellen, wie hungrig du bist, aber wir müssen dich erst einmal eintragen lassen. Sonst kriegst du leider nichts.»
Samuel nickt nur schweigend, während er seinen Blick über die Wände und die Hallen schweifen lässt.
Wenige Sekunden später stehen die beiden vor einer hölzernen Tür, mit einem Schild. „Registration“, steht darauf. Jimmy klopft zweimal an das Holz, als eine tiefe Frauenstimme hereinbittet.
Beide setzen sich einer dicken Dame mit Brille gegenüber, die einen Stapel Papier nach etwas durchsucht. Als sie die Suche nach einer Minute aufgegeben hat, nimmt sie ihre Brille von der knolligen Nase und wendet sich an die beiden.
«Tut mir leid, euch warten zu lassen. Was kann ich für euch tun?»
«Ja, mein Name ist Jimmy, hab mich vor vier Tagen hier registrieren lassen.»
«Ja, klar! Ich erinnere mich an Sie! Na, wie schlagen Sie sich?», fragt die dicke Frau, und lehnt sich in ihrem Bürostuhl zurück. Jetzt erkennt Samuel, dass auch sie eine astrein weiße Robe trägt.
«Naja, morgen ist Prüfungstag. Wir werden ja sehen.», erwidert Jimmy. Dann legt er seine Hand auf Samuels Schulter, um ihn vorzustellen.
«Das hier ist Samuel. Ich hab ihn heut in der Nacht in einer Rutsche schlafen gesehen. Bei dieser Eiseskälte, wissen Sie. Da hab ich mir die Freiheit genommen, ihn hierherzubringen. Ich hoffe doch sehr, dass das klargeht?»
Die Dame begrüßt den Jungen freundlich, und mustert ihn kurz.
«Etwas jung, aber dürfte klargehen.», antwortet sie schließlich. Dann öffnet sie eine Schublade an ihrem Tisch und kramt ein Dokument hervor.
«Samuel ist dein Name, ja? Wie noch?»
«Willard. Mein Nachname ist Willard.», sagt Samuel schüchtern.
«Samuel Willard… mit Doppel L?»
Der Junge nickt, und wippt seine Beine vor und zurück. Er ist ziemlich aufgeregt. Ihm ist, als würde sein Leben von neu beginnen, und er brennt schon darauf, hier im Untergrund mit den anderen zu leben.
«Freut mich, Samuel Willard. Ich bin Rosemarie, aber nenn mich einfach Rosi.»
Daraufhin befragt Rosi den Jungen für einige Minuten. Nachdem sie das Dokument vollständig ausgefüllt hat, reicht sie es Jimmy rüber.
«Eine Frage noch Samuel: Ich geh davon aus, dass du keine Eltern mehr hast. Stimmt das?»
Samuel nickt stumm, fügt dann hinzu, «Ich kenn meine Eltern nicht. Hab sie nie gesehen. Hatte nur einen Onkel, der auf mich aufpassen sollte.»
Rosi zog überrascht die Augenbrauen hoch.
«Und was ist mit deinem Onkel passiert?»
«Ich bin von ihm abgehauen. Ich mochte ihn nicht, und er mochte mich nicht.»
«Oh… also sucht er nicht nach dir?», will Rosi wissen.
«Nein. Wahrscheinlich nicht. Ist ja auch schon lange her, seit ich gegangen bin.»
«Mein Beileid, Samuel. Aber du wirst sehen, wenn du dich gut anstellst, wirst du hier alles finden, was du brauchst! Ein Dach über dem Kopf, Essen und Trinken und vielleicht findest du in uns sogar eine neue Familie!»
Samuel schweigt, und richtet seinen Blick auf den Boden.
«Na gut, ihr beiden. Das war’s! Jimmy, du weißt ja, wo du das Dokument hinbringen musst. Und morgen ist Samstag, das heißt morgen ist Prüfungstag. Das gilt auch für dich Samuel!»
«Was für eine Prüfung ist das?», erkundigt sich der Junge.
«Oh, das wird eine Art Überraschung! Für jetzt solltet ihr allerdings etwas essen und so früh wie möglich schlafen gehen. Morgen werdet ihr um zehn in der Früh geweckt.»
«Danke für alles, Rosi!», sagt Jimmy, und steht vom Stuhl auf. Samuel macht es ihm nach. Sie verabschieden sich von der Sekretärin, und begeben sich nach draußen.
«Na, dann wollen wir uns mal den Wanst vollschlagen, was?», schlägt Jimmy vor.
«Ja, das wäre nett!», erwidert Samuel, der kurz vorm Verhungern ist.
Während Samuel allein in einer Cafeteria ähnlichen Einrichtung an einem Metalltisch sitzt und ein Sandwich isst, das ihm Jimmy gebracht hat, kümmert der sich um das Registrationsformular in einem Raum nebenan. Es dauert keine Minute, bis er wieder zurück bei Samuel ist und selbst ein Sandwich genießt.
«Und, wie schmeckt’s?»
«Hammer!», stößt der Neunjährige mit vollem Mund hervor. Er isst so schnell, dass das Gemenge ihm beinahe im Hals stecken bleibt. Es ist schließlich eine halbe Ewigkeit her, seit er auf einem Brot mehr gehabt hat als bloßen Käse. Der Geschmack der Salatblätter, Tomaten und der Putenwurst verwöhnt seine Geschmacksnerven aufs Feinste.
«Cool! Du kannst so viele haben, wie du verdrücken kannst, Kleiner!», teilt ihm Jimmy mit. Bei diesen Worten zieht Samuel seine Augenbrauen hoch.
«Echt jetzt? Sogar zehntausend?»
Jimmy schmunzelt, «Ich glaub nicht dass sie so viele haben, Kleiner.»
Außer den beiden befinden sich bloß zwei weitere Personen in diesem Speisesaal, die zwei Tische weiter hocken. Wie zu erwarten tragen die beiden ihre weißen Roben, und einer von ihnen hat einen silbern leuchtenden Aluminiumkoffer auf dem Tisch liegen. Sie sitzen hinter Jimmys Rücken, und neugierig wie Samuel ist, starrt er an ihm vorbei und versucht, die Unterhaltung der beiden zu belauschen, während er weiterhin von seinem Sandwich abbeißt.
Er versteht kein Wort, denn die beiden sprechen eine Sprache, die Samuel nicht kennt. Es klingt ein wenig wie chinesisch, oder japanisch. Da öffnet der eine plötzlich den Koffer, und zeigt seinem Gesprächspartner den Inhalt. Er ist voll mit gebündelten Geldscheinen, mindestens eine Millionen Dollar haben sich da eben gezeigt. Doch was Samuel ins Auge sticht ist etwas ganz anderes, etwas, das auf dem Haufen Geld drauf liegt wie ein Briefbeschwerer. Es ist eine Hand, die von einem Arm abgehackt worden ist. Bevor Samuel mehr erkennen kann, schließt der Kerl seinen Koffer wieder, und schiebt es über den Esstisch zu seinem Kollegen. Dann stehen beide auf, schütteln sich die Hand und verlassen den Saal in entgegengesetzte Richtungen.
Jimmy bemerkt Samuels Erschütterung.
«Was los, Kleiner?»
«Der Typ da, hinter dir. Der hatte eine Hand in seinem Koffer!»
«Du meinst, er hat was rausgeholt?», fragt Jimmy verwirrt.
«Nein, der hatte eine abgeschnittene Hand drinnen! Ich mein eine Menschenhand! Die lag in seinem Koffer, auf einem Batzen Geld!»
Jimmy runzelt die Stirn und dreht sich um, aber beide sind schon längst aus der Bildfläche verschwunden. Er wendet sich wieder dem Jungen zu.
«Ich glaub du hast etwas anderes gesehen, hm?», versucht der ihn zu beruhigen. Samuel ist sich jetzt selbst nicht mehr so sicher, ob er seinen Augen trauen soll. Es sah auf jeden Fall aus wie eine Hand mit fünf Fingern. Aber vielleicht war sie ja auch bloß aus Plastik, ein Scherzartikel.
«Willst du noch ein Sandwich? Oder etwas anderes? Heute gibt’s auch Spaghetti!»
Spaghetti. Bei diesem Wort hat Samuel das ganze Ereignis mit der Kofferhand sofort aus dem Kopf verdrängt.
«Oh ja, bitte! Ich hab noch nie Spaghetti gehabt!»
Um kurz vor zehn in der Nacht begeben sich die beiden zu den Schlafzimmern für Neuankömmlinge, im Ostflügel der unterirdischen Einrichtung. Es sieht dort aus wie sonst überall. Kalte Ziegelsteingewölbe mit hellen Fackeln. Zumindest ist es deutlich wärmer als in der Rutsche zu schlafen. Jimmy und Samuel dürfen im selben Zimmer schlafen, zusammen mit zwei anderen Neulingen. Alle liegen in ihre Betten, doch keiner scheint einschlafen zu können. Sie sind alle aufgeregt, denn morgen steht ihnen die Prüfung bevor, die entscheidet, ob sie aufgenommen werden können. Jimmy als auch Samuel hoffen, sie zu meistern, egal in welcher Form sie auftritt. Sie wollen beide nicht mehr zurück auf die Straße, um für ihr Überleben zu kämpfen.
Einer der beiden anderen Neuankömmlinge stellt sich als Harry vor, und beginnt eine Unterhaltung mit Jimmy. Die meiste Zeit geht es dabei um Frauen, und die beiden lachen ohne Ende.
«Sind wir zu laut?», fragt Harry Samuel und den anderen.
«Nein, ist okay. Ich kann eh nicht einschlafen.», antwortet der Junge. Der andere hingegen wirft einen langen, beinahe bedrohlichen Blick auf Harry.
«Wenn ihr die Lautstärke reduzieren könntet, wäre ich euch dankbar.», antwortet er dann mit einem ruhigen, aber arroganten Tonfall, ehe er Harry und Jimmy den Rücken kehrt und die Augen schließt.
«Der hat vielleicht einen Stock im Arsch.», flüstert Harry Jimmy zu, und die beiden kichern leise, woraufhin sie wieder üb er Frauen reden, und langsam Fußball inkludieren. Und obwohl Samuel glaubte, nicht einschlafen zu können, werden seine Lider schwerer und schwerer. Das Geflüster im Raum verwischt zu einem unverständlichen Gelaber, und eh er sich`s versieht wird er von Jimmy um zehn in der Früh geweckt.
«Yo, Faultier. Es ist soweit. Zeit, unseren Wert zu beweisen!», sagt er. Samuel gähnt und reibt sich die Augen. Die anderen zwei haben das Schlafzimmer schon verlassen, und Jimmy hat sich schon angezogen und die Zähne geputzt.
«Beeil dich!», sagt er, und reißt die gemütliche Decke von Samuel runter. Da wird der Neunjährige richtig wach, und hüpft sogleich vom Bett. Er zieht sich die gleichen Klamotten von gestern an (schließlich hat er nichts anderes), aber wenn er diese merkwürdige Prüfung bestehen sollte, würde er vielleicht auch so eine lustige Robe kriegen.
«Was ist mit Zähne putzen?», fragt er Samuel.
«Brauch ich nicht. Hab ich schon ewig nicht mehr gemacht.»
«Man sieht’s.», lacht Jimmy, und besteht darauf. Da der Junge keine eigene Zahnbürste hat, schenkt er ihm seine Reisezahnbürste, die er sowieso nie benutzt hatte, und leiht ihm seine Zahnpasta mit Minzgeschmack.
«Jetzt hast du keine Ausrede mehr, Kleiner!», sagt er, während Samuel sich um seine Mundhygiene kümmert, «Weißt du, ich hab selber eine Zeit lang auf den Straßen gelebt. Aber ich habe trotzdem jeden Tag zweimal die Zähne geputzt. Das gehört sich einfach.»
«Und wo hast du die Bürste und die Paste gekriegt?»
Jimmy kratzt sich verlegen am Kopf, überlegt, wie er antworten soll.
«Nun, hab das Zeug gestohlen.», gibt er zu, nachdem ihm klar wird, dass es keine Verschönerung der Fakten gibt, «Aber weißt du, sowas ist in Ordnung, finde ich. Essen, Hygieneartikel und sowas zu stehlen finde ich nicht schlimm, wenn es sich in Grenzen hält. Das Nötigste halt. Sag, hast du noch nie etwas geklaut?»
«Naja, ich hab’s mal versucht. Ich wollt mir für Weihnachten ein kleines Stück Schokoladenkuchen gönnen, aber der Bäcker hat mich erwischt. Aber er war nett, er hat mir den Kuchen geschenkt, und dazu noch ein paar warme Kekse. Er hat mich nicht mal angeschrien oder so. Seitdem will ich nichts mehr klauen.»
Eine schweigsame Pause entsteht zwischen den beiden, die von Samuels Ausspucken der Zahnpaste ins Waschbecken unterbrochen wird.
«Okay, ich bin bereit!»
Samuel folgt Jimmy einen langen Gang entlang, auf dem sich viele andere Leute befinden. Es ist laut und es herrscht eine stressige Atmosphäre. Dann kommen sie an eine Holztür mit einem Schild, auf dem „PRÜFUNG“ steht.
«Das muss es sein.», stellt Jimmy fest, und öffnet die Tür, nachdem er zweimal kurz anklopft. Sie betreten einen kleinen, relativ leeren Raum, in dem sich acht Leute befinden, darunter eine Frau und ein kleines, chinesisch aussehendes Mädchen, ungefähr im selben Alter wie Samuel. Vor dieser Gruppe steht ein älterer, bärtiger Mann mit einer Liste in seiner Hand. Samuel und Jimmy werden sofort von allen beobachtet wie ein Schüler, der zu spät in die Klasse kommt.
«Jimmy Simons und Samuel Willard, nehm ich an?», fragt der bärtige Mann mit einer rauchigen Stimme.
«Richtig. Verzeihen Sie die Verspätung!»
«Stellen Sie sich zu den anderen!», befiehlt der Mann, und streicht deren Namen von der Liste, «Dann sind wir ja endlich komplett!»
Er wirkt recht unsympathisch, findet Samuel, der sich zu der Gruppe dazugesellt hat und nun zwischen Jimmy und Harry steht. Dann beginnt der Mann mit der Liste zu erklären.
«Ihr werdet jetzt einer nach dem anderen zu den Prüfungsräumen geführt. Dort werden euch die Details erklärt. Keine Sorge, bei diesem Test geht es nicht um Wissen oder um logisches Denkvermögen. Auch nicht um Stärke. Es ist eine Prüfung des Willens. Wenn ihr gewillt seid, sie zu bestehen, wird euch nichts im Wege stehen. Im Prinzip ist es einfach.»
«Und was passiert, wenn wir scheitern?», fragt die einzige Frau der Prüflinge.
«Das seht ihr dann, wenn es soweit ist. Sonstige Fragen?»
Da sich keiner mehr meldet, wird der erste zum Prüfungsraum geführt, begleitet von einem glatzköpfigen Mann in weißer Robe. Er erinnert Samuel an einen Mönch. Jimmy ist der Fünfte, der weggebracht wird.
«Ich wünsch dir viel Glück, Kleiner!», sagt Jimmy, bevor er durch die Tür gebracht wird. Samuel wundert sich, wann er ihn wieder sehen wird. Zwei Minuten später ist er selbst an der Reihe. Der Kerl, der wie ein Mönch aussieht, legt seine Hand auf die Schulter des Jungen und drückt ihn in die gewünschte Richtung, durch die Tür hindurch. Sie betreten einen dunklen Gang mit vielen nummerierten Türen an den Seiten. Der Mann mit der Robe schiebt Samuel weiter bis sie an eine Tür mit der Nummer 9 kommen.
«Das ist dein Prüfraum. Sobald du ihn betrittst, wird dir erklärt, was du zu tun hast. Viel Glück!»
Mit diesen Worten schließt er die eiserne Tür auf und öffnet den Durchgang zu einem Zimmer, das völlig im Dunkeln liegt. Samuel kann nichts darin erkennen als Finsternis. Er zögert kurz.
«Na los, Junge. Jetzt gibt es kein Zurück mehr.»
Samuel bekommt es langsam mit der Angst zu tun. Er kriegt ein unwohles Gefühl bei der Sache. Am liebsten wäre ihm gewesen, wenn Jimmy bei ihm stehen würde. Doch dann schluckt er seine Furcht runter und betritt die dunkle Kammer. Der Mann schließt hinter ihm die Tür. Da hört Samuel das mechanische Klicken eines Schlosses, und er merkt, dass man ihn eingesperrt hat. Jetzt steht er da, in völliger Finsternis, alleine. Die Angst überwältigt ihn mit einem Mal, und er dreht sich um, um an der metallenen Tür zu klopfen.
«Hol mich raus! Ich will nicht mehr! Bitte!»
Doch alles Bitten und Flehen nutzt ihm nichts. Die Tür und die Mauern sind schalldicht, und seine Worte sind im Gang draußen nicht mehr zu hören.
Samuel kann nichts sehen, und er setzt sich auf dem Boden, mit dem Rücken an die Tür gelehnt. Er steht kurz davor, loszuheulen, als aus einer Sprechanlage plötzlich eine laute Männerstimme ertönt.
«Samuel Willard, richtig?»
Der Junge verkneift sich die Tränen und starrt zur Decke, obwohl der nichts erkennen kann.
«Antworte mir. Bist du Samuel Willard?»
«Ja, Sir!», erwidert er mit schluchzendem Ton. Die Stimme bringt zwar ein wenig Erleichterung, doch sie klingt so tief und unheimlich, dass es dem Burschen eine Gänsehaut auf den Rücken zaubert.
«Willkommen zu deiner Prüfung, Samuel! Ich werde dir die Regeln erklären, und du musst gut zuhören, verstanden. Ich werde mich nämlich nicht wiederholen.»
«Okay!»
Der Sprecher räuspert sich, bevor er zu erklären beginnt.
«Dein Ziel ist einfach: Du musst diesen durch die Tür verlassen. Dazu benötigst du aber den Schlüssel.»
Plötzlich schaltet sich ein Scheinwerfer ein, und bringt endlich Licht in die Dunkelheit des Raums. Samuel merkt erst jetzt, wie klein das Zimmer eigentlich ist. Im Gegensatz zum Rest des Untergrunds bestehen die Wände und der Boden aus schwarz-weiß karierten Fliesen. Der Scheinwerfer wirft sein Licht aber auf etwas bestimmtes, das sich mitten im Raum befindet. Es ist ein Welpe, ein junger Schäferhund. Seine große, schwarzen Augensind auf Samuel gerichtet, und er tapst langsam auf den Jungen zu, wird aber von einer eisernen Kette an seinem Halsband davon abgehalten. Die Leine ist an einem Metallring am Boden befestigt, und grenzt die Reichweite des Welpen auf einige Schritte ein. Samuel wird beim Anblick des Hundes sofort warm ums Herz. Er hat schon oft Hunde gesehen, aber noch nie einen Welpen.
Der Schäfer bellt einmal kurz auf, und wedelt fröhlich mit dem Schweif. Samuel will sich ihm gerade nähern, als die Stimme weiterspricht.
«Den Schlüssel, der zu deiner Freiheit führt, hat dieser kleine Hund gefressen. Er befindet sich in seinem Magen.»
«Und was mach ich jetzt?»
«Auf der Bank neben dir liegt alles, was du brauchst. Du bist klug genug, um herauszufinden, was du tun sollst. Bedenke: Die Prüfung ist bestanden, wenn du diesen Raum durch diese Tür wieder verlässt. Und damit verabschiede ich mich.»
Ein kurzes Klickgeräusch, und die Stimme erlischt. Samuel sieht erst jetzt die kleine Holzbank neben sich, die aus der Wand herausragt. Darauf befindet sich bloß ein skalpelartiges Messer. Mit einem Mal läuft es dem Jungen eiskalt über den Rücken.
Er versteht nun. Seine Prüfung besteht darin, den Schlüssel aus dem Hund herauszuholen, um die Tür zu öffnen. Doch allein bei diesem Gedanken wird ihm speiübel. Nein. Das wird er nicht tun. Das kann er nicht tun.
«Das mach ich nicht!», ruft er zur Decke hoch, als würde er einen ungerechten Gott anschreien, «Das mach ich sicher nicht!»
Doch er bekommt keine Antwort. Nur der Schäferwelpe winselt munter vor sich hin. Samuel steht vom Boden auf und geht auf den Hund zu. Er streichelt ihm den Kopf, und setzt sich zu ihm. Das Hundebaby klettert mit tapsigen Schritten auf Samuels ausgestreckte Beine, und macht es sich darauf gemütlich. Er beschnüffelt den Jungen überall, leckt ihm die Hände und das Gesicht, hört dabei nicht auf zu winseln. Der Neunjährige streichelt das kuschelige, warme Tier über den Kopf und den Rücken, drückt es fest an sich. Tränen bilden sich in seine Augen.
«Das tu ich dir nicht an, keine Sorge. Lieber sterbe ich!» Der Welpe antwortet, indem er Samuel über das ganze Gesicht leckt.
«Wie wär’s mit einem Namen für dich, hm? Wie wär’s mit Russel?»
Russel beruhigt sich langsam, und macht es sich auf Samuels Beinen bequem. Er rollt sich zusammen und schließt die Augen, bereit, ein Nickerchen zu machen. Der Junge schmunzelt bei diesem Anblick, muss sich aber im nächsten Augenblick zusammenreißen, um nicht wieder loszuheulen. Was wird nun aus ihm? Was wird aus Russel?
„Yo! Was geht?“
22 Jahre später
Samuel öffnet den Koffer, den er von einer Kontaktperson bekommen hatte, auf seinem Esszimmertisch. Er ist voll mit Handgranaten und Dynamitstangen. Er hält einen Zettel in seiner Hand, eine Art Einkaufsliste. Zwanzig Stangen Dynamit und ZwanzigHandgranaten sollen sich in diesem Koffer befinden. Langsam und äußerst sorgfältig holt er ein Sprengstoff nach dem anderen heraus, und zählt sie. Jeweils zwanzig Stück. Die Lieferung stimmt also. Nun legt er sie alle zurück in den Koffer und schließt ihn wieder. Zusätzlich bringt er ein Schloss mit Zahlenkombination an, um sicher zu gehen. Jetzt muss er in sein Auto einsteigen und die Ware zu Tilo bringen, einer seiner „Kollegen“.
22 Jahre ist es her, seit Samuel einem Welpen mit einem Messer die Kehle durchgeschnitten und dann den Schlüssel aus seinem Magen entfernt hat. Er kann sich noch immer daran erinnern, als wäre es gestern passiert. Einst haben ihn diese Erinnerungen mit Traurigkeit und Zorn erfüllt. Aber aus dem kleinen Jungen ist schnell ein Mann geworden. Ein kühler, rationaler Mann. Der Kult, in dem er geraten ist, hat ihn zu dem geformt, was er heute ist. Er würde nicht mehr Stunden abwarten, um sich einen Schlüssel zu holen, der in einem Welpenmagen steckt. Was getan werden muss, muss getan werden. Über all die Jahre, die er in diesem Kult verbracht hat, hat er einen Satz immer wieder gehört.
«Fressen, oder gefressen werden.»
Inzwischen hat sich das Sprichwort in Samuels Alltag eingelebt.
Noculi. So heißt der Kult, der aus dem armen Jungen eine nahezu emotionslose Maschine gemacht hat. Dank der Noculi zuckt er kein Auge mehr, wenn er jemanden ersticht, erschießt oder mit bloßen Händen erwürgt. Es geschieht zu einem größeren Wohl. Die Befehle und Aufträge, die er kriegt, haben einen Sinn. Ein großer Plan, der sich mit jedem Schritt, so blutig er auch sein mag, langsam entfaltet.
Smilers Plan. „Smiler“ ist der Meister des Kults. Der Ranghöchste, dessen Gesicht niemand kennt. Er ist wie eine Gottheit für seine Untergebenen. Ihm werden sogar übernatürliche Fähigkeiten zugesagt. Er hätte seine Augen und Ohren überall, und er sieht die Zukunft und all ihre Möglichkeiten. Fakt ist allerdings, dass niemand Smiler wirklich kennt, oder auch nur weiß, wie er aussieht. Er operiert hinter der Bühne, zieht die Fäden. Seine Untergebenen sind seine Hände, und wenn nötig seine Opferlämmer. Jeder fürchtet sich vor ihm. Selbst Samuel respektiert seine Macht und seine Unantastbarkeit, auch wenn er den Blödsinn mit den übermenschlichen Kräften nicht glaubt. Er weiß genau, für ihn ist es besser, mit Smiler zu arbeiten statt gegen ihn. Besonders, weil er schon von klein auf in sein Spinnennetz geraten ist. Smiler kennt keine Gnade, wenn es darum geht, Zeugen auszuschalten. Samuel weiß das, da er sich oft genug um solche kümmern hat müssen. Schnell und schmerzlos werden sie erledigt, und sämtliche Spuren verwischt. Und zwar sehr sorgfältig. Fehler sind inakzeptabel. Niemand soll jemals von der Existenz des Kults erfahren. Spekulieren dürfen die Menschen, soviel sie wollen, doch Beweise müssen vernichtet werden.
Nachdem er den Koffer im Kofferraum seines Jensen Interceptors verstaut hat, legt er sich auf sein gemütliches Sofa im Wohnzimmer. Ein Blick auf die Wanduhr verrät ihm, dass es kurz vor Neun ist. Er war seit Acht in der Früh auf den Beinen und musste Drecksarbeit erledigen. Kokain zu einem Kontaktmann liefern, das Geld in ein bestimmtes Konto einzahlen. Dann jemanden vom Flughafen abholen und nach London bringen. Das allein kostete Samuel sechs Stunden seiner Zeit. Aber jetzt hat er alles erledigt, und kann sich ausruhen. Er schnappt sich eine Fernbedienung und schaltet den Fernseher ein. Nachrichten erzählen gerade von zwei Mordopfern, die in ihrer Wohnung gefunden wurden. Ein Mann und seine Ehefrau. Sie wurden vergiftet, doch der Mörder hinterließ keine Spuren. Die Polizei spekuliert daher, dass einer der beiden entschlossen hatte, sich zu vergiften und seinen Partner mit in den Tod zu ziehen.
Samuel kriegt ein wohltuendes Gefühl der Selbstanerkennung, als er hört, dass sein Plan funktioniert hat. Als Versicherungsvertreter hat er sich ausgegeben, und ist mehr oder weniger unerwünscht in ihre Wohnung eingedrungen. Sie haben ihn schnell wieder davongejagt, aber nicht schnell genug. Das Gift hat Samuel schon in ihrem leckeren Kartoffelauflauf hineingeschüttet. Farblos, ohne Geruch und geschmacksneutral. Das Gift setzte erst zwei Tage später ein, blockierte die Blutbahnen und ließ die beiden umkippen wie zwei Säcke Äpfel. Und nun glaubt die Welt, sie hatten einen heftigen Ehestreit, der ihnen das Leben gekostet hat.
Samuel will gerade vom Sofa aufstehen um sich ein Bier zu holen, als Feier für dieses kleine „perfekte“ Verbrechen, das ihm gelungen ist, als sein Handy auf dem Glastisch zu vibrieren beginnt.
«Ach, komm schon!», flucht er, als sich seine Feierabendpläne in Luft auflösen. Samuel verfügt über zwei Handys. Eines für private Zwecke (welches er kaum benutzt) und eines für Angelegenheiten des Kults. Dieses Mal läutet leider Letzteres. Das Display zeigt den Namen des Anrufers an: Dirk Kohlberg. Er ist so etwas wie Samuels Vorgesetzter, der ihm die meisten seiner Aufträge gibt und ihn dafür bezahlt. Ein Mitglied der Noculi zu sein ist oft wie ein Job, nur dass die Arbeiten dreckig oder blutig sind.
Genervt hebt er ab, räuspert sich aber, um sich seinen Ärger nicht anmerken zu lassen und hält sich das Handy ans Ohr.
«Ja?»
«Samuel?»
«Nein, Tante Linda. Hast du den Tee?», scherzt Samuel. Es geht ihm gehörig auf den Nerv, dass Dirk die Bestätigung braucht, dass niemand anderes an sein Handy rangeht.
«Sehr witzig.», erwidert der Deutsche monoton, «Heb dir deine Späße für deinen neuen Partner auf. Er ist hier bei mir, und du holst ihn zu dir.»
«Mein neuer Partner?», wiederholt Samuel ungläubig, «Hör zu, Dirk. Ich glaub ich hab deutlich gemacht, dass ich keinen neuen Partner will! Ich arbeite lieber alleine, ich will nicht einen Fremden in alle Einzelheiten einweihen müssen. Ich operiere…»
«Halt die Klappe! Wenn es nach mir ginge, würde ich dich nicht anrufen. Aber Befehl ist Befehl. Vor allem DU solltest das wissen. Komm zu mir, je eher desto besser. HEY, FINGER WEG! DAS IST KEIN SPIELZEUG, UND DU BIST NICHT IN EINEM VERGNÜGUNGSPARK! Samuel, schieb deinen Arsch her, ich halt den Kerl nicht mehr lange aus.»
Noch bevor Samuel etwas antworten kann, legt Dirk auf. Schlimmer hätte es für ihn nicht kommen können. Nicht nur, dass er heute schon wieder ins Auto einsteigen muss, sondern er bekommt auch noch einen Partner, den er nicht haben will. Ein Klotz am Bein. Aber wie Dirk Kohlberg schon sagt, Befehl ist Befehl. Jammern hilft rein gar nichts. Smiler mag keine Jammerlappen. Und er wird schon einen Grund haben, Samuel einen neuen Partner unterzujubeln. Sein alter Kollege ist vor einigen Monaten bei einer Schießerei ums Leben gekommen. Samuel vermisst ihn zwar, aber er hoffte darauf, allein weiterarbeiten zu können. Ein neuer Partner macht alles nur unnötig aufwändiger und komplizierter. Eine Symbiose aufzubauen braucht Zeit. Zeit, die Samuel anderweitig nutzen wollte.
Sauer schaltet Samuel den Fernseher aus und lässt die Fernbedienung auf den Tisch fallen. Während er sich seinen Mantel schnappt und zurück in die Garage stampft überlegt er angestrengt, wie er eventuell doch noch seinen potenziellen Partner loswerden kann. Irgendwie muss es doch zu schaffen sein, die anderen zu überzeugen, dass er alleine weiterarbeiten kann.
«Du hast echt einen Arsch voll Waffen hier!», stellt der Junge erstaunt fest, als Dirk ihn am Arm packt und ihn aus der Hinterkammer seines Waffenladens raus zerrt.
«Wenn du noch einmal irgendetwas hier berührst hack ich dir deine Finger einzeln ab, kapiert?», brüllt ihn Dirk an. Er versucht verzweifelt, sich an dem letzten dünnen Geduldsfaden zu halten, den er für den jungen Erwachsenen, der sich wie ein Achtjähriger aufführt, noch übrig hat.
«Hey, ich hab mich nur umgeschaut. Dürfen Ihre Kunden das etwa nicht?», erwidert der 20-Jährige mit stichelndem Ton.
«Kunden schon. Aber freche Kiffer ohne Ausbildung und Geld nicht.»
Mit Gewalt schubst er den Jungen auf eine Ledercouch, die im Hauptraum seines Ladens steht. Dann zeigt er mahnend mit seinem Finger auf den jungen Mann.
«Bleib sitzen! Ich muss noch jemanden anrufen, und wenn du mich in irgendeiner Weise störst, hol ich eine zufällige Waffe aus meiner Kammer und demonstrier sie an dir!»
Mit diesen Worten begibt sich Dirk hinter die Kasse, und holt sein Handy aus der Hosentasche. Samuels zukünftiger Partner sitzt ihm direkt gegenüber, und er beäugt ihn jemanden, der unter Hausarrest steht. Er gibt langsam eine Nummer in sein Handy ein und lässt klingeln.
«Halt ja die Klappe!», erinnert er ihn noch einmal. Der junge Mann nickt bloß kurz, und macht es sich auf der Couch bequem, indem er seine beiden Füße drauflegt. Beim Anblick der dreckigen Sohlen auf dem matt glänzenden Leder will Dirk erneut losbrüllen, aber seine Kontaktperson auf der anderen Leitung hebt gerade ab.
«Ja, ähm… Dirk Kohlberg hier! Mr. Willard sollte unterwegs sein. Schaffen Sie es auch noch her?»
Kohlbergs Augen wenden sich keine Sekunde von seinem Gast ab, welcher gelangweilt auf die Decke starrt.
«Ausgezeichnet! Wir sehen uns!», sagt der Deutsche und legt auf, woraufhin er sich sofort dem 20-Jährigen zuwendet.
«Sofort runter mit den Schuhen, du Wichskind! Und reich mir deinen Pass rüber.»
Der junge Mann nimmt nach einer provokanten Pause die Schuhe von der Couch.
«Oh, den hab ich daheim vergessen. Sorry!»
«Natürlich hast du das! Ich versteh nicht warum wir dich überhaupt aufnehmen sollen! Du bist nutzlos, unorganisiert und wirst uns bloß in Schwierigkeiten bringen! Ich bin bloß froh, dass sich Samuel um deinen pickeligen Arsch kümmern muss!»
«Mein Arsch ist nicht pickelig, Mr. Kohlberg! Sehen Sie selbst!», meint er, als er aufsteht und sich umdreht. Kurz bevor er seine Hose runterziehen kann spürt einen leichten, dumpfen Schmerz an seinem Hinterkopf. Kohlberg hat ihm wütend einen Kugelschreiber auf den Kopf geworfen.
«Untersteh dich! Beantworte lieber meine Fragen!»
Der unerwünschte Gast verzichtet auf das Runterlassen seiner Hose, und setzt sich zurück auf die Couch.
«Schießen Sie los, Amigo!»
«Name?»
«Reo. Reo William Cornwall, um exakt zu sein.»
«Reo? Dir ist klar, dass ich deinen echten Namen brauch, und keinen aus der Luft gegriffenen Punknamen. Den, der in deinem blöden Pass steht, den du vergessen hast!»
«Das ist er doch, Mann! Ich hab ihn mir nicht ausgesucht, okay? Sonst würd ich Freshmaster Willboy heißen.»
Diese lächerliche Antwort ignorierend stellt Kohlberg Reo weitere persönliche Fragen, und tragt sie in ein Formular ein, dass er dann einreichen muss.
«Was ist mit deinen Eltern? Wie heißen die?»
«Keinen Plan. Hab sie nie kennen gelernt.»
«Dann habt ihr wenigstens etwas gemeinsam.», erwidert er, da er weiß, dass Samuel seine Eltern ebenfalls nie wirklich gesehen hatte.
«Ach ja? Wer ist dieser Kerl denn überhaupt, mit dem ich zusammenarbeiten soll? Ich hab absolut nichts von dem gehört. Ist ja wie eine Zwangshochzeit!»
«Sein Name ist Samuel Willard. Du wirst ihn bald schon kennen lernen. Und ich hoffe, er wird dir ein wenig Vernunft in deinen Schädel einprügeln. Oder dich irgendwie, irgendwo krepieren lassen.»
«Na, wenn der Kerl halb so charmant ist wie Sie geb ich mir lieber gleich die Kugel.», antwortet Reo, und gestiert mit seiner Hand, wie er sich das Gehirn aus dem Kopf schießt.
«Wär mir auch recht.», erwidert Kohlberg knapp, «Allerdings war sein alter Partner eine echte Bereicherung für unsere Zwecke, im Gegensatz zu dir. Der alte Jimmy hatte so einige Kontakte und besaß den Mut eines Löwen. Ich vermiss den Jungen, besonders in deiner Gegenwart.»
«Was ist aus ihm geworden?»
«Bei einer Schießerei hat’s ihn erwischt. Eine Schande!»
Da klingelt es plötzlich an der Tür: Einmal kurz, einmal lang und dann zweimal wieder kurz. Der Geheimcode, an dem Kohlberg erkennt, dass er es mit Gleichgesinnten zu tun hat.
Kohlbergs Laden wirkt von außen genau so schäbig wie von innen. Samuel ekelt es selbst vor der rostigen Türklingel, die nur funktioniert, wenn man richtig fest drückt. Die Zigarette, die er halb zu Ende geraucht hat, wirft er auf den Bordsteig, und tritt sie mit seinen schwarzen Stiefeln aus. Da öffnet Dirk die quietschende Holztür, auf der mit schwarzen Lettern „KOHLBERG`S ARMORY“ draufsteht.
«Sehr gut!», freut sich der Deutsche, und hält die Tür für Samuel offen. Es ist eine Weile her, seit Samuel ihn persönlich gegenübergestanden ist. Er bekommt die Aufträge von ihm meist bloß per Telefon übermittelt. Dirk hat seit dem letzten Treffen ordentlich zugenommen. Die kurzen, grauen Haare, die ihm auszufallen beginnen, zeugen von den 51 Jahren, die der Waffenhändler schon auf seinem Buckel hat. Seine braunen Augen sind geschwollen, weil er kaum noch Schlaf findet, und seine gelben Zähne widern Samuel noch mehr an als seine Türklingel.
«Samuel, das ist dein neuer Partner. Tut mir echt leid für dich!», stellt er ihm Reo vor.
«Yo! Was geht?», begrüßt dieser den 31-Jährigen Mann, mit dem er bald schon so einiges erleben würde, dass er nicht vergessen würde.
«Yo!», antwortet Samuel mit einem deutlich sarkastischem Ton, und ignoriert ihn derweil.
«Pass mal kurz auf, Dirk! Ich brauch den nicht! Er wirkt ja nicht mal wirklich nützlich, sondern wie ein dahergelaufener Junkie!»
«Ich bin noch im Raum, damit ihr’s wisst. Ich hab auch Gefühle!»
Doch die beiden Männer ignorieren seinen Aufruf, woraufhin Reo einfach seine Schuhe zurück auf die Couch legt und es sich bequem macht, während er Samuel und Kohlberg genervt zuhört.
«Ich meine, wo habt ihr den aufgegabelt? Von der Straße?»
«Ja Samuel. Genauso wie dich, erinnerst du dich?»
«Na gut, dann nehmt ihn auf, mir egal. Aber macht ihn nicht zu meinem Partner! Wieso kümmerst du dich nicht um ihn?»
«Weil ich ihn sonst mit bloßen Händen erwürgen würde! Hey, der Befehl stammt nicht von mir, okay? Wenn du dich beschweren willst, dann bei Grin!»
«Würde ich ja, wenn sie hier wäre!»
«Dann wart hier! Sie kommt bald!»
Eine relativ lange, schweigsame Pause entsteht, die nur kurz von Reos Gähnen unterbrochen wird.
Grin ist die Zweiwichtigste Figur im Noculi, gleich nach Smiler. Im Prinzip ist sie Smilers Gesicht, seine Hände, sein Mund. Manche munkeln, dass sie die einzige Person ist, die sein wahres Gesicht kennt, aber niemand kennt die Wahrheit. Grin ist eine sehr vielbeschäftigte Frau, die oft rund um die Welt reisen muss, da Noculi-Mitglieder überall und auf jedem Kontinent anzutreffen sind. Sie wickelt Geschäfte ab, und gibt Smilers Befehle an ihre Leute weiter. Sie kontrolliert auch oft, ob seine Pläne funktionieren, wie er es sich vorstellt. Samuel hat Grin nur ein einziges Mal gesehen, und das nur kurz. Er kann sich nicht einmal mehr an ihr Gesicht erinnern. Er weiß nur, dass sie eine Japanerin ist, deren echter Name Mizuki Warashi lautet.
«Wieso kommt Grin hier her?», fragt Samuel verwirrt.
«Geschäfte. Nichts was dich bekümmern muss! Also, wartest du?»
Samuel nickt schweigend und nachdenklich, und setzt sich dann leise auf einen Holzstuhl neben Reo hin, der den Mann mustert. Der junge Mann muss beim Anblick von Samuels kurzen, schwarzen Haaren und seinem ernsten, kantigen Gesicht an James Bond denken.
Kohlberg stapft, mit seinen Nerven langsam am Ende, zurück hinter die Kasse, und setzt sich auf seinem Bürostuhl hin. Er hätte es genossen, schweigend auf Grin zu warten, doch keine Sekunde später öffnet Reo seinen Mund.
«So, Mr. Will. Was machen Sie denn so?»
«Es heißt Willard.», berichtigt ihn Samuel, «Alles Mögliche. Drecksarbeit eben. Wenn ich Glück habe, musst du nicht mehr davon wissen. Wenn nicht, werd ich`s dir zeigen.»
«Yeah, cool. Wird man überhaupt bezahlt für die Scheiße, oder ist das Sklavenarbeit?»
«Wenn du deine Sache gut machst, wird es dir gut gehen. Wenn nicht, dann nicht. So einfach ist das!»
«Also, das klingt nach einen Haufen Arbeit!», beschwert sich Reo.
«Du klingt auch wie einen Haufen Arbeit, Freundchen!», kontert Samuel. Es dauert eine viertel Stunde, bis es erneut an der Tür klingelt. Einmal kurz, einmal lang, dann zweimal wieder kurz. Es ist Grin!
Sie trägt ein schwarzes Businesskleid und eine Hornbrille auf ihrer zierlichen Nase. Ihre langen, schwarze Haare sind zu einem Pferdeschwanz gebunden. Ihre kalten, schwarzen Augen werfen schnell und analysierend einen Blick durch den Waffenladen, wie ein Scanner.
«Guten Tag, meine Herren!», sagt sie dann schließlich, als Kohlberg sie aufs Höflichste hineinbittet.
«Ich bringe Ihnen sofort einen Stuhl!», sagt er leicht panisch, als er merkt, dass Samuel ausgerechnet auf den Stuhl sitzt, der für sie gedacht war.
«Bemühen Sie sich nicht, Mr. Kohlberg. Ich werde nicht lange bleiben. Was allerdings machen diese zwei Herrschaften hier? Mir wurde gesagt, ich würde mich heute mit Ihnen allein treffen.»
«Ja, ähm… verzeihen Sie die Störung!», meldet sich plötzlich Samuel, der sich von seinem Stuhl erhebt und auf Grin zugeht.
«Ich hätte da nur ein paar Fragen, wegen meines neuen Partners hier!»
Höflich streckt er ihr seine Hand entgegen. Die Japanerin zögert kurz, und erwidert den Handschlag schließlich.
«Dann sind Sie Samuel Willard, richtig?», reimt sie sich zusammen.
«Genau!»
«Wird das hier lange brauchen?»
«Nein, eigentlich nicht.»
«Dann stellen Sie mit ihre Fragen!», meint Grin mit einem leichten Akzent. Reo betrachtet die beiden, während Dirk sich auf Samuels Platz hinsetzt.
«Nun, die Frage, die sich mit gestellt hat ist: Brauche ich wirklich einen neuen Partner? Ich bin sehr wohl in der Lage, selbstständig und allein zu arbeiten. Ich habe das schließlich die letzte paar Monate getan, und alles zu vollster Zufriedenheit erfüllt. Ein neuer Partner bedeutet Verantwortung und Zeit. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich bin sehr dankbar, dass sie daran denken, mir Unterstützung zu geben, aber ich bevorzuge es wirklich, allein zu arbeiten.»
Schweigen hüllt den Raum mal wieder ein. Grin betrachtet ihr Gegenüber, schaut Samuel tief in die Augen, also wolle sie durch ein Fenster in sein Inneres blicken. Sie holt tief Luft, als ob sie kurz dafür stünde, schlimm Neuigkeiten zu überbringen.
«Ich verstehe, Mr. Willard. Doch leider bleibt Ihnen keine andere Wahl!»
Enttäuscht und ein wenig sauer atmet Samuel aus, doch Grin ist nicht fertig, «Wissen Sie, warum wir Reo in Ihre Hände legen?»
Verwirrt schüttelt er den Kopf. Er hat angenommen, der Grund wäre einfach, dass er seinen alten Partner Jimmy verloren hat. Doch anscheinend steckt mehr dahinter.
«Weil Sie der Beste sind! Sie sind der beste Agent, den die Noculi seit langem gehabt hat.»
«Sekunde mal!», schreit Reo auf einmal auf, «Sie sind Agent? So wie ein Geheimagent oder wie? Wie geil!», sagt er, woraufhin er wieder an James Bond denken muss.
«Halt die Klappe!», befiehlt Kohlberg, und haut Reo mit einem festen Hieb auf den Hinterkopf.
«Der Beste?», wiederholt Samuel ungläubig. Er kennt nicht viele seiner Kollegen, die im gleichen Gebiet arbeiten wie er, daher konnte er nie wirklich seine Arbeit mit anderen vergleichen. Zudem ist er es absolut nicht gewöhnt, Lob für seine Dienst zu bekommen. Normalerweise ist alles im Noculi selbstverständlich, ein „Danke!“ oder „Gut gemacht!“ ist sehr selten zu hören.
«Zweifellos. Sie, und Jimmy, Ihr wart wichtige Stützpfeiler unserer Organisation. Smiler vertraut Ihnen, und das tue ich auch. Und genau deswegen vertrauen wir Ihnen Reo an.»
«Nun gut, aber wieso ausgerechnet er? Wieso nicht jemanden mit mehr Erfahrung?»
«Das kann ich Ihnen leider nicht sagen. Aber Sie vertrauen Smiler doch, nicht wahr?»
Samuel sagt kurz kein einziges Wort. Wie kann er jemandem vertrauen, den er nie gesehen hat, von dem er nicht einmal weiß, ob er wirklich existiert. Er kommt sich ein wenig wie ein Atheist vor.
«Natürlich!», antwortet er, und versucht seine Zweifel nicht anmerken zu lassen. Doch Grin blickt ihm erneut tief in die Augen, und ihre Lippen verziehen sich ein wenig, als hätte sie etwas in Samuel gesehen, das ihr nicht gefällt.
«Wäre das dann erledigt?», fragt sie ihn mit kühler Stimme.
«Ich schätze schon.», antwortet er leise, und dreht sich zu seinem offiziell neuen Partner um, der gerade aus Langeweile ein Loch in die Ledercouch kratzt.
«Gut! Ich will wirklich nicht unhöflich sein, aber Mr. Kohlberg und ich müssen uns jetzt unter zwei Augen unterhalten. Wären Sie so freundlich, den Raum zu verlassen?»
«Natürlich!», antwortet Samuel, und wendet sich an Reo, «Komm jetzt! Wir verschwinden!»
«Alles klar, Boss! Wie Sie wünschen, Boss!», spottet dieser, und steht langsam von der Couch auf. Samuel verlässt den Waffenladen gerade durch die Tür, als sich Reo zu Dirk umdreht.
«Na dann, viel Spaß noch beim Wichsen heute! Ich hab Ihre kleinen geile Magazine versteckt!»
«Verschwinde endlich!», schreit Kohlberg und steht auf, um den Frechdachs persönlich aus dem Laden zu schieben. Aber Reo eilt schon hinaus. Auf dem Weg will er noch Grin ansprechen, doch selbst er hat inzwischen gemerkt, dass er sie besser nicht provozieren sollte. Er überlegt es sich also anders und erspart sich eine provokante Bemerkung. Alsbald er durch die Tür geht, sperrt Kohlberg sie zu, gleich doppelt.
«Sind Sie wirklich ein Geheimagent?», fragt Reo den 31-Jährigen, während er sich neben Samuel auf den Beifahrersitz hockt.
«Wie gesagt, es ist Drecksarbeit. Absolut nichts Spannendes daran, also beruhig dich!»
«Komm schon, das ist cool! Was zum Beispiel war deine letzte Mission, hm?»
«Das geht dich nichts an, Bürschchen! Sag mir lieber, wo du wohnst!»
«Ähm… naja, das ist so: Nirgendwo, wirklich.»
«Was soll das heißen? Hast du keine Wohnung? Ein Apartment?»
Reo verschränkt die Arme.
«Nun, nicht wirklich. Ich hab in so einem schäbigen Gästehaus gewohnt, aber das kann ich mir auch nicht mehr leisten. Dieser Fettsack hat behauptet, ich würde bei dir knacken.»
«Knacken?»
«Schlafen. Übernachten.»
Genervt schnauft Samuel tief durch. Jetzt hat er nicht nur einen nutzlosen Obdachlosen als Partner, sondern muss ihn auch noch bei sich wohnen lassen. Niemand hat bisher auch nur eine einzige Nacht in Samuels Haus verbracht, und das ist ihm auch recht so.
«Unter einer Bedingung: Du schaust dich nach einer Wohnung um und ziehst du bald wie möglich wieder aus. Verstanden?»
«Ja, Mann! Roger! Ich will sowieso nicht mehr Nächte als nötig bei jemandem pennen, der mich ständig herumkommandiert.»
«Daran wirst du dich gewöhnen müssen!», erwidert Samuel, und startet den Motor. Dann fahren die beiden los, zurück zu Samuels Haus.
Tag der Veröffentlichung: 03.10.2014
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