Prolog
Bevor sie die Seite umblätterte befeuchtete Annemarie Liz Benet ihren Zeigefinger mit der Zunge. Dies war eine jener schrulligen Gewohnheiten, die sie von ihrer geliebten Großmutter übernommen hatte als sie klein gewesen war und nun nicht mehr los wurde.
Der langweilige Artikel über die unzureichende Qualität des Kantinenessens an öffentlichen Schulen wurde durch eine noch langweiligere Kolumne einer Frau ersetzt, für die es offenbar von höchster Wichtigkeit war, dass jeder Bürger dieses Landes über die Fachgerechte Zubereitung gefüllter Auberginen bescheid wusste.
Sie schnaubte verächtlich.
Zum Einen, weil sie Auberginen verabscheute (ganz ehrlich: dieses „Gemüse“ hatte weder einen richtigen Geschmack noch eine richtige Farbe) und zum Anderen weil sie Frauen, die ihr ganzes Leben nur um ihren Haushalt herum aufbauten, insgeheim bemitleidenswert fand.
Annie klappte das dünne Gratismagazin zu, dass sie auf der Toilette des Cafes gefunden hatte und ließ es auf der Snare Drum liegen, die zwischen ihren Beinen stand.
Bereits seit siebzig Minuten bewachte Sie nun die Reste des Schlagzeuges, dass ihr Trottel von einem Freund notgedrungen auf der winzigen Bühne hatte zurücklassen müssen, da sein ausgedienter Ford Sierra am Ende seiner Kapazitäten war.
Fletcher hatte sein Equipment nur schnell zurück in den Proberaum schaffen wollen und ihr versprochen sie danach zum Essen auszuführen.
Natürlich war ihr bewusst, dass seine Vorstellung eines romantischen Dinners sich auf chinesisches Essen zum Mitnehmen beschränkte, das ausnahmsweise sogar Er bezahlte.
Dennoch war sie gerne mit Ihm zusammen. Es war stets angenehm und unkompliziert.
Er wusste eine Menge zu erzählen, verstand Etwas von Kunst und fragte sie nie aus, wenn sie wieder einmal von einem langen Abend mit ihrer besten Freundin zurück kehrte.
Er hasste Streit, übermäßige Körperbehaarung und die Solarium gebräunten Plastikfrauen, die man in dieser Stadt zuhauf antraf.
Stirnrunzeld warf sie erneut einen Blick auf die Uhr ihres Mobiltelefons und versprach sich in spätestens fünfzehn Minuten einfach zu verschwinden, denn auch nur einen weiteren mitleidigen Blick des Barkeepers würde sie nicht ertragen.
Grummelnd schaltete sie die große Spiegelreflexkamera ein, die um ihren Hals hing um sich erneut ihre Arbeit zu betrachten.
Sie hatte das beste aus der armseligen Szenerie herausgeholt und Alles getan um die Band in einem guten Licht erscheinen zu lassen, doch ein schäbiger kleiner Club mit miserabeler Beleuchtung und einem grausamen Wandbild aus den achtziger Jahren ließ sich nun mal nicht ohne weiteres in eine der angesagten Locations in Downtown verwandeln.
Allein der Gedanke, diese Bilder mögen unter ihrem Namen jemals an die Öffentlichkeit treten widerstrebte ihrem heimlichen Perfektionismus.
Seufzend ließ sie das Gerät sinken.
Sie wollte endlich von ihrer Fotografie leben können. Sie wusste, dass sie das Zeug dazu hatte, doch anscheinend fiel es anderen Leuten schwer Das zu erkennen.
Die ewigen schlecht bezahlten Aushilfsjobs in Bagelläden, Supermärkten und Musikgeschäften hatte sie gründlich satt.
Noch zehn Minuten.
Sie ließ den blick durch den Raum schweifen.
Schon als Kind hatte Annie gerne die Leute beobachtet, die die Konditorei ihrer Granny besucht hatten und dadurch hatte sie eine Menge über Umgangsformen und Konversation gelernt, was die meisten Leute denen Sie begegnete glücklicherweise mit Charme verwechselten.
Charme allerdings war etwas natürliches, eine Art Aura, die den Menschen die über sie verfügten jene Fähigkeiten zutrug, die sie sich durch jahrelange Observation angeeignet hatte. Ein feiner Unterschied, den beinahe niemand kannte.
Der gut aussehende Mann, der an einem kleinen runden Tisch gegenüber der Bühne saß und in dieses Etablissement genauso wenig passte wie eine Flasche Armand de Brignac in ein Regal voller Apfelschorle, schien über das Chromosom für Esprit zu verfügen.
Fasziniert versuchte sie unauffällig zu betrachten, wie er auch die Aufmerksamkeit der zwei anderen anwesenden Damen auf sich zog ohne etwas zu tun als da zu sitzen und mit seinen, soweit sie sehen konnte, grünen Augen in das annährend gleichfarbig gefüllte Absinthglas zu starren, währen er langsam das Eiswasser über den Zuckerwürfel auf dem Löffel goss.
Sein Anblick reizte sie und sie rief sich in Erinnerung, dass Typen seines Formates ihr perfektes Auftreten immer durch einen schwerwiegenden Mangel an Charakter auszugleichen pflegten und so zwang sie sich, erneut die öde Zeitschrift in die Hand zu nehmen und eine weitere schale Abhandlung über irgendetwas vollkommen Uninteressantes zu lesen.
„Die Geflügelzucht ist ein hochkomplexes Feld“, berichtet Bauer Hartington, als wir ihn auf seiner Farm in Watershore besuchen um…
Angewidert pfefferte sie die Zeitung beiseite, was ihrer Wut allerdings nicht annährend ein angemessenes Ventil bot.
Stattdessen hatte sie sich nun endgültig zum Zentrum der Allgemeinen Aufmerksamkeit gemacht.
Entsetzt sah sie den Schönling, den sie noch vor wenigen Minuten gemustert hatte, auf sie zu schlendern.
Noch nie hatte sie Jemanden so eindrucksvoll schlendern sehen, was ihre Situation definitiv nicht verbesserte.
Annie rutschte von ihrem unterdimensionierten Hocker und gab vor, sich nach etwas Wichtigem zu bücken, doch als sie schließlich wieder hinter den Becken auftauchen musste um sich nicht noch lächerlicher zu machen, stand der höflich lächelnde Fremde direkt vor ihr.
„Hallo.“
Unbehaglich räusperte sie sich und wartete gerade solange mit ihrem „Hi“, dass sie ohne die Regeln des Anstandes zu verletzen deutlich klar machte, dass sie an einer Unterhaltung nicht interessiert war.
Ihr Gegenüber verfügte jedoch offenbar über ein so unerschütterliches Selbstvertrauen, dass er diese Tatsache schlicht ignorierte, was wiederum ihrem strapazierten Nervenkostüm ganz und gar nicht gefallen wollte.
„Kann ich ihnen irgendwie behilflich sein Miss…?“
Er erwartete eindeutig, dass sie ihm ihren Namen verriet und beschwor somit ihren Trotz herauf.
„Wie kommen sie auf die Idee ich würde Hilfe benötigen?“, zischte sie mit aufeinander gepressten Kiefern.
Sie ahnte, was jetzt gleich kommen würde und sie war ohnehin schon kurz davor ihren ganzen Unmut an irgendeinem unschuldigen Ding abzureagieren.
„Ich wollte ihnen nicht zu nahe treten…“, entschuldigte er sich.
„Aber sie kamen mir ein wenig verloren vor so wie sie…“
Gut er wollte es wohl nicht anders, rechtfertigte sie ihre nächsten Sätze gedanklich bevor sie ihm aggressiv das Wort abschnitt.
„Das ist ja mal wieder typisch Mann. Eine Frau kann nicht mal alleine in einer Bar sitzen ohne für unnormal gehalten zu werden!“
In seinen Augen glitzerte es für einen Moment spöttisch auf.
„Glauben sie mir, Teuerste. Auch wenn sie in Begleitung wären, NORMAL sind SIE ganz bestimmt nicht.“
„Ich habe sie völlig falsch eingeschätzt. Sie verfügen nicht über das kleinste Bisschen Charme“, fauchte sie, bevor sie nach ihrer Tasche griff und an Ihm vorbei zur Hintertür stürmte.
Annies Gesicht glühte und sie befürchtete kurzzeitig, er würde ihr aus dem Cafe folgen, doch auch nach zwanzig Sekunden angespannten Wartens war sie immer noch Alleine in dem spärlich beleuchteten Hinterhof.
Nun, fast alleine.
Ein Kichern und ein blechernes „Klonk“ ließen sie herum fahren.
Es brauchte einen Augenblick bis sie erkannte was sie da gerade vor sich hatte, doch dann trieb es ihr die Luft aus den Lungen.
Dort, auf der Motorhaube eines uralten sandfarbenen Ford Sierras, vergnügte sich Fletcher, - IHR Fletcher, halb sitzend, halb liegend, mit einem braungebrannten, ganz offensichtlich brustoperierten Blondchen.
Die Empörung machte es ihr nicht nur unmöglich einen Laut von sich zu geben, sondern auch sich nur den kleinsten Millimeter zu bewegen und die Natur der Sensation, ob abstoßend oder schön, verbot es ihr den Blick abzuwenden, weshalb sie gezwungen war dem Treiben noch eine gefühlte Ewigkeit zuzuschauen, bis die gebleichte Sexbombe sie endlich bemerkte und einen spitzen Schrei ausstieß, der bereits eine Menge über ihre mangelnde Persönlichkeit Preisgab.
„Oh mein Gott, ein Perverse!“, kreischte sie und zeigte mit dem Finger auf Annie.
Fletcher nestelte an seiner schwarzgeränderten Brille, die er –wie nur sie es wusste, lediglich eine zweifelhaft dekorative Funktion ausübte, und blinzelte verständnislos in die Dunkelheit.
Als er verstand wer sie da gerade bei ihrem Techtelmechtel ertappt hatte wurde er kreidebleich und schubste seine Gespielin unsanft von der Haube des Autos.
Nervös fummelte an seiner Hose herum und begann Ausflüchte zu stottern.
Später in ihrer Wohnung schrieb Annie es dem Schock zu, dass ihr plötzlich alle zornigen, sarkastischen und verletzenden Kommentare im Hals stecken geblieben waren und sie sich einfach davon gemacht hatte.
Ohne ein Wort.
Diese Tatsache machte sie nur umso niedergeschlagener, denn etwas Derartiges einfach still hinzunehmen war sonst eigentlich nicht ihre Art.
Ihre momentane geistige Verfassung, erlaubte es einer weiteren schabrackigen Eigenschaft ihrer Persönlichkeit zu Tage zu treten, die, wenn man nach der gesellschaftlichen Norm ging, eigentlich ebenfalls Großmüttern vorbehalten blieb.
Immer wenn Annie deprimiert war, wenn ihre finanzielle Situation mal wieder aussichtslos erschien oder sie sich trotz ihrer Granny und ihren Freunden einsam fühlte, begann sie zu backen wie vom wilden Affen gebissen.
In dieser Nacht fand sie erst nach vierundzwanzig Schokoladencupcakes, zwei Blechen Cookies und einem Rührkuchen schlaf.
Kapitel 1
Stöhnend trottete Annie zurück ins Haus, in der Hand einige Briefe mit unheilvollen Absendern.
Es konnte sich nur um Eines handeln – Rechnungen.
Sie feuerte die Umschläge auf das kleine Buchenholz Schränkchen in ihrem Flur und schlurfte ins Schlafzimmer, wo sie der Verlockung ihres großen Bettes mit der knallroten Satinbettwäsche widerstand und stattdessen vor den Kleiderschrank trat.
Er war längst nicht so prall gefüllt wie in früheren Zeiten, in denen sie noch finanzielle Unterstützung ihrer Eltern erhalten hatte und weit weniger gut bestückt als sie es gerne gehabt hätte.
Neben ihrem wohl gehütetem Schatz, einem Pistaziengrünen Seidenkleid von Oscar de la Renta, hingen einige wenigen Blusen, ein schwarzer Hosenanzug, den sie hasste, und ihre dick gefütterte Winterjacke.
In den Fächern daneben kramte sie eine Weile herum, bis Annie gefunden hatte was sie suchte. Ein Paar Jeansshorts, ein schwarzes Tanktop und ein graues, Das etwas raffinierter geschnitten war. Sie betrachtete sich kurz in dem Mannshohen Spiegel neben ihrer Garderobe und schleppte sich dann ins Bad.
Ihre Wangen waren noch verknittert vom Schlaf und ihre Augen ein wenig geschwollen von einem spontanen Gefühlsausbruch der gestrigen Nacht.
Sie betastete kurz ihre Schläfen, drehte dann das Wasser auf und spritzte es großflächig über Hals und Gesicht. Dann trocknete sie sich ab, putzte die Zähne, arrangierte ihr zotteliges braunes Haar zu einem halbwegs anständigen Pferdeschwanz, trug einen Hauch Make-up auf und machte sich auf den Weg.
Als sie im Cafe eintraf, in das Betty sie unter der Versprechung monumentaler Neuigkeiten gelockt hatte, saß Diese bereits an einem der polierten Hartholztische des Innenhofes und nippte an ihrem Kaffee.
Als sie ihre beste Freundin erspähte sprang sie freudig auf und winkte ihr, mit einem ihrer stark tätowierten Arme, zu.
Ihre unglaublichen Kurven hatte sie heute in ein weißes Neckholder-Top und einen tiefschwarzen Bleistiftrock mit Taillengürtel verpackt.
In ihrer 50-er Jahre Aufmachung verkörperte sie einen fleischgewordenen Männertraum, der Annie jedes Mal ein bisschen neidisch machte.
Ihr Ebenholzhaar hatte sie zu einer kleinen Tolle und einer kunstvollen Pin-up Frisur gesteckt und knallroter Lippenstift lenkte die Aufmerksamkeit auf ihren spektakulären Mund. Wenn man viel mit Elizabeth „Betty“ Delancourt unterwegs war, musste man sich an das Gefühl gewöhnen sich immer ein bisschen underdressed vorzukommen.
Annie hatte sich endlich an dem gaffenden Kellner vorbeigedrängt und ihre Freundin erreicht, die sie herzlich in die Arme schloss.
„Es kommt mir vor als hätten wir uns ewig nicht gesehen, meine kleine Trottellumme“, lächelte sie.
Annemarie wollte gerade etwas antworten als Betty einen alarmierten Blick aufsetzte.
„Ohoh…“, begann sie. „Du riechst nach Keksen. Du hast wieder gebacken! Was ist denn passiert?“ Dieser Frau entging aber auch nichts! Annie zuckte die Schultern und ließ sich auf den ebenfalls hölzernen Stuhl sinken.
„Fletcher hatte doch gestern dieses Konzert..“, begann sie vorsichtig.
Ihre Freundin nickte ungeduldig über den Fakt den sie bereits kannte.
„Naja, ich habe Fotos gemacht und nach dem Auftritt hat er sein Equipment zurück in den Proberaum gefahren…“
Sie wurde unterbrochen, denn der Kellner, ein etwa neunzehnjähriger Junge mit fettiger Haut und ein wenig Zuviel um die Körpermitte, kam an ihren Tisch um ihre Bestellung aufzunehmen, wobei er seine Worte ausschließlich an Betty richtete.
Auch etwas, an das Annie bereits gewöhnt war.
Als sie ihr Frühstück geordert hatten setzte sie ihre Erzählung fort.
„Nun, du weißt ja wie klein seine alte Mühle ist…“
„Hat er immer noch diesen klapperigen Ford?“
„Allerdings. Jedenfalls hat er mich dann gebeten bei den Resten seines Schlagzeugs zu warten, bis er das andere Zeug ausgeladen hätte und das habe ich getan.“
Betty machte eine fordernde Geste. „Und dann?“
„Dann habe ich eine gefühlte Ewigkeit in dieser Spelunke gehockt. Als mir dann auch noch so ein Kerl auf die Pelle rücken wollte…“
„Was?“, unterbrach Betty entsetzt.
„Ach, das war nichts…er sah eigentlich sogar richtig gut aus. War aber einer von der Sorte `Kann ich ihnen behilflich sein?`“, erklärte Annie hastig.
„Sowas nennt man Gentleman, Annie“, bemerkte sie sarkastisch.
Ihre Freundin tat es mit einer Handbewegung ab und machte sich wieder an ihre Ausführungen.
Als Sie geendet hatte, starrte Betty ihr fassungslos in die honigfarbenen Augen.
„Wow…das ist…“, sie machte eine längere Pause um nach den richtigen Worten zu suchen.
„…verdammt unverfroren. So ein Arschloch!“ Annie zuckte mit den Schultern.
„Ich glaube…in Wahrheit war das mit uns eh nie das Richtige. Ich wusste von Anfang an, dass Fletch nicht der Mann sein würde mit dem ich mal ein Häuschen, einen Hund und Kinder haben will.“
Nach kurzem Überlegen fügte sie hinzu: „ Ich habe ihn nie wirklich geliebt.“
Ihre Gesprächspartnerin nickte wissend.
„Ja, Liebste. Den Eindruck hatte ich auch. Trotzdem gibt es diesem Scheißkerl noch lange nicht das Recht eine Andere zu vögeln!“
Annie musste über die direkte Ausrucksweise ihrer Freundin lächeln.
Unbemerkt war der Kellner mit ihren Bestellungen und einem überaus interessierten Gesichtsausdruck erschienen.
Offensichtlich hatte er den letzten Teil ihrer Konversation mit bekommen, denn während er die Teller abstellte bemerkte er versucht beiläufig: „Sie sind also wieder frei?“
„Weiß deine Mutter, dass du so was sagst?“, empörte sich Betty. Dieser Spruch schien stark am Ego des jungen Mannes zu kratzen. „Ich bin zwanzig Jahre alt, Miss!“
„Oh schade“, erwiderte sie. „Ich bin zweiundfünfzig. Und nun sei ein guter Junge und geh mit den anderen Kindern spielen:“ Beleidigt dampfte er ab.„Also dieses Personal heut zu tage.“
Dieses kleine Intermezzo schien Bettys Gedankenstrang jedoch keinen Abbruch getan zu haben denn sie ließ eine neue Schimpftirade los.
„Dieser möchte gern Jazzmusiker. Ich meine Jazz! Das ist nicht mal ordentliche Musik!“
Annie musste ihr zustimmen. Insgeheim hatte auch sie Jazz nie gemocht. Wie konnte ihr das nur entfallen sein?
„Und dann hieß er ja auch gar nicht Fletcher. Ich meine, wie armselig ist es denn sich von Peter Scott in Fletcher umbenennen zu lassen und das dann auch noch mit der Begründung, es würde jazziger klingen.“ Sie schnaubte verächtlich.
Elizabeth hatte wieder einmal geschafft ihre Freundin aufzuheitern.
„Wenn ich dich nicht hätte“, lächelte Annie. Betty spießte ein Stück Obst auf ihre Gabel und erhob sie.
„Auf Frauenfreundschaften. Einige der wenigen Beziehungen die für die Ewigkeit gemacht sind!“
Annie erhob die Ihre, die mit einem großen Stück Schokoladenkuchen beladen war und stieß sie mit dem Stiel gegen die Gabel ihrer geliebten Freundin.
Nachdem sie dieses Thema abgehakt hatten kam ihr der eigentliche Grund ihres Zusammentreffens wieder in den Sinn .
„Du hattest von MONUMENTALEN Neuigkeiten gesprochen?!“
Betty nickte eifrig, legte das Besteck beiseite und bemühte sich ihren Bissen möglichst schnell herunter zu schlucken.
„Also, ich habe dir doch erzählt, dass ich überraschenderweise diesen Auftrag von Derek Stern bekommen habe.“
„Diesem Rockstar von `My Plant eats your Plant`“, vergewisserte sich Annie.
„Genau der. Jedenfalls hat der wohl irgendwie darauf bestanden sich persönlich mit mir zu treffen“, sie untermalte ihre Verständnislosigkeit mit einer ausladenden Geste. „Ich meine, normalerweise wissen diese Typen nicht mal, wie ihr Presseagent heißt.“
Annie machte eine zustimmende Bewegung und antwortete grinsend: „ Er muss ein Foto von dir in die Hände bekommen haben.“
„Ach was!“ Ironischerweise hatte Betty noch nie gut mit Komplimenten umgehen können.
„Nun, jedenfalls hat er während unseres Telefonats erwähnt, dass seine Band ein Paar neue Bilder braucht und sie keine Lust auf diesen üblichen Bitte-lächeln-Studio-Quatsch haben und da sagte ich, ich würde genau die richtige Person dafür kennen.“
Annies Augen weiteten sich. „Du meinst doch nicht…?“
„Meine Liebe: Ich hoffe du hast dir Morgen noch nichts vorgenommen. Aufgrund ihres engen Terminplans ist ein bisschen Spontaneität erforderlich.“
Annemarie konnte es nicht fassen. My Plant eats your Plant war derzeit wohl die meistgespielte Musikgruppe in Radio und Fernsehen mit einer utopischen Zahl Webseiten Zugriffe. Dieses Shooting könnte ihre Fahrkarte nach oben sein. Die Chance auf die sie gewartet hatte, seit sie mit einundzwanzig ihr Studium an der Rhodes University of Arts abgeschlossen hatte.
Gerade gab es nichts was sie auf ihrem Stuhl hätte halten können.
Sie jauchzte, sprang auf, stürmte um den Tisch herum und drückte Betty einen dicken Schmatz auf die Wange.
„Du kannst dir ja überhaupt nicht vorstellen wie dankbar ich dir bin!“
„Nun, du könntest es mir zeigen in dem du aufhörst mir mit deiner Umarmung die Luft abzuschnüren“, empfahl Betty.
Breit grinsend gab Annie ihre Freundin frei.
„Als Treffpunkt hat die Band ihr Studio angeboten. Da ich mich dort vorher sowieso mit…“, Elizabeth kicherte, „…Mr. Stern treffe, würde ich vorschlagen, dass wir zusammen fahren und du dir in der Zeit ein Set Up überlegst oder so.“
Annie hatte derweil wieder ihren Platz eingenommen, konnte ein nervöses Fußwippen allerdings nicht abstellen.
„Pfff als könnte ich noch an irgendwas anderes denken. Das Set Up wird heute Nacht durch meine träume geistern.“
„Ich gestehe: ich bin auch aufgeregt. Ist ja nicht einfach irgendwer, mit dem wir uns da treffen. Und außerdem…“, sie kramte ein Teeniemagazin aus ihrer schwarzen Handtasche hervor und schob es über den Tisch, „Sieht er nun wirklich nicht übel aus.“
Wie die zwei reifen erwachsenen Frauen, die sie nicht waren, beugten sie sich über Seite dreizehn und bewunderten das Konterfei des Indie-Rockers.
Ein hartes kantiges Kinn und eine Nase die schon zu gerade schien dominierten seine Erscheinung. Abgeschwächt wurden diese Züge durch einen weich gezeichneten Mund und Augen, die ihren jungenhaften Glanz noch nicht verloren hatten. Diese Gegensätze schufen eine Balance in seinem Gesicht, die ihn zwar für das gängige „Schön“ disqualifizierte, doch auf den „Attraktiv-Listen“ ganz nach Oben katapultierte.
Die nächste Seite zeigte seine große, breite Statur und zwei muskulöse Arme, deren Bizepse sich einen Kampf mit den Ärmelnähten seines schwarzen T-Shirts lieferten.
Nebst seiner hünenhaften Gestalt unterstrichen der Rockabillyhaarschnitt und der reichlich vorhandene Körperschmuck seine maskuline Erscheinung.
„Na wenn das mal nicht ’n richtiger Kerl ist.“
Annie hob die Schultern. „Schon…aber ich finde ihn irgendwie einschüchternd. Ich stehe eher auf die Männer, bei denen man nicht Angst haben muss jede Sekunde zerquetscht zu werden.“
„Du solltest damit Schluss machen dir immer diese idiotischen Hänflinge auszusuchen. Spätestens nach deiner gestrigen Erfahrung. Du, Liebste, brauchst einen Mann der alten Schule. Einen Gentleman. Jemanden mit Ehrgefühl. Jemanden, der weiß, wie man so ein Goldstück von Frau behandeln muss.“
„Das klingt ja gar nicht so schlecht. Sag bescheid wenn du aus dem Schlaraffenland zurück bist und Einen aufgetrieben hast!“
Mütterlich lächelnd schüttelte ihre Freundin den Kopf.
„Es gibt sie, Annie. Es gibt IHN. Und ich bin sicher, er kommt zu dir so schnell wie er kann.“
Betty sah ihr ernst in die Augen, bevor sie unvermittelt ein weniger kitschiges Thema anschnitt.
„Was hast du eigentlich noch vor, weshalb wir uns um diese unchristliche Zeit treffen mussten?“
Annemarie kicherte.
„Es ist schon halb zwölf, daran ist nichts unchristlich.“
„Oh wenn du wüsstest wie viele Menschen es gibt die um diese Zeit sehr SEHR unchristliche Dinge tun!“
Sie winkte ab. „Ich werde gleich noch bei meiner Granny vorbeischauen und danach Fletchers Sachen zusammen suchen, sie im Garten verbrennen und nackt um das Feuer tanzen.“
„Siehst du? Unchristlich!“
Nach vierzig weiteren Minuten und zwei Espresso brachen sie auf.
Der Regen hämmerte gegen die Scheiben des Taxis.
Völlig unerwartet und innerhalb kürzester Zeit waren Wolken aufgezogen und ergossen sich nun über der Stadt.
Das Taxameter war kurz vor Annies Schmerzgrenze angelangt, doch der vorbeiziehende Park signalisierte ihr, dass sich zwischen dem Gefährt und dem Haus ihrer Großmutter noch mehrere Meilen befanden. Zwanzig Dollar. Seufzend wühlte sie in ihrem braunen Shopper nach ihrer Geldbörse und inspizierte das Fach, in dem sich normalerweise Geldscheine befanden, ihres jedoch zeichnete sich durch eine mittlerweile chronische, gähnende Leere aus.
Sie räusperte sich verlegen und bat den Fahrer zu halten.
„Ähm…die Sache ist die…“, begann sie.
Ihr Chauffeur verdrehte die Augen. „Die Tour kenne ich. Als nächstes werden sie mir wohl eröffnen, dass sie auf mysteriöse Art und Weise ihre Bargeld verloren haben!“
Er wirkte aufgebracht.
„Ach so was passiert öfter?“
„Stellen sie sich doch nich dumm Miss!“, knurrte er ungehalten.
„Nun…sehen sie, es ist mir sehr peinlich, aber ich fürchte ich habe wirklich nichts bei mir um sie zu bezahlen. Aber wenn sie noch etwa zehn Minuten auf dieser Straße fahren, dann haben wir mein Ziel auch schon erreicht und dort habe ich Geld. Wenn sie nur….“
Er lachte zynisch auf.
„Vergessen sie’s! Ich bewege mich keinen Zentimeter weiter, wenn sie mich nicht bezahlen können.“
Wie ein trotziges Kleinkind verschränkte der Taxifahrer die Arme vor der Brust und starrte durch die Windschutzscheibe. Es hätte Annie nicht verwundert, wenn er auch noch mit dem Fuß aufgestampft und eine Schnute gezogen hätte.
„Sie laufen schön dorthin wo die Moneten sind, lassen mir ihren Ausweis da und kommen dann zurück um mir mein Geld zu überreichen.“
Vor Überraschung über dieses schamlose Verhalten fehlten ihr, wieder einmal, die richtigen Worte.
„Na los!“ Er machte eine Geste als wolle er eine lästige Fliege verscheuchen.
Sie wusste bereits in dem Moment, als sie ihre Tasche an sich zog und den Griff der Beifahrertür betätigte, dass sie sich vor dem Schlafen gehen dafür verabscheuen würde, diesem ungehobelten Affen widerstandslos gehorcht zu haben.
Trotz allem fand sie sich zwei Lidschläge später im strömenden Regen wieder.
So vorausschauend einen Schirm bei sich zu tragen war Annie noch nie gewesen und seit ihrem ersten – gescheiterten, Versuch ein Einmal-Regencape zu verwenden, hatte sie sich immer barhäuptig in die Naturgewalten begeben.
Die Tröpfchen schlugen gegen ihr Gesicht wie kleine Nadeln und sie versuchte sich umzudrehen und mit dem Rücken gegen den Wind zu laufen.
Die Lichter des Autos waren bereits nur noch als winzige verwaschene Pünktchen zu erahnen.
„Arschloch“, murmelte sie und sog im Gleichen Atemzug scharf Luft durch ihre Zähne als eisiges Wasser einen ihrer geliebten Sneakers füllte.
„Scheiße!“
Um nicht auch noch mit links in eine Pfütze zu treten entschied sie sich wieder Vis a Vis dem Niederschlag zu trotzen.
Je mehr der Regen ihre Kleidung Schicht für Schicht durchweichte, bis die Nässe allmählich zu ihrer Haut und die Kälte in ihre Glieder vorgedrungen war, desto bewusster wurde sie sich auch der Ereignisse des letzten Tages.
Fletcher hatte sie Betrogen.
Zwar stimmte es, dass sie ihn nie auf jene innige Art geliebt hatte, die sie sich für den Mann ihres Lebens wünschte, doch war es dennoch eine schmerzliche Erkenntnis, dass er sie ohne weiteres weggeworfen hatte.
Einer Tradition lebenslanger Selbstzweifel folgend lag für Annemarie Eines ganz klar auf der Hand: Sie war nicht gut genug.
Vielleicht konnte sie ja mit charakterlichen Eigenschaften aufwarten, die in der Frauenwelt eher dünn gesät waren, doch optisch war sie schlicht und einfach Eine von Vielen und würde damit immer hinter jenen besonders auffälligen Exemplaren zurückstehen.
Konnte sie ihrem Ex denn überhaupt einen Vorwurf machen?
Lag es nicht in der Natur des Mannes sich immer für die, wenn auch dumme, Augenweide zu entscheiden?
Sie konnte die Tränen nicht mehr zurück halten und war froh, dass sich bei der derzeitigen Wetterlage keine Menschenseele auf die Straße traute.
Zu aller Selbstkritik musste sie sich auch noch eingestehen, dass sie in ihren vierundzwanzig Lebensjahren noch nicht annährend das erreicht hatte, was sie sich immer so schillernd vorzustellen gepflegt hatte und wenn sie nicht bald etwas unternehmen würde, würde sie schon in kurzer Zeit die Rechnungen, die so unausweichlich jeden Monat anstanden wie am Ende der Zeit das eigene Ableben, nicht mehr bezahlen können.
Gleich morgen würde sie sich erneut auf die Suche nach einem langweiligen job begeben müssen, den sie hassen würde.
Wäre sie jetzt zuhause in ihrer Wohnung und würde nicht melodramatisch auf offener Straße im Regen weinen, wären bereits die ersten Bleche mit kleinen Köstlichkeiten im Ofen.
Ihre Gefühle wegbacken war eine Taktik, die sich bewährt hatte.
Im Leben hatte man keine Zeit lange zu trauern oder sich der Hilflosigkeit oder dem Gefühl zu ergeben, dass ein riesiger, immens wichtiger Teil der eigenen Existenz zu fehlen schien, den man nicht nötiger weise wirklich kennen musste um ihn zu vermissen.
Endlich tauchte der vertraute rote Hydrant auf. Er war ein fester Bestandteil der Kindheitserinnerungen an ihre Großmutter.
Dieses nostalgische Utensil war häufig Zuschauer und Darsteller ihrer fantasiereichen Inszenierungen gewesen, die Annie an der Pforte zum Haus ihrer Großmutter abgehalten hatte.
Sie blieb stehen und atmete tief ein. Sie wollte Grandma Liz nicht mit ihren Problemen belasten und damit ihr Mitleid heraufbeschwören.
Sie konnte Mitleid nicht ausstehen, seid sie bereits in frühester Jugend von ihrer Mutter damit regelrecht überhäuft worden war, was sich leider auch bis zum heutigen tag nicht geändert hatte.
Sich das Gesicht abzuwischen war aus den gegebenen Umständen unnötig und so seufzte Sie und trat durch das schmiedeeiserne Gartentor.
„Um Himmels Willen, ich kann mich nicht erinnern einen Klabautermann eingeladen zu haben!“
„Hi Granny, ich finde auch, dass du hübsch aussiehst.“
Miss Liza Benet war in der Tat auch mit ihren knapp achtzig Jahren noch eine spektakuläre Erscheinung.
Zwar entsprach ihre Figur nicht mehr ganz den Proportionen, die das Ideal vorgab, doch war sie noch immer eine schlanke, verhältnismäßig große Frau.
Ihr Gesicht war von Fältchen durchzogen, die sich größtenteils um ihre Augen herum sammelten und von einer humorvollen Trägerin kündeten.
Ihre grün und honigfarbenen Augen, die auch Die ihrer Enkelin wahren, glänzten stets vor Belustigung und ihr schlohweißes noch ziemlich dichtes Haar war in einer ordentlichen Welle arrangiert.
Solange Annie sich zurück erinnern konnte trug sie ein antikes Paar Diamantohrringe, und heute hatte sie Dazu ein zartrosa Chanelköstüm gewählt, dass noch von Coco höhst selbst stammen mochte.
Lächelnd betrachtete sie das tropfende Häufchen Elend auf ihrer Schwelle.
„Bist du wirklich zu Fuß hier, meine Liebe?“, fragte sie Granny Liz in einem Ton, der zu verstehen gab, dass dieses Verhalten selbst führ ihre durchgeknallte Lieblingsenkelin ungewöhnlich war.
„Natürlich nicht“, erwiderte Annie lahm. „Hatte kein Geld dabei um den Taxifahrer zu bezahlen. Der Typ wartet jetzt zwei Meilen entfernt mit meinem Ausweis auf seine Bezahlung.“
Angeekelt schüttelte Granny ihr ehrwürdiges Haupt. „Diesen Mann würde ich mir ja zu gern mal vornehmen.“
Dies war ein Szenario in dem Annemarie möglicherweise sogar etwas Mitleid für den Mann hätte empfinden können, der sie gerade vierzig Minuten durch ein Unwetter geschickt hatte.
Liza konnte weitaus furchteinflößender sein als jede Naturgewalt.
Diese Frau hatte Kriege, Hungersnöte und drei Ehemänner überlebt und Vier Kinder aufgezogen. Sie besaß einen unbeugsamen Willen und einen todsicheren moralischen Kompass, ebenso wie die Fähigkeit die unglaublichsten Torten, Kekse, Kuchen und Cupcakes zu machen.
„Könntest du mir einfach einen Zwanziger leihen?“, fragte Annie zerknirscht.
„Sicher, mein Mädchen, aber diesen Trottel kannst du ruhig noch eine Weile dort lassen wo er ist.“
Dem war nichts entgegen zu setzen.
Annemarie legte ihre Tasche auf die massive Holzkommode im Flur und folgte ihrer Großmutter in den Salon, wo sie sich auf ein urgemütliches geblümtes Chinssofa fallen ließ.
Liza reichte ihr zwei Zehner aus einer Schublade des Beistelltisches.
„Und nun erzähl mal, Liebes. Was ist los mit dir?“
Annie versuchte unschuldig auszusehen. „Nichts.“
Granny richtete einen Blick auf sie, der jegliches Röntgen überflüssig gemacht hätte. Demnächst würde sie sich auf Strahlungsschäden untersuchen lassen.
„ Kindchen, ich bin deine Großmutter und neunundsiebzig einhalb Jahre alt. Ich werde bald sterben. Mich anzulügen ist Sünde“, gab sie trocken zu bedenken.
„Pah, das versprichst du mir schon seit ich elf Jahre alt war und ich sitze immer noch vor einer ziemlich lebendigen und unverschämt neugierigen Person.“
Ihre Großmutter lächelte und erhob sich um im Kamin herum zu stochern und einen weiteren Scheit aufzulegen.
„Gestern habe ich Fletcher…ehm Peter, dabei erwischt wie er sich mit so einer hirnlosen Barbie vergnügt hat, nachdem er mich ewig auf ihn hat warten lassen.“, gestand ihre Enkelin mit brüchiger Stimme.
„Dieser Nichtsnutz“, schnaubte Liza, während sie sich wieder setzte.
„Wie geht es dir damit?“
Annie hob die Schultern. „Ich wusste von Anfang an, dass er nicht der Mann meiner Träume ist. Aber ich vermisse ihn trotzdem.“
Ihre Großmutter ergriff ihre Hand.
„Nein, Annie. Du musst wirklich genauer darüber nachdenken. Vermisst du wirklich ihn als Person oder den Zustand des Zusammenseins?„
Sie antwortete nicht.
„Und fang ja nicht an, dir die Schuld zuschustern zu wollen! Du bist das wunderbarste Mädchen auf diesem Planeten. Jeder der das nicht sieht sollte einen saftigen Arschtritt bekommen.“
Dieser knochentrockene Grannyhumor rang Annie ein Lächeln ab.
„Danke Grandma!“
„So und jetzt erzähl mir von positiven Dingen!“
Misstrauisch kniff Annemarie die Augen zusammen.
„Worauf auch immer du anspielst, du weißt es doch sowieso schon.“
Liza zuckte die Achseln. „Erwischt… Ich habe Betty neulich beim Einkaufen getroffen und sie hat mir von diesem Riesenauftrag erzählt.“
Bei ihrem Selbstmitleids-Schaumbad hatte Annie die anstehende Möglichkeit völlig vergessen, doch nun stahl sich der Gedanke als kleiner Schimmer zurück in ihr Bewusstsein.
„Du hast dir da eine Perle von Freundin ausgesucht, Kind. Ich hätte es selbst nicht besser machen können“, nickte sie anerkennend.
Und schon fühlte sich Annemarie weniger allein.
„Du bist doch sicher schon völlig aus dem Häuschen. Das ist eine einmalige Chance!“
„Danke, dass du mich daran erinnerst. Was wäre ich nur ohne mein Lampenfieber.“
„Das ist doch unnötig, Liebes“, sie reichte Annie eine Platte mit Gebäck. „Nimm dir etwas, du siehst furchtbar dünn aus.“
„Danke für Alles Grandma. Ich melde mich bei dir, sobald ich mit den Fotos durch bin.“
Liza schloss ihre Enkelin herzlich in die Arme und Annie roch ihr subtiles und mit Sicherheit sündhaft teures Parfüm.
„Gern geschehen, Annie. Jeder Zeit.“
Annemarie öffnete ihr Portmonee um die Geldscheine aus ihrer Hosentasche artgerecht zu verstauen. Als sie das Fach mit den Karten zur Seite klappte, stellte sie erheitert fest, dass sich ihr Personalsausweis genau dort befand, wo er immer war.
Sie hatte diesem Mann überhaupt nichts gegeben bevor sie ausgestiegen war und dieser Idiot hatte es nicht bemerkt.
Grinsend steckte sie das Geld trotzdem ein, da sie wusste, dass ihre Großmutter die Rücknahme mit ihrer besonderen Ausprägung von Altersstarrsinn sowieso verweigern würde.
Dann lief sie durch den Vorgarten zur Straße, wo ein von Liza Benet persönlich bestelltes und bereits bezahltes Taxi auf sie wartete.
Kapitel 2
Verzweifelt versuchte Annie nun zum vierten Mal ihre Wimpern zu tuschen und ließ eine Schimpftirade los, die sich gewaschen hatte, als sie erneut mit der kleinen Bürste ihre Haut berührte. Einen Moment lang erwägte sie, sich einfach so vor die Tür zu wagen, allerdings nur so lang bis sie sich wieder im Spiegel erspähte. Ein gequältes Seufzen, drei Kosmetiktücher und zwei Anläufe später hatte sie schließlich doch ein akzeptables Ergebnis erzielt und huschte aus dem Badezimmer in ihre gemütliche sonnengelbe Küche.
Gerade als sie ein rosageblümtes Porzellanschüsselchen mit Frühstücksflocken füllte, schrillte die Türklingel. Nun äußerte sich ihre derzeitige Verfassung als nervliches Wrack darin, dass sie in Reaktion auf das Läuten derart heftig zusammen fuhr, dass ihr die Schüssel aus den Händen glitt und auf dem Sandsteinboden zerschellte.
Fahrig drängte sie sich an den Scherben vorbei, spurtete durch den Flur und öffnete.
„Guten Morgen, Hübsche!“, grinste Betty.
Neidvoll betrachtete Annemarie das perfekte Augen Make up ihrer Freundin, bevor sie Dieser einen flüchtigen Schmatz auf die Wange drückte und zurück in die Küche wuselte.
„Herr Gott, Süße, du bist ja schlimmer als ein aufgescheuchtes Wiesel.“
Auf dem Weg durch den Flur fielen Betty Delancourt die drei Umschläge auf dem Buchenschränkchen ins Auge.
„Ich bin gleich soweit!“, beteuerte Annie.
„Das sieht ziemlich ernst aus, Anns!“
„Was?“
„Die Rechnungen. Oder besser gesagt die jeweils ersten und zweiten Mahnungen.“
Zerknirscht spähte das Nervenbündel auf das unheilvolle Dokument zwischen Elizabeths rot lackierten Fingernägeln, wobei sie den Abstand so wählte, dass sie sicher sein konnte die Zahlen auf dem Papier nicht zu erkennen.
„Ich weiß. Aber im Moment läuft es einfach nicht so gut und ich will nicht schon wieder bei Bernie’s Brezelgeschäft anfangen.“
„Nun wenn du nicht aus deiner Wohnung fliegen willst wirst du das müssen!“
Annie runzelte die Stirn.
„Darüber kann ich mir Später Gedanken machen okay?! Wenn ich das Shooting überstanden habe.“
„Ich dachte du freust dich darauf.“
„Versteh mich nicht falsch, das tue ich! Aber der Druck ist doch recht groß, wenn man bedenkt, dass Das das Einzige ist was noch zwischen mir und einem Leben steht, dessen Hauptinhalt der Satz `Darf’s auch noch ein Bagel sein?’ ist.“
„Der Wagen steht draußen, von mir aus können wir sofort zu deinem Selbstgericht aufbrechen.“
Auf dem Weg von ihrem Hirn zum fertigen Gesichtsausdruck wandelte sich die beabsichtigte Entschlossenheit zu so etwas wie verhaltener Panik, doch das Nicken brachte Annie gerade noch zu Stande.
Fünfunddreißig Minuten später starrte sie kreidebleich und mit einem unangenehm flauen Gefühl im Magen auf die Spitzen ihrer abgetragenen Boxfresh-Schuhe.
Auf dem Weg durch den Gebäudekomplex indem sich das Studio von My plant eats your plant befand, waren sie an einem Haufen chic gekleideter Frauen vorbeigekommen und Annie wünschte sich ihre gut sitzenden Billigjeans mit einer jener korsettartigen Designerhosen vertauschen zu können.
Auch das schlichte weiße Haltertop und der dunkelblaue Cardigan, der ihr mindestens eine Nummer zu groß war, machten sie hier drin ähnlich auffällig wie einen Kuhfladen in der teuersten Ecke der Parfümerieabteilung.
Als eine blonde Schönheit in Schuhen auf sie zugewackelt kam, mit deren Kaufpreis sie eine ihrer Monatsmieten hätte bezahlen können, schraubte sie Ihre Ansprüche herunter und wünschte sich nur noch eine Schaufel um sich ein Erdloch zu graben.
„Miss Benet?“
„Ja?“
„Die Jungs erwarten sie jetzt. Bitte hier entlang.“
Sie folgte dem hypnotischen Hüftschwung der jungen Frau und dem Klacken ihrer Manolos auf dem hellen Echtholzboden bis vor eine massiv anmutende Tür, über der eine rote Lampe den Schriftzug „Recording“ beleuchtete.
Rechts neben der Zarge befand sich etwas, das sich soeben als Gegensprechanlage herausstellte.
„Hey Jungs, eure Fotografiererin ist da!“
Ein Lachen drang aus dem Lautsprecher und dann ein: „Danke Jan, Schatz“.
Jemand betätigte den Summer und „Jan“ stemmte sich gegen das Türblatt bevor sie Annie mit einer einladenden Geste in den Raum dahinter treten ließ und in die andere Richtung verschwand.
Die Wände in diesem schmalen Durchgang waren mit dunkelgrauem Filz ausgekleidet.
Annemarie schauerte bei dem Gedanken daran, mit den Fingernägeln über den Stoff zu fahren und beeilte sich die schmale Glastür am anderen Ende zu erreichen.
Hinter Dieser konnte sie bereits vier Gestalten erkennen, die sich auf braunen Ledercouches rekelten und ihr Herzschlag gewann an Geschwindigkeit.
Noch war sie außer Sichtweite der Bandmitglieder. Eine letzte Gelegenheit um tief Luft zu holen.
Sie schloss die Augen und atmete weit in den Bauch.
„Versau es nicht, Annemarie. Das ist deine Chance! Versau es nicht!“
„Entschuldigung?“
Erschrocken öffnete sie die Augen. Diese whiskeygebadete Reibeisenstimme gehörte dem einzigen Mitglied der Musikgruppe, das sie bereits von Bildern kannte.
Der breit grinsende Mann vor ihr musste Derek Stern sein. Leadsänger und Gitarrist der Erfolgsgruppe.
Sie versuchte die Erkenntnis zu verdrängen dass ihr gerade Unmengen Blut in den Kopf schossen, da sie sich bereits bis auf die Knochen blamiert hatte, noch bevor sie überhaupt ein Wort gesagt hatte. Das war selbst für sie ein ungeahntes Level an Unfähigkeit.
„Oh…Hi….ich bin Annie. Ich meine…“, sie schloss noch einmal für eine Weile die Lider.
„Hi, ich bin Annemarie Benet, aber ihr könnt mich ruhig Annie nennen. Ich bin wegen der Fotos hier!“
Von ihrem neuen Anfang ermutigt streckte sie die Hand aus und stellte zufrieden fest, dass sie kaum zitterte.
Der große Mann ergriff freudig ihre dargebotene Rechte und drückte fest zu.
„Derek Stern, freut mich sehr, Annie.“
Er hielt ihr die Tür auf.
„Leute“, wandte er sich an die drei anderen Gestalten im Raum. „…das ist Annie. Sie wird uns heute ins richtige Licht setzen.“
Unverständliches Gemurmel folgte. Erst jetzt bemerkte Annie die tiefen Schatten in Dereks Gesicht und auch die anderen sahen abgeschlafft und übermüdet aus.
„Darf ich vorstellen?“, ertönte es rauchig neben ihr.
„Dieser Junge man ist Jack Jennings. Auch JJ genannt. Er ist unser Bassist.“
Der Lockenköpfige sehr jung wirkende Mann ihr am nächsten schenkte ihr ein mattes Lächeln, bevor seine fast schwarzen Augen zufielen.
„Das dort in der Ecke…“, Derek deutete auf einen sehr muskulösen Kerl mit kurzem Haarschnitt und Bart, der ein ganzes Sofa für sich alleine beschlagnahmt hatte, „…ist Ron Plummer. Bester Schlagzeuger und Perkussionist nördlich des Äquators.“
Annie winkte ihm schüchtern und Ron zwinkerte ihr zu.
„Und dieses hübsche Exemplar eines Homo Sapiens ist Mister Wade Holburn. Seines Zeichens zweiter Gitarrist und Backgroundsänger.“
Der dunkelblonde Mann mochte vielleicht Mitte zwanzig sein, wirkte jedoch durch den kurzen ebenfalls blonden Bart und die dezente Brille auf der geraden Nase bereits mindestens fünf Jahre älter. Dennoch war keiner dieser Typen unattraktiv, was ihren Job nicht gerade erleichterte.
In Gesellschaft anziehender Männer lag ihre Fettnäpfchen-Trefferquote etwas unter hundert Prozent.
Derek wies auf den Platz neben Wade und ließ sich selbst neben seinen Bassisten sinken, der soeben eingeschlafen war.
„Tut mir leid, dass wir dich mit so schwerem Ausgangsmaterial belasten“, entschuldigte sich ihr Sitznachbar. „Es ist nur so, dass wir eigentlich die letzten sechsundneunzig Stunden quasi durchgearbeitet haben um die Deadline für unsere LP einzuhalten.“
Annie spürte ehrliches Mitleid in sich aufkeimen.
Diese Jungs arbeiteten anscheinend wirklich hart für ihren Traum und nahmen dafür auch Schlafentzug, soziale Abgeschiedenheit und diesen widerwärtigen Geruch aus verbrauchter Luft, muffiger Pizza und Zigarettenqualm in kauf.
JJ grunzte im Schlaf, woraufhin Derek ihm mit dem Ellenbogen unsanft in die Rippen stieß.
„Jack! Komm schon, Mann. Hast es bald geschafft.“
„Ist sein erstes Studioalbum“, erklärte Ron Plummer mit so etwas wie väterlichem Stolz in der Stimme.
Etwas zischte neben Annie. Wade hatte eine Dose Energydrink geöffnet und reichte sie JJ.
„Hier, Junge.“
Die Fürsorge und Kameradschaft der Bandmitglieder untereinander berührte sie ungeahnt tief.
Sie waren die perfekte Familie, die sie sich immer erhofft hatte, doch ihr Halbbruder hatte nie wirklich Interesse an Annemarie gezeigt.
Nach einigen Sekunden sperrte Annie diese persönlichen Gedanken zurück in die verborgene Schublade, in die sie gehörten und konzentrierte sich auf ihre eigentliche Aufgabe.
„Ich werde versuchen es für uns Alle so angenehm wie möglich zu machen. Eigentlich hatte ich vor gehabt ein Paar Studiofotos mit euch zu schießen, aber ich glaube aus gegebenem Anlass sollten wir das Ganze an die frische Luft verlegen.“
Die Männer nickten. Nicht vorfreudig aber wenigstens erleichtert.
„Auf dem Weg her hab ich in der Nähe etwas gesehen, was super als Set up funktionieren könnte. Ich würde vorschlagen ihr folgt mir einfach.“
Sie kam sich vor die Klassensprecherin in der Grundschule, die ihren Mitschülern gerade vorgeschlagen hatte zusammen ein Spiel zu spielen.
Zu ihrem Glück hatte sie offenbar vier der nettesten Menschen des ganzen Landes vor sich, denn ohne den geringsten Laut des Protestes hievten sie sich in die Höhe und folgten ihr aus dem Gebäude.
Sie grüßten beinahe Jeden, der ihnen in den Gängen begegnete mit Namen und Derek stellte Fragen nach Familienangehörigen, Haustieren oder Autos. Man konnte nicht anders als diese Jungs zu mögen. Annie hatte noch nie umgänglichere Menschen kennen gelernt. Diese Offenheit und Bodenständigkeit musste man einfach sympathisch finden.
Als sie endlich den Haupteingang des riesigen Hauses passiert hatten schlug ihnen die ungewöhnlich frühlingshafte Luft wie eine Wand entgegen und die gleißende Sonne ließ alle Fünf blinzeln.
„Wow“, machte Ron.
„Ich wusste gar nicht mehr, wie es hier draußen zu geht. Ich hoffe meine Lungen verkraften den ganzen Sauerstoff.“
Wade kicherte.
„Und wohin jetzt?“, wollte JJ wissen.
„Dort lang!“ Annie deutete vage nach Osten.
„Ist nicht weit. Zehn Fußminuten schätze ich.“
„Nach Ihnen, Teuerste“, bat Derek und untermalte seinen Satz mir einer ausladenden Geste.
Er ging neben ihr, während der Rest in geringem Abstand hinter ihnen herlief. Das Wetter hatte offenbar ihre Lebensgeister wieder erweckt und sie blödelten und schubsten sich ab und zu.
„Darf ich dir die Tasche abnehmen?“, erbot sich Derek.
Annie schüttelte den Kopf.
„Nein, Danke. Aber da drin ist mein Baby. Nichts gegen dich, aber wenn jemand meine Cannon fallen lässt, dann sollte ich das sein.“
Er lächelte.
„Verstehe. Ich gebe meine Gitarre auch nicht gern aus den Händen. Eine 1988er Les Paul Junior. Wunderschön.“
Sie hatte zwar keine blasse Ahnung von Musikinstrumenten, nickte aber aus Höflichkeit.
„Sag mal, wie hat es Miss Delancourt eigentlich aufgenommen, dass wir unsere Termine vertauscht haben? Ich hoffe das hat sie nicht verärgert.“
„Ach, das geht schon in Ordnung. Wir sind sowieso zusammen hier, daher macht es zeitlich keinen Unterschied. Glaub mir, wenn Betty etwas nicht passt sagt sie es. Sie ist nicht gerade der Typ der mit seiner Meinung hinterm Berg hält.“
Derek zeigte seine bestechenden Grübchen als er erneut grinsen musste.
„Was meinst du? Ist sie deshalb eine gute Presseagentin?“
„Absolut! Was nützen einem Leute die immer nur Anderen nach dem Munde reden“, gab Annie zu bedenken.
„Sehr richtig. Ich bin gespannt auf unsere Besprechung“, gab er zu.
Nun lächelte Annie.
„Sie ist klasse. Ich denke ihr werdet euch gut verstehen.“
Jack stürmte an Ihnen vorbei, gefolgt von Ron. „Komm sofort her. Dir wird ich’s zeigen…“
Wade schloss zu Annie und Derek auf.
„Was hast du dir denn schönes ausgedacht Frau Fotografin?“
„Oder Fotografiererin wie Jan sagen würde“, lachte Derek.
„Naja ist eben nicht die hellste Kerze im Leuchter“, gestand Wade. „Aber als Empfangsdame macht sie doch einen recht guten job.“
„Pff…Empfangsdame. Ich hätte auch kein Problem damit meinen Besuch persönlich herein zu bitten und meine Post allein zu sortieren. Das mit dem Telefon würde ich bestimmt auch hinbekommen.“
„Aber wer sollte dann deinen unglaublich erotischen Gesang einspielen, Derek?“
Sie lachten und gaben sich einen männlichen Klapps auf die Schulter.
„Wenn die Gentlemen einmal nach vorne schauen würden?“, meldete sich Annie zu Wort.
„Unsere heutige Kulisse.“
Der kleine Tross war stehen geblieben und betrachtete eine große Ansammlung von Sand, ein Klettergerüst, zwei Schaukeln, eine Wippe und etliche Bänke.
Jetzt wo sie mit Vier erwachsenen Männern vor dem Spielplatz stand kam ihr ihre Idee plötzlich sehr viel weniger Gut vor und als sie die versteinerten Mienen der Jungs sah rutschte ihr das Herz in die Hose.
„Ich…Ich dachte es wäre mal was anderes“, stammelte sie. „Aber vielleicht war das auch…“
„Wahnsinn!“, meinte Ron.
Diese Antwort hatte sie erwartet, allerdings eher abfällig als in jenem enthusiastischen Tonfall.
„Ich nehm die erste Schaukel!“, rief JJ und rannte auf das Spielgerät zu.
Wade spurtete gleichzeitig mit Ron los und sie lieferten sich einen Kampf um die Verbliebene.
Derek folgte Ron Plummer, der verloren hatte und sie probierten schnellstmöglich die Spitzen der Klettergerüste zu erreichen.
Ein tonnenschwerer Stein fiel von Annie ab, als ihr klar wurde, dass sie den richtigen Riecher gehabt hatte.
Begeistert schnappte sie sich ihre Kamera und begann zu fotografieren was das Zeug hielt.
Mit ungeduldig wippendem Fuß starrte Elizabeth Delancourt auf das Ziffernblatt der filigranen vintage Damenuhr, die sie kürzlich als Superschnäppchen auf dem örtlichen Flohmarkt erstanden hatte. Es war bereits halb Zwölf. Seit nun mehr zweieinhalb Stunden saß sie im geräumigen und zugegebener maßen eleganten, doch auch unglaublich öden, Wartebereich der der „Brainfreeze Record Studios“ fest. Hätte dieser trottelige Sänger ihre Termine nicht vertauscht, hätte sie sich zumindest bereits um die Sichtung der bisherigen Unterlagen kümmern können. Sie hasste es wenn sie sich nutzlos fühlte.
Ein entnervter Seufzer entrang sich ihrer Kehle. Hoffentlich nutzte Annie die Zeit wenigstens um den großen Satz in die richtige Richtung zu machen, den sie sich verdient hatte.
Schnelle Schritte ließen sie hoffnungsvoll aufsehen. Auch nach den vorhergehenden zwanzig erfolglosen Versuchen, hatte sie die Hoffnung noch nicht aufgegeben und das zurecht wie sich jetzt herausstellte, denn Sekunden später bog ein gehetzt wirkender und definitiv übernächtigter Mann um die Ecke, bei dem es sich zweifellos um Derek Stern handeln musste.
In ihrem Groll über ihren unfreiwilligen Müßiggang hatte Betty völlig vergessen aufgeregt zu sein, doch nun, angesichts ihres überaus attraktivem Kunden schien sich ihr Magen daran zu erinnern und vermittelte ihr den Eindruck sie hätte beim Gehen eine Treppenstufe ausgelassen.
Mit einem umwerfenden Lächeln reichte er Ihr seine gepflegte rechte Hand. „Hi, ich bin Derek Stern…Derek.“
Beim Klang seiner Stimme rann ihr ein Schauer den Rücken hinunter.
„Er ist Kundschaft“ ermahnte sie sich. „Topkundschaft!“
Zwar ging es ihr finanziell recht gut, doch so gut, dass sie einen derartigen Riesenauftrag durch die unprofessionellen Reaktionen ihres Körpers sabotieren ließe sah es auf ihrem Konto nun auch nicht aus.
„Elizabeth Delancourt“, erwiderte sie und ergriff die dargebotene Hand.
Ihre Finger prickelten. Ärgerlich wies sie den Teenager in sich, den sie schon seit langer Zeit tot geglaubt hatte, auf die knapp Drei Stunden Wartezeit hin um sich davon abzuhalten rot anzulaufen.
„Ich hoffe es hat Ihnen nicht zu viele Unannehmlichkeiten bereitet, dass ich so kurzfristig ihren und Miss Benets Termine tauschen musste, aber nach knapp zwei Wochen Studioaufnahmen und viel VIEL zu wenig Schlaf in den letzten vier Tagen, wollte ich meinen Jungs nicht noch die für sie unnötige Wartezeit während unseres Treffens zumuten. Ich hoffe sie haben dafür Verständnis.“
Leider hatte sie eine Menge Verständnis. Teenager-Betty bekam Herzflattern bei dem Gedanken an diese Art von sozialer Kompetenz.
„Oh, natürlich. Ich hätte sicher nicht anders gehandelt.“
Er strahlte.
„Dann schließe ich aus ihrer Aussage, dass es für Sie sicherlich auch angenehm wäre, wenn wir unsere Angelegenheiten zügig über die Bühne bringen, damit sie möglichst bald ihr Schlafdefizit ausgleichen können, Mister Stern.“
„Derek“, antwortete er.
„Bitte?“
„Bitte, nennen sie mich einfach Derek, sonst komme ich mir wirklich noch so alt vor, wie ich mich im Moment fühle.“
Sie nickte nur, da sie innerlich versuchte den Backfisch in ihr zum Schweigen zu bringen, der in Jubelschreie ausgebrochen war. Seit ihrer tatsächlichen Pubertät hatte sie sich nicht mehr mit Klein-Betty auseinander setzen müssen. Warum musste dieses Gör ausgerechnet jetzt Probleme bereiten?
„Nun denn, dann lassen sie uns doch einfach zu Tat schreiten…Derek.“
Seine Mundwinkel zuckten.
„Dann bitte nach ihnen.“
Auf dem Weg zu einem Raum, der sein Büro zu sein schien öffnete er ihr ausnahmslos jede Tür und erklärte nebenbei wer die Leute waren, die er im Vorbeigehen gegrüßt hatte oder was sich hinter den Türen befand, die verschlossen blieben.
Als er ihr dann auch noch den Stuhl zurechtrückte war es um einen Teil von ihr eindeutig geschehen, was sie ungemein verärgerte.
„Also Mister… Derek, was erwarten sie von mir als Presseagentin?“
Er schwieg eine Weile, dann beugte er sich ein wenig über den großen Tisch auf dem sich Zettel, Zeitschriften und ungeöffnete Post nach dem Chaosprinzip stapelten.
„Ich will ganz ehrlich mit ihnen seien.“
Betty warf ihm einen skeptischen Blick zu.
„Oh keine Angst…es ist nur so, dass ich in Wahrheit nicht die geringste Ahnung davon habe, was genau die Aufgaben eines solchen Agenten sind und weshalb ich Einen brauchen sollte. Unser Manager war allerdings der Meinung, dass jemand wie sie von ungeheurer Wichtigkeit sei, aber Chuck neigt generell hin wieder dazu ein wenig dramatisch zu werden.“
Er gluckste.
„Und meine Aufgabe ist es jetzt sie über meine Arbeit ins Bilde zu setzen und sie zu überzeugen, dass ich unabdingbar bin?“
Er nickte.
„Nichts leichter als das. Also: Meine Aufgaben befinden sich im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit oder auch Public Relations. Mein Schwerpunkt ist logischerweise die Medienwelt. Ich schreibe Artikel, koordiniere ihre Pressekonferenzen, Interviews und Presseanfragen. Ich kontrolliere gewissermaßen den Informationsfluss von My plant eats your plant zu den Medien. Damit geht natürlich einher, dass ich jegliche Form von Öffentlichkeitskontakt der Band beobachten, jeden Zeitungsbericht kennen und jede herannahende mediale Katastrophenmeldung riechen muss. Selbst wenn es ihnen momentan so erscheint, als würden sie und ihr Manager Das noch ganz gut alleine auf die Reihe bekommen, werden sie sich wünschen mich angeheuert zu haben, sobald die ersten negativ Schlagzeilen und Skandalberichte in den Zeitungen auftauchen.“
Er nickte nachdenklich.
„Scheint ein ganzschön hartes Business zu sein, das sie sich ausgesucht haben, Betty.“
„Elizabeth“, korrigierte sie höflich aber bestimmt. Sie musste es unbedingt vermeiden eine Beziehung zu ihm zu entwickeln, die auch nur ansatzweise in eine andere Richtung als das Geschäftliche ging.
„Aber sie haben recht, es ist nicht einfach. Gerade als Frau, aber ich hatte noch nie etwas gegen Herausforderungen einzuwenden.“
Derek lächelte noch immer und das auf eine so einnehmende Weise, dass sie ihre Professionalität am liebsten über Bord geworfen hätte.
„So hätte ich sie auch nicht eingeschätzt… Elizabeth.“
„Nun, haben sie irgendeine Art von Archiv ihrer bisherigen öffentlichen Auftritte?“
Er fuhr sich durch das dichte dunkelblonde Haar und legte dann beide Hände auf die Tischplatte während er nachdachte.
In diesem Moment konnte sich Betty einfach nicht helfen. Sie musste sein Gesicht betrachten.
Die Schlaflosigkeit hatte ihm leichte Ringe unter die Augen gemalt und sein Kinn wurde von etlichen goldenen Stoppeln verziert, ansonsten sah er genau aus wie in der Zeitschrift, die sie und Annie sich noch gestern angesehen hatten.
Diese Zeichen seiner offensichtlichen Erschöpfung hätten ihn unattraktiv erscheinen lassen sollen, doch bewirkten sie das ganze Gegenteil.
Ihre Augen wanderten an Ihm entlang, während er in einem Haufen Dokumente herumkramte.
Nach seinem Adamsapfel blieb ihr Blick an der Tätowierung an der linken Seite seines Halses hängen, die ein von einem Dolch durchstoßenes Herz im traditionell westlichen Stil zeigte. Etwas weiter abwärts spannte sich ebenfalls bunte Haut über ein wunderbares Paar ausgeprägter Schlüsselbeine. Welchen Motiv genau seine anziehend breite Brust zierte konnte sie sich nur vorstellen, da ihr unglücklicherweise ein weißes T-Shirt die Sicht versperrte, doch seine muskulösen Arme waren unbekleidet und boten dem Betrachter ähnlich faszinierende Bilder wie die sixtinische Kapelle.
Seine kräftigen Hände schienen nur ein wenig rau, mit den langen schlanken Fingern eines Musikers und ordentlichen kurz geschnittenen Nägeln.
„…Wäre das in Ordnung für sie?“
Betty schreckte auf und sah, dass Dereks Mundwinkel fast bis zu seinen Ohren gewandert waren.
„Wie bitte?“
Er war viel zu sehr Gentleman um es zu erwähnen, doch er hatte mit Sicherheit bemerkt wie sie ihn gemustert hatte. Am liebsten hätte sie sich in Luft aufgelöst.
„Ich fragte sie gerade ob es okay wäre, wenn sie die Unterlagen bei einem späteren Treffen bekommen würden, denn eine ordentliche Sammlung haben wir nicht gerade. Das ganze Zeug müsste ich erst mit unserem Manager zusammen suchen.“
Sie nickte.
„Dann würde ich Ihnen auch gleich den Entwurf für ihren Arbeitsvertrag mitbringen“, schlug er vor.
„In Ordnung. Meine Kontaktdaten haben sie ja bereits. Ich würde sie dann ihrem Bett überlassen.“
Mit diesen Worten erhob sich Betty von ihrem Stuhl und beeilte sich zur Tür, doch bevor sie die Klinke auch nur berühren konnte lag Dereks Hand bereits darauf.
„Erlauben sie, Miss Delancourt.“
Er öffnete, doch nur ein Stück.
„Dürfte ich sie bei Zeiten auf einen Drink einladen?“
Sie konnte ein gequältes seufzen gerade noch unterdrücken.
„Das halte ich für keine so gute Idee, Mister Stern.“
„Derek!“
„Das halte ich für keine gute Idee, Derek.“
Er wirkte weder verärgert noch enttäuscht, eher so, als hätte er genau diese Antwort erwartet, was Elizabeth ungemein beunruhigte.
„Nun, sehen sie es einfach als Geschäftstermin. Wenn sie Interesse an diesem Job haben, dann werden sie sich wohl mit mir treffen müssen, Verehrteste.“
Dieser Schuft!
Sie versuchte ihn mit einem ihrer gefürchteten Blicke aufzuspießen, doch fiel es ihr angesichts seines schelmisch jungenhaften Grinsens alles andere als leicht.
„Wunderbar!“ Er schien es wirklich zu meinen.
„Dann werde ich sie Morgen abholen. Ich denke achtzehn Uhr müsste ich wieder unter den Lebenden wandeln.“ Endlich zog er das Türblatt gänzlich auf und Betty war froh über die Schwelle flüchten zu können um ein wenig Distanz herzustellen.
„Eins noch, Elizabeth. Bitte erinnern sie Annie noch einmal daran, dass Charles Foster, unser Agent, die Bilder bereits heute Abend bei ihr Abholen wird. Nur für den Fall…sie schien mir ein wenig zerstreut.“
Sie nickte.
„Nun, dann bis Morgen Miss Betty. Verzeihung…Miss Elizabeth.“
Sie hob kurz ihre Hand zum Abschied, machte auf dem Absatz kehrt und stürmte den Gang entlang. Als sie hörte wie die Tür ins Schloss fiel konnte sie das Lächeln, das sich schon die Ganze Zeit auf ihrem Gesicht hatte ausbreiten wollen nicht mehr zurück halten.
Kapitel 3
Annie hatte keinerlei Intentionen sich das breite Lächeln aus ihrem Gesicht vertreiben zu lassen. Während der letzten Vier Stunden hatte sie das komplette Bildmaterial des Shootings gesichtet, sortiert und bearbeitet und das Ergebnis stellte sie unerwartet zufrieden. Sie war stolz auf sich und zu diesem Zustand gesellte sich das unwahrscheinlich gute Gefühl genau das Richtige getan zu haben, das sie über das ganze letzte Jahr, wenn nicht sogar länger, in ihrem Leben vermisst hatte.
Ein weiterer positiver Nebeneffekt der getanen Arbeit bestand darin, dass sie sich nun etwas gönnen konnte ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. Sie hatte es sich ehrlich verdient jetzt etwas Zeit mit sich zu verbringen und so erhob sich Annie von ihrem Arbeitsplatz, der in einer Ecke des sandfarbenen Wohnzimmers stand um sich ihre Lieblingsmusik aufzulegen, ein Bad zu nehmen und sich dann mit einem guten Buch und Lieferservice Thai-essen im Bett zu verkriechen.
Als sie gerade ihren Flur durchquerte fielen ihr wieder die Umschläge auf ihrem Beistelltischchen ins Auge. Diese verdammten, penetranten, nicht ignorierbaren Umschläge! Es war an der Zeit eine Frau zu sein und sich mit dem Grauen der Finanzen auseinander zu setzen.
Sie nahm das erste Schreiben aus dem bereits von Betty geöffneten Couvert und überflog den gezwungen höflichen Text bis ihre Augen an einer erschreckenden Summe hängen blieben. Auch die nächsten Forderungen wurden nicht besser. Insgesamt würde sie den Betrag nicht einmal mit dem Gehalt für die Bilder der Band abdecken können, bei dem ihr noch heute morgen die Kinnlade heruntergeklappt war.
Es war unvermeidlich. Ein weiterer schaler Aushilfsjob stand unmittelbar bevor. Morgen war es an der Zeit sich zurück in halbherzige Bewerbungsgespräche und geheuchelte Motivationsschreiben zu stürzen.
Trotzallem lehnte sie sich kurze Zeit später im warmen Wasser zurück.
Der Auftrag mit „My Plant Eats Your Plant“ war definitiv ein Schritt in die richtige Richtung. Und selbst wenn ihr dieser Kontakt nicht direkt beruflich weiterhelfen würde, war es doch eine wichtige Erfahrung für ihr geschröpftes Künstlerego. Nicht zu vergessen die erstaunlichen Leute, die sie kennen gelernt hatte. Derek Stern war eine der faszinierendsten Persönlichkeiten die sie jemals getroffen hatte und das konnte sie mit Sicherheit behaupten obwohl sie Betty Delancourt als beste Freundin hatte. Apropos. Was zwischen diesen Beiden ablief würde sie auch noch herausfinden.
Sie langte nach dem Fläschchen mit Shampoo und seifte sich gerade ihre langen braunen Haare ein als es sturmklingelte.
Sie schrak zusammen und bekam prompt eine Ladung Laugenwasser ins rechte Auge.
„Verflucht!“
Unbeholfen kletterte Annie aus der Badewanne, schnappte sich ein flauschiges aber ziemlich knappes Handtuch, stürmte durch den Flur so schnell es ging ohne zu fallen und riss überschwänglich die Tür auf in der Gewissheit Betty auf der anderen Seite zu sehen.
Stattdessen lehnte ein grinsender Fremder an ihrem Klingelknopf.
Als sie endlich das Shampoo weggeblinzelt hatte und ihre Sicht sich klärte, erkannte sie wer sie soeben aus ihrer Ruhe gerissen hatte.
„Hi“ begrüßte er sie. „Annie Benet?“
„SIE!“
„Ähm…“, der Besucher schien ratlos.
„Stalken sie mich jetzt? War ja klar, dass mit ihnen etwas nicht stimmt. Ein Kerl wie sie in einer Bar wie dieser…Ich habe keine Angst die Polizei zu rufen, also verschwinden sie gefälligst von meinem Grund und Boden!“
In seinen grünen Augen glomm plötzliche Erkenntnis auf.
„Sie sind also das Mädchen aus der Bar“, stellte er gefolgt von einem leicht kratzigen Lachen fest.
„Tun sie nicht so unschuldig. Deswegen sind sie doch hier. Und wenn ich sie wäre würde ich jetzt dringend das Weite suchen!“
Mit diesen Worten schob sie entschieden das Türblatt zu, doch das Klicken des Schlosses blieb aus.
Entsetzt erkannte Annie, dass sich ein ausgetretener Sneaker in den verbliebenen Spalt gequetscht hatte.
„AU! Sie Verrückte, machen sie endlich auf. Ich bin Charles Foster und sie zertrümmern meinen Fuß!“
„Und ich bin die Königin von England und es ist mir egal!“, schrie Sie während sie dir Tür wieder ein winziges Stück öffnete um sie dann mit aller Gewalt zu zuschieben
„Arrrgh“, machte es von der anderen Seite und der Fuß zog sich zurück. Das Schloss gab das vertraute beruhigende Klicken von sich und Annie machte sich auf den Weg zurück ins Bad um ihre Haare auszuspülen. Ihr Puls war noch immer beschleunigt, doch das Adrenalin setzte bereits ein. Ein Glucksen formierte sich in ihrer Magengegend wandelte sich auf dem Weg nach draußen allerdings in ein ersticktes „Urgh“.
Sie machte auf dem Absatz kehrt und rannte zurück zur Tür, denn soeben war ihr der Zusammenhang des Namens Charles beziehungsweise Chuck Foster wieder eingefallen.
Gehetzt wühlte Betty in ihrer überdimensionierten Tasche nach dem klingelnden Blackberry.
Sie ertastete eine Reihe Gegenstände, bevor sie endlich zwischen Lippenstift, Schlüsselbund und etwas, das sich wie alte Kassenzettel anfühlte, fand was sie gesucht hatte, es schwungvoll herauszog und mit einer geübten Bewegung des Daumens sofort den richtigen Knopf traf um abzuheben.
„Delancourt?“, meldete sie sich.
„Ah, Betty, ich dachte sie wären schon in ihrem sicher wohlverdienten Feierabend. Hier ist Derek.“
Sie konnte sein Grinsen durch die Leitung förmlich hören und musste unfreiwillig lächeln.
„Elizabeth“, korrigierte sie automatisch. „Und theoretisch bin ich das auch, aber meine Klienten haben Priorität. Für mich gibt es eigentlich keine Geschäftszeiten. Womit kann ich Ihnen helfen Mister Stern?“
Sie besah sich eine Schale Weintrauben, die Ihre Prüfung zu bestehen schien und kurz darauf im Einkaufswagen landete.
„Eigentlich ist es nicht meine Art derlei Dinge über das Telefon zu tun, aber da sie vorhin so fluchtartig mein Büro verlassen haben fiel es mir schwer sie persönlich zum Essen einzuladen.“
Ein Netz Mandarinen folgte.
„Mister Stern…“
„Derek!“
„Ich dachte ich hatte ihnen schon klar gemacht, dass das wirklich keine gute Idee ist und ich aus diesem Grund leider ablehnen muss.“
Ein Becher Joghurt, eine Packung Eier und zweihundert Gramm Frischkäse wanderte in den Drahtkorb.
„Ich habe sie doch noch gar nicht gefragt“, bemerkte er.
„Oh…“
Ein Becher Schokopudding.
„Aber das werde ich jetzt. Würden sie mir die ausgesprochene Freude machen und mit mir Essen gehen Miss Betty?“
Sie schüttelte bedauernd den Kopf und nahm einen zweiten Becher.
„Es tut mir Leid, Derek. Sie scheinen ein sehr netter Kerl zu sein, aber ich kann es mir nicht leisten Privates und Berufliches zu vermischen. Ich muss leider ablehnen.“
Eine Dose Tomaten.
„Das heißt aber sie würden gern?!“
Sie zwang sich nicht „Oh Gott ja!“ zu schreien, sagte stattdessen lieber nichts und warf einen Pralinenkasten in den Wagen.
„Wenn sie es so wollen, sehen sie es eben als Dienstbesprechung!“
Sie seufzte. Warum musste er es Ihr auch noch so schwer machen?
„Nein, das ist doch das Selbe in grün! Kein Essen, kein Date, keine vorgetäuschten Besprechungen!“
Das Telefon zwischen Ohr und Schulter geklemmt lud sie die Waren auf das Band und nickte der Kassiererin freundlich zu.
„Hören Sie, Derek es passt gerade nicht so gut. Wenn sie ein echtes Anliegen haben können sie mich gerne später noch einmal anrufen.“
„zwölf dreiundvierzig, bitte“, krächzte die bebrillte Dame.
Betty reichte ihr ihre Karte.
„Das war mein Ernst, Betty. Ich habe die Sammlung der Medienauftritte gefunden!“
„Wunderbar, dann werde ich Sie mir morgen früh in ihrem Büro abholen!“
„Einmal PIN eingeben und bestätigen!“
Sie warf ihren letzten Artikel in zurück in den Einkaufswagen und wandte sich den winzigen Tasten zu.
„Morgen habe ich keine Zeit!“
Sie vertippte sich und begann erneut.
„Das ist nicht nötig, ich werde das einfach mit ihrer Assistentin erledigen.“
„Tut mir Leid, aber das war wohl die falsche PIN. Bitte versuchen sie es noch einmal.“
Betty hörte, wie sich der schnauzbärtige ältere Mann hinter ihr vernehmlich räusperte.
„Sie hat sich Urlaub genommen!“
Entnervt hämmerte sie die Nummern in das Gerät.
„Dann eben übermorgen!“
„Die ganze Woche.“
Sie konnte sich gut vorstellen wie er sich gerade notierte seine Sekretärin tatsächlich die nächsten sieben Tage zu beurlauben.
„Verzeihen sie, aber es hat noch immer nicht geklappt. Haben sie vielleicht eine andere Karte oder Bargeld bei sich?“
Der Alte hinter ihr begann zu zetern.
„Unverschämtheit!“
Wütend fuhr Betty herum.
„Es sind noch mindestens drei weitere Kassen in diesem gottverdammten Supermarkt, an denen keine einzige Person ansteht. Warum versuchen Sie es nicht mal da?“
Er nuschelte etwas in seinen Bart dass sich für Betty wie „Diese Furie!“ anhörte und trottete davon.
Sie sog tief Luft ein, reichte der Kassiererin einen Geldschein und hob das Blackberry zurück ans Ohr.
„Also gut sie Schlitzohr. Morgenabend DIENSTBESPRECHUNG…“
„…Wundervoll, ich hole sie um 8 vor ihrer Haustür ab, Miss Betty“, fiel er ihr ins Wort und legte auf bevor sie protestieren konnte.
Dieser Teufel!
„Hier bitte!“ Annie reichte ihrem Gast einen Eisbeutel, den sich dieser auf den offenbar schmerzenden Knöchel presste.
„Ich möchte mich noch einmal entschuldigen, allerdings hätten sie sich auch gleich vernünftig vorstellen können. Wo sind ihre guten Manieren abgeblieben?!“
Er versprühte puren Sarkasmus.
„Natürlich, mein Fehler. Ich vergaß, dass man sich sofort nach dem Klingeln seine Lebensgeschichte erzählt um zertrümmerten Extremitäten aus dem Weg zu gehen.“
Sie schenkte Charles ein säuerliches Lächeln.
„Als alleinlebende Frau muss man sich eben zur Wehr zu setzen wissen gegen diese ganzen Perversen heutzutage.“
„Oh glauben sie mir, ich garantiere ihnen, dass sie vor Stalkern sicher sind.“
„Welch zauberhaftes Kopliment.“
„Apropos Kompliment, sie haben vorhin etwas Interessantes erwähnt. Was für eine Bar war das denn in der wir uns getroffen haben…und viel interessanter, für was für eine Art Mann halten sie mich denn, nicht in ein solches Etablissement zu passen?“
Annie suchte nach einer Antwort, die nicht so schmeichelhaft war wie die Wahrheit. Sein Ego schien einen Selbstbewusstseinsschub nun wirklich nicht nötig zu haben.
„Schauen Sie sich nur mal an, sie sehen aus wie ein Backstreetboy! Das ist eine Bar für echte Kerle!“
„So wie diesen Jazzheini mit dem sie aufgekreuzt sind und der sie offenbar für etwas amüsanteres versetzt hat?“
Das saß.
„Mein Privatleben geht sie einen feuchten Kehricht an“, fauchte sie.
Er lächelte süffisant.
„Nun wenn dem so ist, dann sollten sie sich vielleicht etwas Anziehen bevor wir uns weiter unterhalten.“
Verdattert starrte sie an sich hinab auf ihre nackten Beine und Füße, und die Tropfen, die sich um sie herum auf dem Laminatboden gesammelt hatten.
Entsetzt versuche Annie mit dem kleinen weißen Handtuch Das zu bewerkstelligen, was normalerweise eine Hose und ein T-Shirt leisteten.
„Entschuldigen sie mich“, stammelte sie bevor sie aus dem Raum stürzte um sich anzukleiden.
Ihr Schlafzimmerspiegel bestätigte ihre Vermutung. Ihr Gesicht war von einem ungesunden Scharlachrot.
Hastig zog sie ein Paar Teile aus dem Schrank, zog sie über und versuchte in der kurzen Zeitspanne die ihr blieb, ohne dass er merken würde, dass sie sich bemühte gut auszusehen, Make-up aufzutragen und Ihre Haare zu bändigen.
Sie tupfte gerade ein Wenig Rouge auf ihre Wangen, als sie im Spiegel eine Große Gestalt hinter sich wahrnahm.
„Von Privatsphäre halten sie wohl nicht viel?“
Chuck zuckte die Schultern. „Ist überbewertet. Und wenn man erstmal drei Monate mit Vier anderen Jungs in einem Tourbus verbracht hat sieht man derartige Dinge nichtmehr so eng.“
„Nicht zu fassen, dass es Jemand so lange mit ihnen aushält“, murmelte sie.
„Wie bitte?“
„Ach nichts. Könnten sie sich wieder ins auf die Couch setzen? Ich fühle mich nicht sehr wohl dabei Fremde in meinem Schlafzimmer stehen zu haben.“
„Haben sie Angst ich könnte sie auf ihre Knallrote Satinbettwäsche werfen und Ihnen den Verstand rauben?“
„Hat Ihnen schonmal Jemand gesagt, dass sie ein ungehobelter Klotz sind?“
„Meine Mutter, an meinem zehnten Geburtstag und seitdem Alle Jahre wieder.“
Annie legte das Kosmetikdöschen beiseite und schob Charles vor sich her aus dem Raum.
„Das ist aber auch nicht gerade die feine englische Art“, beschwerte er sich.
„Da haben sie Recht, denn die muss man sich schließlich verdienen!“
An der Wohnzimmertür ließ sie ihn stehen und holte die DVD mit den Aufnahmen von ihrem Schreibtisch. Als sie zurück in den Flur kam um dem jungen Manager zu geben wofür er gekommen war fand sie ihn mit dem Rücken zu ihr, interessiert ein Schreiben studierend.
„Oh Annie, Annie…sie scheinen ganzschön in der Kreide zu stehen!“
Entsetzt erkannte sie ihre Rechnungen in seinen geraden, kräftigen Fingern.
„Das geht entschieden zu weit, das ist vertraulich!“
Sie stürzte auf ihn zu um Ihm das Papier zu entreißen, doch er drehte sich galant zur Seite, sodass sie ins Leere griff.
„Herr Gott, wie alt sind sie?! Geben sie das her!“
„Aber ich bin erst bei der zweiten Mahnung und es ist noch so viel zu lesen übrig!“
Annie verpasste ihm einen Klapps gegen den Kopf, sprang in die Höhe und schnappte sich die Briefe.
„Au! Sie Wahnsinnige!“ Er rieb sich den Kopf. „Ich kann es nicht fassen, dass Derek mit Ihnen weiterarbeiten möchte. Ich werde eine Gefahrenzulage fordern.“
Plötzlich wurde sie ganz ruhig.
„Weiterarbeiten? Was meinen sie damit?“
„Das wüssten sie wohl gern, hm?“
„Vergessen sie’s ich glaube das ist es mir nicht wert.“
Er deutete auf die Zettel in ihrer Hand.
„Diese Dinger sagen etwas anderes!“
Sie seufzte.
„Na los, raus mit der Sprache!“
„Sie haben unheimliches Glück Teuerste!“
Verständnislos starrte Annie in sein von den grünen Augen dominiertes Gesicht.
„Ich wette sie haben es in irgendeinem Boulevardblättchen bereits gelesen. In zwei Tagen heiratet Dereks Schwester und wie es der Zufall will hat sich der zuständige Fotograf den Arm gebrochen.“
Sie bekam große Augen.
„Und was noch viel unwahrscheinlicher ist…Derek hat sie als Ersatz vorgeschlagen, was meiner Meinung nach nur eine Verzweiflungstat gewesen sein konnte.“
Er überlegte eine Weile. „Oder sie machen tatsächlich verdammt gute Bilder!“
Annie stand da wie vom Donner gerührt.
„Die Bezahlung ist überdurchschnittlich und die Referenz von einem solchen Event wäre unschlagbar.“
Misstrauisch funkelte sie zu Charles.
„Wenn das ein grausamer Scherz ist, schwöre ich ihnen…“
Er hob abwehrend die Hände.
„Ich wünschte das wäre es!“
Sie streckte ihm die Zunge heraus und bereute es sofort. Ein derartig infantiles Benehmen hatte sie seit mehr als zehn Jahren nicht an den Tag gelegt, doch irgendetwas hatte dieser Mann an sich, das sie zur Weißglut trieb.
„Ich werte das als Zustimmung. Nächsten Samstag. Adresse und Zeit werde ich Ihnen später schicken und jetzt entschuldigen sie mich Gnädigste, ich habe noch andere Damen zu beglücken.“
„Diese armen Seelen wissen vermutlich noch nicht einmal was ihnen bevor steht.“
Ein breites Grinsen eroberte sein Gesicht.
„Es war mir ebenfalls ein Fest sie kennen zu lernen und ich freue mich schon darauf sie auf der Hochzeit zu sehen!“
„Sie werden auch da sein?“
„Sie ist praktisch auch meine Schwester. Außerdem habe ich gehört Frauen stehen auf diese ganze Trauzeugennummer…“
Sie stieß einen abfälligen Laut aus.
Er trat über die Schwelle und sie folgte ihm.
„Machen sie’s gut.“
Sie nickte und Chuck wandte sich zum Gehen, drehte sich aber nach zwei Schritten noch einmal herum.
„Ach und Annie…besorgen sie sich von der Anzahlung etwas Hübsches zum Anziehen. In diesem Fummel sehen sie scheußlich aus.“
„Danke sehr, ich werde ihnen auch aus bloßer Gutherzigkeit ein Paket Charakter mitbringen. Niemand hätte das nötiger als Sie!“
Wutschnaubend ging sie zurück ins Haus. Wie schaffte es dieser Mensch den sie knappe sechzig Minuten kannte ihr Blut so in Wallung zu bringen, dass sie ihre gute Kinderstube völlig vergaß? Er war blasiert, snobistisch und komplett oberflächlich, soviel war sicher.
Ihm Charme zu unterstellen stellte einmal mehr ihre miserable Männerkenntnis unter Beweis.
Doch ein Job war nun einmal ein Job. Ganz besonders Dieser. Es war dringend nötig sich eine Lektion in Sachen Professionalität im Umgang mit Personen abzuholen.
Umgehend schnappte sie ihr altes Telefon, bediente die Wählscheibe und verabredete sich für den folgenden Tag mit Betty, dem Musterbeispiel an berufsförderndem Verhalten.
Kapitel 4
„Das hast du nicht wirklich getan! ...Oder?“, vergewisserte sich Betty, der während Annemaries gesamter Erzählung der Mund offen gestanden hatte.
„Ich kann immer noch nicht fassen wie blöd ich bin. Als wäre jeder Mann der an meiner Tür klingelt ein Stalker! Und dann auch noch die Sache mit dem Handtuch!“
Betty kicherte. „Selbst wenn er einer dieser Verfolger wäre wärst du mit Ihm doch gar nicht so schlecht dran gewesen!“
Annie verzog den Mund. „Danke, das macht die Vorkommnisse doch gleich viel angenehmer!“
Betty schlang einen Arm um ihre Schultern, während die Türen des Einkaufszentrums vor Ihnen auf glitten.
„Ich bin sicher es war nicht so schrecklich wie es dir jetzt vorkommt!“
Sie bedachte Elizabeth mit einem ungläubigen Blick. „Hast du mir während der letzten halben Stunde überhaupt zugehört?“ Dann seufzte sie resigniert. „Wahrscheinlich hat er mich nach unserer Begegnung in der Bar eh schon als verrückt abgestempelt.“
„Ach, überhaupt, was kümmert es dich? Du hast den Auftrag und ‘Mister Manager‘ scheint sowieso nicht gerade nett zu sein. Vergiss es einfach und genieße das Einkaufserlebnis!“
„Was mir leichter fallen würde, wenn auf meinem Konto kein fetter Negativbetrag wäre“, erinnerte sich Annie missmutig während sie in das erste Geschäft abbogen.
„Du bist ja gerade dabei das zu ändern!“
„Was meine Gläubiger nicht wirklich interessiert. Das Geld für die Hochzeit werde ich frühestens nächsten Monat bekommen, Betts. Deswegen habe ich heute Morgen auch schon bei ‘Propertech‘, dieser Reinigungsfirma, angerufen und da dort offenbar gerade Personalmangel herrscht werde ich morgen bereits anfangen.“
Betty blickte von der pastellgelben Bluse in ihrer Hand auf und schenkte Annie einen besorgten Blick.
„Putzen? Wirklich, Liebes? Du weißt doch, dass ich dir gerne solange aushelfe, bis du die Vergütung für die Hochzeitsbilder bekommst! Das wäre gar kein Problem! Und ich bin sicher Granny würde…“
„…Das kommt ja wohl überhaupt nicht in Frage“, empörte sich Annie und ramme den Bügel samt daran hängendem Rock zurück auf die Kleiderstange. „Du kennst mich doch nun wirklich lange genug. Wenn ich mich recht erinnere war es noch nie meine Art Almosen anzunehmen!“
Betty lächelte säuerlich. „Genau genommen war es noch nie deine Art irgendetwas anzunehmen, Herzblatt. Weder Geld, noch Hilfe und schon gar keine guten Ratschläge.“
„Apropos gute Ratschläge…“, Annie zeigte auf den leuchtend smaragdgrünen Pullover, den Betty gerade hochhielt, „die Farbe ist scheußlich!“
Erschöpft raufte sich Chuck das dichte dunkle Haar.
„Ich könnte schwören, du suchst mit voller Absicht die verrücktesten Hühner der Branche als Geschäftspartner aus.“
Ein leises Lachen drang als Antwort aus dem Lautsprecher des Mobiltelefons.
„Ernsthaft, Derek. Bist du dir ganz sicher, dass SIE die Bilder machen soll? Es ist immerhin die Hochzeit deiner kleinen Schwester. So was lässt sich nicht wiederholen!“
„Daraus schließe ich, dass du dir Ihre Bilder noch nicht angesehen hast.“
„Verzeih mir, großer Meister. Ich habe mich mit so nebensächlichen Dingen wie den Vorbereitungen für dieses süße kleine Fünftausendmann Konzert aufgehalten.“
Wieder ein kratziges Glucksen.
„Chuck, mein Freund, du solltest dich mal entspannen. Burnout ist frühestens ab dem dreißigsten Lebensjahr stilecht.“
„Entspannen?!“, seine Stimmlage rutschte einige Oktaven nach oben.
„Oh, jetzt verstehe ich warum du immer diese Irren anheuern willst. Du bist einer von Ihnen! Es sind weniger als drei Monate bis zur Show und nur noch Wochen bis zum Album-release und du schlägst mir vor mich zu entspannen?“
„Manchmal muss man auch ein bisschen Vertrauen haben und loslassen. Auf Claires Zeremonie will ich kein Wort über Verträge, die Show oder irgendwelche anderen Karriere-verwandten Dinge von dir hören, verstanden?!“
„Ich werde jetzt auflegen, Derek!“
„Entsp…“
Kopfschüttelnd legte Charles den Hörer beiseite, ordnete einige Dokument und die Post, die er morgen der Tresenblondine in die Hand drücken würde. Dann fiel sein Blick auf die silbern glitzernde DVD.
Bei dem Gedanken daran, dass dieses zierliche halbnackte Persönchen ihm fast den linken Fuß gebrochen und ihn mit ihrem forschen Mundwerk beinahe um eine gute Antwort verlegen gemacht hatte verzogen sich seine Lippen zu einem ironischen Lächeln.
Ohne große Erwartungen öffnete er das Laufwerk, legte den Datenträger ein und lehnte sich in seinem bequemen Bürostuhl zurück um sich das Ergebnis von Annies Arbeit anzusehen.
Seltsam, dass er sich an ihren Namen erinnerte. Sonst war es diesbezüglich mit seinem Gedächtnis nicht weit her. Inoffiziell verteilte er bezeichnende Namen. Schnurrbartmann. Mister Eichhörnchen. Liebenswürdige lateinamerikanische Putzfrau. Bei Personen, deren Namen er offiziell häufig verwenden musste legte er sich Eselsbrücken zurecht oder schob eine extra Schicht auswendig lernen ein.
Das erste Foto leuchtete auf. Überrascht betätigte er den Pausenknopf. Das Bild zeigte Derek, Wade, Jack und Ron in einer Umgebung, in die sie, abgesehen von dem Jüngsten, nicht weniger hätten passen können. Ein Kinderspielplatz! Und doch schien jeder Einzelne von Ihnen in diesem Moment genau dort hinzugehören. Hier handelte es sich nicht um eines der üblichen coolen Imagefotos. Auf diesem Bild waren die Jungs genau so wie er sie kannte. Wie sie waren.
Die nächsten zwanzig Minuten verfolgte er gebannt, wie sich ein exquisiter Schuss nach dem Anderen über die Mattscheibe bewegte. Die Aufnahmen fesselten ihn so sehr, dass er die wunderschöne schwarzhaarige Frau, die soeben leise den Raum betreten hatte gar nicht bemerkte.
Mit großem Eifer machte sich Annie an ihrem Erdbeer-Joghurt-Becher zu schaffen, da ihr die halbe Stunde zusätzlichen Schlafes mehr wert gewesen war als ein dürftiges Frühstück.
Erst nachdem sie den schlimmsten Hunger mit einigen Löffeln Eis bekämpft hatte fiel ihr auf, dass Bettie eher lustlos in ihrem Stück Torte herumstocherte.
„Was ist los mit dir?“
Sie sah aus wie ein Reh im Scheinwerferlicht.
„Garnichts!“
„Ich kenne dich besser als mich selbst, Betts! Leugnen ist zwecklos!“
Sie ließ die Gabel sinken, mit der sie eben noch in ihrer zerlegten Schwarzwälder-Kirsch-Torte gewühlt hatte und seufzte.
„Ich stecke in der Klemme, Anns!“
Annie schenkte ihr einen verständnislosen Blick.
„Wieso das?“
„ ‚Mister Stern‘ hat mich für heute Abend zum Essen eingeladen.“
Annemarie hob die Brauen.
„Ohohoho, na wenn das mal nichts ist! Wo liegt das Problem? Er ist zum anbeißen!“
Bettie warf in einer dramatischen Geste die Arme gen Himmel und räumte dabei fast den kleinen runden Tisch leer.
„Ich weiß, ich weiß. Das macht ja den größten Teil der ganzen Misere aus!“
„Also jetzt redest du wirres Zeug!“
Sie seufzte.
„Er ist mein Kunde, Annie! Er ist der Topklient auf den ich so lange gehofft habe. Es hat sich schon mehrmals erwiesen, dass es nur Schwierigkeiten mit sich bringt sein Privatleben mit dem Beruflichen zu vermischen. Und selbst wenn er nicht mein Geschäftspartner wäre…“, sie ließ das Ende des Satzes offen.
Annie ergriff die Hand, die sich nicht um die Gabel krallte.
„Es ist fast drei Jahre her, Liebste“, sagte sie sanft.
Bettie schüttelte heftig den Kopf.
„Wie dem auch sei, ich werde das nachher einfach ganz professionell über die Bühne bringen. Ich bin eine Geschäftsfrau!“
Damit hatte sie das Thema beendet.
„Was hast du dir denn überhaupt für die Hochzeit vorgestellt? Es muss ja bequem zu tragen…“, sie unterbrach sich mitten im Satz. „Das ist doch Charles Foster!“
„Was? Wo?“ Annies Alarmglocken schrillten.
Elizabeth deutete mit einem Nicken in Richtung des Eingangs des Einkaufszentrums.
Annemarie versuchte sich unauffällig herumzudrehen und erspähte sofort den leger gekleideten grünaügigen Adonis, der mit einer dunkelhaarigen Schönheit, an den Geschäften vorbei, langsam in ihre Richtung schlenderte. Irgendetwas an diesem Anblick widerstrebte ihr zutiefst und sie hatte das unbehagliche Gefühl, dass Das nichts mit der blamablen Szenerie des gestrigen Tages zutun hatte. Sie versuchte in der Sitzbank zu versinken.
„Ich will dich ja nicht nervös machen, aber deine Tarnung war auch schon besser. Wenn er dich so entdeckt wird es nur peinlicher für dich, also setz dich gefälligst ordentlich hin und tu wenigstens so als wärst du eine vernünftige Frau in ihren Zwanzigern“, zischte Bettie, dann winkte sie.
„Was machst du denn? Bist du verrückt geworden?“, quiekte Annie.
„Stell dich nicht so an! Er hat es bestimmt schon vergessen!“
„Satan!“, wisperte sie und zog ein beleidigtes Gesicht.
Zu ihrem Entsetzen bogen Mister Universe und sein umwerfendes Anhängsel tatsächlich aus dem Gang ab und gesellten sich zu Ihnen an den winzigen runden Tisch.
„Na wenn das nicht A-Hörnchen und B-Hörnchen sind!“
Bettie lächelte und erhob sich um Charles zu begrüßen. Sie tauschten das übliche Doppel-Wangenküsschen aus. Annie gab dem guten altmodischen Händedruck den Vorzug, wo bei sie versuchte sich nicht von den smaragdgrünen Eiszapfen aus seinen Augen aufspießen zu lassen. Er hatte ihr Fauxpas also keineswegs vergessen. Dennoch bewies er einmal mehr ausgezeichnete Manieren.
„Darf ich vorstellen: das ist…“
Die große schlanke Frau an seiner Seite fiel ihm ins Wort.
„Cadence!“
Ihre Stimme war tief und klingend und passte wunderbar zu ihrer olivgetönten Haut, den ebenholzschwarzen Augen und Haaren und der Reihe nahezu blendend weißer perfekt geformter Zähne.
Die Eifersucht traf Annie unvorbereitet und verwandelte ihr Lächeln in eine Grimasse.
„Was treibt Euch denn hierher?“, begann Bettie eine kurze Konversation, die zu Annemaries Schrecken darin resultierte, dass Chuck seiner offensichtlichen Modelfreundin den Stuhl zurecht rückte und sich danach selbst zu ihr auf die kleine Sitzbank quetschte.
Er hatte sich soweit von Annie entfernt gesetzt wie es das Platzangebot zuließ und sie war sicher, dass eine seiner Pobacken in der Luft hing.
War Das etwa reifes Verhalten? Und Bettie warf ihr vor sich wie ein Kind zu benehmen!
Das Gespräch der Drei nahm sie nur bruchstückhaft war, da sie gleichzeitig versuchte möglichst unsichtbar zu sein und das Chaos in ihrem Kopf zu ordnen.
Diese ganze Szenerie war eine einzige Farce. Sie lebten in einer der größten Städte des Landes mit mindestens zehn Einkaufszentren. Selbst wenn man sich zufälligerweise mal gleichzeitig in dem Selben aufhielt, hieß das noch lange nicht, dass man sich auch begegnete.
Diese Konsumtempel waren im Laufe der Jahre zu gigantischen Ausmaßen angeschwollen, durch die sich täglich riesige Menschenmassen wälzten. Wie wahrscheinlich war es da schon, dass man die eine Person traf, die man am allerwenigsten sehen wollte?
Die Antwort erhielt sie, nachdem sie sich leise aus der Runde verabschiedet hatte um die Toiletten aufzusuchen.
Der Gang zu den Waschräumen lag direkt neben einem winzigen Musikgeschäft, aus dem gerade ein schlaksiger Mann mit Hornbrille und einer wildgemusterten Weste schlurfte.
Als er sie erblickte hob er den Kopf, lächelte und eilte auf sie zu.
Verzweiflung stieg in Annie auf und paarte sich mit einer Prise Selbstironie.
Wie wahrscheinlich war es gleich BEIDE Menschen zu treffen die man am allerwenigsten sehen wollte? Den Einen bei dem Versuch vor dem Anderen zu flüchten.
…Flüchten! Sie wägte kurz ihre Chancen ab in der Menschenmenge unterzutauchen, doch natürlich hatten Die sich gerade jetzt alle um ein einige hundert Meter entferntes Schaufenster versammelt um die hübsche Angestellte bei der Umdekoration zu beobachten.
Annie empfand Mitleid für die Frau bis sie sich an ihre persönliche Misere erinnerte. Vielleicht würde sie es noch bis in die Damentoilette schaffen, aber was würde das für einen Eindruck hinterlassen? Der, dass sie Stoffwechselprobleme plagten, wäre wohl noch besser als Der, des betrogenen, entmutigten und absolut ausgebranntem Häufchen Elends, das sie tatsächlich war und so rannte sie den Korridor entlang, auf die rettende Tür mit dem frauen-verzierten Emaille Schildchen zu.
Wenigstens war der Waschraum leer. Sie trotte durch den Raum, stütze sich mit durchgestreckten Armen auf den Rand eines der Marmoroptikwaschbecken, lehnte die Stirn gegen den Spiegel vor ihr und machte ihrer Hilflosigkeit mit einem knurrenden Seufzer Luft.
Warum hatte das Schicksal sie so auf dem Kieker?
Gerade mochte sie sich nicht besonders. Sie war eine feige, tollpatschige, eifersüchtige Ziege mit widerspenstigen langeweile-braunen Haaren und viel zu kurzen Beinchen für das erstaunliche Kleid, das sie sich vorhin gekauft hatte und noch dazu badete sie nun schon seit Fletchers Indiskretion in einem gut gefüllten See aus Selbstmitleid.
Das Klopfen an der Tür ließ sie so zusammenfahren, dass sie mit ihrem Kopf gegen den Spiegel schlug.
„Au, verdammt!“, fluchte sie.
„Annie, Darling, bitte lass uns reden!“
Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen. Wenigstens konnte es jetzt eigentlich nicht mehr schlimmer werden.
„Das war ein Ausrutscher, Darling! Ich schätze dich noch immer so sehr!“
Sie musste bitter lächeln, denn sie wusste, dass er mit „dich“ eigentlich „deine Kochkünste, das Aufräumen, Putzen, Einkaufen und den Sex“ meinte. Obwohl sie sich bei Letzterem nicht einmal mehr so sicher war.
Dieses verdammte Würstchen von einem Mann hatte sie so verunsichert, dass sie wieder das Selbstbewusstsein eines pubertierenden Mädchens hatte. Einfach erbärmlich!
Es klopfte erneut.
„Komm schon, Annsie, ich weiß dass du da drin bist!“
Sie hatte diesen Spitznamen schon immer gehasst und sie verabscheute seine Stimme die sich dauernd überschlug.
„Darling!...“
Und dieses „Darling“ hasste sie auch.
Diese Überlegungen gefielen ihr auf eine niedere Art und Weise. Wenn sie sich darauf konzentrieren könnte ihn zu hassen, würde alles Andere, was sie mit ihm in Verbindung brachte vielleicht weit genug in den Hintergrund geraten um ihn gleichgültig zu behandeln.
Ohja, sie hasste es wenn er sich über das Kinn strich. Als hätte er jemals genügend Haarwuchs gehabt um sich einen Bart wachsen zu lassen! Sie hasste seine lächerliche Brille und seine Rückgratlosigkeit. Er hatte ihr bestimmt fünf Mal versprochen das Rauchen aufzugeben, doch sobald Irgendjemand, wie unwichtig und unbekannt er auch sein mochte, einen dummen Spruch abließ, hatte er sich am nächsten Automaten eine Schachtel Kippen besorgt.
Sie hasste…
„Weißt du nichtmehr, als ich dir zu deinem Geburtstag diese tollen Konzertkarten geschenkt habe?...Oder als ich mich um dich gekümmert habe als du die Grippe hattest? Zählt das denn gar nichts, Darling?“
Sie erinnerte sich nur zu gut. Das Konzert war von seiner Lieblingsband. Einer grottigen Freejazz-combo aus irgendeinem Hinterwäldler-dorf. Nach dem Auftritt hatte er die ganze Bagage auf ein Bier eingeladen und Annie von da an ignoriert, bis es ihr zu bunt wurde und sie sich ein Taxi nachhause bestellt hatte. Er hatte sie nicht mal angerufen um sich zu vergewissern ob sie gut angekommen war. Sobald ein größeres Amüsement winkte ließ er sie völlig links liegen.
Und als sie im Winter der heftigen Grippewelle zum Opfer gefallen war hatte er ein einziges Mal auf ihren verzweifelten Anruf hin widerwillig ein Medikament für sie in der Apotheke geholt und es in ihren Briefkasten geworfen. Seitdem hatte er sein Telefon ausgestöpselt bis Sie wieder gesund war.
„Ach komm schon…“, seine Stimme nahm einen weinerlichen Klang an, der Annie fast zum überkochen brachte.
Sie drehte den Wasserhahn voll auf und betätigte den Händetrockner um ihn nicht mehr hören zu müssen.
„Annie?“
Sie fuhr herum und sah Cadence die Tür schließen.
„Redet dieser Verrückte da draußen mit Ihnen?“
Annie nickte. „Ich fürchte schon!“
Cadence ging an das Becken, bei dem das Wasser lief und wusch sich sorgfältig die Hände.
„Schrecklicher Exfreund?“, vermutete sie.
„Auf den Punkt!“
Sie nickte mit ehrlich wirkendem Mitleid. „Wenn er dich belästigt könnte ich Chuck bescheid sagen und…“
Annie fiel ihr schnell ins Wort: „Oooooh…nein, nein, nein. Vielen Dank, aber ich komm schon klar. Charles ist DEIN edler Ritter! Es ist wirklich alles gut.“
Cadence wirkte irritiert, zuckte dann aber die Schultern und drehte den Hahn zu.
„Begleitest du mich zurück zum Tisch? Ich habe einen furchtbaren Orientierungssinn!“, lächelte sie verlegen. „Schon auf dem Weg her habe ich mich dreimal verlaufen! Ich schwöre es!“
Annie musste lachen. Allem Anschein nach war diese Frau doch nicht nur ein schöner Hohlkörper.
Punkt Acht Uhr hatte Derek vor Betties Tür gestanden um sie in das kleine, doch elegante Hafenlokal einzuladen, auf dessen Terrasse sie gerade den Blick über den Fluss schweifen ließ.
Allmählich gingen ihr die berufsbezogenen Themen aus und sie überlegte fieberhaft unter welchem Vorwand sie sich wohl höflich davon stehlen konnte. Doch so wie sie Derek kennen gelernt hatte würde er sie kaum gehen lassen, bevor er den Abend als gelungen ansah. Wann auch immer das sein würde.
Gerade in diesem Augenblick glitt er wieder auf den Holzstuhl ihr gegenüber. Während er in der Karte nach einem Dessert stöberte und ihr geduldig alle Fragen nach dem Album beantwortete musterte sie ihn.
Auch mit Jeans und Flanellhemd machte er eine nahezu verstörend gute Figur. Das war auch der Kellnerin nicht entgangen, die schon den ganzen Abend immer wieder schmachtend zu ihrem Tisch herüber spähte. Derek hatte kaum die Karte zugeklappt, als die zugegebenermaßen recht ansehnliche junge Frau auch schon neben ihm Stand.
„Darf es noch etwas sein Mister Stern?“, gurrte die Bedienung in einer lächerlich hohen Tonlage.
Natürlich hatte sie den neuen Stern am Musikhimmel bereits erkannt als er auch nur einen Fuß in das Lokal gesetzt hatte. Immerhin zierte sein Gesicht jede zweite Zeitung und seine zahlreichen Tätowierungen verliehen ihm ein nicht sehr unauffälliges Erscheinungsbild.
Er machte eine Geste in Richtung Bettie.
„Was darf es sein, Liebes?“
Verdattert erwachte sie aus ihrem Tagtraum.
„Ähm…danke, ich passe!“, winkte sie ab. Er nickte und orderte ein Stück Schokoladenkuchen ohne der Kellnerin größere Beachtung zu schenken.
Bettie konnte der Versuchung einfach nicht mehr widerstehen. Sie wollte unbedingt mehr über diesen trotz Allem seltsam ausgeglichen und geerdet wirkenden Mann wissen.
„Sie haben sich also mittlerweile an den Rummel um ihre Person gewöhnt“, fragte sie mehr als sie feststellte.
Sein rechter Mundwinkel schnellte in die Höhe und gab eines seiner Grübchen preis. Zu spät erkannte sie, dass es Derek sehr wohl bewusst war, dass sie nun vom professionellen Pfad der Konversation abgewichen war. Er war der verbale böse Wolf und würde sie immer tiefer in den Wald hinein zerren, bis hin zu der kleinen verbotenen Lichtung. Wenn sie es zuließ. Die zwei Gläser Weißwein, die sie zu ihrem hervorragenden Fisch getrunken hatte erschienen ihr nun maßlos, beinahe gefährlich.
„Sie haben ja keine Ahnung!“, wieder fuhr er sich mit der typischen fließenden Bewegung durch den dunkelblonden Haarschopf. „Für Leute, die es nicht wissen, sieht es vermutlich aus als würde mich all dieses Starfieber so kalt lassen, dass ich es einfach ignoriere. Aber ganz unter uns gesagt, Bettie, ist das eher meiner Verblüffung und meinem Unglauben zuschulden. Ich verstehe einfach nicht, warum man um einen alten Hund wie mich so ein Gewese machen sollte.“
Wie üblich wenn sie mit ihm sprach, war sie nicht sicher ob seine Erklärung ironisch gewesen war oder nicht. „Soll das Ihr Ernst sein?“
Er hob bestätigend die Schultern.
„Ihre Stimme ist das Beste was dem Rock N Roll seit Springsteen widerfahren ist und optisch…“, sie brach ab als sie sein Rundumgrinsen bemerkte. Am liebsten hätte sie sich vor die Stirn geschlagen.
Natürlich wusste er, dass er ein begnadeter Musiker war und natürlich wusste er auch, dass er gut aussah. Sie hatte sich so leicht aus der Reserve locken lassen. Wider besseres Wissen griff sie nach dem Stil des noch halbgefüllten dritten Weinglases um ihre Verlegenheit zu überspielen.
Zu Betties Erleichterung wurde in diesem Moment der Nachtisch gebracht. Diesmal von einer etwas älteren, dünnen Bedienung mit aschblondem Haar. Ebenfalls hypnotisch auf Derek fixiert.
Sie stellte sich Bildlich vor wie alle weiblichen Angestellten gerade in der Küche übereinander herfielen im Kampf um das Privileg Tisch Neun bedienen zu dürfen.
Er schluckte den ersten Bissen hinunter und nickte anerkennend. „Mal probieren?“
Bettie liebte Süßes, lehnte jedoch aus Furcht vor einem vermeidlich intimen Moment lieber ab.
Erneut schien er sie zu lesen wie ein offenes Buch, spießte ein Stück dampfenden Kuchens auf die filigrane Gabel, fügte ein Wenig Sahne hinzu und reichte ihr den Stiel. Zwei Lidschläge lang wurde sie von einem warmen Glücksgefühl erfüllt bis ihre Vernunft ihr die übliche Zehn-Sekunden-Visite abstattete und sie nach der Gabel griff.
Sie kaute sorgfältig um etwas Zeit zu gewinnen und sich die nächsten Teile für das Puzzle ihres Gespräches zurecht zu legen.
„Ja, ist ziemlich gut“, kommentierte sie das Dessert. „Aber wenn du einmal bei Annies Großmutter etwas selbstgebackenes gegessen hast, kommt dir alles Andere sehr mittelmäßig vor.“
Sie erstarrte als ihr bewusst wurde, dass sie gerade einen weiteren Fehler begangen hatte.
„Was DU nicht sagst!“, griente er lausbübisch. „Vielleichten sollte wir Sie dann die Hochzeitstorte backen lassen.“
„Ich…Ich kann dir ja ihre Adresse später mailen. „ Hastig leerte sie den Rest ihres Chardonnays.
„Apropos…“, bemerkte er zwischen zwei weiteren Bissen, ohne eine einzige Tischmanier zu verletzen. „…du wirst doch auch dort sein, oder!?“
Sie verschluckte sich beinahe an den letzten Tropfen.
„Was? Wieso sollte ich?“ Er blickte sie an als hätte sie etwas ganz offensichtliches nicht mitbekommen.
„Obwohl wir es nicht publik gemacht haben, das, und vor allem wann und wo Claire heiratet, bin ich fast sicher, dass es doch irgendwie zur Presse durchgesickert ist und wenn ich mich nicht irre hast du mir gestern erklärt genau so etwas wäre dein Job. „
Er war tatsächlich ein alter Hund. Sie musste sich unbedingt vor seinem rasiermesserscharfen Verstand in Acht nehmen. Sie konnte nichtmehr ablehnen, doch würde sie ihm nicht alles gönnen.
Bettie nickte.
„Sie haben Recht! Da das von mir noch einige Terminänderungen verlangt wäre es wohl besser, wenn ich mich dann verabschiede.“
Kurze Enttäuschung flackerte über sein charakteristisches Gesicht, verschwand aber schon im nächsten Augenblick und wich dem üblichen vergnügten Glitzern.
Sie ergriff ihre Tasche um ihren Teil der Rechnung zu bezahlen und nachzusehen ob sie noch genug Bargeld für das Taxi bei sich hatte oder ob sie einen Umweg über die nächste Bank fahren würde. Derek sah wie sie ihr langes knallrotes Portmonee öffnete und war sofort alarmiert. „DAS kommt überhaupt nicht in Frage, Teuerste!“, protestierte er so bestimmt, dass ihr die Lust an jeglichem Widerspruch verging. Sie hatte das übliche höfliche „Oh nein, ich bestehe darauf!“, „Aber das kann ich doch nicht annehmen!“ und „Aber das nächste Mal geht auf mich!“, ohnehin nie gemocht. Sie war eine Frau und liebte die alte Schule. In ihrer romantischen Vorstellung gehörte es einfach zur unabdingbaren Etikette, dass der Mann die Rechnung übernahm. „Und das mit dem Taxi, vergisst du besser auch ganz schnell! Ich habe dich abgeholt und ich bringe dich auch wohlbehalten zurück.“ Den ganzen Abend hatte er sich tadellos verhalten und ihre Erwartungen an einen Mann nahezu in jeder Hinsicht übertroffen. Wie sollte das je ein gutes Ende nehmen?
Selbst an seinem Fahrstil war nichts auszusetzen. Zügig, sicher und entspannt navigierte er den Volvo XC60 durch die nächtlichen Straßen bis sie nach einer guten Viertelstunde vor ihrem Appartement hielten. Derek stieg aus, öffnete ihr die Tür und bot seine Hand dar um ihr aus dem Wagen zu helfen. Ungebeten schlich sich der leise Gedanke in ihren Kopf, wie zweifellos spannend es sein würde auf der Hochzeit seine Familie, den Ursprung dieses Erstaunlichen Anstands, kennen zu lernen.
„Nun, ich hoffe der Abend hat nicht nur mir Freude bereitet.“, tastete er sich vor.
Sie seufzte. „Nein.“ Er sah sie erwartungsvoll an. „…Nein was?“
„Nein, es war…es war ein schöner Abend Derek. Vielen Dank!“
Bettie wunderte sich, dass sein Strahlen nicht einen Schwarm Motten dazu veranlasste in sein Gesicht zu fliegen.
„Dann…gute Nacht!“
Anscheinend hatten die Nachtfalter es vorgezogen von ihrem Bauch besitz zu ergreifen, denn als sie sich reckte um ihm einen Kuss auf die Wange zu geben kribbelte es in ihrer Abdominalgegend als hätte sie eine ganze lepidopterologische Zuchtstation leer gefuttert.
Sein kratzig gemurmeltes „Gute Nacht!“ war das Letzte was sie hörte, bevor sie die Haustür hinter sich schloss und sich, genau wie damals nach ihrem ersten Treffen, das Lächeln, das sich auf ihre Züge legte, nicht verkneifen konnte.
Tag der Veröffentlichung: 03.07.2010
Alle Rechte vorbehalten