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Caramel Latte Macchiato

Ich mag keinen Kaffee – und doch betrete ich an diesem Morgen zum vierundzwanzigsten Mal infolge das kleine Café an der Ecke. Beim ersten Mal war ich mit einer Freundin hier. Es war August, glühende Hitze, wir haben Eistee getrunken und den nicht enden wollenden Sommer genossen. Beim zweiten Mal war ich alleine. Der Sommer vorbei, es hat geregnet und ich habe einen Caramel Latte Macchiato bestellt, weil es für Eistee zu kalt war.

Ich bin ein drittes Mal zurückgekommen, eigentlich nur wegen ihm. Er trug die ersten beiden Male kein Namensschild und ich wollte unbedingt wissen, wie er heisst. Fabian. Beim dritten Mal hat er endlich eines getragen. Die sechs Buchstaben haben mein Gehirn kurzzeitig lahmgelegt und ich habe schon wieder einen Caramel Latte Macchiato bestellt. Der mir immer noch nicht geschmeckt hat. Aber das ist mir nicht einmal aufgefallen, weil ich die ganze Zeit über von meinem Ecktisch aus zur Theke gestarrt und mir überlegt habe, wie gut Fabian zu dem dunkelblonden Kerl dort passt.

Danach habe ich mir einzureden versucht, dass meine Neugier jetzt gestillt ist. Dass es keinen Grund mehr für mich gibt, wieder ins Café zu gehen. Schon gar nicht Fabian. Fabian, der ein Mann ist. Wie ich. Wieso sollte ich ihn wiedersehen wollen? Aber zu Hause habe ich mich am nächsten Tag so schlecht auf meinen Essay konzentrieren können, dass ich am späten Vormittag beschlossen habe, doch ins Café zu gehen. Dort arbeite ich besser.

Fabian stand an der Kasse, er hat gelächelt, als ich hereingekommen bin, und gefragt «Wie immer?». Ich war überrumpelt – erinnerte er sich etwa an mich? – und sagte Ja. Und von da an kam ich jeden Tag ins Café, auch nachdem ich meinen Essay bereits abgegeben hatte, und trank Caramel Latte Macchiato, jedenfalls an den Tagen, an denen Fabian da war. An den anderen trank ich Tee und dachte an Fabians blaue Augen, die so dunkel und hypnotisierend sind wie das Meer. Noch nie zuvor in meinem Leben habe ich so schöne Augen gesehen.

Den ganzen September über bin ich jeden Morgen in das kleine Café gegangen, auch wenn ich mir jeden Abend vorgenommen habe, es nie wieder zu tun. So auch heute.

«Wie immer?», fragt Fabian lächelnd. Wenn ich mutig wäre, hätte ich irgendwann ein Gespräch mit ihm begonnen. Aber selbst dann, wenn ich mir zu Hause eine Frage ausgedacht hatte, die ich ihm stellen könnte, kam sie mir hier am Tresen auf einmal schrecklich trivial und unpassend vor.

«Ja. Aber diesmal zum Mitnehmen», bringe ich etwas ungelenk heraus.

Heute werde ich mir keinen freien Tisch suchen und Fabian bei der Arbeit zusehen können, denn heute ist der erste Tag des neuen Semesters und mein Geschichtsstudium geht weiter. Das bedeutet, dass ich mich jeden Morgen um zehn Uhr in einen Hörsaal quälen und ewig lange Referate über Wappen, das alte Rom, Kreuzzüge und Revolutionen über mich ergehen lassen muss.

«Dann brauche ich deinen Namen.»

«Was?», frage ich, auch wenn ich seine Worte genau gehört habe. Mein Gehirn ist nur viel zu langsam darin, ihren Sinn zu begreifen.

«Deinen Namen», wiederholt Fabian. Sein Lächeln wird breiter. «Für deine Bestellung.» Er wedelt mit dem Becher in seiner rechten und dem schwarzen Marker in seiner linken Hand.

Ich spüre, dass ich rot werde. «Klar, sorry. Ähm, Elias. Ich heisse Elias.»

«Elias», wiederholt Fabian, dann schreibt er meinen Namen auf den Becher.

Ich bezahle und stecke wie immer das Rückgeld in das gelbe Sparschwein auf dem Tresen. Fabian lächelt, auch wie immer, und bedankt sich. Dann warte ich auf meinen Caramel Latte Macchiato. Ich bemühe mich ehrlich, nicht hinzusehen, aber mein Blick schweift wie von selbst zu Fabian, der schon die nächsten Kunden bedient. Zwei Mal ertappe ich ihn dabei, wie er zu mir schaut. Und beim zweiten Mal zwinkert er mir sogar zu. Zuzwinkern? Nein, das kann nicht sein. Meine Augen müssen mir einen Streich gespielt haben. Ich will auch gar nicht, dass ein anderer Mann mir zuzwinkert.

«Elias?»

Als ich meinen Namen höre, zucke ich zusammen. Die junge Blondine zeigt auf einen Take-away-Becher mit meinem Caramel Latte Macchiato. Ich nehme ihn und schaue beim Herausgehen nochmal zu Fabian, der allerdings zu beschäftigt ist, um mich zu bemerken.

 

An der Uni stelle ich den Becher vor mir auf den Tisch und drehe ihn so, dass ich meinen Namen darauf lesen kann. Fabian hat ihn flüchtig geschrieben, dafür hat er sich die Mühe gemacht, eine kleine Sonne dahinter zu zeichnen. Die schwarzen Buchstaben lenken mich ab, als die Professorin über die Bedeutung von Ehe und Familie zu Zeiten der Industrialisierung zu erzählen beginnt. Also drehe ich den Becher so, dass ich meinen Namen darauf nicht mehr sehen kann.

Aber jetzt ist es die schwache Note nach Caramel, die mich ablenkt. Bis zu diesem Sommer habe ich Caramel nicht einmal besonders gemocht, nun erinnert es mich an verregnete Vormittage mit meinem nicht-enden-wollenden Essay. Und an Fabian. Verdammt, nein. Nicht Fabian.

Ich nehme einen Schluck vom längst kalt gewordenen Kaffee, aber heute schmeckt er mir irgendwie nicht. Ich rede mir ein, dass es am Becher liegt, und werfe ihn am Ende der Vorlesung in den Müll.

 

Ich habe keine Zeit für ein Mittagessen, weil auch schon das nächste Seminar auf dem Programm steht. Im Seminarraum bin ich der erste, ich packe meinen Laptop aus, einen Apfel, um wenigstens etwas Kleines zu essen, meine Wasserflasche.

«Ist hier noch frei?», fragt jemand direkt neben mir. Ich ärgere mich, dass sich die Person ausgerechnet neben mich setzen will, wenn das ganze Zimmer leer ist. Aber als ich aufsehe, verfliegt dieser Ärger genauso schnell wieder – und mein Herz setzt einen Schlag lang aus. Denn vor mir steht kein anderer als Fabian.

«Bitte», sage ich und weise auf den Stuhl. Er nimmt Platz, ein versonnenes Lächeln auf den Lippen. Er weiss genau, was er tut.

«Elias, nicht wahr? Oder hast du mir einen Fake-Namen angegeben?»

«Was? Nein», entgegne ich eilig und ernte dafür ein lautes Lachen von Fabian.

«Hätte ich auch nicht erwartet. Ich bin übrigens Fabian.»

«Ich weiss», antworte ich zu schnell und fühle sofort, wie mir das Blut in die Wangen schiesst. Na toll, jetzt hält er mich noch für einen Stalker. «Dein Namensschild», schiebe ich nach, ohne die Situation dadurch besser zu machen.

Aber Fabian geht nicht darauf ein.

«Das war mein Sommerjob im Café. Ab jetzt werde ich vielleicht an einem Samstag oder Sonntag mal aushelfen. Weisst du, ich bin erst vor wenigen Monaten hierhergezogen und konnte das Geld echt gut für ein paar Möbel in meiner neuen Wohnung gebrauchen.»

Mein Gehirn ist wie lahmgelegt. Von all den Informationen, aber am meisten von Fabian, der auf einmal so real vor mir sitzt, keine grüne Schürze umgebunden, kein Namensschild, keinen gehetzten Blick auf die Schlange, die sich hinter mir bildet.

«Und du studierst Geschichte?», versuche ich etwas hilflos, das Gespräch am Leben zu halten.

«Ja. Ich habe an die Uni hier gewechselt, an der alten bin ich nicht wirklich klargekommen. Dort war das Studium irgendwie ätzend. Und du? Was hast du den ganzen Sommer über im Café gemacht?»

«Essay geschrieben. Ich musste sehr viel schreiben.»

Fabian lacht erneut leise auf. Sein Lachen ist hübsch. Hübsch? Männer lachen nicht hübsch. Mädchen lachen hübsch. Wenn mir an Mädchen etwas gefällt, dann mag ich sie. Wenn mir an Jungen etwas gefällt, dann bin ich eifersüchtig auf ihn. Das habe ich schon in der sechsten Klasse gelernt, im Sommerlager, in das mich meine Eltern immer geschickt haben. Und als ich meinem besten Freund abends erzählt habe, dass unser Gruppenleiter schöne Augen hat, hat er entgegnet: «Du bist bloss eifersüchtig, weil deine braun und langweilig sind.» Ich habe mich schrecklich missverstanden gefühlt.

Um uns herum füllen sich die leeren Sitzreihen und dann betritt auch schon ein alter, bärtiger Professor das Zimmer und beginnt den Unterricht. Er erzählt eine Menge organisatorischer Informationen, über Präsentationen und Abschlussarbeiten, Hausaufgaben, Leistungsnachweise und Abschlussnoten.

Ich schweife viel zu schnell ab und natürlich wieder zu Fabian. Manchmal werfe ich ihm einen Seitenblick zu, um mich zu versichern, dass er auch tatsächlich echt ist. Dass ich ihn mir nicht bloss eingebildet habe und er sich mitten in der Stunde in Luft auflöst. Aber er bleibt da, so nahe, dass ich seinen Minzekaugummi riechen kann, die Wärme seines Oberarms neben meinem, ich erkenne sogar die Sommersprossen auf seiner Nase. Und ich werde immer unruhiger. Aber nicht auf eine gute Art.

Fabian ist für mich eine verbotene Sache, das ist mir klar, und so lange ich ihm nur jeden Morgen beim Bestellen meines Kaffees kurz begegnet bin, ging das ganz gut. Ich habe ihn aus der Ferne angesehen, habe mich über sein Lächeln gefreut. Es ist ja auch erlaubt, sich während der Diät Kuchenbilder anzusehen, oder? Man darf den Kuchen nur nicht essen. Und Fabian habe ich jeden Tag beim Verlassen des Cafés wieder aus meinen Gedanken verbannt. Aber jetzt? Er ist so real, so nahe, ich bräuchte meine Hand nur wenige Zentimeter auszustrecken, um die gebräunte Haut seiner Arme zu berühren oder meine Finger in seinen schlanken zu verhaken. Wie soll ich so jemals widerstehen können?

Ein Stoss gegen meinen Oberarm holt mich unsanft in die Realität zurück. Fabian, der mich gestossen hat, nickt unauffällig zum bärtigen Professor. Er sieht mich aufmerksam an, ebenso wie alle anderen Studentinnen und Studenten im Raum.

«Herr Wilhelm, Sie wurden noch keinem Referat zugeteilt, richtig?», fragt der Professor und seinem Tonfall zufolge bestimmt nicht zum ersten Mal.

«Nein, ich denke nicht», antworte ich leise.

«Na gut, dann müssen Sie sich wohl jemandem anschliessen, die Themen sind alle schon vergeben. Welches Referat sagt Ihnen denn am meisten zu?»

Ich schlucke und werfe einen Blick auf den Bildschirm meines Laptops, aber ich habe noch nicht einmal den Kursordner geöffnet. Und von den Themen, die der Professor scheinbar gerade vorgestellt hat, habe ich kein einziges mitbekommen.

«Er schliesst sich bei mir an», höre ich Fabian neben mir sagen. Er lenkt damit die Aufmerksamkeit von Professor und Studierenden auf sich und wiederholt Datum und Thema seines Referats, damit der Professor mich als Vortragenden notieren kann.

«Danke», flüstere ich ihm leise zu, als der Professor seinen Monolog wieder aufnimmt.

 

«Wow, du hast ja mal richtig gepennt eben», lacht Fabian, als die Stunde vorbei ist und wir als letzte im Zimmer unsere Sachen zusammenpacken. Natürlich habe ich auch von der restlichen Stunde kaum mehr etwas mitbekommen, diesmal aber mehr aus Scham. In meinem Kopf hat sich die Szene zwischen mir und dem Professor auf Dauerschleife abgespielt und ich habe mir gewünscht, der Boden würde sich einfach unter meinen Füssen öffnen.

«Ja, ich, ähm, ich war müde. Ich hatte heute Morgen schon eine Vorlesung.»

Fabian, der gerade zu einem Schluck Wasser aus seiner Trinkflasche angesetzt hat, hält mitten in der Bewegung inne. «Die Geschichte der Sowjetunion?»

Ich bin etwas baff. «Genau die. Wie kommst du darauf?»

Ein erleichtertes Lächeln breitet sich über sein Gesicht. Hübsch. Nein, nicht hübsch.

«Du bist meine Rettung! Ich bin eigentlich auch in dieser Vorlesung, habe aber wegen meiner Schicht im Café die Stunde heute verpasst. Wärst du ein Schatz und würdest mir deine Notizen schicken?»

Das Wort Schatz lässt mich kurz erstarren, aber ich fange mich rasch und lasse mir von Fabian seine E-Mailadresse aufschreiben, denn selbstverständlich helfe ich ihm aus.

«Danke. Darf ich dir als Gegenleistung einen Kaffee ausgeben? Oder hast du jetzt noch eine Stunde?»

«Ähm, nein, ich bin fertig für heute», beantworte ich zuerst die einfachere der beiden Fragen, denn ich weiss nicht, ob ich mit Fabian Kaffee trinken will. Aber er nimmt mein Ausweichen als Zustimmung und nötigt mich, ihn in die Mensa zu begleiten.

Ich trinke Tee, nach dem Caramel Latte Macchiato schaffe ich keine zweite Tasse Kaffee heute, auch wenn ich schon von der ersten nicht viel getrunken habe.

«Tee?» Fabian sieht mich überrascht an.

«Ich mag Kaffee eigentlich gar nicht so gerne», sage ich, schon wieder zu schnell. Die Worte sind herausgerutscht, ehe mein Gehirn zu denken begonnen hat. Die Falte zwischen Fabians Augenbrauen wird tiefer.

«Du magst keinen Kaffee?», wiederholt er ungläubig. «Und warum hast du die letzten vier Wochen über jeden Morgen einen bestellt?»

Wir setzen uns an einen freien Tisch, um diese Uhrzeit ist nicht besonders viel los.

«Nun ja, du hast mich immer so lieb gefragt, ob ich wieder dasselbe will, und ich habe es nicht übers Herz gebracht, abzulehnen.»

Ich grinse entschuldigend und Fabian lacht schon wieder. Er lacht viel und ich mag es, besonders, wenn ich derjenige bin, der ihn zum Lachen bringt.

«Du bist echt ein merkwürdiger Kerl, Elias.» Er schüttelt den Kopf und streicht sich eine dunkelblonde Strähne aus der Stirn. Sein Ausdruck wird ernster, er sieht mich direkt an. Sein dunkelblauer Blick bohrt sich in mich, ich hätte zu gerne weggesehen, aber ich bin wie hypnotisiert von seinen Augen. «Wir sollten uns häufiger treffen.»

«Klar», antworte ich leise. Ich räuspere mich, sage aber nichts weiter. Mein Herz schlägt schneller, unsere Fingerspitzen liegen so nahe beieinander. Es ist das, wovon ich den ganzen Sommer heimlich geträumt und wofür ich mich gehasst habe. Ich weiss, dass ich nicht so fühlen darf, ich fürchte mich davor. Die Angst schnürt mir die Kehle zu, sodass ich kaum noch Luft bekomme zum Atmen. Fabian ist so nahe, aber ich bin wie ein Reh im Scheinwerferlicht, unfähig, mich zu bewegen.

«Gibst du mir vielleicht deine Nummer?»

Wenn es sich bloss falsch anfühlen würde. Mein Verstand, mein Kopf, weiss, dass es falsch ist. Aber meinem Herzen kann der Verstand nichts sagen und mein Herz schreit gerade ein lautes «Ja». Es ist eine Prüfung, wiederhole ich in Gedanken. Eine Versuchung, der ich widerstehen muss. Selbstbeherrschung ist das, was einen guten Menschen ausmacht. Die Kontrolle über sich, das Siegen des Verstandes über das Herz.

Fabian streckt mir sein Smartphone entgegen, Elias Wilhelm hat er bereits eingetippt.

Ich falle durch die Prüfung, ich erliege der Versuchung. Ich gebe Fabian meine Nummer.

Nachricht senden?

 

Bis ich von der Uni nach Hause gefahren bin, habe ich mir halbwegs erfolgreich eingeredet, dass Fabian gar nichts von mir will. Er ist nett zu mir, er schätzt mich als Mitstudenten, vielleicht will er ja eine Lerngruppe gründen. Ich habe auch schon anderen Studenten meine Nummer gegeben. Um Vorlesungsnotizen auszutauschen zum Beispiel oder an einem gemeinsamen Referat zu arbeiten.

Ich glaube beinahe daran, beinahe, doch meine unschuldigen Ideen werden zunichtegemacht, als um kurz nach halb fünf mein Smartphone vibriert und eine neue Nachricht von Fabian anzeigt. Hey Elias! Fand den Nachmittag mit dir echt gemütlich. Hast du Lust, am Freitag mit mir essen zu gehen? Essen gehen hört sich kaum nach Referatsbesprechung an. Und das heisst, dass ich ablehnen muss. Jetzt ist es noch einfach. Jetzt kenne ich ihn nicht, ich empfinde nichts für ihn, jedenfalls nichts Wirkliches.

Ich tippe eine höfliche Entschuldigung, eine Ausrede, dass ich am Freitag nicht kann, dass ich ihn gerne am Montag an der Uni wiedersehe. Ihn komplett aus meinem Leben zu verbannen wird mir nicht gelingen. Mein Zeigefinger schwebt über der Senden-Taste, aber ich drücke nicht darauf. Stattdessen schalte ich mein Smartphone aus und lege es weg.

Nach dem Abendessen habe ich die Nachricht immer noch nicht abgeschickt, dafür quäle ich mich durch lange, langweilige Texte für die nächsten Vorlesungen. Ich kann mich kaum konzentrieren und muss jeden Absatz mindestens drei Mal lesen, bis ich es überhaupt schaffe, die wichtigsten Sätze davon mit gelbem Leuchtmarker anzustreichen. Eigentlich würde jetzt eine neue Episode meiner Lieblingsserie laufen. Aber ich glaube kaum, dass ich verdient habe, sie mir anzusehen.

Gegen zehn schaut meine Mutter bei mir ins Zimmer. Sie trägt bereits ihren Schlafanzug.

«Was machst du da?»

«Ich lerne. Für die Uni.»

«Die hat doch heute erst begonnen.»

«Ich will keinen Rückstand haben.»

Sie tritt neben mich an den Schreibtisch, wirft einen kurzen Blick auf die Texte, aber ich weiss, dass sie ohne ihre Brille nichts davon lesen kann. Dann streicht sie mir durch die Haare. Das hat sie schon gemacht, als ich noch ein kleiner Junge war.

«Arbeite nicht mehr zu lange, ja? Gute Nacht, Elias.»

Sie lässt mich alleine, nur ein schwacher Geruch nach ihrer Gesichtscreme liegt noch in der Luft. Ich versuche, mich wieder auf die Texte zu konzentrieren, aber ich kann nicht mehr. Mein Smartphone liegt als süsse Versuchung vor mir, Fabians Nachricht, ich bräuchte nur Ja zu schreiben. Oder Nein.

Bevor ich danach greifen kann, stehe ich auf und gehe zum Bücherregal. Die Bibel steht ganz links, ich habe sie zu meinem zehnten Geburtstag bekommen. Es ist ein schönes Buch, einen richtigen Ledereinband, Goldverschnitt an den Seiten. Ich war damals sehr stolz darauf, habe jeden Abend darin gelesen, bis ich die Worte beinahe auswendig mitsprechen konnte.

Für mich ist der Religionsunterricht nie eine Qual gewesen. Ich habe die Geschichten geliebt, die tiefgründiger und nachdenklicher waren als die lächerlichen Jugendbücher meiner Mitschüler. Zwei Mal pro Woche war ich in der Jugendgruppe und jeden Sommer eine Woche lang in einem Camp, wo wir die Figuren aus der Bibel diskutiert haben, ihre Schicksale, wie sie durch ihren Glauben an Gott nie vom richtigen Weg abgekommen sind.

Ich war froh, einen moralischen Kompass zu haben. Wenn ich in einer schwierigen Situation war, dann habe ich einfach an die Geschichten aus der Bibel gedacht und mich gefragt, was Abraham oder Hiob jetzt tun würden. Und auf einmal habe ich erkannt, was richtig ist und was feige. Ich habe keine Ahnung, wie andere Menschen in ihrem Leben ohne Bibel klarkommen, wie sie wissen, was sie tun sollen, was richtig und was falsch ist.

Nur wünsche ich mir manchmal, die Bibel würde ein anderes Urteil fällen. Nicht immer, ganz sicher nicht, und ich zweifle auch nicht daran, dass Bibel recht hat. Aber manchmal wünschte ich, sie wäre im Unrecht.

Ich weiss genau, wo ich das Buch aufschlagen muss, ich habe mir die Stelle schon zu oft durchgelesen.

Du sollst nicht bei einem Mann liegen wie bei einer Frau; es ist ein Gräuel.

Es ist ein Gräuel. Die Worte sind in mein Gehirn gebrannt, sooft habe ich sie wiederholt, so verzweifelt versucht, daran glauben zu können. Es ist ein Gräuel. Warum fühlt es sich dann nicht so an? Warum schlägt mein Herz schneller, wenn ich an Fabian denke, warum empfinde ich dabei dieses warme, wundervolle Gefühl in der Brust? Und warum habe ich vierundzwanzig Caramel Latte Macchiato getrunken, die ich nicht einmal mag, nur, um mir seine Augen ansehen zu können?

Wir Männer sind nicht gemacht worden, um andere Männer zu lieben. Das war nicht Gottes Absicht, das sehe ich ein, ansonsten würde es nicht einen Mann und eine Frau benötigen, um ein Kind zu bekommen. Aber dann hätte er Fabian nicht so wunderschön machen dürfen. Seine Augen nicht so blau, sein Lachen nicht so hell. Wie soll ich einem Mann wie Fabian begegnen und nichts für ihn empfinden? Wie kann das Flattern in meinem Bauch ein Gräuel sein?

Ich weiss, dass viele Männer diese Gedanken haben. Auch christliche Männer wie ich. Ich habe in Internet-Foren darüber gelesen, weil ich mich nicht getrau habe, mit meinen Freunden darüber zu reden. Und ich habe gelernt, dass die Gedanken nicht schlimm sind, so lange ich ihnen widerstehe. Ich muss mich nur beherrschen, darf mich nicht von Fabian verführen lassen. So verführerisch er auch sein mag mit seinen blauen Augen und den vollen Lippen, die ich zu gerne-

Ich schlage das Buch zu. Viel zu laut. Das plötzliche Geräusch lässt mich zusammenfahren und reisst mich aus meinen Gedanken. Ängstlich werfe ich einen Blick über meine Schulter, aber meine Zimmertür ist fest verschlossen. Niemand hat mich gesehen. Niemand darf mich jemals so sehen. Es ist eine Prüfung und ich muss mich endlich zusammenreissen und stark sein, um sie zu bestehen.

 

Am Dienstagabend treffen wir uns in der Jugendgruppe. Eigentlich sind die meisten schon seit ein paar Jahren keine Jugendlichen mehr, aber im Laufe der Zeit sind wir so etwas wie Freunde geworden und haben beschlossen, uns weiterhin zu treffen, über unsere Probleme oder unseren Alltag zu reden, uns gegenseitig zu unterstützen.

Heute sind wir nur fünf. Es ist schwieriger geworden, sich zu treffen, seit wir alle unsere eigenen Leben führen.

Wir sind bei Hanna zu Hause, sie ist nebst meiner Schwester Sara das einzige Mädchen in der Gruppe, trinken Kakao und unterhalten uns über die neusten Serien. Das heisst, ich höre vor allem zu und lasse die anderen reden. Die ganze Sache mit Fabian hat mich verstimmt. Ich schaffe es einfach nicht, ihm die Absage zu schicken. Seit Montagabend zermartere ich mir den Kopf mit denselben Gedanken, ohne zu einem neuen Ergebnis zu gelangen.

«Elias, wie läuft die Uni?», fragt Hanna und schiebt mir den Teller mit Keksen zu. Hanna und ich kennen uns schon seit dem Kindergarten und sind lange zusammen aufs Gymnasium gegangen. Bis sie auf die Realschule gewechselt und eine Ausbildung als Floristin gemacht hat. Trotzdem ist der Kontakt zwischen uns nie abgebrochen. Sie war es auch, mit der ich im Sommer in Fabians Café zum ersten Mal Eistee getrunken habe.

Ich zwinge mich, zu lächeln und ihr von den Kursen zu erzählen, die ich bisher besucht habe. Sie wickelt beim Zuhören eine ihrer blonden Zapfenlocken um den Zeigefinger und legt den Kopf ein wenig schräg, als würde sie sich konzentrieren. Dabei weiss ich genau, wie sehr sie meine Ausführungen in Wahrheit langweilen. Hanna versteht nicht, weshalb ich immer weiterstudieren und noch mehr Neues lernen will, weshalb ich nicht einfach wie sie eine Ausbildung gemacht habe. Dabei weiss ich nicht einmal, welchen Beruf ich später ausüben möchte.

Ich rede zu lange, weil mir keine Gegenfrage einfällt, und als ich endlich schweige, wendet sich Hanna wieder den anderen zu. Lukas und Daniel erzählen vom Campingausflug, den sie im Sommer zusammen mit ihren Freundinnen unternommen haben. Daniel ist mittlerweile sogar schon verlobt.

Meine Schwester Sara, der mein Schweigen als einzige aufzufallen scheint, wirft mir zwischendurch einen besorgten Blick zu, sie ist aber so lieb, mich nicht darauf anzusprechen. Jedenfalls bis wir auf dem Heimweg sind.

«Du warst still heute», sagt sie und hakt sich bei mir unter.

«Ich war in Gedanken.»

«Gedanken worüber?»

Ich hätte es ihr gerne gesagt, wirklich gerne. Aber was wird sie dann von mir halten? So sehr Sara mich auch liebt, ich glaube nicht, dass sie es verstehen würde. Schliesslich ist es so einfach. Ich muss Fabian nur Nein schreiben.

«Sachen an der Uni. Das wird ein anstrengendes Semester, viele Referate und schwierige Prüfungen. Ich weiss nicht, ob ich das alles schaffe.»

Liebevoll drückt sie meinen Arm, der immer noch in ihren verhakt ist, und sagt: «Du schaffst das Elias. Du bist so klug. Du kannst alles schaffen, wenn du es nur willst.»

Wenn ich es nur will. Und ich will.

Abends im Bett schwebt mein Finger erneut über den Senden-Taste. Drei Sekunden, zehn, dreissig. So lange, bis sich der Bildschirm ausschaltet.

«Morgen früh», verspreche ich mir selbst leise, dann lösche ich das Licht.

 

Am Mittwochmorgen verschiebe ich es allerdings auf den Mittag, die Nachricht abzuschicken. Und dass das ein Fehler war, wird mir klar, als ich kurz darauf den Seminarraum betrete und mich ein Paar wohlbekannte dunkelblaue Augen anschauen. Fabian.

«Hey Elias», begrüsst er mich und nimmt den Rucksack vom Stuhl neben sich, damit ich mich dort hinsetzen kann. «Alles klar bei dir?» Er bemüht sich sichtlich um ein lockeres, natürliches Lächeln, aber die Anspannung steht ihm förmlich ins Gesicht geschrieben.

«Ja, alles gut. Ein bisschen müde vielleicht», entgegne ich höflich, aber kühl. Ich packe meinen Notizblock aus, meine Stifte und die Wasserflasche. Fabian sitzt so nahe neben mir, dass ich mir einbilde, die Wärme zu spüren, die von ihm ausgeht. «Und bei dir?»

Seine Lippen lächeln weiterhin, zugegebenermassen ein wenig verkrampft, aber seine Augen sind matt geworden. Er streicht sich eine dunkelblonde Haarsträhne aus der Stirn.

«Bei mir ist alles okay.»

Ich öffne meinen Mund, um etwas zu sagen, aber da fällt mir auf, dass ich gar nichts zu sagen weiss. Also klappe ich ihn wieder zu. Ich bemühe mich, konzentriert auszusehen, als ich Datum und Titel der Vorlesung auf meinen Notizblock schreibe. Dann stehe ich auf, um meine Flasche aufzufüllen. Als ich zurückkomme, ist der Raum fast voll und auch die Professorin steht schon vorne, um die Vorlesung zu beginnen.

Ich setze mich hin, aber Fabian sieht kaum auf. Es ist, als würden wir uns nicht kennen, als wären wir zwei Fremde, die nur zufällig nebeneinander sitzen. Ich hasse dieses Gefühl. Besonders, weil wir in unserem Gespräch am Montag so vertraut miteinander waren. Wie zwei alte Freunde.

Die nächsten zwei Stunden verbringe ich damit, mir Worte zurechtzulegen, noch sorgfältiger als in der Nachricht, die ich ihm schicken wollte. Worte, die ihn nicht verletzen, ihm aber klarmachen, dass ich ihn nicht treffen will. Nicht treffen kann. Nicht treffen darf.

Die Vorlesung vergeht ausnahmsweise wie im Flug, vielleicht deshalb, weil mir lieber wäre, sie würde nie enden. Kaum dass die Professorin uns in den Mittag entlassen hat, haben die anderen Studierenden auch schon ihre Sachen eingepackt und den Raum verlassen. Die Schlange in der Kantine kann mittags echt lang werden, da zählt jede Minute. Aber ich bin nicht hungrig. Und ich habe noch etwas zu klären.

«Fabian, hör zu, wegen Freitag», beginne ich, nachdem ich mich versichert habe, dass wir alleine sind. Ich bin die Worte in meinem Kopf wieder und wieder durchgegangen, sodass ich sie jetzt wie ein auswendig gelerntes Gedicht aufsagen kann, ohne genauer über ihre Bedeutung nachdenken zu müssen.

Womit ich allerdings nicht gerechnet habe, ist, dass Fabian mich unterbricht:

«Es ist okay, wenn du keine Lust hast, mit mir essen zu gehen, Elias. Du hättest mir auch einfach eine Absage schicken können. Ich komme damit klar, schliesslich bin ich alt genug. Ich habe bloss gedacht, dass du dich vielleicht genauso gerne mit mir treffen würdest, wie ich mich mit dir. Aber das ist okay. Dann sehen wir uns am Montag, ja?»

Er lächelt schief, eigentlich sieht es mehr wie eine Grimasse aus als wie ein Lächeln, ehe er den Rucksack über seine Schulter schwingt und gehen will.

«Warte», rufe ich. Mein Mund war schneller als meine Gedanken. Ich weiss nicht, was ich sagen soll, ich weiss nicht, was ich will. Nur nicht, dass er geht. Dass er mich so stehen lässt.

Fabian hält mitten in der Bewegung inne, dreht sich um. Sein dunkelblauer Blick findet meinen.

«Ich würde gerne mit dir essen gehen.»

Nun lächelt er wirklich, schüttelt den schräggelegten Kopf sanft und erklärt: «Ich will dich wirklich nicht zu etwas drängen, was du nicht auch willst, Elias. Oder dass du nur aus Mitleid zusagst.»

Mit zwei grossen Schritten schliesse ich die Distanz zwischen uns. Fabian ist so nahe, dass ich seinen Kaugummiatem riechen kann. Schon wieder Pfefferminze.

«Ich möchte wirklich gerne mit dir essen gehen. Versprochen! Ich habe nur vergessen, dir zu antworten. Es tut mir leid.»

Ich habe keine Ahnung, was ich da gerade tue. Er liefert mir die perfekte Ausrede, ich kann ihn abservieren, ohne auch nur ein einziges Wort sagen zu müssen, ohne ihn mehr zu verletzen, als er ohnehin schon ist. Und dann sage ich zu. Mein Herz, das ich so lange zu zähmen, mit meinem Verstand zu bezwingen versucht habe, hat gesiegt. Durch ein paar unbedachte Worte.

Fabian legt seine Stirn in Falten. Ich weiss, dass ich nicht glaubwürdig klinge. Ich hätte nie vergessen, ihm zuzusagen.

«Sicher?», fragt er. «Du musst wirklich nicht-»

 «Sicher», unterbreche ich ihn.

Diesmal erreicht das Lächeln auch seine Augen. Und dann greift er nach meiner Hand. Einfach so, die natürlichste Sache der Welt, zwei Männer, die sich an den Händen halten. Er drückt sie sanft, seine Finger sind eiskalt und von einem dünnen Schweissfilm überzogen. Die Berührung durchfährt mich wie ein Blitz.

«Kennst du den kleinen Italiener, hier gleich um die Ecke? Sagen wir um sieben?»

Ich kann bloss nicken. Er drückt meine Hand ein letztes Mal, dann lässt er los und geht. Ich schlucke. Fabian und ich haben ein Date.

Ein Tisch für zwei

Meine Familie ahnt sofort, dass etwas los ist, als ich ihnen sage, dass ich am Freitag essen gehe. Ich erzähle ihnen zwar im selben Atemzug, dass es nur ein paar männliche Freunde aus der Uni sind, aber sie glauben mir nicht. Dabei ist es kaum gelogen. Nur, dass Fabian und ich alleine sein werden enthalte ich ihnen vor. Und dass das Treffen über reine Freundschaft hinausgeht.

Vielleicht liegt ihr Misstrauen aber auch daran, dass ich mich am Freitagnachmittag sorgfältiger zurechtmache als sonst. Ich rasiere mich, verbringe eine Ewigkeit damit, meine dunklen Locken mit Haargel zu bändigen, wechsle mehrere Male zwischen drei Hemden hin und her, bis ich mich dann doch für ein schwarzes T-Shirt entscheide, weil mir die Hemden irgendwie zu förmlich erscheinen. Danach habe ich mir aber so viele Klamotten über den Kopf gezogen, dass die Haare wieder nicht sitzen und ich erneut zum Gel greifen muss.

Meine Schwester, die sich irgendwann auf mein Bett geschwungen und mich amüsiert beobachtet hat, fragt: «Wie heisst denn die Glückliche?»

«Es gibt keine Glückliche», antworte ich abwesend und mühe mich an einer Strähne ab, die mir immer wieder in die Stirn fällt.

«Für einen Abend mit ein paar Freunden würdest du dich nicht so zurechtmachen.»

«Vielleicht hoffe ich ja darauf, dort die Richtige zu treffen.»

Meine Schwester schweigt eine Weile. Ich spraye zum vierten Mal Deo unter meine Arme und fühle trotzdem, wie die Schweissflecken immer grösser werden. Das schwarze T-Shirt war definitiv die richtige Entscheidung.

«Kenne ich sie?»

«Wen?»

Ich lege meine Stirn in Falten und schaue zu Sara, die ich auf dem Bett fast vergessen habe.

«Dein Date. Kenne ich sie?»

«Es ist kein Date. Und ich treffe kein Mädchen.»

«Du benutzt sonst aber nie Parfüm.»

Ich ignoriere sie, suche stattdessen nach meinem Smartphone, das ich vor lauter Nervosität irgendwo verlegt habe. Sara verleidet es bald wieder, mir zuzuschauen, und sie verzieht sich auf ihr eigenes Zimmer. Ich kann nur hoffen, dass sie mir die Geschichte mit meinen Freunden mittlerweile abkauft.

Nach einigen Minuten finde ich mein Smartphone schliesslich zwischen den beiden zerknüllten Hemden auf meinem Bürostuhl. Ich prüfe meine Nachrichten und mein Herzschlag beschleunigt sich, als ich sehe, dass auch eine von Fabian dabei ist. Für den Bruchteil einer Sekunde fürchte ich, dass er unser Treffen absagt. Aber er hat mir bloss geschrieben, dass er sich freut, und mir nochmal die Adresse des Restaurants geschickt.

«Elias?»

Ich zucke zuammen, als ich plötzlich die Stimme meines Vaters höre, und lege das Smartphone rasch mit dem Bildschirm nach unten auf den Schreibtisch. Hoffentlich hat er nichts gesehen.

«Was denn?» Meine Stimme klingt belegt.

Mein Vater schliesst die Tür hinter sich, was mich noch nervöser macht. Er setzt sich auf mein Bett und deutet auf den freien Platz neben sich. Zögernd setze auch ich mich.

«Ich weiss, du hast uns erzählt, dass du nur ein paar Freunde triffst. Und ich will dir keinesfalls unterstellen, dass du lügst, aber du verstehst sicher auch, wenn wir Zweifel an dieser Geschichte haben. Nun, wie dem auch sei. Ich bin nicht hier, um dich zu verhören.

Was ich dir mitgeben will, ist ein guter Rat. Ihr jungen Leute steht heutzutage unter enormem Druck; in den Medien, in Filmen und Musik, überall geht es nur um Beziehungen. Und um Sex. Gib diesem Druck nicht nach. Tu nichts, was du später bereuen könntest, nur, weil dich deine Freunde dazu drängen. Die Liebe, eine Beziehung, das ist ein Geschenk, mit dem man sorgfältig umgehen muss. Aber das verstehen die meisten Menschen heutzutage nicht mehr. Sie sehen ihre Partner als Spielzeuge, die man wegwirft, sobald man ihnen leid ist.»

Ich starre an meinem Vater vorbei auf den Boden. Nicht, weil ich mich schuldig fühle, sondern weil ich mich schäme, dieses Gespräch mit ihm zu führen. Natürlich weiss ich, was er mir so umständlich zu sagen versucht, wir haben schon vor vielen Jahren ein ähnliches Gespräch geführt. Nur damals noch viel länger und viel unangenehmer. Keinen Sex vor der Ehe.

«Dad, wirklich, ich treffe nur ein paar Freunde», unterbreche ich seinen Monolog, für den ich jetzt absolut keinen Nerv habe. Und um ihn zu beruhigen füge ich an: «Alle sind männlich.» Wenn er nur wüsste, dass das für ihn ein viel grösserer Grund zur Beunruhigung sein müsste.

Mein Vater wirft mir einen langen, ernsten Blick zu, dem ich mit all meiner Willenskraft standhalte. Dann, nach Sekunden, die sich in qualvolle Ewigkeiten gestreckt haben, nickt er.

«Ich vertraue dir.» Seine Hand, die er auf meine Schulter legt, wiegt schwer.

Ich schlucke, ringe mir ein Lächeln ab.

«Und jetzt geh, du bist bestimmt schon zu spät.»

 

Ich bin nicht zu spät. Nachdem ich Fabian Anfang der Woche bereits viel zu lange auf eine Antwort habe warten lassen, will ich wenigstens beim Date selbst pünktlich sein. So erreiche ich das Restaurant schliesslich um fünf Minuten vor sieben. Er ist schon da.

«Elias!», ruft er mir entgegen, ein charmantes Lächeln breitet sich über sein Gesicht. Er zieht mich in einer schüchternen Umarmung an sich und ich kann fühlen, wie schnell sein Herz schlägt. Fast so schnell wie meins.

«Ich bin so froh, dass es geklappt hat. Dass du gekommen bist.»

Wie schon an der Uni will er seine Finger in meinen verhaken, aber ich bin schneller und entziehe ihm meine Hand. Fabian lässt sich nichts anmerken. Er hält mir die Tür auf, ich betrete das aufgeheizte Restaurant und wir werden fast augenblicklich von einer jungen Blondine begrüsst, die ihren Blick ein bisschen zu lange zwischen uns hin und her schweifen lässt.

«Guten Abend, ich habe einen Tisch reserviert. Mein Name ist Seidel.»

Endlich löst die Blondine ihren Blick von uns und tippt einige Male auf das vor ihr liegende Tablet. Dann lächelt sie.

«Ein Tisch für zwei?»

Fabian nickt unberührt, aber ich kann ihre Gedanken förmlich fühlen. Sie weiss es. Diese fremde Kellnerin ist die erste, die von unserem Date weiss.

«Bitte folgen Sie mir.»

Sie führt uns auf eine hübsche Terrasse im Innenhof, die gerade noch von den letzten Sonnenstrahlen berührt wird. Unser Tisch ist in einer kleinen Nische, versteckt hinter den langen, grünen Fächern einer Palme. Wir setzen uns, die Kellnerin zündet die Kerze auf dem Tisch an, übergibt uns die Speisekarten und verschwindet.

«Hübsch hier», bemerke ich.

Die Terrasse ist klein, es stehen gerade einmal acht weiss gedeckte Tische zwischen Palmbäumen und geschlossenen Sonnenschirmen. Die rustikalen Ziegelmauern sind mit Lichterketten geschmückt, die so früh am Abend allerdings noch nicht brennen. Der Innenhof mit der Sonne, die gerade hinter den nächsten Häusern verschwindet, bietet eine gemütliche, intime Atmosphäre.

«Freut mich, dass es dir gefällt.»

Fabians Wangen sind ein wenig gerötet und er versteckt sich rasch hinter der Speisekarte.

Wir wissen nicht, was wir bestellen sollen. Ich hätte eigentlich Lust auf Pizza, aber ich weiss nicht, ob das zu informell ist für ein Date– so ein richtiges Date hatte ich bisher nämlich noch nie. Fabian ist ebenfalls unsicher und wir diskutieren viel zu lange über die verschiedenen Gerichte, froh darüber, Gesprächsstoff zu haben und ängstlich davor, dass er uns ausgehen könnte. Schliesslich entscheiden wir uns beide für Pizza und Weisswein.

«Tut mir übrigens leid, dass ich dich so überfallen habe mit meiner Nachricht. Ich habe schon gefürchtet, ich hätte dich verängstigt, aber ich wollte dich einfach unbedingt sehen. Ehrlich gesagt habe ich den ganzen Sommer darauf gehofft.»

Fabian spricht leise, trotzdem werfe ich einen prüfenden Blick nach allen Seiten, um mich zu versichern, dass uns auch wirklich niemand belauscht. Aber die anderen Leute scheinen mindestens ebenso sehr mit sich selbst beschäftigt zu sein, wie wir es sind.

Ich beginne mich zu entspannen, das dämliche Grinsen, das ich die ganze Zeit über zu unterdrücken versucht habe, stiehlt sich nun doch auf meine Lippen. «Worauf hast du gehofft?»

Zum zweiten Mal an diesem Abend werden Fabians Wangen rosa und mein Herz zieht sich bei diesem Anblick zusammen. Verlegen kratzt er sich im Nacken, ehe er gesteht:

«Auf ein Date. Dass du mir deine Nummer gibst. Oder wenigstens ein Gespräch beginnst. Jeden Morgen habe ich auf dich gewartet und gefürchtet, dass du nicht kommst. Ich habe mich sogar richtig auf die Arbeit gefreut wegen dir.»

Lächelnd senke ich meinen Blick zu Boden, erwidere aber nichts, weil ich weiss, dass ich Fabian auch beim tausendsten Caramel Latte Macchiato niemals nach seiner Nummer gefragt hätte. So etwas würde ich mich nicht wagen.

Das Schweigen, vor dem ich mich gefürchtet habe, stellt sich nun also doch ein. Aber zum Glück bringt genau da ein schnurrbärtiger Kellner unseren Wein. Wir prosten uns zu, beide mit demselben verlegenen Lächeln, und trinken uns mit einem grossen Schluck etwas Mut an.

Fabian fragt mich nach meinen Hobbies, keine sehr kreative Frage, aber ich habe viel zu erzählen. Als Kind haben mich meine Eltern nämlich dazu genötigt, Klavier und Cello zu spielen, ein paar Jahre später haben sie mich ausserdem im Leichtathletikverein für Hürdenlauf und Sprint angemeldet. Ich fand es in Ordnung, so viele Hobbies zu haben, aber ich habe auch nichts davon mit wirklicher Leidenschaft gemacht. Trotzdem nimmt mir Fabian das Versprechen ab, dass ich ihm irgendwann auf dem Klavier etwas vorspielen werde.

Dann stelle ich ihm die Gegenfrage. Er sagt, dass er gerne Serien schaut, Freunde trifft, Musik hört. «Alles, was Leute sagen, die eigentlich gar keine Hobbys haben», bemerkt er grinsend.

Und ab da ist das Eis zwischen uns gebrochen. Wir unterhalten uns über alles Mögliche, also alles ausser Religion, denn auch wenn sie ein grosser Teil meines Lebens ist, habe ich entschieden, sie Fabian vorerst vorzuenthalten. Aber auch so finden wir genügend Gesprächsstoff. Dabei bemerke ich, wie unterschiedlich wir uns sind, wie unterschiedlich und doch so gleich. Wir teilen kaum je eine Meinung und werden uns doch immer einig. Er spricht Gedanken aus, die schon seit Jahren durch meinen Kopf spuken und die ich doch bisher mit niemandem zu teilen gewagt habe. Und nicht nur das, er spinnt sie weiter, er ergänzt sie mit seinen eigenen, bis ich irgendwann nicht mehr mit Sicherheit sagen kann, wo meine Gedanken aufhören und seine beginnen. Es ist eines der besten Gespräche, die ich je geführt habe.

Wir essen Pizza und bemerken gar nicht, wie die Zeit verfliegt, wie es immer dunkler wird, wie der schnurrbärtige Kellner irgendwann die Lichterketten einschaltet, die der Terrasse eine märchenhafte Atmosphäre verleihen. Ich bin wie betrunken, vielleicht vom Wein, aber noch viel mehr von Fabian. Unsere Hände liegen einander gegenüber auf dem Tisch, so nahe, dass sich unsere Fingerspitzen knapp berühren. Die Ahnung seiner warmen Haut gegen meiner benebelt meinen Geist.

Zum Nachtisch teilen wir uns einen Eisbecher. Es ist nicht wie in diesen kitschigen, romantischen Filmen, wir füttern uns nicht gegenseitig, aber manchmal, wenn unsere Löffel gegeneinander klirren, beginnt mein Herz schneller zu schlagen und ich werfe einen raschen Blick zu Fabian, der mich auf dieselbe Weise ansieht.

Ich würde ihn gerne berühren. Die widerspenstige Strähne aus seiner Stirn zurückstreichen, seine Hand drücken, wenn er einen leidenschaftlichen Monolog über Armut und Obdachlosigkeit hält, mit dem Finger sein Kinn nachzeichnen, seine Lippen. Ich habe so etwas noch nie zuvor gefühlt, dieses Bedürfnis, diesen Drang nach Zärtlichkeiten.

«Ich lade dich ein», verkündet Fabian, als wir um kurz nach zehn die Rechnung bestellen. Es ist dunkel und mittlerweile auch kühler. Ich kann gar nicht glauben, dass wir uns wirklich drei Stunden lang unterhalten haben sollen, wenn es sich nach kaum mehr als dreissig Minuten angefühlt hat.

Natürlich protestiere ich. Ich hole meine Brieftasche hervor und biete ihm an, die Rechnung mit ihm zu teilen. Aber Fabian lehnt ab.

«Elias, ich hatte einen wunderschönen Abend mit dir und ich würde dich wirklich gerne einladen. Darf ich?» Und auf mein Zögern hin: «Du hast sowieso schon viel zu viel Geld für Caramel Latte Macchiatos ausgegeben. Diese Runde geht auf mich.»

Also lenke ich ein und lasse ihn bezahlen. Ich fühle die Röte meiner Wangen, als auch der Blick des schnurrbärtigen Kellners kurz zwischen uns hin und her wandert, ehe er das Geld von Fabian entgegennimmt und uns mit einem Augenzwinkern einen schönen Abend wünscht.

Fabian und ich beschliessen, noch ein Stück durch die nächtliche Stadt zu spazieren, ehe wir das Date beenden. Wir kommen bald in einen kleinen Park, wo ich an warmen Unitagen manchmal zu Mittag esse, und setzen uns auf eine einsame Bank.

Wir sitzen ganz nahe beieinander, als würden wir frieren, auch wenn es bestimmt noch zwanzig Grad sind. Ich schaue zu Fabian, seine dunkelblauen Augen, die ich im schummerigen Licht der Strassenlaterne kaum ausmachen kann, ich sehe nur, dass er mich ebenfalls anschaut.

«Was ist?», fragt er leise, seine Stimme rau.

Mein Herzschlag beschleunigt sich ins Unermessliche und gerade als ich glaube, ohnmächtig umfallen zu müssen, höre ich mich selber sagen: «Ich würde dich wahnsinnig gerne küssen.»

Ich zucke zusammen. Habe ich die Worte wirklich laut ausgesprochen?

Lächelnd entblösst Fabian seine Zähne, die im fahlen Licht zu leuchten scheinen. «Dann tu es doch.»

Zögerlich beuge ich mich vor und ehe ich mich versehe, sind seine Lippen auch schon auf meine gepresst. Zu viele Gedanken schiessen gleichzeitig durch meinen Kopf und ich kann keinen einzigen davon fassen. Aber intuitiv tue ich genau das Richtige, genau das, was ich schon seit Stunden tun wollte.

Ich neige den Kopf leicht zur Seite, lege meine Hände in Fabians Nacken, meine Fingerspitzen streifen seine weichen Haare. Dann öffne ich den Mund, ziehe ihn näher zu mir heran, intensivere unseren Kuss. Es fühlt sich an, als würde in mir ein Feuerwerk explodieren, beinahe mehr, als ich ertragen kann. Ich höre das Blut in meinen Ohren rauschen, fühle Fabians Hand auf meiner Wange, meinem Rücken, in meinen Haaren, seine Lippen auf meinen, seinen Atem, schmecke Kaffee, er hat zum Eis Espresso getrunken, spüre seine Wärme.

Es ist alles, was ich jemals wollte, es fühlt sich so richtig an, dass ich für einen kurzen Augenblick vergesse, wie falsch es ist. Diese Gedanken holen mich erst ein, als wir uns schwer atmend voneinander lösen. Fabian greift nach meiner Hand, diesmal lasse ich es geschehen, und zeichnet mit seinem Daumen zärtlich Muster auf meinen Handrücken.

«Das war ein wirklich schöner Abend, Elias.» Seine Stimme ist vom Küssen noch rauer geworden. Ich will etwas entgegnen, bringe aber kein Wort heraus. Seine Nähe schnürt mir die Kehle zu.

«Du bist etwas Besonderes. Ich habe es vom ersten Tag an gewusst, als du ins Café gekommen bist. Deine Augen, sie waren anders, sie haben dich verraten. Du hast wunderschöne Augen.»

Ich spüre, wie meine Ohren heiss werden, wahrscheinlich sind sie rot, und bin heilfroh, dass die Strassenlampen nur so wenig Licht spenden. Fabian drückt meine Hand und ich drücke seine, mir fehlen immer noch die Worte. Von irgendwo schlägt eine Turmuhr elf, ich sollte nach Hause gehen, meine Eltern werden sonst misstrauisch.

«Sehen wir uns wieder?», bringe ich atemlos hervor.

«Gerne», antwortet Fabian augenblicklich. «Also, wenn du das auch willst. Ich würde mich sehr freuen, dich wiederzusehen.»

Seine Reaktion lässt mich lächeln, vielleicht habe ich es schon die ganze Zeit über getan. Ich bin froh, dass er genauso aufgeregt, schüchtern und euphorisch zu sein scheint wie ich.

«Sehr gerne, ja. Aber ich glaube, dass ich jetzt echt los muss.»

Fabian besteht darauf, mich zur nächsten Bushaltestelle zu bringen. Er selbst ist mit dem Fahrrad unterwegs und versichert mir, dass er es ganz in der Nähe abgestellt hat und dass es ihm überhaupt keine Umstände macht, mich zu begleiten.

Als der Bus kommt, steige ich rasch ein, ehe ihm einfallen könnte, mich erneut zu küssen. Ich winke ihm durch die Scheibe hindurch zu, dann fährt der Bus los und ich starre nach draussen auf die leeren, dunklen Strassen und die gelben Lichtkegel der Laternen. Keine zwei Minuten später vibriert mein Smartphone. Eine Nachricht von Fabian. Das hat eine Menge Spass gemacht. Ich hoffe, wir sehen uns wieder. Gute Nacht. Und dann ein kleines, rotes Herz. Ich schliesse die Augen und stelle mir vor, wie es sich angefühlt hat, ihn zu küssen. Für einen kleinen Augenblick ist mein Leben perfekt. 

Eine Art Outing

Das letzte, was ich am Freitagabend gemacht habe, war, Fabian eine gute Nacht zu wünschen. Und als ich am Samstag aufwache, ist sein Guten Morgen bereits in meinem Posteingang. So schreiben wir das ganze Wochenende hin und her, keine besonders aussagekräftigen Nachrichten, dafür umso kitschiger.

Um ungestört chatten zu können, ziehe ich mich die meiste Zeit über in mein Zimmer zurück. Meine Eltern und vor allem meine Schwester sollen nicht merken, dass ich bei jedem Klingeln des Smartphones aufspringe und zu grinsen beginne. Bei den Mahlzeiten gebe ich mich schweigsam und esse wenig, meine Gedanken hängen Fabian nach und den Nachrichten, die er mir in der Zwischenzeit bestimmt schickt. Nach dem Essen verziehe ich mich rasch wieder auf mein Zimmer mit der Ausrede, dass ich eine Menge für die Uni zu erledigen habe. Meiner Mutter bereitet dieses Verhalten Sorgen.

«Du arbeitest zu viel», sagt sie, als ich am Sonntagabend mein Zimmer zum Zähneputzen kurz verlasse.

«Die Universität ist anstrengend.»

«Und sonst ist alles in Ordnung bei dir?»

Sie sieht mich lange und prüfend an. Ich fühle mich wie ein Kind, das vorgibt, krank zu sein, um nicht in die Schule zu müssen, und dabei schon längst von der Mutter durchschaut worden ist.

«Alles okay. Ich bin nur müde.»

«Du weisst, dass du jederzeit zu mir kommen kannst, wenn etwas ist?»

Ich nicke, auch wenn ich weiss, dass ich damit nicht zur ihr gehen kann.

Meine Mutter lächelt, zieht mich kurz an sich und wünscht mir eine gute Nacht. Dann lässt sie mich mit meinen Gedanken alleine.

 

Ich schlafe schlecht in der Nacht auf Montag, wahrscheinlich deshalb, weil ich mir praktisch schon seit unserem Kuss am Freitag Sorgen über das Wiedersehen an der Uni mache. Was soll ich sagen? Wie soll ich mich verhalten? Wird Fabian mich zur Begrüssung küssen wollen? Wir können uns unmöglich vor all den Studierenden küssen.

Ich fahre früh an die Uni, weil ich fürchte, vor lauter Angst sonst gar nicht zu gehen. Der Hörsaal ist noch leer. Also klappe ich meinen Laptop auf und arbeite an irgendeiner Hausaufgabe. Ich komme keine drei Zeilen weit, ehe die Tür zum Hörsaal aufschwingt. Nervös blicke ich auf, aber ich kenne die beiden Mädchen, die hereinkommen, nicht. Mit klopfendem Herz arbeite ich weiter und erneut schaffe ich keine zwei Sätze, ehe die Tür ein zweites Mal geöffnet wird. Diesmal ist es ein junger Kerl mit einem Skateboard.

Ich versuche mich wieder auf den Text zu konzentrieren, aber bei jedem Geräusch zucke ich zusammen und mein Blick gleitet panisch über die Gesichter der eintretenden Studierenden, immer auf der Suche nach tiefblauen Augen und einem dunkelblonden Haarschopf.

Fünf Minuten vor Vorlesungsbeginn keimt Hoffnung in mir auf. Vielleicht kommt Fabian heute nicht. Vielleicht muss er arbeiten oder hat verschlafen. Vielleicht kann ich mir das unangenehme Begrüssungsszenario ersparen, das meinen Magen wie eine eiserne Faust umschlungen hält.

Aber genau in dem Moment, als ich das denke, schwingt die Tür erneut auf und diesmal ist es Fabian, der eintritt. Er braucht nur wenige Sekunden, ehe er den Hörsaal mit seinem Blick gescannt und mich gefunden hat. Er lächelt, winkt, während er auf mich zukommt. Ich höre das Blut in meinen Ohren rauschen und fühle meinen Herzschlag im Hals so heftig pulsieren, dass ich nicht mehr schlucken kann.

Als Fabian mich erreicht, beugt er sich vornüber, wahrscheinlich, um mir einen Kuss auf die Lippen zu drücken, aber ich bin schneller. Rasch rutsche ich einen Platz nach rechts und zeige freundlich lächelnd auf den leer gewordenen Stuhl neben mir.

«Den habe ich für dich freigehalten. Guten Morgen.»

Fabian, gerade noch mit einem verdatterten Ausdruck, fängt sich rasch und lächelt ebenso freundlich. «Guten Morgen», entgegnet er, indem er sich auf den leeren Stuhl fallen lässt. «Ich habe verschlafen und wäre fast zu spät gekommen.»

Und bevor ich mir die Mühe machen muss, nach einer Antwort zu suchen, beginnt auch schon die Vorlesung.

Ich ignoriere Fabians verwirrte Seitenblicke, von denen ich sicher bin, dass er sie mir zuwirft, und versuche stattdessen, den Unterricht ausnahmsweise aufmerksam mitzuverfolgen. Meine Finger tippen die gesprochenen Worte wie von selbst auf dem Laptop mit, aber an meinem Verstand prallen sie ab, ich verstehe kein einziges davon. Und ich weiss schon jetzt, dass ich den ganzen Stoff mühsam werde nacharbeiten müssen.

In der Pause lässt sich Fabian nichts davon anmerken, dass ich ihm am Morgen vor den Kopf gestossen habe. Er macht auch keine weiteren Annäherungsversuche, im Gegenteil. Mir fällt auf, wie sehr er darauf bedacht ist, mich nicht zu berühren, nicht einmal im Vorbeigehen zu streifen. Stattdessen unterhalten wir uns wie zwei gute Freunde, zwischen denen es nie ein Date gegeben hat, die sich nie geküsst und am Wochenende keine langen, romantischen Nachrichten ausgetauscht haben.

Die Vorlesung am Nachmittag beim bärtigen, alten Professor ist sogar so interessant, dass ich Fabian neben mir für einige Minuten vergessen kann. Jedenfalls so lange, bis sein Pfefferminzkaugummi-Atem zu mir hinüberwabert und mich daran erinnert, wie sich dieser Mund vor wenigen Tagen auf meinen gepresst hat.

 

«Hast du Lust, noch einen Kaffee zu trinken? Oder Tee?», fragt Fabian, als auch die zweite Vorlesung zu Ende ist. Ich will eigentlich ablehnen, aber sein bittender, blauer Blick lässt mich einlenken.

Wie in der Woche zuvor gehen wir in die Kantine und genau wie damals will Fabian mich einladen.

«Vergiss es», wehre ich ab. «Du hast letzte Woche bezahlt.» Und am Freitag, setze ich in Gedanken hinzu, weil ich unser Date nicht erwähnen will. «Heute bin ich dran.»

Fabian bedankt sich und als wir uns wenige Minuten später an einem der vielen leeren Tische in der Kantine gegenübersitzen, er mit einem Cappuccino, ich mit Grüntee, lasse ich in einem Moment der Unachtsamkeit geschehen, dass er nach meiner Hand greift.

Die Berührung unserer Finger, warme Haut auf noch wärmerer, hat etwas Elektrisierendes. Ich sehe ein Lächeln auf seinem Gesicht aufblitzen, das verschwindet, sobald ich mich besinne und ihm meine Hand entziehe.

Unsere Unterhaltung verläuft oberflächlich, wir reden über die Themen, die wir gerade in der Vorlesung besprochen haben, ohne irgendetwas Nennenswertes dazu beitragen zu können, und starren dabei immer wieder auf unsere Hände, als müsse irgendetwas mit ihnen geschehen. Aber Fabian ist zu verunsichert, um erneut nach meiner Hand zu greifen, und ich bin zu feige und zu ängstlich, um es selbst zu tun.

Also verabschieden wir uns bald mit einem flüchtigen Gruss voneinander, während in mir das schlechte Gewissen zu nagen beginnt.

 

Die nächsten Tage über schreiben wir kaum miteinander, auch wenn ich Fabian am Montagabend, gequält von der Erinnerung an seinen verunsicherten Ausdruck, eine längere Nachricht schicke. Ich erkläre nichts, ich entschuldige mich nicht, aber ich versuche, den Faden dort wieder aufzunehmen, wo wir ihn am Sonntagabend verloren haben. Doch seine Antwort ist so kurz und kühl, dass ich nichts mehr zu entgegnen weiss.

Am Mittwoch haben wir wieder zusammen Uni, unser Aufeinandertreffen ist nicht weniger merkwürdig und unangenehm als am Montag, auch wenn Fabian mittlerweile mein distanziertes, abweisendes Verhalten reflektiert.

Deshalb überrascht es mich umso mehr, als er nach der Vorlesung plötzlich fragt: «Willst du zu mir kommen? Wir können Pizza essen und danach unser Referat besprechen.»

Unser Referat ist erst in vier Wochen, aber ich stimme zu.

Wir holen unterwegs zwei Pizzen und Fabian führt mich zu dem Studio, das er alleine bewohnt. Es ist klein und ein wenig unordentlich, aber gemütlich eingerichtet. Wenn man eintritt, steht man auch schon in einer voll ausgestatteten Küche, daneben ein Esstisch, auf dem so viele Bücher und ausgedruckte Dokumente liegen, dass Fabian erst einmal Platz schaffen muss, bevor wir uns zum Essen hinsetzen können. Weiter hinten führt eine Tür ins Badezimmer, daneben eine Couch und ein überquellendes Bücherregal und schliesslich, abgetrennt durch eine Halbwand, Fabians Bett.

Ich habe seinen Vorschlag mit dem Referat für einen Vorwand gehalten, aber nachdem wir aufgegessen haben, machen wir uns tatsächlich an die Arbeit für unsere Präsentation. Wir besprechen den Aufbau und beginnen die entsprechende Literatur zu lesen, ich auf dem Laptop, Fabian ausgedruckt auf Papier. Beide kommen wir nicht besonders weit. Immer wieder schweift mein Blick zu Fabian und fast jedes Mal erwische ich ihn dabei, wie auch er mich ansieht. So viele Worte stehen unausgesprochen zwischen uns im Raum, so viele Dinge, die ich ihm sagen möchte, aber wie beginnen?

Schliesslich ist es Fabian, der den ersten Schritt macht. Nachdem er sein Wasserglas aufgefüllt hat, setzt er sich mir gegenüber hin, stützt das Kinn in die Hände und sagt: «Hey, Elias, kann ich dich mal was fragen?»

Ich schaue von meinem Laptop auf, klappe ihn zu. «Klar.»

Nervös kratzt sich Fabian im Nacken, er räuspert sich einige Male, sucht nach den richtigen Worten. Die er schliesslich findet: «Ich hatte in den letzten Tagen an der Uni das Gefühl, als würdest du mir ausweichen. Ich habe lange nachgedacht, was das wohl zu bedeuten hat. Ob du für mich nicht dasselbe empfindest wie ich für dich, ob ich dich zu sehr bedränge, ob dir das alles zu schnell geht. Oder ob du einfach nicht geoutet bist und dich deshalb nicht wohl gefühlt hast mit mir. Und bevor ich mir darüber den Kopf zerbreche, habe ich gedacht, frage ich dich einfach selber, was los ist.»

Fabians Blick springt zwischen mir und der Tischplatte hin und her und bleibt schliesslich am Leuchtmarker, der vor ihm liegt, hängen.

Natürlich habe ich gewusst, dass dieses Gespräch früher oder später wird stattfinden müssen. Aber mir wäre später lieber gewesen. Und ich hätte nicht gedacht, dass Fabian dabei so niedergeschlagen aussehen wird.

«Es hat nichts mit dir zu tun, Fabi», versuche ich ihn zu beschwichtigen und verwende extra den Spitznamen, den ich ihm im Laufe unseres Dates verpasst habe. «Und auch nicht mit meinen Gefühlen für dich. Ich treffe dich wirklich gerne. Es ist nur so, dass niemand weiss, dass ich schwul bin. Ich habe es noch nie jemandem erzählt und ich möchte nicht, dass es jemand erfährt.»

Es fühlt sich ein bisschen an wie ein Outing, nur auf sehr bizarre, verkehrte Art und Weise.

Fabian sieht mich überrascht an. «Du hast es noch gar niemandem erzählt? Nicht einmal deiner besten Freundin oder so?»

Wahrscheinlich meint er Hanna und ich korrigiere nicht, dass sie gar nicht meine beste Freundin ist. Eigentlich habe ich überhaupt keine beste Freundin, auch keinen besten Freund. Denn mit so jemandem hätte ich über meine Homosexualität reden können.

«Nun ja, einer Person habe ich es erzählt. Aber das ist schon sechs oder sieben Jahre her und hat nicht besonders gut geendet. Ich möchte lieber nicht darüber reden.»

«Keine Sorge, musst du auch nicht, wenn du nicht willst. Aber ist diese Situation nicht schrecklich für dich? Das Geheimnis seit Jahren mit dir herumzutragen, es niemand zu sagen, dich immer verstecken zu müssen?»

Wie von selbst hat Fabian nach meiner Hand gegriffen und malt nun mit dem Zeigfinger seiner anderen Hand sanfte Muster auf meinen Unterarm. Ich lasse es zu, die Berührung fühlt sich tröstend an und diesen Trost kann ich nur allzu gut gebrauchen, denn seine Worte haben so ziemlich ins Schwarze getroffen.

Fabians Verständnis gibt mir Mut, weiterzusprechen, ihm zu gestehen, was unsere Beziehung so schwierig macht: «Bei mir ist alles ein bisschen komplizierter, weisst du? Meine Familie und ich, wir sind sehr religiöse Christen. Und unsere Religion verbietet, dass ein Mann mit einem anderen Mann zusammen ist. Normalerweise kriege ich es auch ganz gut auf die Reihe, diese Gefühle zu unterdrücken, nur bei dir habe ich es nicht geschafft. Dir habe ich nicht widerstehen können. Aber vielleicht verstehst du jetzt, weshalb uns niemand sehen darf. Meine Familie darf auf keinen Fall von uns erfahren, ich will mir nicht ausmalen, was sonst passieren würde.»

Mein Herz klopft so schnell, dass kleine, schwarze Punkte vor meinen Augen zu tanzen beginnen. Ich habe Angst vor seiner Reaktion, Angst vor Fabians versteinerten Miene, die jede Sekunde in Ärger oder Abweisung kippen kann. Aber als er endlich seinen Blick von meinem Unterarm anhebt und mich direkt ansieht, ist lediglich Überraschung auf seinem Gesicht. Keine Feindseligkeit.

«Oh», sagt er schlicht. Dann Schweigen. Er zieht seine Hände zurück, verschränkt sie ineinander. «Und was heisst das jetzt für uns? Willst du mich denn überhaupt noch treffen?»

Ich hätte mit vielen Antworten gerechnet, aber nicht mit dieser. Nicht mit der Verunsicherung in Fabians dunkelblauen Augen. «Natürlich will ich dich noch treffen», beeile ich mich deshalb zu sagen. Meine Stimme zittert vor Aufregung. «Falls dir das mit der Religion egal ist, meine ich.»

Fabian verzieht das Gesicht zu einer Grimasse. «Warum sollte es eine Rolle spielen? Für mich ist nicht wichtig, woran du glaubst, ich muss nur wissen, was du über unsere Beziehung denkst.»

Ich lege eine Kunstpause ein, nicht, weil mir die Worte fehlen, aber um ihnen Nachdruck zu verleihen. «Ich will das hier, Fabian. Mit uns. Ich will das.»

Für den Bruchteil einer Sekunde starren wir uns an, dann steht er auf, kommt um den Tisch herum, küsst mich heftig. Wir sind stürmischer als am Freitagabend auf der Parkbank, leidenschaftlicher. Ich versuche, Fabians Zweifel wegzuküssen und er tut dasselbe mit meinen. Seine Hände liegen heiss in meinem Nacken, seine Lippen brennen noch heisser auf meinen und als wir uns lösen, ringen wir beide verzweifelt nach Atem.

«Aber du musst Geduld mit mir haben, okay?», sage ich, ohne sein Gesicht loszulassen, und zwinge ihn so, mich anzusehen. «Für mich ist das alles neu und ich brauche Zeit, um es wirklich zu verstehen.»

Fabian nickt wie benommen. «Natürlich, Elias. Nimm dir alle Zeit, die du brauchst.» Er legt seine Stirn gegen meine. «Und du sagst mir, wenn dir etwas zu schnell geht oder zu viel ist, ja?» Und da meine Antwort ausbleibt nochmal: «Ja?»

Ich nicke, presse meine Lippen in einem kurzen, sanften Kuss gegen seine und murmle: «Versprochen.»

Ich wünschte, dir Versöhnung mit Fabian hätte meine Probleme gelöst. Aber sie hat alles nur noch komplizierter gemacht. 

Zweites Frühstück

Die Beziehung mit Fabian ist fantastisch – jedenfalls so lange ich bei ihm bin. Nach der Uni verbringe ich die meisten Nachmittage mit ihm, wir essen gemeinsam, wir lernen, wir albern herum und ich fühle mich so glücklich wie wahrscheinlich noch nie zuvor in meinem Leben. Aber dieses Glück ist nur von kurzer Dauer, denn kaum verlasse ich sein Studio, beginnt das Gedankenkarussell wieder zu kreisen, mein schlechtes Gewissen meldet sich und die Zweifel kehren zurück.

Ein paar Wochen lang ertrage ich diesen Zustand irgendwie. Nachts liege ich wach, den Blick starr an die Decke geheftet, das Smartphone mit Fabians Nachrichten auf dem Nachttisch, direkt auf der Bibel. Ich weiss, dass es eigentlich nur zwei Auswege gibt: bei Fabian bleiben und meine Familie verlieren oder bei meiner Familie bleiben und mich von Fabian trennen. Und dann gibt es da noch die dritte Lösung, die eigentlich gar keine Lösung ist, sondern ein Netz aus Lügen, in dem ich mich jeden Tag stärker verstricke. Mit jeder Ausrede, die ich meinen Eltern erzähle, um die Nachmittage bei Fabian zu verbringen, mit jedem brennenden Kuss, den ich Fabian nur in der Sicherheit seiner vier Wände auf die Lippen zu drücken wage. Nein, das ist kein Zustand, den ich langfristig aushalte. Und ich weiss, dass ich reden muss.

Am Sonntag fahre ich wie jede Woche mit meiner Familie in die Kirche und treffe dort Lukas, Daniel und Hanna. Schon im Auto hat mein Smartphone einige Male vibriert, aber mit Sara und ihren Adleraugen auf dem Sitz neben mir wage ich es nicht, die Nachrichten zu lesen. Und auch vor meinen Freunden lasse ich das Smartphone in der Tasche, schalte nur kurz vor Beginn des Gottesdienstes die Vibration aus, damit Fabians weitere Nachrichten nicht stören.

Hanna sitzt neben mir, den Kopf schräggelegt, sodass ihr die blonden Locken auf die linke Schulter fallen. Einige Male wirft sie mir einen Blick zu, der so freundlich ist, dass ich zu glauben beginne, sie würde mich verstehen. Sie hat mich bisher immer unterstützt. Als meine Katze in der siebten Klasse überfahren wurde, hat sie mir zwei Wochen lang jeden Tag Kekse in die Schule mitgebracht und am Wochenende hat sie mich gezwungen, einen Brief an meine Katze zu schreiben, den wir anschliessend in einer Art Beerdigung im Garten verbrannt haben.

Und auch als meine Oma vor zwei Jahren plötzlich gestorben ist und ich mein Zimmer fünf Tage lang nicht mehr verlassen habe, war Hanna für mich da. Sie kam jeden Tag vorbei, anfangs wollte ich nicht sprechen, also hat sie mir von allerlei belanglosen Dingen erzählt, die sie an diesem Tag erlebt hat. Vom Schmetterling, der in der Pause neben ihr gelandet ist, vom neuen Lied, das sie im Radio gehört hat. Später wollte ich auf einmal reden und sie hat mir stundenlang zugehört, während ich ihr jede einzelne Erinnerung an meine Oma erzählt habe. Und zum Schluss hat sie mir immer versichert, dass meine Oma im Himmel ist und dass ich sie eines Tages wiedersehen werde. Aber wer weiss, ob ich nach all dem, was in den letzten Wochen passiert ist, überhaupt noch eine Chance habe, in den Himmel zu kommen oder ob meine ewige Verdammnis schon längst feststeht.

«Elias?»

Hannas Ellbogen trifft mich hart in die Seite. Erst jetzt bemerke ich, dass sich die ganze Gemeinde zum Gebet erhoben hat. Rasch stehe auch ich auf und steige in den monotonen Strom aus Worte ein, der das alte Gebäude wie das leise Murmeln eines Flusses erfüllt. Ich spreche leidenschaftlicher mit als sonst, bitte inbrünstiger um Vergebung für meine Sünden, bekenne mich standhafter zu Christus, und hoffe, dass meine Worte denjenigen erreichen, den sie erreichen sollen. Und dass er mir auch glaubt.

 

«Was ist mit dir?», flüstert Hanna mir noch während des Verlassens der Kirche ins Ohr.

Aber ich kann ihr nicht sofort antworten, denn Lukas und Daniel stellen sich zu uns und reden über alle möglichen Dinge auf uns ein, ohne dass wir sie danach gefragt hätten oder ihnen antworten würden. Sie erzählen von der Weihnachtsfeier, die sie organisieren wollen, obwohl gerade erst Ende Oktober ist, und bitten uns um Ratschläge, die wir ihnen nur halbherzig geben.

Glücklicherweise erspähen sie in der Masse an Kirchgängern, die sich auf dem Vorplatz des alten Doms versammelt hat, bald einen älteren Pfarrer, mit dem sie für ihre Feier noch einige Dinge abzuklären haben, sodass Hanna und ich bald ungestört sind.

«Gehen wir ein paar Schritte?»

Sie wartet meine Antwort nicht ab, ehe sie sich in Bewegung setzt und den kleinen Park hinter der Kirche ansteuert. Es ist ein kühler Tag, der erste wirklich kühle seit dem Sommer, die Luft ist starr und frisch, sodass es sich anfühlt, als würde sie mit kleinen Messern die nackte Haut an meinen Wangen und Händen zerschneiden. Ich schliesse den Mantel bis ganz nach oben und vergrabe die Hände tief in meinen Jackentaschen, aber die Kälte dringt durch den Stoff meiner Kleidung hindurch. Vielleicht ist es auch bloss Hannas Frage, die mich frösteln lässt:

«Elias, was ist los? Du bist schon seit einiger Zeit so komisch. Oft in Gedanken, schweigsam, abwesend. Hast du Kummer?»

Es wäre so einfach, ihr alles zu sagen, ihr mein ganzes Herz auszuschütten. Hanna ist ein Schatz, sie würde es schon verstehen. Oder wenigstens akzeptieren. Aber was, wenn nicht?

«Ich bin nur müde.»

Sie bleibt stehen, neigt den Kopf, blonde Zapfenlocken auf ihren Schultern und echte Besorgnis in ihrem Blick. Auf einmal tut es mir leid, sie so zu sehen, zu wissen, dass ich es bin, dem die Sorgenfalte zwischen ihren Augenbrauen geschuldet ist.

Versöhnlich frage ich: «Zweites Frühstück? Dann erzähle ich dir davon.»

Das zweite Frühstück hat eine lange Tradition zwischen uns. Wir haben es eingeführt, als sich unsere schulischen Laufbahnen getrennt und wir uns urplötzlich kaum noch zu Gesicht bekommen haben. Nach einiger Zeit der Entfremdung haben wir damals beschlossen, jeden Sonntag nach dem Gottesdienst zusammen ein zweites Mal zu frühstücken, aus unseren Leben zu erzählen und über unsere Probleme zu reden. Unser Stammcafé liegt dabei gleich um die Ecke, keine zwei Gehminuten entfernt.

 Hanna willigt ein und da schon fast Mittag ist, finden wir glücklicherweise auch einen freien Tisch. Wir sitzen am Fenster, ich fühle mich ein wenig ausgestellt, aber um uns herum sind nur alte Menschen, von denen ich niemanden kenne und die nicht interessieren wird, was ich Hanna zu erzählen habe.

Vor lauter Aufregung fürchte ich, keinen Bissen hinunterzubekommen, sodass ich lediglich ein Croissant und einen Schwarztee bestelle, die ich aber beide erst einmal nicht anrühre. In den letzten Wochen habe ich mir einen Schlachtplan zurechtgelegt, eine Idee, wie ich Hanna sanft an das Thema heranführen kann, ohne gleich mit der Tür ins Haus zu fallen.

Nachdem wir unsere Bestellung bekommen haben und Hannas aufmerksamer Blick wieder auf mir ruht, spreche ich die sorgfältig vorbereiteten Worte, die ich so oft in der Dunkelheit meines Schlafzimmers geübt habe, zum ersten Mal laut aus:

«Es geht um einen Mitstudenten von mir. Er ist ein wirklich netter und guter Kerl. Und kürzlich habe ich herausgefunden, dass er schwul ist.»

So weit keine Lüge, wenngleich nicht die ganze Wahrheit. Der Rest meines vorbereiteten Texts wird allerdings von Hanna abgeschnitten, die etwas zu laut wissen will: «Hat er dich angemacht?»

Sie fragt nicht aufgeregt wie ein Schulmädchen, dem die beste Freundin von ihrem ersten Schwarm erzählt. Eher mit einer Art Ekel, als hätte ich ihr von einer haarigen Spinne oder schimmligen Essensresten erzählt, die ich neulich in der hintersten Ecke meines Kühlschranks gefunden habe. Diese Abscheu bringt mich aus dem Konzept und auffällig schnell antworte ich:

«Was? Nein.» Ich räuspere, nehme einen tiefen Atemzug, dann füge ich gemässigter an: «Keine Angst, das würde er nicht tun. Er ist wirklich okay.»

Hanna, die gerade einen grossen Schluck Kaffee trinkt, sieht mich an, als würde sie mich für naiv halten. Genau dafür hält sie mich wahrscheinlich auch. Aber sie zuckt bloss mit den Schultern und erklärt betont sorglos: «Wenn du meinst.»

Ich hole Luft, um etwas zu sagen, irgendetwas, Fabian zu verteidigen. Mich zu verteidigen. Aber alles, was ich sagen könnte, würde die Situation nur noch schlimmer machen. Oder würde einen Verdacht in ihr wecken. Doch ich brauche nichts zu sagen, Hanna kann mein Gesicht auch so lesen.

«Ich mache mir nur Sorgen um dich, Elias. Pass bitte auf dich auf. Nicht, dass er auf einmal noch-»

«Hanna, wirklich, du brauchst dir keine Sorgen zu machen.» Diesmal bin ich es, der ihr ins Wort fällt, und ich klinge schroffer als beabsichtigt. Aber in ihren Worten schwingen so viele Vorurteile mit, so viel Abscheu, so viel Verachtung. Und die betreffen nicht nur mich, damit könnte ich umgehen, ich habe mich jahrelang vor mir selbst geekelt, aber sie betreffen auch Fabian. Fabian, den liebsten und nettesten und wundervollsten Menschen, dem ich jemals begegnet bin. Der so viele gute Eigenschaften hat, dass ich mir nicht vorstellen kann, nicht vorstellen will, dass er dafür in der Hölle landen wird. Es wäre nicht gerecht, er hat es nicht verdient.

Hanna hat in ihre zweite Brötchenhälfte mit Käse gebissen. Ihre Augen sind schmaler geworden, ich hoffe aus blosser Verärgerung und nicht, weil sie etwas ahnt.

«Ich meinte ja bloss», bemerkt sie abwehrend, nachdem sie den Bissen Brot mit einem Schluck Kaffee hinuntergespült hat. «Jedem das Seine. Aber ich denke nicht, dass es für dich klug ist, mit ihm befreundet zu sein.» Sie scheint zu ahnen, dass wir uns auf dünnem Eis bewegen, denn die Worte kommen langsam und bedächtig aus ihrem Mund, jedes einzelne davon sorgfältig abgewogen.

«Warum?»

Die nächsten Worte wählt sie noch vorsichtiger: «Er passt nicht zu dir, zu uns. Nicht zu dem, woran wir glauben.»

Daraufhin schweige ich eine ganze Weile. Ich beobachte die Passanten, die draussen mit hochgestellten Kragen und in dicke Jacken eingepackt vorbeigehen. Durch die grosse Glasscheibe starren einige von ihnen hungrig auf mein Croissant. Es steht immer noch unangetastet vor mir, mein Appetit ist schon längst vergangen. Trotzdem beisse ich ein Stück davon ab. Der weiche Teig schmeckt schwer, nach Enttäuschung und Angst. Erst mit dem dritten Schluck Tee gelingt es mir, die krümeligen Reste aus meinem Mund hinunterzuspülen. Danach rühre ich das Croissant nicht mehr an.

Hanna hat mir mit ernstem Gesicht zugesehen, weder freundlich noch feindselig, aber aufmerksam, so, als würde sie noch immer auf eine Antwort von mir warten. Da ich ihrem Blick nicht länger standzuhalten vermag, nicke ich ergeben und erkläre: «Ich werde darüber nachdenken.»

 

Nach unserem zweiten Frühstück verabschiede ich mich rasch von Hanna und gehe zurück in den Park, wo ich mich auf eine einsame Bank setze. Die Luft ist nach wie vor eisig kühl, dicke, dunkle Wolken verschleiern den Himmel, sie passen zu den trüben Gedanken, denen ich nachhänge. Meine Finger ertasten in meiner Manteltasche das Smartphone, das urplötzlich zu vibrieren beginnt. Ich habe es nach der Kirche wieder eingeschaltet, hatte aber noch keine Zeit, draufzuschauen.

Bis ich das kleine Gerät mit klammen Fingern aus der Jackentasche gezogen habe, ist der Anruf schon wieder vorbei. Es war Fabian. Erst jetzt fällt mir auf, dass ich ihm auf keine seiner fünf Nachrichten geantwortet habe, die er mir im Verlauf des Vormittags geschickt hat. Ich rufe ihn zurück und er geht noch vor dem zweiten Freizeichen ran.

«Elias, zum Glück, ich habe mir schon Sorgen gemacht.» Fabian versucht sich an einem Lachen, aber ich weiss, dass er es ernst meint.

«Tut mir leid, ich habe vergessen, dir zu antworten. Ich war unterwegs.»

Obschon ich mir Mühe gebe, normal zu klingen, hört Fabian die Niedergeschlagenheit sofort. «Alles in Ordnung bei dir, Elias? Ist etwas passiert? Willst du darüber reden?»

«Nicht am Telefon», wehre ich ab, da ich fürchte, ansonsten mitten im Park in Tränen auszubrechen.

«Dann komm vorbei.»

Ich zögere nur kurz, bevor ich einwillige und mich auf den Weg zu Fabians Wohnung mache. Obschon sich meine Stimmung durch das Telefonat ein wenig aufgehellt hat und ich mich weniger trübsinnig fühle, sehe ich scheinbar nach wie vor ziemlich bedrückt aus. Als Fabian die Tür öffnet, wirft er mir jedenfalls einen besorgten Blick zu, öffnet die Arme und zieht mich mit einem «Komm her», an sich. Die Berührung tut gut, die Wärme seiner Schulter an meiner eingefrorenen Wange, seine Hände, die beruhigende Muster auf meinen Rücken zeichnen und sanft durch meine dunklen Locken streichen.

Viel zu schnell lässt Fabian mich wieder los. Er hat zwei Tassen Tee gekocht, eine davon drückt er mir in die Hände, sie verbrennt meine klammen Finger beinahe, dann führt er mich zur Couch. Ich setze mich nahe zu ihm hin, so nahe, dass mein Knie seinen Oberschenkel berührt. Es ist eine kleine Geste, aber sie hilft mir, mich weniger alleine zu fühlen, weniger traurig.

Fabian trinkt einen Schluck Tee, streicht sich eine dunkelblonde Strähne aus der Stirn und während ich ihn betrachte, fällt mir auf, dass es nicht länger nur meine eigenen Augen sind, durch die ich ihn sehe. Da sind auch Hannas. Ich stelle mir vor, was sie über ihn denken würde, was sie alles an ihm auszusetzen hätte und ich muss mich zusammenreissen, um ihren Hass nicht die Überhand ergreifen zu lassen. Es ist erschreckend, wie einfach es für mich ist, Fabian anzusehen und dabei Abscheu zu empfinden, selbst, wenn es nicht meine eigene Abscheu ist. Stattdessen versuche ich mich auf meine eigenen Gefühle zu konzentrieren, auf die Liebe, die stärker sein muss als der Hass. Das muss sie sein, oder nicht? Liebe muss den Hass besiegen.

Trotzdem bleibt eine Ahnung von Hannas Abscheu in mir zurück und ich finde es unerträglich, auf diese Weise über Fabian zu denken.

«Elias? Willst du mir nicht sagen, was los ist?»

Fabian berührt mich sanft am Arm, um mich aus meinen Gedanken zu holen. Wir haben einander bisher schweigend gegenübergesessen, schon eine ganze Weile, aber Fabian sieht nicht ungeduldig aus. Seine dunkelblauen Augen sind freundlich und aufmerksam und ich kann nicht anders, ich muss endlich reden. Die Worte brechen förmlich aus mir heraus. Ich erzähle ihm alles, von Hanna, unserem Gespräch, von ihrer Ablehnung und von meiner schier unermesslichen Angst, dass irgendjemand mein Geheimnis herausfinden könnte. Im allerschlimmsten Fall sogar meine Eltern.

Ich habe Fabian schon einige Male davon erzählt und es tut mir leid, ihn immer wieder mit denselben Gedanken zu behelligen. Ich wünschte, ich könnte sie einfach verändert, etwas anderes denken, aber ich kann nicht. Es sind immer dieselben Ängste, die mir durch den Kopf spuken, und sie treiben mich allmählich in den Wahnsinn.

«Vielleicht wäre alles gar nicht so schlimm, wenn du dich einfach outen würdest», sagt Fabian, als ich geendet habe. «Vielleicht hätte Hanna ganz anders reagiert, wenn sie gewusst hätte, dass es um dich geht. Es ist eine Sache, Homosexualität zu verurteilen, aber eine völlig andere, wenn auf einmal der beste Freund oder der eigene Sohn schwul ist. Man erkennt plötzlich den Menschen, der dahintersteht, das Schicksal. Und dass er immer noch derselbe ist. Ich denke, dass die meisten bereit sind, viel mehr zu akzeptieren, wenn es um jemanden geht, den sie lieben.»

Ich wünschte, ich hätte Fabians Optimismus. Oder seine Naivität, wie man es nennen will. Er ist ein so offener und toleranter Mensch, dass er sich nicht einmal vorstellen kann, wie es sich anfühlt, in einem hasserfüllten Umfeld zu leben. Und ich hoffe, dass er es auch nie erfahren wird, dass ihn meine Erfahrungen nicht irgendwann verbittern lassen. Dass er mich küssen kann, ohne an den Hass und die Verachtung seiner Liebsten denken zu müssen, die sich in mir schon längst als nagender Selbstzweifel festgesetzt haben.

«Ach Fabian», seufze ich leise. Ich wünschte, ich müsste ihm nicht widersprechen. «Hanna hätte genau gleich reagiert, wenn sie gewusst hätte, dass es um mich geht. Das macht keinen Unterschied. Blut und Familie bedeuten gar nichts bei uns, sobald es um die Bibel geht. Ich weiss es, weil ich es bei Tom damals selbst miterlebt habe.»

Der Gedanke an Tom löst einen Schmerz in mir aus, von dem ich nicht gewusst habe, dass er immer noch da ist, immer noch so stark ist. Und, die alten Wunden weiter aufreissend, will Fabian wissen: «Wer ist Tom?»

Augenblicklich werde ich in einen Strudel aus Erinnerungen gesogen.

Die Sache mit Tom

 

Es war Winter, kurz vor meinem siebzehnten Geburtstag, als ich Tom zum ersten Mal begegnete. Er war neu in unsere Stadt gezogen und seine Familie gehörte derselben Glaubensgemeinschaft an wie meine. Wir verstanden uns von Anfang an gut und wurden rasch so etwas wie Freunde. Nur dass ich meine Freundschaft mit Tom nicht so beschrieben hätte wie meine Freundschaften mit Hanna, Lukas oder Daniel. Zwischen Tom und mir war mehr. Unsere Berührungen dauerten einen Ticken länger, unsere Blicke waren ein wenig intensiver und mein Herz schlug ein kleines bisschen schneller, wenn ich ihm begegnete.

Es waren keine Gefühle, die ich damals hätte in Worte fassen können, denn die richtigen Worte dafür kannte ich zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht. Mir kam nie in den Sinn, dass das, was ich für Tom empfand, etwas war, was ich eigentlich nur für Mädchen empfinden sollte, denn ich gab ihm einfach den Namen Freundschaft und damit war es nicht länger verfänglich.

Im darauffolgenden Juli fuhr Tom mit uns ins Sommercamp. Wir Kinder und Jugendlichen wurden jeden Sommer für zwei Wochen nur von ein paar jungen Erwachsenen begleitet in den Campingurlaub geschickt. Wir zelteten, machten Ausflüge, wanderten, spielten im See und redeten natürlich eine Menge über die Bibel. Abends am Lagerfeuer lasen wir Textpassagen daraus vor, wir diskutierten die Figuren, ihre Schicksale, wie sie zu unseren eigenen Problemen standen und wie die Bibel uns helfen konnte, zu besseren Menschen zu werden.

Tom war nie besonders interessiert an diesen Gruppendiskussionen, dafür diskutierte er umso intensiver mit mir alleine. Zu allem wollte er meine Meinung wissen, zu jeder Geschichte und jeder philosophischen Frage, die ihm einfiel. Eines Abends liess er mich das Trolley-Problem beantworten und dachte lange Zeit schweigend über meine Aussagen nach, so lange, bis sie mir selbst lächerlich erschienen, aber dann nickte er anerkennend. Wir diskutierten noch eine Weile weiter, auch über die Variationen des Problems, über die Version mit dem dicken Mann oder die mit der Organentnahme.

Wir diskutierten, bis sich alle anderen Jugendlichen und sogar die Betreuenden in ihre Zelte zurückgezogen hatten und wir die letzten am knackenden Lagerfeuer waren. Das Holz war schon fast heruntergebrannt, nur die Glut glomm im Dunkel der Nacht und wenn ich mit einem langen Stock darin herumstocherte, flogen manchmal einige Funken in den pechschwarzen Himmel.

Tom war still geworden, ich auch, aber ich war noch nicht müde, ich wollte noch nicht schlafen gehen. Ich wollte weiter mit Tom diskutieren, wenn ich nur gewusst hätte, worüber. Normalerweise redeten wir über alles Mögliche, mit ihm gingen mir nie die Themen aus, aber an diesem Abend war es anders. Zum ersten Mal herrschte Schweigen zwischen uns. Nicht die unangenehme, beklemmende Art von Schweigen, nein, in unserem Schweigen lag Vertrautheit.

Tom sah mich lange von der Seite an, er hatte den Kopf schräg gelegt, in seinen hellbraunen Augen spiegelte sich die schimmernde Glut, seine Haare waren von der Sonne ganz bleich geworden. Nicht, dass ich seine Haarfarbe in der Dunkelheit erkannt hätte, aber ich wusste es, es war mir tagsüber aufgefallen. Toms Haare sahen immer so weich aus, so lockig, ich hätte gerne meine Finger durch sie hindurchfahren lassen.

«Wollen wir schwimmen gehen?»

Aus Tom musste der Wahnsinn sprechen, denn obschon die Tage heiss waren, wurde es nachts doch ziemlich kühl. Schon jetzt, am Lagerfeuer, hatte ich mir einen Kapuzenpulli übergezogen und der See war erfahrungsgemäss eiskalt, schliesslich wurde er von einem Bergbach gespiesen.

«In Ordnung.»

Auch aus mir sprach der Wahnsinn, aber wie hätte ich Toms Bitte ausschlagen können?

Wir schlichen zurück zu den Zelten, um unsere Badehosen anzuziehen. Ich nahm auch mein Handtuch mit, Tom hatte keins. Als ich ihn darauf ansprach, sagte er bloss: «Ich benutze deines mit.»

Wir gingen an den See, trockene Äste brachen knackend unter unseren Füssen und einmal wäre ich fast über eine Wurzel gestolpert, aber wir wollten unsere Taschenlampen nicht benutzen, aus Angst, die Betreuenden könnten durch das Licht auf uns aufmerksam werden. Bestimmt war es verboten, nachts heimlich schwimmen zu gehen.

Auf dem Steg zogen wir unsere Schuhe aus, ich legte mein Handtuch auf den Boden und streckte vorsichtig einen Fuss ins Wasser. Wie erwartet war der See eisig kalt, kurz dachte ich sogar darüber nach, zum Zelt zurück zu gehen und mich schlafen zu legen, aber da rannte auch schon Tom an mir vorbei und machte vom Steg aus einen Kopfsprung mitten ins schwarze Wasser. Einige Sekunden lang sah ich nichts bis auf ein paar Luftblasen, die an die Wasseroberfläche stiegen, dann tauchte Toms Kopf auf.

«Elias, komm auch», rief er mir leise zu. Ich hörte, wie seine Stimme vor Kälte zitterte, aber jetzt gab es kein Zurück mehr.

Die Zähne zusammenbeissend kletterte ich langsam in den dunklen See, der mir in den ersten Sekunden den Atem raubte. Meine Finger verkrampften sich um die hölzerne Leiter und ich rang um Luft. Die Kälte schien meinen Oberkörper mit eisernem Griff zu umklammern, aber schon noch ein paar Sekunden wurde es besser und ich wagte zitternd einige Schwimmzüge zu Tom, den ich bloss als schwach ausgeleuchtete Erhebung mitten auf der dunklen, glatten Wasseroberfläche ausmachen konnte.

«Ist dir kalt?», fragte er mit bebenden Lippen.

«Kein bisschen. Und dir?»

«Auch nicht.»

Wir wussten beide, dass wir logen, aber keine wollte dem anderen zuerst eingestehen, dass er fror. Also schwammen wir ein paar Züge in diese Richtung und dann ein paar in jene, weit hinaus trauten wir uns nicht, denn die Kälte raubte uns jegliche Kraft.

Schliesslich war ich es, der zuerst nachgab. «Gehen wir zurück?»

Tom stimmte fast augenblicklich zu. Wir schwammen zum Ufer und ich stieg über die kleine Leiter wieder auf den Steg, während er noch einige Atemzüge lang im Wasser blieb, einfach, um zu beweisen, dass er mehr Durchhaltevermögen besass als ich.

Frierend rieb ich mein Gesicht und meine Arme trocken, als Tom ebenfalls zurück an Land kletterte und sich triefend nass vor mich stellte. Er wollte mir das Handtuch wegnehmen, da er es nicht für nötig gehalten hatte, sein eigenes mitzubringen. Halb aus Spass und halb aus Ärger darüber, dass er im kalten See länger durchgehalten hatte als ich, versteckte ich das zerknüllte Handtuch rasch hinter meinem Rücken. Das war für Tom allerdings kein Hindernis und ehe ich mich versah, hatte er auch schon beide Arme um mich gelegt.

Unsere kalten Oberkörper berührten sich, seine Finger streiften meine, ich liess das Handtuch fallen, aber das interessierte auf einmal keinen mehr von uns. Tom war so nahe bei mir, sein Gesicht nur wenige Zentimeter von meinem entfernt, aber es war dunkel und ich konnte nicht sehen, ob in seinem Blick dasselbe lag wie in meinem. Ich ahnte es jedoch und ihm schien es ähnlich zu gehen, denn keinen Wimpernschlag später waren seine Lippen auch schon gegen meine gepresst. Seine Hände legten sich an meine Hüfte, ich konnte endlich seine Haare berühren, die kein bisschen weich, sondern kühl und schwer waren.

Es war mein erster Kuss und er hätte eine Katastrophe sein können, denn wir waren beide nass und müde, es war dunkel, kalt und ich wollte gar nicht daran denken, was passieren würde, wenn uns jemand so gefunden hätte. Aber der Kuss war nicht schrecklich. Unbeholfen und verhalten, natürlich, doch Toms Berührungen waren voller Zärtlichkeit, voller Zuneigung und in diesem einen Augenblick schien auf einmal alles Sinn zu ergeben. Mein Leben, weshalb ich mich manchmal so anders fühlte, Dinge, für deren Verarbeitung ich noch Jahre benötigen würde.

Als wir uns voneinander lösten, standen wir uns noch einige Sekunden schweigend gegenüber, beide völlig überfordert von dem, was gerade passiert war. Dann hob ich das Handtuch auf und gab es Tom, der sich notdürftig Haare und Oberkörper abtrocknete. Ich rannte nicht weg, obschon mir mein Instinkt sagte, dass ich genau das tun sollte, sondern wartete auf Tom. Wir gingen gemeinsam zurück zu den Zelten, kein Wort gesprochen, aber zwischen uns dieselbe Vertrautheit wie schon zuvor am Lagerfeuer. Mit einem leisen «Gute Nacht» verschwanden wir schliesslich in unsere Schlafsäcke.

 

Am nächsten Morgen verhielten wir uns beide, als wäre nie etwas zwischen uns geschehen. Es war eine stille Übereinkunft, genauso wie die Tatsache, dass wir am Abend schon wieder die letzten am Lagerfeuer waren – diesmal allerdings nicht ganz so zufällig. Wir redeten weniger, lauschten bloss den Geräuschen der anderen, die ihre Zähne putzten, ihre Pyjamas anzogen und schliesslich in ihre Zelte schlüpften. Danach warteten wir weitere fünfzehn oder zwanzig Minuten, bis sich die leisen Gespräche in regelmässige Atemzüge und nicht ganz so leises Schnarchen verwandelten.

«Gehen wir wieder zum See? Diesmal ohne schwimmen?», schlug Tom vor und ich willigte ein.

Wir setzten uns auf den Steg, unsere Füsse baumelten einige Zentimeter über der Wasseroberfläche. Tom legte seine Hand auf mein Knie, dann an meine Wange, vor jeder Berührung fragte er, ob das für mich in Ordnung sei. Und jedes Mal stimmte ich zu. Dann zog er mein Gesicht langsam zu sich heran und wir küssten uns erneut. Diesmal waren wir nicht ganz so unbeholfen, obschon ich viel aufgeregter war als beim ersten Kuss, der völlig überraschend gekommen war. Mein Herz schlug wie wild, während ich meinen Händen erlaubte, Toms Oberarme und Rücken zu ertasten.

Wir waren schüchtern und ängstlich und auf der verzweifelten Suche nach Zuneigung, die wir in dieser völlig unerwarteten Form ineinander gefunden hatten. In dieser Nacht redeten wir lange, bestimmt bis drei oder vier Uhr morgens, und wir hätten noch länger geredet, hätten wir nicht gefürchtet, entdeckt zu werden. Zwei leere Zelte, zwei Jungen alleine am See, der blasse Halbmond am Himmel als einziger Zeuge – sie hätten etwas geahnt. Auch so blieben wir schon viel zu lange wach, im Nachhinein gesehen hatten wir eine übergrosse Portion, dass niemand unser Geheimnis entdeckte.

Wir redeten lange, besonders Tom, der damals viele Worte zu mir sagte und eines davon, das immer wieder vorkam, war bestimmt auch Liebe. Ich erinnere mich allerdings nicht mehr allzu genau daran, was er gesagt hat, denn die Erinnerungen an diesen Sommer sind schmerzhaft und das Vergessen ist so leicht.

In einer dieser Nächte beschlossen wir auch, dass wir zusammen waren, entgegen allem, was kommen würde, entgegen jeglicher Vernunft und all den Schuldgefühlen, die uns schon damals zu zerfressen begannen. Es waren wir beide gegen den Rest der Welt.

 

Wirkliche Zweifel an der Beziehung kamen mir allerdings erst, als wir wieder zu Hause waren. Die Abende, die ich nun nicht länger mit Tom am See zubrachte, sondern mit mir selbst, meinen Gedanken nachsinnend, gaben mir mehr als genügend Zeit, über die ganze Situation nachzudenken – und mir wurde bewusst, wie falsch es war, einen anderen Jungen zu lieben. Aber Tom zerstreute meine Zweifel, wenn wir uns nach der Schule oder an den Wochenenden trafen, und ich zerstreute seine.

Wir waren beide naiv genug, dass wir uns einreden konnten, alles würde gut werden. Und obschon wir uns selbst für wenig überzeugend hielten, glaubten wir doch dem anderen, dass unsere Familien und Freunde uns akzeptieren würden. Tom, der diesen Glauben wie ein Gebet wiederholte, jedes Mal, wenn wir uns sahen, kämpfe dabei gegen die unheilvoll wispernde Stimme in meinem Kopf an, die mir zuflüsterte, dass wir kein gutes Ende nehmen würden.

Aber dann war da wieder Tom, der mir versicherte, dass unsere Liebe stärker sein würde als alles andere. Wir trafen uns nachmittags fast immer bei ihm, denn seine Eltern arbeiteten beide und hinter den vorgezogenen Vorhängen in seinem Zimmer konnten wir einige Stunden in Vertrautheit verbringen. Zu Beginn unserer Treffen machten wir immer unsere Hausaufgaben, flüchtig und nie ganz fertig, die Hefte liessen wir offen auf dem Boden liegen. Falls jemand vorbeikommen sollte, konnten wir so behaupten, dass wir gerade für die Schule arbeiteten. In Wirklichkeit verbrachten wir die Nachmittage auf Toms Bett, wir schauten Videos, spielten Spiele, tauschten Zärtlichkeiten aus, anfangs verhalten, im Laufe der Zeit aber immer ungenierter.

Es war an einem ebensolchen Tag, mittlerweile war es Winter geworden und wir lagen trotz aufgedrehter Heizung dicht aneinander gekuschelt da, als auf einmal alles anders wurde zwischen uns. Dass sich Tom an jenem Nachmittag merkwürdig verhielt, fiel mir erst im Nachhinein auf, denn zu diesem Zeitpunkt war ich viel zu sehr damit beschäftigt, seine Küsse zu erwidern, die intensiver und sinnlicher schmeckten als sonst.

Wir rangen eine ganze Weile um Dominanz, aber Tom gewann wie meistens und rollte sich auf mich, sodass ich vom Gewicht seines warmen Körpers tief in die Matratze gedrückt wurde. Wir hatten uns schon berührt und gestreichelt, aber noch nicht miteinander geschlafen. Ich hatte, um ehrlich zu sein, ein wenig Angst davor, da ich nicht wusste, was mich erwarten würde. Sex war eigentlich erst in der Ehe erlaubt und unser Sex hätte einen Punkt überschritten, nach dem es kein Zurück mehr gab.

Aber an diesem Nachmittag waren Toms Berührungen so zärtlich und so lustvoll, dass ich all meine Bedenken über Bord warf. Ich liess zu, dass er mir laszive Küsse auf Mund und Hals drückte, aber nur solche, die keine Knutschflecken hinterliessen, ich liess auch zu, dass er mich bis auf die Boxershorts auszog und dabei meinen gesamten Körper mit Mund und Händen liebkoste. Tom war fordernd, verzweifelt und Ich hätte noch viel mehr zugelassen, wäre nicht auf einmal das Geräusch der sich öffnenden Haustür zu uns ins Zimmer gedrungen.

Augenblicklich sassen wir beide bolzengerade und unbewegt da, angestrengt lauschend, wie der Schlüssel im Schloss gedreht wurde und auf einmal die Stimme von Toms Mutter erklang. Sie rief etwas von «früher nach Hause gekommen» zu uns nach oben und binnen Sekunden waren wir beide aufgesprungen. Ich sammelte meine Klamotten ein, zog mich in Windeseile an, brachte meine Haare vor dem Spiegel halbwegs in Ordnung und schaffte es gerade noch, mich vor die offenen Mathehefte zu setzen, da stand auch schon Toms Mutter in der Tür.

Ich verstand kein Wort von dem, was sie sagte, so laut rauschte das Blut in meinen Ohren. Ich spürte, wie ich rot wurde und neigte meinen Kopf zur Seite in der Hoffnung, meine Beschämung auf diese Weise zu verbergen. Als seine Mutter das Zimmer wieder verliess, blickten Tom und ich uns wortlos an. Ich sah noch wie glasig seine Augen vor Erregung waren, aber da war auch etwas zweites – Furcht, blanker Horror. Doch ich war zu sehr mit mir selbst beschäftigt, um zu verstehen, dass es so viel gab, was Tom mir sagen wollte. Und keine zehn Minuten später packte ich meine Schulsachen ein und ging nach Hause.

Am nächsten Tag kam Tom nicht zur Schule, er war krankgemeldet, und er antwortete auch nicht auf die glücklicherweise relativ unverfängliche SMS, die ich ihm schickte. Bis ich abends nach Hause kam, hatten die Gerüchte auch schon die Runde gemacht – Tom hatte sich geoutet. Kurz nachdem ich gegangen war, war er zu seiner Mutter gelaufen und hatte ihr gestanden, dass er schwul war. Mich hatte er dabei rausgehalten und vorerst schöpfte niemand Verdacht, aber der Skandal für Tom und seine Familie war riesig.

Erst, als ich an diesem Abend im Bett lag, begriff ich, dass der Nachmittag zuvor für Tom ein Abschied gewesen sein musste. Deshalb seine Leidenschaftlichkeit, deshalb der verzweifelte Versuch, sein erstes und gleichzeitig letztes Mal mit mir zu verbringen. Und ich begriff auch, dass ich ihn vielleicht hätte retten können, wenn ich nur geblieben wäre.

Die gesamte Gemeinde zerriss sich den Mund über Tom, Geschichten wurden erzählt, die bestimmt keinen einzigen Funken Wahrheit erhielten. Dass seine Familie hergezogen war, weil sie wegen Toms Homosexualität aus ihrer letzten Gemeinde verbannt worden waren, von Prostitution war die Rede und sogar von Pädophilie. Ich hielt meine Klappe, nahm nicht an dem Getuschel teil, tat aber auch nichts dagegen, aus Angst, man würde auch hinter mein Geheimnis kommen.

Tom sprach ich nach diesem Tag nie wieder. Seine Eltern wollten ihn in ein Konversationscamp schicken, um ihn zurück auf den christlichen Weg zu bringen. Er wehrte sich zunächst, aber als sie damit drohten, ihn mit seinen siebzehn Jahren hinauszuwerfen und jegliche finanzielle Unterstützung zu streichen, gab er schliesslich nach. Keine Woche später verschwand er und mit ihm legte sich auch der Sturm, den sein Outing gebracht hatte.

Doch nun, da der Fokus nicht länger auf Tom lag, begannen neue Gerüchte zu kursieren. Wen er alles hatte verführen wollen und bei wem es ihm gelungen war, ob vielleicht noch andere junge Männer in der Gemeinde der Homosexualität verfallen sein könnten. Mir war klar, dass es nicht lange dauern würde, ehe auch ich in Verdacht geriet, doch da kam mir ein glücklicher Zufall in Form einer Mitschülerin zu Hilfe. Sie hiess Lisa und ich kannte sie seit einigen Jahren. Wir waren wohl so etwas wie befreundet und keine zwei Tage nach Toms Verschwinden hörte ich von Daniel, dass Lisa in mich verliebt war. Im Nachhinein mag es sich schrecklich anhören, aber ich tat es nicht nur meinem Ruf wegen, ich wollte allen voran auch mich selbst davon überzeugen, dass ich nicht schwul war, denn der Schock über die Reaktion auf Toms Outing sass tief. Ich traf mich einige Male mit Lisa und wir wurden offiziell ein Paar.

Einen knappen Monat später tauchte Tom wieder auf, aber ich hätte ihn kaum wiedererkannt. Dunkle Ringe lagen unter seinen Augen, die jeglichen Glanz verloren hatten und bloss noch trüb und stumpf in die Welt hinaus blickten. Er lächelte nicht mehr, nie mehr, er ging langsam, sprach wenig und wenn, dann in schleppenden Sätzen – kurz gesagt, er war ein komplett gebrochener Mensch. Es tat mir im Herzen weh, ihn so zu sehen, aber ich war zu feige, zu ängstlich, ich starrte ihn nur mit genauso grossen Augen an wie alle anderen.

Ein einziges Mal, im Unterricht, fand ich seinen Blick auf mir ruhend und für den Bruchteil einer Sekunde erkannte ich einen unaussprechlichen Schmerz in ihnen. Ich hätte auf der Stelle in Tränen ausbrechen können, so falsch fühlte ich mich, so schändlich war mein Verhalten. Doch ich wusste, dass ich Tom nicht mehr helfen konnte. Für ihn war es zu spät.

Nach den Frühlingsferien kam er nicht mehr in die Schule zurück, es hiess, dass er ausgezogen sei und den Kontakt zu seiner Familie abgebrochen habe. Ab da wurde Tom nie wieder erwähnt. Es wurde nicht mehr über ihn gesprochen, auch nicht im Geheimen, fast so, als hätte es ihn gar nie gegeben. Manchmal musste ich mir unsere gemeinsamen Fotos ansehen, die ich in einem geheimen Ordner auf meinem Smartphone versteckt hielt, um mich davon zu überzeugen, dass Tom nicht bloss meiner Fantasie entsprungen war.

Von Lisa trennte ich mich kurz darauf. Es hatte sich nie richtig angefühlt und mir nur weiter Klarheit darüber gegeben, dass ich tatsächlich schwul war. Nur sagen durfte ich es niemandem. Das schwor ich mir an dem Tag, an dem Tom für immer aus unseren Leben verschwand.

 

«Das ist die traurigste Geschichte, die ich jemals gehört habe.»

Fabian seufzt leise auf und sieht mich lange aus ernsten Augen an. Sein Blick ist von so viel Mitleid erfüllt, dass ich wegsehen muss. Ich ertrage es nicht, denn ich habe sein Mitleid nicht verdient. Ich bin nicht besser als alle anderen, die Tom nach seinem Outing verstossen haben.

«Was ist danach aus ihm geworden? Hat er sein Leben in den Griff gekriegt?»

Ich wünschte, ich könnte Fabians Frage beantworten. Aber Toms Verbannung aus unserer Gemeinde bedeutet auch, dass niemand ihn treffen oder mit ihm sprechen darf. Wer das tut, wer mit dem Verräter spricht, der ist selbst einer und riskiert, ebenfalls nicht länger dazuzugehören.

«Ich weiss es nicht. Ich habe ihn danach nie mehr gesehen.»

«Bist du nicht neugierig?»

Ich zucke mit den Schultern. «Doch schon.»

«Dann suchen wir ihn.» Fabians Ausdruck ist nicht länger so trüb, er schaut mich auffordernd an und ehe ich protestieren kann, hat er auch schon sein Smartphone in den Fingern und die Facebook-App geöffnet. «Ich brauche den vollen Namen.»

«Thomas Berger.»

Fabian tippt den Namen ein und streckt mir eine Reihe Fotos unter die Nase, auf denen aber niemand aussieht wie Tom. Die meisten sind zu alt und auch die Jungen sehen nicht aus, wie ich mir Tom heute vorstelle.

«Versuch es mit Tom. Tom Berger. Die meisten haben ihn zwar Thomas genannt, aber für mich war er immer Tom. Vielleicht ist er dabei geblieben.»

Erneut tippt Fabian und als die Suchergebnisse auftauchen, entfährt mir ein Aufschrei. «Das ist er!» Ich zeige auf das zweitoberste Foto. Fabian vergrössert es und ich habe keinen Zweifel daran, dass es Tom sein muss. Das Bild zeigt ihn vor einem Fluss, er lächelt kaum sichtbar, sein Blick geht links an der Kamera vorbei ins Unendliche. «Kein Zweifel.»

Fabian scrollt durch das Profil, sieht sich die wenigen Fotos an, aber wir erfahren nichts weiter, ausser, dass er einen Hund besitzt und bei einem Lebensmittelhersteller im Büro arbeitet.

«Findest du, er sieht glücklich aus?», frage ich Fabian, als wir wieder bei Toms Profilbild angelangt sind. Ich denke darüber nach, dass ich das hätte sein können, damals schon, wenn ich mich unvorsichtiger verhalten hätte, aber auch heute, wenn jemand von mir und Fabian erfährt. Gebrochen im Konversationscamp, aus der Gemeinde verstossen oder im schlimmsten Fall gleich beides zusammen. Hätte ich nach so etwas jemals glücklich werden können?

Fabian wiegt unentschlossen den Kopf hin und her. Dann sieht er auf, ein Funkeln in seinen Augen. «Frag ihn doch einfach.»

«Wie jetzt?»

Fabian lächelt, er greift nach meiner Hand, drückt sie. Bestimmt weiss er, was ich denke, dass ich fürchte, so wie Tom zu enden – der Schatten einer Erinnerung, die niemand mehr anzusprechen wagt, mit einer Zukunft voller Ungewissheit vor sich. Und Fabian ist fest entschlossen, meiner Ungewissheit ein Ende zu bereiten. «Na, schreib ihm eine Nachricht. Frag, wie es ihm geht. Sag, dass du ihn treffen willst.»

Nachspiel

Es dauert keine Stunde, ehe Tom auf meine Nachricht geantwortet hat, und er stimmt sofort zu, Fabian und mich zu treffen. Wir verabreden uns für kommenden Samstag und ich fahre mit einem mulmigen Gefühl zurück nach Hause. Die ganze Woche über fürchte ich, jemand könnte von meinem geplanten Treffen mit Tom erfahren, dass Tom es jemandem erzählt hat, im schlimmsten Fall sogar meinen Eltern. Ich weiss, dass es absurd ist; Tom hat mit niemandem aus der Gemeinde mehr Kontakt und er würde mich auch nicht auf diese Weise hintergehen. Trotzdem gelingt es mir erst, als ich am Samstagnachmittag bereits auf dem Weg zu Toms Adresse bin, das ungute Gefühl von mir abzustreifen.

Bis ich Toms Wohnung erreiche, hat sich anstelle der Angst die Nervosität wie ein Klumpen in meinem Magen festgesetzt. Wie wird er sein? Werde ich ihn wiedererkennen? Wird er böse auf mich sein, weil ich ihm damals nicht geholfen habe?

«Aufgeregt?», fragt Fabian, als er wenige Minuten nach mir vor dem gelben, dreistöckigen Wohnblock ankommt. Er legt mir die Hand auf die Schulter und drückt sie kurz, das ist die höchste Form der Berührung, die ich in der Öffentlichkeit zwischen uns zulasse. Und doch hat sie etwas Tröstendes.

«Absolut. Ich habe keine Ahnung, was uns hier erwartet.»

«Na dann wollen wir mal schauen», sagt Fabian, indem er die Klingel neben dem Schild mit der Aufschrift T. Berger drückt. Keine zwei Sekunden später wird der Türsummer betätigt und wir gelangen durch ein altmodisches Treppenhaus zu Toms offener Wohnungstür im zweiten Stockwerk.

Tom steht im Türrahmen und wenn ich nicht gewusst hätte, dass er es ist, dann hätte ich ihn wahrscheinlich nicht erkannt. Er ist älter geworden, nicht nur wegen des Bartes, von dem während unserer Nächte am See gerade einmal ein paar Stoppeln zu sehen waren. Seine ganze Erscheinung wirkt alt, sein Gesicht, seine Augen – sie haben einen müden Ausdruck, als hätten sie schon zu viel gesehen.

«Tom, wow, hi. Krass, dich nach so langer Zeit wieder zu sehen», bringe ich etwas ungeschickt heraus und wir umarmen uns unbeholfen. «Das ist Fabian, mein Freund.»

Fabian und Tom schütteln sich die Hände und Tom bittet uns herein. Aus einem Nebenzimmer kommt ein kleiner, grauer Mops angelaufen, der sich zunächst schüchtern hinter Toms Beinen versteckt, dann aber doch neugierig genug ist, an Fabians ausgestreckter Hand zu schnüffeln und sich von ihm streicheln zu lassen.

«Das ist Rambo», stellt Tom den Mops vor. Bei der Erwähnung seines Namens sieht der kleine Hund aufmerksam zu Tom, der ihn mit einem Leckerli aus seiner Hosentasche füttert. «Sorry, er ist echt verwöhnt.»

Tom führt uns weiter ins Wohnzimmer, die Wohnung ist klein, aber gemütlich eingerichtet. Überall stehen Lampen, die nicht zueinander passen und bunte Lichtflecken an die Wände projizieren, auf dem Sofa liegen zu viele Kissen und der Tisch ist mit zusammengewürfeltem Geschirr gedeckt. Tom hat Schokoladenkuchen gebacken und bietet uns dazu Kaffee oder Tee an.

Einige Minuten später sitzen wir alle am Tisch, einen Teller mit Kuchen vor uns, den niemand von uns wirklich anrühren mag. Unausgesprochene Worte hängen schwer wie Nebelschwaden zwischen uns in der Luft und es ist Tom, der den Anfang macht, sie aufzulösen:

«Elias. Ich hätte nicht gedacht, dich in meinem Leben nochmal zu sehen.» Er spricht leise und hat den Blick starr auf die Kaffeetasse vor sich gerichtet. Es ist merkwürdig, Tom so schüchtern zu erleben, denn während er schon immer ein ruhiger Typ gewesen ist, hat er sich mir gegenüber doch immer sehr offen verhalten. Trotzdem will ich glauben, dass er hinter dieser zurückhaltenden Fassade noch immer derselbe ist wie damals.

«Wie geht es dir, Tom? Wie war es, nachdem…» Erst jetzt bemerke ich, dass mir die Worte fehlen. Dass ich nicht darüber nachgedacht habe, wie ich das Unaussprechliche aussprechen soll.

«Nachdem ich weggegangen bin? Oder fortgejagt wurde? Was auch immer davon wirklich geschehen ist.» Er legt eine kurze Denkpause ein, in der er seinen Blick durch den Raum schweifen lässt, meinem eigenen Blick allerdings sorgsam ausweichend. «Es ging mir damals wirklich schlecht. Ich hatte ja niemanden. Mein gesamtes soziales Umfeld hat aus Leuten aus der Gemeinde bestanden. Und nachdem ich mich endgültig davon getrennt hatte, musste ich noch einmal ganz von vorne beginnen. Menschen kennenlernen, Freunde, Bekannte, Arbeitskollegen – irgendjemanden. Das war nicht immer einfach, aber ich habe es hingekriegt. Und heute bin ich so etwas wie glücklich.»

Tom ringt sich ein Lächeln ab, das allerdings nicht mehr so unbeschwert aussieht wie früher.

«Hast du einen Freund?» Fabians Frage ist forsch und überraschend und es gelingt ihm tatsächlich, Toms Blick dadurch einige Sekunden lang einzufangen.

Dann senkt dieser allerdings wieder den Kopf. «Nein, zurzeit nicht. Aber ich hatte welche. Anfangs waren es eher Affären, weil mein Vertrauen in meine Mitmenschen so tief erschüttert war, dass es niemals für eine richtige Beziehung gereicht hätte. Ich bin auch heute noch in Behandlung deswegen, aber ich habe viele Fortschritte gemacht und hatte seither auch zwei richtige Beziehungen. Nur hat keine der beiden gehalten. Ich bin ein komplizierter Mensch geworden, mit mir zusammen zu sein ist nicht einfach, denn ich muss jeden Tag von neuem gegen meine eigenen Gedanken ankämpfen. Das heisst, nicht gegen meine eigenen Gedanken, sondern gegen die, die mir auf verschiedenste grausame Weisen eingeimpft worden sind.»

Toms Stimme klingt belegt, was mich zögern lässt, ob ich die nächste Frage wirklich stellen soll. Aber ich bin nun einmal hier, um Antworten zu finden. «In der Konversionstherapie?», frage ich deshalb so vorsichtig wie möglich und bemühe mich um einen mitfühlenden Tonfall.

Noch immer klebt Toms Blick an seiner Kaffeetasse, aber ein trauriger Ausdruck hat sich auf sein Gesicht gelegt, seine Schultern sind eingesunken.

«Ich kann da nicht wirklich drüber reden, Elias.» Er spricht so leise, dass ich Mühe habe, ihn überhaupt zu verstehen. «Damals sind Dinge geschehen, die ich noch heute nicht in Worte fassen kann. Oder will.»

Tom presst sich die Handballen auf die Augen und einige Sekunden lang fürchten wir alle, dass er zu weinen beginnen wird. Dann fängt er sich aber, setzt sich aufrecht hin, atmet tief durch. Vielleicht hat er das in der psychiatrischen Behandlung gelernt.

Schliesslich ist es erneut Tom, der das betretene Schweigen zwischen uns bricht, indem er betont gelassen fragt: «Und du? Was machst du hier? Warum hast du mich nach all den Jahren plötzlich kontaktiert?» Ich könnte mir einbilden, Verbitterung in seinem Tonfall zu hören, was mir natürlich einen Stich versetzt. Aber vielleicht habe ich mich auch getäuscht.

«Ich bin ehrlich gesagt wegen Fabian hier. Nach allem, was dir passiert ist, hatte ich schreckliche Angst, dass es mir gleich ergehen würde. Deshalb habe ich mich von dem ganzen Thema möglichst ferngehalten, jedenfalls so lange, bis mir Fabian über den Weg gelaufen ist. Nun ja, wir haben uns ineinander verliebt. Ich wollte es nicht, wirklich nicht, ich habe versucht, mich zu wehren, mich nicht zu verlieben, aber wie soll man so etwas steuern?» Ich werfe Fabian einen kurzen Seitenblick zu, er schenkt mir ein wundervolles Lächeln und greift nach meiner Hand.

«Ich liebe Fabian. Aber ich habe solche Angst. Wenn uns jemand sieht, wenn meine Familie davon erfährt; ich kann sie nicht verlieren. Genauso wenig wie ich Fabian verlieren kann.»

Fabian, dessen Finger in meinen verschränkt daliegen, drückt sie sanft, wie er es immer tut, wenn meine Ängste Überhand zu nehmen drohen. Er ist der Fels, an dem ich mich im Strudel meiner Gedanken klammern kann, wenn sie mich mit sich in den Abgrund zu reissen drohen.

Tom sitzt immer noch kerzengerade da, er ist wie ausgewechselt. Vom schüchternen, niedergeschlagenen Menschen zu einer selbstbewussten Hülle, die er noch nicht ist, aber eines Tages bestimmt gerne werden würde. Und man merkt, wie hart er daran arbeitet, glücklich zu sein, seine Vergangenheit hinter sich zu lassen. Man merkt es an seiner Haltung und seinen Worten, die er aufsagt, als würde er sie jeden Tag in seinem Kopf wiederholen, um sich selber daran zu erinnern:

«Dir ist klar, dass du dich wirst entscheiden müssen, oder? Du kannst nicht beides haben, nicht Fabian und deine Familie. Wenn du in der Gemeinde bleiben willst, dann musst du das hier sofort beenden. Aber ich kann dir nur raten, bei Fabian zu bleiben und aus der Gemeinde auszusteigen, besser heute noch als erst morgen, denn jeder Tag dort macht den Abschiedsschmerz nur schlimmer. Ich weiss, du hast wahrscheinlich noch Hoffnungen, dass sie dich verstehen werden, aber glaub mir, das werden sie nicht.

Der schlimmste Moment meines Lebens war, wie meine Mutter mich nach meinem Outing angesehen hat. Als wäre ich nicht länger ihr Kind, sondern ein Alien, ein Ungeheuer. Jegliche Liebe, jegliche Fürsorge waren mit einem Schlag von ihrem Gesicht gewichen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie weh das getan hat. Also nein, Elias, sie werden dich niemals akzeptieren, und je früher du das verstehst, desto besser, denn ansonsten wird es dich kaputtmachen. Du wirst dich kaputtmachen, wenn du weiterhin versuchst, ihnen zu gefallen, dir ihre Liebe zu verdienen.»

Ich will etwas erwidern, ihm widersprechen, aber Tom lässt mich nicht zu Wort kommen, er redet unerbittlich weiter:

«Du hast Glück, weisst du das? Du hast Fabian, der dich liebt, der wirklich wundervoll ist, und jetzt hast du auch mich. Du wirst nicht alleine sein, so wie ich damals. Ich habe mir verdammt oft gewünscht, dass du mitgekommen wärst, dass wir zusammen hätten durchbrennen können. Die Einsamkeit war das Schlimmste an der ganzen Sache. Aber noch viel schlimmer ist es, eine Lüge zu leben, sich jeden Tag verstellen zu müssen, sich selber kaputt zu machen, nur, um von anderen Menschen akzeptiert zu werden.»

Ich spüre die Tränen in meinen Augen, ich will sie zurückhalten, aber Fabian, der erneut zärtlich meine Hand drückt, bringt sie schliesslich zum Überlaufen. Ich spüre, wie sie über meine Wangen rollen, an meinem Kinn hängenbleiben und schliesslich auf die Tischplatte tropfen, auf der noch immer unangerührt unsere Kuchenstücke stehen.

Energisch wische ich mit meinem Handrücken die feuchten Spuren von meinen Wangen, aber da fliessen nur noch mehr Tränen, die sie sofort wieder nachzeichnen.

«Ich wünschte, ich könnte dir glauben», flüstere ich und muss kurz meine Augen schliessen, da ich das Gefühl habe, keine Luft mehr zu bekommen. «Es ist nur… Es ist nur… Da ist dieser Zweifel. Was, wenn sie recht haben? Wenn es wirklich gegen Gottes Willen ist, schwul zu sein?»

Ich hasse mich dafür, dass ich die Worte ausgesprochen habe, besonders vor Fabian, denn damit zweifle ich nicht nur mich selber an, sondern auch ihn, uns, alles, was wir haben. Aber er hält nur weiterhin meine Hand und wenn ich ihn getroffen habe, dann lässt er sich davon jedenfalls nichts anmerken.

Dafür habe ich Tom getroffen, denn er richtet seinen Blick einige Sekunden lang zur Decke, um die Tränen zurückzuhalten, um sich zu sammeln. Dann sieht er mich zum ersten Mal direkt an, in seinen hellbraunen Augen liegt dieselbe Glut wie damals am Lagerfeuer, nur dass sie diesmal von innen kommt. Und er stellt die entscheidende Frage:

«Glaubst du wirklich, dass Gott etwas hassen könnte, was er selber erschaffen hat?»

Ich schlucke den Kloss in meinem Hals hinunter. Ich kenne die Antwort, denn natürlich habe ich mich das schon ganz oft selber gefragt.

«So einfach ist das nicht. Man kann nicht alles einfach Gott in die Schuhe schieben. Es gibt Versuchung, es gibt das Böse. Menschen sind böse, viele jedenfalls, und sie schaffen böse Dinge. Warum sonst gibt es Krieg?»

Tom greift nach meiner freien Hand, die, die Fabian nicht hält, und drückt sie zwischen seinen heissen Fingern. «Das hier ist nicht Krieg, Elias», sagt er eindringlich und sieht mich an, als wolle er überprüfen, ob die Worte auch wirklich zu mir durchdringen. «Es ist das genaue Gegenteil von Krieg – Liebe. Etwas so Schönes würde Gott nicht schaffen, wenn es ihm nicht gefallen würde.»

Er sieht mich sanft an, den Kopf schräg gelegt, während Fabian meine andere Hand drückt. Und in diesem Augenblick glaube ich wirklich, dass ich es schaffen könnte. Dass ich bereit bin, meine Familie und meine Freunde zurückzulassen, um mit Fabian ein neues Leben zu beginnen.

 

Das Gespräch mit Tom hat mich aufgewühlt, wird sind noch eine ganze Weile bei ihm geblieben, irgendwann habe ich sogar vom Schokoladenkuchen gegessen, der fantastisch geschmeckt hätte, wäre nicht jeder Bissen mit Angst und Unsicherheit behaftet gewesen.

Am Ende des Nachmittags habe ich mir fest vorgenommen, meine Eltern zu konfrontieren, etwas zu tun, irgendetwas, nicht länger zu schweigen. Doch dazu komme ich nicht, denn auch meine Eltern scheinen ein Gespräch mit mir führen zu wollen. Als ich nach Hause komme, sitzen sie eng aneinandergedrängt auf der Couch, aber der Fernseher läuft nicht. Sie lesen auch kein Buch, hören keine Musik, ich glaube, sie haben sich nicht einmal unterhalten. Sind nur still und ungeduldig dagesessen und haben auf meine Rückkehr gewartet. Die Spannung in der Luft lässt sich förmlich mit Händen greifen.

«Elias? Kommst du mal?», ruft mein Vater mir zu, noch bevor ich Schuhe oder Jacke ausgezogen habe. Sofort breitet sich ein ungutes Gefühl in meiner Magengegend aus. Ich betrete das Wohnzimmer, sehe ihre ernsten Gesichter, die Hände, die auffällig ruhig auf ihren Oberschenkeln liegen, die Lippen, zu einem Strich zusammengepresst.

«Ist etwas passiert?»

Ein wenig erinnert mich die Szene an den Nachmittag, an dem mir meine Eltern gesagt haben, dass meine Oma gestorben ist. Wie heute waren sie im Wohnzimmer versammelt, eine ernste Ruhe umgab sie, während sie von Herzstillstand und Himmel gesprochen haben.

«Setz dich bitte.» Mein Vater zeigt auf das gegenüberliegende Sofa.

Ich setze mich hin, wische den Schweiss an meinen Handinnenflächen an meiner Jeans ab und wiederhole mit zitternder Stimme: «Ist etwas passiert?»

«Nichts Schlimmes, keine Sorge, wir wollen nur reden», versuch meine Mutter mich relativ erfolglos zu beschwichtigen. «Sara hat heute Hanna getroffen und die war ziemlich besorgt um dich, weil ihr letzten Sonntag nach dem Gottesdienst einen Streit hattet. Es ging um einen deiner Mitstudenten, richtig? Einen, der homosexuell ist.»

Beim Wort homosexuell verzieht sie angewidert das Gesicht und ich begreife sofort, woher der Wind weht.

«Ja, wir sind befreundet.» Ich bemühe mich um einen harmlosen, vielleicht sogar naiven Ton. Nicht erröten, Augenkontakt halten, Hände ruhig auf den Oberschenkeln liegen lassen.

Mein Vater, den Blick bisher schweigsam auf den Glastisch vor sich geheftet, ringt sich ein paar Worte ab, ohne mich dabei anzusehen: «Schau, Elias, du bist erwachsen, wir können dir nicht verbieten, diesen… diesen Menschen zu treffen. Aber wir können dir davon abraten.»

«Es ist eine gute Eigenschaft von dir, wie offen und freundlich du bist und wie du es immer allen Recht machen willst», schaltet sich nun auch meine Mutter in verständnisvollem Ton ein. «Aber du solltest nicht nur daran denken, was du für diesen Mitstudenten tun kannst, sondern auch daran, was er mit dir macht. Ob er dir guttut oder schadet. Und wenn es nötig ist, darfst du keine Angst davor haben, eine Grenze zu ziehen.»

Wenn es nötig ist. Ich weiss, dass sie es für nötig halten. Ich mit einem Schwulen befreundet? Unmöglich. Er könnte mich zu konvertieren versuchen. Lächerlich.

«Er schadet mir doch nicht. Er ist ein wirklich netter und guter Kerl. Nur halt zufällig schwul.»

Das letzte Wort lässt meine Eltern beide zusammenzucken und aufschauen. Entsetzen über meine Offenheit auf ihren Gesichtern, über meine Verantwortungslosigkeit, meinen Ungehorsam. Ich habe mich bisher selten widersetzt und wenn, dann war ich immer um ihr Verständnis bemüht. Nicht hier. Sie werden dich nicht verstehen, hallen Toms Worte in meinen Ohren.

«Und du?»

Die Frage meines Vaters lässt die Luft erstarren, alle drei halten wir den Atem an. Die wenigen Sekunden bis zu meiner Antwort ziehen sich ins Unermessliche, während die Gedanken in meinem Kopf Purzelbäume schlagen. Er weiss es, schiesst es mir als erstes durch den Kopf, dicht gefolgt von Er blufft nur und Er will es nicht glauben. Es wäre rational für sie zu glauben, dass ich schwul bin, aber welche Eltern sind ihren Kindern gegenüber schon rational? Stattdessen hat mein Vater eine ehrliche Frage gestellt. Er würde mir glauben, würde ich ihm die Wahrheit sagen, aber er würde eine Lüge genauso wenig hinterfragen.

Man sagt, dass es keinen perfekten Moment für ein Outing gibt, aber vielleicht wäre er genau das gewesen. Es hätte nur zwei Worte gebraucht – Ich auch. Und vielleicht noch drei weitere – Ich liebe ihn. Aber so wenige Worte es auch sind, so schwer ist es, sie tatsächlich auszusprechen. Kurz denke ich darüber nach, ehrlich, aber sie bleiben mir irgendwo zwischen Stimmbändern und Luftröhre stecken und ich setze stattdessen zu einem Schwall aus Lügen an, der sich in meinen Ohren nur wenig überzeugend anhört, meine Eltern aber tatsächlich zu beruhigen vermag:

«Ich? Was willst du denn damit sagen? Nur, weil ich nett bin zu jemandem, der anders ist? Erinnert ihr euch etwa nicht mehr an Lisa?»

Ich fühle mich schrecklich, aber ich erreiche den gewünschten Effekt. Bedrückt senken meine Eltern ihre Blicke zu Boden, schuldbewusst, denn wie hätten sie ihrem Sohn jemals so etwas unterstellen können?

Meine Mutter ist die erste, die ihre Sprache wiederfindet und einlenkt: «Natürlich erinnern wir uns an Lisa, Schatz. Sie war ein wunderbares Mädchen. Es tut uns leid, dass wir dir so etwas vorgeworfen haben.»

Mein Vater pflichtet ihr bei, sie entschuldigen sich, als hätten sie mich mit ihrem Verdacht beleidigt. Kurz denke ich darüber nach, noch etwas zu sagen, Fabian zu verteidigen oder mich doch zu outen, aber der Moment ist vorüber. Stattdessen verziehe ich mich auf mein Zimmer, nicht wirklich beleidigt, aber meine Eltern könnten davon ausgehen, immerhin würden sie mich dann in Ruhe lassen. Im Flur treffe ich Sara, dich mich aus ihren grossen, dunklen Augen ansieht und ein «Sorry» flüstert.

 

Das erste Mal

«Ich will dich meinen Eltern vorstellen.» Fabian spricht diesen Satz völlig unerwartet aus, an irgendeinem Donnerstagnachmittag, den wir bei ihm zu Hause über unseren Aufsätzen verbringen. Wir haben seit einer guten Stunde stumm und konzentriert gearbeitet und Fabians plötzliche Worte lassen mich zusammenzucken. «Bitte, Elias. Sie würden dich echt gerne treffen. Wir können am Samstag mit dem Zug hinfahren, die Reise dauert etwa vier Stunden. Du lernst meine Eltern kennen, wir essen zu Abend, wir können sogar in meinem alten Kinderzimmer übernachten. Und am Sonntag fahren wir wieder zurück. Es ist perfekt.»

Ich zögere. Nicht, weil ich Angst vor Fabians Eltern hätte, sondern wegen dem Übernachten. Während ich mittlerweile viele Stunden vor und nach der Uni und auch fast alle Samstage bei Fabian verbringe, habe ich noch nie bei ihm übernachtet. Es ist nämlich eine ziemlich einfache Sache, meine Eltern davon zu überzeugen, dass ich an den Nachmittagen und Wochenenden in der Bibliothek für ein Referat recherchiere oder mich mit einer Lerngruppe treffe – sie haben keine Ahnung vom Leben an der Universität und würden mir alles glauben. Aber Übernachten ist eine andere Sache. Sie mögen es nicht, wenn ich bei jemand anderem schlafe, jedenfalls dann nicht, wenn sie diese Person nicht kennen.

Klar könnte ich einen meiner Freunde aus der Gemeinde um ein Alibi bitten, meine Eltern würden nie hinterfragen, dass ich bei Daniel oder Lukas schlafe. Aber dann müsste ich meinen Freunden auch erzählen, wofür sie mich decken, und ich weiss, dass ich ihnen nicht von Fabian erzählen kann. Also fällt diese Option ebenfalls weg.

Fabian hat meine Ablehnung bezüglich Übernachtungen wahrscheinlich als ängstliche, zurückhaltende Jungfräulichkeit verstanden – womit er eigentlich auch gar nicht so falsch liegt. Und als guter Freund hat er sehr schnell realisiert, dass ich noch nicht bereit bin, bei oder mit ihm zu schlafen. Also hat er schon sehr bald aufgehört, mich jeden Abend danach zu fragen. Mittlerweile wirft er nur noch ganz sporadisch alle zwei oder drei Wochen ein «Du kannst auch hier pennen» ein. Das allerdings nicht, um mich in etwas hineinzudrängen, sondern, um es mir einfacher zu machen, sollte ich meine Meinung in der Zwischenzeit geändert haben.

Aber ich entscheide mich nicht um, auch dieses Mal nicht. Und ich muss ihm seine Bitte leider abschlagen: «Es geht nicht, Fabian. Ich kann nicht auswärts übernachten, du weisst schon, meine Eltern.»

Fabian akzeptiert es, genauso wie er akzeptiert, dass er mir morgens an der Uni keinen Begrüssungskuss geben darf, dass wir nie zusammen ins Kino gehen oder dass ich beim Spazieren seine Hand nicht halten will. Er akzeptiert es, weil er mich respektiert, aber ich weiss, dass es ihn tief in seinem Innern verletzt.

Doch da kommt mir der Zufall zu Hilfe. Einige Tage nach diesem Vorfall erzählen meine Eltern beim Abendessen, dass mein Onkel, der vor einigen Monaten ein Hotel in den Bergen übernommen hat, sie zu einer Übernachtung einladen will. Während sein Berghotel in den Sommermonaten von Wanderern und im Winter von Schneesportlern lebt, ist jetzt im Spätherbst kaum etwas los, sodass er beschlossen hat, eines der freien Zimmer für eine Nacht meinen Eltern zu überlassen.

Sie erklären uns also, dass sie am kommenden Wochenende nicht zu Hause sein werden und mein Herz beginnt aufgeregt zu klopfen. Am liebsten hätte ich sofort Fabian angerufen, stattdessen fange ich nach dem Essen erstmal meine Schwester ab, um sicherzugehen, dass ich auch auf sie zählen kann.

«Sara, eine kurze Frage. Wegen nächstem Wochenende-»

Noch bevor ich fertiggesprochen habe, fällt sie mir lachend ins Wort: «Es ist in Ordnung, du kannst ein paar Freunde nach Hause bringen, wenn du willst.»

Ich schüttle den Kopf. «Eigentlich will ich genau das Gegenteil. Ein paar Freunde von der Uni wollen zusammen wegfahren und ich bin auch eingeladen.»

Erst jetzt fällt mir ein, dass ich mir vielleicht eine Ausrede hätte zurechtlegen sollen. Dass wir zusammen an ein Konzert fahren oder in einen Freizeitpark. Aber Sara hätte ich ohnehin nichts vorgemacht und natürlich hat sie mich auch diesmal schon längst durchschaut.

«Keine Sorge, ich werde unseren Eltern nichts davon erzählen.»

Sie zwinkert mir verschwörerisch zu und ich kann nicht anders, als sie kurz in meine Arme zu schliessen. Ich murmle ein «Danke» und mache mich los, um endlich Fabian anzurufen.

Bevor ich ihr Zimmer verlasse, fragt Sara noch: «Wie heisst denn die Glückliche?»

Ich sage nichts, widerspreche aber auch nicht, da ich fürchte, sie könnte ansonsten ihre Meinung nochmal ändern. Stattdessen gehe ich in mein Zimmer und drehe den Schlüssel im Schloss, um endlich Fabian anzurufen.

 

So treffe ich am nächsten Samstag um elf Uhr Fabian am Bahnhof und wir steigen in einen ICE, der uns direkt zu seinem Heimatort fährt. Im Zug schauen wir uns einen Film an, auf den ich mich nicht wirklich konzentrieren kann, weil ich so aufgeregt bin. Ich weiss, dass es keinen Grund dazu gibt, Fabian hat mir mehrmals versichert, dass seine Eltern sich freuen und dass ich nicht nervös sein soll, aber das ist leichter gesagt als getan.

Fabian spürt meine Anspannung, aber er weiss auch, dass ich es nicht mag, wenn wir uns in der Öffentlichkeit berühren. Deshalb beschränkt er sich darauf, einige Male meine Hand zu drücken und mit dem Daumen ein beruhigendes Muster auf den Handrücken zu malen.

Wie lächerlich meine Nervosität ist, wird mir in dem Moment klar, als wir bei Fabians Eltern klingen und sie die Haustür öffnen. Seine Mutter, eine grosse, schlanke Frau mit blond gewellten Haaren und einem herzlichen Lachen auf dem Gesicht schliesst mich sofort in die Arme. Auch Fabians Vater, ein sportlicher Mann mit kahl rasiertem Schädel und nicht minder freundlichem Ausdruck, zögert nicht lange, mich mit meiner Umarmung zu begrüssen.

«Du musst Elias sein. Fabian hat uns schon so viel von dir erzählt», sagt die Frau, die sich als Annette vorgestellt hat.

«Und natürlich nur Gutes», ergänzt ihr Mann Frank.

Sie bitten uns herein in ihr Haus, das ziemlich gross und so sauber und aufgeräumt ist, als würde es einem Möbelkatalog entspringen. Fabian führt mich ins Obergeschoss, wo er sein altes Kinderzimmer hat. Filmposter hängen an den Wänden, das Regal und der Schrank sind beinahe leer, das gemütliche Doppelbett in der Ecke frisch bezogen. Ich hätte mir gerne die wenigen Sachen von Fabian angesehen, die noch hier sind und mir so viel über seine Vergangenheit verraten könnten, aber da rufen uns auch schon seine Eltern zu einem Glas Prosecco nach oben.

Wir stossen «auf die Familie» an und Annette beginnt mich sofort mit Fragen zu löchern. Fast als erstes will sie wissen, wie Fabian und ich uns kennengelernt haben, da er ihr das bisher scheinbar verschwiegen hat. Ich schäme mich zugegebenermassen ein bisschen für die Geschichte, aber der Alkohol und die ausgelassene Stimmung lockern meine Zunge und ich erzähle ihnen, wie ich Fabian zum ersten Mal im Café begegnet bin. «Vierundzwanzig Caramel Latte Macchiato habe ich bestellt, bevor wir überhaupt miteinander gesprochen haben. Und wahrscheinlich wären es noch 400 weitere geworden, wenn Fabian mich nicht nach einem Date gefragt hätte.»

«Dabei mag Elias eigentlich gar keinen Kaffee», ergänzt Fabian und seine Eltern lachen beide herzlich. Noch selten habe ich mich irgendwo so willkommen gefühlt, mich selbst, nicht die Version von mir, die ich normalerweise zu sein vorgebe. Und seine Eltern scheinen mein wahres Ich tatsächlich zu mögen. Sie fragen nach der Uni und meinem Leben, ich erzähle ihnen einiges, lasse die Religion aber bewusst weg. Sie hätte zu viele Fragen aufgeworfen, auch wenn ich mir sicher bin, dass Fabians Eltern diesen Teil von mir ebenso kommentarlos akzeptiert hätten wie alles andere.

Der Abend ist amüsant und kurzweilig, Fabians Eltern sind lustig und Annette hat ein fantastisches Abendessen gekocht, zu dem wir viel zu teuren Wein trinken. Zum Nachtisch gibt es Tiramisu, das wir vor dem Fernseher essen, da wir uns dazu einen Krimi ansehen. Ich mache es mir gemütlich, den Kopf an Fabians Schulter gelehnt, und fühle mich, als wäre ich soeben in eine neue Familie aufgenommen worden.

 

Es ist bereits nach Mitternacht, als der Krimi zu Ende ist und wir endlich ins Bett gehen. Ich ziehe mein Schlafshirt über und lege mich zu Fabian, der mich müde anlächelt und mir einen langen Zahnpastakuss auf die Lippen drückt. «Meine Eltern lieben dich», murmelt er, als sich unsere Lippen kurz trennen.

Ich lächle, starre zur Decke. «Dann war meine ganze Angst wohl für nichts.»

«Angst wovor?» Fabian legt die Stirn in Falten. «Ich hab’s dir doch hundert Mal erklärt: Wenn sie sehen, wie sehr ich dich liebe und wie glücklich du mich machst, dann können sie gar nicht anders, als dich auch zu lieben.»

Ich zucke mit den Schultern. Natürlich hat Fabian mir das erklärt, aber genauso wie er es nicht verstehen kann, dass ich in meinem Umfeld auf Hass und Ablehnung stosse und mich deshalb vor einem Outing fürchte, habe ich mir nicht vorstellen können, dass meine Sexualität von anderen Leuten einfach so akzeptiert wird. Und auch jetzt bin ich noch komplett baff darüber, wie selbstverständlich seine Eltern mit mir umgegangen sind.

Um das Thema zu wechseln sage ich: «Und das hier ist also dein altes Zimmer?»

Fabian grinst mich von der Seite an. «Genau. Hier habe ich meine Jugend verbracht und mich nach dem Ritter auf dem weissen Pferd mit einer Vorliebe für Caramel Latte Macchiato gesehnt.»

Er lacht auf und ich greife ihn in einer gespielten Wrestling-Attacke an. Ein wilder Kampf entbrennt zwischen uns, wir tollen auf dem Bett herum, kitzeln und boxen uns, bis Fabian sich plötzlich auf mich rollt, meine Hände über meinem Kopf festhält und mit seinen Beinen meine in die Matratze presst. Mein Herz rast und ich schnappe nach Luft, da ich auf einmal fürchte, nicht mehr richtig atmen zu können. Fabians Blick hält mich fest, seine Lippen nur wenige Zentimeter von meinen entfernt, so nahe, dass ich seinen heissen, schnellen Atem auf meiner Wange spüren kann.

Dann kollidieren unsere Lippen in einem sehnsüchtigen, schnellen, verzweifelten Kuss. Ich öffne meinen Mund weit, gewähre Fabians Zunge Einlass, Zähne stossen gegeneinander, meine Hände gleiten wie von selbst über Fabians Oberkörper, greifen nach allem, was sie zu fassen bekommen – seiner Kleidung, seinen Schultern, Haaren, seinem Rücken. Meine Finger bahnen sich einen Weg unter sein Shirt, ich fühle, wie die Muskeln in seinem Bauch sich an- und entspannen, ertaste die Wirbel an seinem Rücken, seine starken Oberarme.

Auf einmal lässt Fabian von mir ab, so plötzlich wie wir uns zu küssen begonnen haben. Er setzt sich auf, sein Blick wandert einige Sekunden lang rastlos durchs Zimmer, ehe er wieder mich an sieht, die Pupillen geweitet.

«Willst du damit nicht bis zur Ehe warten?», fragt er. Sein Atem geht zu schnell, er stösst die Worte hervor, als wäre er soeben eine lange Treppe hochgerannt. Kein Scherz in seiner Stimme, sein Gesicht erst, fragend, besorgt. Ich weiss, dass er an all die Male denkt, die ich nicht bei ihm übernachten wollte, an meine Zurückhaltung. Und eigentlich hat er recht damit, dass ich warten wollte. Nicht, weil ich Sex für etwas Besonderes halte, sondern, weil ich ein wenig Angst davor habe. Fabian, der Erfahrene, und ich? Ich weiss gar nichts.

Nur ist in diesem Moment mein Gedächtnis ausgeschaltet und ganz andere Teile meines Körpers haben das Denken übernommen. Ich spüre das Verlangen wie einen physischen Schmerz in meinem Bauch, spüre das sehnsuchtsvolle Ziehen, das unsere Körper wie zwei Magneten aneinanderpressen will.

«Ganz ehrlich? Dich zu heiraten wäre in meiner Religion wahrscheinlich das grössere Verbrechen als vor der Ehe mit dir zu schlafen. Also ist das völlig egal, ich brauche nicht zu warten.»

Fabian zieht eine Augenbraue nach oben. Er bemüht sich, entspannt auszusehen, um mich nicht zu drängen, aber die Art, wie er schluckt, bevor er spricht, verrät, dass er am liebsten einfach über mich hergefallen wäre. «Sicher? Du musst das nicht tun, Elias. Wir können warten, wenn du nicht bereit bist. Wir können etwas anderes machen.»

Ich richte mich halb auf, lege meine Arme um Fabians Nacken, sodass ich ihn näher an mich heranziehen kann. Näher und immer näher, bis sich unsere nackten Oberkörper berühren, Haut auf Haut, dann bringe ich meine Lippen an sein Ohr und hauche: «Ich will mit dir schlafen.»

Fabian entfährt ein Geräusch, dass sich höchstens als Wimmern bezeichnen lässt, dann ist sein Mund auch schon auf meinen gepresst. Wir tauschen offene, feuchte Küsse aus, seine Lippen wandern weiter zu meinem Ohrläppchen, meinem Hals. Wenn ich noch hätte denken können, dann hätte ich vielleicht Angst bekommen und einen Rückzieher gemacht, aber da ist nur noch Fabian, sein Mund, der immer weiter an meinem Körper herabwandert, seine Hände, die seinen Lippen um Längen voraus sind.

Mein Kopf ist leergefegt, ich blende alles aus, das Zimmer, mein Stöhnen, die Filmposter an den Wänden. Mir wird heiss, Sterne tanzen vor meinen Augen, erst jetzt wird mir bewusst, wie lange ich mich nach diesem Moment gesehnt habe.

Fabian ist vorsichtig und zärtlich, jede seiner Berührungen sanft und immer, bevor er etwas Neues tut, erkundigt er sich, ob es für mich auch wirklich in Ordnung geht. Er ist langsam, viel zu langsam, so schrecklich langsam, dass ich mir wünsche, er würde sich nicht so sehr zurückhalten. Und ich frage mich, wie er es macht, wie er so kontrolliert und gefasst sein kann, während ich unter ihm schon längst zu einem brabbelnden, stöhnenden Durcheinander geworden bin.

Aber egal, wie sehr ich ihn anflehe und zur Eile dränge, Fabian lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Er nimmt sich genügend Zeit, um absolut sicherzugehen, dass er mir nicht weh tut. Und auch wenn er mich dadurch fast um den Verstand bringt, bin ich froh darüber, wie vorsichtig er ist, wie bedacht, wie liebevoll.

Mein erstes Mal ist dank Fabian überwältigend. Er lässt mich Dinge fühlen, von denen ich nicht gewusst habe, dass ich sie überhaupt fühlen kann. Er lässt mich vergessen, dass das, was wir tun, eine Sünde ist. Stück für Stück nimmt er mich auseinander, löst mich von Raum und Zeit, bis das einzige Wort, das in meinem Kopf übrigbleibt, Fabian ist. Sein Name in meinen Gedanken, sein Name in meinem Mund, als ich ihn ein letztes Mal ausrufe und auf einmal Sterne sehe.

 

Am nächsten Morgen wache ich auf und habe erst einmal keine Ahnung, wo ich gerade bin. Müde blicke ich mich um. Es dauert eine ganze Weile, bis mir der gestrige Tag wieder einfällt. Und die gestrige Nacht. Ich sehe zu Fabian, der neben mir auf dem Rücken liegt und in tiefen, regelmässigen Atemzügen seinen Brustkorb hebt. Er ist wunderschön, wie er so entspannt daliegt, die dunkelblonden Haare in alle Richtungen abstehend, ein fast schon seliges Lächeln auf den Lippen. Ich will ihn nicht stören, also drücke ich ihm einen sanften Kuss auf die Stirn, ziehe mich leise an und gehe nach unten ins Wohnzimmer, wo Annette und Frank auf dem Sofa sitzen und Zeitung lesen.

«Guten Morgen Elias», sagt Frank, indem er lächelnd von seiner Zeitung aufblickt. «Gut geschlafen?»

Ich nicke. «Sehr.»

«Möchtest du einen Tee?» Annette wartet meine Antwort nicht ab, sie geht direkt in die Küche und schaltet den Wasserkocher ein. Dann zählt sie eine Auswahl von Teesorten auf, an deren Ende ich mich ganz langweilig für Schwarztee entscheide.

Mit meinem Tee setze ich mich zu ihnen ins Wohnzimmer, Annette und Frank auf dem einen Sofa, ich auf dem anderen. Kurz darauf kommt auch Fabian runter. Er sieht verschlafen aus und trägt nur eine Boxershorts. Mit einem «Morgen» lässt er sich neben mich aufs Sofa fallen und drückt mir einen langen, müden Kuss auf die Lippen.

Ich erstarre bis ins Mark und mir wird glühend heiss, ehe mir einfällt, dass es okay ist, dass wir vor Fabians Eltern geoutet sind. Schüchtern lege ich einen Arm um meinen Freund, der sich wie eine Katze an mich schmiegt. Ich spüre die verstohlenen Blicke seiner Eltern, ihr unterdrücktes Lächeln, aber es fühlt sich nicht schlimm an, denn in ihren Blicken liegt nicht Böses, keine Ablehnung. Und ich merke, wie ich es geniesse, für einmal offen Zärtlichkeiten mit Fabian austauschen zu können. Seine Haare zu streicheln, einen Kuss auf seine Schläfen zu drücken, ihm beim anschliessenden Frühstück die Marmelade vom Mundwinkel zu wischen. Am liebsten wäre ich nie wieder nach Hause gefahren. 

Himmel und Hölle

Viel zu rasch sind wir wieder zu Hause. Die Rückfahrt mit dem Zug vergeht mindestens doppelt so schnell wie die Hinreise am Vortag und ich wünsche mir sehnlichst, noch nicht anzukommen, aber am frühen Nachmittag treffen wir trotz allem im Bahnhof ein. Fabian und ich haben auch während dieser Zugfahrt einen Film geschaut, nur dass Fabian diesmal viel näher an mich herangerutscht ist als am Tag zuvor. Unsere Oberschenkel waren dicht aneinandergepresst, sein Kopf lag praktisch auf meiner Schulter und ich habe mich gefühlt, als müsste ich explodieren von der Mischung aus Scham, Angst, Aufregung und Liebe.

Berauscht von diesem Hochgefühl stehen wir uns gegenüber, Fabians Blick ist anders als sonst, intensiver.

«Dann bis morgen», sage ich und schlucke schwer, keine Ahnung, woher der plötzliche Kloss in meinem Hals kommt.

«Bis morgen.»

Keiner von uns rührt sich, keiner macht Anstalten zu einem unverbindlichen Handschlag oder dazu, mit einem einfachen Winken aus dem Bahnhof zu verschwinden. Ich weiss, dass es an mir ist, über unseren Abschied zu entscheiden; wenn ich mich nur zu einer Entscheidung durchringen könnte.

«Elias?»

Fabian lacht leise auf, als ich zusammenzucke, zu sehr in meine Gedanken vertieft.

«Hm?»

«Ich muss wirklich los, meine S-Bahn fährt in zwei Minuten.»

«Ja klar. Dann bis morgen.»

Und ehe mein Gehirn Zeit hat, meine Handlung nachzuvollziehen, habe ich Fabian auch schon in einer kurzen, aber stürmischen Geste an mich gedrückt und ihm einen flüchtigen Kuss auf die Lippen gedrückt. Es ist kein guter Kuss, er sagt nicht das, was ich gerne gesagt hätte, aber Fabian versteht auch so.

Seine blauen Augen strahlen, er lächelt mich an, nickt mir zu, dann geht er davon zu den S-Bahnen und streift im Vorbeigehen wie zufällig seine Hand gegen meine. Und als ich ihm hinterhersehe, dreht er sich noch einmal kurz um, um mir zuzuzwinkern.

Erst, als Fabian ausser Sichtweite ist, ebbt die Welle an Glückshormonen ab und die Angst gewinnt erneut Überhand. Nervös blicke ich mich um, ob ich jemanden kenne, ob uns jemand beobachtet hat. Ich bilde mir ein, dass mich alle Leute anstarren und die meisten von ihnen nicht wirklich freundlich. Ich höre sie tuscheln, ich sehe bekannte Gesichter, wo keine sind, denn wer soll uns schon gesehen haben? Wer soll uns überhaupt die nötige Beachtung geschenkt haben, um den flüchtigen Kuss zu bemerken?

Das rede ich mir jedenfalls ein, während mein Körper unter den imaginären Blicken zu glühen beginnt. Ich beeile mich, die Bahnhofshalle zu verlassen und zur Bussstation zu gehen, wo der Bus glücklicherweise schon bereitsteht und ich mich in die hinterste Sitzreihe verkriechen kann.

Ich fühle mich, als würde meine Haut in Flammen stehen, doch bis ich zu Hause ankomme, ist höchstens noch ein Kribbeln zurückgeblieben, das grösstenteils durch meine ständigen Gedanken an die vergangene Nacht hervorgerufen wird.

Aufgeregt und müde schliesse ich zu Hause die Wohnungstür auf und noch ehe ich sie wieder geschlossen habe, kommt auch schon Sara aus ihrem Zimmer. Ihr dunkelbrauner Blick gleitet an mir hoch und runter, dann legt sich ein amüsiertes Lächeln auf ihre blassen Lippen und sie fragt:

«Na, wie war der Ausflug mit deinen Freunden?» Das letzte Wort betont sie besonders.

«Ganz nett», bemühe ich mich um eine harmlose Antwort, spüre aber unvermittelt, wie meine Haut erneut zu glühen beginnt und bin überzeugt, dass meine Wangen feuerrot sind.

Dass ich mit meiner Vermutung richtigliege, bestätigt Sara, die lachend fragt: «Wow, so gut?»

Ich antworte nichts weiter, da keine Worte der Welt diese Situation besser machen könnten, und gehe stattdessen peinlich berührt auf mein Zimmer. Im Vorbeigehen hält mich Sara allerdings mit ihren langen, feingliedrigen Fingern am Handgelenk fest und zwingt mich, stehenzubleiben, sie anzusehen.

Ihre dunklen Rehaugen sind ernster geworden, sie schaut mich mit schräg gelegtem Kopf an und sagt: «Du siehst glücklich aus, Elias.»

Ich spüre das Lächeln, das sich unweigerlich auf meine Lippen legt, kann aber nichts dagegen tun.

«Bin ich auch», entgegne ich, mache mich sanft aus ihrem Griff los und gehe auf mein Zimmer.

Ich packe meinen Rucksack aus, meinen Pyjama, der ein kleines bisschen nach Fabians Kinderzimmer riecht und der mich an die zarten Berührungen denken lässt, mit denen Fabian nacheinander mein Shirt und meine Hose von meinem Körper gestreift hat, bis ich-

«Noch was.»

Ich zucke zusammen und schleudere den Pyjama förmlich in die gegenüberliegende Ecke des Zimmers, dann drehe ich mich wütend zu Sara um.

«Schon mal was von Anklopfen gehört?», fahre ich sie etwas zu heftig an, während mein Herz so schnell in meiner Brust schlägt, als müsse es jede Sekunde herausspringen.

«Tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken», bringt Sara hervor, die von der Heftigkeit meiner Reaktion ebenso überrascht ist wie ich. «Ich wollte dir eigentlich nur sagen, dass Daniel und Hanna gefragt haben, ob wir gleich noch zusammen Kaffee trinken wollen. Hanna würde dich wirklich gerne sehen, sie will sich wohl bei dir entschuldigen. Du kommst doch, oder?»

Es dauert eine Weile, bis die Worte in meinem Gehirn ankommen und von mir verarbeitet worden sind. Ich nicke flüchtig, murmle ein «Ja klar», was Sara zufriedenstellt und sie aus meinem Zimmer verschwinden lässt. Dann hole ich den Pyjama, der halb über meiner Heizung und halb über dem Schreibtisch hängt, und schiebe ihn unter mein Kopfkissen. Ich bin noch nicht bereit, ihn zu waschen.

 

Wir treffen uns in einem Café, das erst neulich eröffnet hat. Die Tischplatten sind aus rauem, zerkratztem Schwemmholz, die Stühle bunt und keiner passt zum anderen. Ausserdem verkaufen sie Limonade, die mit Zutaten wie Thymian, Rosmarin oder sogar Olivenöl verfeinert wird und der ich nicht gänzlich über den Weg traue.

Sara hat mir auf dem Weg zum Café erklärt, dass sie unseren Freunden gesagt hat, ich sei krank und deshalb heute Morgen nicht in den Gottesdienst gekommen. Dadurch erspart sie mir unangenehme Fragen dazu, wo und vor allem mit wem ich das Wochenende verbracht habe, und ausserdem auch die Möglichkeit, dass meine Eltern davon erfahren. Denn wie ich durch meinen letztes Gespräch mit Hanna in Erfahrung gebracht habe, sind meine Geheimnisse bei meinen Freunden alles andere als sicher.

«Elias, wie geht’s dir? Du warst krank?», begrüsst mich Hanna mit einem besorgten Ausdruck.

Daniel ergänzt: «Lukas kommt nicht, er hat sich auch etwas eingefangen. Angeblich hat er schon seit zwei Tagen Fieber.»

Ich winke ab, erzähle etwas von Migräne und Übelkeit, die nun aber wieder vorbei seien.

«Du siehst aber immer noch etwas blass aus», bemerkt Hanna. Sie drückt ihre Hand gegen meine Stirn und nickt dann. «Fieber hast du aber keins.»

Ich lächle gezwungen und entgegne nichts. Hannas Berührung ist mir unangenehm und sie hat es scheinbar bemerkt. Jedenfalls rückt sie mit ihrem Stuhl ein ganzes Stück von mir ab, als wir uns an einen der Schwemmholz-Tische setzen.

Eine ganze Weile studieren wir die Getränkekarte und versuchen die Limonade zu finden, die sich am wenigsten abgedreht anhört. Dann unterhalten wir uns über alles Mögliche. Sara sinniert über eine Bibelstelle, die im Gottesdienst heute Morgen erwähnt worden ist, Hanna erzählt mässig unterhaltsame Geschichten von den Kunden im Blumengeschäft und Daniel gibt uns einen detaillierten Bericht der Weihnachtsfeier wieder, die nun kurz bevorsteht und auf die er mit Lukas schon seit Monaten hinarbeitet.

«Und wie läuft es bei dir, Elias? Dein Semester ist ja auch schon bald zu Ende», wendet sich Hanna irgendwann an mich, da ich ihnen bisher nur schweigend zugehört und an meiner Erdbeer-Basilikum-Limonade genippt habe.

Ich setze mich aufrecht hin und erzähle, dass alles nach Plan läuft und dass ich Ende November noch selten so gut im Stoff lag wie in diesem Jahr. Allerdings verschweige ich, dass ich das grösstenteils Fabian zu verdanken habe. Denn auch wenn wir bei ihm regelmässig allen möglichen Quatsch machen, der nichts mit der Uni zu tun hat, motiviert er mich doch immer, wenigstens eine Stunde lang an meinen Hausarbeiten zu sitzen oder zu lernen. So habe ich mir in diesem Jahr einen Vorsprung geschaffen, für den in den Jahren zuvor stets meine Winterferien draufgegangen sind.

«Du scheinst unter gutem Einfluss zu stehen», sagt Hanna und sieht mich lange an. Sie lächelt nicht, sieht aber auch nicht böse aus. Vielmehr irgendwie bedrückt.

Sara, die weiss, dass wir noch einiges zu klären haben, tippt Daniel an: «Unsere Limonaden sind schon fast leer. Wir sollten uns am Tresen neue holen. Kommst du?»

Auch wenn Daniel etwas verdattert aussieht, stimmt er zu und folgt meiner Schwester, sodass Hanna und ich alleine am Tisch zurückbleiben.

Hanna seufzt leise auf. Sie will ihre Hand auf meinen Arm legen, besinnt sich aber rechtzeitig entscheidet sich in letzter Sekunde um. «Es tut mir leid, Elias», sagt sie stattdessen leise, ohne mich anzusehen.

«Was tut dir leid?»

Nun blickt sich doch auf, ein Anflug von Ärger in ihren Augen. Aber sie schluckt ihren Stolz hinunter und sagt: «Es tut mir leid, dass ich letztens so überreagiert habe wegen deinem Kommilitonen. Ich habe mir nur Sorgen gemacht, dass du auch… Nun ja. Und dann tut es mir leid, dass ich mit Sara darüber geredet habe. Es war ein Gespräch zwischen uns, es hätte zwischen uns bleiben sollen. Ich verspreche dir, dass ich deine Geheimnisse nie wieder weitererzähle.»

Sie streicht sich eine blonde Locke hinters Ohr, dann streckt sie mir verlegen ihre Hand entgegen. «Entschuldigung angenommen?»

Ich schlage ein. «Alles wieder gut.»

Aber das ist es nicht. Es ist nicht gut zwischen uns und es gibt nichts, was Hanna im Moment tun könnte, um das zu ändern. Sie hat mein Vertrauen verletzt und nicht nur das. Auch wenn sie versprochen hat, meine Geheimnisse künftig für sich zu behalten, so weiss ich doch, dass sie es wieder tun würde. Und immer wieder. Weil ihr unsere Freundschaft nicht so wichtig ist wie die Kirche, die Gemeinde, die Bibel. Deshalb wird ihr Pflichtbewusstsein immer siegen.

Ich weiss aber auch, dass sie das nicht extra macht, dass sie nicht böswillig gehandelt hat. Deshalb sage ich versöhnlich: «Ich habe es wohl auch nicht klug angestellt, dich mit dieser Sache so sehr zu überfallen. Und ich hätte nicht gehen sollen, ohne mich vorher mit dir auszusprechen. Mir tut es auch leid. Wie wäre es damit: Ich gebe uns beiden noch eine Limo aus und wir vergessen die Sache einfach. In Ordnung?»

Hanna atmet mit hörbarer Erleichterung aus. Sie nimmt mein Angebot an und wir studieren erneut die Getränkekarte, diesmal zusammen, als wäre nichts zwischen uns gewesen.

«Du weisst, dass sie dich mag, oder?», flüstert mir Daniel beim Verlassen des Cafés zu.

Ich schaue ihn verwirrt an. «Klar mag sie mich. Wir sind Freunde.»

In gespielter Theatralik rollt er mit den Augen, dann lacht er leise auf. «Nicht so, Elias. Hanna mag dich.»

Darauf fällt mir keine Antwort ein. Stattdessen schweift mein Blick einige Male zwischen ihm und Hanna hin und her. Will er mich veräppeln oder meint er das wirklich ernst? Und Hanna, könnte sie tatsächlich in mich verliebt sein? Ich beschliesse, mir darüber vorerst nicht den Kopf zu zerbrechen.

 

Sara und ich sind eine gute Stunde vor meinen Eltern zu Hause, die scheinbar Mühe haben, sich von meinem Onkel loszumachen.

Ich liege auf meinem Bett und lese einen Krimi, als meine Schwester auf einmal im Zimmer steht. Ihr Gesicht, das in ihren dunklen, langen Haaren eingerahmt normalerweise schon relativ blass aussieht, ist regelrecht weiss. Sie streckt mir mein Smartphone entgegen und ich bemerke, wie ihre Hand dabei zittert. Kommentarlos schaltet sie das Display ein und ich muss das Gerät aus ihren Händen nehmen, um die Nachricht auf dem Sperrbildschirm lesen zu können. Letzte Nacht war einfach… wow. Kann gar nicht aufhören, daran zu denken. Ich vermisse dich xoxo. Von Fabian, versetzt mit einer Menge Herzen und Kusssmileys.

«Es lag auf dem Esstisch und plötzlich kam die Nachricht. Ich wollte sie nicht lesen, das musst du mir glauben. Aber meine Augen waren schneller.»

Sara spricht mechanisch. Unbewegt steht sie da, die dunklen Rehaugen geweitet, über ihr Gesicht flimmern dicht aufeinandergefolgt Hoffnung und Furcht.

«Ich habe mich verlesen, oder? Es muss ein Missverständnis sein.»

Noch ehe ich darüber nachdenken kann, ob ich wohl besser lügen oder ihr die Wahrheit gestehen soll, hat sie die Antwort auch schon von meinem Gesicht abgelesen. Aus meiner Verlegenheit, meinem Zögern, meinen glühenden Wangen, der Hand, die sich so sehr an das Smartphone klammert, dass die Knöchel weiss hervorstehen.

Langsam, ganz langsam schüttle ich den Kopf.

«Es ist kein Missverständnis», bringe ich hervor und muss mich räuspern, da mir die Stimme wegzufallen droht. «Es ist kein Missverständnis. Die Nachricht ist von Fabian, dem Typen, über den ich mit Hanna gesprochen habe. Der schwule Kommilitone – er ist mein Freund. Wir lieben uns.»

Sara lässt sich neben mich auf die Bettkante sinken. Sie nickt, als würden meine Worte einen tieferen Sinn ergeben, als würden sich die Puzzleteile fügen, die sie bisher nicht zusammenzusetzen vermocht hat.

«Letzte Nacht?»

«Habe ich auch bei ihm verbracht, ja.»

«Und habt ihr…?»

Ich nicke.

Sara atmet hörbar ein, ihr ganzes Wesen scheint sich gegen diesen Gedanken zu sträuben.

«Wie lange schon?»

«Seit Semesterbeginn. Wir haben uns an der Uni kennengelernt.»

Die Worte kommen nur mühsam über meine Lippen, ich schäme mich, ich fürchte mich, ich wünsche mir, der Erdboden würde sich unter mir öffnen und mich einfach verschlucken.

«Elias, hast du auch nur die geringste Ahnung, in welchen Schlamassel du dich da hineinreitest?» Sara sieht kaum besser aus, als ich mich fühle. Zu ihrem bleichen Gesicht sind tiefe, dunkle Falten in ihrer Stirn gekommen. «Du hast doch bei deinem Gespräch mit Hanna und unseren Eltern sicher bemerkt, was sie über Homosexualität denken, oder?. Was werden sie dazu sagen? Und unsere Freunde, die Nachbarn, die Gemeinde?»

Ich schlucke, doch der Kloss in meinem Hals wird dadurch nur noch grösser. Er schnürt mir gleichzeitig die Kehle zu und drückt so sehr auf meinen Magen, dass ich fürchte, mich gleich übergeben zu müssen.

«Ehrlich gesagt interessiert mich jetzt gerade mehr, was du darüber denkst», flüstere ich. Die Worte schnüren sich nur noch enger um meinen Magen, mir ist speiübel.

Sara sieht mich hilflos an. «Ich weiss es nicht.» Für einen Augenblick schliesst sie die Augen, als müsste sie sich und ihre Gedanken erst einmal sammeln. Als sie die Augen wieder öffnet, liegt etwas Mildes in ihnen. «Ich meine, bist du glücklich? Mit ihm? Macht er dich glücklich?»

«Sehr.»

Sie zuckt mit den Schultern. «Was soll ich dann sagen?»

Saras Antwort ist nicht die, die ich mir in meinen Träumen ausgemalt, aber auch nicht die, die ich in meinen Alpträumen befürchtet habe. Es ist ein Hinnehmen von dem, was nicht geändert werden kann, und dadurch schon mehr, als ich mir erhoffen konnte. Die Schlinge um meinen Magen löst sich ein wenig, der Knoten schrumpft in meinem Hals. Ich ziehe Sara in einer heftigen Umarmung an mich, drücke ihren dünnen Körper so sehr, dass ich fürchte, er müsse unter der Last meiner Erleichterung zerbrechen.

«Aber du darfst es nie jemandem erzählen, ja?», sagt sie, während leise Tränen über ihre Wange rinnen. Erst jetzt bemerke ich, dass auch ich weine.

Sanft drücke ich sie von mir weg, wische die feuchten Spuren von ihrem Gesicht, entgegne aber nichts.

«Ich mache mir Sorgen um dich, Elias. Ich will dich nicht verlieren. Ich will nicht, dass es dir ergeht wie Tom damals.» Sie spricht eindringlich und schnell, so schnell, dass der letzte Satz über ihren Lippen ist, bevor sie den Gedanken zu Ende gedacht hat.

Seit Jahren hat in unserer Gemeinde niemand mehr Toms Namen erwähnt, als hätte es ihn nie gegeben, und wir zucken beide zusammen, als er plötzlich fällt. Ich kann förmlich sehen, wie sich die Zahnräder in Saras Gehirn zu drehen beginnen, als sie an Tom zurückdenkt. An meine Freundschaft mit ihm. Ihre Augen weiten sich, aber sie fragt nicht nach. Vielleicht deshalb nicht, weil sie die Antwort nicht verkraften würde. Auch wenn sie sie eigentlich schon kennt.

Stattdessen löst sich erneut eine einzelne Träne aus ihrem Augenwinkel und sie flüstert: «Bitte sei vorsichtig und pass auf dich auf. Ich will dich nicht verlieren.»

 

Ein Date

Fabian am Montag an der Uni zu treffen fühlt sich unwirklich an. Mit meinem Verstand weiss ich, dass unser Wochenende bei seinen Eltern, mein erstes Mal, unser flüchtiger Abschiedskuss am Bahnhof, keine vierundzwanzig Stunden her sind. Gleichzeitig ist in der Zwischenzeit so viel passiert, Hannas angebliche Gefühle für mich, mein unfreiwilliges Outing bei Sara, dass es mir vorkommt, als hätten wir uns seit Wochen nicht mehr gesehen.

Fabian, der von alledem noch nichts weiss und gedanklich bei unserem Abschied am Bahnhof stehengeblieben ist, versucht sein Glück mit einem Begrüssungskuss, aber ich drehe mich weg. Wir nicken uns unangenehm berührt zu und hören uns die Vorlesung an. In der Pause vor dem nächsten Seminar blickt mich Fabian lange stumm von der Seite an, dann fragt er:

«Ist etwas passiert?»

Ohne ihn beunruhigen zu wollen, aber auch unwillig, an der Uni von meinem Outing zu erzählen, nicke ich erst, dann zucke ich mit den Schultern, nicke noch einmal.

«Nicht hier», wimmle ich ihn schliesslich ab.

Fabian hakt vorerst nicht weiter nach, besteht aber darauf, dass wir nach dem Seminar direkt zu ihm nach Hause gehen. Kaum haben wir dort die Haustür hinter uns geschlossen, sieht er mich ernst an und sagt:

«Du bist anders. Was ist los?»

Beim Gedanken an den gestrigen Abend beginnt die Welt um mich herum zu wanken und ich lasse mich auf die Couch fallen.

«Sara hat deine Nachricht gelesen. Die, die du mir gestern Abend geschickt hast. Sie ist nicht blöd, sie hat eins und eins zusammengezählt und jetzt weiss sie von uns.»

Fabian sieht weder wirklich überrascht, noch schockiert aus. Stattdessen fragt er nur ruhig: «Und? Wie hat sie reagiert?»

Ich ringe nach Worten. «Besser als befürchtet, denke ich. Sie hat mich gefragt, ob ich glücklich bin. Und als ich bejaht habe, hat sie es mehr oder weniger akzeptiert. Sie hat auch versprochen, es niemandem weiterzusagen.»

Eigentlich habe ich noch eine Menge sagen wollen, die vielen Gefühle und Gedanken beschreiben, die mir seither durch den Kopf gehen, aber mir fehlen die Worte. Und dann ist da auch Fabian, der mir aufmunternd zulächelt und seine Arme ausbreitet. Ich lasse mich von ihm an seinen warmen, starken Oberkörper ziehen, so nahe, dass kein Blatt Papier mehr zwischen uns Platz gefunden hätte. Während ich mein Gesicht in seinen Nacken presse, streicht er mir über den Kopf und den Rücken, drückt zwischendurch federleichte Küsse auf meine Haare.

«Das ist fantastisch, Elias», murmelt er. «Ich bin glücklich für dich, dass Sara es so gut aufgenommen hat. Und ich bin stolz, dass du es ihr gesagt hat.»

Er küsst mich ein letztes Mal auf die Wange, dann drückt er mich von sich weg, um mir einen prüfenden Blick zuzuwerfen. Sein Kopf ist schräggelegt, er mustert mich, als würde er direkt in meinen Kopf sehen wollen, in meine Gedanken, die ich nicht in Worte zu fassen vermag. Dieser durchdringende Blick ist es auch, der mich weitersprechen lässt.

«Da ist noch was», platze ich heraus, bevor ich weiter darüber nachdenken kann, denn eigentlich bin ich mir gar nicht sicher, ob ich mit Fabian überhaupt darüber reden will. «Hanna. Sie ist wahrscheinlich in mich verliebt.»

Ein Grinsen legt sich auf Fabians Gesicht, er greift nach meiner Hand, um unsere Finger ineinander zu verhaken. «Da hat sie leider Pech gehabt, ich war schneller», sagt er und lacht leise.

Doch mir ist nicht nach Lachen zumute. «Nein, Fabian, du verstehst es nicht.»

Er legt die Stirn in Falten, legt den Kopf erneut schräg, diesmal spielerisch. «Warum, willst du ein Harem gründen?»

Ich schüttle den Kopf. «Hör zu, Hanna ist die perfekte Tarnung für mich.»

Unverständnis auf Fabians Gesicht. Langsam lässt er seine Hand sinken, deren Finger immer noch in meine verhakt sind. Schon jetzt bereue ich, das Thema überhaupt angesprochen zu haben. Aber auch wenn Fabian jetzt noch nicht versteht, weiss ich, dass er schliesslich von selber darauf kommen würde. Einen Rückzieher kann ich also nicht mehr machen. Stattdessen entscheide ich mich für die Flucht nach vorne:

«Sara hat es herausgekriegt und wer weiss, wer noch alles dahinterkommen wird, wer uns vielleicht schon gestern am Bahnhof gesehen hat. Aber wenn ich eine Freundin hätte, wer würde dann so etwas überhaupt vermuten? Gerüchte sind bedeutungslos, wenn ich ein Mädchen an meiner Seite habe. Und Daniel hat mir erzählt, dass Hanna an mir interessiert ist. Es wäre perfekt.»

Fabian schweigt immer noch, aber mittlerweile hat er seine Hand zurückgezogen. Sein Schweigen lässt mich weitersprechen und mit jedem Wort mache ich die Situation nur noch schlimmer. «Bei Tom habe ich es auch schon so gemacht. Vielleicht erinnerst du dich an Lisa, ich habe dir von ihr erzählt. Niemand hat auch nur das Geringste geahnt damals und auch von uns wird niemand etwas ahnen.»

Kaum habe ich zu Ende gesprochen, ist Fabian auch schon aufgesprungen und hat mit ein paar grossen Schritten das Zimmer durchquert, um Raum zwischen uns zu bringen. Wir haben uns bisher noch nie gestritten, jedenfalls nie wirklich, und ich bin erstaunt, wie kalt und ablehnend er klingt, als er fragt:

«Und Tom? Fand er das geil? Abends zu Hause zu sitzen und zu wissen, dass du mit einem Mädchen auf einem Date bist? Dass du sie vielleicht gerade küsst und ihr sonst noch was miteinander tut, während er im leeren Bett auf dich wartet?»

Seine Worte sind scharf, so scharf, dass sie mein Herz regelrecht aufschlitzen. Aber sie sind nichts im Vergleich zum Blick, den Fabian mir zuwirft; eine zerstörerische Mischung aus Wut, Enttäuschung und schlichter Traurigkeit.

«Damals war Tom natürlich schon weg», gestehe ich kleinlaut ein.

Aber Fabian ist noch nicht fertig. «Ach, so ist das. Soll ich auch weg? Wäre dir das lieber? Eine zivilisierte, heterosexuelle, lieblose Beziehung mit Hanna?»

In seinen Augen glänzen Tränen, von denen sich eine einzelne löst und über seine Wange rollt. Fabian tut mir leid, denn ich weiss schon lange, wie sehr er unter der Heimlichkeit unserer Beziehung leidet. Gleichzeitig fühle ich mich aber auch schrecklich missverstanden und, zugegeben, ein wenig unfair behandelt. Immerhin ist es nicht seine Existenz, die auf dem Spiel steht, sondern meine. Für ihn ist es einfach, sein Leben wird sich durch ein Outing von mir nur zum Guten verändern. Öffentliche Küsse und Umarmungen, Händchen halten, aber mein Leben ist anders. Für mich hätte ein Outing nicht einfach ein paar Liebkosungen an der Uni oder im Park zur Folge – für mich steht alles auf dem Spiel, was mich in den letzten dreiundzwanzig Jahren ausgemacht hat. Meine Familie, Freunde, das Dach über meinem Kopf, die Finanzierung meiner Ausbildung – alles.

«Das habe ich nicht so gemeint, Fabian», versuche ich einzulenken, denn ich will keinen Streit. «Und es wäre ja auch nicht für immer. Aber Hanna würde meine Probleme wenigstens für eine Weile lösen, sie würde uns Sicherheit geben.»

Fabian schliesst seine Augen und reibt mit zwei Fingern über die geschlossenen Lider, vielleicht, um seine Gedanken zu sortieren, vielleicht aber auch, um die Tränen unauffällig wegzuwischen.

«Das kann nicht dein Ernst sein», sagt er leise. Dann öffnet er die Augen wieder, sieht mich direkt an. «Sag, dass das nicht wirklich dein Ernst ist, Elias.»

Ich sage nichts, aber mein Schweigen ist Antwort genug. Wir wissen beide, dass mein Vorschlag kein Gedankenexperiment, keine spielerische Idee ist.

Fabian nimmt einen tiefen Atemzug, dann sagt er bestimmt: «Ich will das nicht. Ich will nicht, dass du mit Hanna zusammen bist, auch wenn du nur so tust als ob. Ich kann das einfach nicht, ich würde vergehen vor Eifersucht. Und ihr gegenüber ist es auch nicht fair. Das arme Mädchen ist in dich verliebt und du willst das eiskalt ausnutzen.»

«Bitte.» Es ist alles, was ich hervorbringe. Keine Erklärung, was mit Hanna und ihren Gefühlen ist, kein Argument gegen das, was Fabian dabei empfindet, aber wer denkt in der ganzen Sache an meine Gefühle?

«Ich kann das nicht», wiederholt Fabian noch einmal. Sein Blick gleitet unruhig durch den Raum, bleibt an meinem Rucksack hängen, den ich irgendwo zwischen Eingangstür und Couch ausgezogen und auf den Boden gestellt habe. Fabian hebt ihn hoch, streckt ihn mir entgegen. Dann, ein wenig zögerlich: «Ich kann das nicht. Bitte geh jetzt, Elias. Ich brauche gerade ein bisschen Zeit, ja? Um das Ganze zu verarbeiten. Darüber nachzudenken.»

Ich wage nicht nachzufragen, ob das bedeutet, dass er sich mein Angebot noch einmal überlegt. Vielleicht hätte ich nachfragen sollen. Oder etwas anderes sagen, irgendetwas. Aber die Worte sind weg, aus meinem Kopf verschwunden. Mein erster Streit mit Fabian, seine Verletztheit, aber auch sein Unverständnis, sie alle lassen mich aufstehen und den Rucksack aus seiner ausgestreckten Hand nehmen.

Ich gehe zur Haustür, öffne sie. Die letzte Gelegenheit, meinen Stolz zu überwinden, nicht einfach wegzulaufen, eine Aussprache zu suchen. Ich lasse die Tür hinter mir ins Schloss fallen.

 

Draussen irre ich eine ganze Weile planlos durch die Gegend. Die kühle Winterluft beisst in meinen Augen und schmerzt auf meinen Wangen, dort, wo die Tränen zuvor eine nasse Spur zurückgelassen haben. Ich habe keine Ahnung, wo ich hingehen soll, mit wem ich darüber reden könnte, ich habe ja niemanden ausser Fabian, der über diese Beziehung Bescheid weiss. Fühlt es sich so an, die Gemeinde zu verlassen, alle Freunde und Familie auf einen Schlag zu verlieren? Ist es so, wie sich Tom damals gefühlt hat?

Tom. Ich ziehe das Smartphone aus meiner Hosentasche und wähle mit vor Kälte klammen Fingern seine Telefonnummer. Nach nur zwei Leerzeichen geht er ran. Ich bemühe mich, gerade Sätze herauszubringen, ihm von meinem Streit mit Fabian zu erzählen, aber Tom fällt mir ins Wort: «Elias, ich verstehe gar nichts. Komm einfach bei mir vorbei, okay? Ich habe gerade eine Pizza in den Ofen geschoben, du kannst ein Stück davon abhaben.»

Eine gute Viertelstunde später sitze ich in Toms Küche, die Pizza habe ich abgelehnt, dafür hat er mir eine Tasse heisse Schokolade gekocht, an der ich meine Finger wärme und die mir ein tröstendes Gefühl gibt.

Tom bringt eine riesige Box Taschentücher vorbei, dann lässt er mich erzählen, während er still zuhört und seine Pizza kaut. Ich brauche eine Menge Taschentücher, denn im Laufe meiner Erzählung wird mir immer mehr die aussichtslose Situation bewusst, in der ich mich befinde. Bisher habe ich immer gedacht, dass es schon irgendwie gehen wird, dass ich mich werde arrangieren können, ohne jemanden zu verlieren. Bisher hat das mit Beziehung und Familie ja auch irgendwie geklappt. Aber jetzt ist mir bewusster denn je, dass es so nicht langfristig funktionieren wird. Und dass der Tag der Entscheidung immer näher rückt. Denn wer weiss, wie lange Fabian mich noch ertragen wird.

Als ich endlich fertig bin, sieht Tom mich lange und traurig an. Dann schüttelt er den Kopf. «Du bist ein Idiot, Elias. Dein Plan ist idiotisch. Hast du auch nur die leiseste Ahnung, wie glücklich du sein kannst, jemanden wie Fabian an deiner Seite zu haben? Ich weiss nicht, wie du dir Dating in deiner rosa Welt vorstellst, bisher hattest du ja scheinbar noch nicht wirklich die Gelegenheit dazu, aber weisst du, was normalerweise passiert, wenn man seinem Date erzählt, dass man religiös ist? Er wird lächeln, dir versichern, dass es nicht schlimm ist. Und wenn du ihn am nächsten Morgen anrufen willst, hat er deine Nummer auch schon blockiert.

Religiöse Schwule sind unbeliebt, weil sie Aufwand bedeuten. Weil sie bedeuten, dass der Partner nachts aus Alpträumen aufschreckt und getröstet werden muss. Immer wieder. Weil sie bedeuten, dass man seinem Freund tausend Mal versichern muss, dass diese Beziehung kein Fehler ist und erst recht keine Sünde, und weil er es auch dann noch nicht wirklich glaubt. Das tut sich doch niemand freiwillig an! Und was hat Fabian gesagt, als du ihm erzählt hast, dass du einer Gemeinde angehörst? Hat er einen Rückzieher gemacht? Hat er sich jemals auch nur darüber beschwert, dass er draussen nicht einmal deine Hand halten darf?

Fabian ist ein Glücksgriff. Und du willst dir eine Fake-Freundin beschaffen, um deiner Familie zu gefallen. Deiner Familie, die dich verstossen würde, würde sie die Wahrheit über dich wissen. Sie würden es tun, glaub mir. Sie wären bereit, dich zu hassen. Bist du dir sicher, dass es wichtiger ist, sie glücklich zu machen als Fabian? Sei nicht dumm, Elias. Riskier es nicht, Fabian über eine so blöde Sache zu verlieren. Jemanden wie ihn findest du nicht noch einmal in deinem Leben.»

Ganz ehrlich? Mir gefällt Toms Antwort nicht. Mir gefällt nicht, dass er sich auf Fabians Seite schlägt, dass er so wenig Verständnis für mich aufbringt, auch wenn er derjenige ist, der mich am besten verstehen müsste. Natürlich hat er mit einigen Dingen recht, aber er muss doch auch wissen, dass zwischen diesen netten Worten, die auch ich mir immer wieder vorzuhalten versuche, und wirklichen Taten Welten liegen. Dass es eine Sache ist, zu wissen, dass man von der Familie nicht akzeptiert werden würde. Aber eine ganz andere, diese Familie dafür dann zu verlassen.

Vielleicht sind wir uns auch gar nicht so ähnlich, wie ich immer geglaubt habe. Vielleicht hat er kein so enges Verhältnis zu seiner Familie gehabt, vielleicht ist es ihm deshalb weniger schwer gefallen, sich von ihnen zu lösen. Das ist es dann auch, was ich ihm entgegne: «Ich bin nicht du, Tom. Ich will nicht einfach von meinem Leben davonlaufen. Ich kann es nicht.»

Er öffnet den Mund, sagt nichts, klappt ihn wieder zu. Stattdessen legt sich ein trauriger Ausdruck auf sein Gesicht. Schon der zweite Mensch, den ich heute enttäuscht habe.

«Tut mir leid, das wollte ich nicht sagen», versuche ich schnell zu revidieren, aber die Verletzung, die ich ihm durch meine Worte zugefügt habe, ist damit natürlich nicht geheilt.

Ich bleibe nicht mehr lange bei Tom. Aus Höflichkeit trinke ich meinen Kakao aus, wir sagen beide nichts mehr in dieser Zeit, dann verabschiede ich mich nach Hause.

 

Der Gedanke, am Mittwoch an der Uni Fabian wiederzugehen, bereitet mir Wort wörtlich Bauchschmerzen. Ich fühle mich, als müsste ich mich jeden Augenblick übergeben, als ich den Hörsaal betrete und mich nach ihm umsehe. Er ist noch nicht da. Wir haben seit unserem Streit am Montag keinen Kontakt mehr zueinander gehabt. Keine Nachricht, kein Anruf, nichts.

Und die Funkstille zwischen uns geht weiter. Denn als Fabian den Hörsaal erblickt, scannt er ihn nicht wie üblich nach mir ab, sondern setzt sich direkt in der ersten Reihe am Rand hin, öffnet seinen Laptop und beginnt irgendetwas zu tippen. Ich wage es nicht, mich ihm zu nähern, weder vor der Stunde, noch in der Pause oder als die Vorlesung zu Ende ist und sich der Hörsaal rasch leert. Fabian ist einer der Ersten, der seine Sachen zusammengeräumt hat und durch die Tür nach draussen schlüpft.

Ich verziehe mich in die Bibliothek, um zu lernen oder an meinen Hausarbeiten zu schreiben, aber ich kann mich nicht konzentrieren. Habe ich einen Fehler gemacht? Sollte ich mich dafür entschuldigen? Aber was, wenn ich nicht wirklich Reue empfinde? Wenn ich mich im Recht fühle?

Die Gedanken kreisen weiter, auch dann, als ich abends mit dem Bus nach Hause fahre. Auf einmal tippt mich jemand an. Ich zucke zusammen, drehe mich um und vor mir steht Hanna. Sie lacht und zieht die Kopfhörer aus ihren Ohren.

«Tut mir leid, Elias, ich wollte dich nicht erschrecken. Kommst du von der Uni?»

Ich nicke, bemühe mich, meinen fröhlichen Eindruck zu machen.

«Du warst ja richtig fleissig, so lange zu lernen. Bestimmt kriegst du dieses Semester Bestnoten, so viel, wie du studierst.»

Der Bus hält, es ist unsere Haltestelle, also steigen wir aus.

«Nun ja», antworte ich und zucke mit den Schultern. «Ich liege wirklich gut im Stoff. Aber es ist auch anstrengend, immer zu lernen. Schliesslich gibt es noch andere Dinge im Leben.»

Hanna nickt lächelnd, streicht eine blonde Locke hinter ihr Ohr.

Ich weiss, was ich im Begriff bin zu tun, und ich fühle mich schäbig und schrecklich dafür. Ich muss an Fabian denken, der vor Eifersucht vergehen würde, an Tom, der so viel mutiger war als ich, an Hanna, die es nicht verdient hat, dass ich ihr etwas vorlüge, während sie echte Gefühle für mich hegt. Und trotzdem tue ich es:

«Zeit für Menschen, die einem wichtig sind, zum Beispiel», nehme ich den Faden wieder auf. «Das ist wichtiger als die Uni und in letzter Zeit war ich nicht wirklich gut damit. Deshalb wollte ich fragen, ob wir am Wochenende vielleicht zusammen essen gehen, nur wir beide.»

Wir erreichen mein Haus und bleiben stehen. Hanna blickt mich von unten herauf an, im Licht der Laterne werfen ihre Wimpern lange Schatten auf ihre Wange.

«Gibt es einen bestimmten Grund, warum du mit mir essen gehen willst?»

Ich höre die Hoffnung in ihrer Stimme und ich bringe es nicht über mich, das Wort Date in den Mund zu nehmen. «Weil ich gerne Zeit mit dir verbringen möchte, mit dir reden. Wir haben uns doch immer schon so gut verstanden.» So kann ich immer noch einen Rückzieher machen und es als rein freundschaftliches Treffen ausgeben, sollte ich es mir anders überlegen.

Obschon ich es im Licht der Strassenlaterne nicht gänzlich ausmachen kann, glaube ich, dass Hanna rot geworden ist. Sie nickt eilig, ohne etwas zu sagen, für Hanna ein absolut untypisches Verhalten.

«Nächsten Samstag?» Ich bemühe mich um ein Lächeln, das man als mehrdeutig bezeichnen könnte, ohne dabei verfänglich zu wirken.

Auch diesmal nickt Hanna bloss. Es ist kalt und ich bin müde vom heutigen Tag, von den unproduktiven Stunden in der Bibliothek, von der Aufregung, Fabian an der Uni zu treffen, und natürlich von den beiden relativ schlaflosen Nächten seit Montag. Also verabschiede ich mich von Hanna, indem ich sie in einer kurzen Umarmung an mich ziehe.

«Bis Samstag», ruft sie mir noch zu, ehe ich durch die Haustür in die Wärme meines Zuhauses verschwinde.

 

In einer perfekten Welt

Je näher mein Date am Samstag rückt, desto aufgeregter werde ich. Es ist aber nicht das schöne, vorfreudige Kribbeln im Bauch, das ich damals bei meinem ersten Date mit Fabian verspürt habe. Vielmehr ist es eine Nervosität, eine Unruhe, durchzogen von Zweifeln und Unsicherheit. Ich versuche immer wieder, mir einzureden, dass alles in Ordnung ist, auch wenn zwischen Fabian und mir nach wie vor Funkstille herrscht.

Trotzdem gebe ich mich am Samstag betont fröhlich und erwähne am Frühstückstisch beiläufig, dass ich zum Abendessen nicht zu Hause sein werde, weil ich mit Hanna essen gehe.

Die erwünschte Wirkung bleibt zunächst aus, denn meine Mutter fragt naiv: «Kommen Lukas und Daniel denn auch?»

Meine Antwort lässt sie allerdings hellhörig werden. «Nein, es sind nur wir beide.»

Sara, die mir gegenübersitzt, wirft mir einen vielsagenden Blick zu und nickt kurz, aber anerkennend. Sie scheint meinen Plan zu verstehen und für gut zu befinden.

«Oh, ist das etwa ein Date?», schaltet sich nun auch mein Vater ein, der manchmal geradezu erpicht darauf scheint, mich endlich in einer festen Partnerschaft zu wissen.

Um ihre Hoffnungen in Zaum zu halten, zucke ich unverbindlich mit den Schultern. «Ich weiss nicht. Wir sind so lange befreundet, es ist schwierig zu sagen. Aber es könnte eins sein.» Tatsächlich hat in der ganzen Sache ja auch Hanna noch ein Wörtchen mitzureden und nur, weil sie mich bisher zu mögen scheint, heisst das noch lange nicht, dass sie auch bereit ist für eine Beziehung. Da kann ich noch so viele Pläne schmieden, um unentdeckt zu bleiben, ohne Hannas Zustimmung wird gar nichts klappen.

Mein Vater, über diese Neuigkeiten sehr erfreut, sagt: «Na, dann wird es ja vielleicht doch noch was mit dir.» Und nachdem uns allen fast gleichzeitig klargeworden ist, wie abschätzig sich das anhört: «Ich meine, nachdem die Sache im Sommer nicht geklappt hat. Jedenfalls hast du uns das Mädchen nie vorgestellt, für das du dich damals so hübsch gemacht hast.»

Ein wissender Blick von Sara, ich streite tapfer ab: «Ich hatte im Sommer kein Date.»

Bevor aus dem Gespräch ein Streit wird, schaltet sich meine Mutter ein. Beschwichtigend sagt sie: «Ist schon in Ordnung, Elias. Wir freuen uns jedenfalls für dich auf den Treffen mit Hanna heute Abend.»

Und damit hat sie in der Sache vorerst das letzte Wort.

 

Bis es Abend wird, versuche ich mich relativ erfolglos auf meine nächste Präsentation an der Uni vorzubereiten. Dabei werfe ich alle fünf Minuten einen nervösen Blick auf mein Smartphone, in der Hoffnung, eine Nachricht von Fabian aufleuchten zu sehen. Nichts.

Gerade, als ich wieder einmal dabei bin, meine ungelesenen Nachrichten zu prüfen, kommt Sara ins Zimmer und schliesst hinter sich energisch die Tür. Sie lässt sich aufs Bett fallen und dreht sich auf die Seite, um mich an meinem Schreibtisch ansehen zu können.

«Aufgeregt?»

«Ein bisschen», entgegne ich. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie das Display meines Smartphones aufleuchtet. Aber es ist nur eine Spam-Mail.

«Du wirkst nervös.» Saras dunkle Augen wandern über mein Gesicht, als würden sie darin etwas suchen.

Ich bin mir nicht sicher, ob sie wirklich von meinen Beziehungsproblemen hören will oder ob sich die Idee, dass ich mit einem anderen Mann zusammen bin, für sie noch immer zu abstrakt und zu merkwürdig anfühlt. Aber ich habe seit fast einer Woche keinen Kontakt zu Fabian mehr gehabt und nach meinem erfolglosen Gespräch mit Tom ist sie die einzige, an die ich mich noch wenden kann.

«Fabian», ich beuge mich vor und senke meine Stimme, dass meine Eltern mich auch sicher nicht hören, «mein Freund, ist nicht so begeistert von meinem Date heute Abend. Wir haben deswegen Streit und er hat sich seit Tagen nicht mehr bei mir gemeldet.»

Falls Sara dieses Gespräch komisch finden sollte, lässt sie sich jedenfalls nichts anmerken.

«Hast du ihm denn geschrieben?»

«Ja, eine ewig lange Nachricht sogar», seufze ich. «Ich habe versucht, mich zu erklären, warum ich Hanna treffe, warum es für mich wichtig ist, ein Alibi zu haben, warum ich mich nicht sicher fühle, wenn ich mit ihm in der Öffentlichkeit zusammen bin. Eigentlich weiss er auch, dass Gerüchte mich zerstören könnten, er kennt sogar Tom, er weiss, was mit ihm damals passiert ist. Aber er ist trotz allem gegen das Date. Er fühlt sich dadurch betrogen.»

Ich lege eine kurze Pause ein, um die Tränen, die sich in meinen Augenwinkeln sammeln, hinunterzuschlucken. Dann erst spreche ich weiter. «Ich habe ihm auch geschrieben, dass ich es trotzdem durchziehen werde, und das passt ihm wohl nicht. Jedenfalls hat er mir nicht geantwortet und meine Anrufe drückt er weg.»

Sara nickt, wenigstens sie scheint mich zu begreifen. «Wahrscheinlich kann Fabian einfach nicht nachvollziehen, wie es für dich ist. Seine Familie scheint ja Verständnis für ihn zu haben.»

Ich denke an Fabians Eltern, an unser Wochenende dort, und nicke schwach. Natürlich versteht er mich nicht. Natürlich darf ich nicht wütend auf ihn sein deswegen. Wer so etwas nicht selber erlebt hat, kann nicht wissen, wie es sich anfühlt, wenn die Gedanken so lange kreisen und die Gefühle so wild durcheinander toben, bis man glaubt, zu explodieren.

«Ich finde es gut, wenn du dich mit Hanna triffst», sagt Sara, die mittlerweile aufgestanden ist und mir nun ermutigend die Hand auf die Schulter legt. «Ihr kennt euch schon so lange, ihr werdet euch bestimmt gut miteinander verstehen. Und vielleicht entwickelt sich auf einmal ja doch mehr zwischen euch.»

Sie spricht so leicht, so unbedacht, und begreift nicht, was sie mit ihren Worten in mir kaputt macht. Sogar ihr wäre es lieber, wenn ich mit Hanna zusammen wäre. Ich entgegne nichts mehr, nicke bloss und schicke sie weg unter dem Vorwand, dass ich mich nun für mein Date bereitmachen muss.

 

Als ich um halb sieben das Haus verlasse, wartet Hanna draussen schon. Wir begrüssen uns in einer etwas ungelenken Umarmung und gehen zur Bushaltestelle. Ich habe einen Tisch reserviert in irgendeinem Restaurant, das ich nicht kenne, das aber sehr gut bewertet ist. Allerdings müssen wir dafür durch die halbe Stadt fahren.

«Du siehst hübsch aus», sage ich, als das Schweigen zwischen Hanna und mir zu lange dauert. Tatsächlich hat sie ihre Haare in einer komplizierten Frisur nach oben gesteckt und einen rosafarbenen Lippenstift aufgetragen – für sie eine Seltenheit.

Obschon es draussen bereits dämmert und die Strassenlaternen die Welt in ihr gelblich-fahles Licht tauchen, entgeht mir nicht, wie sich eine tiefe Röte auf Hannas Wangen legt. Sie bedankt sich, den Blick schüchtern zu Boden gerichtet. Vielleicht hätte ich ihr kein Kompliment machen sollen.

Wir schweigen weiter, als der Bus kommt, beim Einsteigen, während der gesamten Fahrt, die sich eher nach 200 als nach 20 Minuten anfühlt. Ich schaue aus dem Fenster, sehe die dunklen Strassen, die Menschen, die beleuchteten Schaufenster. Hanna sitzt neben mir, ab und an treffen sich unsere Blicke und wir schenken uns ein schwaches Lächeln, dann schaue ich wieder nach draussen.

Das Restaurant ist gut besucht, wir bekommen einen Tisch irgendwo am Rand, versteckt hinter einer Säule, sodass es eine ganze Weile dauert, bis der Kellner überhaupt auf uns aufmerksam wird und uns die Speisekarten bringt. Hanna gibt immer wieder Kommentare von sich wie «Das hört sich auch lecker an» oder «Das habe ich noch nie probiert», aber mir fällt meistens keine Antwort darauf ein, weshalb ich bloss zustimmend nicke oder den Kopf schüttle.

Ich hätte gerne ein Glas Wein getrunken – oder eine ganze Flasche – aber Hanna mag keinen Alkohol und aus Höflichkeit entscheide ich mich mit ihr zusammen für einen Eistee. Wir prosten uns zu und wenigstens Hanna scheint nun langsam in dieser merkwürdigen Situation anzukommen. Jedenfalls beginnt sie von ihrem letzten Sommerurlaub in einer Hotelanlage in Spanien zu erzählen, wo sie alle möglichen alkoholfreien Cocktails probiert hat, die sie hier nur zu gerne auf einer Speisekarte wissen würde.

Davon schweift sie zu ihrem geplanten Urlaub für nächsten Sommer ab, den sie in Südfrankreich verbringen will. Sie erzählt von Lavendelfeldern, alten Steinhäusern, der Küste, dem wilden Meer und es hätte romantisch sein können, hätte ich mich nicht so unwohl gefühlt in der Situation. Ich räuspere mich zu oft, kratze mich am Kinn oder im Nacken, während mir viel zu bewusst ist, was meine Hände gerade tun, wie sie sich ineinander verschränken, wo sie auf der Tischplatte liegen. Ich denke über meine Körperhaltung nach, wie nahe meine Beine unter dem Tisch denjenigen von Hanna sind, wie sie sich im Laufe des Abends immer weiter nach vorne beugt, während ich mich immer weiter zurücklehne.

Während ich Hanna bisher durchaus als meine beste Freundin bezeichnet hätte, in deren Gegenwart ich mich immer wohlgefühlt habe, ist sie heute Abend mehr wie eine Fremde. Sie redet zu viel, nicht untypisch für sie, aber die Art wie sie spricht, die schüchternen Lächeln, die sie mir zwischen zwei Sätzen immer wieder zuwirft, sie sind so anders als sonst. Ihre Augen suchen meine, sie hält den Blickkontakt unangenehm lange und jedes Mal bin ich es, der ihn abbricht, indem ich auf meinen Teller sehe oder an die Wand hinter ihr, wo kleine, gerahmte Bilder von Paris hängen.

Es dauert lange, bis das Essen kommt. Hanna hat ihren Eistee schon fast ausgetrunken und bestellt sich einen neuen, ich habe meinen noch kaum angerührt. Auch vom Essen bekomme ich fast keinen Bissen hinunter, egal, wie lecker es schmeckt und wie hungrig ich bin. Hanna isst ebenfalls langsam, was allerdings daran liegt, dass sie nach wie vor eine Menge zu erzählen weiss. Als der Kellner unsere Teller wieder abgeräumt hat, wird sie aber auf einmal stiller.

Sie ist tief über den Tisch gebeugt, ihr Gewicht ruht auf ihren Unterarmen und ihre Hände sind in meine Richtung ausgestreckt.

«Das war ein wirklich schöner Abend», sagt sie leise, während sich ihr Blick schon wieder in meinen bohrt. «Ich habe mir ein solches Treffen ehrlich gesagt schon sehr lange gewünscht, Elias.»

Wie sie meinen Namen ausspricht, jagt eine Gänsehaut über meinen Rücken, allerdings nicht eine der angenehmen Sorten. Hannas Gesicht ist zu nahe an meinem und ich muss mich zusammenreissen, um nicht einfach den Kopf abzuwenden. Ein sanftes Lächeln liegt auf ihren Lippen und sie neigt ihren Kopf unbewusst ein Stück zur Seite. Und irgendwie schafft sie es sogar, sich noch weiter vorzubeugen, ihre Lippen blosse Zentimeter von meinen entfernt.

Ich weiss, dass sie mich küssen will und dass ich sie küssen muss, wenn die Sache zwischen uns weiterhin eine Chance haben soll. Also atme ich tief durch, schliesse die Augen, um die Abneigung leichter zu überwinden, um mir vielleicht sogar vorzustellen, dass es Fabian ist, den ich im Begriff bin zu küssen. Und dann presse ich meine Lippen auf ihre.

Keine Sekunde kann ich glauben, dass es Fabian ist. Mit ihm fühlen sich Küsse aufregend an. Sie prickeln auf meinen Lippen, sind warm, vertraut, liebevoll und lösen Schmetterlinge in meiner Magengegend aus. Mit Hanna sind Küsse bloss feucht und ein kleines bisschen ekelhaft, begleitet vom Gefühl des Betrugs, das einen schalen Geschmack in meinem Mund zurücklässt.

Wahrscheinlich ziehe ich meinen Kopf zu schnell zurück, ringe nach Atem, meine Hand greift wie automatisch nach dem letzten Rest Eistee, der es allerdings nicht vermag, das Gefühl von Hannas Lippen auf meinen wegzuspülen. Ich bemühe mich um ein Lächeln, denn Hanna lächelt auch, ihr Blick ist noch intensiver geworden, sie streckt die Hand aus und streicht mit dem Daumen über meinen Mund.

«Du hast da etwas Lippenstift», haucht sie und wischt weiter mit ihrem Finger in meinem Gesicht herum, auch wenn ich überzeugt bin, dass die Farbe schon lange weg sein muss.

Zu meiner Rettung kommt in dem Moment der Kellner vorbei, um uns die Rechnung zu bringen. Ich bezahle wie versprochen und Hanna bedankt sich für die Einladung, während die Röte, die seit dem Kuss auf ihre Wangen gekrochen ist, noch dunkler wird.

Als ich aufstehe, tanzen kurz schwarze Punkte vor meinen Augen. Der Gedanke an Fabian hat sich wie eine eiserne Faust um meinen Brustkorb geschlossen und nimmt mir die Luft zum Atmen. Ich stütze mich an der Lehne des Stuhls ab, dann richte ich mich auf, versuche, das schäbige Gefühl von mir abzuschütteln, aber es verschwindet nicht. Tapfer atme ich gegen die Beklemmung an, helfe Hanna in ihre Jacke und halte die Tür des Restaurants für sie auf.

Als würden wir mit der Wärme auch die Worte im Lokal zurücklassen, bricht erneut beklemmendes Schweigen zwischen uns aus, während wir durch die kalten, leeren Strassen zur Bushaltestelle zurückgehen.

«Elias?», fragt Hanna nach einer ganzen Weile. Sie ist stehengeblieben, obschon es nur noch wenige Schritte bis zum Bus sind. Ich kann ihr Gesicht kaum erkennen, denn es ist von der Strassenlaterne abgewandt, aber ich höre, dass ihre Stimme belegt klingt. «Kann ich dich mal etwas fragen?»

Ich nicke, räuspere mich. «Klar.»

«Was empfindest du eigentlich für mich?»

Die Frage überrumpelt mich, komplett. Ich habe mich darauf vorbereitet, Hanna zu daten, sie zu küssen, alles zu tun, was nötig ist, damit sie meine Fake-Freundin wird. Aber ihr ins Gesicht lügen? Die Worte auszusprechen, Ich liebe dich, die aus meinem Mund niemals für sie bestimmt sind; das kann ich nicht.

Ein tiefer Seufzer entweicht mir, dann gestehe ich: «Ich mag dich wirklich gerne, Hanna. Einfach als Freundin. Ich habe gedacht, dass es mit uns klappen könnte, heute Abend, aber für mich war es einfach nur merkwürdig. In einer perfekten Welt würde ich dasselbe für dich empfinden. Wir sind füreinander gemacht, wir wären perfekt zusammen. Aber ich kann nicht. Ich empfinde nicht das Richtige für dich. Und ich will unsere Freundschaft nicht aufs Spiel setzen dafür.»

Es ist das Nächste an der Wahrheit, was ich ihr erzählen kann.

Hanna nickt, sie hat den Kopf gesenkt, einige blonde Strähnen, die sich aus ihrer Frisur gelöst haben, verdecken ihre Züge. «Da kann man wohl nichts machen», sagt sie leise.

Es zerreisst mir das Herz, sie so zu sehen, ihre Enttäuschung, ihre zerstörten Hoffnungen. Und ich weiss, dass ich es nie hätte tun dürfen, dass es falsch war von mir, mit ihren Gefühlen zu spielen, ihr etwas vorzugaukeln, was nie Wahrheit werden würde. Ich strecke meine Hand nach ihrem Arm aus, um sie zu trösten, schliesslich ist sie immer noch meine beste Freundin, aber sie weicht einen Schritt zurück.

«Lass mich bitte», sagt sie, dann dreht sie sich um, geht zur Bushaltestelle, und ich bleibe alleine auf der dunklen Strasse zurück.

 

Wie von selber tragen mich meine Füsse durch die eisige Kälte zu Fabians Wohnung und erst, als ich auf das Klingelschild mit seinem Namen drücke, wird mir bewusst, wo ich gelandet bin. Ich klingle lange, einmal, zweimal, beim dritten Mal höre ich auf einmal Fabians verschlafene Stimme durch die Gegensprechanlage.

«Hier ist Elias.» Keine Antwort. «Kann ich hochkommen?»

Fabian legt auf und ich fürchte schon, dass er mich einfach draussen stehen lässt, doch dann ertönt der Türsummer. Ich steige die Treppe nach oben zu seiner Wohnung, er steht im Türrahmen, nur mit einer Boxershorts und einem Schlafshirt bekleidet. Seine Haare stehen in alle Richtungen ab, er sieht müde aus und sein Kopfkissen zeichnet sich auf seiner rechten Wange ab.

Als er mich sieht, gräbt sich eine tiefe Falte zwischen seine Augenbrauen. Er mustert mich einen Augenblick stumm, dann macht er einen Schritt zur Seite und lässt mich eintreten. Ich versuche, ihn zu umarmen, aber er macht bloss einen weiteren Schritt zurück. Also ziehe ich Schuhe und Jacke aus und setze mich auf sein Sofa.

Fabian schliesst die Tür, dann lässt er sich mir gegenüber aufs Bett fallen.

«Ich habe Hanna getroffen», breche ich hervor, bevor er mich danach fragen kann. «Heute Abend. Es war schrecklich. Wir waren wie zwei Fremde, alles hat sich so falsch angefühlt, ich bin mir vorgekommen wie ein Betrüger. Bin ich auch. Wir haben uns geküsst. Ich wollte es nicht, aber auf einmal war Hanna so nah und ich wusste, dass ich es tun muss, dass sie es wollte.» Ich mache eine kurze Pause, um nach Atem zu ringen. «Aber ich schwöre dir, ich habe die ganze Zeit über nur an dich gedacht. Und dann habe ich ihr gesagt, dass ich nichts für sie empfinde. Fabian, es tut mir so leid, ich habe einen riesigen Fehler gemacht.»

Fabian schaut mich stumm an, die Falte zwischen seinen Augenbrauen ist sanfter geworden. Ich spüre die Tränen auf meinen Wangen und wische sie in einer flüchtigen Geste weg.

«Ich habe ein so schlechtes Gewissen», spreche ich weiter, weil mir das Schweigen so unerträglich scheint. «Ich bin ein riesiger Idiot.»

Fabians Mund verzieht sich zu einer Grimasse, die man vielleicht als Lächeln hätte bezeichnen können, wenn auch als ein groteskes. «Das bist du wirklich», sagt er sanft. «Aber immerhin hast du es eingesehen.»

Mehr heisse Tränen auf meinen Wangen. Ich habe Fabian nicht verdient, sein grenzenloses Verständnis, seine Zärtlichkeit, seine Geduld.

«Hanna schien eine so einfache Lösung, dabei hat sie alles nur noch schlimmer gemacht», spreche ich weiter. Ich muss es tun, ihn von meiner Reue überzeugen. Nur nicht schweigen, ihm keine Gelegenheit geben, mich rauszuschmeissen, nicht, so lange er mir nicht verziehen hat. Ich glaube nicht, dass ich es ertragen könnte, noch länger mit ihm zu streiten.

Doch bevor ich meine ausschweifende Entschuldigung fortsetzen kann, ist Fabian auch schon vom Bett aufgestanden und hat sich direkt auf meinen Schoss gesetzt, die Knie links und rechts neben meiner Hüfte platziert. In einer liebevollen Geste wischt er die Tränen von meinen Wangen, die unermüdlich aus meinen Augen kullern. Doch sein Ausdruck von Besorgnis, seine rührende Fürsorge, sein Geruch, den ich so sehr vermisst habe, sie alle lassen mich nur noch stärker weinen.

«Es ist okay, Elias», murmelt Fabian beruhigend, während er über mein Gesicht und durch meine Haare streicht. «Es ist okay, die Sache ist vergeben und vergessen.»

Ich bemühe mich ehrlich, die Tränen hinunterzuschlucken, aber sie wollen noch nicht versiegen.

Fabian beugt sich weiter nach vorne, er küsst die feuchten Spuren von meiner Wange, er küsst meine heisse Stirn und schliesslich meinen Mund, küsst ihn so lange, bis ich endlich nicht mehr Hanna auf meinen Lippen schmecke, sondern wieder ihn.

«Ich habe dich vermisst», flüstert er in mein Ohr. Sein Atem kitzelt mich. «Ich habe dich so sehr vermisst.»

In einer kunstvollen Pause nippt er an meinem Ohrläppchen. Ich atme scharf ein, ein Schauer jagt durch meinen Körper.

«Dich an der Uni zu sehen war schrecklich. Im selben Hörsaal wie du zu sitzen, aber nicht mit dir sprechen zu können, dich nicht einmal anzusehen. Ich habe es kaum ausgehalten.»

Ich öffne meinen Mund, um etwas zu entgegnen, doch Fabian nutzt diese Gelegenheit, um mich in einem stürmischen, sehnsuchtsvollen Kuss in Beschlag zu nehmen. Wir verschlingen ineinander, unsere Münder, unsere Gliedmassen, unser Atem, einfach alles.

Wie schon am Wochenende zuvor verbringe ich auch diesmal die Nacht bei ihm. Und sie ist noch viel schöner als unsere erste.

 

Am nächsten Morgen bin ich früh wach. Mein Handy zeigt einige verpasste Anrufe meiner Mutter und eine besorgte Nachricht, in der sie sich nach meinem Befinden erkundet. Sie hat Hanna alleine nach Hause kommen sehen, von mir keine Spur. Und sie macht sich Sorgen, weil ich die ganze Nacht über kommentarlos weggeblieben bin. Ich tippe eine kurze Antwort, in der ich ihr erkläre, dass das mit Hanna und mir nicht geklappt hat und dass ich bei einem Freund übernachtet habe, um etwas Abstand zu gewinnen.

Dann stehe ich auf und koche Kaffee für Fabian. Ich stelle die Tasse auf seinen Nachttisch und lege mich zurück ins Bett, während er langsam aufwacht. Er streckt sich, gähnt, blinzelt mich verschlafen an, lächelt. Als Antwort küsse ich seine Schläfe, seine Stirn, die blassen Sommersprossen auf seinen Wangen, seine Nase und schliesslich auch seinen Mund.

«Gut geschlafen?», murmle ich, als sich unsere Lippen wieder voneinander lösen.

Fabian nickt.

«Kaffee?» Ich deute auf die dampfende Tasse auf seinem Nachttisch.

Er sagt immer noch nichts, lächelt aber dankbar, setzt sich auf und trinkt einen Schluck.

«Na, was hast du heute vor?»

Meine Frage lässt ein verschmitztes Lächeln auf seinen Lippen erscheinen. Er stellt die Tasse zurück auf den Nachttisch, beugt sich zu mir nach unten, verwickelt mich in einen hungrigen Kuss. «Ich dachte, wir könnten den ganzen Tag im Bett verbringen.»

Ein leiser Seufzer entgleitet mir bei diesem Gedanken, aber ich habe bereits andere Pläne.

«Wie wäre es hiermit?», frage ich stattdessen und zeige ihm eine E-Mail mit dem Kauf, den ich während des Kaffeekochens getätigt habe.

Fabian nimmt mir das Smartphone aus der Hand, liest, legt die Stirn in Falten. «Kinotickets?»

«Eine romantische Komödie. Ich weiss nicht, ob du auf sowas stehst, aber ich dachte, das wäre vielleicht gar nicht so schlecht für unser zweites Date. Falls du mich denn überhaupt noch daten willst.»

Ein freudiges Lächeln breitet sich über Fabians Gesicht. «Natürlich will ich.»

Und so gehen wir zusammen ins Kino. Im Foyer halten wir Händchen, ich spendiere uns eine Tüte Popcorn. Fabian hält den ganzen Film über seine Hand auf meinen Oberschenkel gelegt. Bei den romantischen Stellen küssen wir uns und als wir den Kinosaal wieder verlassen, legt Fabian sogar seinen Arm um meine Hüfte. Es fühlt sich alles merkwürdig an, fremd, verunsichernd. Aber richtig. Viel richtiger als es mit Hanna jemals hätte sein können.

 

Kaffeeküsse

Ich vermisse Fabian, auch wenn ich am Sonntag nach dem Kino erst spät nach Hause gehe und ihn am Montag in der nächsten Vorlesung schon wiedersehe. Aber die Zeit dazwischen ist traurig und einsam. Obschon ich erst wenige Nächte bei ihm verbracht habe, habe ich mich bereits daran gewöhnt, beim Aufwachen neben mich zu tasten, seinen warmen Körper zu spüren, seine Haut unter meinen Fingern, den Stoff seines Shirts. Ich habe mich an seinen tiefen, regelmässigen Atem gewöhnt, der mich im Nacken streift, und an das Kitzeln seiner Haare auf meiner Wange. Ich wünsche mir, jeden Tag neben ihm aufwachen zu können.

An der Uni im fast noch leeren Vorlesungssaal bin ich aufgeregt, kleine Schmetterlinge fliegen durch meinen Magen und beginnen erst recht zu flattern, als Fabian durch die Tür tritt. Sein Gesicht hellt sich auf, sobald er mich sieht, und er kommt mit zielstrebigen Schritten auf mich zu. Er will sich an mir vorbei auf einen freien Platz drängen, aber ich stoppe ihn mit der Hand auf seiner Brust, greife nach seinem Shirt und ziehe ihn zu mir hinunter, um ihm einen kurzen, heftigen Begrüssungskuss auf die Lippen zu drücken. Fabian schnappt überrascht nach Luft, dann fasst er sich, gibt mir sogar einen zweiten Kuss, als ich ihn schon wieder losgelassen habe.

«Wow, hier hat aber jemand gut geschlafen», lacht er. Dann drängt er sich an mir vorbei und setzt sich. Erst jetzt bemerke ich die zwei Becher, die Fabian in der Hand hält und von denen er einen vor mich und einen vor sich auf den Tisch stellt.

«Ich habe dir Tee mitgebracht, Schatz.»

Ich lächle, bedanke mich, spüre, wie das Blut in meine Wangen schiesst. Der Kuss, der Tee, es ist das, was ich immer gewollt habe, aber es fühlt sich irgendwie surreal an. Verstohlen lasse ich meinen Blick durch den Hörsaal schweifen. Niemand schenkt uns Beachtung, kein Starren, kein Tuscheln, wie ich es mir in meinen Alpträumen immer ausgemalt habe. Stattdessen stosse ich auf eine überraschende Menge an – Gleichgültigkeit.

Meine Gedanken werden von Fabian zurückgeholt, der zwischen zwei Schlucken Kaffee über den gestrigen Film zu sprechen beginnt. Es war kein sonderlich guter Streifen, vorhersehbar und etwas oberflächlich, und wir haben schon gestern Abend viel zu lange darüber geredet, aber ich höre Fabian gerne nochmal dabei zu. Ich stelle mir vor, dass es seine Art ist, mir zu sagen, dass er unser Date genossen hat. Und dass er mir verzeiht.

Seine blauen Augen funkeln begeistert, irgendwann kurz vor Vorlesungsbeginn küsse ich ihn ein drittes Mal. Der Raum ist nun fast voll und sein Kuss schmeckt nach Kaffee, aber Fabians Lippen machen süchtig. Genauso wie der kleine Adrenalinschub, der bei jeder Zärtlichkeit, die wir austauschen, durch meine Venen schiesst. Die Freude über unsere Offenheit, gemischt mit der Furcht, von den falschen Menschen beobachtet zu werden, macht mich wie betrunken und lässt mich jegliche Vernunft oder Vorsicht vergessen. Unsere Beziehung geheim zu halten ist so lange einfach gewesen, bis ich ihn am Bahnhof geküsst habe und seit unserem Kinobesuch gestern Abend ist es noch schwieriger. Es waren kleine Erlebnisse, aber sie wiegen mich in der falschen Sicherheit, dass es gut geht, wenn wir zusammen in der Öffentlichkeit sind, dass uns nichts passieren kann.

Als wir nach der Stunde in den nächsten Raum wechseln, halte ich Fabians Hand, während des Seminars legt er seine Hand auf meinen Oberschenkel. Nach der Uni gehen wir in die Kantine und trinken Tee. Fabian berührt mich an der Wange, er streicht mir die Haare hinters Ohr, lehnt seinen Kopf gegen meine Schulter, alles so, als wäre es die natürlichste Sache der Welt.

Erst abends alleine in meinem Bett spüre ich, wie anstrengend der Tag für mich war, wie sehr ich mich verkrampft habe beim Versuch, locker zu sein. Ich weiss, dass Fabian sich darüber freut, uns nicht länger geheim halten zu müssen, und ich weiss auch, dass ich es ihm nach der Sache mit Hanna quasi schuldig bin. Es ist auch nicht so, als würde ich es nicht wollen, nur bin ich ständig von Angst begleitet, vom Schatten einer dunklen Vorahnung, denn ich weiss, dass das nicht gut gehen kann.

 

Obschon ich damit gerechnet habe, bin ich überrascht, wie schnell das Unheil seinen Lauf nimmt. Es dauert keine Woche, ehe mich Sara nach dem Abendessen in ihr Zimmer zieht. Sie hat mir schon den ganzen Nachmittag über merkwürdige Blicke zugeworfen, die ich allerdings meiner Fantasie zugeschrieben habe. Seit Montag habe ich mir immer wieder eingebildet, bekannte Gesichter und verächtliche Blicke zu sehen, wo keine sind. Aber nicht bei Sara.

«Elias, ich-» Sie bricht ab, presst das Ohr gegen ihre Zimmertür. Unsere Eltern sitzen beide im Wohnzimmer.

Sie fasst mich am Handgelenk und zieht mich zu sich aufs Bett. Dann stecken wir die Köpfe zusammen, als wären wir Kinder, die gerade einen Streich aushecken. Ihre langen, braunen Haare streifen meine Schultern und sie erzählt: «Ich wurde heute gefragt, ob du schwul bist.»

Mein Herz setzt bei diesen Worten einen Schlag lang aus, danach beginnt es umso heftiger zu pochen.

«Scheinbar hat man dich gesehen, an der Uni, mit… mit deinem Freund.»

Natürlich hat man das. Unsere Gemeinde ist gross und gut vernetzt, jeder kennt jeden, jeder hat seine Augen und Ohren überall.

«Wer?», stelle ich die falsche Frage, vielleicht aus Furcht vor allen anderen, und Sara kann sie mir nicht einmal beantworten.

«Keine Ahnung. Aber eine Mitschülerin hat mich gefragt, scheinbar hat ihre ältere Schwester etwas davon gehört.»

«Was hast du geantwortet?»

Sara seufzt leise auf. «Dass das nicht stimmt, natürlich. Ich habe von deinem Date mit Hanna erzählt, auch wenn nicht wirklich hilft, dass das so kläglich gescheitert ist. Es sind bloss Gerüchte, ich habe ihr gesagt, dass nichts dran ist. Obschon das auf die meisten Gerüchte nicht wirklich zutrifft.»

Ich weiss, dass Sara nicht gerne lügt, aber ich weiss auch, dass sie es für mich immer tun würde. So war es schon als Kind. Um ihr meine Dankbarkeit zu zeigen, greife ich nach ihrer Hand und drücke sie, aber sie zögert, meine ebenso zu drücken.

«Es ist gut, dass ich es zuerst erfahren habe. Stell dir vor, Mama oder Papa hätten das Gerücht gehört, sie hätten es bestimmt nicht auf die leichte Schulter genommen.»

«Sie werden es hören, früher oder später. Jetzt, wo es gestreut ist.»

Ein erneuter Seufzer von Sara, endlich drückt sie meine Hand, sieht mich lange schweigend an aus ihren tiefbraunen Rehaugen, die in letzter Zeit mit so viel Schmerz durchzogen sind. Ich hasse es, derjenige zu sein, der sie so schauen lässt. Normalerweise ist sie fröhlich, gut gelaunt, unbeschwert. Aber diese Unbekümmertheit ist seltener geworden, seit ich mich vor ihr geoutet habe. Nun ist ein Hauch von Besorgnis ihr ständiger Begleiter, in jedem Blick, jedem Wort, jeder Geste.

«Willst du es nicht noch einmal mit Hanna probieren?»

Ich könnte loslachen, wenn die Situation nicht so ernst wäre. «Als würde sie mir noch eine Chance geben. Als würde sie mich immer noch daten wollen nach alldem. Oder ich sie. Nein, das mit Hanna war keine gute Idee.»

«Es war eine Lösung», widerspricht Sara etwas zu heftig. «Vielleicht keine langfristige, aber ich müsste mir damit nicht jeden Tag Sorgen machen, eines Tages von der Schule nach Hause zu kommen und von Mama und Papa zu einem Gespräch gebeten zu werden. Ein Gespräch, in dem sie mir von Gerüchten erzählen werden, die sie über dich gehört haben. Sie werden mich fragen, ob ich davon gewusst habe, und du weisst, wie schlecht ich lügen kann. Ich muss dich entweder verraten oder ich werde mit dir zusammen verstossen, Elias.»

Sie wendet sich von mir ab, lässt meine Hand los, wischt sich übers Gesicht. Wahrscheinlich sind es Tränen, die ihr über die Wange kullern.

«Das wird nicht passieren», verspreche ich, auch wenn ich keine Ahnung habe, wie ich das halten soll. Aber es ist das, was ich sagen muss, um Sara zu beruhigen. Ich lege meine Hand sanft auf ihre Schulter, streiche ihre dunkelbraunen Haarsträhnen zurück und wiederhole beruhigend: «Es wird nicht passieren. Ich schwöre es dir. Ich werde einen Ausweg finden, der dich aus dem Spiel lässt.»

Ihre Schulter zittert unter meiner Berührung, doch sie sagt nichts.

«Und falls sie dich trotzdem jemals danach fragen sollten, dann lüg. Verrat mich, es ist egal, sie würden auch ohne deine Hilfe dahinterkommen. Sag ihnen, wie abscheulich du es findest, einen schwulen Bruder zu haben. Es ist okay.»

Sara schweigt immer noch. Vielleicht haben sich meine Worte in ihren Ohren sarkastisch angehört, auch wenn sie nicht so gemeint waren. Ich will sie wirklich in nichts hineinziehen. Sie wird sich entscheiden müssen und ich werde nicht von ihr verlangen, all ihre Freunde und die Familie zurückzulassen.

Ich nehme meine Hand von ihrer Schulter, will mich schon zur Tür wenden und ihr Zimmer verlassen, da löst sich Sara aus ihrer Starre. Sie fällt mir um den Hals, zieht mich eng an sich, presst ihr Gesicht gegen meinen Nacken, wo die Tränen nasse Spuren hinterlassen. Meine Hände streichen wie von selbst durch ihr Haar und über ihren Rücken, mein Mund murmelt beruhigende Worte, so lange, bis sie aufgehört hat zu weinen und sich sanft von mir wegdrückt.

Wir lächeln uns einigermassen schief an, beide mit Tränen auf den Wangen und geröteten Augen.

«Ich habe dich lieb, Elias», flüstert Sara. Meine Antwort bleibt mir im Hals stecken und erst im zweiten Versuch bekomme ich ein «Ich dich auch» heraus.

 

«Du gehst noch weg?», vernehme ich die erstaunte Stimme meiner Mutter aus dem Wohnzimmer, als ich eine knappe Viertelstunde später die Haustür aufschliesse. «Um diese Zeit?»

«Etwas Kurzfristiges für die Uni», erwidere ich wenig überzeugend und bevor sie weitere Fragen stellen kann, bin ich auch schon nach draussen geschlüpft.

Ich wähle Fabians Nummer, einmal, zweimal, aber er geht nicht ran. Trotzdem mache ich mich auf den Weg zu seiner Wohnung in der Hoffnung, dass er vielleicht gerade Musik hört oder unter der Dusche ist.

Im Bus wähle ich die zweite Nummer, die mir einfällt. Tom. Er geht fast sofort ran.

«Elias. Alles klar bei dir?»

Nach meinem Date mit Hanna und meiner Versöhnung mit Fabian am Wochenende habe ich Tom eine kurze Nachricht geschrieben, ich bin aber noch nicht dazugekommen, mich mit ihm auszusprechen oder persönlich für mein Verhalten bei ihm zu entschuldigen. Aber das wird jetzt warten müssen.

Stattdessen hole ich tief Luft und erzähle ihm leise von dem Gerücht. Der Bus ist zwar beinahe leer, trotzdem strebe ich es nicht an, von den anderen Fahrgästen belauscht zu werden. In knappen Worten fasse ich zusammen, wie sich meine Beziehung mit Fabian verändert hat und dass die ersten Gerüchte schon bis zu Sara vorgedrungen sind.

«Scheisse. Aber deine Eltern wissen noch nichts?», hakt Tom nach.

«Ich glaube nicht.»

«Wo bist du jetzt?»

Ich erzähle, dass ich auf dem Weg zu Fabian bin, und lasse aus, dass ich mich noch gar nicht bei ihm angekündigt habe.

«Soll ich auch kommen?»

Ein kurzes Zögern. Will ich mit Fabian alleine sein oder Tom mit seinem Verständnis und seinen Erfahrungen doch lieber dabeihaben? Dann sage ich zu.

Kurze Zeit später stehe ich vor Fabians Wohnblock, klingle und werde zu meiner Erleichterung tatsächlich hereingelassen. Fabian sieht mindestens so besorgt aus, wie Tom sich angehört hat.

«Es tut mir so leid, Schatz, ich habe deine Anrufe nicht gesehen. Was ist los?»

Fabian wartet meine Antwort nicht ab, sondern zieht mich direkt an sich heran, drückt mir einen langen Kuss auf die Stirn, und lässt mich nicht los, bis ich zu sprechen beginne.

Ich wiederhole, was ich schon Tom erzählt habe, wobei Fabian die Nachrichten gar nicht so negativ aufnimmt.

«Dann hast du jetzt wenigstens einen Grund, dich vor deinen Eltern zu outen.»

Das Wort Outing lässt meine Beine weich wie Pudding werden. Ich bitte Fabian, dass wir uns setzen, und erzähle ihm gleichzeitig von Tom, bestimmt bald da sein wird. Auch das nimmt Fabian mit Gelassenheit.

«Er wird dir sicher weiterhelfen können.»

Und tatsächlich lässt Tom sich nicht lange bitten. Noch während Fabian Teewasser kocht, klingelt es schon an der Tür. Fabian hat kaum aufgeschlossen, da kommt Tom auch schon auf mich zu und nimmt mich ebenfalls lange in den Arm.

«Keine Angst, alles wird gut werden», versichert er mir, was ich kaum eine Stunde zuvor schon Sara versichert habe. Hoffentlich hat er nicht genauso viele Zweifel an seinem Versprechen wie ich.

Wir setzen uns zu dritt auf die Couch, jeder eine dampfend heisse Tasse Tee vor sich auf dem kleinen Tischchen, dann erzähle ich ein drittes Mal alles, was ich von Sara weiss, diesmal so ausführlich wie möglich, auch wenn es nicht viele neue Informationen sind.

«Oute dich», wiederholt Fabian, was er zuvor schon gesagt hat, und zu meinem Leidwesen pflichtet Tom ihm bei:

«Gerüchte sind in der Gemeinde verdammt schnell, Elias. Ich habe damals am Abend meiner Mutter erzählt, dass ich schwul bin, und am darauffolgenden Mittag wusste es die ganze Welt. Klar, bei mir war es Gewissheit, bei dir sind es Vermutungen, aber die werden sich schnell hochschaukeln. Deine Freundschaft mit mir früher, die Geschichte, die du Hanna über deinen homosexuellen Kommilitonen erzählt hast – all das werden sie rasch zusammenkriegen. Und natürlich werden sie nicht die Klappe halten können, sie werden als allererstes zu deinen Eltern rennen und sie danach fragen.»

Ich nicke stumm, während sich eine unsichtbare Hand um meinen Brustkorb legt. Auf einmal wird mir die Machtlosigkeit meiner Situation bewusst, meine komplette Unfähigkeit, aus eigener Kraft irgendetwas tun zu können, die Gerüchte zu stoppen.

«Und was machen wir jetzt?», fragt Fabian an meiner Stelle. Mein Hals ist wie zugeschnürt, Worte passen nicht mehr hindurch.

Tom greift nach seiner Tasse, trinkt einen vorsichtigen Schluck, dann sagt er langsam: «Ihr seid im Moment im Vorteil, denn ihr habt den Wissensvorsprung. Ihr kennt die Gerüchte, sie noch nicht. Das müsst ihr ausnutzen. Wenn du es ihnen von dir aus erzählst, ist es vielleicht weniger schlimm, als wenn sie es von anderen erfahren und dich anschliessend danach fragen müssen. Also wäre mein Tipp wohl, jetzt anzugreifen. Zurückgehen kannst du nicht mehr und wenn du wartest, verspielst du dir vielleicht deinen entscheidenden Vorteil.»

«Welchen Vorteil?» Meine Stimme bricht und schon wieder steigen mir Tränen in die Augen. Fabian legt beruhigend seine Hand auf meinen Arm und zeichnet kleine Kreise. Ich räuspere mich, atme tief durch, ehe ich weiterspreche: «Glaubst du ernsthaft, sie werden mich akzeptieren, wenn ich mich von selber oute?»

Tom will den Kopf schütteln, ich sehe es genau, ich sehe, wie er dazu ansetzt, sich aber im letzten Augenblick besinnt und die Geste in ein Schulterzucken umwandelt. «Ich denke, dass das Gespräch deutlich unangenehmer wird, wenn sie die Gerüchte schon kennen», weicht er aus.

Dann greift er schon wieder nach seiner Tasse, senkt seinen Blick auf die dunkle Flüssigkeit darin, trinkt zu langsam davon.

Hilfesuchend schaue ich zu Fabian, der sich um ein beruhigendes Lächeln bemüht. «Wir kriegen das schon hin. Wir outen uns zusammen bei deinen Eltern, ja? Ich komme mit, wir sagen es ihnen gemeinsam. Was ist das Schlimmste, was dabei passieren kann?» Und weil ich wahrscheinlich nicht so begeistert aussehe, wie er sich das erhofft hat, schiebt er nach: «Natürlich nur, wenn du das willst.»

Fabian bei meinen Eltern? Meinen Eltern meinen Freund vorstellen? Die beiden Welten, die sich wie zwei verschiedene Leben anfühlen, zusammenbringen, in ein kleines Wohnzimmer? Fabian, der dabei ist, der vielleicht meine Hand hält, während ich mich oute. Meine Eltern, so verwirrt von der ganzen Situation, dass sie gar nicht wissen, wen sie zuerst anschreien, wen sie zuerst rauswerfen sollen. Ich will es Fabian nicht antun. Ich kann es ihm nicht antun. Aber alleine schaffe ich es nicht, alleine werde ich es ihnen niemals sagen. Alleine wird es mich töten.

«Das wäre schön, wenn du mitkommst», sage ich leise. Ich schaue zu Fabian, der mir lächelnd zunickt, der gar nicht ahnt, was auf ihn zukommen wird. Fast sieht es aus, als würde er sich sogar darüber freuen.

«Das ist eine gute Idee», schaltet sich nun auch Tom wieder ein. Seine Gesichtszüge sind mild, er schenkt Fabian ein warmes Lächeln und ein Nicken, ich glaube aber auch, so etwas wie Bitterkeit darin zu sehen. «Den Beistand wirst du sicher gut gebrauchen können.»

«Dann machen wir das? Outing, du und ich, bei deinen Eltern?»

Fabian streckt mir seinen kleinen Finger entgegen, damit ich es ihm schwöre. Ich strecke meine Hand aus, lasse sie in der Luft zwischen uns hängen, während drei Augenpaare wie gebannt ihre Bewegung verfolgen. Schliesslich verhake ich  widerwillig meinen kleinen Finger in seinem und sage: «Wir outen uns.»

 

Das Abendessen

Es tut mir leid, dass das Kapitel so spät kommt, ich hatte Mühe damit, es überhaupt zu schreiben.

An dieser Stelle möchte ich auch eine explizite TRIGGERWARNUNG für Homophobie, homophobe Beleidigungen, Drohungen, physische und psychische Gewalt sowie missbräuchliche Eltern aussprechen. Passt bitte auf euch und eure mentale Gesundheit auf!

 

«Mom, ist es okay, wenn heute Abend jemand zum Essen vorbeikommt?»

Ich habe lange überlegt, wie ich die Frage formulieren soll, ob ich ein Freund oder ein Kommilitone sagen soll, aber ich habe mich für jemand entschieden, weil es sich am unverfänglichsten anhört.

«Natürlich ist das okay. Wer kommt vorbei, Hanna?»

Ich bemühe mich, die Hoffnung in der Stimme meiner Mutter zu überhören. Seit meinem gescheiterten Date quält sie mich ständig mit Fragen nach Hanna, danach, ob wir uns wiedersehen und ob wir vielleicht sogar schon zusammen sind.

«Nein, jemand von der Uni.»

«Oh», sagt meine Mutter mit hörbarer Enttäuschung. Wenn sie wüsste, wie sehr ich sie an diesem Abend noch enttäuschen werde.

 

«Wann kommt dein Besuch?»

Meine Mutter steht in der Küche und schiebt gerade eine Auflaufform in den Ofen. Ich habe ihr schon mindestens viermal erklärt, dass er um sechs da sein wird. Jetzt ist es zwei Minuten vor sechs und ich glaube, dass sie nur gefragt hat, um auf eine allfällige Verspätung aufmerksam zu machen, sollte es nicht in den nächsten Minuten an der Haustür klingeln. Meine Mutter hasst Unpünktlichkeit und ich hoffe inständig, dass Fabian nicht zu spät kommt. Ansonsten ist sein erster Eindruck ruiniert. Als würde es irgendeine Rolle spielen.

«Sollte gleich hier sein.»

«Du bekommst Besuch?», schaltet sich nun auch Sara ein, die die Angewohnheit hat, bis kurz vor dem Essen auf ihrem Zimmer zu bleiben und auch sonst nicht viel von dem mitbekommt, was bei uns passiert.

«Jap.»

Ich nicke und will weglaufen, doch ihr Blick nagelt mich auf der Stelle fest. Es ist ein besorgter Blick. «Doch nicht etwa - ?»

Sie spricht nicht zu Ende, aber der bedeutungsschwere Ausdruck auf ihrem Gesicht verrät mir, dass sie verstanden hat. Gleichzeitig gräbt sich eine tiefe, ernste Falte zwischen ihre Augenbrauen.

Bevor ich antworten kann, werde ich glücklicherweise vom Klingeln an der Haustür erlöst.

«Doch», entgegne ich in dem Augenblick, in dem ich die Tür öffne, um Fabian eintreten zu lassen.

Er trägt das dunkelblaue Hemd, dass ich an ihm so gerne mag, weil es seine ebenso blauen Augen betont, ausserdem hat er für meine Mutter einen Blumenstrauss und für meinen Vater eine Flasche Rotwein mitgebracht. Offensichtlich bemüht er sich, bei meinen Eltern einen guten Eindruck zu hinterlassen und ihre Gunst zu gewinnen. Mehr sogar, als ich mich bei seinen Eltern bemüht habe, wie ich ein wenig peinlich berührt feststelle.

«Hi», begrüsse ich ihn, von einer plötzlichen Nervosität gepackt. «Komm rein.»

Ich stelle Fabian meinen Eltern und meiner Schwester vor, er ist sehr höflich und überspielt ihre Irritation darüber, dass ich niemanden aus der Gemeinde zum Essen nach Hause bringe, als hätte er sie gar nicht bemerkt. Stattdessen lobt er meine Mutter, wie lecker das Essen riecht, und bemüht sich, mit meinem Vater eine Konversation über Fussball zu führen.

Für mich fühlt es sich unwirklich an, Fabian in unserem zu Hause zu sehen. Es ist, als würden zwei Welten aufeinanderprallen, die nicht einmal aus derselben Galaxie stammen und dieser Aufprall ist so heftig, dass ich überzeugt davon bin, er müsse das gesamte Universum erschüttern. Wird er wahrscheinlich auch, wenigstens mein ganz persönliches Universum, denn schon jetzt ist ersichtlich, dass sich meine Eltern und Fabian nicht besonders gut verstehen. Und das noch vor dem Outing.

Dabei liegt die Antipathie weniger bei Fabian, der sich nett und zuvorkommend gibt, als bei meinen Eltern, die jedem, der nicht aus unserer Gemeinde stammt, prinzipiell erst einmal misstrauisch bis ablehnend begegnen. Das ist auch der Grund dafür, weshalb ich seit der vierten Klasse niemanden mehr nach Hause gebracht habe, den oder die meine Eltern nicht schon von Gottesdiensten oder Sommerlagern kennen. Deshalb spüre ich die fragenden Blicke meiner Mutter umso stärker, wer dieser Fabian ist, warum ich ihn mitgebracht habe, ob er auch dieselben Werte und Einstellungen verfolgt wie wir. Oder besser gesagt wie sie.

Trotz der anfänglichen Ablehnung zahlt sich Fabians unermüdliche Freundlichkeit bald aus. Im Laufe des Essens erwärmen sich meine Eltern immer mehr für ihn. Sie unterhalten sich über seinen Umzug und wie ihm unsere Stadt bisher gefällt, sie fragen ihn sogar nach seinem Studium, auch wenn sie vom Leben an der Uni überhaupt keine Ahnung haben und sich normalerweise nicht einmal für mein eigenes Studium interessieren.

Wäre ich nicht so angespannt, hätte ich mir einige Minuten lang erlaubt, mir vorzustellen, dass das hier meine Zukunft ist. Fabian als Schwiegersohn bei meinen Eltern am Tisch, eine lockere Atmosphäre, viel zu essen und zu lachen, komplette Akzeptanz. Aber ich bin zu nervös, um so etwas zu denken. Die Aufregung hat sich als Klumpen in meinem Magen festgesetzt, der es mir verunmöglicht, mehr als drei Bissen hinunterzuwürgen. Und auch Fabian ist aufgeregt, obschon er relativ gut darin ist, es zu verbergen. Meinen Eltern fällt es wahrscheinlich nicht einmal auf, aber ich kenne ihn mittlerweile so gut, dass mir nicht entgeht, wie er dauernd an seinem Wasserglas dreht und die Ecke seiner Serviette faltet.

Ausserdem ist da noch Sara, die sich nicht zurückhält, mir alle zwanzig oder dreissig Sekunden einen warnenden Blick, manchmal auch gepaart mit einem Kopfschütteln, zuzuwerfen. Als würde ich beim sechzigsten oder hundertsten einbrechen und schliesslich doch nachgeben, mein Outing nicht durchzuziehen. Und beinahe wäre sie mit dieser Taktik auch erfolgreich gewesen, aber nur beinahe. Denn als ich bemerke, dass ihre Blicke zu sehr an meiner Entschlossenheit nagen, schaue ich irgendwann nur noch auf meinen Teller, der als einziger erst halb leer gegessen ist.

Ich habe den Faden in der Konversation schon längst verloren und wahrscheinlich unterbreche ich das Gespräch sehr unhöflich mitten in einem Satz meines Vaters, aber ich kann mich nicht länger zurückhalten, ansonsten befürchte ich, zu explodieren.

«Mom, Dad, ihr kennt Fabian eigentlich schon», beginne ich etwas ungeschickt und ernte dafür die verwirrte Aufmerksamkeit meiner Eltern. Sie sind beide verstummt, immerhin das, und sehen mich mit in Falten gelegter Stirn an. Neben mir höre ich, wie Fabian tief Luft holt, und das leise Kratzen seines Wasserglases auf dem Holztisch, als er es wieder zu drehen beginnt.

«Von früher?», bemüht sich meine Mutter, auf meine unzusammenhängende Aussage einzugehen.

Ich schlucke, räuspere mich. Jetzt gibt es kein Zurück mehr. «Ich habe euch schon von ihm erzählt. Genauer genommen habe ich Hanna von ihm erzählt und ihr habt davon gehört. Fabian ist mein schwuler Kommilitone. Und nicht nur das.»

Ich lege eine kurze Pause ein, nicht, um dramatisch zu sein, sondern weil ich befürchte, vor lauter Angst gleich ohnmächtig zu werden. Fabian begreift und legt seine Hand auf den Tisch, ein Angebot, das ich nur zu gerne annehme. Ich greife danach, verhake meine Finger in seinen und er drückt sie, um mir den nötigen Mut zum Weiterzusprechen zu geben.

«Fabian ist mein Freund.»

Die Zeit steht still, Sekunden ziehen sich wie klebriger Honig ins Unendliche. Ich höre das Blut in meinen Ohren rauschen, ich spüre Fabians Puls in seiner Hand, vielleicht auch meinen eigenen, beide davon gehen zu schnell. Der Klumpen in meiner Magengegend ist meine Speiseröhre hochgewandert, ich würde ihn gerne herunterschlucken, aber mein Mund ist staubtrocken. Also würgt er mich bloss weiterhin, so sehr, dass ich fürchte, bald keine Luft mehr zu bekommen und auf der Stelle ohnmächtig umzufallen.

«Dein-», will meine Mutter mechanisch wiederholen, aber es gelingt ihr nicht, das Wort über ihre Lippen zu bringen.

«Mein Freund», sage ich deshalb wenig hilfreich. «Wir sind zusammen. Ein Paar.» Mit jedem Wort wird meine Stimme leiser und die Mienen meiner Eltern werden bedrohlicher. Wie zwei Vulkane, bereit, jeden Augenblick auszubrechen, bei jedem Piepser, den ich als nächstes von mir gebe.

«Elias, ich warne dich, wenn das ein Scherz sein soll», droht mein Vater mit ausgestrecktem Zeigefinger und lauter Stimme.

Als würde ich über so etwas einen Scherz machen. Als ich würde ich einen Scherz machen, um die Enttäuschung, die Ablehnung, vielleicht sogar eine Spur von Hass in den Blicken meiner Eltern zu sehen. Als würde es mir Spass machen zu wissen, dass das alles mir gilt, dass ich es bin, der es mit einem harmlosen Satz geschafft hat, ihre gesamte Verachtung, ihre grenzenlose Abscheu auf sich zu ziehen.

Dennoch fühle ich mich genötigt, ihnen mit einem «Es ist kein Scherz» zu versichern, dass ich es wirklich ernst meine.

Und das ist es, was meine Mutter endgültig explodieren lassen.

«Du bist nicht schwul», beginnt sie ganz leise und verzieht gleichzeitig das Gesicht, als sie das Wort schwul ausspricht, ganz so, als wäre es eine Krankheit. Doch das war erst der Anfang, das leise Grummeln unter der Oberfläche, kurz bevor der Vulkan ausbricht und eine Wolke aus Asche und Glut über die Welt regnen lässt.

Meine Mutter steht auf, schwer atmend. Blind tasten ihre Finger vor ihr auf dem Tisch herum, greifen nach dem erstbesten, was sie zu fassen bekommen – es ist ein Teller – und ehe wir uns versehen, hat sie ihn auch schon neben dem Esstisch auf den Boden geknallt.

Ein lautes Klirren, Scherben im ganzen Wohnzimmer, für einen kurzen Augenblick sogar Scherben in der Luft, Sauce fliegt, bleibt an der Wand kleben, auf dem Fussboden, an den Gardinen, hüllt sich um die weissen Splitter, in die der Teller zerborsten ist. Dann Stille. Totenstille. Fünf Paar Augen sind betreten auf den hölzernen Fussboden gerichtet, auf dem dieses Massaker mit allergrösster Sicherheit Spuren hinterlassen wird.

«Ich habe keinen schwulen Sohn.»

Die Aussage, von Tränen beinahe erstickt, lenkt unsere Aufmerksamkeit zurück zu meiner Mutter. Dunkelrote Flecken sind auf ihre ansonsten kalkweissen Wangen getreten, ihre braunen Haare fallen strähnig in ihre Stirn und kleben in ihrem Nacken.

Ich bin zu betreten, um ihr zu widersprechen, mein Vater ist zu betreten, um sie zu bekräftigen, Sara ist zu betreten, um überhaupt etwas zu sagen. Nur Fabian schlägt sich weiterhin tapfer, indem er erklärt: «Dann haben Sie gar keinen Sohn mehr. Verstehen Sie nicht? Elias und ich, wir lieben uns. Er macht mich jeden Tag unheimlich glücklich und ich ihn hoffentlich genauso. Wie könnte ein gerechter Gott gegen etwas so Wundervolles wie diese Liebe sein?»

Seine Worte sind heftig, aber er spricht ganz sanft, der zerschlagene Teller scheint auch bei ihm Spuren der Angst hinterlassen zu haben. Ich spüre, wie sich seine Finger fester um meine krampfen, aber mir fehlt die Kraft, um auch seine Hand zu drücken. Zusammengesunken sitze ich da, ich habe resigniert, ich bin bereit für alles, was auf mich zukommen wird. Es ist das jüngste Gericht, nur dass ich noch lebe – denke ich. Jedenfalls atme ich noch.

«Du hältst dich da raus, du gottlose Schwuchtel.» Es ist mein Vater, der das sagt, unendlich langsam und bedrohlich, doch nichts im Vergleich zu dem vernichtenden Ausdruck auf dem Gesicht meiner Mutter, der diese Worte aus der Seele zu sprechen scheinen. «Du kommst hierher, in mein Haus, isst an meinem Tisch und willst meinen Sohn mit deinem schändlichen Getue verführen.»

Mein Vater hebt die Hand und wenn ich nicht wie gelähmt gewesen wäre, dann hätte ich Fabian in dem Augenblick von hier weggezogen. Aber während ich sie vor meinem geistigen Auge schon auf Fabian oder mich zurasen sehe, scheint sich mein Vater noch rechtzeitig zu besinnen, dass er diese Grenze nicht überschreiten darf. Also lässt er seine Hand wieder sinken und wendet sich stattdessen an mich: «Hat er mit dir etwas getan, was du nicht wolltest, Elias? Hat er dich zu etwas gezwungen?»

Es ist lächerlich, wie sie immer noch daran festhalten, ich könnte der Unschuldige sein. Der Verführte. Das Opfer.

«Nein, hat er nicht.» Und weil sie es sonst nicht verstehen, weil mein Vater Fabian schrecklich beleidigt hat, weil auch ich endlich laut werden muss: «Begreift es doch: Ich liebe Fabian.»

Liebe. Das ist es, was sie verstummen lässt. Ich kann förmlich dabei zusehen, wie sich in ihren Köpfen die grauenhafte Realisierung bildet: Ihr Sohn ist schwul. Nicht von Fabian um den Verstand gebracht und verführt worden, nicht neugierig oder rebellisch. Es ist keine Phase, die von selber wieder vorübergehen wird. Es ist Liebe. Jetzt können sie es nicht länger abtun oder leugnen, sie können nicht mehr wegsehen.

Fabian holt Luft, um etwas anzufügen, aber noch bevor er auch nur einen Mucks gemacht hat, fällt mein Vater ihm ins Wort: «Hau ab. Hau sofort ab, du ekelhafte Schwuchtel. Und ich warne dich, wenn du meinem Sohn noch ein Mal zu nahe kommst, dann…» Er beendet die Drohung nicht, aber das macht sie nur umso schlimmer.

Mich würdigt er hingegen keines Blickes mehr, auch meine Mutter nicht, ihre Aufmerksamkeit gilt vollumfänglich Fabian. Ich bin unter dem ganzen Druck schon längst eingeknickt und ich fürchte, dass es nun auch meinem Rettungsanker Fabian so gehen wird. Für den Bruchteil einer Sekunde sehe ich es sogar vor mir. Er steht auf, lässt meine Hand los, geht. Zu sehr eingeschüchtert von den Beleidigungen und Drohungen, zu sehr verstört von der Reaktion meiner Eltern. Und ich? Was wird dann aus mir? Was werden meine Eltern mit mir tun, wenn sie alleine sind? Und Fabian? Wird er mich nach alldem überhaupt noch wollen?

Ich ringe nach Atem, denn ich bekomme keine Luft mehr. Erst jetzt bemerke ich, dass ich weine und dass die Tränen meine Luftröhre versiegeln. Ausserdem bekomme ich einen Schluckauf, eine elende Mischung, die einige Sekunden lang sogar schwarze Punkte vor meinen Augen tanzen lässt.

«Elias? Schatz?», vernehme ich Fabians Stimme etwas zu dumpf dafür, dass er direkt vor mir sitzt, sein Gesicht und sein Körper nun vollends mir zugewandt. Es gelingt mir knapp, mich auf ihn zu fokussieren, auf irgendeinen Punkt zwischen seinen Augen und der Nase, aber ich sehe nicht, was meine Eltern tun, ob meine Mutter noch mehr Geschirr zerbricht, ob mein Vater nun doch wieder seine drohende Hand erhoben hat.

«Lass uns gehen, ja? Ist alles in Ordnung bei dir? Tief durchatmen, Schatz. Kannst du aufstehen? Na komm, ich helfe dir.»

Fabian steht auf, jedenfalls verschwindet er aus meinem Blickfeld und es dauert einige Sekunden, bis mein Kopf seiner Bewegung gefolgt ist. Ich spüre, wie er meine Hand loslässt, um kurz darauf nach meinem Oberarm und meiner Schulter zu greifen und mir aufzuhelfen. Meine Knie sind so weich, dass sie mich nicht tragen können, aber Fabian stützt mich, er zieht mich an sich und hält mich fest.

«Elias, du bleibst hier», höre ich meine Mutter schreien. «Du gehst nicht mit diesem Unmenschen mit. Elias!»

Ich blende sie aus, ich blende alles aus, die ganze Welt um mich herum. Mein einziger Fokus liegt jetzt auf Fabians Händen, die eine an meiner Hüfte, die andere an meinem Oberarm. Ich höre, wie er sanfte Worte in mein Ohr spricht, aber ich verstehe sie nicht, genauso wenig wie das Geschrei meiner Eltern. Meine Ohren haben ihre Funktion aufgegeben, meine Augen auch, mein gesamter Verstand. Ich lasse mich von Fabian führen, blind und taub, nur weg von hier, raus aus der Wohnung, raus aus dieser Hölle.

 

Die kühle Luft sticht wie kleine Messer in meine Lunge und weckt mich aus meiner Trance. Ich atme tief ein – endlich kann ich wieder atmen. Dann kehren auch meine anderen Sinne zurück und ich bemerke, wie Fabian gerade dabei ist, mir in meine Jacke zu helfen. Geistesgegenwärtig hat er ausserdem meine Brieftasche und mein Smartphone mitgenommen, wobei ich letzteres ausschalte, da es von einem Anruf meiner Mutter bereits zu summen beginnt.

Ihr Geschrei hat uns bis zur Haustür begleitet, aber dann war es ihnen doch wichtiger, keine Aufmerksamkeit unserer Nachbarn auf sich zu ziehen, also sind sie verstummt und haben uns in die kalte Nacht entlassen.

Fabian bringt mich zur Bushaltestelle und wischt mir die Tränen von den Wangen, von denen ich mich nicht einmal daran erinnern kann, sie geweint zu haben. Einige Flocken fallen vom Himmel, sie werfen Schatten im gelblichen Licht der Weihnachtsdekoration und schmelzen, kurz nachdem sie auf dem Asphalt aufgekommen sind. Ich zittere am ganzen Körper, wahrscheinlich nicht vor Kälte, aber Fabians warme Umarmung hilft trotzdem. Er umarmt mich lange, so lange, bis der Bus kommt, um uns zu ihm nach Hause zu bringen.

«Es tut mir so leid, Elias», wiederholt er immer wieder. «Es tut mir so leid.» Es ist alles, was er sagt, jedenfalls bis wir in seiner Wohnung sind.

Dort zieht mir Fabian Jacke und Schuhe aus, denn meine klammen, zitternden Finger rutschen immer wieder am Reissverschluss ab. Dann führt er mich zum Sofa und setzt mich hin. Ich habe wieder zu weinen begonnen und ich will nicht, dass er weggeht, auch wenn es nur bis in die Küche ist, um Tee für mich zu kochen. Einige Minuten später kommt er mit einer dampfenden Tasse, einer Decke und einer riesigen Packung Taschentücher zurück. Ich lasse alles stehen und greife stattdessen wieder nach seiner Hand, um mich zu erden.

«Es tut mir so leid», wiederholt er erneut, aber diesmal kommt mehr. «Ich habe mir in meinen schlimmsten Alpträumen nicht ausgemalt, dass das Outing so schrecklich sein würde. Klar, ich wusste, dass deine Eltern konservativ sind, aber ich bin von ein paar lauten Worten, von moralischen Reden und Enttäuschung ausgegangen.  Nichts, was sich nicht mit rationalen Argumenten entkräften lässt. Und dann sowas – ich hatte wirklich Angst um dich. Um uns.»

Fabian bricht ab und saugt hörbar Luft ein. Seine Hände halten meine fest umklammert, in seinen Augen liegt so viel Verzweiflung, wie ich sie noch nicht einmal nach meinem Date mit Hanna gesehen habe. «Oh Elias, ich hätte dich nicht dazu drängen dürfen, ich hätte auf dich hören sollen. Es tut mir so schrecklich leid.»

Das Schwinden seines Optimismus’ nimmt auch mir den Mut. Die nassen Spuren auf meinen Wangen werden von neuen heissen Tränen genährt. Ich hasse, dass ich nicht so stark sein kann wie Fabian, dass ich so viele Zweifel habe, selbst jetzt noch. Dass sich ein Teil von mir wünscht, zu meinen Eltern zurückzugehen, sich zu entschuldigen und Hanna zu heiraten.

«Was ist, wenn sie recht haben?» Meine Stimme ist so leise, dass ich fürchte, Fabian könnte mich nicht gehört haben. Aber er hat mich gehört.

«Wie bitte?»

«Wenn sie recht haben. Mit mir. Mit uns. Was, wenn das hier falsch ist? Wenn ich kaputt bin?»

Es ist ein Gedanke, der mich schon lange verfolgt, auch wenn ich mir wünsche, selbstbewusst mit meiner Homosexualität umgehen zu können, nicht an meiner Liebe zu Fabian zu zweifeln. Trotzdem ist es erstaunlich, wie treffend diese Worte zu beschreiben vermögen, wie ich mich die meiste Zeit über fühle. Kaputt. Falsch. Als würde irgendetwas mit mir nicht stimmen. Ein Fehler in der Produktion, ein defektes Modell, das umgetauscht werden sollte. Und wenn ich mich so kaputt und falsch dabei fühle, heisst das dann nicht, dass meine Eltern recht haben? Dass ich tatsächlich eine Sünde begehe?

Fabian antwortet nicht. Schlimmer noch, er lässt sogar meine Hand los, steht auf und geht ans Fenster, um auf die kaum befahrene Strasse unter uns zu sehen. Ich nehme es als weitere Bestätigung dafür, dass es wirklich falsch ist, was wir hier tun.

Er schweigt lange, ich glaube nicht, dass er wirklich auf die Strasse sieht. Manchmal fährt er sich mit der Hand übers Gesicht, fast so, als würde er Tränen wegwischen. Und in diesem Augenblick spüre ich, wie etwas tief in Fabian zerbricht. Seine Naivität vielleicht, ein paar seiner Illusionen oder sein grenzenloser Optimismus. Etwas davon geht kaputt, weil er erfährt, wie es ist, sich falsch zu fühlen. Defekt. Nur kurz natürlich, denn Fabian ist fest davon überzeugt, dass wir kein Fehler sind, und sein Verstand gewinnt rasch wieder die Überhand. Aber er hat es trotzdem gespürt. Und er weiss, dass dieses Gefühl die ganze Zeit über an mir nagt, seit Jahren schon.

Nach einer Weile, als er sich schon länger nicht mehr übers Gesicht gewischt hat, dreht er sich wieder zu mir um, um mir seine Hand entgegenzustrecken. «Na komm», sagt er, ohne weiter auf meine Fragen von vorhin einzugehen. «Lass uns schlafen gehen.»

 

Der Morgen danach

In dieser Nacht schlafe ich erst spät ein. Immer wieder spielen sich dieselben Szenen in meinem Kopf ab. Schreie, ein Teller, der wie in Zeitlupe auf den Holzfussboden zurast und dort in tausend Scherben zerspringt, die erhobene Hand meines Vaters. Und manchmal, wenn mein Gehirn mir einen Streich spielt, dann hängt sie nicht nur drohend in der Luft, sondern schlägt zu, schlägt mich oder Fabian, wobei mir zweiteres noch viel mehr weh tut. Dann schrecke ich hoch, taste nach dem Lichtschalter, blicke in Fabians stilles Studio. Er liegt neben mir, meistens wach, und sieht mich lange gequält an, ehe er einladend die Arme ausstreckt und mich an sich zieht.

Erst gegen morgens um fünf verfalle ich in einen unruhigen Schlaf, aus dem ich ein paar Stunden später von leisen Worten geweckt werde. Der Geruch nach frischem Kaffee liegt in der Luft und ein mattes Licht drängt aus der Küche durch meine geschlossenen Augenlider. Ich bleibe regungslos liegen, lausche, versuche, die beiden Stimmen auszumachen, die sich im Flüsterton unterhalten. Die eine gehört zu Fabian und auch die andere kommt mir vage bekannt vor. Allerdings dauert es eine ganze Weile, bis mein müdes Gehirn zugeordnet hat, wem sie gehört. Tom.

Die Erkenntnis lässt mich hochschrecken. Beide jungen Männer drehen sich abrupt zu mir um. Sie sitzen am Esstisch, dampfende Tassen Kaffee vor sich, und ich kann gar nicht sagen, wer von den beiden besorgter aussieht.

«Sorry, Schatz, haben wir dich geweckt?», fragt Fabian, während er aufsteht und in die Küche geht, um Teewasser aufzusetzen. «Wir wollten dich nicht stören, nachdem du endlich eingeschlafen bist.»

Tom murmelt bloss ein etwas verlegenes «Guten Morgen».

«Ich habe Tom eingeladen», erklärt Fabian das Offensichtliche. «Ich dachte, dass er dir vielleicht besser helfen kann als ich.»

Beim Gedanken an die Reaktionen auf Toms Outing damals, an die Empörung, an das Totschweigen und daran, dass nun dasselbe mit mir passieren soll, wird mir speiübel. Ich versuche, aufzustehen, aber für einen kurzen Augenblick schwankt die Welt unter meinen Füssen und meine Knie drohen nachzugeben. Erst als ich drei oder vier Mal tief durchgeatmet habe, gelingt es mir, mich zu fassen.

Ich setze mich zu Fabian und Tom an den Esstisch. Beide meiden meine Blicke. Fabian stellt mir eine Tasse Pfefferminztee vor die Nase und Tom bietet mir ein Croissant an, das ich ablehne, da mein Magen schon beim blossen Gedanken daran zu rebellieren beginnt.

«Und jetzt?», durchbricht Fabian das nervöse Schweigen. «Ich meine, irgendetwas müssen wir ja tun, oder? Hast du uns einen Ratschlag, Tom?»

Tom trinkt einen langen Schluck Kaffee und gewinnt so etwa Zeit, ehe er antworten muss. «Ich denke, das Beste wäre wohl, wenn Elias seine Sachen packt und erst einmal zu dir zieht.» Er wirft mir einen kurzen Blick zu, der zu viel beinhaltet, um ihn richtig zu deuten.

«Ich soll ausziehen?»

Ehrlich gesagt fühle ich mich ein bisschen dumm, dass mir der Gedanke nicht schon vorher gekommen ist. Aber ich habe die ganze Zeit über auf das Outing hingearbeitet, auf den grossen Moment, auf das Geständnis. Ich habe mich darauf vorbereitet, was meine Eltern dazu sagen werden, in der Situation selber, aber an alles, was danach kommen wird, habe ich keinen einzigen Gedanken verschwendet. Natürlich werden sie mich nicht länger bei sich wohnen lassen. Ich werde keinen Kontakt mehr zu ihnen haben, zu niemandem mehr aus der Gemeinde, und auch auf ihre finanzielle Unterstützung darf ich nicht länger hoffen.

Hätte ich etwas weiter gedacht als bis zum Abend meines Outings, ich glaube, ich hätte es nicht getan. Ich hätte mein Leben nicht von einem Tag auf den anderem komplett auf den Kopf gestellt, ohne mich richtig darauf vorzubereiten. Ohne wenigstens einen Koffer mit meinen wichtigsten Sachen zu packen.

«Du kannst jedenfalls nicht dort wohnen bleiben», sagt Fabian etwas zu heftig, aber seine Augen sind sanft. Er legt seine Hand neben meine, sodass sich unsere Fingerspitzen knapp berühren. «Ich würde sterben vor Sorge um dich.»

Ich protestiere, allerdings nur wenig überzeugend: «Aber ich kann doch nicht einfach so ausziehen und mein ganzes Leben hinter mir zurücklassen.»

«Wenn du nicht gehst, dann werden sie dich in eine Therapie stecken, Elias», schaltet sich nun auch Tom wieder ein. «Oder sie werden dich wenigstens selbst zu heilen versuchen. Strenge Überwachung, dein Smartphone, dein Laptop, wenn du dich mit jemandem triffst, einfach alles. Du wirst keinen Schritt tun können, ohne dass sie dich dabei beobachten. Und Fabian wirst du natürlich nie wiedersehen dürfen.»

Toms Worte jagen eine Gänsehaut über meine Arme und meinen Rücken, weil man ihnen anhört, dass sie nicht bloss ausgedacht sind. Keine hypothetischen Szenarien, keine Möglichkeiten – seine Vergangenheit.

«Geh nicht zu ihnen zurück», spricht Tom nach einer kurzen Pause weiter. Seine Stimme klingt nun fester. «Sie werden dich brechen. Du kannst dich nicht dagegen wehren, auch wenn du dich jetzt für stark hältst. Wenn sie dir immer wieder dieselben Sachen sagen, hundert Mal pro Tag, hundert Tage am Stück, dann wirst du es irgendwann glauben. Dass du vom Bösen besessen bist, dass es ekelhaft und falsch ist, was du fühlst, dass du auf ewig verdammt sein wirst.»

«Hey», entgegne ich und berühre Tom kurz am Oberarm. Seine Atmung ist mechanisch geworden, es ist offensichtlich, dass er sich darauf konzentriert, ruhig zu bleiben. Dinge, die er in einem langen, mühsamen Prozess hat lernen müssen, Methoden, um mit dem umzugehen, was ihm angetan worden ist. Denn die Gedanken, die sie ihm eingepflanzt haben, wird er niemals ganz ablegen können.

Ich will nicht so enden wie Tom, das ist mir in dem Moment klarer denn je. Sein Outing liegt Jahre zurück, von den meisten in der Gemeinde wurde er wahrscheinlich schon längst vergessen, aber er erinnert sich noch immer. Und ich will das nicht. Ich kann das nicht. Tom ist stark, er war schon immer eigenständig und tapfer, ich hingegen bin das komplette Gegenteil. Ich würde an einem Camp, wie er es durchgemacht hat, zugrunde gehen. Und selbst, wenn ich in kein Camp muss, werden meine Eltern jeden Tag auf mich einreden, sie werden mir Vorwürfe machen, so lange, bis ich sie selber zu glauben beginne. Und das erdrückende, lähmende Gefühl in meiner Brust wird niemals verschwinden, auch nicht in fünf oder zehn Jahren fühlen, wenn ich schon längst glücklich sein könnte.

«Wenn ich meine Sachen hole, kommst du dann mit?», frage ich an Fabian gewandt. Meine Stimme zittert, als ich den Gedanken vom Ausziehen laut ausspreche.

Fabian sieht mich überrascht an, lächelt kurz, schüttelt dann aber den Kopf. «Ich denke nicht, dass das eine gute Idee wäre. Sie werden mich nicht reinlassen und dich auch nicht. Wenn ich mitkomme, macht sie das bloss wütend.»

Fabians Antwort lässt mich schwer schlucken.

«Ohne dich kann ich das nicht. Was werden sie tun? Was werden sie sagen?»

Nun schaltet sich Tom, der sich in der Zwischenzeit gefangen hat, wieder ein: «Du musst jetzt tapfer sein, Elias. Sie werden dir schreckliche Dinge auf den Kopf werden und, noch viel schlimmer, sie werden dir Lügen erzählen. Davon, wie alles wieder gut werden kann, wenn du bleibst, wenn du dich bekehren lässt. Glaub ihnen kein Wort davon. Kein Wort, hörst du? Du bist nicht derjenige, der falsch ist. Sie sind es.»

Ich nicke schwach. Toms Worte hören sich toll an, aber ich weiss nicht, ob ich sie werde umsetzen können oder ob ich beim ersten Schritt ins Haus meiner Eltern einbreche.

 

Es ist fast Abend, ehe ich mich von Toms und Fabians Worten gestärkt bereit dazu fühle, meine Eltern zu konfrontieren. Mein Smartphone ist immer noch ausgeschaltet und ich bin sicher, dass meine Mutter mich schon tausendmal versucht hat anzurufen. Dieser Gedanke ist es dann schliesslich auch, der mich meine Ängste überwinden und zum Haus meiner Eltern fahren lässt. Allein.

Und als hätten alle Mächte des Unglücks heute zusammengespannt, um mich zu bestrafen, treffe ich vor dem Haus ausgerechnet auf Hanna. Sie erblickt mich ebenfalls, will zunächst die Strassenseite wechseln, hält dann aber mitten in der Bewegung inne und kommt stattdessen direkt auf mich zu. Ihre Augen sind rot und aufgequollen, ihre blonden Locken stehen in alle Richtungen ab und dem verärgerten Ausdruck auf ihrem Gesicht entnehme ich, dass sie bereits von meinem Outing gehört hat.

Ich atme tief durch, gewappnet für einen Sturm, und versuche es mit einem freundlichen «Hi Hanna».

Das kommt bei ihr allerdings alles andere als gut an. Sie bleibt direkt vor mir stehen, schenkt mir einen hasserfüllten Blick und im nächsten Moment hat sie mir auch schon eine Ohrfeige verpasst. Meine Wange glüht und die wenigen Schneeflocken, die vom Himmel zu fallen begonnen haben, verdampfen, ehe sie meine Haut zu kühlen vermögen.

«Du Schwein», bringt Hanna mit erstickter Stimme davon. Kurz sieht sie aus, als wolle sie noch einmal zuschlagen, aber sie tut es nicht.

«Hanna, ich-», versuche ich mich zu verteidigen, werde aber mitten im Satz abgeschnitten:

«Halt bloss deine Klappe.  Du hast mich belogen und ausgenutzt. Du hast mir ein ganzes Date vorgespielt, nur um zu verbergen, dass du ein scheiss Homo bist. Hast du eine Ahnung, wie lange ich auf dieses Treffen gehofft habe? Wie aufgeregt ich war? Wie vorfreudig? Ich habe echt geglaubt, du könntest etwas für mich empfinden. Und du – du bist doch krank.»

Ihre Worte brechen mir ein ganz klein wenig das Herz. Nicht der Hass darüber, dass ich sie angelogen und benutzt habe, den habe ich verdient, weil ich mich tatsächlich wie ein Arschloch benommen habe. Aber die unterschwellige Abscheu vor dem, was ich bin, vor mir, die tut mindestens genauso weh. Und die habe ich nicht verdient, schon gar nicht von meiner ehemals besten Freundin.

«Hanna, bitte es-», versuche ich es ein zweites Mal und will nach ihrem Arm greifen. Sie zuckt heftig weg, macht einen Schritt zurück auf dem frostigen Boden und rutscht beinahe aus, kann sich aber in letzter Sekunde noch fangen.

«Fass mich bloss nicht an», fährt sie mir heftig ins Wort. «Wie konnte ich jemals etwas für dich empfinden? Du bist abscheulich – ein Monster.»

Ein drittes Mal versuche ich nicht, sie zu beruhigen oder vernünftig mit ihr zu reden. Und Hanna lässt das ebenso wenig zu, denn sie stapft in einem weiten Bogen an mir vorbei und biegt um die nächste Strassenecke.

Ich versuche, meinen aufgebrachten Puls mit tiefen, regelmässigen Atemzügen zu beruhigen. Das hier war lediglich der Vorgeschmack auf alles, was jetzt noch kommen wird.

 

«Elias, bist du das?», vernehme ich die hoffnungsvolle Stimme meiner Mutter, kaum dass ich die Wohnungstür aufgeschlossen habe.

Der Geruch nach Zuhause, der Esstisch, der Holzfussboden, sie lassen mich für einen kurzen Augenblick das Geräusch von einem zerschlagenden Teller hören und beschwören das Bild einer erhobenen Hand herauf. Ich muss mich an der Wand abstützen und sobald ich mich erholt habe, steht auch schon meine Mutter vor mir mit einem herzzerreissenden, besorgten Ausdruck auf dem Gesicht.

«Gott sei Dank, da bist du ja. Ich habe mir schreckliche Sorgen gemacht. Bitte, komm rein, setz dich, lass uns reden.»

Sie führt mich ins Wohnzimmer, wo mein Vater schon auf einem der Sofas sitzt. Als ich eintrete, versteift er sich kurz, dann bemüht er sich um einen milden, freundlichen Blick und weist auf die ihm gegenüberliegende Couch. Meine Mutter und ich setzen uns, sie sich neben meinen Vater und ich mich ihnen gegenüber hin. Ich versuche, an Toms Worte zu denken, daran, dass meine Eltern manipulativ und intolerant sind. Im Moment sehen sie aber eher mitleiderregend aus mit ihren besorgten Gesichtern.

Meine Mutter räuspert sich, sie blickt zu meinem Vater, dann zu mir und sagt: «Wir hätten dich gestern nicht so behandeln dürfen, Elias. Es tut uns leid.»

Ich habe mit vielem gerechnet, aber nicht mit einer Entschuldigung. Die Worte schnüren meine Kehle zu und Tränen sammeln sich in meinen Augen. Bevor ich aber tatsächlich zu weinen beginne, spricht mein Vater und so schnell, wie der Kloss in meinem Hals aufgetreten ist, verschwindet er auch wieder.

«Wir werden alle geprüft und es ist keine Sünde, dass du diese Gefühle hast, mein Junge. Aber es ist eine Versuchung, der du widerstehen musst. Das, was du mit diesem… mit diesem Kerl getan hast, war falsch. Aber Gott kann dir vergeben und wir können das auch. Du musst dich nur besinnen, wohin du gehörst und woran du glaubst.»

Ich bin ein wenig baff, aber ich brauche auch nichts zu sagen, denn als hätten sie es gemeinsam einstudiert, übernimmt nun meine Mutter: «Wir haben mit Pastor Andreas gesprochen und er hat gesagt, dass es Mittel und Wege gibt, dich zu retten. Viele junge Männer haben solche Gedanken, daran ist nichts Schlimmes. Andreas hat ein Lager empfohlen, du könntest im Januar dorthin gehen. Es hat bisher noch allen, die es wirklich gewollt haben, auf den richtigen Weg zurück zu Gott geholfen. Wir sind immer für dich da, Elias. Und wir stehen das gemeinsam mit dir durch, weil wir dich lieben.»

Was sie sagen, ist so absurd, so wirr, so lächerlich, dass ich sie am liebsten geschüttelt hätte. Stattdessen lache ich nur leise auf und sage: «Ihr liebt mich nur, wenn ich nicht schwul bin.»

Es sind nicht meine Worte, sie stammen von Tom, er hat sie mir erst vor wenigen Stunden beigebracht. Und auch Tom hat diesen Satz nicht erfunden, er hat ihn in vielen mühsamen Therapiestunden zu verinnerlichen gelernt. Ich denke nicht, dass ich ihn schon verinnerlicht habe, dass mein Herz wirklich begriffen hat, was er bedeutet. Aber mein Verstand hat es begriffen und er hat den Satz für gut und richtig befunden.

«Du bist auch nicht schwul!» Mein Vater, eben noch so sanft, so heuchelnd, wird nun heftig, seine Hände ballen sich unwillkürlich zu Fäusten und an seiner linken Schläfe beginnt eine Ader zu pulsieren. Er ist aufgestanden, geht nervös im Wohnzimmer auf und ab. Drei Schritte, Drehung, drei Schritte.

Aber auch auf diese Reaktion wurde ich vorbereitet. Ich bleibe ruhig, erinnere mich daran, was ich mit Tom und Fabian besprochen habe, und erkläre: «Ihr liebt mich, wenn ich nicht schwul bin. Das ist eine Bedingung. Ihr redet immer von eurer tollen bedingungslosen Liebe. Jesus ist für uns gestorben, weil er uns bedingungslos liebt, deshalb wollt ihr andere bedingungslos lieben. Aber das tut ihr nicht. Eure Liebe für mich hat Bedingungen, sie ist daran geknüpft, dass ich tue, was euch passt. Dass ich Mädchen aus unserer Kirche liebe und erst mit ihnen schlafe, wenn ich sie geheiratet habe. Und sobald ich etwas anderes tue, sobald ich Gefühle für einen Jungen empfinde, wundervolle Gefühle für ihn empfinde, seid ihr bereit, mich zu verstossen.»

Klatsch. Ein stechender Schmerz durchzuckt mich und meine Wange brennt zum zweiten Mal heute, diesmal allerdings viel heftiger als bei Hanna. Unsere drei Augenpaare fliegen zur Hand meines Vaters, die schlaff am Ende seines Armes hängt und doch vor wenigen Sekunden noch an meiner Wange geklebt hat.

«Sag noch einmal etwas so Respektoses», bringt mein Vater zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. Und erst auf einen gezischten Kommentar meiner Mutter hin setzt er sich wieder neben sie.

Die Ohrfeige hat unwillkürlich Tränen in meine Augen getrieben. Ich will nicht weinen, ich will mir diese Blösse nicht geben, aber ich tue es. Weniger aus Traurigkeit als aus Demütigung. Mein Vater hat mich noch nie geschlagen, in meinem ganzen Leben nicht, und diese Ohrfeige jetzt gibt mir ein Gefühl der Erniedrigung, von dem mir speiübel wird. Ich will aufstehen und gehen, weg aus diesem Haus, aber meine Knie zittern zu sehr und mein ganzer Körper ist wie gelähmt.

«Es geht nicht darum, dass wir dich nicht mehr lieben, Elias», versucht meine Mutter zu beschwichtigen, wobei sie selber nicht weniger geschockt aussieht, als wir anderen. «Aber wir wollen dich vor einem Fehler bewahren. Du bist 22 Jahre jung, du bist naiv, du hast keine Ahnung vom wirklichen Leben. Und in deinem jugendlichen Übermut bist du bereit, dein ganzes Leben wegzuwerfen – wofür? Für eine Beziehung, die gerade einmal drei Monate alt ist? Für einen Kerl, den du kaum kennst? Wir kennen dich Wir kennen dich seit 22 Jahren, weil wir dich grossgezogen haben. Und wir wollen dich nicht blind in dein Verderben laufen lassen, weil wir dich lieben.»

Die Tränen fliessen nun ungehemmt. Sie rollen über meine brennende Wange und lassen sie noch viel heftiger Glühen. Ich wische sie nicht weg, sonst hätten meine Eltern gesehen, wie sehr meine Hände zittern. Doch auch meine Stimme bebt, als ich endlich die entscheidende Frage stelle:

«Ihr werdet mich nie akzeptieren, oder?»

Ihre Antwort ist die schmerzhafteste, die sie mir hätten geben können, denn sie ist Schweigen. Kein Protest, nicht einmal ein sanfter Widerspruch, nur stumme Zustimmung.

Ich erhebe mich, diesmal wirklich.

«Wo gehst du hin?», fragt mein Vater aufgebracht. Er ist ebenfalls aufgesprungen und hat mich unwillkürlich einen Schritt zurückweichen lassen. «Elias, wir sind hier noch nicht fertig.»

«Ich gehe zu Fabian», entgegne ich trotzig, obschon mein Herz in der Erwartung der nächsten Ohrfeige wie wild schlägt.

Nun erhebt sich auch meine Mutter. «Wenn du jetzt gehst, dann brauchst du nicht mehr zurück zu kommen. Dann haben wir keinen Sohn mehr. Wir wollen alle nur dein Bestes, aber wir können dir nicht helfen, wenn du dich ständig dagegen wehrst. Du musst eine Entscheidung treffen in deinem Leben. Und du musst sie jetzt treffen.»

Wir stehen uns gegenüber, funkeln uns an, ich versuche, meine Traurigkeit mit Wut zu überdecken und nicht zu denken, was diese Entscheidung für mich bedeuten wird.

Doch ich komme nicht bis zu einer Antwort, denn auf einmal steht Sara im Zimmer. Wie ein Geist hat sie sich hereingeschlichen und die Aufmerksamkeit von uns dreien auf sich gezogen. Bestimmt hat sie gelauscht, denn ihr Blick ist verwässert und ihr Atem geht zu schnell.

Sie kommt direkt auf mich zu, schlingt ihre dünnen Arme um meinen Körper und zieht mich eng an sich. Ihren Kopf presst sie an meine Schulter, wo ihre Tränen nasse Flecken auf meinem Shirt hinterlassen. Sie zittert am ganzen Körper und ich streiche ihr beruhigend über Kopf und Rücken.

«Bitte, Elias, geh nicht. Bitte. Verlass mich nicht», sagt sie so leise, dass ich nicht sicher bin, ob meine Eltern sie auch hören können. «Bleib wenigstens zum Abendessen, schlaf eine Nacht drüber. Denk noch einmal nach. Nur eine einzige Nacht.»

Sara bricht mir das Herz. Wir hatten immer schon eine besondere Beziehung zueinander, bei strengen Eltern wächst man als Geschwister rasch zu einem Team zusammen. Und es tut mir unendlich weh, sie so zu sehen, denn wenn ich jetzt gehe, wird es das letzte Mal sein, dass ich sie überhaupt sehe.

Ich atme tief durch. Ich will nicht bleiben, nicht zum Abendessen und keine Nacht, denn ansonsten könnte ich es mir noch einmal anders überlegen und das wäre nicht gut. Aber wie könnte ich Saras Wunsch abschlagen? Wie könnte ich sie von mir stossen und gehen, wenn sie sich zitternd und weinend an mir festklammert?

«Na gut», willige ich ein, «ich bleibe zum Essen. Aber nur für Sara.» 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 29.04.2020

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für R.

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