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Teil 1


„Schwuchtel!“ Das Wort trifft mich genauso unerwartet wie der darauffolgende Faustschlag. Mauro und Timo, meine beiden besten Freunde, gehen sofort auf den Angreifer los, werfen ihn zu Boden und treten wie wild auf ihn ein. „Ist es nicht so?“, keucht Frank unter den Tritten und Schlägen. „Du bist doch schwul, oder, Dennis?“ Für einen Moment halten die beiden Jungen ein und blicken mich an. Dann prügeln sie weiter auf Frank ein. Er hat es ihm gesagt. Ich kann es nicht fassen. Ronny hat Frank tatsächlich erzählt, dass wir etwas miteinander gehabt haben. Oft hat er mir damit gedroht, es zu erzählen, aber ich hätte nicht gedacht, dass er es wirklich tut. Wir sind immer im Streit gewesen, wenn er mir damit gedroht hat. Auch gestern Abend. Doch dieser Streit ist anders gewesen. Schlimmer. Wir sind nicht mehr zusammen. Ronnys Verrat macht mich wütend, ich will ihn anschreien, ihn hassen, für das, was er mir angetan hat.
„Hört auf!“ Ich erschrecke, wie bestimmt meine Stimme klingt. Auf dem Pausenhof wird es totenstill und alle blicken mich an. Keiner hat damit gerechnet, dass ich etwas sage, ich selbst am wenigsten. Ich spüre auch Ronnys Blick auf mir ruhen. Einen Moment schaue ich ihm in die Augen und hoffe auf ein Lächeln, doch er wendet sich ab. „Was ist, Dennis? Willst du deinen Kumpels was sagen?“ Frank ist aufgestanden und kommt nun bedrohlich auf mich zu. Mauro und Timo wissen nicht, ob sie wieder auf ihn einprügeln sollen, lassen es jedoch bleiben und tauschen nur einige verwirrte Blicke. „Ja, ich habe ihnen was zu sagen. Euch allen! Passt gut auf, denn ich sage es nur einmal: Ich bin schwul.“ Die ganze Welt scheint den Atem anzuhalten. Mein Herz klopft wie wild. Es ist totenstill, abgesehen von meinem schnellen, keuchenden Atem. Die Stille drückt auf meine Ohren, es tut beinahe weh. Alle stehen sie da, steif und stumm wie Statuen, wagen es nicht, sich zu bewegen oder etwas zu sagen. Ihre Stummheit macht mich noch wütender. Ist es denn so schlimm, schwul zu sein?
Frank beginnt zu lachen. Einige stimmen mit ein, bis mich schliesslich die ganze Oberstufe auslacht und mit dem Finger auf mich zeigt. Sogar Mauro und Timo. „Schwul! Schwuchtel! Schwule Sau!“, klingt es von allen Seiten. Ich will mir die Hände auf die Ohren pressen, sie weder sehen noch hören. Die Wut steigt in mir auf, wie ein wildes Tier und ich schreie: „Haltet die Klappe! Sind wir hier im Kindergarten? Muss man immer zu der Mehrheit gehören und sich anpassen? Ich darf meine eigene Meinung haben, darf sein, wie ich bin. Ich darf lieben wen ich will und wie ich will. Ist es denn eine Schande, anders zu sein? Im Gegenteil. Ich bin stolz darauf, mich zu unterscheiden. Nicht zu sein wie ihr alle! Ja, ich bin schwul. Schwul, verdammt nochmal. Habt ihr es alle gehört? Ich bin schwul! Und ich bin stolz! Stolz darauf, nicht zu sein, wie ihr es seid. Stolz darauf, dazu zu stehen, was ich bin. Wie ich bin. Wir sind im 21. Jahrhundert und nicht mehr im Mittelalter. Da sollte man akzeptieren können, dass es Schwule gibt, immer gegeben hat und auch immer geben wird. Ich verachte Leute wie euch, die alles schlecht finden, was anders ist. Warum müssen alle gleich sein? Jeder ist anders und jeder sollte das offen zeigen dürfen, ohne deshalb verurteilt zu werden! Ich bin genauso ein Mensch, wie ihr alle auch und ich habe genauso das Recht, hier zu sein.“
Schweigen herrscht. Alle starren sie mich an, mit offenen Mündern, geweiteten Augen und Unverständnis im Gesicht. Für einen kurzen Moment glaube ich, gesiegt zu haben. Ihre Vorurteile weggeräumt und sie zur Vernunft gebracht zu haben. Doch dann trifft mich Franks Faust im Gesicht. Der Schlag kommt so unerwartet, dass ich taumelnd zu Boden falle und liegen bleibe. Die Menge tobt. „Wollt ihr, dass ich es der Schwuchtel hier richtig zeige?“ Übermut glänzt in Franks Augen. Wieder johlen alle. Ich werde getreten. Von allen Seiten getreten. Mädchen und Jungen, Kleine und Grosse, allesamt haben sie nur das Ziel, mich fertig zu machen. Mir ihre Verachtung zu zeigen, mir zu geben, was ich ihrer Meinung nach verdiene. „Schwuchtel! Ekliges Schwein! Du Abschaum!“ Die Stimmen hallen in mir wider, setzen sich in meinem Gehirn fest für alle Zeit. Ich gehöre nicht zu ihnen und ich werde nie zu ihnen gehören. Ihre Tritte schmerzen. Ich spüre meinen Körper kaum mehr, fühle nur noch den Schmerz. Er ist überall, ergreift meinen ganzen Körper, entfacht ein Feuer auf meiner Haut. Verzweifelt suche ich Ronny in der Menge und entdecke ihn schliesslich. Er steht etwas abseits, die Hilflosigkeit ins Gesicht geschrieben. Als er bemerkt, dass ich ihn ansehe, senkt er den Blick betreten zu Boden und geht weg. Einen Fusstritt später, verliere ich das Bewusstsein.

Teil 2


„Ist es sehr schlimm?“ Ich erkenne die Stimme sofort, obwohl sie viel zu laut und schrill klingt. Meine Mutter. Ich will die Augen öffnen, sie ansehen, sie einfach nur sehen. Ich bin nicht gestorben, ich lebe! Ich lebe tatsächlich noch! Meine Augenlider sind schwer wie Blei und ich kann sie nicht öffnen, aber ich will meine Mutter sehen. Ein Gurgeln entsteigt meiner Kehle und sofort verstummt eine tiefe, männliche Stimme, welche für mich unverständliches Zeug geredet hat. Ich begreife nicht, wo ich bin und was los ist. „Dennis? Bist du wach? Geht es dir gut? So sag doch was! Sieh mich doch an!“ Die verzweifelte Stimme meiner Mutter ist diesmal viel näher an meinem Ohr und in meinem Kopf beginnt es zu pulsieren. „Psst. Bitte nicht so laut“, mahnt die männliche Stimme. Endlich gelingt es mir, die Augen zu öffnen. Als erstes sehe ich meine Mutter und Freudentränen kullern über meine Wange. Ich lebe tatsächlich noch! Dann blicke ich mich langsam um und nehme den Raum wahr. Er ist weiss und riecht merkwürdig nach Arzt. Arzt! Natürlich! Ich bin im Krankenhaus! Ein Mann im weissen Kittel tritt in mein Blickfeld und fragt leise: „Wie geht es dir?“ Ich drehe mich ein wenig zur Seite und stöhne auf. „Es geht...“, presse ich zwischen meinen zusammengebissenen Zähnen hervor. Mutter soll nicht merken, wie elend ich mich fühle. Meine Haut brennt, mein ganzer Körper tut mir weh und ich habe schreckliche Kopfschmerzen. „Ich lasse Sie beide dann mal alleine“, erklärt der Arzt und verschwindet.
„Was ist passiert?“ Meine Mutter blickt mich besorgt an. Ich sehe, dass sie nach den richtigen Worten sucht. „Ein Lehrer hat dich inmitten einer Schülerhorde bewusstlos gefunden und sofort den Krankenwagen gerufen.“ Ich hebe meinen linken Arm und lasse ihn gleich wieder sinken. „Tut er sehr weh? Dein Handgelenk ist verstaucht. Was war denn eigentlich los in der Schule?“ Diesmal ist es an mir, nach den richtigen Worten zu suchen. „Du erinnerst dich an Ronny? Er war einige Male bei mir zu Besuch. Ich... ich liebte ihn.“ Die Augen meiner Mutter weiten sich ein wenig, doch sie fängt sich gleich wieder. Ich bin ihr so dankbar, dass sie nichts sagt und mich einfach nur in den Arm nimmt. „Die anderen haben mich provoziert und da habe ich ihnen gesagt, dass ich schwul bin. Daraufhin haben sich mich ausgelacht und mich verprügelt.“ Tränen rollen heiss über mein Gesicht. Ich wische sie weg. Beim Berühren meiner Wange durchfährt mich ein höllischer Schmerz und ich zucke zurück. „Was ist denn mit meinem Gesicht?“ Wortlos reicht mir meine Mutter in den Spiegel. Eine bleiche Gestalt mit zwei Platzwunden an der Stirn, einem blauen Auge, einer angeschwollenen Lippe und einer blutenden Nase blickt mir entgegen. Ich brauche einen Moment um zu begreifen, dass ich das bin. Erschrocken schlage ich mein Bettdecke zurück. Mein Körper ist über und über mit blauen Flecken und Blutergüssen bedeckt. Stöhnend sinke ich in mein Kissen zurück. Meine Mutter streicht mir vorsichtig durch mein Haar. „Ich werde noch heute Abend alles für einen Schulwechsel in die Wege leiten, versprochen!“

Teil 3


Ich blicke nach unten und sehe weit weg den Fluss fliessen. Einige spitze Steine ragen aus ihm heraus. Eine milde Brise weht und kühlt mein heisses, tränenverschmiertes Gesicht. Wie habe ich nur so dumm sein können, zu glauben, dass es sich ändert? Wie habe ich glauben können, dass ich jemals glücklich werde? Dass sie mich auf der anderen Schule akzeptieren? Ich weiss nicht, ob ich es jemals wirklich geglaubt habe oder ob es nur die Hoffnung gewesen ist, die mich an einen Neuanfang hat glauben lassen. Erst ist alles gut gegangen in der neuen Schule, doch bereits nach einem halben Jahr habe ich mich verliebt. In Jan. Ein grosser, unauffälliger Typ mit wunderschönen, dunkelgrünen Augen. Vielleicht hätten wir uns sogar verliebt, vielleicht wäre mehr daraus geworden, wenn nicht nach den Winterferien ein neuer Schüler in unsere Klasse gekommen wäre. Timo. Ich habe meinen Augen kaum getraut, als er da plötzlich gestanden hat. Ausgerechnet er. Timo. Und natürlich hat er allen erzählt, dass ich schwul bin. Durch die Gänge gerufen hat er es, auf Zettel geschrieben und ans schwarze Brett gehängt. Und diesmal ist alles anders gekommen als an der alten Schule. Sie haben mich nicht verhauen, nicht einen einzigen Schlag. Aber sie haben mich ausgegrenzt. Mich ignoriert. Flüsternd zusammen gestanden und in meine Richtung gegrinst. Manchmal haben sie auch Sprüche gerufen und jeder einzelne hat mich tausend Mal mehr verletzt als die Prügelei. Ich bin gestorben. Ganz langsam. Jeden Tag ein Stückchen mehr, ohne es zu merken. Ich habe mich geritzt, bis fast auf den Knochen. Meine Schulnoten sind gesunken. Meinen Eltern habe ich nichts davon erzählt, vor ihnen habe ich den fröhlichen Jungen gespielt. Sie haben gedacht, die Noten sinken wegen dem schwereren Schulstoff, ich sei so schweigsam, weil ich fleissig bin. Ich habe mich vor ihnen zurückgezogen, mehr und mehr. Ganz langsam. Stückweise. Bis ich sie fast gar nicht mehr zu Gesicht bekommen habe. Meine eigene Familie, die immer zu mir gestanden hat.
Und nun bin ich hier, mitten in der Nacht, auf dieser leeren, kalten Brücke. Ich will nicht mehr. Ich kann nicht mehr. Es ist mir alles zu viel geworden. Das Mobbing, das Verstellen, die unerfüllte Liebe... Es muss enden. Genau hier, genau jetzt. Meine Eltern schlafen. Sie werden mein Verschwinden frühestens morgen früh bemerken. Und dann werde ich schon nicht mehr sein. Ich werde den morgigen Tag nicht mehr erleben. Schnell werfe ich einen Blick nach links und einen nach rechts und bin beinahe enttäuscht, dass ich niemanden sehe. Will ich bloss Aufmerksamkeit? Und gar nicht sterben? Wie feige! Ich verwerfe den Gedanken wieder. Nein, ich will den Tod. Leute wie ich gehören in die Ewigkeit. In die Hölle. Kurz überlege ich mir, was ich alles verpassen werde. Wahrscheinlich nichts, als Jahre voller Hass und Einsamkeit, voller Vorurteilen und Gelächter. Ich steige über das Geländer und blicke hinunter. Es ist echt tief... Aber ich kann nicht mehr zurück, jetzt nicht. Beinahe andächtig schliesse ich die Augen und lasse mich nach vorne fallen. Endlich frei, denke ich, dann wird mein Körper von den Klippen zerschmettert und vom rauschenden Wasser verschlungen und ich fühle nichts mehr.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 31.10.2011

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