Bahnsteig der Hoffnung
Rafaela Bureta
Fast geräuschlos glitt der letzte Nachtzug aus der Halle. Der Bahnsteig war leer, bis auf einen einzelnen Mann. Er hatte sich eine Zigarette angezündet und starrte dem Zug nach, dessen rote Schlusslichter rasch kleiner wurden.
Wie oft bin ich schon hier gestanden? fragte sich der kleine unscheinbare Mann. Das Grau seines Anzugs hob sich kaum vom Bahnsteig ab, und seine Gedanken trugen ebenfalls keine Farben. Er stand wieder einmal vor den Scherben seines Lebens. Ein paar kleine Schritte hatten ihn nur von seinem Glück getrennt. Aber er traute sich nicht, diese zu gehen. Die Feigheit war wie Schmutzwasser, das über ihn lief und seinen Anzug so schwer machte, dass er seine Füße nicht bewegen konnte. Dieses Wasser war nicht eiskalt wie die Angst, eher lauwarm und eklig, wie ein faulender stinkender Tümpel. Er ekelte sich vor sich selbst.
Trotzig hob er den Kopf. Der Zug war mittlerweile ein geliebter Bekannter; eines Tages würde er dem Tümpel entkommen und hinein steigen. Einmal würde er nicht einsam hier stehen, sondern sich im
2. Klasse Wagon wärmen. Seine Seele würde vor Freude hüpfen…
Er lächelte bei der Vorstellung, wie er mit seinem Handy seine Geliebte anrufen würde. Anne, süße Anne. Sie hasste seine leeren Versprechun-gen so sehr. Sie würde vor Freude weinen, wenn er endgültig zu ihr kam. Und sie würde zu ihm aufschauen, wie sie es auch sonst immer tat. Sie würde seinen Mut bewundern, seine Entschlossenheit. Nie dürfte Anne ihn im Feigheitstümpel sehen. Darum erfand er Woche für Woche neue Ausreden, die in der Sonne glänzten wie der Lack eines neuen Sportwagens.
Das Gesicht seiner Frau Marie huschte an seinem inneren Blick vorbei. Sein Herz zog sich zusammen, das Wasser schien noch mehr zu
stinken. Er wollte diese Frau nicht mehr ertragen, das Grau der Ehe graute ihm immer mehr. Wenn er daran dachte, sie zu verlassen, erschien sie ihn immer mit den vertrauensvollen Mädchenaugen, die das Trüb einfach nicht kannten. Er konnte ihr das nicht antun. Oder?
Sie würde sich erholen, sagte er sich jede Woche, wenn er hier dem Zug nachsah. Dann sah er aber die Gesichter seiner Kinder. Erst vor kurzem
hatte sein Sohn geprahlt, er wäre eins der wenigen Kinder in seiner Klasse, die noch eine intakte Familie hatten. Thomas hatte ein Stich im Herzen gespürt. Er versuchte, den Gedanken an Anne zu unterdrücken, aber sie erschien ihm, diesmal nackt auf dem Bett, wo sie ihn freudig empfing. Er wurde rot, in seinem Unterleib pochte es.
Marie nervte ihn. Eigentlich liebte sie ihn nicht, sie liebte das Bild von dem Mann, den er werden würde, wenn sie ihn endlich erzogen hätte. Seit fünfzehn Jahren arbeitete sie nun daran. Darüber war sie langweilig und resigniert geworden. Sie lächelte ehrlicher beim Anblick einer guten Pizza als wenn er nach Hause kam.
Tag für Tag legte er einen grauen Schleier um sich, um Marie zu entkommen. Wenn er unsichtbar mit den Möbeln verschmolz, sah sie ihn nicht und forderte nichts von ihm. Aber auch die zwei Kinder übersahen ihn, sie erschraken, wenn er sie ansprach. Sie glotzten ihn an und schienen sich zu fragen, was er denn hier tat. Dann war die Unsichtbarkeit eine Falle, der er nicht mehr entkommen konnte.
Jeder Ehetag war ein Stich, und er sehnte sich nach der Frische und der Bewunderung von Anne. Ab und zu, wenn die Sehnsucht sehr groß wurde, malte er sich aus, wie es wäre, den Zug zu ihr zu nehmen und aus Maries Leben zu verschwinden. Eines Tages ertappte er sich, wie er am Bahnhof stand, und dem Zug nachsah. So wie heute. Seitdem kam er immer wieder hierher. Immer blieb er am Bahnsteig stehen, unfähig, den Zug zu nehmen.
Aber eines Tages, eines Tages würde er zwei Schritte weitergehen und einsteigen.
Traurig aber voller Hoffnung lies er die unverbrauchte Fahrkarte fallen. Sie versank in der Pfütze. In ein paar Tagen würde sich das Papier auflösen, es würde zu einer ekelhaften grauen pappigen Masse werden, auf die Passanten trampelten. Ein Grauton mehr auf dieser Welt.
Tag der Veröffentlichung: 04.10.2009
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