Die Sonne war schon mild, erste Mücken kamen auf und es roch intensiv nach Sommer, nach Hitze, gemähten Grass und Grillfleisch. Ein Geräusch lies den Mann stillstehen. Hinten im Garten, durch eine morsche Stelle am Zaun, kroch ein Kind hinein. Sein Sohn. Der Junge beugte sich, atemlos. Er hielt etwas zwischen den Händen, der Vater konnte es in der aufkommenden Dämmerung gerade noch erkennen: ein Apfel. Antonio musste grinsen: sein Sohn hatte einen Apfel geklaut, stolz über das geglückte Abenteuer stand er da. Wohl der erste geklaute Apfel seines Lebens…
Der Junge, wohlgenährt und satt nach Kaffee und Kuchen bei Oma, blickte auf das runde Obst. Es war saftig, frisch, duftend, wie es nur direkt vom Baum duftet. Im Mund zog sich der Speichel zusammen. Gleich würde er hinein beißen und die Süße und Säure schmecken…
Antonio spürte den Geschmack der Mango, wundersüß und so saftig, dass jeder Biss nasse Spuren hinterließ, die Bienen würden sich auf die Schlieren stürzen… der Hund des Grundbesitzers
würde die Spur folgen können. Er wohnte damals in Südamerika, in Lima, in den Vororten. Gegenden, die aus den wenigen Haben der Zugewanderten zusammengewürfelt sind. Die Kindergruppe war
fröhlich, das Abenteuer war zu Ende gebracht, sie könnte ihre leeren Magen sofort füllen, und sogar ein paar Früchte nach Hause bringen. Sie würde eine Geschichte erzählen: ich habe der alten Frau geholfen, als der Hund ihr Obststand umgeworfen hat, und da hat sie mir diese herrlichen Mangos geschenkt. Und die Mutter würde strahlen, und alle würden ein Stück essen.
Das Kind drehte sich kurz zum Zaun, der Nachbar war nicht zu sehen. Es hockte sich auf den Rasen hinter den Büschen, es wusste, diesen Apfel konnte er weder zeigen noch teilen, er musste ihn allein genießen. Eine Biene summte um seinen Kopf, er konnte die Rosen vor der Terrasse bis hierher riechen.
Bei dem Geräusch zogen sich die Herzen zusammen. "Qué es eso?", riefen die Kinder. Zunächst duckten sie sich im Reflex. Dann aber erreichte die Angst sämtliche Fasern der Körper, sie rannte durch die Nerven und befahl den Muskeln, sich zusammen zu ziehen. Die Kinder rannten, damals, unter der sengenden Sonne des peruanischen Sommers.
Er hatte nicht nur den Geschmack von Mango im Mund, sondern auch der metallische, leicht salzige
Geschmack des Lebenssaftes. Er hatte das Blut nicht ablecken wollen, es geschah im Reflex. Der Schmerz am Bein kam plötzlich, wie ein kleiner Wespenstich, er war überrascht und wunderte sich, als etwas Warmes hinab floss. Im Laufen langte er mit einer Hand danach, schaute das durch die Finger rinnende Rot mit Entsetzen an und streckte seine Zunge dem entgegen.
Was dann kam, war unvermeidbar. Angeschossen, mit Blei im Bein, kam er daheim an. Das Blut rann in einer dünnen Linie den Knöchel herunter, kaum der Rede wert, und der Schmerz verblasste in Gegenwart der Angst vor der Mutter. Die Mutter, dick und rund, wuchs zu einer unglaublichen Größe auf. Sie bäumte sich vor ihm auf und schrie ihn an: wenn dich das nicht umgebracht hat, so werde ich es tun! Und sie gab ihn zwei schallende Ohrfeigen, rechts und links. Sie diskutierte mit den älteren Söhnen: konnte sie zum Arzt gehen? Das Geld hatte sie nicht, was könnten sie hergeben? Konnte sie es sich erlauben, nicht den Arzt zu rufen? Sie vergoss Tränen, schrie und fluchte. Antonio konnte diese Szenen nie vergessen, auch heute, nachdem die Mutter drei Jahre tot war. Zwölf Jahre in Deutschland konnten diesen Erinnerungen ncihts anhaben.
Später tat die Mutter das Unglaubliche: sie ließ seinen Vater rufen. Seit er vor fünf Jahren mit diesem Mädchen weggezogen war, durfte der Mann das Haus nicht mehr betreten, und die Mutter hatte kein Wort mehr mit ihm gewechselt. Als wäre es nicht schlimm genug, dass Antonio seine Mutter enttäuscht hatte, erfuhr jetzt sein Vater davon. Noch heute zitterten die Hände in der Erinnerung, er spürte die brennenden Wangen, das Herz durchbohrt von Eiseskälte.
Der Apfel schmeckte herrlich, der ganze Frühling und der Sommer waren in ihm zu finden, er hatte die Farben der Blumen gespeichert, den Wind, den warmen Regen, die Anmut der Schmetterlinge. Er war der Zeuge dieses Sommers, in seinem Munde, und so wurde der Sommer auch Teil des Junges.
Sein Vater rief den Arzt und zahlte die Rechnung. Zwischen den Eltern wurde nur ein einziger Satz gewechselt: „wie hast du ihn denn erzogen?“, sagte er. Danach schlug er ihn mit dem dicken Ledergurt, den er gerade trug. Bei jedem Schlag wusste er, sein Vater war in Recht. Er hätte tot sein können, die ganze Welt hätte um ihn getrauert, und kein kleiner Sohn könnte jetzt einen Apfel klauen.
Nein, er würde es seiner Frau nicht erzählen. Sie würde nicht verstehen, wie wichtig solche Abenteuer für einen Jungen waren. Trotz Schuss, Ohrfeigen und
den Blutgeschmack, die Mangos für ihn immer haben würden, wuchs und wuchs in den nächsten Tagen der Stolz. Er fühlte, er war nicht mehr Kind, er war jetzt Mann… wie ein Indianer nach den Einweihungsriten. Vielleicht war dies, was ihm später den Mut gab, in die weite Welt zu ziehen, sein Land zu verlassen, übers Ozean zu fliegen und das Leben eines Einwanderers zu beginnen.
Er beobachtete seinen Sohn, wie er langsam aufstand. Die Stirn dem Himmel zugewandtt schritt er zum Haus. Er hörte die Mutter rufen, und das Kind lief zu ihr. Der Vater wusste nicht, ob er sich über die ruhige, wohlhabende Kindheit freuen sollte, oder ob er den Sohn wegen der fehlenden echten Abenteuer des Lebens bedauern sollte. Er stand auf und ging zum Haus, den Geschmack von Blut mit sich tragend.
Tag der Veröffentlichung: 28.10.2008
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Widmung:
Für Daniel