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Sieglinde Brauer legte sich vorsichtig ins Bett. Mit 84 Jahren kann man sich nicht mehr so schnell strecken. Die Knochen sind empfindlich, kaum durch ein wenig dürre Haut geschützt, da die Muskeln dahinschwinden. Wie immer öfters schlug Sieglindes Herz durch die Anstrengung schnell und alarmiert.

Sieglinde seufzte. Sie war froh, endlich das Krankenhaus verlassen zu haben. Nette Schwestern, aber zu jung, um richtig zu arbeiten. Schlechtes Essen. Nur die Rosen ihrer Bettnachbarin hatten wunderbar geduftet, erinnerte sie sich mit einem Lächeln. Aber daheim, im eigenen Bett war es doch am Schönsten.

Wie so oft konnte Sieglinde nicht einschlafen. Das Licht störte sie. Sie durfte aber das Licht nicht ausmachen, denn in der Nacht würde sie auf die Toilette gehen müssen. Im Dunkeln konnte sie nichts mehr sehen, und sie war zu unsicher auf den Beinen, als dass sie nach dem Lichtschalter suchen konnte. Da lies sie die Lampe lieber die ganze Nacht brennen. Die Stromrechnung würde diesen Monat hoch werden. Vielleicht sollte sie Kerzen besorgen, wie man damals im Krieg hatte. Kostbar waren die gewesen, wahrhaft kostbar und knapp. Sie strich sich bei der Erinnerung müde über die Stirn. „Ja, ich hab schon viel schlimmere Zeiten überlebt“, sagte sie sich.


Ein Unglück, dass sie so lang im Krankenhaus gewesen war. Zuerst diese dumme Beinthrombose, das Alter, ja, das viele schwere Tragen, das war nicht gut für die Beine. Man wollte sie schon entlassen, da war sie bei einer Untersuchung dumm gestürzt, dabei hätte sie ja nur bis zur nächsten Tür laufen müssen. Sie hatte schon dem Zivi gesagt, sie brauche dazu ihren Stock, aber den hatte er im Zimmer liegen lassen, und der Arzt wartete schon ungeduldig. Bald hatte sie sich in einer Liege wiedergefunden, mit geschwollener Nase und verschürfte Knie. Irgendwie war sie mit dem Gesicht gegen die Türstufe geknallt.

Sie hatte nicht über den Zivi geschimpft. Auch auf ihr Stock war nicht immer verlass. Sie schaute auf ihre Hände. War vielleicht ihr Zittern schuld? „Wie auch immer, so is’ es gewesen“, schloss sie den Gedanken ab.

Dieser Vorfall hatte ihr noch eine Woche beschert. Danach –endlich!- war sie wieder zu Hause gewesen, aber nach drei Tagen, da hatte sie solche Schmerzen auf der Toilette gehabt…, und der gute Dr. Henning hatte sie wieder ins Krankenhaus geschickt. Blasenentzündung. Ob das hatte sein müssen? Aber der junge Doktor war immer so besorgt und übervorsichtig!

In der neuen Klinik hatten sie sich auch aufgeregt – es war eine andere, das Essen hier besser- irgendwas von Krankenhauskeime gesagt, darüber, ob sie sich überhaupt selbst versorgen könne und wieso sie überhaupt nach Hause geschickt worden sei. Da hatte sie es mit der Angst zu tun bekommen. Womöglich wollte diese Klinik sie nie wieder nach Hause lassen. Sie musste versprechen, viel zu trinken. Und ihre Medikamente zu nehmen. Eingeschüchtert hatte sie immer genickt. Erst dann durfte sie nach Hause.
Heimlich hatte sie sich gewundert, wieso die Krankenschwestern dachten, sie würde dies alles nicht tun. Mein Gott, sie wollte doch leben und ab und zu ihre Enkel sehen.

Ihre Enkel! Sie waren die Sonne ihres Lebens. Ihre Tochter natürlich auch, die Arme, sie arbeitete sich für die zwei Jungs so auf. Auf Männer ist kein Verlass, das wusste Sieglinde schon früh. Aber dass ihre Gisela so sitzen gelassen wurde und so schuften musste, das schnitt ihr ins Herz.

„Mein Gott, trinken!“, ermahnte sich Sieglinde. Die zitternde Hand kam nicht bis an das Nachtkästchen. Das Glas war leer, der Krug stand daneben. Das Herz pochte unsicher, sie zog ihre Hand zurück. Sie hätte sich ganz aufsetzen müssen. „Morgen, sagte sie sich, morgen in der früh reicht’s auch.“

Die Gisela machte sich Sorgen, dass hatte Sieglinde genau gemerkt. Die Sozialarbeiterin, Fr. Baumann, hatte ihnen von dem neuen Gesetz erzählt. „Ab jetzt können sich Angehörige für die Pflege ein halbes Jahr von der Arbeit frei nehmen, und der Arbeitgeber muss ihnen frei geben.“ Gisela hatte überrascht aufgeschaut, en Hoffnungsschimmer in den Augen. „Und das zahlt die Krankenkasse?“ hatte sie sich erkundigt. „Zahlen? Nein, nein, das ist unbezahlter Urlaub, sozusagen. Aber der Arbeitgeber muss ihnen frei geben. Dann haben sie Zeit für die Pflege“, wiederholte Frau Bauer begeistert über diesen unglaublichen Fortschritt.

Die Sozialarbeiterin war jung, für Sieglinde fast noch ein Kind. Gisela kniff die Augen zusammen. Sich für ihre Mutter frei zu nehmen, das sah sie als ihre Pflicht, und sie hätte sich in der Pflege alle Mühe gegeben. Wenn sie frei nahm, würde sie auch mehr Zeit für ihre Zwillinge haben, etwas, wovon sie seit deren Geburt träumte. Ein halbes Jahr Beurlaubung, das waren ja nur sechst tausend Euro, die ihr an Gehalt fehlen würden. Sechstausend Euro. Sechstausend Euro besaß sie nicht. Schon ein Monat ohne Verdienst konnte sie nicht überbrücken. Gerade erst im Juli war die Waschmaschine kaputt gegangen. So war ihr gespartes dahin. Und die Einschulung stand in zwei Wochen bevor: Schulranzen, Sportsachen, Hefte, Büchergeld, Hort… alles gleich zweimal. Wer sollte das denn zahlen?

Als das junge Mädel, die Sozialarbeiterin, gegangen war, hatte Sieglinde auf Gisela eingeredet. Mit ihren Worten wollte sie ihrer Tochter die Furche zwischen den Augen und die Sorgenfalten im Herzen glätten. „Mein Kind, ich hab immer selbst für mich gesorgt, und das kann ich jetzt ja auch. Ich kann laufen, und Medikamente nehmen, das ist ja nicht schwer. Ich bin ganz klar im Kopf. Mein Gott, was machen die hier alle ein Theater dadrum!“ Sieglinde ärgerte sich in Gedanken aufs Neue. „Ist doch war“, schimpfte sie auch jetzt, zog fest an ihrer Decke und rüttelte am Kissen. „So, und jetzt is’ Schluss, es wird geschlafen!!!“, rief sie sich zur Ordnung. Aufregen hilft nix!


„Mei, hab ich Durst.“ Das war Sieglindes erste Empfindung beim Aufwachen. Der Mund war so trocken, das selbst die Luft am Gaumen kleben blieb. Mühsam setzte sie sich auf. Es war ihr warm, obwohl die Decke auf den Boden gerutscht war. Die zerbrechlichen Finger umschlossen den Griff des Kruges. War der schon immer so schwer gewesen? Langsam hob sie ihn hoch und neigte ihn zum Glas. Erschöpft senkte sie den Arm wieder, setze den Krug ab. Ein zweites Mal hob sie zittrig den Krug und dann gluckste munter das Wasser, froh darüber, freiheitliche Wege gehen zu dürfen. Die kleine Wasserpfütze bewegte sich zum Rand des Tischchens, und Sieglindes Augen folgten ihr. Im Glas befand sich kaum ein Finger hoch Flüssigkeit.

„Mit 84 hat man Geduld, oder man wird sie nie mehr lernen“, sagte Sieglinde zu sich. Sie stellte die Kanne wieder hin. Bedächtig hob sie das Glas hoch und führte es an den Mund. In einem Schluck war das Glas geleert, der Durst aber nicht gestillt. Vom Nachtkästchen tropften fröhlich einzelne Wassertropfen und sammelten sich auf dem alten Teppich, färbten eine kleine Stelle dunkler als den Rest.

So wie die Wassertropfen die kleine obere Pfütze verließen, eins nach dem anderen, so rann auch die Zeit, unaufhaltsam. Man wurde alt, gebrechlich, krank… das war der unaufhaltsame Lauf des Lebens.

Das Bild ihrer Tochter mit Enkeln auf dem Nachtkästchen lächelte sie an. Sieglinde lächelte zurück. Sie erinnerte sich, wie es war, nach dem Krieg, mit einem Baby und einem Mann, der als Junge in den Krieg gegangen war und als verletzter Junge zurückkam. Sie war die Erwachsene im Haus, hatte geschuftet Tag und Nacht um alle durchzubringen, hatte noch ihren eigenen Vater versorgt und das Kind ihrer Schwester. Nichts am Leben war fair. Sie hätte ein ruhiges, sorgenfreies Alter verdient.

„Die Zeit kann man nicht aufhalten“, sagte Sieglinde laut. Fast wollte sie lachen über den abgedroschenen Satz. Aber sie wusste, eigentlich wäre es jetzt der richtige Moment und die bessere Form, zu sterben. Sie stellte den Krug, den sie dabei war, hoch zu heben, wieder ab und lehnte sich mit einem Lächeln in ihrem Kissen zurück. Mit einem Lied summte sie sich in den Schlaf .


Impressum

Tag der Veröffentlichung: 27.10.2008

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
An meine Krankenhausnachbarin

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