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Isolation


Anna, rief Monika im Vorbeigehen, heute hab ich ein paar Freunde eingeladen, wir kochen mitsammen und feiern einfach diesen Fenstertag, komm doch auch! Der Raum, in dem sie zu dritt arbeiteten, war hell und freundlich. Sie befanden sich unter dem obersten Stockwerk und konnten von ihrem Arbeitsplatz auf den Stephansplatz sehen, auf den immer gebrechlich wirkenden und doch so unerschütterlichen grauen Dom, umgeben von sehr viel kräftiger wirkenden Häusern und bedeckt von einem zerfransten Stück Himmel.

Anna stand auf und blickte hinunter, auf diesen Platz, es schien, als ob er sich ständig bewegen würde. Wenn sie die Augen zu einem Spalt verengte, dann wurden die Menschen dort unten, die Kinder, Hunde, Pferde, Tauben, Fahrräder und Kinderwagen zu einer einzigen, auf und ab drängenden Masse - unterbrochen von einem großen Loch in der Mitte, dem unerschöpflichen U-Bahnschacht. Wie aus einer nie versiegenden Quelle drängte Nachschub, staute, verdichtete sich, um sich dann kreisförmig in einer Wellenbewegung zu verlieren, wie die ewige Flut des Meeres wieder zurückzukehren und im Sog des Loches zu verschwinden.

Ja, meinte Sonja, sie saß wie immer kaum zu sehen hinter einem riesigen Schreibtisch, verdeckt vom viel zu großen Bildschirm, auf dem bis zum obersten Punkt aufgeschraubten Bürostuhl, ergänzt durch eine Fußstütze und ein liebevoll gehäkeltes Pölsterchen. Sonja war als entzückendes und wohlproportioniertes Persönchen mit überschäumender Lebensfreude und ausgeprägtem Sinn fürs Praktische ein wenig zu klein geraten.

Ja, das wäre doch die Gelegenheit, dir endlich diese beiden Brüder anzusehen, du weißt schon, diese beiden, die immer auf der Suche sind nach der besonderen, geheimnisvollen, interessanten Frau und die Monika und mich nicht dazuzählen, trotz unserer Bemühungen!

Monika lachte und ging mit festen und energischen Schritten durch den Raum, ein wenig rundlich, umsichtig, nie müde werdend und auf seltsame Art von einer anheimelnden Mütterlichkeit. Kaum zu vereinbaren mit der Tätigkeit, die ihr zugefallen und für die sie offenbar geschaffen war.

Sie konnte in Zahlen denken, sie konnte ihre Arbeit und die der anderen einschließlich des Chefmenschen auf Kosten-Nutzen reduzieren. Dieses Lebensprinzip strahlte aus ihren Augen, wenn sie sich klar und sachlich ein Projekt vornahm oder ihrem jeweiligen Gegenüber ohne Ansicht der Person ins Gesicht schaute.

Du kannst doch nicht etwa schon wieder verplant sein?! Lass mich raten, was ist es denn diesmal – sie drehte Anna zu sich herum, die noch immer den Blick nicht vom Stephansplatz wenden konnte – was ist es diesmal? Eins von den Seminaren, die du so oft besuchst, wieso bringst uns eigentlich nie mit solchen Leuten zusammen? Oder wieder mal ein Bridge-Turnier, kanns mir nicht vorstellen, dass dich das so glücklich macht, ein ganzes Wochenende mit Kartenmenschen zu verbringen?! Wie machst du das nur, du hast immer was vor und nie Zeit für uns, schenk uns mal die Freude deiner Anwesenheit. Keine Kartenmenschen und so, wir und die Freunde und als Draufgabe die zwei Brüder, Menschen aus Fleisch und Blut!

Monika verstummte, sie wusste nicht genau, warum ihr diese Worte entschlüpft waren, es war ihr plötzlich peinlich und nur das Lachen Sonjas rettete sie aus ihrer Verlegenheit. Ja, das sind sie wirklich, lachte Sonja, und gesegnet mit einem gehörigen Appetit, es macht Spaß mit ihnen zu kochen und noch mehr, mit ihnen zu essen!

Anna schwieg und lächelte. Niemand nahm Anstoß daran, wie immer fiel es gar nicht auf. Anna schwieg meistens, auch wenn sie redete, schien sie zu schweigen. Sonja meinte manchmal kichernd, Anna wäre durchsichtig, wahrhaftig durchsichtig, weil man immer nachsehen musste, ob sie wirklich da war.
Das war liebevoll scherzend gemeint, alle wussten das, denn Anna war von einer pünktlichen Verlässlichkeit, die den Chefmenschen und oft auch ihre Kolleginnen dazu verführten, es als Tatsache anzusehen, dass Anna eigentlich immer da war. Ohne dass sie jemals in die Situation gerieten, mit ihr als Person konfrontiert zu werden. Der Chefmensch hielt große Stücke auf sie.

Anna schob Monika zur Seite, sehr sanft, wie sie es immer tat, wenn sie ablehnend und unberührbar wurde. Ich habe ein Treffen mit meinen Schachfreunden, meinte sie, das dauert gerade zwei Abende, und am Wochenende werde ich in Deutschland sein, nein, Monika, keine Angst um Deine Terminarbeit, Montag bin ich wieder hier, du weißt doch, dass du dich auf mich verlassen kannst! Vielleicht ein andermal, aber diesmal – sie brach mitten im Satz ab und ging zu ihrem Telefon, schnell und freudig, so, als wäre ihr das Läuten zu Hilfe gekommen.

Das Intermezzo war beendet. Sonja füllte den Rest des Tages mit fröhlichem Lachen und Monikas trockene, kurze Statements über Kundenverhalten und sonstige Alltäglichkeiten
lieferten den Stoff dazu. Anna war einfach da und funktionierte, ruhig und freundlich, lächelnd und unangreifbar in ihrer Unbeteiligtheit.

Sie gingen auseinander mit guten Wünschen für das lange Wochenende und mit gegenseitigen Vorschlägen, wie das kommende Beisammensein nicht nur kulinarisch sondern auch mit einigem Schabernack, gemixt von Sonja und gezielt an den Mann gebracht von Monika, zu würzen. Sie bedrängten Anna nicht mehr, wissend um schon so oft erfahrene Erfolglosigkeit ihres liebevollen Bemühens.

Der Montag kam und ging vorbei, es war kein schöner Tag, keiner, den man in gewohnter Weise abschließen konnte mit dem befriedigten Gefühl, die Woche gut begonnen zu haben. Den Arbeitstag trotz wehmütiger Gedanken an das vergangene Wochenende mit Schwung genommen und gemeinsam zu Ende gebracht zu haben – noch nie war so deutlich geworden, wie sehr Annas sprichwörtliche Durchsichtigkeit, ihre freundliche Unberührbarkeit und ihr unbeteiligtes Nichtanwesendsein den Raum belebte.

Denn Anna war nicht gekommen.
Allein diese Tatsache, ohne um den sicher gewichtigen Grund zu wissen, verursachte Unbehagen. Sonjas Lachen war gepresst und nervös, Monikas aufkeimender Groll über die sinnlos vertane Zeit bei der Erledigung der
Terminarbeiten erschöpfte sich im Bemühen, den Chefmenschen davon zu überzeugen, dass dank ihrer umsichtigen Planung noch genügend Zeit vorhanden sei und sich Kosten-Nutzen noch immer gewinnbringend rechnen würden.

Der Dienstagvormittag verging, keine Nachricht von Anna kam, keine Flug- und sonstigen Unfallmeldungen waren festzustellen, jeder Griff zum Telefon endete in schmerzhafter Enttäuschung, weil er nicht die erwartete Erleichterung von Annas Stimme brachte. Die beiden verwarfen die sonst so geliebte und peinlichst genau eingehaltene Ruhe der Mittagspause und fuhren kurzentschlossen zu Annas Wohnung.
Sie wussten nicht genau, was sie dort wollten und sollten, sie kicherten sich über die aufsteigende Angst und Nervosität hinweg und stellten alberne Prognosen an, in welch fragwürdigen Situationen sie Anna und wen sie dort sonst noch antreffen würden.

Annas Wohnung war still und verschlossen, ihre Tür, glatt und weiß, nur unterbrochen von einem kleinen, unscheinbaren Türknauf über dem Schloss, gab den beiden das Gefühl, hier stünde Anna selbst, sauber, glatt, gepflegt, kühl, abweisend, nichtssagend, funktionell und unbeteiligt.
Der herbeigerufene Hausmeister betonte, er habe Anna zwar vor einigen Tagen pünktlich wie immer nach Hause kommen gesehen, er hätte sie auch kurz gesprochen. Sie habe ihm erklärt, sie fühle sich erschöpft und freue sich auf ein paar ungestörte Tage. Da begann Sonja hilflos an die Tür zu trommeln, bis Monika die Polizei brachte und die Tür, diese stille Tür, aufgebrochen wurde.

Die Polizisten betraten zuerst die Wohnung, vorsichtig, und Annas Namen rufend, leicht zögernd und immer wieder stehenbleibend. Man ging durch den Vorraum, kam an der Küche vorbei, fand das Wohnzimmer und suchte das Bad, einen möglichen Unfall vermutend. Eine hübsche Wohnung, völlig
unberührt, einmal eingerichtet und nichts benützt, in der Küche keine Essensreste, das Badezimmer kühl und sauber, kein Hinweis auf gewaltsame Vorgänge welcher Art auch immer.

Einer der Polizisten fand sie, er rief sie leise an, wie um sie nicht zu erschrecken, wohl sehend, dass nichts mehr sie erschrecken würde. Sie saß im Schlafzimmer, neben einem halbgeöffneten Fenster, ein leises Summen erfüllte den Raum. Der Vorhang bewegte sich im Luftzug, er strich immer wieder über ihren vorgeneigten Kopf, hin und zurück, eine zarte, sanfte Berührung, ein Streicheln, das doch keines war. Ihr vornübergesunkener Kopf hatte seinen Halt gefunden am erleuchteten Bildschirm des Computers, sie saß da und umarmte Tastatur und Bildschirm. Es schien, als ob sie lächelte, und es schien, als hätte sie ihr wahres zu Hause gefunden, als ob sie sich in die Maschine zurückgezogen hätte, in die virtuelle, unpersönliche und nichtexistierende Realität, ihre Verbundenheit hieß Internet.

Monika stand da und starrte auf den Bildschirm, sie wünschte, sie könnte weinen wie Sonja. Noch nie war ihre Sehnsucht nach warmen, lebendigen, fließenden Tränen so groß gewesen wie jetzt in diesem Augenblick, da sie hinter Annas abgewandtem Rücken stand, den Blick auf den Schirm gerichtet. Ihre eigenen Worte dröhnten ihr im Ohr – Anna, Menschen aus Fleisch und Blut – ihr fiel es plötzlich wie Schuppen von den Augen, dass Anna, die vielbeschäftigte, vielvergebene und nie Zeit habende Anna, ihr Leben nicht mit Menschen verbracht hatte – sie hatte die virtuelle Unwirklichkeit der menschlichen Nähe vorgezogen.
Sie hob die Hand - kurz nur - sie wollte diesen Kopf, diesen Rücken, streicheln, viel nichtgesagte Worte einfach hineinstreicheln, doch der Vorhang hielt sie zurück. Er hatte diesen Part übernommen, hauchzart, kühl, sanft, ruhig und unbeteiligt.

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Tag der Veröffentlichung: 04.05.2011

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