Es war einmal ein junges Mädchen namens Sanne, ein Kind noch und doch schon eine Frau. Sie lebte mit ihrer Familie in einem kleinen Haus am Rande eines Dorfes. Oft stritten sich ihre Eltern und Sanne bekam Dinge mit, von denen ein Mädchen ihres Alters nichts wissen müssen sollte. Diese Dinge machten sie traurig und auch wenn sie sie nicht verstand, so fühlte sie doch, daß ihre Eltern sich immer weniger liebten.
Traurig wurde sie dann und oft stahl sie sich in der Dunkelheit aus ihrem Fenster, schlich durch den Garten, kletterte über den Zaun und lief über die Wiese zum Waldrand. Dort war es zwar nicht ruhig, denn der Wald brachte auch des Nachts Geräusche hervor. Dennoch gab es in diesem Wald eine Art Stille, die das Mädchen mit jedem Besuch in sich einsog und in sich mit nach Hause nahm.
Die Zeit verging und Sanne floh immer häufiger in den Wald, um wenigstens etwas Stille zu finden, denn zu Hause wurden die Eltern immer lauter. Sie lief mit jedem Besuch weiter in den Wald hinein, fand immer neue Wege und wollte immer häufiger nicht mehr nach Hause zurück, denn zu Hause stahl der Krach ihr ihre sorgsam im Wald gesammelte Stille.
Eines Abends, es war zu Hause mal wieder besonders schlimm gewesen, entdeckte Sanne auf ihrem Streifzug durch den Wald eine Frau. Deren Alter war nicht einzuschätzen, sie war weder alt, noch jung. Sie saß auf dem Stamm der Weide, die ein Sturm vor Jahren geknickt und fast ins Wasser des Waldweihers getaucht hatte. Sanne verbarg sich am Ufer hinter einem breiten Erlenstamm und beobachtete die Frau. Auf ihrem Schoß hatte diese eine fast leere Holzschüssel, aus der sie kristallklare, im Mondlicht schimmernde Perlen hervornahm, sie auffädelte - und mit jeder Perle eine neue Strophe eines unbekannten Liedes sang. Die Frau schaute nicht auf, war offensichtlich ganz in ihre Arbeit versunken und dennoch hatte Sanne das Gefühl, diese Frau sähe bis in ihr tiefstes Inneres und fühle all den Schmerz, den sonst nur die Stille zuzudecken vermochte.
Wie von selbst begannen Tränen über Sannes Wange zu laufen und ängstlich bedeckte sie ihr Gesicht, aus Scham und Furcht, die Tränen würden nicht wieder versiegen. Sie biss sich auf die Lippen und atmete flach und leise, um nur ja kein verräterisches Geräusch zu machen, während ihr ihre Tränen aus den Augen - hinein in ihre Hände fielen.
Als Sanne eine Weile später aufsah, bemerkte sie, dass sich die Schüssel der Frau wie auf wundersame Weise wieder gefüllt hatte. Die Frau schien nichts zu bemerken, denn sie sang ihr Lied und fädelte die Perlen, ohne auch nur einmal zu stocken oder auch nur aufzusehen. Doch das Gefühl, daß die Frau ihren inneren Schmerz kenne, ließ Sanne nicht los.
Lange stand Sanne da, beobachtete die Frau und lauschte dem Lied, bis irgendwann die stummen Tränen versiegten und Frau Luna schon hoch über dem Waldweiher stand. Seltsam getröstet fühlte sie sich und als sie vorsichtig in sich hinein horchte, fand sie keinen Schmerz mehr, nur noch wärmende Stille. Verwundert blinzelte sie. Wo waren die Frau und ihr Lied? Vorsichtig reckte Sanne ihren Kopf etwas weiter hinter dem Baum hervor, doch die Frau blieb verschwunden. An der Stelle, an der sie gesessen hatte, glitzerte etwas im Mondlicht. Langsam ging Sanne zum Weidenstamm und sah dort eine wunderschöne Kristallperlenkette liegen.
Die Blätter der Trauerweide wisperten leise in einer aufkommenden Brise und vom Wasser war ein leises Plätschern zu hören. Sanne sah erst zum Wasser, dann nach oben ins Geäst des Baumes. Nichts und Niemand war zu sehen. Behutsam nahm sie die Kristallperlenkette in ihre Hand, drehte und wendete sie. Die Kette schien im Mondschein zu strahlen und zu funkeln und fühlte sich gut an in Sannes Hand. Lächelnd streifte sie sich die Kette um und verspürte, wie eine wärmende Stille in ihr selbst zu wachsen und sie ganz auszufüllen begann. Begann, sie zu trösten und ihr Kraft zu geben.
„Danke“ flüsterte Sanne leise und ging langsam nach Hause.
Texte: F.-M. Belitz
Bildmaterialien: F.-M. Belitz
Tag der Veröffentlichung: 21.06.2012
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