Ich stehe nun schon seit vielen Jahrzehnten hier – immer an dieser Stelle und zu jeder Jahreszeit. Im Sommer genauso wie im Winter, auch wenn es schneit, regnet und stürmt. Das ist auch kein Wunder, denn ich bin fest verwurzelt mit dieser Erde.
Schon seit einigen Jahren läuft hier jeden Abend eine Joggerin lang, nein das ist falsch, es laufen hier jeden Abend zwei Joggerinnen lang. Ich kann sie immer schon aus der Ferne sehen, die Menschen, wie sie sich mit ihren beiden Beinen fortbewegen. Das ist durch meine Größe möglich, und ich bin immer neidisch auf die Menschen. Ich würde mich auch gerne fortbewegen können, würde auch gerne die Welt sehen, dass Meer, von welchem mir die Vögel immer berichten. Jedes Jahr erzählen sie mir davon, immer wenn sie hier vorbeikommen, hier einen Halt machen.
Heute war die Joggerin nicht mit ihrer Freundin unterwegs. Ich weiß, nicht warum, denn sie waren immer zu zweit. Aber sie war auch nicht alleine, jemand folgte ihr. Ich konnte ihre Angst spüren, konnte sehen, wie sie schneller wurde. Leider konzentrierte sie sich nicht auf den Weg, denn dann hätte sie meine Wurzel sehen können. Wenn mich die Menschen verstehen würden, dann hätte ich ihr noch zugerufen, dass sie dort ist, dort wo sie schon immer ist. Leider kann ich meine Wurzeln nicht bewegen, ich kann mich leider überhaupt nicht bewegen. Wenn ich das könnte, dann wäre ich wahrscheinlich nicht mehr hier. Da ich es aber nicht kann, musste ich mitansehen, wie die Joggerin das erste Mal über meine Wurzel fiel. Das ist ihr bisher noch nie passiert und das, obwohl sie schon so lange hier langläuft. Als sie sich mit ihren Händen abfing, um nicht mit dem Gesicht auf den Boden aufzuschlagen, fiel ihr etwas vom Armgelenk. Viele Menschen laufen damit herum, wozu es da ist, dass weiß ich leider nicht.
Auf einmal war er da, die zweite Person, die ihr folgte. Er war schnell, der zweite Mensch. Er trat von hinten an ihr heran, griff nach ihr, ein Knacken folgte und in der ferne lachte eine Ente. Auf einmal war die Joggerin ganz ruhig, sie bewegte sich nicht mehr, atmete nicht mehr, sie war tot. Ihr Verfolger packte den leblosen Körper und brachte ihn weg, aber nicht weit weg, sondern in ein Haus, in welchem schon seit Jahren kein Mensch mehr lebte. Er verschwand mit ihr in diesem Haus und tauchte erst am frühen Morgen wieder auf, ohne die Joggerin. Er schaute sich kurz um und ging vom Haus weg. Irgendwann konnte ich ihn dann nicht mehr sehen.
Später kamen dann viele andere Menschen hierher. Sie suchten die Joggerin und fanden nur das Teil, welches ihr gestern vom Armgelenk gefallen ist. Auch den vielen Menschen konnte ich bei ihrer Suche nicht helfen, obwohl ich wusste, wo die Joggerin ist. Aber die Menschen verstehen mich leider nicht!
Hatte sie ihn gesehen? Er war gerade dabei in ein leer stehendes Haus einzusteigen, in welchem er die Nacht verbringen wollte. Genau in diesem Moment lief die Joggerin an dem Grundstück vorbei und er hätte schwören können, dass sie ihm genau in die Augen gesehen hat. Wenn sie ihn wirklich gesehen hatte, dann würde die Joggerin wahrscheinlich die Polizei rufen und dieses Risiko konnte er nicht eingehen. Nicht er, wo seine DNA doch bundesweit gesucht wird. Wer weiß, ob die Polizei nicht auf die Idee kommen würde, eine DNA-Probe von ihm zu nehmen, sobald sie ihn wegen Einbruchs verhaftet hatte? Dieses Risiko war ihm einfach zu groß. Sicher könnte es auch Einbildung sein und die Joggerin hatte ihn gar nicht gesehen. Aber das wusste er nicht und sollte es so sein, dann war die Joggerin eben zur falschen Zeit am falschen Ort. Sie hätte ja fünf Minuten vorher hier langlaufen können, oder fünf Minuten später. Dass sie es genau in diesem Moment getan hatte, das war nicht sein Problem, das war ihres.
Er machte sich auf dem
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Sven Buchien
Bildmaterialien: Sven Buchien
Tag der Veröffentlichung: 06.08.2014
ISBN: 978-3-7368-3044-8
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