Helden
Eine Geschichte zwischen den Welten
Fantasy
Florian Tietgen
mit Illustrationen von Lintangwijaya
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Über dieses Buch
Wann ist ein Held ein Held?
Helden drücken sich nicht an die Wand und verstecken sich vor aller Welt, wie Jan es bei seiner Ankunft im Heim tut. Dabei ist er für Jonas ein Held. Jan hat geschafft, was Jonas nicht konnte.
Beide Jungen haben Schreckliches durchgemacht. Aber Fantasie und Zeichentalent helfen ihnen und den Lesern durch ihre Erlebnisse. Dabei entscheidet der Leser, welchem Teil er als nächstes folgen möchte. Und als Clou ist ein Teil der Geschichte gezeichnet. Und als Clou ist ein Teil der Geschichte gezeichnet!
Zwei Jungen, zwei Schicksale, zwei Talente, eine Geschichte.
Falls Sie es lieber traditionell mögen: Folgen Sie am Ende jedes Kapitels dem »Tipp des Autors« – dann finden Sie den Weg durch den Text, den der Autor vorschlägt!
Jonas
1
Helden drücken sich nicht an die Wand. Sie verkriechen sich nicht in sich selbst, und sie verschränken die Hände nicht, als wollten sie sich vor aller Welt verstecken.
Für mich ist Jan ein Held. Immerhin hat er gewagt, was ich mich nicht traute, hat Stärke bewiesen und beendet, was ihm auf die Eier ging.
Er schaut unsicher in alle Richtungen, als er durch die Tür kommt, duckt sich, als könne er mit seinem Kopf gegen die Decke stoßen. Dabei misst er höchstens einen Meter vierzig. Bei jedem Geräusch zuckt er zusammen. Wenn das so weitergeht, wird er hier nicht viel Freude haben. An die Geräusche muss er sich gewöhnen. Stille ist in unserer Welt ein Luxus.
Ich stehe mit den anderen im Flur. Wir alle sind neugierig auf ihn. Jan tut, als bemerke er uns nicht. Er sieht uns nicht an. Er sieht Jochen nicht an, den Direktor, der ihm im Eingang die Hand schüttelt. Er sieht nicht Claus, den Sozialarbeiter, der hinter ihm durch die Tür kommt und ihn an eingesunkenen Schultern hereinführt. Helden sehen anders aus.
»Das ist ja ein Weichei«, sagt Dennis enttäuscht, die anderen stimmen ihm murrend zu und verziehen sich.
»Was hast du erwartet?«, fragt Thommy. »Der ist schließlich erst dreizehn.«
Nur ich bleibe stehen und starre auf den Neuen. Ich werde mein Zimmer mit ihm teilen müssen. Ich bin ein Jahr älter als er, doch er ist größer als ich. Er ist so fett, dass sich seine Brüste wie Titten unter dem Pullover abzeichnen. Claus schiebt Jan den Flur entlang. Er kennt den Weg.
»Hallo Minki«, grüßt der Sozialarbeiter. »Alles klar?« Bestimmt lächelt er mir zu, aber das sehe ich nicht. Ich stiere auf Jan, dessen Augen unruhig blitzen, der seinen Mund zusammenkneift und mich mit schmalen Lippen angiftet: »Was glotzt du so?«
Das klingt schon eher nach einem Helden.
Claus wartet keine Antwort ab. Er schiebt Jan in Jochens Büro und schließt die Tür hinter sich.
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2
Na, Mink, der Neue scheint ja zu dir zu passen.« Dennis lacht verächtlich und geht weiter. »Freak zu Freak«, höhnt er, doch er schaut zum Glück schon nicht mehr in meine Richtung. Der Idiot ist in meiner Gruppe. Wir sind zu fünft auf einer Etage, die eingerichtet ist wie eine Wohnung. In den anderen drei Gruppen sind sechs, in einer sogar acht Jugendliche.
Für mich wird es Zeit, in mein Zimmer zu gehen und Platz zu machen, meine Sachen von dem Bett zu nehmen, welches ab heute Jan gehört, und meine Hefte in meine Schublade zu schmeißen. Es war ja klar, dass der Luxus eines Einzelzimmers irgendwann vorbei sein würde. Immerhin ist es Jan, der in mein Zimmer kommt. Er hat allen gezeigt, was er drauf hat. Sie haben es sogar in den Nachrichten gebracht. Vielleicht können wir Freunde werden und als unschlagbares Duo dafür sorgen, dass die Großen uns nicht mehr kleiner machen. Aber die Hefte muss Jan nicht entdecken. Er muss nicht lesen, was ich schreibe, während die anderen Tischtennis oder Fußball spielen oder sonst wie ihre Zeit vertrödeln. Hoffentlich drückt er sich nicht dauernd hier im Zimmer rum, sondern lässt mir meine Ruhe.
Christian, einer der beiden Erzieher, öffnet die Tür gleich, nachdem er geklopft hat.
»Hat man hier nicht mal mehr Zeit, ›Herein‹ zu sagen?«, blaffe ich ihn an.
Claus steht immer noch hinter Jan, schiebt ihn in mein Zimmer, so, wie er ihn schon ins Heim geschoben hat und danach in Jochens Büro. Immer hat er die Hände auf seinen Schultern, als fürchte er, Jan würde sofort abhauen, ließe er ihn los.
»Jonas, das ist Jan.«
»Ist ja schon gut«, maule ich. »Soll er halt reinkommen.« Claus und Christian bleiben in der Tür stehen, gaffen mich an, während ich ein letztes Buch von Jans Bett nehme und es auf meines schmeiße. Christian ist der Einzige, der mich bei meinem Vornamen nennt. Für alle anderen bin ich Mink – oder Minki, wenn sie was von mir wollen.
»Wir verlassen uns darauf, dass ihr miteinander klarkommt, haben wir uns verstanden?« Irgendwie scheint Christian zu glauben, seine Worte bekommen mehr Gewicht, wenn er dabei über den Rand seiner Brille hinwegschaut. Als träfe mich die Forderung seines Blickes dann direkter.
Helden bleiben nicht mit der Macht der Sozialwichser im Rücken stehen. Sie erobern den Raum. Sie betreten ihn und lassen keinen Zweifel, dass er ihnen gehört. Jan drückt sich immer näher an Claus, beäugt mich und traut sich kaum, in Richtung seines Bettes zu gehen.
»Sonst noch was?«, frage ich Christian. »Soll ich dem Herrn vielleicht das Bett machen?«
»Das wäre doch schon mal ein guter Anfang.«
Nein, den Netten werde ich auch für Christian nicht spielen. Es ist gar nicht gut, nett zu sein. Als Freak lassen sie mich wenigstens in Ruhe, da kann ich in meinem Zimmer bleiben, meine Hefte mit gekritzelten Geschichten über Minkigrand füllen, und ich brauche mich nicht um die anderen zu kümmern.
»Jan, das ist Jonas«, stellt Christian mich vor.
»Er tut nur so, als sei er bissig«, ergänzt Claus. »Ich bin sicher, ihr werdet euch verstehen.« Dabei lässt er Jan endlich los.
»Wenn man mich in Ruhe lässt, tue ich auch niemandem was«, knurre ich und werfe Claus einen giftigen Blick zu. Der geht zurück zur Tür und reicht Christian die Hand.
Jan steht mit dem Rücken zum Raum, schaut nur kurz über die Schulter, als er seine Antwort einwirft: »Dann sind wir uns ja einig.« Ich sollte ihm auch die Hand geben. Pädagogen stehen darauf.
»Ich habe noch zu tun«, verkündet Claus und nickt mir zu. »Nett, dass du dein Zimmer mit Jan teilst. Ich weiß das zu schätzen.« Hatte ich eine Wahl?
Christian begleitet ihn nach draußen.
»Tür zu!«, rufe ich ihnen hinterher, aber sie ignorieren mich.
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3
Werden Helden gefangen und in ein Verlies gesperrt, stehen sie nicht steif vor ihrer Pritsche und starren das Laken an. Sie schauen sich um, suchen einen Fluchtweg und begutachten ihre Zellengenossen. Jan bleibt vor seinem Bett stehen, auch, als ich die Tür hinter Christian (Katharina: sollte das nicht Claus sein? Oder habe ich was überlesen? Ist das der Erzieher?) geschlossen habe.
»Wo sind deine Sachen?«, frage ich. Er dreht sich nicht um. Hört er mich? Was ist so besonders an dem Bett? Es ist doch noch nicht einmal bezogen.
»Bei Claus auf der Rückbank«, antwortet er.
»Vielleicht solltest du ihm dann ganz schnell hinterherlaufen, sonst ist er mit deinem Gepäck weg.«
So dick er ist, so abwesend er scheint, er kann rennen. Er sprintet zur Tür, öffnet sie und prallt mit seinem Bauch gegen Christian (Katharina: dito).
»Lässt du dir immer alles hinterhertragen?« Christian (Katharina: dito) drückt Jan die Tasche in die Hand. »Die lag noch im Auto.«
Helden bedanken sich nicht, schon gar nicht mit einem Lächeln. Er stellt die Tasche auf sein Bett, öffnet den Reißverschluss und wühlt in seinen Sachen.
»Zeigst du Jan hier bitte alles?«, fragt Christian (Katharina: dito) und setzt sich auf den Stuhl vor meinem Schreibtisch.
Ich nicke, setze mich auf mein Bett und schaue dem Neuen zu. Noch scheint er nicht gefunden zu haben, was er sucht.
»Ich habe dich was gefragt.«
»Und ich habe genickt.«
Helden haben ein weiches Herz, wenn sie es an Frauen verschenken. Aber sie haben doch keine Kuscheltiere, keine abgeliebten Stoffhasen, deren Fell schon ausgefallen ist! Doch die Operationsnarben, die, mit rotem Faden genäht, verhindern, dass die Füllung rausfällt, die passen zu einem Helden. Jan hat gefunden, was er suchte. Er drückt das platte, einäugige Wesen an seine Brust und setzt sich auf sein ungemachtes Bett.
»Es wäre schön, wenn du ihm dabei hilfst, sich hier einzurichten, Jonas.«
Wieder nicke ich nur. Jan schaut niemanden an. Er klemmt sich an seinen Hasen und bewegt langsam den Oberkörper hin und her. Dabei summt er leise. Immer den gleichen Ton. Das kann ja was werden.
»Kannst du nicht laut und deutlich ›Ja‹ sagen?«
Kann Christian (Katharina: dito) seine Versuche, aus mir einen Menschen zu machen, nicht auf einen anderen Zeitpunkt verschieben?
»Jaaa!« Ich lehne mich an die Wand, schaue von Jan zu Christian und frage: »Zufrieden?«
Warum geht er nicht einfach, sondern bleibt auf meinem Stuhl sitzen und begafft abwechselnd Jan und mich? Hat er nichts zu tun? Muss er nicht auf Dennis aufpassen?
»Ja«, antwortet er. Jan summt noch immer.
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4
Was machen deine Geschichten, Jonas? Hast du schon was Neues geschrieben?«
Glaubt er, nett sein zu müssen, nur weil sie mir jemanden ins Zimmer gestopft haben, der sich anhört wie ein Brummkreisel?
Wortlos ziehe ich ein Heft aus der Schublade und drücke es Christian in die Hand. Warum er es immer wieder liest, weiß ich nicht. Vermutlich hofft er, darin etwas über mich zu erfahren. Dabei erfinde ich nur Geschichten über einen Superhelden namens Minkigrand, der in einer bösen Welt für die Armen kämpft. Aber wenigstens hält er die Klappe, nimmt das Heft und verdrückt sich nach draußen. Sogar die Tür macht er dieses Mal zu.
»Soll ich dir zeigen, wo du deine Sachen hinräumen kannst?«
Jan hält für einen Moment in seiner Bewegung inne. Den Oberkörper hat er nach vorn gebeugt, die rechte Hand greift um die Ohren des Hasen und seine Augen bewegen sich langsam, bis sein Blick mich trifft. Erst dann verstummt das Brummen. Zum ersten Mal kann ich Jan in die Augen sehen. Er nickt. Ich nötige ihn nicht, ›Ja‹ zu sagen. Ich gehe zum Schrank, der gleich neben der Zimmertür steht, und öffne die linke Tür. Kurz schlage ich auf die leeren Holzplatten. Auch ich muss nichts sagen, damit er mich versteht. Er legt den Hasen liebevoll auf das Kopfkissen und stützt sich ab, um aufzustehen.
»Jan ist gleich wieder da, Batzi«, tröstet er ihn. Erst dann nimmt er seine Tasche und trägt sie zum Schrank. Er bückt sich über seine Tasche wie ein Streber über seine Klassenarbeit, so, als wolle er um jeden Preis verhindern, dass ich einen Blick darauf werfe.
Kann man Helden bemitleiden? Ich werde nie einer, wenn ich solche Regungen verspüre. Helden spüren kein Mitleid, sie empfinden Recht und Unrecht. Sie kämpfen für die große Sache. Gefühle würden da nur stören.
So, wie Jan auf dem Boden über seiner Tasche hockt, höre ich schon die anderen, die ihn ›Fettsack‹ rufen, ihn scheuchen und dabei vorgeben, sie sorgten sich nur um seine Gesundheit.
Er kämpft sich mühsam vom Boden hoch, schließt den Schrank. Die ausgeräumte Tasche stopft er weit nach hinten unter sein Bett.
»Jan?« Ich warte extra, bis er wieder unter dem Gestell aufgetaucht ist und sich schnaufend an das Holz lehnt.
»Du kannst den Schlüssel nicht einstecken. Dann komme ich nicht an meine Sachen.« Jeden anderen hätte ich angefahren. Aber mit Helden kann man doch nicht einfach motzen. »Das, was du einschließen möchtest, kannst du in deinen Schreibtisch legen. Das mache ich auch so.«
Jan keucht nach wie vor. Ohne etwas zu sagen, kriecht er wieder unter das Bett und holt den Schlüssel aus der Tasche. Er reicht ihn mir und schaut ängstlich zu, als ich ihn ins Schloss stecke und mich wieder umdrehe.
»Wenn du wieder bei Atem bist, zeige ich dir, wo du die Bettwäsche findest.«
Ist es der Schweiß der Anstrengung, oder sind es Tränen, was da sein Gesicht hinunterläuft?
Können Helden überhaupt schwitzen? Und weinen sie nicht nur, wenn ihnen jemand das Herz bricht?
Ich habe bestimmt irgendwelche Hausaufgaben zu machen, für die ich mich an meinen Schreibtisch setzen und Jan den Rücken zudrehen kann, bis er wieder ein Held für mich ist.
Seine Atmung wird leiser, ich höre, dass er sich hinter mir mit einem letzten lauten Ächzer erhebt und zum Schrank geht. Eine Aufgabe rechne ich noch, dann drehe ich mich um. Mein Held räumt gerade Unterhosen und Socken in eine seiner Schreibtischschubladen. Als ob mir die passen würden.
»Bist du so weit?«, frage ich. Jan zuckt zusammen, versteckt verschämt ein T-Shirt hinter seinem Rücken und starrt mich mit großen Augen an. Seine Lippen zittern, und er nickt wieder nur.
»Dann komm!«, fordere ich ihn auf und drehe mich zur Tür. Er wirft hektisch das T-Shirt in seinen Schreibtisch, bevor er mir zögernd folgt.
Drängen sich Helden so in deinem Schatten, wenn sie aus dem Zimmer gehen? Jan bleibt nah bei mir, als wir die Tür der Schrankwand im Flur öffnen.
»Hier findest du frische Bettwäsche«, erkläre ich ihm. Ich spüre seinen Atem in meinem Rücken, seine Füße wippen unruhig, aber er sagt nichts.
»Nimm dir was raus!« Schnell langt er in den Schrank, dreht sich um und läuft wieder in unser Zimmer. So ein Schisser.
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5
Was sind das für Helden, die Betten beziehen können? Ist es ein Zeichen ihrer Selbständigkeit, ihrer Position des einsamen Kämpfers gegen das Unrecht?
Natürlich gibt es hier niemanden, der uns das macht, es sei denn, Dennis oder Thommy haben jemanden dazu gezwungen, es für sie zu machen. Aber die Geschwindigkeit, mit der Jan das Laken mit Knoten versehen über die Matratze gespannt hat, ist atemberaubend. Als ich zurück ins Zimmer komme, schließt er die letzten Knöpfe des Kissenbezugs. Er schnauft wieder vor Anstrengung und legt den Hasen zurück auf das Kissen. Ich schaue nur kurz hin und setze mich an meinen Schreibtisch. Warum habe ich meine Hausaufgaben bloß schon erledigt, bevor Jan gekommen ist? Irgendetwas muss ich tun, um Jan nicht die ganze Zeit zu beobachten. Ich könnte an der Geschichte weiterschreiben oder wenigstens so tun. Hinter mir höre ich Jan so laut ächzen und pusten, dass ich mich nicht konzentrieren kann.
»Kannst du mir helfen?«, bringt er zaghaft hervor. Ich drehe mich um. Er ist ganz hinter dem Bezug verschwunden. In den Händen hält er die Ecken der Bettdecke. Doch so sehr er sich auch streckt, sie ist zu lang. Der Bezug rutscht nicht hinab, sondern bleibt ein dickes Knäuel in seiner Faust.
Ich nehme ihm die Zipfel aus den Händen und lege die Decke aufs Bett. Auch ich bin zu klein, um sie im Stehen so hoch zu halten, dass sie nicht auf dem Boden schleift. Wenn sie auf dem Bett liegt, geht es leichter. Jan setzt sich auf das Bett, nimmt seinen Hasen in den Schoß und streichelt ihn, während er mir zuschaut, als ich die Knöpfe verschließe. Sein Gesicht ist rot.
»Danke«, sagt er leise und räuspert sich.
»Helden müssen sich nicht bedanken«, antworte ich, lasse die Decke los und lächle ihm zu. Seine Mundwinkel zucken ein bisschen nach oben, aber Helden lächeln höchstens einer Frau zu, deren Herz sie begehren.
»Soll ich dir zeigen, wo du Bad und Toiletten findest, bevor wir zum Abendessen gehen?«
Jan schaut zur Tür, dann wieder auf mich. Den Hasen in seinem Schoß umschließt er fester mit den Fingern, und seine Lippen zittern leicht. Er schüttelt nicht einmal den Kopf.
»In Ordnung«, sage ich und gehe zu meinem Schreibtisch zurück. »Spätestens, wenn du pissen musst, wirst du es wissen wollen.«
Er fängt wieder an, seinen Oberkörper zu schaukeln und zu summen. Schreiben kann ich so nicht. Aufs Lesen kann ich mich auch nicht konzentrieren. Immer sucht mein Blick meinen Helden, der in sich versunken seiner neuen Heimat entflieht. Was er wohl denkt, während er sich so wiegt?
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6
Es hilft nichts. Ich kann es hinauszögern, Jan das Bad zu zeigen, bis ich es vor Gestank nicht mehr aushalte. Er kann seine Angst, das Zimmer zu verlassen, aufrechterhalten, bis ihm Darm und Blase platzen, aber ich muss ihn pünktlich zum Essen bringen. Ich muss mit ihm im Aufenthaltsraum auftauchen.
»Jan?«, unterbreche ich seinen Ton. Das Schaukeln lässt kurz nach, und er schaut mich an. »Hast du Hunger?« Er schaut an sich hinunter. Sein Magen knurrt schon die ganze Zeit, aber er schüttelt den Kopf. »Wir müssen zum Essen«, erkläre ich ihm. »Das ist Pflicht.« Jan bleibt sitzen und drückt sich den Hasen an die Brust. »Komm mit!«, fordere ich ihn auf und gehe zur Tür. Wie kriege ich ihn dazu, aufzustehen und mir zu folgen? Ich könnte alleine gehen und Christian informieren. Dazu ist er ja da. Aber kann man Helden verpfeifen?
Langsam legt Jan den Hasen zurück auf das Kopfkissen. Er holt ein T-Shirt aus seinem Schreibtisch und deckt es über das Tier. »Damit du nicht so allein bist, Batzi«, flüstert er und hält ein Stück Stoff direkt vor die gestickte Nase. »Jan ist gleich wieder da.« Zögernd folgt er mir durch den Flur in den Aufenthaltsraum. Paul und Thommy laufen an uns vorbei, ohne von ihm Notiz zu nehmen. Auch sie teilen ein Zimmer. Nur Dennis hat seines noch für sich allein. Das Klappern von Besteck und Geschirr verrät mir, dass der Tisch schon gedeckt wird. Christian versucht, über das Gemurmel hinweg jemandem etwas zu sagen. Jan bleibt dicht hinter mir. Alle sitzen schon am Tisch, als wir in den Raum kommen. Christian wartet, bis wir uns auch gesetzt haben.
»Haltet mal die Klappe!«, ruft er laut und schaut Dennis dabei streng an. »Seit heute ist Jan bei uns. Er wird mit Jonas das Zimmer teilen«, stellt er meinen Helden vor. Mit ermunterndem Blick nickt er Jan zu. »Möchtest du uns kurz von dir erzählen?«
Jan druckst herum. Die Stille der anderen hält nicht lange. Thommy meldet sich als Erster zu Wort. »Schönes Pärchen«, feixt er. »Kannst du dich noch bewegen, wenn er im Zimmer ist?«
Die anderen lachen.
»Wenn er die Luft anhält, passt Jonas vielleicht noch rein«, kommentiert Paul, und Dennis grinst, als müsse er erst überlegen, bevor ihm etwas einfiele.
»Ach, Mink nimmt ihn bestimmt auf den Schoß, wenn er ihm Gutenachtgeschichten von Minkimon erzählt.« Das Gelächter schwillt an. Jan blickt stur auf den Teller vor sich und krallt die Finger um sein Messer.
»Er heißt Minkigrand«, erwidere ich trotzig und beiße mir auf die Zunge. Sollen sie doch spotten. Dennis achtet nicht auf mich. Er sieht auf das Messer in Jans Hand und prustet immer lauter. »Willst du uns mit dem Messer erstechen?«, fragt er höhnisch, bevor Christian endlich eingreift: »Nun ist aber gut«, unterbricht er lautstark das Gejohle und wendet sich wieder Jan zu. »Du musst uns jetzt nichts über dich erzählen, wenn du nicht willst.«
»Ich bin Jan«, stammelt der. Sein Blick bleibt dabei auf dem Teller. Die Hand löst sich leicht von dem Messer, nachdem er diese drei Wörter hinter sich gebracht hat. Langsam hebt er den Kopf und sieht die anderen an. »Ich bin fett und faul, ich stinke und habe einen Dachschaden. Wie auch immer ihr mich beschimpft, ihr erzählt mir nichts Neues.«
Das sind die Worte eines Helden. Frontal gegen alle Sticheleien und Beleidigungen. Knallhart deutlich machen, dass sie ihn nicht treffen können, egal, was ihm an den Kopf geschmissen wird. So unterdrückt man blöde Bemerkungen. Nicht einmal Thommy wagt zu kichern, auch nicht, als Christian Jan den Brotkorb hinhält. In Dennis brodelt es. Zu gerne würde er eine Bemerkung fallenlassen. Immer wieder holt er Luft und öffnet den Mund, unterdrückt aber jeden aufkommenden Ton. So schweigsam haben wir noch nie gegessen.
Arne, der zweite Erzieher, steht in der Tür des Tagesraums, als hätte er sich verlaufen.
»Was ist denn hier los?«, fragt er und schaut Christian verwundert an. »Hast du ihnen Beruhigungspillen oder Gras gegeben?«
»Beides«, antwortet Christian lachend. »Bei deren Drogenerfahrung brauchen sie schon eine ordentliche Dosis.« Er bricht mit seiner Antwort die Stille.
»Das wäre ja mal geil«, überlegt Dennis. »Warum macht ihr das nicht? Dann wären wir bestimmt brav.«
»Das könnte dir so passen«, sagt Christian grinsend. Thommy und die anderen lachen. Jan nutzt die Ablenkung, um sich noch eine Scheibe Brot zu nehmen, die er schnell in den Mund stopft. Essen Helden nur heimlich?
»Du bist Jan?«, fragt Arne ihn. Jan versucht, schneller zu kauen, doch die Brotreste quellen sichtbar aus seinem Mund hervor, gerade als alle auf ihn schauen.
»Unterbrich ihn doch nicht ausgerechnet beim Fressen!«, stichelt Dennis. »Siehst du nicht, dass er am Verhungern ist?« Ein scharfer Blick von Christian trifft ihn. Jan würgt die letzten Brotreste hinunter, schaut auf seinen Teller und umklammert wieder den Griff seines Messers.
»Ja«, antwortet er leise.
»Können wir gehen?«, möchte Thommy genervt wissen. Christian nickt, und die Älteren verschwinden. Ich bleibe bei Jan und den Erziehern sitzen.
»Ich bin Arne. Ich löse Christian diese Woche abends ab.« Er reicht Jan die Hand. »Willkommen bei uns.« Jan lässt den Griff des Messers los und schafft es, Arne anzuschauen, während er die Hand ergreift.
»Räumst du ab?« bittet mich Christian.
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Florian Tietgen
Bildmaterialien: TUT6-Fotografie Timo Falkner www.TUT6.de, und Lintangwijaya www.fiverr.com
Cover: Jacqueline Spieweg, Farbraum4.de, und Dr. Katharina Kolata, IndependentBookworm.de
Satz: Dr. Katharina Kolata, IndependentBookworm.de
Tag der Veröffentlichung: 14.12.2023
ISBN: 978-3-7554-6385-6
Alle Rechte vorbehalten