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Über den Autor

 

Florian Tietgen, Jahrgang 1959, hat seit 2003 mehrere Kurzgeschichten und 2007 seinen ersten Roman veröffentlicht. Inzwischen veröffentlicht er sowohl als Verlagsautor als auch im Selfpublishing und ist Mitbegründer des Autorennetzwerks Qindie

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Impressum:

 

 

Copyright © 2013 Florian Tietgen

Covergestaltung: Jacqueline Spieweg unter Verwendung eines Scherenschnitts von Florian Tietgen aus einem Falk-Plan von München.

Lektorat: Satzklang

 

Alle Rechte liegen beim Autor.

 

Kontakt:

E-Mail: webmaster@floriantietgen.de

 

 

Erstes Buch

Begleitung

 

 

1.

 

Wie viele Menschen hier auch flanieren, zwischen den Barkassen für die Hafenrundfahrten und den Lokalen auf dem Ponton, wie dicht das Gewühl unter den kreischenden Möwen auch ist, Darius erkenne ich sofort.

Der Mann kommt mit großen Schritten auf mich zu, das Gesicht ist noch genauso braun gebrannt wie vor fünfzig Jahren. Die Augen strahlen nicht mehr so lebenshungrig, das Haar ist länger geworden. Aber es ist unverkennbar das Gesicht, das ich bestimmt über hundert Mal gezeichnet habe, das Porträt, das als Posterdruck in den Wohnzimmern oder Toiletten so mancher Junggesellenwohnung hängt und dessen Originale sich bei wohlhabenden Sammlern befinden, die mir durch den Kauf mein Leben finanziert haben. Es ist unverkennbar Darius.

Lässt die Erinnerung mein Herz ins Stocken geraten oder die Realität?

Zwischen den Restaurants befinden sich mobile Souvenirstände, an denen man Postkarten, Trinkbecher und Hamburg-T-Shirts erwerben kann. Vor den Barkassen stehen die Kapitäne und rufen zur nächsten Fahrt. Eine Stunde für neun Euro in klimatisierten Räumen oder an Deck. Wenn man etwas für sein Geld erleben möchte, muss man die kleinen, weniger luxuriösen Schiffe nehmen, die eingeklemmt zwischen Schwimmponton und Hafenmauer auf der Rückseite warten.

Mit ihnen kann man die Fleete entlang unter den Brücken der Speicherstadt hindurchfahren, die Schleusen passieren. Auf ihnen erfährt man mehr über die Eichenpfähle, die vor über hundert Jahren in den Fluss gerammt wurden, um die Speicherhäuser zu erbauen. Wegen des fehlenden Sauerstoffs im Wasser konnten sie sich bis heute halten, ohne zu modern.

Der Mann erkennt mich nicht, in fünfzig Jahren bin ich alt, faltig und grau geworden, die Jahre haben ihre Kerben geschlagen und ich Fett angesetzt. Er läuft nur in meine Richtung, ziellos suchend. Ich folge seinem Weg mit meinem Blick, versuche einen Moment zu erhaschen, in dem wir uns treffen.

Seit ich nicht mehr male, verbringe ich oft meine Zeit am Hafen. In dem Geruch von Wasser und Diesel, in den Geräuschen von Schiffssirenen und sich am Ponton brechenden Wellen liegt für mich die Ahnung der Welt, von Freiheit und Leben, Männlichkeit und Mühsal. In der frischen Brise fällt mir das Atmen leichter, fühle ich mich beschwingt, habe ich Anteil am Treiben um mich herum.

Ich sitze draußen vor einem Fischrestaurant. Es ist so kühl, dass ich die Jacke fest geschlossen halten muss und mich von innen mit Grog wärme, doch mich drinnen hinter den Glasscheiben vom Leben auszuschließen kommt nicht infrage. Es ist Freitag. Auf dem Ponton wimmelt es trotz der Kälte von Wochenendtouristen, die den Besuch im »König der Löwen« mit einem Besuch von Landungsbrücken und Reeperbahn, von Michel und Dungeon und mit einer Hafenrundfahrt verbinden. Die Touristen haben ihre Hände tief in den Manteltaschen vergraben, wenn sie nicht gerade die Geldbörse in ihnen halten, um die Rundfahrt oder ein Souvenir zu bezahlen.

Darius trägt keinen Mantel, nicht einmal einen warmen Troyer, nur Jeans und ein graues T-Shirt mit blauem Aufdruck der Detroit-Lions.

Was mich an meinem Glas schnuppern lässt, um zu überprüfen, ob vielleicht zu viel Rum im Grog ist, was mein Herz ins Stocken bringt und meinen Verstand in Frage stellt, ist die Zweifellosigkeit, mit der ich ihn erkenne.

Wie die Eichenpfähle, auf denen die Speicherstadt errichtet ist, trägt auch er keine Spuren der Zeit. Er ist ein Mann von zwanzig Jahren, wie damals, als er von einem auf den anderen Tag verschwunden war. Wie damals, als ich auf der Suche nach ihm die Isar entlanggelaufen bin, am Gärtnerplatz gelauert habe, ob ich irgendwo sein Lachen hören oder sein Gesicht sehen könnte. Und als ich jeden Tag die Zeitungen las, nur um über eine Nachricht Gewissheit zu bekommen, es wäre ihm etwas passiert, man hätte ihn verhaftet, ins Gefängnis gesteckt oder ermordet.

 

2.


Damals war Darius ein ungewöhnlicher Name. Die Männer hießen Hermann, Friedrich, Detlef oder Wolfgang, die Frauen Elke, Elisabeth oder Ingeborg.

Meine Eltern hatten mir den Namen Siegfried gegeben, voller Ehrfurcht vor dem Ring der Nibelungen, der Musik Wagners und voller Enthusiasmus auf dem Weg zum Tausendjährigen Reich, auch wenn damals der Frieden nicht passte und die Geschichte zum Glück den Sieg verhindert hat.

Als ich Darius kennenlernte, hatten sich die Tausend Jahre schon erledigt. Es war die Zeit des schwarz-weißen Aufbruchs.

Die Fernsehbilder waren schwarz-weiß, die Anzüge und Mäntel grau, die Hüte oft schwarz, die Hemden weiß. Das Wirtschaftswunder hatte uns sechs Jahre nach Kriegsende Zuversicht gegeben, die Zeit der Entbehrungen den Willen, jeden kleinen Wohlstand zu erhalten.

Die Eltern konservierten das Grau, wir wollten Farbe. Wir wollten buntes Licht in Tanzlokalen, schnelle Rhythmen, zu denen wir uns bewegen konnten, Rock ‘n’ Roll.

Wir feierten die Rebellion des Optimismus, wollten teilhaben an der heilen Welt und unsere Energie in den Spaß am Leben stecken, den die Vorschriften uns vermiesten.

Natürlich blühten zwischen den Trümmern Blumen, das Gras war so grün wie der Himmel blau, die Sonne so gelb wie der Raps. Die Emailleschilder warben in Pastelltönen, die Designer kreierten bonbonfarbene Schalen und Toaster. Und doch erschien mir die Welt schwarz-weiß wie ihre deutliche Aufteilung in gut und böse, in Anstand und Verdorbenheit.

Darius stand am Gärtnerplatz, sah mal in diese, mal in jene Richtung, schnippte lässig die Asche seiner Zigarette fort und schien nicht einmal auf etwas zu warten.

Sein Haar war kurz geschnitten, doch die Länge reichte für eine kleine Tolle über der Stirn. Der oberste Knopf seines Hemds war geöffnet und der Knoten seiner Krawatte hing unterhalb des zweiten Knopfs.

Ich kam gerade aus dem Theater, an dem ich eine Praktikumstelle hatte. Das hieß, ich musste alle Kreativität vergessen, auf das, was ich studieren wollte verzichten und stattdessen die Arbeiten ausführen, für die sich die Künstler zu schade waren. Die Handwerker nahmen mich nicht ernst, weil ich keine Ausbildung hatte, für sie war ich ein lebens- und praxisfremder Student, der Bühnenbildner nahm mich nicht erst, weil ich das Studium noch nicht angetreten hatte. Dazu brauchte ich das Praktikum. Trotzdem brachte die Arbeit Spaß. Wir arbeiteten gerade an Entwürfen für »Fra Diavolo«, der komischen Oper von Auber. Und ich genoss es, als schweigender Beobachter dabeizusitzen, wenn sich der Regisseur und mein Chef über ihre Vorstellungen unterhielten, und beratschlagten, von welchem Seitenaufgang der Wagen von Lord Kookburn und Lady Pamela vorfahren sollte. Wir entwarfen die Bühne in Zeichnungen und bauten danach Miniaturmodelle. Ich klebte mit Begeisterung kleine Pappbäume in Gebirgslandschaften und bastelte voller Enthusiasmus winzige Möbel für Zerlines Schlafgemach.

Als ich über den Gärtnerplatz ging und Darius zum ersten Mal sah, wiesen meine Finger Reste von Klebstoff auf, die durch den Versuch, sie zu entfernen, nur grau geworden waren. Am Handballen sah man noch die Spuren von Wasserfarben. Wir hatten konzentriert gearbeitet, ich war müde und hatte noch einen halbstündigen Fußweg vor mir, um mein möbliertes Zimmer in der Ohlmüllerstraße zu erreichen.

Darius hatte die Zigarette inzwischen ausgetreten und sah in meine Richtung. Und da ich den Blick nicht von ihm lassen konnte, fühlte er sich wohl angesprochen und kam auf mich zu.

Zu seinem weißen Hemd und der nachlässig gebundenen Krawatte trug er Jeans und eine Lederjacke. Eines von beiden hätte gereicht, mich vor Neid erblassen zu lassen. Jeans – ein Streifen Blau in der tristen Realität. Unbezahlbarer Gegenstand meiner studentischen Sehnsucht, wenn ich abends im Hinterzimmer des Vereins für Humanitäre Lebensgestaltung beim Tanzfest war. Jeans, so eng geschnitten, dass ich mir die Größe von Darius’ Penis vorstellen konnte.

Die Lederjacke gab ihm einen stolzen Ausdruck von Kraft. Er trug sie halb geöffnet, während ich die Knöpfe meines abgewetzten Dufflecoats bis zum Kragen geschlossen hatte. Darüber schützte ich mich noch mit einem dicken Wollschal vor dem Winter. Es war ein milder Wintertag, so um die sieben Grad warm, aber mich fröstelte.

Darius lächelte, zog, als er vor mir stand, eine weitere Zigarette aus seiner Schachtel und bot auch mir eine an.

»Danke«, sagte ich und bemühte mich, ihm nicht in die Augen zu sehen. Kurz blickte ich unsicher zum Theater zurück und fragte mich, wer dort wohl gerade am Fenster stünde und abfällige Bemerkungen machte. »Lass uns unauffällig ein paar Ecken weitergehen«, zischte ich, zog meinen rechten Handschuh aus, damit ich die Zigarette besser halten konnte, und beugte mich zu dem Benzinfeuerzeug, das Darius mir hinhielt.

Ich wusste, er würde mir folgen, als ich, ohne noch einmal aufzublicken, mit der brennenden Zigarette in der Hand die Klenzestraße Richtung Fraunhoferstraße entlangging. Sobald niemand mich mehr durch die Fenster des Theaters sehen konnte, blieb ich stehen und wartete. »Hast du einen Platz, an den wir können?«

Darius nickte. »Ich habe eine kleine Wohnung in der Humboldtstraße.«

Wir gingen über die Wittelsbacherbrücke, ich die Hände in den Manteltaschen vergraben. Das Tempo brachte mich ins Schwitzen. Darius schien der Januar nichts anzuhaben. Nachdem er die Haustür aufgeschlossen hatte, stapfte er in den Keller.

»Wir müssen noch Kohle mitnehmen.« Er stapelte Briketts in einem Korb und schaufelte kleine Eierkohle in eine Kiepe und drückte mir diese anschließend in die Hand.

Oben in seiner Wohnung im zweiten Stock stand nicht viel. Ein Sofa in einer Farbe, von der ich nicht wusste, ob es grün oder gelb war. Es sah aus, wie schmutziger Sand oder körniger Senf. Die Beine verjüngten sich nach unten und das Polster war mit dicken Ziernieten an den Armlehnen befestigt. Es bog sich ein bisschen, als ob es irgendwann einen Kreis bilden sollte. Davor ein Tisch mit Beinen aus Nussbaum und einer Platte aus Glasmosaik.

Darius ging noch in seiner Lederjacke zum braun und beige emaillierten Ofen, öffnete die Klappe und stocherte in der zum Glück noch vorhandenen Glut herum. Er nickte mir zu, wies mit dem Kopf auf die Garderobe an der Wand. »Du kannst deinen Mantel ruhig ausziehen. So kalt ist es hier nicht.«

Ich stellte die Kiepe mit der Kohle vor den Ofen und löste die Schlaufen des Dufflecoats. Bei der Garderobe blieb ich wieder stehen, sah Darius dabei zu, die kalte Asche in einen Blecheimer zu entsorgen, alte Zeitungen zu zerknüllen und den Ofen zu befeuern. Ich wusste nicht, ob ich mich einfach ausziehen und auf ihn warten sollte. Am Gärtnerplatz war es noch eindeutig gewesen. Wir hatten uns fixiert, in unserer Andersartigkeit erkannt und für attraktiv genug befunden, uns irgendwo auf die Schnelle zu befriedigen. Sonst hätte ich die Zigarette nicht annehmen dürfen.

Normalerweise verkrochen wir uns dazu – in ein dichtes Gebüsch oder in die Kabine einer öffentlichen Toilette, irgendwohin, wo niemand uns sehen konnte. Meistens zogen wir nicht mal die Hosen herunter, das wäre viel zu gefährlich gewesen. Wir küssten uns, griffen uns in den Schritt, öffneten vielleicht den Reißverschluss, um unsere Schwänze zu reiben.

Zum ersten Mal nahm mich ein Mann mit in seine Wohnung. Die meisten Junggesellen hatten, wie ich, nur ein möbliertes Zimmer zur Untermiete.

»Möchtest du Kaffee?«, fragte Darius, schloss die Klappe des Ofens und drehte sich um. Ich nickte.

»Du kannst dich gern setzen«, sagte er und ging in die Kochecke, füllte ein paar Bohnen in die Kaffeemühle und drückte mir diese in die Hand. »Und wenn du sitzt, kannst du Kaffee mahlen.«

Endlich hatte ich etwas, womit ich mich von meiner Unruhe ablenken konnte. Die Kaffeemühle zwischen meinen Beinen rieb immer an meinem Penis, während ich die Kurbel drehte, machte mich noch rattiger. Das erhöhte die Spannung und ich konnte etwas tun. Darius säuberte den Kohleherd, entfachte auch in ihm ein Feuer und stellte einen Wasserkessel auf die Gusseisenringe. Beigefarben mit blauen Blüten. Ich brachte ihm das Kaffeepulver, berührte ihn leicht am Arm, als ich die Mühle auf die Platte des zweiteiligen Küchenschranks stellte. Das Leder der Jacke, die er immer noch trug, fühlte sich angenehm kühl an. Das Feuer im Ofen wärmte langsam die Wohnung und Darius füllte das Pulver in einen kleinen weißen Porzellanfilter, den er auf eine ebenso weiße Porzellankanne stellte.

»Danke«, sagte Darius. »jetzt können wir nur noch warten, bis das Wasser kocht.« Er holte Geschirr und Zucker aus dem Schrank, Löffel aus einer der Schubladen, Milch aus dem Kühlschrank und stellte alles auf den Mosaiktisch. Um nicht im Weg zu stehen, setzte ich mich wieder auf das Sofa, während er die Lederjacke auszog und sich neben den Herd stellte.

»Stehst du häufiger am Gärtnerplatz?«, fragte er. »Ich habe dich dort noch nie gesehen.«

»Ich dich ja auch nicht«, antwortete ich unsicher lächelnd. Erst Kaffee zu trinken beruhigte mich und machte mich gleichzeitig nervös. Es erhöhte die Spannung und gab mir Zeit, mich zu akklimatisieren. »Ich arbeite dort am Theater. Es lässt sich also nicht vermeiden, dass ich jeden Tag dort bin.«

Dem Sofa gegenüber stand ein kleiner zweitüriger Kleiderschrank aus Nussbaum. In eine der Türen war von oben bis unten ein Spiegel eingearbeitet. Neben dem Schrank, in der Ecke gegenüber der Kochecke, stand ein schmales Bett für eine Person.

»Ach deshalb wolltest du von dort so unauffällig verschwinden.«

»Ja. Oft schauen sie aus dem Fenster auf den Platz und machen anzügliche Bemerkungen. Du solltest sie mal hören, wenn sich zwei gefunden haben.«

Das Wasser kochte, Darius goss es nach und nach in den Filter, immer darauf bedacht, dem Pulver genügend Zeit zum Quellen zu geben.

»Und wenn sie dich dort mit jemandem anbandeln sehen, können sie dich natürlich anzeigen«, sagte er, als er sich mit der Porzellankanne in der Hand zu mir auf das Sofa setzte. Ich hob meine Tasse mitsamt der Untertasse an und hielt sie ihm zum Einschenken entgegen.

»Das glaube ich nicht. Sie wissen ja, dass ich Männer mag. Aber sie müssen trotzdem nicht sehen, mit wem ich da verschwinde.«

»Haben sie dich mal erwischt?«

»Ich habe es ihnen gesagt.«

»Einfach so?« Er bot mir Zucker und Dosenmilch an, ich bediente mich und antwortete, nachdem ich einen Schluck getrunken hatte: »Sie haben mich gefragt. Einmal, als sie, aus dem Fenster starrend, gespottet haben, fragte ich sie, ob es nicht egal sei, wen man liebt, wenn man es nur überhaupt täte. Da haben sie mich gefragt, ob ich etwa auch zu denen gehöre. Sollte ich sie anlügen?«

»Ganz schön mutig.«

»Das fanden die auch, vor allem der junge Beleuchter, der mir daraufhin zur Toilette gefolgt ist.«

Es war merkwürdig, sich Zeit zu lassen, nicht nur in der Hetze der Lust schnell übereinander herzufallen, um sich anschließend nie mehr zu sehen oder wenigstens so zu tun, als kenne man sich nicht, wenn die Gier nach Fleisch einen wieder überkam.

Wir gehörten zu den Unanständigen, an denen die Moralpredigten der Eltern abgeprallt waren. Darius hatte mit der Lederjacke den Nimbus des Halbstarken abgelegt. Er wirkte wie eine Hausfrau, wenn er Kaffee nachschenkte, zum Glück trug er keine Schürze. Sein weißes Hemd war gebügelt, auch wenn ich in der kleinen Wohnung kein Bügelbrett sehen konnte. Ich hatte schon lange eine Erektion, meine Haut fühlte sich so gespannt an, als müsste ich sie eincremen. Entgegen der Ruhe, mit der wir unseren Kaffee tranken, ohne uns auch nur einen schmachtenden Blick zuzuwerfen, raste mein Herz. Ich fragte mich, ob wir uns ausziehen und die Lust über den ganzen Körper verteilen würden, ich überlegte, ob er mich ficken wollte und wie sich das anfühlte, ich bebte bei der Vorstellung, mit ihm in diesem schmalen Bett zu liegen und konnte es kaum abwarten, bis es endlich losginge. Aber es war seine Wohnung, ich wollte nicht den Anfang wagen, sondern warten, bis er seine Hand langsam in meine Richtung bewegte. Und in der Erwartung der Sünde, der ich mich hingeben wollte, die wie ein fester Vertrag über uns schwebte, saßen wir züchtig bekleidet an seinem Mosaiktisch und schlürften Kaffee aus Porzellantassen, wie eine gesittete Familie am Sonntagnachmittag.

»Wo arbeitest du?«, fragte ich. Doch anstatt mir zu antworten, tat er endlich, wozu ich hergekommen war, streichelte meinen Hals, zog mich langsam daran zu sich und gab mir einen Kuss.

Ofen und Herd verbreiteten gemütliche Wärme, ab und zu puffte es, wenn ein Stück Kohle in einen Hohlraum fiel. Darius’ Wimpern kitzelten auf meiner Wange, seine Augen leuchteten braun. Ich rückte zu ihm, presste ihn an mich, streichelte seinen Rücken durch den etwas feuchten Stoff seines Hemds. Er fuhr mit den Fingern durch mein Haar, nahm mein Gesicht in beide Hände, sah mich an, lächelte.

»Du bist schön, weißt du das?«

Und das von ihm, der mit seinem Gesicht für Nivea werben könnte, so ebenmäßig, glatt und weich war es.

»Nein«, sagte ich, »das weiß ich nicht. Aber wenn du es mir oft genug sagst …« Ich küsste ihn wieder, tastete mit meiner Zunge nach seiner, spürte das Blut in seinen Lippen, den Herzschlag durch sein Hemd, ließ los und flüsterte ihm ins Ohr: »Du bist auch schön.«

»Darf ich dein Hemd ausziehen?«, flüsterte er zurück. »Ich will mehr von dir sehen.«

Ich lachte. »Ich dachte, deshalb bin ich hier.«

Darius stand auf, zog mich an der Hand durch den Raum zu seinem Bett, setzte mich, kniete sich vor mich, als machte er mir einen Antrag, löste den Knoten meines Schlipses und knöpfte langsam mein Hemd auf.

Ich zitterte trotz der behaglichen Wärme, sehnte mich danach, nackt vor ihm zu sitzen, seinen Blicken und Berührungen ausgeliefert, doch ich schämte mich auch. Egal, was er sagte, schön war ich nicht. Meine Mutter nannte mich immer Hering, weil man meine Rippen zählen konnte und die Adern durch meine Haut schimmerten. Noch nie hatte ich nackt vor einem Mann gesessen, höchstens die Hosen vor einem runtergezogen.

Darius streifte mein Hemd ab, strich mit dem Zeigefinger leicht über meine Rippen, bevor er mich umarmte und die Knöpfe seines Hemds in meine Haut drückte. Ich war nicht so geduldig wie er, löste mich, zerrte den Stoff aus seiner Jeans, das Hemd samt der zu locker gebundenen Krawatte über seinen Kopf.

Er war muskulös, nicht unangenehm, sondern gerade richtig, um mir kraftvoll zu erscheinen. Seine Haut war so braun wie im Sommer. Sie war etwas trocken, fühlte sich nach feinem Schmirgelpapier an, das ich manchmal verwendete, wenn ich Pappmaschee glattpolieren wollte. Er drückte mich aufs Bett, legte sich auf mich, küsste mich, streichelte mich ohne Eile, ohne Gier, ließ sich Zeit, bis er Gürtel und Haken meiner Hose öffnete.

Ich war nackt, mein Penis so dick angeschwollen, wie ich es noch nie erlebt hatte. Darius legte sich wieder auf mich, seine Jeans rieb rau an den Haaren meiner Beine, das Metall der Knöpfe drückte kalt auf meinem Bauch, sein Körper war warm. Er küsste mich auf die Augen, auf die Nase, auf den Mund, er streichelte meine Arme, meine Brust - der Penis kümmerte ihn nicht. Manchmal spielte er mit den Fingern in der Schambehaarung - weiter ging er nicht.

Er drängte mich nicht, seine Jeans auszuziehen, aber er drehte sich auf den Rücken und half mir, als ich den engen Stoff von seinen Beinen streifte. Ich betrachtete Darius‘ Körper, das perfekte Spiel der Muskeln, während er atmete, die kleinen festen Brustwarzen, die leicht behaarten Beine und natürlich seinen Penis, der beschnitten war - und größer als meiner.

Wir fickten uns nicht, wir nahmen die Dinger nicht in den Mund wie in den dichten Hecken des Parks oder den Kabinen der Toiletten, wir berührten sie nicht einmal mit der Hand. Wir waren jenseits der Klappen, weit entfernt von der schnellen Befriedigung und so rieben wir nur unsere Körper aneinander, genossen sie, bis wir kamen und unser Sperma uns miteinander verklebte. Dann hielten wir uns ruhig in den Armen, keine Bewegung mehr außer dem sanften Heben und Senken unserer Brüste beim Atmen.

Es hat bestimmt lange gedauert, bis Darius sich löste und zum Tisch ging, um Aschenbecher und Zigaretten zu holen. Er steckte uns beiden eine an, legte sich wieder zu mir, und als er aufgeraucht hatte, sagte er: »Da ist bestimmt noch Kaffee.«

Ich hatte einen tollen Orgasmus an diesem frühen Abend, das Großartigste aber war die Zeit danach, in der Darius neue Kohle in Ofen und Herd warf, neuen Kaffee kochte, Brot aus dem Küchenschrank, Käse, Butter und Wurst aus dem Kühlschrank holte und wir zu Abend aßen, beide immer noch nackt, beide im Glück, das Berührte mit den Augen weiter genießen zu dürfen, beide ohne Scham, ohne Reue, sondern in stiller Selbstverständlichkeit.

Wir mussten nicht darüber sprechen, ob ich über Nacht bliebe. Darius fragte nur, wann ich morgens anfangen müsste. Und wir blieben nackt, auch, als wir wieder ins Bett gingen, uns aneinander kuschelten und ohne Sex gemeinsam einschliefen.

»Du bist es«, sagte Darius staunend, als ich am nächsten Morgen ging. »Ich habe es an deinem Körper gespürt.« Mehr nicht. Es klang wie das Versprechen: ›Ab jetzt brauchst du keine Angst mehr zu haben, ob jemand aus dem Fenster des Theaters schaut.‹


3.


Die Gefühle überschwemmen mich wie die Elbe den Hafen bei einer Sturmflut. Alles ist da, als ich Darius sehe, die stille tiefe Freude an ihm, die Wärme, die mich schon immer durchfloss, wenn ich ihn sah oder an ihn dachte, die Tränen vor Glück, die Tränen vor Schmerz, Sehnsucht, Suche, Leidenschaft, Verzweiflung, Wut.

Ohne mich zu beachten, geht er zügig an meinem Tisch vorbei, so nah, dass ich ihn an seinem Arm festhalten könnte. Ich möchte meine Hand ausstrecken, ihn berühren, die leicht schmirgelnde Haut spüren, die ich bei niemandem je wieder erlebt habe. Doch wie gelähmt lasse ich sie auf dem Tisch liegen. Ich möchte seinen Namen rufen, bringe nichts weiter hervor als trockenes Räuspern, als müsste ich husten. Darius huscht vorbei, schon kann ich nur noch seinen Rücken sehen, das leichte Pendeln seines Hinterns bei jedem Schritt. Noch immer ist sein linker Fuß leicht nach außen gebogen, allen Einlagen zum Trotz, die er in den fünfzig Jahren hätte tragen können.

»Darius!« Endlich funktioniert meine Stimme wieder. Kurz warte ich, ob er sich umdrehen wird, zwei Sekunden vielleicht, dann rufe ich erneut: »Darius!« Sicher ist es aussichtslos. Es sind viel zu viele Menschen auf dem Schwimmponton, es ist zu laut, zu hektisch, zu voll. Eine leichte Irritation scheint ihn zu erfassen, fast unmerklich verzögert er seinen Schritt, lauscht in die Geräuschkulisse.

»Darius!« Ich versuche, lauter zu rufen, weiß nicht, ob mir das gelingt. Es ist mir peinlich, denn trotz des Lärms ist es um mich herum auf einmal still.

Darius zögert, dreht sich langsam um, ich rufe erneut, schaffe es, die gerade noch gelähmte Hand zu bewegen, in die Luft zu halten und zu winken. Unsicher kommt der junge Mann auf mich zu, ich zweifle plötzlich, ob es wirklich Darius ist. Aber wenn er es nicht ist, muss es ein eineiiger Zwilling von ihm sein. Sein Gesicht sieht fragend aus, die Stirn ist leicht in Falten gezogen, doch er bleibt vor mir stehen.

»Meinen Sie mich?«, fragt er.

»Darius?«, frage ich.

Er nickt, betrachtet mein Gesicht auf der Suche nach einer Erinnerung, forscht in den Spuren der Vergangenheit, in den Furchen des Lebens, ob er ein Gesicht herausschälen kann, das er kennt.

»Siegfried«, sage ich. »Erinnerst du dich?«

Wie mechanisch setzt er sich zu mir, fast, als merkte er nicht einmal, dass er den Stuhl vom Tisch zieht. Er erscheint mir etwas schlanker als vor fünfzig Jahren, während ich nicht mehr so dürr bin. Der Stoffwechsel des Alters hat mir ein paar Pfunde geschenkt, fast zu viel. Ein gefälschter Raddampfer legt am Kai an, die Wellen klatschen hörbar an den Ponton, ein Kind plärrt - vielleicht wegen der Kälte, vielleicht, weil es Hunger hat. Darius schüttelt weder den Kopf noch nickt er. Er starrt mich an, winkt der Bedienung und bestellt ein Alsterwasser.

»München?«

»Ja.«

»Mann ist das lange her.«

›Das sieht man dir nicht an‹, möchte ich sagen, aber aus irgendeinem Grund habe ich Angst, dann springt er sofort auf und flieht, also nicke ich nur.

»Du bist es«, sagt Darius und es klingt genauso staunend, wie am Morgen des zwölften Januar 1955. »Du bist voller geworden, das steht dir gut. Wenn du mich nicht angesprochen hättest, hätte ich dich nicht erkannt, tut mir leid. Aber jetzt, da ich dich anschaue, bist du es. Du hast noch immer das kleine Muttermal links in der Nasenbeuge.«

»Ich bin älter geworden, das muss dir nicht leidtun.«

Mein Grog ist längst kalt geworden. Ich nehme einen Schluck, spüre Darius’ Blick auf meinem Gesicht, bis die Kellnerin ihm das Alsterwasser auf den Tisch stellt, er sie anlächelt und sich bedankt.

Die Zeit hat sich wie ein dämpfender Teppich über die Gefühle gelegt, so lebendig sie auch sind, so irreal kommen sie mir vor. Wie Bilder aus einem Schwarz-Weiß-Film. Der Schmerz flattert in unruhigen Bildern vor mir, das Glück lacht grau und in rissigen Streifen, der Projektor rattert im Kopf und ab und zu zeigen weiße geometrische Zeichen an, es wird Zeit die Spule zu wechseln. Und der Schauspieler sitzt mir gegenüber, holt die Fantasien und Gefühle in die Realität und schiebt sie gleichzeitig weit in die Imagination. Denn er hat sich nicht verändert.

»Keine Vorwürfe?«, fragt Darius.

Ich schüttle den Kopf. »Hätte ich dich früher getroffen, hätte ich dir wohl einige gemacht.«

»Keine Fragen?«

Jede Menge an Fragen, viel zu viele, um sie zu stellen. Und vielleicht täte ich es, würde ich träumen, säße er mir nicht in der Realität gegenüber und verzerrte diese.

»Nein. Vielleicht später.«

»Dich hat die Kunst nach Hamburg verschlagen, oder …?« Darius nimmt einen Schluck Alsterwasser, wischt sich den Schaum vom Mund und schaut mich wieder an. Ich sehe ihn an, möchte etwas antworten, ihm sagen, wie lange ich mir diesen Moment gewünscht habe, möchte wissen, warum er damals einfach gegangen ist, ohne ein Wort, möchte hören, was er seitdem erlebt hat, warum er nicht älter geworden ist – wie sehr hätte ich mir auch das in manchen Jahren gewünscht – möchte den Augenblick genießen und ihn mit keinem Wort stören, in schweigender Übereinkunft spüren, es hat sich nichts verändert zwischen uns. Jedes Wort ist von der Angst begleitet, zu laut, zu forsch, zu bohrend zu sein, jeder Satz von der Furcht, er könnte den Augenblick zerstören, Darius vertreiben und ihn für immer von mir trennen.

»Um ehrlich zu sein, warst es du. Ich wollte dich vergessen.« Mein Herz klopft bei diesem Satz, ich mache mich bereit, Darius festzuhalten, sollte er aufstehen, aber die Wahrheit ist mächtiger als meine Angst, sie presste den Satz hervor, noch bevor ich sie kontrollieren konnte. »Da passte es gut, dass ich gerade alles verloren hatte. Ich wollte neu anfangen, auch wenn ich nicht wusste, wie. Hamburg war die Stadt, die mir am weitesten entfernt vorkam, als ich das Bahnticket löste.«

Darius zündet sich eine Zigarette an, hält mir die Schachtel hin. Ich greife zu, um der Erinnerung willen. Eigentlich habe ich längst aufgehört zu rauchen. Es ist noch dasselbe Benzinfeuerzeug, zu dem ich mich bücke.

»Ist es dir gelungen?«

»Ich habe gut davon gelebt, dich nicht zu vergessen.«

Obwohl der Satz Schokolade enthält, erschrecke ich selbst über den Geschmack ranziger Bitternis. Doch Vorwürfe – auch nach so vielen Jahren noch. Vorwürfe, die ich längst begraben glaubte. Ist es nicht schön, jemanden nicht vergessen zu können, ehrt nicht der Eindruck, den er hinterlassen hat? An seiner Stelle ließe ich das Bier stehen, aber er bleibt sitzen, lächelt und legt eine Hand auf meine. Einen Augenblick lang frage ich mich, ob er die Poster nie gesehen hat, ob die Presseberichte vor ihm verborgen geblieben sind.

»Es klingt nicht glaubwürdig, wenn ich dich nicht einmal erkannt habe, aber ich habe dich auch nicht vergessen.« Er nimmt die Hand wieder fort, sieht einen winzigen Moment an sich herunter und schaut mich wieder an.

»Du siehst mein Geheimnis. Du bist der Erste, der es sieht. Ich musste damals gehen, so schmerzhaft es auch war. Nicht nur deshalb.«


4.


Ich spürte die Temperatur nicht, als ich an jenem Morgen durch die Januarkälte stapfte. Den Schal hatte ich vergessen, den Dufflecoat ließ ich geöffnet. Es machte mir nichts aus, die Kleidung vom Vortag noch einmal zu tragen, auch wenn das Hemd etwas zerknittert war. Darius hatte mich mit so viel Glück angefüllt, dass ich schreien wollte. Es trieb mich an, verlängerte die Schritte, die mich von ihm wegtrugen, dabei wollte ich doch bleiben.

Ich würde ihn wiedersehen, daran zweifelte ich keine Sekunde. Seine Verabschiedung hat keine Fragen offen gelassen. In dieser Zuversicht fiel der Weg zum Theater leicht. In dieser Gewissheit gingen mir die Arbeiten des Tages wie im Schlaf von der Hand, und die Stunden verflogen, wenn auch nicht schnell genug.

Zum Feierabend schaute ich nicht, ob Darius auf dem Gärtnerplatz stand. Ich hatte das Bedürfnis, mich zu waschen und meine Kleidung zu wechseln. Also ging ich direkt nach Hause, vermisste den Schal, denn die Müdigkeit ließ mich trotz der für Januar eher milden Temperaturen jetzt doch frösteln. Meine Vermieterin war nicht zu Hause. Sie hatte mir einen Zettel auf den Tisch gelegt, auf dem Herd stünde ein Topf mit Gulasch, das ich mir warm machen dürfte. Doch zunächst erhitzte ich Wasser, das ich im Keramikbecken an der Wand meines Zimmers mit kaltem vermischte, zog Hemd und Hose aus, wusch und rasierte mich ausgiebig.

Mich im Spiegel betrachtend hatte ich das Gefühl, ich hätte Farbe bekommen und ein wenig Gewicht zugelegt. Nach Abschluss der Prozedur zog ich mich wieder an. Es gab nicht viel Auswahl. Praktischerweise hatte ich nur weiße Hemden, nur graue Hosen, alle, wenn nicht identisch so doch zumindest sehr ähnlich im Schnitt. Ich kaufte Brot, Butter, Mettwurst, Schinken und schwarzen Tee, bevor ich, als wären wir verabredet, zu Darius ging – um den vergessenen Schal zu holen.

Ich klingelte bei ihm, sah durch die Fenster des Treppenhauses Licht aufleuchten, lauschte, ob ich auf der anderen Seite der Tür Schritte die Treppe herabkommen hörte. Ich hörte nur den Schlüssel im Schloss, dann Darius’ Stimme, sein knappes Hallo, als hätte er mich schon erwartet. Den Schal hatte er nicht mitgebracht, stattdessen bat er mich hinein.

»Wenn man etwas vergisst, möchte man wiederkommen«, sagte er lächelnd, nachdem er seine Wohnungstür hinter mir geschlossen hatte. Ich hängte meinen Dufflecoat an die Garderobe, stopfte den Schal gleich in den Ärmel, um ihn nicht erneut zu vergessen, wenn ich ginge.

Zum ersten Mal sah ich ihn mit den Augen der Liebe an, die ich seit heute Morgen in mir getragen hatte, zum ersten Mal mit dem Gefühl, welches mir erst auf dem Weg zum Theater so richtig bewusst geworden war: Der Sicherheit, wir gehören zusammen.

Er trug nur ein Unterhemd zu seinen Jeans. Die Tolle über seiner Stirn war leicht zerzaust, als hätte er sich am Morgen nicht darum gekümmert. Wie selbstverständlich ging er in die Küche, setzte den Kessel auf den Kohleherd und füllte Bohnen in die Kaffeemühle. Ich holte, als wäre ich schon dort zu Hause, das Geschirr aus dem Küchenschrank und stellte es auf den Tisch und legte meine Einkäufe dazu.

»Und jemand, der Essen mitbringt, möchte bleiben«, ergänzte er.

»Am liebsten für immer.«

»Dann würden selbst meine Nachbarn misstrauisch. – Möchtest du lieber Tee?«

»Gewohnheit«, sagte ich.

Darius stellte die Kaffeemühle zurück und holte stattdessen ein Tee-Ei aus einer Schublade. »Schön.«

Wir aßen, tranken Tee, und mussten immer wieder grinsen, wenn wir uns ansahen. Wir sagten nichts, wirklich gar nichts, und fühlten uns trotzdem wohl.

Nachdem wir den Tisch abgeräumt und das Geschirr gemeinsam abgewaschen hatten, spielten wir Halma. So saßen wir gemeinsam auf dem Sofa, spielten, lachten, gewannen, verloren und genossen die Zeit, in der nur unsere Knie sich berührten. Ich dachte nicht darüber nach, ob ich bliebe und ob wir wieder Sex hätten. Es war so, wie es sein sollte, aber nicht selbstverständlich war. Wir konnten miteinander spielen, uns in den Arm nehmen, durchs Haar streicheln, uns küssen, wann immer uns danach war – ohne Scham, ohne schlechtes Gewissen. Das Spiel geriet in den Hintergrund, die Steine blieben liegen, die Umarmungen und Küsse wurden länger und Darius schob seine Hand unter mein Hemd, streichelte meinen Bauch.

»Du hast dich heute geärgert.«

»Nur ein bisschen«, sagte ich erstaunt. »Woher weißt du das?«

Er drückte mich auf das Sofa, setzte sich an dessen Rand, sodass ich lag und er mein Hemd hochschieben konnte. Dann strich er mit beiden Händen über meinen Bauch.

»Fritz, der junge Beleuchter, scharwenzelte den ganzen Tag um dich herum, als hätte er nichts zu tun. Sein Meister rief ihn immer wieder, dann verschwand er für einige Zeit, aber sobald er es einrichten konnte, begab er sich wieder in deine Nähe. Du hast so getan, als bemerktest du ihn nicht.«

Ich fühlte mich wie hypnotisiert, dämmernd genoss ich Darius’ warme Hände, seine Stimme, mit der er mir erzählte, was ich am Tag erlebt hatte.

»Das stimmt«, sagte ich träge, »aber darüber habe ich mich nicht geärgert.«

»Dein Chef hat ihn registriert«, fuhr Darius, ohne auf die Unterbrechung einzugehen fort. »Und er hat das dunkle Brillengestell auf die Stirn geschoben, dich angeblinzelt und die Hände über dem Tisch gefaltet wie zum Gebet. Seine Fliege hat dabei über dem Adamsapfel vibriert. Er hat dich gefragt, was zwischen euch liefe und dir gedroht: Was du in deiner Freizeit machtest, ginge ihn nichts an. Dein überflüssiges Bekenntnis neulich hätte er nicht gehört, und wenn du unbedingt draußen am Platz jemanden aufgabeln müsstest, übersähe er es. Nicht aber würde er tolerieren, wenn du dich an Lehrlingen und Kollegen vergriffest.«

»Ich …« Ich stockte, suchte nach einer Rechtfertigung, warum ich mich nicht gewehrt habe, sah Darius in die Augen, wartete … »Mein Chef fuhr fahrig mit der Hand durch die Luft und schob die Brille wieder vor die Augen. Ich wollte ihm sagen, er müsse sich keine Sorgen machen, ich sei es nicht, der …«

Darius legte mir den Finger auf die Lippen. »Manchmal ist es besser, den Mund zu halten, egal, wie ungerecht einem etwas erscheint.«

»Darin war ich noch nie gut.«

»Ich weiß«, sagte Darius, streichelte wieder meinen Bauch, ganz leicht, nur mit den Fingerkuppen. »Doch Gott sei Dank warst du viel zu glücklich, um dir die Laune verderben zu lassen.«

Ich musste grinsen, hielt seine Hand fest, sah ihm ins Gesicht. »Du bist ganz schön eingebildet.« Dabei hatte er recht. Die Handbewegung hatte mir die gedachte Erwiderung abgeschnitten, ich mich wieder über meine Arbeit gebeugt, bis Fritz das nächste Mal an meinem Tisch stand. Er sagte nie etwas, wagte nicht einmal den Ansatz eines Gesprächs. Ich hatte versucht mich zu konzentrieren, während ich ihn in meiner Nähe mehr spürte, als sah. Das war auch bis zu der deutlichen Bemerkung meines Chefs gut gegangen. Fritz’ unbeholfene Annäherung hatte mich eher amüsiert, seine Mutlosigkeit erschreckt. Für Menschen wie ihn musste die Selbsterkenntnis so grausam sein wie das unsinnige Gesetz, das verbot, was nicht zu verbieten war. Menschen wie er besäßen nie den Mut, sich offen darüber zu stellen und zu kämpfen.

»Und du bist ungerecht.« Darius lächelte, ließ die festgehaltene Hand in meiner, sah mich nur an. »Du bist zwar mutig, aber auch du hast manchmal Angst. Und auch du möchtest nicht ins Gefängnis.«

»Woher weißt du das alles?« Natürlich spukte das Gefängnis als Damoklesschwert auch in meinen Gedanken, ich war nie ein Held.

Dieses Mal ließ Darius zu, dass ich mich aufrichtete und auf den Ellenbogen abstützte. »Woher weißt du, was ich fühle, was ich erlebt habe – so genau, als hättest du mich den ganzen Tag beobachtet?« Es war merkwürdig, wie ruhig ich war, kein bisschen verängstigt oder erschreckt. Es wunderte mich, was Darius über meinen Tag erzählte, ich konnte es mir nicht erklären, aber dieses Gefühl blieb zu dumpf und neblig hinter dem wieder aufkeimenden Ärger über Fritz, um das Geschehen infrage zu stellen.

»Dein Körper erzählt es mir.«

»So ein Verräter«, sagte ich lachend. Es war mir nicht unangenehm, was Darius alles wusste, ich schämte mich so wenig wie beim Sex, es war nur ungewohnt.

»Unsere Körper erzählen all unsere Geschichten«, erklärte Darius. »Und wenn wir sie berühren, hören wir ihnen zu. Man muss nur lernen, sie auch zu verstehen.«

»Oh Gott, dann möchte ich nicht wissen, was mein Körper dir gestern alles erzählt hat.« Ich schwankte zwischen Neugier und Flucht. Es war schön und gemütlich, auf diesem Sofa zu liegen, Darius neben mir auf der Kante, die eine Hand immer noch in meiner, die andere noch immer auf meinem Bauch. Mein Hemd nach oben geschoben, lauschten Darius’ Fingerkuppen den Geschichten meiner Haut, die ich nicht auswählen konnte. Ich hatte keine Kontrolle darüber, was mein Körper erzählte. Liebe ist Kontrollverlust. Muss es für uns Homosexuelle schon deshalb sein, weil wir mit jedem Akt ein Risiko eingehen. Oder zwingt uns die ständige Bedrohung, die Kontrolle nie so aufgeben zu können, wie es die Liebe verdient?

»Kann das jeder?«

»Jeder kann es lernen.« Er stand auf, ging zum Ofen, um Briketts nachzulegen, fragte, ob er noch Wasser aufsetzen solle, was ich verneinte. Ich blieb liegen, zog nur mein Hemd wieder hinunter.

»Bei dir macht es mir ja nichts aus«, sagte ich laut, während er mit dem Schürhaken in der Asche des Herds wühlte, »aber wenn ich mir vorstelle, jeder Unbekannte, für den ich am Gärtnerplatz mal …«

»Pscht.« Ein hastiger, scharfer Blick trifft mich.

»… finde ich es schon beängstigend«, fuhr ich leiser fort.

Darius kam zurück, den Haken noch in der Hand, sein Blick immer noch etwas angespannt, blieb er vor mir stehen. »Manchmal bist du allerdings zu wenig ängstlich«, sagte er fast flüsternd. »Wände sind nie so dick, dass man dich in den anderen Wohnungen nicht verstehen kann, wenn du so brüllst.«

Erst jetzt kam der Schreck in mir an. Darius konnte also auch wütend oder gereizt sein. Gerade noch war er mir übermenschlich erschienen. Ich setzte mich auf, sah an ihm vorbei und murmelte »Entschuldigung«.

Darius ging in die Kochecke zurück, ich folgte ihm. »Schon gut«, sagte er. »Ich habe eine eigene Wohnung, in die niemand zu schauen hat und in der ich mich frei bewegen kann. Verglichen mit vielen anderen, so wie Fritz, habe ich es richtig gut. Aber manchmal habe auch ich Angst, sie erwischen mich. Dann mache ich mir bei jedem Besuch Gedanken darüber, was die Nachbarn denken könnten.«

»Wenn dein Körper davon gestern erzählt hat, habe ich es nicht gehört.«

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 18.07.2020
ISBN: 978-3-7487-5046-8

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