Florian Tietgen
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Florian Tietgen, Jahrgang 1959, hat seit 2003 mehrere Kurzgeschichten und 2007 seinen ersten Roman veröffentlicht. Inzwischen hat er seine eigene Edition bei der Knaur-Tochter neobooks, veröffentlicht sowohl als Verlagsautor als auch im Selfpublishing und unterstützt das Autorennetzwerk Qindie.
Copyright © 2014 Florian Tietgen
Covergestaltung: Jacqueline Spieweg
Unter Verwendung des Acrylbilds ›Zwischen(t)raum‹ von Florian Tietgen
Lektorat: Satzklang
Alle Rechte liegen beim Autor.
Kontakt:
E-Mail: webmaster@floriantietgen.de
Am 11. September 2001 fragte mich Lyra, ob ich ihr eine CD leihen könnte.
In der fünften Klasse war sie noch der Schrecken der Klasse gewesen, kein Bild unserer pubertären Fantasien, sondern ein Mädchen mit brav geflochtenen Zöpfen, Brille, karierten Röcken und weißen Blusen, das auf alles eine Antwort gewusst hatte.
Ich weiß nicht, ob ich sie einfach mit der Zeit anders sehen konnte oder ob sie sich verändert hat, vermutlich wird beides zutreffen. Jedenfalls begannen sich unsere Geschmäcker anzugleichen, unsere Meinungen, und ich hörte aufmerksamer zu, wenn sie sich zu Wort meldete. Die karierten Röcke gehörten schon lange der Vergangenheit an. Wichtiger war mir aber: Lyra hatte eine Meinung, konnte streiten und schien unabhängig. Ich war in sie verknallt.
Ich war so verknallt, dass ich in der Freistunde nach Hause fuhr, um ihr die CD zu brennen. Was für ein Glücksgefühl, wenn das Mädchen deiner Träume deinen Geschmack teilt und sich für die gleichen Dinge begeistern kann wie du. Lyra hatte mich ausgerechnet nach Live gefragt, ein Grund mehr, nach Hause zu eilen. Ich liebte die Musik von Live und zu „Dance With You“ oder „Lightning Crashes“ konnte ich heulen. Wie beneidete ich diesen Sänger, der es schaffte, nur mit seiner Stimme so viele Emotionen zu wecken.
Es wäre nichts anders gekommen, hätte ich nicht liebestrunken und voll freudigem Besitzerstolz die Freistunde genutzt. Ich hätte nur die ersten Zeichen erst später gesehen. Die Veränderungen ließen sich an diesem Vormittag nicht mehr verbergen. Sie waren entschieden.
Manchmal nimmt man, gedanklich mit einem Vorhaben beschäftigt, Außergewöhnlichkeiten nur aus dem Augenwinkel wahr, läuft an ihnen vorbei, grüßt sie freundlich, und erst, wenn die geplanten Schritte erledigt sind, stellt man innehaltend fest, was man gerade registriert hat.
Ich hatte einen Anzug registriert, blank geputzte Herrenschuhe, ein weißes Oberhemd mit Krawatte.
»Hallo Schatz, schon zu Hause?«, hatte mich das Gesicht oberhalb dieser Krawatte gefragt.
»Nein, ich muss nur schnell was holen.« Ich war an dem Anzug vorbeigeschossen, in mein Zimmer geeilt, hatte die CD auf der Festplatte und einen Rohling im den Raum beherrschenden Chaos gesucht. Erst, als ich das Brennprogramm gestartet hatte, stolperte ich die Treppe wieder nach unten. Der Brenner würde ohnehin eine Weile brauchen.
»Sorry, dass ich eben so vorbeigehetzt bin.«
»Kein Problem«, antwortete meine Mutter. »Hast du ein bisschen Zeit? Ich muss mit dir reden.«
»Nach der Schule. Jetzt muss ich mich beeilen, ich musste nur schnell was besorgen.« Ich wartete ein erneutes Lächeln als Zustimmung ab, bevor ich wieder in mein Zimmer ging. Die Lade des Brenners mit der fertigen CD war schon ausgeworfen, und ich konnte die Tracklist in Covergröße ausdrucken.
Manche Bilder werden schneller über die Netzhaut auf das Hirn projiziert, als der Kopf sie verarbeiten kann. Man weiß, was man sieht, aber die Dimension wird einem nicht klar, so seltsam und irreal erscheint es. Meine Mutter hatte noch nie Röcke oder Kleider getragen, ich kannte sie nur in Jeans, in T-Shirts und weiten Pullis. Selbst zur Arbeit trug sie immer Hosen. Das Outfit männlicher Bürosklaven allerdings war neu für mich. Es fiel mir zwar auf, ich maß ihm jedoch keine Bedeutung zu. Auch war ich nicht darüber gestolpert, sie überhaupt zu Hause anzutreffen. Ich wunderte mich nicht im Geringsten, warum sie nicht bei der Arbeit war.
Ich hatte eine tolle Mama, auch wenn ich ihr nicht abgewöhnen konnte, mich Schatz zu nennen, selbst wenn Freunde dabei waren. Meine Mama war ungewöhnlich, immer gut für verrückte Überraschungen, und vielleicht machte ich mir auch deshalb keine weiteren Gedanken.
Lyra war eindeutig wichtiger. Sie bestimmte mein Hirn, sie leitete meine Schritte, meine Tätigkeiten. Ihr konnte ich, in der Hoffnung ihr zu gefallen, einen Gefallen tun. Meine Mutter liebte mich sowieso. Also packte ich die CD in die Tasche, rief noch einen kurzen Gruß und fuhr eiligst wieder zur Schule. Ich wollte Lyra die CD nicht heimlich im Unterricht zustecken, ich wollte sehen, wie sehr sie sich freute.
Und sie freute sich. Sie schaute erst ungläubig, fragte, ob ich extra dafür nach Hause gefahren sei, und als ich bejahte, gab sie mir einen Kuss auf die Wange, um sich zu bedanken. Die Mühe hatte sich gelohnt. Sie hatte sich sogar mehr als gelohnt, denn Lyra fragte mich, ob ich am frühen Abend Zeit hätte. Sie würde gern auf meiner Festplatte nach weiteren Bands stöbern.
»Klar«, sagte ich und jubelte innerlich. Hätte ich keine Zeit gehabt, hätte ich sie mir geschaffen. Das Versprechen, mit meiner Mum zu reden, hatte ich vergessen.
Als ich nach Hause kam, sah meine Mutter wieder normal aus, fast wie immer. Sie war in der Zwischenzeit beim Friseur gewesen, hatte sich die Haare auf zwei Zentimeter Länge schneiden lassen und etwas Gel in ihnen verteilt. Sie standen leicht hoch, so, wie die von Marc aus meiner Klasse. Meine Mum sah gut aus, zwar eher wie ein Junge meines Alters, aber gut. Sie wartete in der Tür auf mich. Das war seltsam, und erst dadurch erinnerte ich mich an mein Versprechen und begann mir Gedanken zu machen.
Nicht, weil sie mit mir reden wollte. Mütter wollen fortwährend über irgendwas mit einem reden. Darin unterschied sich meine Mutter nicht von anderen. Ich wusste, ich hatte nichts ausgefressen und keine Arbeit in den Sand gesetzt. Es beunruhigte mich, schon an der Tür empfangen zu werden.
»Hallo Schatz. Schön, dass du da bist.«
Normalerweise wäre ich an die Decke gegangen. Sie hätte mir Zeit zum Ankommen geben können, anstatt mich so zu überfallen. Vielleicht war es die Freude auf Lyra, die mich bremste. Vielleicht half mir aber auch die Intuition, mich der Situation anzupassen, ohne sie genau zu erfassen. Jedenfalls muss ich gespürt haben, wie viel wichtiger meiner Mutter das Gespräch war. Vielleicht half mir die Intuition, meine Schultasche im Flur abzustellen und meine Mama in den Arm zu nehmen, wie ich es schon lange nicht mehr getan hatte.
»Soll ich uns Kaffee kochen?«, fragte ich, doch sie lächelte wehmütig und müde.
»Nein, das habe ich schon getan.«
Sie hatte wirklich auf mich gewartet.
Es war, als hätte ich Geburtstag. Zwar lagen keine Geschenke auf dem Tisch, aber sie hatte in der Konditorei Sahnetorte gekauft, das gute Geschirr genommen und Kerzen angezündet. Die Kaffeesahne hatte sie in ein kleines Kännchen gefüllt und der Zucker war in einer niedlichen Dose, deren Deckel Platz ließ für das Silberlöffelchen.
»Komm rein«, lud sie mich ein. Ich folgte ihr. Was gemütlich wirken sollte, machte mir Angst. Selbst wenn es Kuchen gab, schaufelten wir ihn sonst eher nachlässig in uns hinein, den Kaffee schlürften wir aus großen Bechern. Untertassen hatten wir höchstens, wenn die Großeltern da waren. Ihre Mühe erstickte meine Lockerheit. Normalerweise, wenn meine Mutter mir ankündigte, wir müssten reden, fragte ich: »Was gibt’s?«, wartete ihre Antwort ab und bezog Stellung, so gut ich konnte.
Wir setzten uns, gabelten häppchenweise unsere Torte und nippten, unruhig auf den Sesseln rutschend, unseren Kaffee.
»Du siehst gut aus mit der neuen Frisur«, fing ich an, um überhaupt etwas zu sagen, denn betretenes Schweigen zwischen uns war mir fremd.
»Danke.« Sie lächelte mich an. Ich kannte diese Art Lächeln, welches schmerzvoll versuchte, mich aufzumuntern, auch wenn ich nicht traurig war. Schon immer hat sie damit sich selbst aufgemuntert, wenn sie keine Kraft mehr hatte, wenn sie vor lauter Erschöpfung geweint hatte, strahlte sie mich an, als sei ich es, der Trost brauchte. »Alles wird gut«, sagte das Lächeln, wenn sie vor lauter Traurigkeit keine gesprochenen Worte mehr hatte.
Ach, hätte ich sie doch in diesem Moment noch einmal in den Arm genommen.
»Der Anzug heute Morgen«, druckste sie und schob sich ein weiteres Stückchen Torte in den Mund. »Es war zwar nicht geplant, dass du ihn siehst, aber es war gut so.«
Noch war ich ahnungslos, noch hatte ich keinen Schimmer, wohin das Gespräch führen sollte. Ich konnte den Anzug nicht einordnen, ich konnte ihn nicht mit der neuen Frisur in Zusammenhang bringen, und es sickerte noch nicht einmal wirklich zu mir durch, warum beides Anlass für dieses Gespräch sein könnte. Da hatte meine Mutter schon verrücktere Sachen gebracht, etwa als Frank’n’ Further zum Fasching zu gehen, mit Strapsen bekleidet, nur von einem Mantel bedeckt durch die kalte Februarnacht, um ohne diesen Mantel und betrunken von einem Taxifahrer wieder hier abgegeben zu werden.
»Ich möchte, dass du mich ab heute Chris nennst.«
»Klar«, sicherte ich ihr zu. »Kein Problem. Wenn es dir wichtig ist.« Das ganze Szenario nur für diese Bitte? »Eine Bedingung habe ich«, sagte ich grinsend in der Hoffnung, der Spuk löste sich damit in Rauch auf, wir pusteten die Kerzen aus, nähmen den Kaffee in richtigen Schlucken zu uns und verbannten das gute Geschirr wieder in den Schrank, bis ihre Eltern uns zum nächsten Mal besuchten.
»Ohne Bedingung«, sagte sie voller Ernsthaftigkeit. Sonst ließ sie sich immer von meinem Grinsen fangen, warf vielleicht ein Kissen nach mir, schalt mich Frechdachs, Idiot oder irgendetwas anderes, mit dem sie mir sagte, wie sehr sie mich liebte.
»In Ordnung. Keine Bedingung.«
Sie war so zart und klein, ich überragte sie mit meinen fünfzehn Jahren schon längst um einen Kopf, sie war so zierlich und …
»Ich trete ab heute meinen Alltagstest an.«
Ich war es gewohnt, ihr die meisten Bitten ohne viele Fragen zu erfüllen. Sie wusste, sie brauchte mir nie etwas zu erklären, wenn ich nur begriffen hatte, sie meinte es ernst. Das hatte ich begriffen. Wozu also Begründungen?
»Deinen Alltagstest?«
»Die ganzen Depressionen, die Traurigkeit, die jahrelangen Wege zum Psychotherapeuten hatten alle nur einen Grund«, fuhr sie fort. »Ich bin ein Mann. Ich habe den Körper einer Frau, aber ich bin ein Mann.«
Meine Mum sah gut aus, zwar eher wie ein Junge meines Alters, aber gut.
In diesem Moment klingelte Lyra.
»Eine Bitte habe ich auch.« Die musste ich noch schnell loswerden, bevor ich Lyra öffnete.
»Okay, das ist fair«, meinte Chris, während ich schon halb auf dem Weg zur Tür war. »Welche?«
»Ich möchte, dass du mich ab sofort Mike nennst und nicht Schatz.«
»Genehmigt!«, rief er mir hinterher. Er? Wie schnell ging es, Informationen, die ich kaum aufgenommen, bestimmt nicht verarbeitet hatte, zu beherzigen?
Lyra klingelte fast ungeduldig ein zweites Mal und stürzte durch unsere Tür: »Habt ihr den Fernseher an?«
All ihre herausgestoßenen Satzfragmente sagten mir nichts. Brocken, in denen Türme, Flugzeuge und der dritte Weltkrieg vorkamen, atemlos zwischen Angst und Verzweiflung. Lyra erwischte mich mit ihrer Bestürzung in voller Ahnungslosigkeit, warf sich an meine Brust und hämmerte mir erstickte Wortfetzen auf den Pulli. Ich konnte sie nur halten, ihr sachte den Rücken streicheln, sie langsam in die Wohnung holen und die Tür schließen. Chris schaltete unterdessen den Fernseher ein und rief mich ins Wohnzimmer.
»Mike, komm schnell!«
Ich schob Lyra zum Fernsehgerät, nachdem ich ihr ihre Jacke abgenommen und über die Garderobe geworfen hatte. Sie setzte sich nicht. Sie stand im Zimmer und starrte wie hypnotisiert auf den Bildschirm. Chris hockte mit angezogenen Beinen in der Ecke der Couch. Die Flugzeuge trafen die Türme bei brennenden Kerzen, dem guten Kaffeeservice, Schwarzwälder Kirschtorte und Tafelsilber.
Wie in einer Dauerschleife lief auf jedem Kanal das gleiche Bild. Es muss Interviews gegeben haben, es muss so etwas wie Berichte zwischendurch gegeben haben oder die typischen Korrespondentenbilder von Männern mit einem Mikrofon vor dem Mund. In der Erinnerung sehe ich aber nur die Bilder von Flugzeugen, die in die gläsernen Fronten der Türme rasten, die dichten grauen Rauchschwaden, die Flammen und die Menschen, die sich voller Panik in die Tiefe stürzten. Bilder, für die ich schon bald kein Fernsehgerät mehr brauchte, weil ich sie immer sah, sobald ich die Augen schloss.
Es gibt Tage, die sollten dir den Boden unter den Füßen wegziehen. Nichts, aber wirklich gar nichts scheint so bleiben zu können, wie es war. Zumindest ist es nicht vorstellbar.
Es gelang mir, Lyra zur Couch zu schieben, sie zu Chris zu setzen, der ihr zwischen den Bildern ein kurzes »Hallo« zuwarf. Wenn es je einen Moment gab, über den man sagen konnte, die Welt stünde still, war es dieser Moment, die Zeit, in der die Welt nichts als den Schock hatte.
Die Welt stand aber nicht still. Die Feuerwehren waren sofort im Einsatz, die Fernsehsender und Nachrichtenagenturen brachten ihre Kameras in Position, Menschen bellten ihre Betroffenheit in die Mikrofone oder riefen ihre Familien an: »Habt ihr schon gehört?« Politiker beeilten sich mit Beileids- und Solidaritätsbekundungen, es herrschte rege Betriebsamkeit, in der dank routinierter Ausbildung instinktiv oft das Richtige geschah. Und doch fühlte es sich an, als stockte der Welt der Atem, als lähmte der Schock alles Leben und jede Bewegung und bannte die Blicke nur in eine Richtung.
Selbst der Alltag ging weiter. Menschen erledigten ihre Einkäufe oder ihre Arbeit, versuchten dem Unfassbaren mit einem Stück Normalität zu trotzen und ihre Ängste damit zu besiegen. Und auch Lyra konnte ihren Blick vom Bildschirm lösen, konnte Chris ansehen und dessen Gruß erwidern.
»Hi, ich bin Lyra.«
»Chris«, stellte er sich vor und einen kurzen Impuls lang wollte er ihr die Hand hinstrecken.
»Bist du ein Freund von Mike?«
»Ja.«
Meine Mutter hätte Lyra jetzt gefragt, ob sie auch ein Stück Torte oder eine Tasse Kaffee wolle, wäre aufgestanden, um noch ein Gedeck zu holen, ohne ihre Antwort abzuwarten, oder hätte mich Schatz genannt und gebeten, meinem Gast etwas anzubieten. Aber Chris zog nur die Beine etwas näher an seine Brust, knetete mit den Händen seine Füße und schaute wieder gebannt auf den Fernseher.
»Ihr habt es ja gemütlich hier«, stellte Lyra mit einem Blick auf die Kerzen fest, schaute ihn an, schaute mich an und dann auch wieder auf die hektischen, alle Gemütlichkeit und alle Fragen zerstörenden Bilder.
Meine Mutter war nicht da, also brauchte ich keine Aufforderung, ein höflicher Gastgeber zu sein. Ich wusste ja, was sie gesagt hätte. Lyra nickte mechanisch, als ich ihr etwas anbot, und griff genauso mechanisch zur Kuchengabel, nachdem ich ihr die Torte serviert hatte.
Ich zappte durch die Kanäle, in der idiotischen Hoffnung irgendwo entweder mehr Information oder wenigstens Abwechslung zu finden, aber es gab kein Entkommen.
Die Bilder ließen sich nicht verweigern. Das Fernsehgerät auszuschalten war, als ignorierte man fremdes Leid und dächte egoistisch nur an sich. Es war, als müsste man sich dafür rechtfertigen, wenn man das Geschehen einfach nicht mehr aushielt. Meine simplen Fragen erstickten unbeantwortet unter den Trümmern aus Glas, Stahl und Beton. Sie waren unwichtig geworden, angesichts der hysterischen Frage danach, wann und auf welche Weise die amerikanische Rache folgen und wem sie gelten würde. An Musik, an meine Festplatte, die wir hatten durchforsten wollen, um Lyra noch etwas zu brennen, dachten wir nicht mehr. Ich dachte noch nicht einmal wirklich an die Veränderungen in unserer eigenen kleinen Welt. Ich hielt sie automatisch ein. Es kam mir nicht fremd vor, dass Lyra Chris als Jungen sah, als einen Freund von mir, mit dem sie ihren Schock teilte, ihre Angst, aber nicht ihre Tränen, denn er hat nicht geweint.
Wie fühlt man sich, wenn man in einem Flugzeug Menschen eine Waffe vor die Nase hält und weiß, man wird ihnen keine Chance lassen? Ich konnte die Flugzeuge nie abstrahieren, mir nie die Menschen aus ihnen fortdenken. Mit den Türmen ging es komischerweise. Aber die Menschen in den Flugzeugen verfolgten mich, ihre Angst, ihre erzwungene Ruhe.
Ich beseitigte die Gemütlichkeit, räumte das gute Service und das Tafelsilber in die Küche, die Reste der Torte in den Kühlschrank, pustete die Kerze aus und ließ Chris und Lyra im Wohnzimmer sitzen. Ich hatte genug von den Bildern. Es mag egoistisch gewesen sein, daran überhaupt einen Gedanken zu verschwenden, aber auch meine Hoffnung auf Lyra verschwand wegen einer schlichten Antwort von Chris auf ihre Frage: »Bst du ein Freund von Mike?«
»Ja.«
Würde ich das können?
Dinge sehen anders aus, wenn man sie aus dem Fernsehgerät kennt, aus den Daily Talkshows der Mittagszeit, den Kuriositätenkabinetten des Heute, in denen Menschen mit ihren Schicksalen und Gefühlen vorgeführt und zur Unterhaltungsware degradiert werden.
Transsexualität. Dieser Begriff hatte nie Leben für mich, nur Gesichter unter langen Perücken, überschminkte Bartstoppeln von Männern, die wie Frauen gekleidet waren und darüber erzählten, auf welche Weise man sie diskriminierte. Keine dieser Sendungen hatte mich je veranlasst, mir Gedanken zu machen. Zu absurd schienen mir die Erscheinungen, zu wenig hatten sie mit meinem Leben zu tun und zu wenig konnte ich mir vorstellen, mich in meinem Körper fremd zu fühlen.
Ich schaute, ob ich noch Musik fände, aus der ich Lyra eine weitere CD brennen könnte, aber ich klickte nur unsicher Titel an, nichts schien mir gut genug für sie. Die Stille meines Zimmers war mit Musik nicht zu übertönen, sie hallte von den Wänden zurück, spiegelte nie gehörte Schmerzensschreie und aufgescheuchte Reporterstimmen. Also ging ich wieder nach unten zu Lyra und Chris und fragte, ob ich uns eine Pizza bestellen sollte. Als die Pizza kam und ich bezahlen wollte, musste ich grinsen. Chris’ Geldbörse war noch in Mamas Handtasche.
Die Welt stand nicht still. Es fühlte sich nur so an.
Und Chris spielte den Galan, als Lyra ihn fragte, ob sie in dieselbe Richtung müssten, begleitete sie, flirtete und war noch zu sehr meine Mutter, um ihn deshalb anzumachen.
Ich wartete nicht, bis er nach Hause kam, ich versuchte zu schlafen. Aber die Flugzeuge, die immer wieder in meinem Hirn einschlugen, es in Flammen setzten und zum Einsturz brachten, hinderten mich daran. Bilder, die mich verfolgten, sobald ich nur die Augen schloss, hatte ich bis dahin nur gekannt, wenn ich mich, in einem Computerspiel festgebissen, stundenlang im selben Level nach einer Lösung gesucht hatte.
Chris vergaß vor lauter Freude zu klopfen, bevor er in mein Zimmer kam, sich auf mein Bett setzte und mir voller Kraft auf den Arm boxte: »Hey, Mike. Ich bin ein Freund von dir!« Ihm rannen Tränen die Wangen hinunter, während er über das ganze Gesicht strahlte. »Es mag ungerecht sein, Mike, das an einem Tag wie heute zu sagen. Aber ich bin sauglücklich.«
In ihm war ich gewachsen, durch seinen Leib auf diese Erde gekrochen, das hatte ich mir noch nie vorstellen können, so zierlich, wie er war. Ihm verdanke ich mein Leben. Er hat an mir festgehalten, als ich ihm seine Weiblichkeit bewies, indem ich mich, hungrig auf Leben, in ihm eingenistet hatte. Mein Erzeuger war damals ausgerissen, mochte sich mir nicht stellen, mochte mich nicht kennenlernen, aus Angst, ich könnte ihm gefallen, wie Chris einmal bemerkte. Chris’ Eltern hatten von verpfuschtem Leben gesprochen. Er hatte sich durchgekämpft, sein Studium der Chemie bestanden und sich freigemacht. Er hat mich großgezogen, gesäugt, genährt und mich geliebt, meine Windeln gewechselt und, wenn ich Fieber hatte, meine Waden gewickelt.
Ich konnte mich für den Schulterschlag revanchieren, ihm leicht auf den Arm boxen, meinen Ärger über die geraubte Chance bei Lyra dazupacken und versuchen, sein Glück zu teilen.
Was bist du für mich?
»Wenn du glücklich bist, bin ich es auch.«
Ich konnte sofort auf Chris umschalten. Ich sah ihn als Jungen, nicht als Mann, dazu fehlte der Bartwuchs, dazu fehlten die groben Poren der Haut, die Mitesser und Unebenheiten. Dazu waren die Arme nicht behaart und seine Schultern nicht breit genug.
Wer bist du für mich?
»Das ist schön, Schatz. Die nächste Zeit wird schwer genug.«
Chris schien es mehr Mühe zu bereiten, mich nicht Schatz zu nennen und mir durch das Haar zu kraulen, als mir, ihn als Chris zu sehen. Er war es gewohnt, seine Freude über mich körperlich auszudrücken, zärtlich und gestenreich liebevoll. Solange wir allein waren, war mir das egal. Und für den Moment genoss ich noch die Verbundenheit, die ich zu meiner Mutter hatte.
Während die übrige Welt über den Anschlag und die Angst vor einem dritten Weltkrieg diskutierte, ungewiss, wie besonnen der amerikanische Präsident sich über die künftigen Schritte beraten ließe, saßen wir auf meinem Bett und wechselten zwischen unserem Schweigen ein paar Fragen und Antworten.
»Du gehst so morgen auch zur Arbeit?«
Chris schüttelte gleichzeitig den Kopf und nickte: »Ich habe mir zwei Wochen Urlaub genommen. Aber der Betriebsrat und meine Kollegen sind informiert, dass ich als Mann zurückkommen werde.«
»Eher als Junge.« Ein Grinsen konnte ich mir bei der Bemerkung nicht verkneifen, auch wenn Chris das Gesicht missmutig verzog und die Lippen aufeinander presste.
»Ja, leider eher als Junge. Das ist das Blöde bei dem Alltagstest. Ich muss sechs Monate als Mann leben, bevor ich Hormone für die Umstellung bekomme. Sechs Monate, in denen ich mit meiner Statur, dem fehlenden Bartwuchs und meinem jungenhaften Gesicht der Lächerlichkeit preisgegeben werde. Aber wir werden es schaffen!« Wem wollte er Mut machen?
Ich konnte ihn noch immer nicht in den Arm nehmen. Es war merkwürdig. Ich wusste vor lauter Fragen nicht, welche ich zuerst stellen sollte, aber ich hatte gar keine Fragen - jedenfalls keine, die sein Vorhaben betrafen. Ich konnte mir nur nicht vorstellen, wie wir uns jetzt organisieren würden.
Was bin ich für dich?
Er würde weiterhin zur Arbeit gehen, die Verantwortung für mich tragen, mich erziehen, auf meine Hausaufgaben und auf die Zeiten achten, wann ich nachts heimzukommen hätte. Er würde zu den Elternabenden in der Schule eingeladen werden, müsste mit den Lehrern über meine Noten und mein Verhalten diskutieren, meine Zeugnisse unterschreiben oder die Entschuldigungen, wenn ich einmal krank wäre. Aber wie ernst würden die Lehrer ihn nehmen?
Wer bin ich für dich?
»Wie lange weißt du es schon?«
»Ich wusste es schon als kleines Kind.«
Als Christiane noch nichts über kleine Unterschiede wusste, dachte sie, ihre Eltern wären komisch, so wie sie von ihnen angezogen wurde. Warum wurde ihr jeden Tag das viel zu lange Haar zu kleinen Zöpfen gebunden, warum konnte sie nicht tragen, was die anderen Jungen auch trugen, sondern Kleider wie die Mädchen? Kleider waren im Kindergarten höchst unpraktisch, vor allem wenn man mit ihnen im Sandkasten Wälle und Festungen baute. Vielleicht ließen sich darin diese blöden Förmchen füllen und als Kuchen stürzen, aber richtig spielen konnte man in Kleidern nicht. Auch ließen die anderen Jungen Christiane wegen der Kleider oft nicht mitspielen, wenn sie sich mit den aus Legosteinen gebauten Gewehren beschossen, fielen und am Boden liegen blieben, bis ihnen jemand sagte, sie dürften wieder aufstehen, da ein neues Spiel begänne.
Kleider waren schon für ein Mädchen eine Zumutung, für einen Jungen waren sie unzumutbar.
Kinder glauben die Welt, wie man sie ihnen erklärt, aber Kinder sind nicht doof. Christiane wurde ständig erklärt, sie wäre ein Mädchen, aber sie wusste es besser. Außer ihr allerdings schien es niemand zu sehen. Die Jungen und Mädchen im Kindergarten sahen ihre Kleider, ihre langen Haare, also war sie für sie ein Mädchen. Da half es auch nichts, mit wütendem Trotz zu beharren, niemand glaubte ihr. Vor lauter Verzweiflung gab sie einem der anderen Jungen eines Tages die Bastelschere in die Hand: »Wenn du mir nicht glaubst, schneide mir doch die Haare einfach ab! Dann wirst du sehen, dass ich ein Junge bin.« Dabei hielt sie ihm den geflochtenen Zopf hin und deutete so gut sie es mit ihren vier Jahren konnte auf die Stelle über dem ersten Knoten: »Da musst du schneiden!«
Der Junge zeigte ihr einen Vogel. »Pah!«, rief er, »du spinnst wohl!. Haare schneiden ist doch nur was für Mädchen!« Wie sollte Christiane beweisen können, dass sie ein Junge war, wenn selbst das Abschneiden ihrer gehassten langen Haare nur etwas für Mädchen war?
Zu Hause glaubte man ihr auch nicht, und je mehr Aufstand Christiane morgens machte, damit sie wenigstens eine Hose anziehen dürfte, umso rosafarbener wurden die Kleidchen, die ihre Mutter ihr anzog. Je mehr sie darauf beharrte, keine Zöpfe, keine Locken und keine Schleifen zu wollen, umso länger verbrachte die Mama damit, sie wie ein Püppchen zurechtzumachen. Warum nur wollten ihr alle einreden, sie wäre ein Mädchen?
Christiane ließ sich nicht überzeugen, sie lernte nur zu schweigen, sie lernte, die falsche Tür zu nehmen, wenn sie zur Toilette wollte, weil sie ausgeschimpft wurde, sobald sie die richtige nahm. Irgendwann lernte sie über den kleinen Unterschied, lernte, was Jungen hatten, das ihr fehlte. Aber auch das konnte sie nicht überzeugen. Sogar ihr eigener Körper war gegen sie. Abends, wenn die Mama sie ins Bett gebracht, noch ein Schlaflied mit ihr gesungen oder das Nachtgebet mit ihr gesprochen hatte, wenn das Licht aus war und sie allein unter ihrer Decke lag, faltete Christiane in ihrer Not die Hände zu einem weiteren Gebet.
»Bitte, lieber Gott. Du hast bei mir etwas vergessen. Jetzt glauben alle, ich bin ein Mädchen. Dabei wird mir doch ganz bestimmt noch so ein Schwänzchen wachsen. Bitte lasse es schnell wachsen. Du weißt doch, dass ich ein Junge bin.«
Er hatte über alles mit mir geredet, warum nicht darüber? Warum erfuhr ich es erst, als er sich entschlossen hatte, sein Geschlecht zu leben?
»Was sagen Oma und Opa dazu? Hast du es ihnen schon gesagt?«
Chris blieb ganz ruhig sitzen, hatte seine Hand auf meinem Arm liegen und schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe Angst davor. Ich habe es ihnen als Kind so oft gesagt. Sie wollten nichts davon wissen.«
Ich wollte es nicht, aber ich musste gähnen. Zu gerne hätte ich es unterdrückt, aber die Müdigkeit ließ das nicht zu.
»Entschuldigung.«
Chris nahm seine Hand von meinem Arm. »Wann musst du morgen zur Schule?«
Es war die erste Frage, die nichts mit Veränderungen zu tun hatte, nichts mit den Eindrücken des Nachmittags und des Abends, nichts mit den Bildern, die mich verfolgten, und irgendwie war diese Frage ein beruhigendes Stück Normalität.
»Zur ersten Stunde.«
»Dann solltest du schlafen. Es ist spät.«
Vielleicht hätte ich mich einen Tag zuvor noch über eine solche Anweisung geärgert. Schließlich war ich alt genug, allein zu entscheiden, wie viel Schlaf ich brauchte. Jetzt empfand ich seine Sorge als angenehm.
»Du hast recht«, stimmte ich zu. Chris ging zur Tür, löschte das Licht, wie meine Mutter, als ich noch klein war, und wünschte mir eine gute Nacht: »Schlaf gut, mein Schatz!«
Das klang irgendwie komisch aus dem Munde eines Jungen. Aber schön aus seinem Mund.
Die Flugzeuge, die einstürzenden Türme, die Strategie des Terrors, die Ängste vor einer ungewissen Zukunft, aber auch die Trauer, die Betroffenheit und die Anteilnahme waren zu mächtig, um Platz für andere Gespräche in der Schule zu lassen.
Am zwölften September im Jahre 2001 fand die Schule zwar statt, aber die Klassenarbeiten wurden verschoben, der Unterricht kannte in allen Fächern nur einen Inhalt und die Schüler versammelten sich zu einer andächtigen Schweigeminute. Auch die Klassenkameraden, die keinen Anlass zu Trauer oder Mitgefühl sahen, weil sie die Opfer in den Türmen und in den Flugzeugen aufrechneten gegen die Opfer amerikanisch-imperialistischer Kriegspolitik, blieben auf dem Schulhof.
Wem hätte ich an diesem Tag von meiner Mutter und Chris erzählen sollen?
Ich ließ mich in die Betroffenheit der anderen fallen, litt mit den Menschen im Staub von Ground Zero, mit den Verzweifelten, die vor lauter Todesangst in den Tod sprangen und mit den Angehörigen der Opfer. Ich konnte mit meinen Freunden reden, als hätte sich zwischen uns nichts geändert. Im Grunde hatte es das ja auch nicht.
Lyra kam zwischendurch auf mich zu und fand doch ein Thema außerhalb der zwei Türme im fernen New York.
»Dein Freund war cool«, stellte sie fest, »woher kennt ihr euch?«
›Bist du ein Freund von Mike?‹, schoss es mir durch den Kopf.
›Ja.‹
Hättest du Mike dann nicht wenigstens sagen können, woher du ihn kennst?‹
»Ja, Chris ist in Ordnung.«
Vielleicht gäbe sich Lyra ja damit zufrieden?
Hätte ich die Wahrheit sagen können, wenn Chris nicht am Vortag so spontan gelogen hätte?
»Wir kennen uns schon, seit ich denken kann. Unsere Mütter sind befreundet.« War das nicht irgendwie auch die Wahrheit?
»Finde ich toll, wenn sich Freundschaften so lange über die Schulzeit hinaus erhalten. Das würde ich mir auch wünschen.«
Gestern noch hatte ich mir nichts sehnlicher gewünscht, als fortwährend mit Lyra quatschen zu können. Vielleicht hätte ich auch um Worte gerungen, in der Hoffnung, sie könnte mein zitterndes Herz nicht hören, aber ich hätte mir gewünscht, sie würde nie gehen.
»Ja, das finde ich auch wünschenswert.«
Immerhin war es mir gelungen, das Thema zu wechseln, so konnte ich leichter antworten.
»Obwohl meine Mutter auch noch Freundinnen aus der Zeit hat, nur sind deren Kinder nicht in meinem Alter oder doof.«
Ein Pausengong wäre jetzt cool gewesen, der mich in die Klasse zurückgerufen und einen Lehrer zu uns befohlen hätte, um uns etwas beizubringen oder wenigstens die spekulativen Diskussionen zu ordnen – und alle privaten Gespräche zu unterbinden.
»Für eure Mütter ist das bestimmt auch toll, wenn ihr …«
»Ja. Sie haben sich gemeinsam auf uns gefreut, unsere Mütter.« Das entsprach irgendwie noch ganz entfernt der Wahrheit, oder?
»Da müsst ihr ja fast gemeinsam Geburtstag haben«, grinste Lyra, »wieso feiert ihr nie zusammen?«
»Wir haben zu unterschiedliche Freunde.« Die Antwort konnte ich völlig reinen Gewissens geben, konnte sogar zurückgrinsen und Lyra dabei in die Augen schauen.
Wer waren eigentlich Chris’ Freunde? Hatte er welche? Und wer davon würde ihm erhalten bleiben? »Vielleicht klappt es ja irgendwann mal.« Ich wusste, meinen nächsten Geburtstag würde ich nicht feiern. Jedenfalls nicht mit Chris, der als Gast unter meinen Freunden lungern würde, während ich mir anhören müsste, wie geil es wäre, dass meine Mutter mir für die Feier die Bude geräumt hätte. Seine Anwesenheit hätte mich nicht gestört, genauso wenig wie die Anwesenheit meiner Mutter, aber das ständige Gefühl, mich verplappern zu können, hätte ich nicht ausgehalten.
»Wäre schön«, meinte Lyra, während wir uns nach dem endlich ertönten Zeichen ins Schulgebäude zurückbegaben. »Ich würde ihn gern mal wieder sehen.«
Chris empfing mich mit Hackbraten, als ich aus der Schule kam. Mama hatte nur an den Wochenenden gekocht, wenn sie nicht im Labor gewesen ist.
Mamas Handtaschen fehlten an der
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 18.07.2020
ISBN: 978-3-7487-5042-0
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