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Wahn

 

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Wahn

 

Florian Tietgen

 

 

ut tamen et poscas aliquid uoueasque sacellis exta et candiduli diuina tomacula porci, orandum est ut sit mens sana in corpore sano. (Aber damit du was hast, worum du betest, weshalb du vor dem Schreine die Kutteln und göttlichen Weißwürste opferst, sollst um gesunden Geist in gesundem Körper du beten.)

 

 

1

 

Das Fest beginnt. Trotz des Regens haben sich die Bewohner des Dorfes auf dem Marktplatz versammelt. Der Bürgermeister steht auf einem überdachten Podium vor dem Eingang des Rathauses. In der Mitte des Platzes: ein Käfig, drei Meter lang, drei Meter breit, mit Stroh ausgepolstert. Ich kann ihn nicht sehen, aber weiß, er ist dort. Wie in jedem Jahr, seit die Fastenzeit auf das ganze Jahr ausgedehnt wurde und die drei tollen Tage in den Sommer verschoben worden sind.

Neben mir warten Carsten und Leonie. Barfuß, wie ich, nur ein langes weißes Nachthemd über dem Körper, das vor Nässe fast durchsichtig an uns klebt. Wir sprechen nicht miteinander, schauen auf den Boden, damit der Regen uns nicht ins Gesicht schneidet und wir den Menschen nicht in die Augen sehen müssen. Drei Polizisten halten uns fest, so eng, dass deren Atem im Nacken brennt. Ohne Schirm warten sie, bis der Bürgermeister das Zeichen gibt, uns auf die Empore zu schubsen. Die Handschellen drücken in meine Gelenke. Wir zittern nicht nur vor Kälte.

 

2

 

Für uns Drei hat das diesjährige Fest gestern schon begonnen.

Ich saß in meinem Zimmer, damit beschäftigt, ein Referat über Juvenal zu schreiben. Von unten vernahm ich Stimmen, drei männliche, eine weibliche. Vater, Mutter und zwei Fremde. Mein Name fiel. »Paul ist nicht hier.«

Noch nie hatte ich meine Mutter lügen gehört.

»Davon überzeugen wir uns selbst. Wo ist sein Zimmer?«

»Suchen Sie es doch.« Mein Vater.

Schritte auf der Treppe. Juvenal hatte keine Chance. Die Mahnungstage. Ein Blick in den Spiegel, einer auf die Tabelle mit den Maßen, die wir jeden Morgen ausfüllen mussten, machte unwiderruflich klar: Sie hatten mich auserwählt.

»Er ist siebzehn«, hörte ich meine Mutter weinend, »er ist Klassenbester, schreibt Referate für die Schüler der älteren Jahrgänge. Er ist doch nicht wertlos, weil er ein paar Kilo zu viel hat. Sie können ihn doch nicht …«

Wenn ich zuhörte, konnte ich nicht im Kleiderschrank verschwinden oder durch die Dachluke auf den Boden kriechen. Die Dachluke sähen sie und stiegen die Leiter hinauf. Der Schrank … Viel zu kindisch. Sie fänden mich. Selbst, wenn ich jetzt fliehen konnte, sie fänden mich.

Die Schritte und Stimmen kamen näher. Die Worte wurden harsch: »Das Gesetz ist bekannt. Sie hätten aufpassen müssen, was er isst, darauf achten, dass er Sport treibt. Jetzt ist es zu spät.«

Rasendes Herz, gelähmte Beine. Die Stimmen direkt vor meinem Zimmer: »Er hat Sport getrieben, jeden Tag ist er ins Studio gegangen. Er ist einfach so veranlagt.«

»Na, dann wollen wir doch mal sehen, wo er sich versteckt.« Eine Tür wurde aufgerissen, wieder zugeschlagen. Ich saß auf meinem Stuhl, unfähig, mich zu bewegen, unfähig, den Computer herunter zu fahren, den ich nicht mehr bräuchte. Wohl nie mehr.

»Ich habe Ihnen doch gesagt, er ist nicht hier.« Mein Vater.

»Das können Sie seinen Speckfalten erzählen.«

Bloß nicht husten, auch wenn es in den Bronchien juckte, bloß nicht niesen, so sehr es in der Nase kitzelte, ja nicht atmen. Nicht schwitzen, sonst konnten sie mich riechen. Nicht bewegen, sonst verrieten mich die knarrenden Rollen meines Bürostuhls. Egal, sie fänden mich sowieso.

»Sie machen sich strafbar, wenn Sie ihn nicht herausrücken.«

»Dann machen wir uns eben strafbar.« Meine Mutter.

»Was ist bloß los in diesem Land?« Mein Vater. »Sie tun gerade so, als seien Größe und Gewicht auf dem Reißbrett zu planen, als gäbe es ein Maß, das jeder einhalten könnte und es käme nur auf den Körper an.«

»In einem gesunden Körper wohnt auch ein gesunder Geist.«

Juvenal. Bloß nicht widersprechen, bloß nicht brüllen, mens sana in corpore sano‹ drücke den frommen Wunsch aus, in den ganzen gesunden Körpern möge auch ein gesunder Geist beheimatet sein. Bloß mein Zimmer nicht dadurch preisgeben, es besser zu wissen. Niemand mochte Besserwisser, erst recht keine fetten.

»Aber er ist fast noch ein Kind!« Meine Mutter. »Sie quälen Kinder für ein Gesetz.«

»Gequält werden die Kinder von verantwortungslosen Eltern, die ihnen Tonnen von Süßigkeiten einverleiben. Sich selbst haben Sie doch auch in Form gehalten.«

»Sie entwürdigen Kinder für eine Feier.« Mein Vater.

»Zur Mahnung an all die Eltern und Kinder, die wie Sie nicht hören wollen. Nicht die Feier ist entwürdigend, sondern der körperliche Zustand, in dem die Kinder sich befinden.«

»Er ist ...« Der Rest von der sich überschlagenden Stimme verschluckt, in Tränen ertränkt, von wütender Hilflosigkeit erdrückt.

Nicht husten, niesen, atmen, regen. Am besten die Augen schließen, die Ohren abschotten, nicht da sein, nichts hören, sehen, riechen, fühlen. Jeder Reiz konnte mich verraten. Als ob sie nicht irgendwann auch diese Tür öffneten.

»Er hat doch eine Chance. Wenn er so trainiert ist, wie Sie behaupten, hat er nichts zu befürchten.«

Ich hätte längst weglaufen sollen. Schon vor Tagen. Doch wohin?

»Wissen Sie, wie drastisch die Ausgaben der Sozialgemeinschaft gesunken sind, seit wir dieses Gesetz auf den Weg gebracht haben?«

»Sie plakatieren es ja überall.« Mein Vater.

Bloß die Klappe halten, nicht aufstehen, aus meinem Versteck platzen und brüllen, diese Berechnung ginge von falschen Annahmen aus.

»Wer sagt Ihnen, dass er nicht ein sportlicher schlanker Erwachsener wird?« Meine Mutter.

»Die Statistik. Wer sich mit siebzehn nicht im Griff hat, hat es mit dreißig auch nicht. Deshalb wurde der Lauf ja genau auf dieses Alter festgelegt.«

»Sie Bastard!« Meine Mutter. »Haben Sie keine Kinder? Er hat Freunde, sogar der Sohn des Bürgermeisters zählt dazu. Er ist klug und wir lieben ihn. Zählt das alles nicht?«

»Würden Sie ihn lieben, wäre er nicht so aus der Form geraten.«

Die nächste Tür wurde aufgerissen und wieder zugeschlagen. Das Schlafzimmer der Eltern?

»Das führt doch zu nichts.« Mein Vater. »Er ist nicht hier. Das sehen Sie doch.«

Irreale Hoffnung, sie könnten aufgeben, bevor sie in den letzten Winkel geschaut haben?

»Ihr Sohn wird uns nicht entkommen, verlassen Sie sich drauf. Er wird seinen Festlauf antreten.«

»Warum nehmen Sie keine Erwachsenen?« Meine Mutter.

»Weil mit Siebzehn die Entwicklung feststeht. Bis dahin bleiben die Kinder unbehelligt.« Der erste Mann.

»Das wissen Sie doch. Erwachsene bekommen nur eine sechswöchige Chance, während einer Kur abzunehmen und wenn das nicht gelingt, werden sie gleich erschossen.« Der zweite Mann.

Die Dielen vibrierten. Luft anhalten, kein Geräusch von sich geben. Mama, behalt die Ruhe, stelle dich nicht vor die Tür. Wenn du schreist, wissen sie, es ist mein Zimmer. Nein Mama, nicht laufen. Stell dich ihnen nicht in den Weg.

»Wen haben wir denn da?«

Stille. Lähmung.

»Rauskommen!«

Nicht atmen, nicht rühren, einfach sitzen bleiben.

Ein Mann, der ins Zimmer kam und seine Arme nach mir ausstreckte. Hände, die nach mir griffen, mich am Kragen packten, vom Stuhl zerrten.

»Nein!« Nicht genug Stimme für die Angst.

»Lassen Sie ihn los!« Papa. Mama weinte. Ich schrie. »Ich will nicht!« Meine Arme wurden verdreht. Nicht genug Kraft in den Beinen, wegknicken. Die Hände zerrten am Kragen, der Kragen zerrte am Hals, würgen, röcheln.

»Du hast also trainiert?« Höhnisches Gelächter aus den Uniformen.

»Hilfe! Mama, Papa! Hilfe! Tut doch was! Bitte!« Nicht genug Stimme für die Verzweiflung.

»Klappe halten.« Einer hielt mich unter den Schultern, der andere riss meine Beine hoch. »Gott bist du Fettkloß schwer.«

Schreien, weinen, wie ein Irrer strampeln. »Ich will nicht! Lasst mich in Frieden!« Jammern, flehen. »Ich nehme auch ab. Versprochen.« Nicht genug Stimme, um zu überzeugen.

»Zu spät.«

 

3

 

Sie zerrten mich an Handschellen die Treppe hinunter, schubsten mich auf die Straße, drückten mich in den Polizeiwagen und verschleppten mich in eine Ausnüchterungszelle, in der eine gummierte, abwaschbare Matratze in den Boden eingelassen war. Kein Stuhl, keine Decken. Kein Haken an der Wand. Ich musste meinen Gürtel abgeben.

»Sollst uns ja nicht noch umkommen vor dem Fest.«

Besser nicht auf das fehlende Personalpronomen hinweisen.

Sie lachten, klatschten sich ab, verließen die Zelle. Nicht einmal Dirks Referat hatte ich fertigstellen können. Als käme es darauf noch an. Vielleicht schaffte ich es ja nach dem Lauf, vielleicht könnte ich ihn bestehen? Ich durfte die Hoffnung nicht verlieren.

Es gab kein Fenster, nur Lüftungsschlitze in unerreichbarer Höhe. Kein Fleck an der Wand bot meinem Auge Abwechslung, meinen Gedanken Gelegenheit, sich daran festzuhalten. Sie schwirrten wie Mücken, kamen summend und verschwanden, sobald ich danach klatschte. Ich schloss die Augen, als könnte ich damit dem Raum entkommen, dem unvermeidlichen Lauf um mein Leben, den man mir gönnte oder zumutete.

Ein Foto auf tie-up.de, ein nackter Junge, etwa dreizehn Jahre alt und hundert Kilo schwer. In roter Schrift die Frage: »Wer zahlt für diesen Luxus?«

Darunter Emoticons, Daumen, Wut, Lachen, Kommentare von »Wir« bis »fette Sau«, »man ist, was man isst«, Forderungen von »Eltern anzeigen« bis »notschlachten.«

Immer dienstags die »Stattläufe« der »Gesunden Bewegung«, deren Teilnehmerzahl stetig wuchs.

Plakate: »Übergewicht ist asozial«, »Korpulente Kinder kosten.«

 

Ich musste die Augen wieder öffnen. Zu viele versäumte Gelegenheiten zeigten sich in der Dunkelheit dahinter. Abwechselnd zog ich das rechte und linke Bein an, nur, um mich zu bewegen, statt zu denken. Hielt ich die Beine in die Luft und vermied es, mit den Fersen die Matratze zu berühren, dachte ich am wenigsten. Vielleicht würden wir vor dem Lauf ja noch mal gewogen und das Training zahlte sich aus?

Fernsehdiskussion nach der Tatortfolge »Fettdepot«, in der ein Vater den Sachbearbeiter seiner Krankenkasse erschießt, der dem Sohn die Kostenübernahme der Diabetesbehandlung wegen dessen Adipositas verweigerte. »Wir müssen einen Relationsindex aus Größe, Umfang und Gewicht festlegen, ab dessen Überschreitung die Versicherungen höhere Beiträge verlangen können«, sagte eine Frau, eine andere mahnte, man müsse die Industrie beteiligen, die an der Fettleibigkeit verdiente.

Wie viel Gewicht verlöre ich, liefe ich die Nacht durch von Zellenwand zu Zellenwand?

 

 

4

 

Das Fest beginnt.

Feuerwerk. Der Regen wird heftiger und vom Wind unter das Dach des Podiums getrieben. Der Bürgermeister zieht sich ein Regencape über und hält eine Rede. Zahlen, Fakten, Maße, BMI. Unter dem Wasser tanzen die Menschen auf dem Marktplatz in Lumpen kostümiert. Rundherum Stände, die geöffnet werden, wenn der Lauf vorbei ist.

 

»Meine Damen und Herren, liebe Freunde. Es folgt der Moment, auf den ihr alle gewartet habt.« Vertrauliches volksnahes Du an das Wahlvolk. ›Brot und Spiele - Juvenal.‹ »Drei Teenager, denen wir Mühe und Hoffnung geopfert haben, die wir vergeblich zu Maß und Sport mahnten, stehen bereit zum Wettlauf um den Platz. Ihr habt euch zum Fest in Lumpen gekleidet, um während dieser drei Tage der Völlerei zu zeigen, wie arm und rückschrittlich diese Lebensweise ist. Und drei Fette, die - man sieht es deutlich - ihr ganzes bisheriges Leben lang gegen die Gesundheit gesündigt haben, wollen beweisen, dass sie es wert sind, weiterhin in unserer Mitte zu leben.«

Kein Gefühl, keine Träne, keine Wut. Was ist mit mir los? Ich höre die Pfiffe, die Rufe, die Rede des Bürgermeisters, kann sie wiederholen, begreife sie, doch nehme sie nicht wahr. Ich spüre die Blicke, die mein nasses Nachthemd bis zum Wanst durchbohren, doch bin nur ein Zuschauer in einem Film. Der Bürgermeister, schlank, durchtrainiert und alt wie Rocky Balboa, verneigt sich vor den Pfiffen.

»Das schaffen die nie«, brüllt jemand aus der Menge, »zündet schon mal das Feuer an«, ruft ein Zweiter, »gleich bebt die Erde«, ein Dritter. Vor einer Woche noch habe ich beim Bürgermeister zu Hause gesessen, Georg, seinem Sohn die Hausaufgaben gemacht und hinterher so lange am städtischen Haushaltsplan gerechnet, bis die Neuverschuldung unter der Aufwendung für die jährlichen Zinsen lag. »Was mache ich nur ohne dich?«, hatte der Bürgermeister da

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 23.06.2020
ISBN: 978-3-7487-4702-4

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