Genervt stehe ich vor meinem Badspiegel und versuche meine Haare zu bändigen. Sie reichen mir inzwischen bis knapp zum Po und nach jedem Duschen fluche ich heimlich darüber. Allein das Föhnen ist zeitaufwendig und anstrengend für die Oberarme.
Aber an Tagen wie heute kann ich sie nicht einfach zu einem Pferdeschwanz binden, sondern muss sie kunstvoll zu einem Dutt hochstecken. Ein Ding der Unmöglichkeit.
Früher hat meine Mutter sich immer darum gekümmert, aber als sie vor 11 Monaten gestorben ist stand ich mit 23 Jahren das erste Mal vor dem Problem, dass ich meine Haare selbst bändigen musste.
„Chloé, bist du endlich so weit?“ Mein Vater sitzt in meinem Wohnzimmer und ruft unnachgiebig nach mir.
Noch als ich ein Kind war haben sich meine Eltern scheiden lassen und mein Vater ist von Essen nach Stuttgart gezogen, da er in einer Anwaltskanzlei einen neuen Job angenommen hat. Und in eben dieser Kanzlei habe ich heute ein Vorstellungsgespräch.
Nach dem Tod meiner Mutter habe ich weiter in unserer Wohnung in Essen gelebt und Jura studiert. Doch das Geld hätte nie und nimmer für die Wohnung und meinen Unterhalt gereicht, wenn mein Dad nicht großzügig eingesprungen wäre.
Vor zwei Wochen hat er mich dann nach Stuttgart abkommandiert. Ich solle hier studieren und in dem Haus, in dem er lebt, wäre eine Wohnung frei.
Also habe ich meine Habseligkeiten zusammengerafft und bin hier her gezogen.
Bevor das Semester im April beginnt muss ich jedoch noch ein Praktikum nachholen, das in Baden-Württemberg vorgeschrieben ist.
„Gleich, Papa. Meine Haare sitzen noch nicht.“
Ich weiß selbst nicht, warum ich sie immer noch so lang trage, eigentlich würde ich sie gerne abschneiden, aber jedes Mal, wenn ich beim Friseur auf dem Stuhl sitze, verlässt mich der Mut und ich bringe nur ein: ‚Nur die Spitzen bitte‘ über die Lippen.
Als sie endlich alle sitzen und gefühlte 800 Haarnadeln sie an Ort und Stelle fixieren renne ich ins Schlafzimmer um mich umzuziehen.
Ein schwarzer Rock und eine einfache Bluse müssen es für den Anfang tun. Ich besitze noch kein Büro-Outfit und werde mich in den nächsten Tagen darum kümmern, bevor das Praktikum beginnt.
Beim Zuknöpfen meiner Bluse stehe ich am Fenster und lasse meinen Blick schweifen.
Unser Wohnhaus hat einen großen Garten und an diesen angeschlossen liegt der Garten eines hochmodernen Wohngebäudes. Das Haus hat eine riesen Dachterrasse, einen monströs großen Balkon und das Erdgeschoss hat eine wunderschöne Terrasse, die mit einem kleinen Weg die Terrassentür mit dem Pool verbindet.
In der ersten Wochen in Stuttgart habe ich meine Nachmittage damit verbracht meinen Nachbarn zu beobachten. Natürlich nicht auf die eklige Art, ich saß nur eben viel auf meinem Bett und habe Fernseher geschaut. Gegen das Alleinsein haben Filme schon immer geholfen. Und schreiben. Und so strichen die Tage vorbei, an denen ich geschrieben und Filme geschaut habe und perfekte Sicht in die Wohnung meines Nachbarn hatte. Der verbrachte seine Nachmittage stets gleich. Erst gegen eins/ halb zwei stand er überhaupt erst auf, duschte dann, was ich daran erkennen konnte, dass er nur mit einem Handtuch bekleidet an seiner Küchenzeile einen Kaffee gekocht hat und dann stellte er sich stets an die Terrassentür und trank seinen Kaffee.
Es hat bestimmt Vorteile, wenn eine komplette Hausfront verglast ist, aber einen untrüglichen Nachteil hat es auch: Die Nachbarn erleben eine Daily-Soap vom Feinsten. Da es erst sieben Uhr ist bin ich überrascht, dass in seiner Wohnung Licht brennt. Neugierig beuge ich mich etwas vor und versuche zu erkennen, was sich in der Wohnung abspielt.
Als ich schließlich erkenne, was sich vor meinen Augen tut springe ich mit einem Satz wieder zurück.
Das kann doch nicht wahr sein
Langsam tappse ich wieder ans Fenster und blicke hinunter. Der Mann steht an oder besser halb über seinem Sofa und hat Sex. Aber nicht nur mit einer Frau. Nein, mit dreien. Auf einmal. Der einen rammte er seinen Schwanz mit kräftigen Bewegungen zwischen die Beine, sie liegt vollkommen nackt unter ihm. Die Zweite hängt mit gespreizten Beinen über der liegenden Frau und küsst ihn dabei so wild, dass mir der Anblick schon fast Schmerzen bereitet und die Dritte hängt mit ihrem Mund über den Brüsten der Ersten und der Mann hat seine linke Hand zwischen den Beinen der Dritten.
Für eine paar Sekunden bin ich verwundert und auch ein wenig fasziniert, aber dann regt sich der Ekel in mir. Ich weiß nicht was schlimmer ist: Das animalische Verhalten dieser vier Menschen oder der Umstand, dass ich einen zweiten Blick riskiert habe.
Chloé, das macht man nicht. Das ist unhöflich. Und falsch. Ganz falsch.
Ich eile ins Wohnzimmer um dieser Szene zu entkommen und um meinen Vater nicht länger warten zu lassen.
In seiner Kanzlei angekommen schiebt er mich gleich in das Büro seines Partners hinein.
„Paul, dass ist sie, dass ist Chloé Riegert. Meine Tochter.“
„Ach ja, die neue Praktikantin. Sehr gut, dass Sie da sind. Die Arbeit stapelt sich schon. Meine Sekretärin wird Sie kurz unterweisen und dann heißt es: Zack, Zack an die Arbeit.“
„Ah Ok, um ehrlich zu sein war für heute ein Vorstellungsgespräch angesetzt.“
Anscheinend mag es Herr Bacher nicht, wenn man ihn aufhält, denn er sieht mich abfällig an und sagt: „Frau Riegert, die Tochter meines Partners werde ich, Vorstellungsgespräch hin oder her, nicht ablehnen. Bleibt also nur noch die Frage, ob Sie dieses Praktikum wirklich wollen. Wenn ja: An die Arbeit. Wenn nein: Da ist die Tür.“
Er nimmt seinen Blick von mir und wendet sich wieder ganz seinen Unterlagen zu.
Mein Vater schnappt mich am Unterarm und schiebt mich aus dem Raum.
Auf dem Gang, der nur schlecht von Neon-Röhren beleuchtet ist, flüstert er mir zu: „Der Bacher ist eigentlich ein Netter. Naja, beziehungsweise er ist sehr fair. Du hast heute ja eh nichts Weiteres vor. Bleib doch einfach. Oder?“
Ich seufze und sage: „Natürlich. Eine Wahl habe ich nicht und etwas Sinnvolles zu tun auch nicht.“
„Sehr gut, so kenne ich meine Kleine. Und denk an Paulines Feier heute Abend.“
Geschockt halte ich den Atem an: „Das war kein Witz? Ich muss da echt hin?“
„Natürlich. Sie ist deine Stiefschwester. Du gehst da hin.“
„Ich kenne sie doch gar nicht. Vor Jahren haben wir uns einmal gesehen und das war‘s. Außerdem weiß ich auch nicht, wo dieser Club sein soll.“
„Dann fahre ich dich nach der Arbeit hin. Du sagst kurz Hallo. Und nach einer halben Stunde schnappst du dir ein Taxi und fährst wieder heim. Schließlich musst du morgen ja schon wieder früh zur Arbeit.“
Schelmisch zwinkert mein Dad mir zu und weiß genau, dass ich ihm so nichts abschlagen kann.
„Na schön“ grummle ich. Dann gehe ich eben auf diese blöde Party. Ein Drink und ich bin weg.
Als es endlich 20 Uhr ist habe ich festgestellt, dass ich definitiv nicht die richtigen Schuhe fürs Büro anhabe. Aber wieder: Ich habe auch nicht damit gerechnet noch heute mit der Sklavenarbeit zu beginnen. Mein Dad wartet schon ungeduldig auf mich, als ich aus Herrn Bachers Büro komme und schiebt mich zum Parkplatz.
„Chloé, wir sollten uns beeilen, ich habe ein Date mit Caro und will nicht zu spät kommen - da ist sie immer ein wenig nachtragend.“
Er steht so unter ihrer Fuchtel
Aber ich will Caro auch nicht Unrecht tun; ich habe sie noch nicht wirklich oft getroffen, aber die Treffen verliefen immer angenehm und höflich. Ich gehöre nun mal zu einem Lebensabschnitt meines Vaters, mit dem sie nichts anfangen kann. Mein Dad war gerade 16 Jahre alt, als er meine Mutter geschwängert hat. Das es überhaupt 4 Jahre über meine Geburt hinaus gehalten hat war schon ein Wunder.
„Gut, ich beeile mich mit umziehen.“ Grummle ich vor mich hin.
„Was? Nein. Der Club liegt in diesem Stadtteil. Die Wohnung im anderen. Ich fahre dich direkt hin. Hast ja einen Rock an. Passt doch.“
„Papa. Echt jetzt? Ich will das nicht. Das kann ich doch nicht in einem Club tragen.“
Aber diese Diskussion habe ich jetzt schon verloren. Vor mich hin brummend öffne ich wenigstens meinen Dutt und binde einen Pferdeschwanz.
Vorm satin schmeißt er mich dann auch sofort aus dem Auto und drückt mir 50 Euro in die Hand, fürs Taxi und so…. was denkt er denn, was ich da drinnen mache. Mich zuschütten?
Ja klar. Ich und Alkohol…
Es gibt einen guten Grund, warum ich einen sehr großen Bogen um Alkohol mache, werde dadurch aber immer als Spaßbremse wahrgenommen.
Ratlos stehe ich vor dem Club, es ist neun Uhr und die Schlange ist schon ewig lang. Wenn ich hier anstehen muss dauert es Stunden bis ich drinnen bin, aber dann erinnere ich mich, dass Pauline auf meinem AB gemeint hat, dass wir namentlich gemeldet sind. Also laufe ich an der Schlange vorbei, gleich auf den unglaublich großen Türsteher zu, der mich von Oben bis Unten mustert.
„Ja?“, fragt er schroff und ich zucke zusammen.
Hoffentlich stehe ich auf dieser blöden Liste.
„Mein Name ist Chloé Riegert und mir wurde ausgerichtet, dass ich auf irgendeiner Liste stehe. Vielleicht können Sie mir ja weiterhelfen.“
Anscheinend ist er über mich oder über meine Stimme verwundert. Aber das passiert mir häufig. Ich bin relativ klein, unscheinbar, habe lange, dunkelblonde Haare und eine tiefe Tina Turner Stimme.
Er reißt seinen Blick irgendwann dann doch von mir los, durchblättert seine Liste, ich muss ihm meinen Ausweis zeigen und schließlich lässt er mich tatsächlich durch. Inzwischen ist es halb zehn.
Ich will nach Hause in mein Bett.
Meinen Mantel gebe ich an der Garderobe ab und mache mich dann auf die Suche nach den Mädels. Sie sind nicht zu übersehen. Eine Gruppe von über 30 Hühnern, mit pinken Krönchen auf dem Kopf und alle schon ganz abgefüllt.
Auch nicht schlecht, dann bin ich hier wieder schnell draußen.
Als Pauline mich erblickt brüllt sie laut: „Da ist sie ja. Hei Chloé, hast du dein Party-Outfit rausgekramt?“
„Sicher Pauli, nur für dich und deine Hammer-Party. Danke nochmal für die Einladung!“
Schraub den Sarkasmus runter!
Eine kleine blonde lehnt sich zu Pauline, flüstert ihr etwas ins Ohr, ich würde Geld darauf setzten, dass es dabei um mich geht, und beide beginnen laut und betrunken zu lachen.
Ich bin angewidert.
„Pauli, ich gehe an die Bar. Bis nachher. Ok?“
Sie nickt nur und winkt mit der Hand Richtung Bar. Dann bin ich wohl entlassen. Da ich schon mal hier bin kann ich eigentlich wirklich gleich etwas zu trinken holen und stelle mich an.
Aber an dieser Bar geht es zu wie auf dem Viehmarkt. Alle drücken und drängeln und schreien den Barkeepern ihre Wünsche zu. Es müssen schon beinahe fünf Minuten vergangen sein, da werde ich nicht nur von rechts und links eingeschlossen sondern von hinten an den Bartresen gepresst.
Ganz schlecht
Obwohl der Druck schnell wieder vorüber ist spüre ich die Panikattacke schon anrollen. Ich stütze mich, wie ich es gelernt habe, mit meinen Händen am Tresen ab und schaue auf meine Füße.
Ein, einundzwanzig, Aus, Zweiundzwanzig, Ein dreiundzwanzig, Aus…
Nach und nach erlange ich die Kontrolle über meine Atmung wieder und fühle plötzlich, wie sich eine Hand um mein Kinn schließt und mein Kopf nach oben geschoben wird. Einer der Barkeeper hat über den Tresen gefasst und seine Hand um mein Kinn gelegt.
Hat der meine Panikattacke etwa mitbekommen?
Und dann sehe ich, wer der Barkeeper ist. Der Mann aus der Nachbarwohnung. Das gibt es doch nicht! Sofort schießt mir die Röte ins Gesicht und ich fasse nach seiner Hand um sie wegzuschieben.
Als ich jedoch meine Hand auf seine lege, vibriert meine Haut an den Stellen, die ihn berühren und perplex halte ich inne.
Wie?
Ruckartig zieht er seine Hand unter meiner weg und sieht mich kritisch an.
„Ähm“ räuspert er sich „was kann ich dir bringen?“
Zum ersten Mal sehe ich seine Augen und bin vollkommen von ihnen gefangen.
Wer zum Teufel hat heute noch grüne Augen? Das gibt’s doch nur in Büchern.
„Nur eine Cola bitte.“
Oh nein, meine Stimme zittert total. Hoffentlich hat er es nicht gehört.
„War das eine Frage?“ Er schaut mich belustig an.
War ja klar.
„Nein. Eine Cola bitte.“ Ich benötige meine ganze Selbstdisziplin um meiner Stimme eine ruhige Tonlage zu verpassen.
Er beachtet mich aber schon nicht mehr, sondern arbeitet zügig vor sich hin. Es ist seltsam ihn so nahe zu sehen. Normalerweise kann ich die Konturen seiner Gesichtszüge und seine Lachfalten nicht sehen, die Entfernung zwischen unseren Fenstern ist zu groß, aber hier so dicht vor ihm kann ich sogar sein After-Shave riechen.
Plötzlich läuft er weg.
Ok, und jetzt?
Bevor ich mich lange wundern kann höre ich ihn auch schon hinter mir: „Hier, bitteschön. Geht aufs Haus!“
Ich drehe mich um und er steht tatsächlich hinter mir mit zwei Gläsern Cola. Meinen Blick schicke ich mehrmals an ihm auf und ab.
„Das geht doch nicht, das darfst du sicher nicht.“, werfe ich ein. Er ist hier Barkeeper. Das erklärt auch die Arbeitszeiten und das späte Aufstehen.
„Aber sicher darf ich das, ich bin einer der Eigentümer.“
Ich nicke nur. Das erklärt die Wohnung und die Kleidung. Ich will gerade das Glas annehmen, da fällt mir seine morgendliche Aktion wieder ein. Sehr bildlich. Die Scham rollt über mich hinweg. Ich werde knallrot und lasse meine Hand wieder sinken. Ein übler Verdacht beschleicht mich.
„Warum steht ein Inhaber hinter der Bar?“
Seine Antwort entscheidet darüber ob ich ihn abstoßend oder sympathisch finde.
„Ich wollte aushelfen.“
Falsch Antwort
„Nein, wolltest du nicht. Du hast nur mir ein Getränk ausgeschenkt.“
Das hier ist eine der plumpesten Anmachen aller Zeiten. Und dann knallt er dem Fass den Boden raus, indem er allen Ernstes anfügt:
„Magst du mit hoch in den VIP-Bereich kommen?“
Was fällt diesem Mistkerl eigentlich ein? Ich bin keins seiner Betthäschen.
„Was ist denn los?“, fragt er mich mit verdatterter Miene und ich muss mich zusammenreißen ihm nicht hier vor all den Menschen und mitten in seinem Club eine Standpredigt zu halten.
„Nichts, ich….ich habe nur keinen Durst mehr. Und nein danke, ich will NICHT mit nach oben kommen. Für wen hältst du mich eigentlich?“
Auf dem Absatz mache ich kehrt und haste zum Ausgang. Ich will hier nur noch raus. Ich habe nichts angestellt. Meine Kleidung ist mehr als bieder, alles was ich will ist eine Cola und trotzdem hat der Typ die Nerven mich wie eins seiner Betthäschen zu behandeln. Ich habe ihn nicht um seine Aufmerksamkeit gebeten.
Es ist mir jedoch auch schleierhaft, warum ich so gereizt reagiere. Aber nach all den Tagen ist er sowas wie ein ständiger Begleiter geworden. Ihn jetzt jedoch so nah vor meiner Nase zu haben verschiebt das Bild, das ich von ihm habe und seine dreiste Anmache zerstört jedes romantisch-nette-Image, welches ich mir über ihn zusammengereimt habe. Ich bin einfach nur enttäuscht.
Da spüre ich einen leichten Schlag an der Schulter und noch während ich mich umdrehe sagt er: „Was ist denn bitte gerade passiert? Habe ich dich irgendwie beleidigt?“
Da haben wir’s. Die Frage würde er nicht stellen, wenn er nicht wüsste, dass er mich beleidigt hat.
Aber warum zum Geier ist er mir hinterher gelaufen?
„Lass es bitte“ raune ich ihm entgegen, aber anstatt zu gehen drückt er die Gläser nur der Frau an der Garderobe in die Hände und hebt mich an den Schultern fest. „Was ist denn?“
Der lässt einfach nicht locker. Dabei will ich doch einfach nur weg. Weg von ihm, seinem morgendlichen Sex, seinem Geruch, seinen Händen, seiner beleidigenden Einstellung mir gegenüber…
„Lass es doch einfach, bitte. Spiel mit Mädchen, die spielen können.“
Ich kann es nämlich nicht.
Ich habe keine Ahnung wie Frauen dieses ‚Sex-ohne-Gefühle‘-Ding können. Für mich ist es unvorstellbar.
Meinen Mantel nehme ich dankend entgegen und gehe mit schnellen Schritten auf den Ausgang zu, ich will nur noch raus. An die frische Luft. Weg von ihm. Und als ich den Gang fast hinunter bin dreht sich der Koloss von Türsteher mir entgegen und versperrt den Weg.
Was soll denn das jetzt?
Und da höre ich meinen Nachbarn auch schon hinter mir herlaufen.
Er ist der Besitzer. Wenn er nicht will, dass ich raus komme, dann komme ich auch nicht so einfach hinaus.
Ich drehe mich nicht um, stumm flehe ich den Riesen an, er muss doch sehen wie dreckig es mir geht.
„Warte mal“ ruft es hinter mir - ich fahre doch herum.
„Bitte lass mich in Ruhe, ich will das nicht, ich habe dir doch nichts getan.“ In meiner Brust fühle ich erneut den Druck einer Panikattacke. Mein Nachbar vor mir, der Riese hinter mir. Ich sitze in der Falle. Und das Wasser schießt mir in die Augen.
Oh nein, nicht hier. Nicht vor IHM
Aber vielleicht sind meine tränenden Augen auch mein Ticket nach draußen… Ich drehe mich wieder zu dem Koloss um, lasse ihn meine Tränen sehen und wie bei den meisten Männern funktioniert es wunderbar. Er ist vollkommen überfordert mit mir und meinen weiblichen Emotionen und gibt daher den Weg wieder frei. Wie gejagt renne ich in die Nacht hinaus und springe in das erste Taxi, dass ich sehe. Einfach nur weg von hier.
Es ist halb sechs als mich mein Wecker aus meiner kurzen Nachtruhe reißt. Ich muss noch duschen. Langsam ziehe ich den Rollladen hinauf. Fast erwarte ich ihn wieder mit drei oder mehr Frauen zu sehen, aber als ich erkennen kann, wer sich da auf seinem Küchentresen unter ihm windet knallen bei mir alle Sicherungen durch.
In meiner Short und dem Tank-Top rase ich aus der Wohnung direkt zu ihm. Wie eine Besessenen klingle ich Sturm und selbst als ein „Was soll der Scheiß“ aus der Sprechanlage kommt klingle ich weiter.
Schließlich wird die Tür vor meiner Nase aufgerissen und ER steht vor mir.
Ich hole einmal weit aus und scheuere ihm mit voller Wucht eine. Dann stürme ich an ihm vorbei, direkt in seine Wohnung und ziehe eine vollkommen betrunkene Pauline von seiner Kochfläche.
„Pauline, wir müssen gehen.“
„Ha Chloé, da bist du ja. Der Typ fragt mir schon den ganzen Abend Löcher in den Bauch über dich. Aber ich habe nix gesagt …..Psssssssst…Gar nix. Aber ich habe gesagt, wenn er mir ein Happy End verschafft, würde ich ihm deine Nummer geben. Richtig süß dein Zukünftiger.“ Pauline lallt wirr vor sich hin und ich sammle ihre Klamotten ein.
„Pauli, beweg dich.“
Da spüre ich seine Hände auf meiner Schulter und fahre wie eine Furie herum.
„Duuuu……“brülle ich ihn an. „DU BIST DAS LETZTE! Vögelst mit der Braut. Waren die drei gestern Morgen nicht genug? Musstest du meine Schwester vor ihrer Hochzeit vögeln? Hast du keinen einzigen anständigen Knochen in dir? Oh Gott, wie du mich anekelst. Oder konntest du nur nicht mit meinem Nein leben? Nur weil ich keine Nummer auf deiner endlos-Liste an Gelegenheitsficks werden wollte versaust du Pauli das Leben? Oh Gott, du hast alles kaputt gemacht. Sie ist haltlos betrunken. Sie weiß wahrscheinlich nicht mal, dass sie verlobt ist. Und du nutzt das schamlos aus. Und für was? Keine Andere gefunden?“
Pauli liegt inzwischen schwer auf mir und ich habe Mühe uns aufrecht zu halten.
Mein Nachbar sieht aus, als hätte man ihm gerade gesagt, dass er unheilbar krank wäre und nur noch zwei Wochen zu leben hätte. Ungläubig und panisch.
„Ich wollte doch nur deine Nummer…“, stammelt er vor sich hin.
„Und dafür besorgst du es meiner Schwester?“
„Das war der Deal…“
Es verschlägt mir die Sprache. Was kann man auf so einen Quatsch erwidern?
Ahhh, doch… mir fällt was ein.
„Deine Absicht war also rechtschaffen und gut? Das ist nicht lache. Für was wolltest du denn meine Nummer? Um mich nach einem Date zu bitten? Um mit mir auszugehen? Mich kennenzulernen? Dich in mich zu verlieben um dann ein glückliches Paar zu werden? Erzähl mir doch nichts. Du hast Sex mit meiner Sis um dann möglichst schnell mich flachzulegen. Von wegen gute Absichten.“
Mit diesen Worten laufe ich los und ziehe Pauli hinter mir her.
„Lass mich dir wenigstens helfen sie ins Auto zu bringen…“ Setzt er hinter mir wieder an.
„Brauchste nich, Schatz, Chloé is deine Nachbarin. Deshalb weiß sie auch wen du vögelst. Schlaf gut, du Hengst.“
Dann ist die Katze jetzt eben aus dem Sack.
Er weiß es.
Na und?
Nach nur wenigen Schritten erreiche ich unser Haus und läute bei meinem Vater Sturm. Soll er sich um ihre Ausnüchterung kümmern. Er hat bestimmt noch ein paar Überstunden, die er abbauen kann. Ich bin Praktikantin. Meine Verspätung wäre meine sichere Kündigung.
„Chloé, was ist denn passiert? Seid ihr erst gerade aus dem Club nach Hause gekommen?“ Mit großen Augen öffnet mein Vater seine Wohnungstür und nimmt mir die vollkommen betrunkene Pauline ab. Pauli ist 3 Jahre älter als ich und seine Stieftochter.
Caro, ihre Mutter, erscheint hinter meinem Vater in der Tür, sieht sich ihre Tochter nur kurz an und sagt dann: „War ja quasi wieder mal an der Zeit. Komm Bernd, wir legen sie einfach ins Gästezimmer. Und dann rufen wir Daniel an, damit er sich keine Sorgen machen muss.“
Caros pragmatische Art sorgt für ein wenig Entspannung.
Es ist also typisch für Pauli zu tief ins Glas zu schauen.
Als die beiden Frauen verschwunden sind blickt mein Vater strafend an mir auf und ab: „Wie konntest du es nur so weit kommen lassen, Chloé? Hast du denn nicht auf deine Schwester aufgepasst, wenn du dir schon die Nacht sinnlos um die Ohren schlägst? Gestern hast du noch so ein Theater gemacht, dass du nicht in diesen Club willst, und schon gar nicht in deiner Büro-Kleidung und jetzt das…. Und wer sind überhaupt Sie?“
Erst als mein Vater unseren Nachbarn direkt anspricht sehe ich, dass er noch hinter mir steht; er muss einfach hinter uns hergelaufen sein.
„Das..“ setze ich an, aber wie soll ich ihn vorstellen? Ich werde die Hochzeit bestimmt nicht platzen lassen. Das ist Paulis Sache.
„Thomas Lehmann. Ihr Nachbar und der Besitzer des Clubs. Ich habe Pauline hergebracht, da ich wusste, dass sie Chloés Schwester ist und Chloé hat den Club gestern ja schon gegen 22 Uhr verlassen. Schön Sie kennenzulernen.“
Elegant streckt er meinem Vater die Hand entgegen.
„Ähm, OK, danke vielmals, dass Sie sich um Pauline gekümmert haben. Chloé, ich muss noch duschen. Biete Herr Lehmann einen Kaffee an, ich komme dann zu dir hoch.“
„Ich muss auch noch duschen.“
„Ich beeile mich, aber wir werfen Paulines Retter bestimmt nicht morgens um halb sieben aus dem Haus ohne einen Kaffee.“
Und wieder dieser Blick, dem ich nichts entgegen zu setzten habe.
Also drehe ich mich einfach um und marschiere los. Ob er mir nachläuft oder nicht ist seine Entscheidung aber nur Sekunden später höre ich seine Schritte auch schon hinter mir. Ich laufe die Hälfte der Treppe hoch und da durchzuckt mich ein Verdacht, und wenn ich in den letzten Stunden etwas gelernt habe, dann, dass ein Verdacht, der diesen Mann betrifft, immer berechtigt ist.
Daher bleibe ich ruckartig stehen und wende mich mit zusammengekniffenen Augen um; auch er bleibt schlagartig stehen und sieht mich erst verständnislos an, dann hebt er seine Hände abwehrend nach oben und läuft an mir vorbei: „Kein Ding, ich schaue ja schon nicht mehr. Aber du bist ja freiwillig voraus gelaufen. Jetzt hör auf mit Giftpfeilen nach mir zu schießen.“
Er läuft tatsächlich anständig bis ins 2. Stockwerk vor mir hoch und ist schon die Hälfte bis zum dritten gelaufen, da habe ich fix meine Tür in der zweiten Etage geöffnet und bin in meiner Wohnung verschwunden. Ich stehe schon längst in der Küche, da höre ich ihn von draußen: „Sehr witzig, Chloé.“, brummen und seine Schritte, wie er die Stufen wieder hinunterläuft.
„Das war die Strafe fürs Schauen.“, blaffe ich ihn an, als er neben mir in der Küche steht.
„Wegen mir, die Stufen war der Anblick allemal wert. Aber mal unter uns: ICH habe dich nicht gezwungen diese kurzen Hosen anzuziehen, die nicht mal deinen Po bedecken.“
„Boah, du bist echt schrecklich.“
„Und ich dachte, dass du mir jeden Morgen zugesehen hast. Dann müsste das doch nichts Neues für dich sein.“
„JEDEN Morgen?“ Die Verblüffung in meiner Stimme ist riesig und ich kann gerade noch verhindern, dass mein Mund offen stehen bleibt.
Er hat JEDE Nacht eine Neue?
Er selbst scheint auch gerade realisiert zu haben, dass ich nichts davon wusste und wenn mich nicht alles täuscht wird er rot.
Ein Mann der errötet. Gibt’s das in echt?
„Ist ja nicht so wichtig. Die Frage ist dann doch wohl eher: Wenn du mir nicht morgens in die Wohnung gespannt hast, wann denn dann?“
„Hör bitte auf so mit mir zu reden.“
Definitiv hat er mit vielen Antworten gerechnet, aber nicht mir dieser.
Perplex hält er inne und stellt die Tasse, die er unter die Kaffee-Pad-Maschine stellen wollte, vor uns auf die freistehende Küchenzeile zurück.
„Wie denn?“
„Als wäre ich eins von den Mädchen, die man zwar bewundern oder verachten kann, aber die auf jeden Fall so sind, wie ich niemals sein werde.“
„Tut mir leid, Chloé, ich versteh es immer noch nicht ganz.“
„Ich habe nicht in deine Wohnung GESPANNT. Ich habe auf meinem Bett gearbeitet, wie immer. Und du trinkst deinen Kaffee am Fenster. Das habe ich gesehen. Mehr nicht.“
„Oh.“
Er wendet sich schnell wieder seiner Tasse zu und schafft es tatsächlich sie unter die Kaffeemaschine zu stellen.
„Irgendwie schade…“ murmelt er leise vor sich hin.
„Wie bitte?“, zische ich in seine Richtung.
„Naja, hatte schon gehofft, dass du genug Interesse an mir hast, dass du auch gesehen hast, dass ich nach dem Kaffee immer Zeitung lese und dann ewig brauche die richtige Krawatte zum Hemd auszusuchen. Schwarz-Weiß tragen unsere Angestellten, daher tragen Philip und ich immer farbige Hemden, aber ich bin farbenblind und daher ist das Krawattenaussuchen so eine Sache…“
Seine Tasse ist fertig und er dreht sich wieder zu mir um. Ich erwarte Spott, Belustigung, ach einfach irgendwas in seinem Blick zu sehen, aber nein. Er schaut aus der Wäsche als hätte er gerade die Nachrichten vom Teleprompter abgelesen.
„Aber eins Chloé - kein Ding, ich muss nicht so mit dir sprechen. Aber eben in meiner Küche hast du Vokabular rausgelassen, das meines bei Weitem in den Schatten stellt. Einigen wir uns darauf: Du benutzt das Vokabular nur manchmal am Tag und ich bin auch nicht den ganzen Tag ein Arsch, der Frauen nur ins Bett bekommen will. Ok? So was wie, naja, beidseitige Gerechtigkeit, oder sowas.“ Er beginnt an seiner Tasse zu nippen und sieht mich über den Tassenrand an.
‘Run boy run! This world is not made for you
Run boy run! They’re trying to catch you’
Mein Klingelton unterbricht die Stille zwischen uns, und ich bin mehr als froh darüber, denn irgendetwas hätte ich ja auf seine Äußerung erwidern müssen.
„Riegert“ nehme ich ab, da ich die Nummer nicht kenne.
„Bacher. Kommen Sie direkt ans Gericht. Und heute Abend findet ein Geschäftsessen statt. Stellen Sie sicher, dass sie da Zeit haben.“
„Danke Herr Bacher. Um wieviel Uhr am Gericht?“
„Um Neun.”
Und damit legt er einfach auf.
Das Handy lege ich zurück auf die Küchenzeile und sofort klingelt es auf ein Neues. Es ist Steffen.
Ich drücke ihn weg, aber sofort geht das Klingeln auf ein Neues los, also stelle ich es nur auf lautlos und lasse es liegen.
Nach dem fünften Anruf bin ich meinem Nachbarn dann wohl doch eine Erklärung schuldig.
„Ex, lässt nicht locker. Jeden Morgen das Selbe. Treibt mich in den Wahnsinn.“
„Willst du ihn denn loswerden?“
„Ich bin quer durch Deutschland umgezogen….“
Damit will ich eigentlich zum Ausdruck bringen, dass er wirklich hartnäckig ist, aber an Thomas‘ zusammengekniffenen Augen kann ich erkennen, was er sich zusammengereimt hat.
„Nein, ich bin nicht wegen ihm umgezogen. Ich meine doch nur: So weit weg und er nervt immer noch. Das ist alles.“
Thomas nippt wieder an seinem Kaffee und als Steffen noch einmal anruft greift er einfach nach dem Handy und nimmt in der Lautsprecherfunktion ab.
„Ja“, seine Stimme klingt rau.
„Wer ist da dran?“, kommt Steffens ungläubige Erwiderung.
„Thomas. Chloés Freund. Wer ist da dran?“
„Steffen. Ich müsste mit Chloé sprechen.“
„Ja warte kurz, die steht noch unter der Dusche. Ich bin nur schnell raus gesprungen. Kennst ja ihre langen Haare, sie
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 28.08.2016
ISBN: 978-3-7396-7098-0
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Meiner Schwester,
da Chloé irgendwie ihr gehört.