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Prolog [Amaran]

 

Amaran, das Reich der Schneekristall

 

Die Luft roch nach verbrannten Kräutern und erfüllte die hölzerne Hütte der weißen Magierin. Die kleine, alte Frau sah Nyria eindringlich an und fragte sie ein letztes Mal:"Bist du bereit, den Preis zu zahlen?" Ihre silbernen Augen funkelten gefährlich. Der junge Schneekristall Nyria schluckte schwer und nickte dann ängstlich. Ihre Stimme zu opfern erschien ihr in diesem Moment das geringere Übel im Vergleich zu ewiger Gefangenschaft im Kristallschloss des Königs.

 

Ein zufriedenes Grinsen schlich sich auf das faltige Gesicht, bevor sie ihre zierliche Hand auf Nyria's vor Aufregung bebende Brust über das türkisfarbene Amulett legte. Sie spürte, wie die magischen Kräfte des Wurzelmoos' im Amulett durch ihre Adern floss. Ihr Herz pochte wild unter dem Druck und beschleunigte sich, als die weiße Magierin erneut sprach. Ein hauchdünner Schweißfilm legte sich auf ihre Stirn und ihre Wangen brannten.

 

"Wächter der Natur, ihr reinen Seelen,
Bitte erhört mein dringendes Flehen.
Im eisigen Schnee ein brennendes Herz,
Des Schutzes Euers ist sie wert.
Mit magischen Schutz, Wurzelmoos,
Zieht der Schnee in die Menschenwelt los.
Die Stimme, die ehrlich Gabe,
Die Macht im Herzen sie trage."

 

Der Rauch der verbrannten Kräuter verdichtete sich und Nyria's Sicht verschwamm. Ihr Fluchtinstinkt drängte ihre gelähmten Muskeln, sich zu bewegen, doch die Magie, die sie durchflutete war stärker. Sie hörte ihr Blut in den Ohren rauschen und ihr Herz schlug so stark gegen ihre Brust, dass ihr das Atmen schwerfiel.

 

"Am Tag der Eiskristallnacht wird der Zauber gebrochen." Eine letzte Warnung der weißen Magierin, bevor Nyria's Sicht schwarz wurde und sie auf den harten Holzboden fiel. Mit letzter Kraft öffnete sie noch ein letztes Mal ihre Augen einen Spalt breit, bevor sie das Bewusstsein verlor.

Kapitel 1 [Menschenwelt]

 

"Aller Anfang ist schwer."

 

Kleine, runde Schneeflocken fielen sanft vom Himmel und bedeckten den gefrorenen Boden mit einer dicken, weißen Decke. Unter dem Gewicht des Schnees knackten die Äste der Bäume, sodass das Geräusch viel zu laut durch den stillen Wald hallte. Das Licht des Vollmondes tauchte den schneebedeckten Boden in ein hellblaues Meer aus glitzernden Lichtpartikeln. Es wehte kein Wind, kein Tier regte sich, die Nacht war absolut still.

 

Nyria lag bewusstlos im Schnee und wurde von den herabfallenden Flocken fast vollständig bedeckt. Ihre blasse Haut schimmerte leicht auf, doch ihre langen, weißen Haare verschmolzen mit ihrer Umgebung. Obwohl es eisig kalt war, hatten ihre Lippen eine zarte rosa Farbe. Die Kälte war der junge Schneekristall gewohnt, denn in Amaran, dem magischen Reich der Schneekristalle, herrschte unendlicher Winter.

 

 

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Als ich langsam wieder zu Bewusstsein kam, war mir noch schummrig von dem Zauber, den die weiße Magierin in ihrer nach verbrannten Kräutern riechenden Hütte gerade ausgesprochen hatte. Ich versuchte die Augen zu öffnen, doch meine Lider waren so schwer, dass sie mir immer wieder zufielen und ich nur benommen blinzeln konnte.

 

Erst nach einer Weile wurde meine vorher verschwommene Sicht klar und es dauerte einen Moment, bis ich die Zweige des Baumes, die ich gedankenverloren anstarrte, wirklich wahrnahm.

 

Verwirrt setzte ich mich auf und musste dabei einen Anfall von Übelkeit unterdrücken, der durch den Geruch des Wurzelmoos' ausgelöst wurde, der immer noch an meinen Geruchsnerven hing. Nach einigen tiefen Atemzügen verschwand das Gefühl in meiner Magengegend wieder und ich nutzte den Moment, um mich umzusehen.

 

Das hier war definitiv nicht mehr Amaran, denn die Farbe der Baumstämme gab es bei mir zu Hause nicht. Meine Augen waren ausschließlich an fliederfarbenes Holz und blaue Baumkronen gewöhnt und auch sonst waren in Amaran nur noch grüne oder türkise Dinge zu finden.

 

Erfreulicherweise war ich auch hier umgeben von Schnee und fühlte mich daher nicht ganz so fremd, wie ich es tatsächlich in der Menschenwelt war. Denn soweit es mir bekannt war, wussten die Menschen nichts von der Existenz von Magie oder den Schneekristallen.

 

Doch die Stille war erdrückend, die Dämmerung beängstigend. Die weißen Schneeflocken schwebten lautlos zu Boden und vermischten sich mit der bereits einige Zentimeter hohen Decke aus kleinen Eiskristallen. Die Sonne schaffte es noch nicht, sich gegen die Wolken durchzusetzen und so wurde die Umgebung nur ganz schwach erhellt.

 

Plötzlich brach ein Ast in meiner Nähe und ich zuckte erschrocken zusammen, presste mich an den Baumstamm hinter mir. Mein Puls beschleunigte sich und ich hielt den Atem an aus Angst, er könnte mich verraten. Hitze breitete sich in meinem Körper aus und floss durch meine Adern.

 

Wussten die weißen Diener des Königs bereits von dem Zauber und wo er mich hingebracht hatte? Waren sie hier um mich zu holen?

 

Hektisch blickte ich hin und her und meine Muskeln erstarrten, als das Geräusch erneut erklang und durch den Wald hallte, um die Stille zu zerschlagen. Jetzt schlug mein Herz so schnell und stark gegen meine Rippen, dass es beinahe schmerzte und das Rauschen meines Blutes in den Ohren lauter war, als die Geräusche der Umgebung.

Eine gefühlte Ewigkeit saß ich nur da und atmete so wenig wie möglich, doch irgendwann brannten meine Lungen von dem Sauerstoffmangel. Beinahe keuchend machte ich einen tiefen Atemzug und konzentrierte mich darauf, meine Lungen wieder mit Leben zu füllen.

 

Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Ausatmen.

 

Stille hatte sich wieder über den Wald gelegt und mittlerweile wurde die Sonne nicht mehr von den dichten dunklen Wolken verschluckt. Ihr goldenes Licht ergoss sich über die Schneedecke und brachte die Eiskristalle zum Funkeln, sodass ich kurz geblendet war.

 

Auf einmal war jemand neben mir und ich hätte laut aufgeschrien, wenn ich noch eine Stimme gehabt hätte. Wieder raste mein Herz und ich wollte wegrennen, mich in Sicherheit bringen, doch meine zitternden Beine wollten mir nicht gehorchen. Aus Reflex hob ich meine Arme schützend vor meinen Kopf und kniff die Augen fest zusammen. Ich konnte nicht fliehen, daher verharrte ich in dieser Situation und warte darauf, dass man mich packte und auf die Beine zog.

 

Nichts dergleichen geschah. Stattdessen erklang eine dunkle, raue Stimme: „Keine Angst, ich tu dir nichts." Sie klang ruhig und gefasst und verstummte dann wieder. Der Schnee knirschte, als sich der Mann bewegte und zwang mich innerlich dazu, hinzusehen.

 

Graublaue Augen strahlten mir freundlich entgegen und ein zartes Lächeln breitete sich auf seine vollen Lippen aus. Sein kantiger Kiefer, seine schulterlangen, dunkelbraunen Haare und das breite Kreuz wirkten bedrohlich und passten nicht zu seinem Gesichtsausdruck. Ich schlag die Arme um mich, als könnte ich mich so vor dem eingeschüchterten Gefühl schützen.

 

Als mein Blick von seinem Gesicht zu seiner Schulter wanderte, öffnete ich den Mund erneut zu einem lautlosen Schrei - ein schmales, längliches Tier hing leblos an ihm herab. Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich ihn an und wünschte mir, ich hätte nicht meine Stimme für den Zauber geopfert, doch ich hatte keine andere Wahl gehabt.

 

Ein Zauber forderte immer ein Opfer und da mein Schutzzauber sehr mächtig war, forderte es auch einen hohen Preis.

 

„Keine Sorge, der Fuchs ist tot", versuchte er mich zu beruhigen und ahnte dabei nicht, dass genau diese Tatsache mir Unbehagen bereitete. Die Tiere sollten nicht getötet werden, sie hatten genau so viel Recht zu leben, wie wir es hatten. Traurig betrachtete ich das kleine, rötliche Tier. „Du magst wohl Füchse. Tut mir Leid, dass er gestorben ist. Ich lebe von der Jagd", gestand er schuldbewusst und ich beobachtete, wie seine Gesichtszüge sanfter und mitfühlender wurden.

 

„Und wie kommst du so tief in den Wald? Hast du dich verlaufen?" fragte er und ich bemerkte seinen prüfenden Blick, der über mein bis zu den Knien reichendes, lindgrünes Kleid glitt. Dann zog er seinen dunkelgrünen Mantel aus, auf dem sich die kleinen Schneeflocken sammelten und reichte ihn mir mit den Worten: „Du bist sicher fast erfroren!" Obwohl mir nicht kalt war, nahm ich das schwere Kleidungsstück an und warf es mir über die Schultern.

 

Dann wartete ich darauf, dass er mir wieder ins Gesicht sah, um ihm mit Handbewegungen zu erklären, dass ich nicht sprechen konnte, aber er betrachtete nach wie vor kopfschüttelnd mein Kleid. Zögernd streckte ich den Arm aus, um in an der Schulter anzutippen und tatsächlich ergatterte ich somit seine Aufmerksamkeit. Ich öffnete den Mund, zeigte darauf und schüttelte dann frustriert den Kopf.

 

Erst runzelte er die Stirn, als überlegte er angestrengt, was ich wohl meinte, dann hoch er die Augenbrauen und sah mich ungläubig an. „Du kannst nicht sprechen?" vergewisserte er sich, dass seine Vermutung richtig war und ich schüttelte bestätigend den Kopf.

 

Mein Blick sank zum Boden, einige Strähnen meiner langen, weißen Haare fielen mir dabei ins Gesicht und kitzelten auf meiner Haut.

 

Wie sollte ich die nächsten drei Monate in der Menschenwelt überleben, wenn ich nicht sprechen konnte?

Darüber hatte ich mir keine Gedanken gemacht, als ich die weiße Magierin gebeten hatte, mir zu helfen. Stattdessen hatte ich nur nach einer Lösung gesucht, wie ich den weißen Dienern von König Lucz entkommen konnte.

 

Ich schüttelte den Kopf über meine Gedankenlosigkeit in dieser Situation und war wirklich verzweifelt, weil mal wieder nicht wie die restlichen Schneekristalle gehandelt hatte. Jeder andere Schneekristall hätte sich dem Problem gestellt, ich war wie ein kleines Mädchen weggelaufen.

 

„Hey, das kriegen wir schon hin. Du kommst erstmal mit zu mir nach Hause und kostest meine leckere Suppe", munterte er mich auf und unterbrach damit meine Selbstvorwürfe. Sein breites Lächeln spiegelte sich in seinen Augen wider und an den Augenwinkeln formten sich kleine Fältchen. „Ich bin übrigens Cemil", stellte er sich vor und half mir dabei auf die Beine, bevor wir losstapften.

 

Der Schnee unter unseren Füßen knirschte, während Cemil zielstrebig voranging, als wüsste er genau, in welcher Richtung sein Ziel lag. Ich schmunzelte darüber, denn er erinnerte mich an mich selber. In Amaran lebte ich in den Cyltras Wäldern und kannte mich nirgendwo besser aus als zwischen den Bäumen und Sträuchern des riesigen Waldes.

 

„Ich habe noch nie jemanden mit so weißen Haaren gesehen." Er machte eine kleine Pause und fragte dann misstrauisch: „Du bist aber nicht krank? Oder eine Hexe?" Es dauerte einen Moment bis ich begriffen hatte, was er gerade gefragt hatte, dann bedachte ich ihn mit einem vorwurfsvollen Blick.

 

Eine Hexe bin ich ganz sicher nicht – sagte ich mir in Gedanken und schüttelte dann wild den Kopf. Wie er auf so eine Frage kam, war mir unbegreiflich, denn weiße Haare zu haben war für einen Schneekristall völlig normal.

 

Dann liefen wir weiter schweigend neben einander her.

 

 

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Der sanft fallende Schnee hatte sich mittlerweile zu einem wilden Sturm entwickelt, der den Schnee um uns herum aufwirbelte und ihn einen kunstvollen Tanz vollführen ließ. Der Wind peitschte mir den Umhang um die Beine und ich musste meinen Kopf beugen, um ihn vor den kleinen Eiskristallen zu schützen, die sich wie spitze Nadeln auf meiner Haut anfühlten.

 

Einige Meter neben uns brach ein dicker Ast von einem Baum ab und landete mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden. Ich zuckte erschrocken zusammen und wollte los rennen, aber Cemil legte einen Arm um mich und drückte mich an sich.

 

Unbarmherzig tobte der Schneesturm um uns herum, während der Wald immer dichter wurde und die Dunkelheit sich im Wald ausbreitete. Schon bald konnte ich nur noch wenige Meter weit sehen. „Wir sind fast da", ermutigte Cemil mich und zog mich zielstrebig mit sich. Als ich blinzelnd aufsah, konnte ich die schwachen Umrisse einer Hütte ausmachen und beschleunigte unbewusst meine Schritte.

 

Cemil öffnete eilig die abgeschlossene Tür und musste sich dann anstrengend, sie gegen den Wind wieder schließen zu können. Es wurde sofort leiser, als die Tür ins Schloss einrastete und er lief schnell zum Kamin gegenüber, um einige Holzscheite auf die noch schwach leuchtende Glut zu legen.

 

„Setz dich ruhig", bot er mir an, während er seinen Bogen und den Köcher mit Pfeilen an der Wand aufhängte. Ich ließ mich derweil erschöpft vom langen Weg auf den mit Fellen bedeckten Baumstamm sinken.

 

Ich beobachtete, wie Cemil einen Topf links aus dem Regel holte und ihn an einer Metallkette über dem Feuer befestigte. Dann verschwand er kurz in einem Nebenzimmer und reichte mir dann einen Stapel Kleidung. „Das dürfte eher den Wetterbedingungen entsprechen als dein Kleid", scherzte er und schmunzelte dabei, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder dem Kessel widmete.

 

Um mich umzuziehen verschwand ich in dem Zimmer, aus dem Cemil gerade gekommen war und schloss hinter mir die Tür.

 

Hat er denn alles mit Fellen bedeckt? – fragte ich mich, als ich auch hier wieder Tierfelle auf dem Bett vorfand. Schnell erregte allerdings ein ganz anderes Objekt meine Aufmerksamkeit und ich betrachtete den kleinen weißen Stab mit der Flamme an der Spitze neugierig. Vermutlich war das so etwas, wie eine Lampe, aber bei mir zu Hause erzeugten Blattglüher in einer ausgehallten Bergkristallkugel das nötige Licht.

 

Nachdem ich mich schnell umgezogen hatte, schlüpfte ich durch die Tür zurück in den Wohnbereich der Hütte und ließ mich wieder auf dem zerteilten Baumstamm nieder. Ein Schauer ließ über meinen Rücken, weil der Wind außerhalb der verwitterten Steinhütte aufheulte, als wollte durch die knackende Holztür dringen.

 

„Den Umhang solltest du behalten. Die Menschen im Dorf fürchten sich vor Andersartigkeit", riet Cemil mir und ich nickte geistesabwesend, bevor sich meine Gedanken im Feuer verloren.

 

Mein Herz raste und mein Körper erstarrte, als die Erinnerungen mich überschwemmten und mich mit gefährlichen Fäden zurück in die Vergangenheit zerrten.

 

Kapitel 2 [Amaran]

 

„Anders sein ist nicht immer schlecht, auch, wenn man das fälschlicherweise oft glaubt."

 

Auch zu Hause in Amaran gingen mir die Schneekristalle schon seit ich ein kleines Mädchen war aus dem Weg oder bedachten mich mit abwertenden Blicken. Als ich noch jünger war, hatte ich nicht so bewusst wahrgenommen, aber je älter ich wurde, desto mehr wurde ich auch zum Außenseiter.

 

In ruhigen Momenten hatte ich oft meine Haare genauestens untersucht, aber hatte immer wieder beruhigt festgestellt, dass sie genau so lang und glänzend weiß waren wie die der anderen Schneekristalle. Daher wusste ich, dass mein Äußeres nicht der Grund gewesen war, dass man mich nicht akzeptierte. Also musste es daran liegen, dass meine Eltern mich allein gelassen hatten und ich bei einer alten Frau aufgewachsen war, die starb als ich 16 Jahre alt war.

 

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Es war einer dieser ganz normalen Tage, an dem ich erfuhr, dass ich mit meinen Vermutungen völlig falsch gelegen hatte.

 

Am frühen Morgen hatte ich mich bereits auf den Weg gemacht, um Heilpflanzen und Kräuter in den großen Cyltras Wäldern zu sammeln und war erst am Mittag dafür aber mit einer großen Ausbeute wieder zurück in meiner Hütte. Ich lebte zwar in den Cyltras Wäldern, aber so nah an der Grenze zu Mjarda gab es kaum Pflanzen, die ich zum Handeln gebrauchen konnte, daher hatte ich immer einen stundenlangen Weg vor mir.

 

Die ganzen Tage über hatte ich Pflanzen gesammelt und so sah meine Hütte am Ende der Woche beinahe selber aus wie ein kleiner Garten, in dem sich die unterschiedlichsten Gewächse breit machten.

 

Von der Decke hingen kleine Bergkristallkugeln an silbernen Ketten, in denen Blattglüher die Hütte in ein grünliches Licht tauchte und ich genoss einen Moment die magische Atmosphäre, die dadurch erzeugt wurde. Die blauen Blätter und Ranken schimmerten durch das dämmrige Licht türkis und es widerstrebte mir beinahe diesen Anblick zu zerstören.

 

Leider hatte ich keine Wahl, denn ich lebte von dem Handeln mit den Pflanzen und so begann ich die wertvollen Handelsgüter ordentlich in einen fliederfarbenen Holzkarren zu legen, bis dieser bis zum oberen Rand gefüllt war.

 

Auch die Tränke in den schmalen Kristallphiolen nahm ich vom Tisch, der an einer Seite unter einem Fenster stand und befestigte sie an meinem Gürtel. Diese würden mir mehr einbringen, als die Pflanzen, da nur wenige Schneekristalle das Brauen der verschiedensten Tränke überhaupt besaßen.

 

Mit einem Blick auf meinen Karren und die gefüllten Phiolen lächelte ich erfreut, denn ich könnte mir vielleicht sogar noch ein neues Kleid von den Edelsteinen kaufen, die ich für meine Ausbeute bekam. Ich schnappte mir noch meinen Stab, an dem am oberen Ende eine Bergkristallkugel mit Blattglühern befestigt war und der mir am Abend den Weg erleuchten würde, bevor ich los marschierte.

 

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Das Dorf Badlan war einen halbes Tagesmarsch von meiner Hütte entfernt und die einzige Gegend in den Cyltras Wäldern, wo überhaupt mehr als ein Schneekristall lebte, daher war es auch das einzige Dorf, in dem ich meine Pflanzen verkaufen konnte.

 

Als ich dort ankam, herrschte bereits reges Treiben und alle Schneekristalle wollten ihre Ware verkaufen. Der Lärm der durcheinander redenden Leute machte es unmöglich einzelne Gespräche oder Stimme auszumachen.

 

Doch kurz nachdem ich mich etwas abseits hingestellt und meine Pflanzen anbot, sah ich die alte Dame, die sofort auf mich zukam, als sie mich entdeckt hatte. Sie war eine der wenigen Schneekristalle, die mich akzeptierten und immer bei mir kauften. Ein freundliches Lächeln breitete sich auf ihren Lippen aus, als sie mich begrüßte und ich war endlos glücklich, dass sie meine Waren kauften. „Die ganze Woche warte ich schon auf dich. Ich habe meine letzte Phiole Kelchblütennektar bereits vor Tagen aufgebraucht und brauche dringend Nachschub für meine Suppen", erklärte sie aufgeregt und suchte bereits nervös nach dem Nektar an meinem Gürtel.

 

„Dieses Mal habe ich sogar genügend Kelchblüten gefunden, um Ihnen gleich zwei Phiolen füllen zu können", beruhigte ich sie und löste die beiden Kristallgläser von meinem Gürtel, um sie ihr zu reichen.

 

Sichtlich dankbar nahm sie sie entgegen und verstaute sie in ihrem flachen Umhängebeutel, bevor sie aus einem kleineren Beutel ihre Edelsteine kramte. Dann drückte sie mir fünf hellblau funkelnde Tryzare in die Hand und ich starrte sie ungläubig an. Meine Hand schwebte immer noch dort in der Luft, wo ich die Edelsteine bekommen hatte. „Das ist viel zu viel", sagte ich aufgeregt und fast ein Vermögen fügte ich in Gedanken hinzu, doch die alte Dame drückte meine Hand zu einer Faust zusammen, die die Tryzare einschloss und tätschelte sie bestätigend. „Meine Suppenhütte hat viele Besucher und ich habe genug Edelsteine. Du brauchst sie dringender mein Kind." Ihre Stimme klang mitfühlend und herzlich und sie lächelte mir noch einmal augenzwinkernd zu, bevor sie wieder ging.

 

Sie erinnerte mich sehr an die alte Dame, bei der ich aufgewachsen war und von der ich alles über die Pflanzen der Wälder und das Brauen von Tränken gelernt hatte. Trauer über ihren Tod überkam mich und ich sah betroffen zu Boden, denn auch sie hatte mich von Anfang an akzeptiert, obwohl sie mich im Wald gefunden hatte und ich nicht mit ihr verwandt war. Nun war ich alleine und hatte niemanden mehr. Ich musste die Tränen in meinen Augen wegblinzeln, damit sich nicht ihren Weg über meine Wangen bahnten.

 

„Was willst du für das Zackenkraut?" fragte mich plötzlich eine schnippige, eingebildete Männerstimme und riss mich damit aus meinen Gedanken, sodass die Tränen schnell in ihrem Ursprung versiegt waren. An seiner gepflegten Kleidung erkannte ich bereits, dass er einer der wohlhabenderen Schneekristalle war, die sich einen dunkeltürkise Leinenhose und einen ledernen, dunkelblauen Wams leisten konnten.

 

„Bist du taub?" hakte er gereizt nach und trommelte abwartend mit dem Fuß auf den Boden. Je wohlhabender die Schneekristalle, desto unfreundlicher waren sie mir gegenüber, daran hatte ich mich bereits gewöhnt. Ich schüttelte eingeschüchtert den Kopf und bekam zunächst kein einziges Wort raus. Erst nach einem Räuspern und mehreren Ansätze antwortete ich dann unsicher: „3 Omarten."

 

„Was? Nein, nein, nein, das ist viel zu viel", gab er völlig entrüstete zurück und sorgte mit seiner lauter gewordenen Stimme für die Aufmerksamkeit der vorbei laufenden Schneekristalle. „Ich gebe dir einen Omarten. Das ist mehr als genug", bot er schließlich an und hielt mir den violetten Edelstein hin, als wäre der Handel bereits beschlossene Sache.

 

Eigentlich waren 3 Omarten ein angemessener Preis, aber ich konnte es mir nicht erlauben, meine Pflanzen nicht zu verkaufen, daher übergab ich sie den Schneekristallen oft für viel weniger Edelsteine, als sie wert waren.

Auch dieses Mal reichte ich dem Mann das Zackenkraut und verstaute den einzelnen mit blaugrauen Gestein durchzogenen Edelstein in meinem Edelsteinbeutel. Obwohl der Schneekristall den einen Omarten nicht einmal bemerkt hätte, wenn er fehlt, hatte er mir auch noch einen unreinen Edelstein überreicht.

 

Eine Weile lang kam niemand mehr auf meinen Karren zu, um mir Pflanzen abzukaufen, daher seufzte ich frustriert und ließ meinen Blick über die anderen Stände schweifen. An einem Stand hing ein Pergament mit einer Prophezeiung, die seit einigen Wochen überall im Reich verteilt war.

 

Ein König mit großer Macht wird über Amaran herrschen und das Land verändern.

Ein junger, besonderer Schneekristall wird kommen,

der mit keinem zu vergleichen ist.

Ein Liebesbekenntnis in der Kristallsplitternacht wird den König noch stärker machen.

Und aus einer Liebe wird eine Magie geboren,

um Amaran zu dienen.

BELOHNUNG FÜR DENJENIGER, DER DIESEN SCHNEEKRISTALL DEM KÖNIG AUSLIEFERT: 100 Eiskristalle!

 

Obwohl ich diese Prophezeiung bereits auswendig konnte, las ich sie mir erneut durch und schüttelte abermals skeptisch den Kopf. Alle im Reich glaubten an Prophezeiungen, alle außer mir, denn ich hatte noch nie von einer gehört, die in Erfüllung gegangen war. Die Belohnung war außerdem so hoch, dass derjenige nie mehr arbeiten musste, sodass sich viele weibliche Schneekristalle für diesen besonderen Schneekristall hielten.

 

Ich verstand auch den König nicht, denn am Anfang war er ein guter König gewesen, der von den meisten geliebt wurde. Doch als er sich das Kristallschloss im Norden Mjardas bauen ließ, um von dort zu regieren, rebellierten die Bewohner der Sumore Gebirge, in dessen Bergen die Königstadt Kurtjak lag. Ihrer Meinung nach war der König nur dort sicher vor denjenigen, die ihn stürzen wollten.

 

Danach veränderte sich der König, der zunehmend machtgieriger wurde und als dann die dunkle Hexe mit dieser Prophezeiung an seine Seite trat, um als rechte Hand zu dienen, wünschten sich viele Schneekristalle einen neuen König. Außerdem hatte sie ihm versprochen, dass ihm bald auch die Wälder gehören würden, die unter dem magischen Schutz der weißen Magierin standen.

 

Aus dem Augenwinkel bemerkte ich die weißen Diener, die Soldaten des Königs, die ihre Patrouille im Dorf machten. Jedenfalls hatte ich das erwartet, doch diese Diener waren nicht auf Patrouille, sondern ergriffen sämtliche junge, weibliche Schneekristalle.

 

„Was ist mit dieser hier?" fragte einer abschätzig und zeigte mit dem Finger auf mich, während er sich Rat bei einem weiteren Diener holte. Dieser sah mich mit gerümpfter Nase von oben bis unten an und antwortete seinem Kollegen dann: „Die Hexe hat gesagt, alle, die wir finden können."

 

„Hey, was soll das?" beschwerte ich mich und zog an meinem Arm, doch der Griff des Mannes war zu stark und zwang mich mit einem Ruck ihm zu folgen. „Ich hab nichts getan. Ihr könnt meinen Karren nicht einfach da stehen lassen", klagte ich erfolglos, denn der Diener machte nicht einmal eine Pause, um mich anzusehen. „Sei still", befahl er nur und zog mich in den Wagen zu den anderen Schneekristallen.

 

Wäre ich doch erst morgen oder an irgendeinem anderen Tag ins Dorf gekommen, dann wären die Diener vielleicht nicht da gewesen - dachte ich verzweifelt und fragte mich ernsthaft, was die Hexe von uns wollte.

 

Der von hellblauen Kajuks gezogene Wagen, an dessen Geweih die Zügel befestigt waren, wackelte und die Räder klapperten, als wir über den unebenen, schneebedeckten Weg Richtung Kristallschloss fuhren. Während die restlichen Schneekristalle im Wagen dicht aneinander saßen, hatte ich genügend Platz. Alle, auch der Diener neben mir, vermieden es mich zu berühren, als befürchteten sie, ich hätte eine ansteckende Krankheit.

 

Ich hatte viele solcher Situation erlebt, aber bisher hatte ich ihnen immer entkommen können. Jetzt musste ich die Blicke über mich ergehen lassen und das Schamgefühl ertragen. Kribbelnde Hitze stieg mir in die Wangen und durchflutete meinen Körper, während ich es nicht wagte, den Blick vom Boden des Wagens zu heben.

 

Warum konnte ich nicht einfach normal sein, wie alle anderen?

 

Erneut musste ich die heißen Tränen wegblinzeln, die sich in meinen Augen bildeten, um nicht auch noch in der Öffentlichkeit zu weinen und den anderen Frauen somit noch einen Grund zu geben, mich anzusehen. Am liebsten wäre ich weggerannt oder hätte sie angeschrien, mich nicht so anzustarren, aber ich konnte weder das eine noch das andere. Stattdessen fummelte ich nervös an der Schnur meines Edelsteinbeutels herum und war dankbar, dass mir durch meinen gesenkten Kopf die Haare ins Gesicht fielen und es größtenteils vor den abwertenden Blicken verbarg. Doch egal, wie sehr ich mich bemühte, nicht aufzufallen, ich konnte sie spüren, die Augen der anderen, die auf mir ruhten.

 

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Als wir nach einer Woche schließlich durch die Stadtmauer fuhren, begrüßten uns sogleich Säbelritter auf ihren mit blausilbernem Metall gepanzerten Säbeltigern, die den Eingang zur Stadt bewachten. Das Stadttor schloss sich mit einem dunklen Grollen und versperrte mir damit die letzte Möglichkeit diese Stadt wieder zu verlassen. Immer mehr Bewohner der Königsstadt versammelten sich auf den aus Naturstein gestalteten Straßen und versuchten verzweifelt einen neugierigen Blick auf den Wagen zu erhaschen.

 

„Was wollen sie denn mit der?" Ohne zu fragen wusste ich genau, wen die murmelnde Stimme gemeint hatte und ich senkte schnell wieder den Blick von den in kunstvollem blausilbernem Metall eingearbeiteten Bergkristallkugeln, die die schmalen Gassen der Stadt erleuchteten.

 

Am Hof des Schlosses tummelten sich bereits hunderte, weibliche Schneekristalle und kurz nach uns traf noch ein weiterer Wagen ein, der weitere Frauen absetzte. Viele hatten ihre feinsten Kleider angezogen und die, die es sich nicht leisten konnten Seidenkleider zu tragen, hatten einfache Leinenkleider an.

 

„Bald werde ich die neue Königin von Amaran sein", hörte ich einen Schneekristall erfreut und einen Hauch zu überzeugt sagen und mir wurde sofort klar, warum wir alle hier waren.

 

Erleichtert beruhigte sich mein Puls, denn ich war definitiv nicht der Prophezeite Schneekristall, denn an mir war rein gar nichts besonders. Ich war weder besonders schön, noch besonders reich und ich hatte auch keine besonderen Fähigkeiten.

 

Für einen kurzen Moment überwiegte die Freude darüber bald wieder in meinen Wäldern zu sein dem Schamgefühl, weil auch hier alle wieder einen großen Bogen um mich machten. Dennoch hoffte ich, wenn ich mich einfach nicht bewegte und keinen Ton von mir gab, dass mich die anderen weniger beachten würden.

 

Leider ohne Erfolg. „Also du bist ganz sicher nicht die nächste Königin", sagte eine junge Frau eingebildet, während sie mit ihren Freundinnen auf mich zukam. „Nein, bestimmt nicht", bestätigte eine aus ihrer Gruppe noch einmal und nickte dabei eifrig. „Und dieses Kleid, total kaputt und alt", sprach die erste erneut und zog beim Reden die Augenbrauen angewidert zusammen.

 

Erst hatte ich versucht, auch irgendeinen Fehler bei ihr zu finden, aber es gab keinen. Ihre Haut war makellos rein, ihre Haare fielen ihr in langen Wellen über die Schultern und umrahmten ihr hübsches Gesicht. Lange, weiße Wimpern umrahmten ihre strahlend silbernen Augen und verliehen ihr einen bezaubernden Blick. Das fliederfarbene, seidene Kleid schmeichelte ihrer Taille und betonte durch die Enge ihre wohl geformte Figur.

 

Daher suchte ich meine Umgebung nach einer Fluchtmöglichkeit ab, doch an jeder Tür stand mindestens ein weißer Diener des Königs, bis ich schließlich das Gefühl hatte, es waren genauso viele Wachen wie weibliche Schneekristalle anwesend.

 

„Lytama Moorblüte", rief ein Diener am Eingang zum Schloss schließlich den nächsten Schneekristall auf, einzutreten. „Oh, entschuldige mich, das bin ich", säuselte der schöne Schneekristall vor mir, warf ihre Haare über die Schulter und stolzierte zu den Stufen, die ins Schloss führten.

 

Kurz darauf kam der aus dem Sumpfgebiet Djorne stammende Schneekristall wieder aus dem Schloss und warf mir einen vernichtenden Blick zu, bevor sie sich zu ihren Freundinnen gesellte und ihnen aufgebracht berichtete, was passiert war.

 

„Tschila Berghüter", wurde als nächste aufgerufen. Wenn es zunächst nicht an der Kleidung erkennbar war, woher die Schneekristalle kamen, so verriet es spätestens ihr Name. Diese wurden immer mit etwas in Verbindung gebracht, was für ihr Gebiet typisch war und ich verfolgte gespannt, woher die einzelnen Frauen kamen.

 

Auch Tschila kam kurzer Zeit später wieder die Treppen hinunter. Im Gegensatz zu Lytama war sie allerdings glücklich nicht die nächste Königin zu werden, was vermutlich an ihrem Alter lag. Ich schätzte sie auf grade einmal 14 Jahre und hielt sie damit eindeutig zu jung für diese Aufgabe.

 

„Nyria Flüsterwind." Bei meinem Namen beschleunigte sich mein Puls und ich schritt unsicher die Stufen zum Schloss hinauf, das sich wie ein gewaltiges Monster über mir erhob. Vor dem Eingang blieb ich stehen und starrte den Diener im Inneren des Schlosses eingeschüchtert an. „Na los, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit", drängte mich der Diener, der mit einem Pergament und einer Feder die Namen abhakte, die er bereits aufgerufen hatte.

 

Schließlich schluckte ich schwer und ging dann langsam durch die hohen Eingangstüren, um dann von dem Diener durch den schmalen, in grünlichen Dämmerlicht getauchten Gang geführt zu werden.

 

Im Thronsaal zierte ein langer blauer Teppich den Weg bis zum Thron und hohe, schön geformte Kristallsäulen stützten die Decke des Saals. Ich hatte nicht genügend Zeit mir das Innere des Schlosses genauer anzusehen, denn vor dem Thron trat der Diener zur Seite und der König räusperte sich, um meine Aufmerksamkeit zu bekommen.

 

Der durchaus attraktive Mann saß auf einem Kristallthron, der durch den strahlenden Kronleuchter grünlich schimmerte und das Zepter mit dem Eiskristall an der Spitze funkelte grün.

 

Ich fühlte mich plötzlich nackt und schutzlos und versuchte mich noch kleiner zu machen, als ich ohnehin schon war. König Lucz Kristallschimmer hatte einen steifen, harten Gesichtsausdruck und seine Stirn war durchgehen gerunzelt. Durch die weiße Robe, die er trug, wirkten der Mann größer und sein Kreuz breiter.

 

Neben ihm stand die dunkle Hexe Cyndra und warf mir funkelnde Blicke zu, während ich gebannt an ihren schwarzen Haaren hing, die ihre Haut noch blasser wirken ließ. Ihre Farbe war in ganz Amaran einzigartig und viele glaubten, dass sie sich von der dunklen Magie schwarz gefärbt hatten.

 

„Komm ein Stück näher meine Schöne", säuselte die hübsche Frau. Wie hypnotisiert und völlig willenlos setzte ich einen Schritt vor den anderen, bis ich nur noch einen halben Meter von ihr entfernt stand. Ich bewunderte ihre vollen Lippen und die dichten Wimpern, die ihre strahlenden, silbernen Augen betonten. Die Kurven der großen, schlanken Hexe waren beneidenswert, denn alles an ihr war nahezu perfekt.

 

„Das ist sie", zischte sie wie eine Schlange und ihre Stimme hatte jegliche Verführung verloren, während ihre Augen gierig aufblitzten und mich damit aus meiner Bewunderung rissen.

 

„In den Kerker mit ihr!" befahl der König und seine Worte schallten durch die hohen, geräumigen Saal. Panik packte mich, als zwei starke Wachen aus dem Nichts auftauchten und mich an den Armen festhielten. „Nein, wartet, ich bin nicht der prophezeite Schneekristall", versuchte ich mich verzweifelt vor dem Kerker zu retten und zog wild an meinen Armen. Schweiß sammelte sich auf meiner Stirn und eine Welle der Hitze überkam mich.

 

Das konnte nicht stimmen! Ich war die Falsche.

 

Die groben Wachen zerrten mich unbarmherzig durch eine Seitentür und dann eine düstere Steintreppe hinunter. In den Wänden waren kleine Bergkristallkugeln eingearbeitet, um die Stufen zu erhellen und die ebenfalls mit Blattglühern gefüllte Laterne, die der Diener am Ende der Treppe in die Hand nahm, warf gruselige Schatten.

 

Am Ende des Ganges schloss er eine Zelle auf und der andere Diener schubste mich hinein. Mit einem Klirren wurde die Gittertür wieder verschlossen und als die Diener sich entfernten, breitete sich Dunkelheit aus.

 

„Kommt zurück, ich bin nicht die, die ihr sucht. Lasst mich hier raus!", doch die einzigen, die mich hörten waren die Gefangenen in den vielen Zellen.

 

Noch lange nachdem die Diener wieder gegangen waren, umklammerte ich immer noch versteift die kalten Eisenstangen, als würde das etwas an meiner Situation ändern. Meine zittrigen Beine wurden immer weicher und ich befürchtete, dass ich sehr bald auf dem Boden laden würde. Irgendwie hatte ich noch nicht realisiert, was gerade geschehen war und hoffte, ihr Irrtum würde ihnen bald auffallen.

 

Natürlich war ich nicht ganz alleine in meiner Zelle, denn seit die dunkle Hexe als rechte Hand des Königs agierte, gab es in den königlichen Kerkern mehr Gefangene als Bedienstete im Schloss, die als Spektakel für die Stadtbewohner auf dem Königshof für ihre Vergehen hingerichtet wurden.

 

Erst nach einer Weile konnte ich meinen Blick von dem dunklen Kerkergang lösen, der nur schwach von einzelnen Bergkristallkugeln erhellt wurde. Daher konnte ich auch zunächst das Gesicht des Mannes in der Ecke nicht erkennen, der immer wieder mit Husten und Räuspern die Stille durchbrach und sich langsam auf mich zubewegte.

 

„Sie haben dich also gefunden." Die Stimme des Mannes klang rau und gebrechlich und ich fragte mich, woher er mich kannte, denn er kam mir nicht bekannt vor. Der bucklige, alte Mann, der mittlerweile neben mir an der Gitter getreten war und vom faden Licht ein Gesicht erkennbar wurde. „Entschuldigen Sie, aber ich weiß nicht, wo von sie sprechen", sagte ich vorsichtige und stellte die Vermutung auf, dass er vielleicht durch die Einsamkeit hier unten etwas verwirrt im Kopf war.

 

„Der prophezeite Schneekristall", klärte er mich auf und schüttelte verständnislos den Kopf, als ich ihn mit offenem Mund skeptisch betrachtete. Jetzt war ich mir sicher, dass ihm die Zeit im Kerker nicht gut getan hatte und warf ihm dabei einen mitleidigen Blick zu.

 

Aus seiner Hosentasche seiner dreckigen, zerfetzten Lumpen holte er ein kleines Ding, das die wenigen Lichtstrahlen aufnahm und heller wieder zurückwarf. Mit zittrigen Händen wischte sein Daumen über das Ding in seiner Hand und ich zog scharf die Luft ein, als ich erkannte, was es war. Der zerbrochene Splitter war von einem Spiegel, den nur Propheten in Amaran besaßen und den sie nutzten, um ihre Prophezeiungen zu machen.

 

„Etylon Sumpfwurzel, freut mich deine Bekanntschaft zu machen", stellte er sich vor und klang dabei viel jünger und weniger gebrechlich. Ein starkes Husten schüttelte seinen Körper, bevor der mein ein breites Lächeln aufsetzte und dabei seine Zahnlücken zeigte. „Er ist zwar ein bisschen kaputt, aber man kann sich noch gut in ihm betrachten", versicherte er mir, als er mir den Spiegel in die Hand drückte.

 

Was sollte ich denn damit? Ich war keine Prophetin.

 

Als ich ihn allerdings nur verwirrt ansah, hob er helfend meine Hand, in der ich den Splitter unsicher festhielt und forderte mich auf, hinein zusehen. Das war das erste Mal, dass ich mich selber sehen würde und ich hatte Angst, seltsame Flecken oder Verformungen in meinem Gesicht zu finden, weswegen mich die Schneekristalle ausgrenzten.

 

Ich hatte immer den Grund erfahren wollen, doch jetzt, wo ich die Möglichkeit hatte, traute ich mich nicht. Innerlich wägte ich ab, ob es schlimmer war, den Grund nicht zu kennen oder sich immer wieder an ihn zu erinnern.

 

Doch nach kurzem Hin und Her straffte ich die Schultern, atmete tief ein und sah in den Spiegel. Vor Schreck ließ ich den Splitter los und er landete mit einem Klirren auf dem steinernen Boden. Mein Blick wanderte zu Etylon, der mich nach wie vor unverwandt ansah, dann stürzte ich zu Boden und starrte erneut in die zersprungenen Splitterreste, um mich davon zu überzeugen, dass ich mir nichts eingebildet hatte.

 

Mein Herz klopfte wild gegen meine Brust, als wollte er befreit werden und ein kalter Schauer lief mir über den Rücken, obwohl ich innerlich fast kochte. Die Erkenntnis, dass ich hier bleiben würde und dass ich tatsächlich der prophezeite Schneekristall war, brach über mich heran, wie eine vernichtende Welle. Meine Hände zitterten, als ich die Splitter berührte und ich musste mich abstützen, weil mir plötzlich schwindelig wurde.

 

Schimmernde, goldene Augen starrten mir von den Splitterscherben entgegen, als wollten sie mich verhöhnen. Die Farbe bewegte sich und ließ ab und zu ein schwaches Silber durchblitzen, um es dann aber wieder zu verschlucken.

 

Das waren nicht meine Augen. Ich wollte nicht, dass es meine Augen waren.

 

Kapitel 3 [Menschenwelt]

 

„Auch in den dunkelsten Momenten gibt es ein kleines Licht namens Hoffnung."

 

 

„Geht's dir gut?" fragte mich eine junge männliche Stimme, die so gar nicht zu Etylon passte und ich runzelte verwirrt die Stirn. Als ich aufsah, blickte ich ihn strahlend blaue Augen und realisierte erst einige Sekunden später, dass ich zusammen mit Cemil in der verwitterten Steinhütte in der Menschenwelt saß. Ein Frösteln durchfuhr meinen Körper, als ich die letzten Bilder meiner Erinnerung verdrängte. Cemil hob die Augenbrauen, um mir zu signalisieren, dass ich ihm immer noch nicht geantwortet hatte, daher ich nickte ich schnell und zwang mich zu einem schwachen, gekünstelten Lächeln.

 

„Du bist wirklich seltsam", kommentierte er meine Reaktion und hielt mir dann eine Schüssel mit einer dampfenden Flüssigkeit hin, die ich dankend annahm, bevor er sich seiner eigenen Schüssel widmete. Der Geschmack der salzigen Flüssigkeit verteilte sich in meinem gesamten Mund, als ich den ersten Löffel zu mir nahm. Dieses Mal stahl sich ein echtes Lächeln auf meine Lippen und meine Augen weiteten sich vor Begeisterung.

 

Hoffentlich waren alle Gerichte der Menschenwelt so köstlich.

 

Während wir unsere Suppe aßen, knisterte das Feuer aufgeregt vor sich hin und der Wind heulte mit unheimlichen Stimmen auf. Eine Weile lang sprach Cemil nicht und ich hätte ebenfalls geschwiegen, wenn ich meine Stimme noch gehabt hätte. Stattdessen genoss ich einfach den Moment der Ruhe, denn in letzter Zeit hatte ich von diesen Augenblicken nicht sehr viele gehabt, da ich pausenlos auf der Flucht vor den weißen Dienern war.

 

Schließlich stand Cemil auf, um einige Holzscheite auf der kleiner werdende Feuer zu werfen, die es gierig verschlang. Hypnotisiert beobachtete ich den Tanz der Flammen und ich bemerkte, wie sich meine Muskeln aufgrund des tranceartigen Zustandes entspannten. „Du kannst heute Nacht hier schlafen", bot Cemil an und verschwand kurz in seiner Schlafkammer. Es raschelte, bevor er mit einer Decke und einem kleinen Kissen zurück kam und neben mir ablegte. „Gute Nacht", war das letzte, was Cemil sagte, bevor er mich mit dem Feuer alleine ließ.

 

Ich lauschte noch eine halbe Ewigkeit dem heulenden Wind, der furchteinflößende Geräusche verursachte, wenn er durch die winzigen Spalten der Holztür zog. Hin und wieder knackte das brennende Holz laut auf, sodass ich zusammenzuckte und mir ein kalter Schauer über den Rücken lief. Irgendwann glitt ich erschöpft in einen traumlosen Schlaf.

 

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Seit langer Zeit konnte ich endlich mal wieder ausgiebig schlafen und spürte, wie die Erschöpfung der letzten Tage von mir fiel. Ich ließ meine Augen noch geschlossen, weil ich nicht wollte, dass dieser entspannte Moment vorbei ging. Metallgeräusche erklangen hin und wieder und meine Neugier zwang mich schließlich doch, die Augen zu öffnen. Cemil saß mit dem Rücken mir zugewandt vor dem knisternden Feuer und rührte mit einer Kelle in seinem Topf herum.

 

Der Schneesturm von letzten Abend hatte sich gelegt und die Sonne warf einige Sonnenstrahlen durch die kleinen Fenster neben der Tür, die die Hütte in ein warmes Gold tauchten. Sofort erschien das Spiegelbild mit meinen goldenen Augen vor meinem inneren Auge und ich setzte mich ruckartig auf. Ich schluckte schwer und versuchte die sich anbahnenden Tränen zu unterdrücken.

 

Es wäre besser gewesen, nicht zu wissen, warum mich die Schneekristalle ausgrenzten.

 

„Guten Morgen. Möchtest du auch einen Tee?" Cemil's Freundlichkeit und Aufmerksamkeit waren mir so fremd, dass ich verunsichert den Blick senkte, aber dennoch nickte. Glücklicherweise verdrängten sie allerdings den zerrenden Schmerz in meiner Brust und ersetzten ihn durch ein warmes Ziehen. Als könnte ich somit das Gefühl für immer erhalten, legte ich eine Hand über die Stelle, an der mein Herz gleichmäßig pochte.

 

Nachdem er uns beiden einen Tonkrug mit Tee eingeschenkt hatte, saß er nun neben mir und räusperte sich: „Ich begleite dich gleich nach Hause." Ich wollte gerade einen Schluck trinken, hielt aber bei seinen Worte in meiner Bewegung inne. Hastig stellte ich den Krug auf den kleinen Holztisch und verschüttete dabei ein wenig von dem Kräutertee. Während sich Verzweiflung in mir breit machte, schüttelte ich den Kopf. „Du willst nicht nach Hause?" Cemil runzelte die Stirn und wirkte dabei, als hielte er mich für verrückt. Erneut schüttelte ich den Kopf, wobei mir einzelne Strähnen meine Haare ins Gesicht fielen.

 

Wie sollte ich ihm bloß erklären, was los war?

 

Während er sich nachdenklich über sein stoppeliges Kinn strich, suchte ich krampfhaft nach einer Lösung und ließ dabei meinen Blick durch den ordentlichen Raum wandern, als läge die Antwort hier irgendwo. Aber als ich im Regal in der Ecke eine Schreibfeder entdeckte, sprang ich auf und schnappte mir das Tintenfass mit der Feder. Erwartungsvoll hielt ich Cemil die Sachen vor sein Gesicht und grinste erleichtert darüber, dass meine Ziehmutter mir das Schreiben beigebracht hatte. „Ich habe kein Pergament und es ist auch sehr teuer", seufzte er und sein Blick wurde mitleidig. Niedergeschlagen sank ich wieder auf den Baumstamm zurück und mein letzter Funken Hoffnung erlosch. „Aber ich habe vielleicht noch genug Felle und Fleisch für eine Rolle Pergament", sagte er mehr zu sich selbst und eilte in seine Schlafkammer. Mit einem Bündel Tierfelle und den dazugehörigen nackten, toten Tieren kam er zurück und auf seinem Gesicht lag ein breites Lächeln. Ein kurzer Anfall von Übelkeit überkam mich, als ich die leblosen Tiere an seiner Schulter herabhängen sah und ich konnte nur mit Mühe das Würgen unterdrücken.

 

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Cemil hatte einige Sachen in einen großen Beutel gepackt, bevor wir zu dem Zweitagesmarsch zur nächsten größeren Stadt aufbrachen. Während wir durch den Zentimeter hohen Schnee stapften und knirschende Geräusche dabei machten, genoss ich die Wärme der Sonne auf meiner Haut.

 

Cemil führte uns zielstrebig durch den dichten Wald, der bei Tageslicht sofort freundlicher und weniger angsteinflößend wirkte. Sein Blick sah stur geradeaus, meiner hingegen suchte den Boden nach Fußspuren der weißen Diener ab. Ich hatte zwar noch etwas Zeit, denn sie brauchten von der Insel der weißen Magierin zurück zum Königspalast immerhin noch 3 Monate, aber in den letzten Monaten war das zu einem meiner täglichen Rituale geworden und ich wusste, es würde nicht lange dauern, bis die dunkle Hexe mich mit einem Aufspürzauber finden würde. Bei dem Gedanken an ihre düstere Ausstrahlung kroch eine Gänsehaut meinen Rücken empor und ich zitterte leicht. Meine Hand umklammerte den Amulett mit dem Wurzelmoos, der an einer Kette um meinem Hals hing und ich betete zur weißen Magierin, dass mich ihr Zauber möglichst lange schützen würde.

 

Immer wieder fielen großen Schneemassen mit einem dumpfen Geräusch auf den Boden, weil sie für die Äste der Bäume zu schwer wurden. Plötzlich raschelte ein Gebüsch und einige Zweige brachen mit einem knackenden Laut. Blitzschnell zog Cemil einen Pfeil aus dem Köcher auf seinem Rücken und richtete den Bogen auf das Gebüsch. Ich klammerte mich an seinem Umhang fest, um nicht zu Boden zu fallen, denn meine Knie fühlten sich an, als könnten sie mein Gewicht nicht mehr tragen.

 

Hatten die weißen Diener mich doch schon gefunden? Das war unmöglich!

 

Mein Herz pulsierte wild in meiner Brust und ich konnte dem Drang zu fliehen beinahe nicht widerstehen. Hitze breitete sich in mir aus und brachte meine Wangen zu brennen, während sich kalte Schweißperlen auf meiner Stirn sammelten. Wieder brachen kleine Zweige. Ich versteckte mich hinter Cemil, der mich um einen Kopf überragte und doppelt so breit war wie ich.

 

Vielleicht würden sie mich nicht sehen und einfach weiter gehen.

 

Meine Beine zitterten vor Anspannung, bereit loszulaufen, wenn es sein musste. Ich klammerte mich verzweifelt an die Hoffnung, dass Cemil mich beschützen konnte, obwohl ich wusste, dass er keine Chance gegen die weißen Diener hatte.

 

Dann senkte Cemil seinen Bogen und steckte den Pfeil zurück in seinen Köcher. Ich sah verwirrt an ihm vorbei und entdeckte das große Tier mit dem prächtigen Geweih. „Das ist nur ein Hirsch", stellte er ein wenig belustigt fest und ich starrte ihn ungläubig an, ganz vergessend, dass er keine Ahnung von dem hatte, was hinter mir her war. Offensichtlich konnte er sich bei meinem Anblick nicht mehr zurückhalten und brach in einem herzhaften Lachen aus. Vorher hatte der Hirsch den Schnee am Boden mit seiner Nase vor sich hergeschoben und das darunter befindliche Gras abgeknabbert, jetzt zuckte es aufgeschreckt zusammen und floh dann mit schnellen, großen Sprüngen.

 

„Wir müssen weiter", sagte Cemil, nachdem er sich wieder beruhigt hatte, wobei immer noch ein Lächeln auf seinen Lippen lag. Ich warf noch einen letzten Blick auf die Stelle, an der der Hirsch gefressen hatte, bevor ich Cemil eilig folgte.

 

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Mittlerweile hatte sich der dichte Wald etwas gelichtet und gab die Aussicht auf große Felder frei, die nur noch auf ihre Ernte warteten. Wir kamen auf einen schmalen Feldweg, der an den Feldern vorbei führte und ich entdecke in der Ferne kleine Häuser, aus dessen Schornsteinen graue Wolken emporstiegen. „Ab hier solltest du besser deine Kapute anziehen", riet mir Cemil mit einem eindringlichen Gesichtsausdruck und wirkte dabei selber so nervös, wie ich mich gerade fühlte. Ich wischte unauffällig meine schweißnassen Hände an meinem Kleid ab, bevor ich meine Haare mit der Kapuze des Mantels bedeckte.

 

Kurz darauf tauchte eine junge Frau hinter dem kleinen Hügel auf und ich senkte schnell den Blick, sodass auch mein Gesicht vor ihren neugieren Blicken geschützt war. Obwohl es allmählich Abend wurde, hätte die Menschenfrau das Gold meiner Augen und das strahlende Weiß meiner Haare erkannt, daher war ich dankbar, als Cemil seinen Arm um meine Hüfte legte und mich führte. So konnte ich weiterhin den Kopf gesenkt halten und auf meine Schritte achten.

 

Irgendwann wich der Feldweg einem gepflasterten Steinweg und die Umgebung wurde lauter von den vielen Menschen, die sich im Dorf aufhielten und sich austauschten. Alle paar Meter wurde der Weg von einem warmen Licht erhellte, bevor es wieder dunkel wurde.

 

Schließlich betraten wir ein Haus, wobei ein Klöckchen klingelte, als wir die Tür öffneten und wieder schlossen. „Ein Zimmer für eine Nacht", forderte Cemil und klang dabei nicht mehr so freundlich und offen, wie er es mir gegenüber gewesen war. „Macht 4 Goldtaler", antwortete der Mann gegenüber mit einer tiefen Stimme genauso ernst. Es klirrte, als Cemil die Goldtaler auf die Theke legte und mich dann zu einer Treppe führte. Aus dem Augenwinkel sah ich die Tische und Stühle neben mir, auf denen sich einige Männer niedergelassen hatten und so leise murmelten, dass ich ihre Gesprächsinhalte nicht hören konnte.

 

Nachdem wir das Zimmer betraten und Cemil hinter uns die Türe verschloss, streifte ich die Kapuze wieder ab und sah mich um. Der Raum war mit einem großen Bett, einem Schrank und einem kleinen Tisch mit einem Stuhl spärlich eingerichtet, aber für die eine Nacht, die wir bleiben würde, reichte es. „Das ist nicht gerade das sicherste Hotel, aber es ist das günstigste. Du kannst schlafen, ich bleibe wach und passe auf, dass sich kein Betrunkener hier her verirrt."

 

Während er an dem kleinen Fenster stand und nach draußen auf die Straßen sah, machte ich es mir im Bett gemütlich. Ich hätte ihm gerne gesagt, dass es nicht wegen mir wach bleiben musste und dass es ebenfalls etwas schlafen sollte, aber ich war dennoch dankbar, dass er über mich wachte, während ich schlief.

 

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Am nächsten Morgen weckte mich Cemil bereits, bevor die ersten Sonnenstrahlen durch das kleine Fenster ins Zimmer fielen und wirkte ausgeruhter als ich es war. Bevor wir das Zimmer verließen, versteckte ich meine Haare wieder unter der Kapuze und hakte mich bei Cemil ein. Außer dem Hausherren war an diesem Morgen noch niemand wach, daher erfüllte erdrückende Stille das Haus und auch draußen war kaum eine Menschenseele zu sehen.

 

Wir folgten dem gepflasterten Weg raus aus dem kleinen Dorf und in Richtung eines weiteren Waldes. „Behalt die Kapuze auf, das ist der Hauptweg nach Kaltarra", flüsterte Cemil und ich seufzte frustriert darüber, dass ich den restlichen Tag lang nichts anderes als meine Schuhe und den Boden sehen würde.

 

Schon lange bevor wir durch die Tore der Stadt traten, hörte man die Menschenmenge, die sich auf dem Marktplatz aufhielt und die Waren der Händler begutachtete. Kaltarra wurde von einer hohen Steinmauer umrahmt und erinnerte mich daher an die Königsstadt, in der sich König Lucz niedergelassen hatte. Wir drängelten uns langsam durch die Menschenmenge in den schmalen Gassen und kamen nach unzähligen kleinen Läden endlich auf dem Marktplatz an.

 

Nervosität breitete sich in mir aus, denn das Risiko, dass irgendjemand meine Haare oder meine Augen sah, wurde schlagartig vertausendfacht. Überall rempelten mich Menschen an und ich betete jedes Mal, dass meine Haare nicht in mein Gesicht fielen und die Spitzen somit nicht mehr vom Umhang verdeckt waren.

 

Am ersten Stand stieg mir der starke Geruch von Kräutersuppe in die Nase und als hätte er gerade erst bemerkt, dass er leer war, knurrte mein Magen fordernd. „Zwei Suppen", bat Cemil und mir lief das Wasser im Mund zusammen, als ich die Schüssel entgegennahm. „Macht 50 Silberlinge", sagte eine Dame mit einer freundlichen Stimme und Cemil reichte ihr die silbernen Taler.

 

Nachdem unser Hunger für eine Weile gestillt war, zog er mich weiter an einen anderen Stand und löste dann das Bündel Felle von seiner Schulter. „Wie immer sehr gute Qualität, die Euch zu dieser kalten Jahreszeit warm halten. Dieses Mal sind es sogar 5, einer mehr, als beim letzten Mal", bot er seinem Käufer an. Ein Grummeln war zu hören, bevor sich der Mann räusperte: „Ich gebe dir 25 Goldtaler für die Felle." Unter meiner Kapuze konnte ich sehen, wie sich Cemil und der Mann die Hände gaben, bevor er ihm die Felle überreichte und die Goldtaler in seinen Beutel verschwinden ließ.

 

Wieder bahnten wir uns unseren Weg zum nächsten Stand, an dem es nach gebratenem Fleisch roch. Ich verzog angeekelt das Gesicht, denn ich bevorzugte es, mich nicht von Tieren zu ernähren. Auch hier verhandelte Cemil wieder mit einem Mann, erhielt aber dennoch weniger Goldtaler, als er forderte. Dennoch gaben sich die Männer die Hand und es klirrte erneut, als die Goldtaler in den Beutel fielen, der an Cemils Gürtel befestigt war.

 

Schließlich kamen wir zu dem Stand, an dem wir das Pergament kaufen konnten. „Hallo Merten", begrüßte Cemil den Besitzer des Standes. „Ah, Cemil mein Junge", Freude lag in der gebrechlichen, rauen Stimme des Mannes. „Er sieht nicht mehr so gut", flüsterte mir Cemil ins Ohr und ich hob meinen Blick, nur um dort einen alten, kleinen Mann auf einem Stuhl sitzen zu sehen. Seine Pupillen hatten eine leicht milchige Farbe und seine Hände ruhten auf einer Rolle Pergament. „Heute mit Begleitung?" fragte er, bevor ein Husten durch seinen Körper fuhr. Plötzlich überkam mich schmerzende Trauer und große Selbstvorwürfe plagten mich.

 

Das war alles meine Schuld gewesen. Ich hätte es verhindern können!

Kapitel 4 [Amaran]

 

"Für das große Ganze müssen oft kleine Opfer gebracht werden."

 

Meine Umgebung verschwamm und verdunkelte sich, während die bildliche Erinnerung an die dunkle Kerkerzelle mit Etylon mich wieder eingeholt hatte. Nachdem ich seinen magischen Spiegel zerbrochen hatte, hatte er die kleinen Splitter eingesammelt und wieder in seinen zerfetzten, dreckigen Lumpen versteckt. Ich hatte mich hingegen immer noch nicht ganz vom Schock erholt, obwohl mittlerweile beinahe eine Woche vergangen war, jedenfalls glaubte ich das, sicher war ich mir allerdings nicht. Ich hatte mich in die dunkle Ecke der Zelle zurückgezogen und umklammerte krampfhaft meine angezogenen Beine mit den Armen, als könnte das verhindern, dass meine Welt zusammenbrach.

 

Am Anfang hatte ich noch mitbekommen, wie mein Lebenswille immer weniger geworden war, mittlerweile waren meine Gefühle und Gedanken betäubt. Auch das Knurren meines Magens hatte irgendwann nachgelassen und sich in ein scharfes Brennen verwandelt, das ich ignorierte. Hin und wieder zwang mich Etylon wenigstens eine Scheibe Brot zu essen, damit ich nicht eines Hungertodes verstarb, doch auch das war mir egal geworden. Ich würde mein Leben in einem kristallenen Gefängnis verbringen und zusehen, wie der König Amaran zu Grunde richtete ohne, dass ich etwas dagegen tun konnte. Es gab also nichts, für das es sich zu leben lohnte.

 

Etylon verbrachte die meiste Zeit an den Metallgittern und tuschelte mit jemandem neben unserer Zelle und obwohl ich sie hörte, begriff mein Gehirn niemals, was sie sagten. Ihre Worte erreichten mich nicht, als würden sie von einer unsichtbaren Barriere abgewehrt werden. Ich hatte mich einmal kurz gefragt, was er so aufgeregt mitzuteilen hatte, aber der Gedanken war genauso schnell wieder verschwunden, wie er aufgetaucht war. Also hatte ich einfach den Kopf wieder an die kalte, modrig riechende Wand gelehnt und vor mich hingestarrt.

 

Selbst als die Patrouille wieder ihren Kontrollgang machten, dauerte es eine Ewigkeit, bis ich bemerkt hatte, dass die Gänge mit blassem Licht erhellt wurden. Als sie an unserer Zelle vorbei kamen und hineinleuchteten, hob ich schützend die Hand vor mein Gesicht. Die lange Zeit in Dunkelheit hatte das Licht für meine Augen schmerzhaft gemacht und Etylon senkte ebenfalls den Kopf, um sich vor dem grünlichen Licht zu schützen.

 

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Nach einer weiteren Woche brannten meine Augen vor Erschöpfung und meine fettigen Haare klebten an meinem Gesicht, aber hier drin würde mich ohnehin niemand außer Etylon sehen. Als ein heftiges Husten den alten Mann schüttelte, sah ich tatsächlich auf und fragte mich, ob er wohl ernsthaft krank war. Schließlich erhob er sich schwer atmend und seine langsamen, schlurfenden Schritte näherten sich mir. Ich wollte ihm schon sagen, dass ich keinen Hunger hatte, wie so oft, aber seine Worte überraschten mich: „Ich helfe dir zu fliehen."

 

Hatte er das gerade wirklich gesagt?

 

Mit großer Mühe hob ich den Kopf und sah in sein ernstes Gesicht. Ein schmales, zahnloses Lächeln erhellte seine Züge und er wirkte überzeugter von seinem Plan, als ich es erwartet hatte. Er fiel auf die Knie, nahm mein Gesicht in beide Hände und schüttelte mich sanft: „Nyria, hast du gehört? Ich helfe dir!" Plötzlich platzte die schützende Blase, die mich bisher vor allem abgeschirmt hatte und seine Worte trafen mich wie der Blitz. In meinem Inneren begann es zu kribbeln und mein Puls beschleunigte sich, während mein Gehirn die Worte verarbeitete.

 

„Aber wie?", fragte ich nun genau so aufgeregt wie Etylon es war und starrte ihn mit großen Augen an. Ich wusste, dass die Wachen für jede Zelle einen anderen Schlüssel besaßen und wir unmöglich an einen davon ran kommen würden. Doch ich hatte nicht gewusst, dass neben uns in der Zelle ein Kristallbauer des Schlosses saß. „Es gibt einen Fluchtweg am Ende des Kerkerganges, den er in und auswendig kennt und sein Sohn gehört zu der Patrouille, die die Kerker überwachen", erklärte Etylon und ich versuchte verzweifelt die Puzzlestücke zusammen zu setzen. „Er wird einen zweiten Schlüssel anfertigen. Es ist riskant und wird eine Weile dauern." Hoffnung keimte in mir auf. Ich würde nicht mein Leben in einem kristallenen Gefängnis verbringen. „Draußen wartet jemand aus den Sumore Gebirgen auf dich und bringt dich weg von hier", beendete er schließlich seinen Plan und sein Lachen war beinahe bösartig und erfüllt von Rachegefühlen.

 

Es war ein Wunder, dass ich vor Hoffnung nicht in Freudentränen ausbrach, während meine Muskeln vor lauter Anspannung und Aufregung zitterten. „Du solltest dich stärken", bemerkte er, als er meinen Teller mit der Scheibe Brot sah und ausnahmsweise stimmte ich ihm dieses Mal zu.

 

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Ich hatte beinahe das Brot in einem Stück verschlungen und bemerkte erst jetzt, wie sehr die Nahrung meinem Magen gefehlt hatte. Ihn wieder daran zu gewöhnen, dass er arbeiten musste, war schmerzhaft, aber notwendig für die Flucht, daher aß ich auch die nächsten Scheiben Brot in den folgenden Tagen trotz der Schmerzen. Immerhin bemerkte ich auch, wie ich wieder zu Kräften kam und es weniger mühselig wurde, meine Muskeln zu nutzen. Während ich meine Scheiben Brot aß, achtete ich aufmerksam auf alle Details: darauf, wann die Wachen kamen, ob es immer dieselben waren, wie genau sie in die Zelle sahen, sogar die tuschelnden Gespräche von Etylon und dem Kristallschlossbauer verfolgte ich neugierig. Ich wollte auf alles vorbereitet sein, wenn mein Fluchttag gekommen war.

 

Heute kamen die Wachen früher als sie es sonst taten und ich wunderte mich, was wohl der Grund dafür war. Allerdings musste ich schnell feststellen, dass die Wachen zielstrebig auf unsere Zelle zuliefen und einer von ihnen mich herauszerrte. Angst breitete sich in mir aus, Angst darüber, dass ich doch nicht fliehen konnte. Vielleicht war das auch meine Chance, daher wehrte ich mich so gut es ging, doch als mein Blick Etylon traf, der seelenruhig dastand und den Kopf leicht schüttelte, erschlafften meine Bewegungen und ich ließ mich bereitwillig durch den Kerkergang führen. Das kribbelnde Angstgefühl lauerte weiterhin unter der Oberfläche, jederzeit bereit, wieder die Kontrolle über meinen Körper zu übernehmen. Zwei starke Hände hielten mich links und rechts an den Oberarmen und ich biss mir auf die Lippen, um dem drückenden Schmerz zu ertragen.

 

Zuerst hatte ich gedacht, sie würden mich zum König führen, doch als wir das obere Ende der steinernen Kerkertreppe erreicht hatte, liefen wir in die andere Richtung auf eine weitere steinerne Treppe zu. Die Flure, durch die wir dann gingen, waren nur von dem dämmrigen Licht der Blattglüher in den Bergkristallkugeln in der Wand beleuchtet, sodass mir ein kalter Schauer über den Rücken lief. Die Atmosphäre war so düster, dass sie mich zu erdrücken schien und mir das Atmen schwerfiel. Die Gemälde von König Lucz, die in kleinen Abständen immer wieder an der Wand hingen, verschlimmerten alles noch und ich hatte das Gefühl unter ständiger Beobachtung zu stehen. Ich spürte praktisch seine Augen wie kleine krabbelnde Spinnen auf meiner ganzen Haut und wünschte mir in diesem Moment nichts mehr, als dass ich nicht zu diesem Markt in Badlan gegangen wäre.

 

Als wir vor einer der unzähligen Türen dieses Ganges stehen blieben, klopfte einer der Wachen kräftig mit der Faust gegen die Holztür und wartete dann geduldig, bis jemand sie öffnete. Beim Anblick der dunklen Hexe gaben meine Beine nach und ich war ausnahmsweise froh, dass mich jemand aufrecht hielt. Sofort bildete sich ein dünner Schweißfilm auf meiner Stirn und ich spürte wie mein Puls sich beschleunigte.

 

Wie konnte jemand, der so viel Böses in sich trug, so schön sein?

 

„Ah, kleiner Schneekristall, komm herein. Wir haben viel zu tun", sagte sie beinahe mütterlich, aber wenn ich in ihre Augen sah, konnte ich das böse Funkeln ganz genau sehen. Die Wachen schoben mich in das Zimmer, schlossen hinter uns die Tür und postierten sich daneben, nachdem sie mich losgelassen hatten. Auch dieser Raum war düster und nicht strahlte nichts Freundliches aus. Die Möbel waren aus dunklem, violettem Holz, deren Umrisse bei dem schwachen Licht beinahe nicht zu erkennen waren. Ich blieb hilflos mitten im Raum stehen, während die dunkle Hexe mich betrachtete, als wäre ich ein Rätsel und ich rieb mir über die Arme, als könnte ich somit das unwohle Gefühl abschütteln.

 

Ein zartes Klopfen an der Tür sorgte dafür, dass ich nicht mehr in ihrem Fokus stand und auch ich drehte mich, um zu sehen, wer es war. Die Frau, die den Raum betrat, war viel älter als ich und ihr erschöpftes Gesicht zeigte die Sorgen vergangener Tage. „Tyma, wir warten schon auf dich." In der Stimme der dunklen Hexe lag eine gewisse Drohung, die auch Tyma gut verstand, denn sie zückte sofort ihr Maßband aus ihrem kleinen Beutel und kam auf mich zu. „Kümmere dich gut um sie", warnte die dunkle Hexe, das gespielte Lächeln gänzlich verschwunden, bevor sie mit den Wachen den Raum verließ.

 

Tyma atmete erleichtert aus und ihre Schultern sackten nach unten, bevor sie mir in die Augen sah. „Deine Augenfarbe ist wirklich etwas Besonderes", gab sie schließlich zu und wirkte dabei keineswegs so ängstlich oder abgestoßen von mir, wie es viele andere Schneekristalle waren. Für einen kurzen Augenblick war ich von ihr so überrascht, dass ich es nicht einmal schaffte, mich für das Kompliment zu bedanken. Stattdessen kämpfte ich mit den Tränen, die sich in meinen Augen sammelten und wischte sie schnell mit dem Handrücken weg, bevor sie mir über die Wangen liefen. Tyma tätschelte meine freie Hand, sah mich voller Mitleid an und sagte schließlich: „Es wird alles wieder gut. Ich mache dir das schönste Hochzeitskleid, dass Amaran je gesehen hat." Ihre Worte berührten mich so sehr, dass ich ihr wie ein kleines Mädchen in die Arme fallen und weinen wollte. Das einzige, was mich davon abhielt, war die Stärke, die sie ausstrahlte und die gerade meine Welt zusammenhielt. Ich atmete tief durch, straffte die Schultern, hob mein Kinn und nickte ihr zu.

 

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Während sie alle benötigten Maße bei mir nahm und mich immer mal wieder nachdenklich betrachtete, überlegte ich, welche Frage ich ihr zuerst stellen sollte. „Warum arbeitest du für die dunkle Hexe?" Von all den Fragen, die ich hatte, war diese die mit Abstand interessanteste, denn Tyma wirkte keinesfalls glücklich mit ihrem Leben im Schloss. Ein kleines Lächeln huschte über ihre Züge, bevor sie antwortete: „Ich arbeite schon mein Leben lang für die Königsfamilien von Amaran und wurde von Königin Elira für meine Schneiderkünste angeworben. Ich liebe meine Arbeit einfach." Elira war vor zwei Generationen die Frau von König Doran und einer der meist geliebten Königinnen in der Geschichte gewesen, denn sie war gütig und liebenswert. Ich dachte über Tymas Worte nach und stellte mir vor in ihrer Situation zu sein, doch egal, wie ich es betrachtete, ich würde nicht hier bleiben wollen. All das Böse, was uns umgab, fraß sich schon jetzt in mein Herz und würde mich schließlich innerlich zerstören. Im Gegensatz zu ihr hatte ich gar keine andere Wahl, ich war hier gefangen.

 

Nachdem sie fertig war, warf sie mir noch ein letztes Lächeln zu, bevor sie mich alleine zurückließ, indem sie den Wachen vor der Tür mit einem Klopfen signalisierte, dass ihre Arbeit getan war und die Wachen mich wieder in meine Kerkerzelle zu Etylon brachten. Es dauerte eine Weile, bis sich meine Augen an das schwache Licht gewöhnt hatten und ich seine Gesichtszüge erkennen konnte. Er sah nicht glücklich aus. „Was ist passiert?" fragte ich nervös und schluckte schwer. „Du musst dich ruhig verhalten, wenn du auch nur den Hauch einer Chance haben willst, zu fliehen. Wenn du für Ärger sorgst, werden sie dich besser bewachen." Er hatte Recht, ich musste mich besser beherrschen. Peinlich berührt sah ich auf den Boden und wusste nicht, was ich ihm antworten sollte, doch ergriff erneut das Wort: „In einer Woche kannst du fliehen." Sofort schoss mein Blick wieder hoch, denn das war früher, als ich erwartet hatte. "Woher weißt du das?" Tatsächlich redet Etylon immer nur mit dem männlichen Schneekristall in der Zelle neben uns, aber wir mussten irgendeinen Kontakt nach außen haben, der eine Kopie des Schlüssels anfertigte. Etylon und ich setzten uns in die Ecke unserer Zelle und der alte Prophet räusperte sich, bevor er mit leiser Stimme begann zu sprechen.

 

„Das könnte euch allen das Leben kosten", stellte ich fest, als er schließlich fertig war. Die Köchin des Schlosses ging täglich zum Markt innerhalb der Burgmauern, um frische Zutaten zu holen und machte dabei immer einen kleinen Umweg zum Königsschmied. Daher wusste sie, dass dieser die Kopie des Schlüssels mit der nächsten Waffenlieferung ins Schloss bringen würde. Diese Information gab sie dann weiter an einen Bediensteten des Königs, der die Wachen und somit auch dem Sohn des Kristallschlossbauers mit einer warmen Mahlzeit versorgte. Und so gelangte schließlich die Information in den Kerker, denn die Wachen wechselten sich mit der Patrouille ab, sodass niemand sonst von diesem Plan erfuhr. Im Kopf zählte ich schnell noch einmal nach und kam auf sechs. „Sechs Schneekristalle könnten wegen mir sterben", wiederholte ich entsetzt, doch Etylon sah mich an, als wäre ihm das schon vor meiner Feststellung bewusst gewesen. „Nyria, wenn wir dich nicht hier raus holen, werden noch viel mehr Schneekristalle ihr Leben lassen. Wir dürfen nicht zulassen, dass der König dich heiratet und somit unbegrenzte Magie erhält." Seine Augen waren weit aufgerissen und er sah beinahe aus, als wäre er von Dämonen besessen. „Warum heiratet der König nicht einfach die dunkle Hexe?", fragte ich, denn es ging schließlich nur um Magie bei dieser Hochzeit. Etylon schüttelte den Kopf: „Das kann er nicht. Laut dem magischen Gesetz darf eine Magierin, sei sie nun gut oder böse, keinen König heiraten, damit die beiden Machtquellen getrennt bleiben. Ich weiß nicht, wie die dunkle Hexe es geschafft hat, sich trotzdem einen Platz im Schloss zu erschleichen, aber geht man einen Bund mit einer Magierin ein, so ist man selbst in der Lage die Quelle der Magie zu nutzen. Damit dies nicht geschieht, wird jeder Magierin, die dies tut, die Magie entzogen. Durch dich bekommt der König laut der Prophezeiung Magie aus einer anderen Quelle, auch wenn ich noch nicht weiß aus welcher."

 

Das alles hatte ich nicht gewusst und ich war mir sicher, dass auch viele andere keine Ahnung von all diesen Geheimnissen hatten. Erst jetzt begriff ich, wie wichtig ich tatsächlich war und mir wurde schummrig bei dem Gedanken so viel Verantwortung auf meinen Schultern zu tragen. Das gesamte Schicksal von Amaran lag in meiner Hand und ich fühlte mich viel zu schwach diese Aufgabe zu bewältigen. Die Übelkeit, die in mir aufstieg, konnte ich nur mit Mühe wieder zurückdrängen, um mich nicht zu übergeben. „Hast du in deinem Spiegel auch gesehen, ob ich es schaffe zu fliehen?" Ich brauchte die Bestätigung, um mir Mut zuzureden, um darauf Kraft zu schöpfen. „Der Spiegel hat mir nur gezeigt, was passiert, wenn du es nicht schaffst", erwiderte nun mit einem Hauch Mitleid in der Stimme und ich glaubte zu wissen, dass er verstand, wie es mir ging. Er legte seine faltige Hand auf meine Schulter und drückte sanft. „Es gibt so viele Schneekristalle, die dir helfen. Du bist nicht alleine", versprach er und die Zuversicht in seiner Stimmte sagte mir, dass es die Wahrheit war.

 

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Die Zeit in den darauffolgenden Tagen schien stehen geblieben zu sein oder zumindest langsamer zu vergehen als zuvor. Ich brauchte dringend eine Beschäftigung, sonst würde ich die Warterei nicht länger aushalten, daher erschien es mir eine gute Idee mehr über Etylon zu erfahren. „Warum bist du im Kerker? Du bist doch ein Prophet." Das war eine berechtigte Frage, denn Propheten waren in Amaran geschätzte Schneekristalle und hatten in einem Kerker eigentlich nichts verloren. Etylon lachte abschätzig, musste dann aber husten, bevor er mir antworten konnte: „Sobald ein neuer Prophet in Amaran geboren wird, verliert der alte seine magischen Kräfte und sein Spiegel zerbricht. Normalerweise würde ich dem neuen Propheten alles lehren, was ich weiß, doch das wollte der König verhindern. Deswegen hat er mich in den Kerker werfen lassen. Außerdem bin ich ohne magische Kräfte nutzlos für ihn." Er grinste schief, als würde ihn das nicht stören, aber seine Augen sagten etwas ganz anderes. Als Prophet hatte er keine andere Lebensaufgabe als in die Zukunft zu sehen und den König zu beraten, daher hatte Etylon im Grund keinen Nutzen mehr für sich selbst. „Hast du eine Familie?" Vielleicht konnte man ihn wenigstens damit aufheitern, aber ich konnte ja nicht wissen, dass ihn dieses Thema noch näher ging. Er schwieg eine ganze Weile, bevor er wieder sprach: „Meine Frau ist bei der Geburt meines Sohnes gestorben und meinen Sohn habe ich schon lange nicht mehr gesehen." Ich bereute meine Frage, als ich die Trauer in seinen Augen aufflackern sah, bevor er sich wegdrehte und mir somit zu verstehen gab, dass er nicht weiter reden wollte. Niemand konnte diese Reaktion besser verstehen als ich, denn wir hatten beide scheinbar niemanden mehr.

Am Ende der Woche war mein Fluchttag gekommen und ich tigerte schon die ganze Zeit in meiner Zelle nervös hin und her. Meine Muskeln waren zum Zerreißen angespannt und ich wischte immer wieder aufgeregt meine verschwitzten Hände an meinem dreckigen Kleid ab. Es konnte jeden Moment losgehen und ich musste bereit sein. Im Gegensatz zu sonst saß Etylon nicht, sondern stand am Gitter und wartete. Schließlich quietschte die Kerkertür und jemand kam schnellen Schrittes auf unsere Zelle zu. Der hochgewachsene, dünne Schneekristall reichte uns eilig einen einzelnen Schlüssel: „Wartet, bis die nächste Patrouille hier war, bevor ihr geht. Viel Glück." Dann verschwand er wieder und Etylon betrachtete den kleinen grauen Schlüssel, bevor er mich ansah. Der Versuchung, einfach jetzt schon zu fliehen, zu widerstehen, war beinahe unmöglich, doch der Prophet strahlte eine Ruhe aus, die sich auch auf mich übertrug.

 

Nachdem die Patrouille ihren letzten Gang gemacht hatte und schon an der Kerkertür war, konnte ich es nicht mehr aushalten. Hektisch schloss ich die Tür auf und hörte Etylon noch „Warte" rufen, doch ich rannte bereits los. Die Wachen hatten mich bemerkt und liefen mir mit klirrender Rüstung nach. In der letzten Woche war ich mit dem Kristallschlossbauer immer wieder den Weg durchgegangen, bis ich ihn mir eingeprägt hatte. Jetzt musste ich mich unter Stress darauf konzentrieren, denn wenn ich einmal falsch abbog, würde ich in diesen Tunneln sterben. Am Anfang hatte die Bergkristallkugel der Wache noch meinen Weg ein wenig erhellt, aber nachdem ich einige Mal abgebogen war, umschloss mich absolute Dunkelheit. Ich hatte keine Ahnung wie ich hier jemals wieder raus finden sollte, allerdings waren die Gänge eng genug, sodass ich mit beiden Händen die Wände berühren konnte. So tastete ich mich weiter entlang und bemerkte auch den Gang rechts von mir, in den ich einbog. „Ab da nur noch grade aus", hatte der Kristallschlossbauer gesagt und ich stolperte den Gang weiter entlang, bis ich die Rufe der Wachen nicht mehr hören konnte. Schließlich erkannte ich einen winzigen weißen Punkt vor mir, der zunehmend größer wurde, je weiter ich lief. Irgendwann begriff ich, dass es sich dabei um das Tunnelende handelte und ich es wirklich geschafft hatte. Freude breitete sich in mir aus und die Anspannung in meinen Muskeln ließ nach. Ein Lächeln huschte über mein Gesicht und Hoffnung keimte in mir auf.

 

Es dauert einen Moment bis meine Augen sich an das grelle Tageslicht gewöhnt hatten, bevorich mich umsehen konnte. „Hier drüben", flüsterte eine tiefe Stimme und ich zuckte beinahe panisch zusammen. Im Gebüsch neben mir raschelte es, als der Schneekristall auf seinem Kajuk hervortrat und sich nervös umsah. „Djasch, freut mich, deine Bekanntschaft zu machen, aber wir müssen los", sagte er und hielt mir seine Hand hin. Mit einem letzten Blick in den Tunnel ergriff ich die starke Hand des Schneekristalls und ließ mir auf den Kajuk helfen, bevor wir losstürmten. Ich umklammerte Djasch, um nicht herunterzufallen, während wir auf die Cyltras Wälder zusteuerten. Wir würden eine Woche brauchen und in Badlan einen Zwischenstopf einlegen müssen, daher betete ich, dass uns niemand folgte, obwohl ich wusste, dass die Realität anders aussah. „Sie werden uns folgen!" Meine Stimme war dünn und piepsig geworden, doch Djasch war die Ruhe selbst: „Nein, sie werden erstmal damit beschäftigt sein, herauszufinden, wer die geholfen hat und wohin wir dich bringen. Dann werden sie diese Schneekristalle köpfen und erst dann werden sie uns folgen. Bis dahin ist unser Vorsprung allerdings groß genug, dass sie uns nicht einholen werden, bevor wir die Sumore Gebirge erreichen." Seine sachlichen Worte, die ohne jeglichen Gefühl waren, erzeugten Übelkeit in mir und ich fragte mich, wie ihm das Leben dieser Schneekristalle so egal sein konnte. Warum hatte ich Etylon nicht mitgenommen? Ich hatte ihn einfach zurückgelassen und jetzt würde er wegen mir sterben. Schuldgefühle überkamen mich und nahmen mir die Luft zum Atmen. Lautlose Tränen rannen mir über die Wangen und ich wusste, dass ich mein restlichen Leben mit dieser Last leben musste, Schuld am Tod vieler Unschuldiger zu sein. 

 

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Tag der Veröffentlichung: 20.05.2016

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