Alles im Leben hat ein Gleichgewicht.
Alle Seelen wandeln auf diesem Planeten, als gäbe es davon noch tausend andere.
Sie beschmutzen ihn und erhellen ihn.
Sie leben viele Tage und doch sind sie tot, nutzen ihre Zeit und verschwenden sie doch.
Die einen verdienen ihre Zeit, die anderen nicht.
Und dennoch ist jeder einzelne hier.
Sie laufen umher, bis ihre Zeit abläuft.
Unter ihnen wandelt der Seelenfänger, auch der Tod genannt, der Wächter des Gleichgewichts.
Unsichtbar, endlos, wartend.
Er sieht keine Gesichter, er sieht nur Schatten.
Erst sind sie weiß, dann werden sie immer dunkler, schließlich sind sie schwarz.
Dann ist ihre Zeit abgelaufen und sie werden vom Seelenfänger eingesammelt.
Keiner entkommt ihm.
Das Gleichgewicht zu wahren, ist sein höchstes Gebot, seine einzige Aufgabe.
Er ist unsterblich und doch wieder nicht, denn seine Macht ist bald verbraucht.
Aber die Welt braucht das Gleichgewicht, denn ohne sie, gäbe es Chaos.
Also ist er auf der Suche nach dem nächsten Wächter des Gleichgewichts,
dem nächsten Seelenfänger.
"Manchmal wartet man viele Jahre ohne zu wissen worauf, doch dann erkennt man in einer einzigen Sekunde den Sinn seines Wartens."
Seelenfänger:
All die Menschen, die er nur als einen weißen, grauen oder schwarzen Nebel wahrnahm, sahen ihn nicht. Er hatte viele Erscheinungen und doch war er immer der gleiche und auch die Menschen hatten mehr als eine Vorstellung von seinem Aussehen. Manche von ihnen sahen ihn als Geist im schwarzen Mantel, ohne Gesicht und Füße, aber dafür mit einer Sense in der Hand, manchen erschien er als Engel, andere brachten ihn mit dem Teufel in Verbindung und wieder andere hatten keine personifizierte Vorstellung von ihm. Er passte sein Äußeres den Menschen an, dessen Seelen er einfing. Waren sie in ihrem Leben keine gute Menschen gewesen, sahen sie den Teufel, waren sie gläubig, erschien er ihnen als Engel und akzeptierten sie ihn, so sahen sie kurz vor ihrem Tod seine wahre Gestalt. Der Seelenfänger war das, was die Menschen den Tod nannten, dabei erledigte er lediglich die einzige Aufgabe, die er zu vollbringen hatte: das Gleichgewicht zu wahren, der Grund seiner Existenz.
So lief er zeitlos durch die befüllten Straßen, in die hohen Häuser, in die kleinen Dörfer, denn für ihn war die Zeit bedeutungslos. Ob Tag oder Nacht war völlig unbedeutend, denn er schlief nicht, ruhte nie. Ununterbrochen nährte er sich von den Seelen, die er einfing. Die grauen Nebel, die ihn umgaben, würden bald Schwarz werden, ihre menschliche Hülle verlassen und dann war es an ihm, die Seelen einzufangen. Manchmal wartete er lange, bis er die Seelen endlich mitnehmen konnte, manchmal liefen sie ihm über den Weg und gingen wehrlos mit ihm. Er sah sich um. An sein Leben als Mensch erinnerte er sich nicht mehr und auch nicht daran, wie Gesichter aussahen. Er kannte nicht einmal seines, denn für den Spiegel war genau so unsichtbar wie für die Menschen. Aber im Moment machte er sich Gedanken um andere Dinge. Er war nicht sterblich, aber er spürte, wie seine innere Macht schwächer wurde, spürte, dass seine Zeit gekommen war, einen Nachfolger zu wählen. Bisher hatte er noch keine Seele gefunden, die dieser Aufgabe gewachsen wäre. Es musste eine der Seelen sein, die schwarz waren, doch alle, die er bisher eingesammelt hatte, waren danach apathisch geworden. Sie waren zu schwach und nutzlos für diese Aufgabe.
Die Straßen, durch die er gerade lief, waren überfüllt mit wandelnden Nebelwolken. Die meisten von ihnen waren noch strahlend weiß, aber da entdeckte er einen schwarzen Nebel in einem Auto. Es fuhr über die Ampel und er bemerkte schon von Weitem das Auto, welches die Kreuzung bei Rot überqueren würde. In so einem Moment verlangsamte sich die Zeit für ihn, sodass er sich die Szene wie einen Film anschauen konnte. Die beiden Autos würden kollidieren, also wartete der Seelenfänger, bis er seiner Bestimmung nachgehen konnte. An den Situationen konnte er nichts ändern, sie nicht verhindern, aber er empfand auch keine Trauer, denn er verstand die Wichtigkeit seiner Aufgabe. Das Auto, in dem der schwarze Nebel saß, drehte sich mehrfach um die eigene Achse und überschlug sich schließlich. Er glitt zu dem auf dem Dach liegenden Fahrzeug und machte sich bereit, die Seele in Empfang zu nehmen. Er sah, wie die Seele den Körper verließ und vor ihm schwebte, so wie er es gewohnt war. Auch nach dem Tod der Menschen sah er ihre menschliche Hülle nicht, nur ihre Seele. Sie alle waren unterschiedlich, auch wenn er das manchmal nicht an ihrer Erscheinung festmachte. Diese hier schillerte in vielen Farben, wie ein flackerndes, buntes Licht. Er streckte die Hand nach ihr aus, um sie zu berühren, doch die Seele wisch ein Stück zurück. Er versuchte sie zu beruhigen: "Deine Zeit ist gekommen. Gehen wir ein Stück gemeinsam." Unter ihnen auf dem Boden versuchten die Ärzte den Menschen wiederzubeleben. Bei jedem Stromschlag flackerte die Seele, als würde ihr die Energie ausgehen. Das kannte der Seelenfänger nicht, sodass er die Situation verwirrt beobachtete. "ICH WILL NOCH NICHT STERBEN!" Niemand schrie ihn an, er spürte diesen Willen eher innerlich. Der Seelenfänger blieb reglos stehen, während die Seele in ihren Körper zurückschoss. Der Mensch holte Luft, als hätte er für lange Zeit den Atem angehalten.
Plötzlich löste sich der Nebel um den Menschen auf und offenbarte ihm die menschliche Hülle. Der Seelenfänger erstarrte. So etwas war ihm erst einmal passiert und auch damals war sie ihm entkommen. Jetzt lag das gleiche Mädchen wieder hier und seine Griffe konnten sie nicht einfangen. Normalerweise passierte so etwas nicht und er war verwirrt darüber, dass die Frau sich hatte vor ihm verstecken können. Damals war sie jünger gewesen, ein kleines Kind, aber auch da schon hatte sie ihren Lebenswillen deutlich gezeigt. Mit dieser Situation war er überfordert, wusste nicht, was er tun sollte. Stattdessen konnte er nur stillschweigend beobachten, wie die Ärzte sie für die Fahrt in ein Krankenhaus bereit machten. Eigentlich hätte er sich um andere schwarze Nebel kümmern müssen, doch er folgte dem Krankenwagen. Laufen musste er nicht, er war einfach da, im Krankenwagen, als gehörte er zu dessen Einrichtung.
Am Krankenhaus angekommen, schwebte er mit in das Behandlungszimmer und betrachtete wie sie behandelt wurde. Sie bekam einen Gips um das Bein und einen Verband um Kopf und Brustkorb. Ihr Blick war abwesend, als schwelgte sie in Gedanken. Sie schlief einen ganzen Tag und noch einen halben, bevor sie wach wurde. Als sie erwachte, sah sie sich um und wirkte dabei sehr zerstreut, bis ihr Blick an ihm hängen blieb. Er schaute sich um, was es hinter ihm zu sehen gab, denn für Menschen war er nicht sichtbar. Aber da war nur die weiße Wand und das Fenster. Sie sah vielleicht in den Himmel, denn vom vierten Stock konnte man aus ihrer Position nichts anderes sehen. "Hör auf mich zu verfolgen", beklagte sich die junge Frau mit den rot gefärbten Haaren. Lange starrte er sie nur an, weil er es nicht besser wusste. Es verwirrte ihn schon genug, dass sie ihn offenbar sehen konnte. "Ich bin der Seelenfänger", begann er und rechnete damit, dass sie wie die anderen Seelen verwirrt war oder hysterisch wurde. "Hä? Tickst wohl nicht mehr ganz sauber. Ich rufe jetzt den Wachdienst." Jetzt verstand der Seelenfänger gar nichts mehr. Wusste sie denn nicht, dass er der Tod war und er sie holen kam? Wenige Minuten später kam ein weißer Nebel in das Zimmer und fragte die verletzte Frau, was los sei. "Schaff den Psychopathen mal hier raus, ist wohl aus der Psychiatrie ausgebrochen." Der Nebel entschuldigte sich nach kurzer Pause und verschwand aus dem Zimmer. Während die Rothaarige meckernd Selbstgespräche führte, kam ein etwas weniger weißer Nebel herein. Erst versuchte er es in einem ruhigen Ton, doch die Rothaarige blaffte ihn an. "Na, der Typ da!" Sie zeigte auf den Seelenfänger, der immer noch in der Ecke des weißen Zimmers stand und die Szene beobachtete. "Frau Letten, haben Sie Kopfschmerzen oder ist Ihnen schwindelig?" Die junge Frau sah ihn an, als konnte sie nicht glauben, was grade geschah. "Sind Sie blind?" schrie sie den Nebel an. Dieser aber ließ sich davon scheinbar nicht aus der Ruhe bringen und als ein zweiter Nebel in den Raum kam und der Rothaarigen ein Glas gab, fügte der erste grauweiße Nebel hinzu:"Aufgrund ihrer Kopfverletzung halluzinieren Sie vermutlich. Aber das wird nachlassen. Ruhen Sie sich aus." Die beiden Nebel verließen das Zimmer, dann wurde es ruhig. "Du hättest beim dem Unfall sterben sollen, denn ich bin der Tod, der dich mitnehmen sollte", versuchte er es erneut und war sich sicher, dass er sie damit zur Vernunft brachte. "Hör auf zu quasseln, ich will schlafen." Verdutzt starrte er die Rothaarige an, die nun die Augen geschlossen hatte. Ihre Atmung verlangsamte sich, sie war eingeschlafen. Nun war der Seelenfänger von den surrenden Geräten umgeben und suchte verzweifelt nach einer Erklärung.
Die nächsten Tage verbrachte der Seelenfänger nicht wie üblich damit, durch die Straßen zu wandeln. Stattdessen war er immer noch im Krankenhaus bei der Rothaarigen. Sie bekam immer noch diese Medikamente, die völlig überflüssig waren. Mehrfach hatte er versucht, ihr zu erklären, dass die Menschen ihn nicht sehen konnten, aber die junge Frau wollte ihm gar nicht erst zuhören. Von Respekt dem Tod gegenüber fehlte jede Spur. Er schüttelte abermals den Kopf und versuchte ein weiteres Mal mit ihr zu reden:"Mira...", damit endete sein Versuch auch schon, denn er bekam sofort eine motzige Antwort. "Woher kennst du meinen Namen? Du irrer Stalker!" Ihre Augen waren weit aufgerissen und sie waren bereits gerötet, weil sie zu wenig schlief. Er musste zugeben, dass seine Anwesenheit wohl nicht ganz unschuldig daran war. Aber dieses Zimmer verlassen würde er unter keinen Umständen, denn er brauchte sie. Ihm war bewusst, dass er aktuell seine wichtigste Aufgabe vernachlässigte und dennoch blieb er an ihrer Seite. Er überlegte immer noch, wie er ihr erklären sollte, dass sie der nächste Seelenfänger sein würde.
Eine solche Situation hatte er nur erlebt, als er selber zum Seelenfänger geworden war. Das war allerdings schon so lange her, dass er sich nicht mehr daran erinnerte, was sein Mentor ihm gesagt hatte. Hilfe bekam er schon nicht mehr, seit er seine erste Seele gefangen hatte. Von da an, war jeder Seelenfänger auf sich alleine gestellt, denn mit der ersten eigenständig gefangenen Seele endete praktisch die Ausbildung zum Seelenfänger. Während er ganz in Gedanken verloren vor sich her starrte, schnaufte Mira immer wieder. Ihr Blick huschte manchmal zu ihm und sie rollte die Augen, wenn sie dabei auf seinen Blick traf.
"Es gibt Dinge, die unsere Vorstellungskraft übersteigen,
jedoch schließt dies nicht deren Existenz aus."
Mira:
Seit ich wieder wach war, plagten mich ununterbrochen dumpfe Kopfschmerzen, die immer mal wieder zu Übelkeit führten. Vielleicht hatten die Ärzte meinen Verband am Kopf auch viel zu eng gewickelt. Von Ärzten hielt ich schon lange nichts mehr, seit ich damals nicht in der Lage gewesen waren, meine Eltern zu retten. Auch diese Tabletten gegen meine Halluzination, die mir diese weißen Milchmänner mir gegeben hatten, wirkten scheinbar bei mir nicht. Ich sah den gruseligen Mann in der Ecke meines Zimmers genau so deutlich wie vor der Einnahme der Tabletten und er versuchte immer noch mit mir zu reden. Allerdings hatte ich wenig Interesse daran, mich von einer Halluzination vollquatschen zu lassen. Wie konnten Halluzinationen nur so nerven? Verzweifelt suchte ich nach einer Beschäftigung, aber wenn man sich nicht bewegen konnte, war dies eine wahnsinnig schwierige Aufgabe. Das deprimierende, weiße Zimmer heiterte meine Stimmung auch nicht gerade auf und auch der einzige farbige Gegenstand im Raum war ein schlecht gezeichnetes Bild. Als wäre das alles nicht deprimierend genug, regnete es auch noch den ganzen Tag. Wirklich, ich verfluchte diesen Tag, ich verfluchte die verdammten Krankenhäuser und auch diesen Unfall, besonders den. Also blieb mir wohl nichts anderes übrig, als die verbleibende Zeit mit dieser nervtötenden Halluzination abzuwarten. Die Ärzte hätten mir ja wenigstens eine höhere Dosis der Medikamente gegen Halluzinationen geben können, aber DAS wollten sie natürlich nicht. Zu starke Nebenwirkungen. Alles Spinner hier.
Die ganze Situation frustrierte mich und ich langweilte mich, denn normalerweise verbrachte ich meine Tage damit, so viel zu unternehmen, wie es eben möglich war. Ich wollte jede Sekunde ausnutzen, die ich auf dieser Welt noch hatte. Ich musste früh lernen, dass der Tod einen jeden Moment holen konnte. Plötzlich wurde mir kalt und der unterdrückte Schmerz in meiner Brust, bekam das alt bekannte Brennen. Bis heute fragte ich mich, warum ich den Autounfall vor 16 Jahren überlebt hatte und meine Eltern nicht. Ich erinnerte mich zwar nur noch an wenige Moment mit meinen Eltern, aber es verging kein Tag, an dem ich sie nicht vermisste. Ich spürte die heiße Tränen auf meiner Wange und schmeckte ihren salzigen Geschmack auf meinen Lippen. Der Schmerz über den Verlust eines geliebten Menschen wird nie verschwinden und ich war der Überzeugung, dass jeder, der etwas anderes behauptete, lügt. Man lernt nur mit der Zeit damit zu leben, sich nicht mehr von der Trauer ersticken zu lassen. Obwohl ich seit dem Tod meiner Eltern bei meiner besten Freundin lebte und ihre Familie ihr Bestes gab, auch für mich eine Familie zu sein, war ich doch einsam. Es war, als fehlte ein Teil von mir selber, ein sehr wichtiger Teil. Wut machte sich in meinem Inneren breit, denn ich hätte tot sein müssen. Damals und auch heute, beide Unfälle waren tödlich und keiner konnte mir erklären, warum ich überlebt hatte. Wunder, hatten sie gesagt. Ich schnaufte verächtlich, denn es fühlte sich eher an, als wollte mich jemand quälen. Mein Blick traf den des Mannes in der Ecke und das brachte mich zum explodieren. "Was willst du von mir ? Verschwinde endlich!" schrie ich ihn wuterfüllt an und verkrallte mich in den wenigen Haaren, die nicht vom Verband verdeckt wurden. Den ziehenden Schmerz ignorierte ich. Mit zusammen gekniffenen Augen atmete ich einige Male tief durch, um meinen Puls wieder zu beruhigen. Als ich den Mann erneut ansah, wirkte er, als verstünde er die Welt nicht mehr. Offensichtlich brachte mein Hirn nicht grade intelligente Halluzinationen zustande. Ich schnappte mir die einzige Zeitschrift, die auf meinem kleinen Holztisch neben mir lag und blätterte durch die Seiten, aber nichts davon war interessant genug, um mich intensiver damit zu beschäftigen. Daher landete die Zeitschrift wieder auf dem Tisch und ich nahm stattdessen mein Handy. Vielleicht hatte ich Glück und meine beste Freundin Jill wieder vorbei kommen und mir Gesellschaft leisten. Kurz darauf brummte das Handy und sie entschuldigte sich, weil sie es vor morgen nicht schaffen würde. Genervt warf ich auch mein Handy zurück auf den Holztisch.
Wenigstens hatte ich dann morgen jemanden zum Reden und musste mich nicht den ganzen Tag alleine mit den Ärzten und dem düsteren Typ rumschlagen. Jetzt musste ich mir nur noch überlegen, was ich mit dem restlichen Tag anfing. Solange der Mann in der Ecke den Mund hielt, konnte ich ihn ja wenigstens näher betrachten. Er war groß, mindestens einen Kopf größer als ich, seine hellblonden, schulterlangen Haare umrahmten sein markantes Gesicht und seine braunen Augen fand ich gleichzeitig einschüchternd und anziehend. Im Grunde wäre er genau mein Typ, nur schade, dass mein Traumprinz leide nur eine Fantasie meines Gehirns war. Ich bekam langsam das Gefühl, dass mein Leben das alles mit Absicht machte. Beleidigt sah ich erneut auf mein Handy, um nach der Uhrzeit zu sehen. Halb 2. Großarig, dann waren es ja nur noch 4 1/2 Stunden bis es Abendbrot gab und sie mal wieder ein anderes Gesicht, außer das ihrer überaus intelligenten Hallouzination.
Seelenfänger:
Nachdem die junge Frau am Vortag ihren Frust an ihm und den Ärzten ausgelassen hatte, versuchte sie nun, den Seelenfänger einfach zu ignorieren. Das störte ihn aber nicht, denn er war damit beschäftigt, sich Sätze zurecht zu legen, die er zu ihr sagen konnte. Irgendwie musste er ihr deutlich machen, dass sie nun die Seelen einsammeln musste. Aber wie erklärte man einem Menschen, dass er eigentlich tot ist, obwohl er nicht tot ist? Der Seelenfänger wandelte zwar auch auf dieser Welt, aber er war tot, niemand sah ihn. Sie hingegen war tot und doch wieder nicht. Alle konnten sie sehen, sie hören, gingen mit ihr um, als würde sie noch leben. Keiner von ihnen spürte, was der Seelenfänger spürte und keiner von ihnen sah, was er sah. Die junge Frau im Krankenbett strahlte eine eisige Kälte aus und ein pulsierender, schwarzgoldener Nebel umgab sie. Auch sie selbst konnte den Nebel nicht sehen, solange sie ihre Bestimmung nicht akzeptierte. Er betrachtete sie, denn er hatte schon lange keinen Menschen mehr mit Gesicht betrachtet. Ihre blauen Kulleraugen strahlten nur so vor Lebensfreude, dass selbst der Tod es erkennen konnte. Er war allerdings der Meinung, sie sollte sich die zerzausten Haare kämmen und ihre kaputte, bunte Kleidung wechseln, die sie vor dem Unfall getragen hatte. Die ganzen Ketten und Metalle, die sie am Arm und an den Hosen trug, gefielen ihm auch nicht sonderlich. Ihre Haut wirkte durch das knallige Rot auf ihrem Kopf zu blass, aber sie passte dennoch gut zu ihren rosanen Lippen, dessen schöne Form durch die Metallringe verunstaltet wurde. Im Grunde war sie eine durchaus attraktive Frau, die sich unter dem ganzen Drumherum versteckte. Eine natürliche Schönheit strahlte nicht jeder Mensch aus, aber sie schon. Er sah durch ihre Fassade, denn sein wahres Ich konnte niemand vor ihm verstecken. Er konnte auch ihre Gefühle spüren, wenn er wollte. Seit er bei ihr war, spürte er ausschließlich Frust. "Ich verstehe, wie schwer das für dich ist, aber du musst deiner Bestimmung folgen." Obwohl sie genervt seufzte, hatte sie ihn tatsächlich ausreden lassen. Hoffnung keimte in ihm auf, dass sie nun zuhören würde. Leider war die Situation schwieriger als erwartet. "Man, hör auf mit dem Hirngespinsten. Ich muss gar nichts. Außerdem bist du nur eine Fantasie aus meinem Kopf." Damit war das Thema für die junge Frau wieder beendet und der Seelenfänger stand wieder am Anfang. Bald gingen ihm die Sätze aus, die er ihr sagen konnte und er wurde aus ihr einfach nicht schlau. Sie würde ihn auch weiterhin für eine Halluzination halten und er konnte ihr nicht einmal beweisen, dass er keine war.
Da er hier im Moment nicht weiter kam, widmete sich der Seelenfänger vorerst wieder seiner Aufgabe. Viel zu lange vernachlässigte er sie schon, nur um seine Nachfolgerin von sich zu überzeugen. Draußen auf den Straßen wimmelte es mittlerweile vor schwarzen Nebelwolken und erst jetzt spürte er, wie dringend er sich wieder nähren musste. Die Situation hatte ihn so in Anspruch genommen, dass er gar nicht bemerkt hatte, wie kraftlos er war. Nachdem er den letzten schwarzen Nebel eingesammelt hatte, seufzte er. Die alte Frau hatten seelenruhig auf ihren Sessel auf den Tod gewartet. Meistens wussten die Menschen, die schon lange auf dieser Welt gewandelt waren, wann ihre Zeit gekommen war. Daher begrüßte sie den Tod, der ihr als Engel erschien, beinahe schon herzlich. "Gehen wir ein Stück", sagte der Seelenfänger in einem ruhigen Ton. Die Seele der Dame begleitete ihn, während ihr Körper in dem Sessel blieb. Bevor er ihre Seele in sich aufnahm, begleitete er sie noch einmal durch ihr Leben, sah all ihre Erinnerungen, all die glücklich und auch die traurigen Momente. Dieser Prozess dauerte immer nur wenige Augenblicke, egal, wie lange der Mensch schon auf dieser Erde wandelte. Am Ende ihres Lebens hatte sie ihren inneren Frieden gefunden und verließ diese Erde bereitwillig.
Auch nachdem der Seelenfänger ihre Seele in sich aufgenommen hatte, spürte er immer noch eine innere Erschöpfung. Seine Kräfte schwanden und ihm lief, zum ersten Mal seit einer Ewigkeit, die Zeit davon. Er könnte dringend Hilfe gebrauchen, um das Problem mit Mira zu lösen, aber wen sollte er fragen? Seit sein Mentor gegangen war, hatte sich der Seelenfänger damit abgefunden, dass er alleine war. Er wusste schon gar nicht mehr, wie es war, mit jemanden zu reden. Vielleicht war er nicht sensibel genug mit Mira gewesen und sie brauchte einfach etwas Zeit. Schließlich bekam man nicht jeden Tag Besuch von einem hunderte Jahre alten Mann, der einem sagte, man sei tot. Mit neuer Motivation machte sich der Seelenfänger wieder auf den Weg in das Krankenhaus, in dem seine Nachfolgerin lag.
"Nicht alles ist einfach Schwarz oder Weiß,
dazwischen gibt es noch unendlich viele Grautöne."
Mira:
Da hatte ich es mir tatsächlich erlaubt zu glauben, meine Halluzinationen würden endlich nachlassen, aber dann musste ich zu meiner großen Enttäuschung feststellen, dass ich mich geirrt hatte. Netterweise kam der nette Herr wenigstens durch die Tür und jagte mir nicht wieder einen höllen Schreck ein, weil er einfach in der Ecke meines Zimmers erschien. "Du hörst wohl nie auf mich zu nerven, oder?" sagte ich genervt und wollte mit der Aussage eigentlich nur meinem Frust Luft machen, doch zu meinem Leidwesen hatte er das völlig anders verstanden. "Das ist nicht meine Absicht", gab er emotionslos zurück. Ich verdrehte genervt die Augen und blätterte erneut durch die überaus interessante Zeitschrift, die immer noch auf dem kleinen Tisch neben mir lag, wo ich sie zuletzt hingeworfen hatte. Hauptsache, ich musste nicht mit ihm reden und er ließ mich endlich in Ruhe. In diesem Krankenhaus gab es wirklich nichts Spannendes, daher beschloss ich, die Texte zu den vielen Bildern zu lesen, damit wenigstens die Zeit schneller umging.
Nachdem ich jeden einzelnen Satz, sogar die Quellenangaben, in der Zeitschrift gelesen hatte, hatte ich nun wirklich keine Verwendung mehr dafür und warf sie in den Papierkorb neben der Zimmertür. JNa ja, jedenfalls versuchte ich es. Einen Moment überlegte ich, was ich als nächstes tun sollte und entschied mich dann dafür, meine Halluzination auf psychologischer Ebene zu analysieren. Warum brachte ihr Kopf wohl eine Halluzination vom Tod oder Seelenfänger, wie er sich immer nannte? Vielleicht personifizierte er die Trauer um meine verstorbenen Eltern, denn anders konnte ich mir nicht erklären, warum mein Kopf eine solch emotionslose, kalte Halluzination schuf. Depressiv war sie auf jeden Fall nicht. Sie liebte ihr Leben, jede einzelne Sekunde. Schon früh musste sie am eigenen Leib erfahren, wie schnell das Leben vorbei sein konnte, wie einem die verbliebene Zeit in nur einer einzigen Sekunde genommen werden konnte. Daher wollte sie so viel Spaß haben, wie es nur irgendwie möglich war, bis diese bestimmte Sekunde gekommen war. "...nicht gerne mit dem Tod konfrontiert, wenn einem die Eltern bereits von mir genommen wurden." Bis grade hatte ich seine Rede mit meinem gedanklichen Selbstgespräch erfolgreich ignoriert, aber jetzt wurde ich aufmerksam. Ob es die Überraschung darüber war, dass er von meinen Eltern wusste oder ob es die Abneigung dagegen war, dass jemand das Thema laut ansprach, wusste ich nicht genau. "Was hast du gesagt?" fragte ich, obwohl ich den letzten Satz ganz genau verstanden hatte. Bisher hatte es jeder in meiner Umgebung vermieden, auch nur ein einziges Wort über meine Eltern zu verlieren und auch ich sprach dieses Thema nie an. "Ich sagte, dass du vermutlich Zeit brauchst, um deine neue Bestimmung zu akzeptieren. Deine Eltern waren wunderbare Menschen, die ihren inneren Frieden gefunden hatte, als sie mit mir gingen. Daher kann ich es gut verstehen, dass man nicht gerne mit dem Tod konfrontiert wird, wenn einem die Eltern bereits von mir genommen wurden. Er klang, als würde er grade erklären, wie man einen Ausatz schreibt. Nur die sich grade öffnende Tür hielt mich davon ab, ihn wütend anzuschreien, wie er so emotionslos über meine Eltern reden konnte.
"Mira, ich bin so froh, dass es dir gut geht!" kreischte meine beste Freundin Jill, bevor sie sich auf mich schmiss und mir damit die Luft aus den Lungen drückte. Ich gab japsende Geräusche von mir, weil ich vor Schmerzen leider zu nichts anderes mehr instande war. "Oh, tut mir leid. Geht's dir gut?" Jill war schon immer so ein Wirbelwind und daran hatte sich auch in den letzten Jahren nichts geändert. Nach einem Husten und ein paar kräftigen Atemzügen versuchte ich mein Glück mit einer hervorgepressten Antwort:"Den Umständen entsprechend. Meine Rippen schmerzen und ich habe ständig Kopfschmeruen. Aber das schlimmste ist...", ich machte absichtlich eine Pause, um Jill auf die Folter zu spannen und konnte mir dabei ein Grinsen nicht verkneifen. Sie wirkte, als würde sie gleich vor Neugier platzen. "Das schlimmste ist diese Halluzination." Jetzt wurden Jill's Augen ganz groß und sie sah aus, als bekäme sie einen Nervenzusammenbruch. Sie war ja schonmal am richtigen Ort für sowas. "Aber du wirst doch nicht sterben, oder?" fragte sie ganz aufgeregt. Verdutzt blinzelnd starrte ich sie an und fragte mich, ob sie die Frage grade ernst meinte. Auf diese Aussage hin, konnte sich auch meine Halluzination keine Schmunzeln verkneifen. Schließlich brach ich in schallendem Lachen aus, weil mir klar wurde, wie ernst Jill diese Frage tatsächlich meinte. "Nein, natürlich nicht", brachte ich dann noch immer lachend hervor. "Aber durch meine Kopfverletzung sehe ich diesen Typen in der Ecke, der mir wahnsinnig auf die Nerven geht", gab ich dann erklärend zurück. Jill entspannte sich und atmete erleichtert aus, aber nach einer kurzen Pause, in der sie vermutlich meine Aussage realisiert hatte, war sie schon wieder ganz aufgeregt. "Sieht er gut aus?" fragte sie dann grinsend und wackelte mit den Augenbrauen. Ich spürte wie ich rot wurde und ärgerte mich innerlich darüber. "Ja, eigentlich schon, wäre genau mein Typ, wenn er nicht nur ein Scherz meines Gehirns wäre", gab ich leicht beleidigt zu und mein Blick huschte unauffällig zu dem Mann in der Ecke, der starr aus dem Fenster sah. "Vielleicht ist er ja auch dein Schutzengel." Jill war nun ernst und das war fast so selten wie Sternschnuppen am Himmel. "Schließlich ist das schon das zweite Mal, dass du einen solchen Unfall überlebst", ergänzte sie schüchtern. Die erdrückende Stille breitete sich im Raum aus, während ich nachdenklich Löcher in die Luft starrte. Als meine Eltern damals beim Autounfall starben, hätte auch ich sterben müssen, aber wie durch ein Wunder kam ich ohne größere Verletzungen davon. Und auch diesen Unfall hatte ich überlebt, als wollte jemand nicht, dass ich starb. Ich betrachtete den Mann in der Ecke und versuchte mir vorzustellen, dass er ein Schutzengel war. Äußerlich könnte das durchaus passen, wenn man sich Engel als markellos schöne Wesen vorstellte, doch die Narbe über seine Wange bis auf seinem Nasenrücken und der lange schwarze Umhang passten so gar nicht in dieses Bild. Zumindest würde diese Vermutung allerdings erklären, warum er hier an meiner Seite war und ich zwei im Normalfall tödliche Unfälle überlebt hatte. Ich nahm mir vor, mich später vielleicht einmal mehr mit ihm zu unterhalten oder ihm zumindest einmal zuzuhören, wenn Jill wieder weg war.
Seelenfänger:
Ein Schutzengel? So hatte der Seelenfänger sich selber bisher noch nicht gesehen und ein Schutzengel war auch ziemlich das größte Gegenteil von dem, was er war. Außer, dass der weiße Nebel, der seine Nachfolgerin besuchte, eine völlig falsche Vermutung hatte, mit wem sie es zu tun hatte, war sie auch noch sehr anstrengend. Es überraschte den Seelenfänger immer wieder, wie schnell die Menschen redeten und dabei nicht einmal Luft holten. Seit sie das Zimmer betreten hatte, redete sie und die Rothaarige kam überhaupt nicht zu Wort. Allerdings war diese nun nicht mehr frustriert, seit sie Besuch hatte. Nachdem er festgestellt hatte, dass sie ihm zuhörte, wenn er von ihren Eltern redete, hatte er beschlossen, auch mit diesem Thema wieder ihre Aufmerksamkeit zu erlangen. Außerdem wollte er ihr Zeit geben, obwohl er selber nur noch wenig davon hatte. Er spürte, wie sich sein Inneres, seine Macht langsam auflöste, doch er verspürte keine Trauer oder Angst darüber, dass er sich selber auflösen würde und seine restliche Macht sich auf sie übertrug. Er übertrug ihr sogar gerne seine Macht, denn für ihn war seine Aufgabe das Wichtigste. Daher war es nur selbstverständlich, dass sie diese Aufgabe auch weiter erledigte.
Die Freundin von der Rothaarigen verließ am späten Nachmittag das Krankenzimmer mit dem Satz: "Halt mich auf dem Laufenden, was mit deinem heißen Schutzengel passiert." Zugegeben, der Seelenfänger fand die Freundin seiner Nachfolgerin trotz der ganzen Worte, die sie in einer Minute von sich gab, dennoch sehr amüsant. Jedenfalls hatte er schon länger nicht mehr geschmunzelt. Im Grunde war es ein kleines Wunder, dass er noch wusste, wie das ging.
Grade, als sein Schützling ihn ansah und den Mund aufmachte, kam wieder ein weißer Nebel herein. "Frau Letten, wie fühlen Sie sich heute?" Der Seelenfänger hatte erwartet, dass sie den Arzt wieder wegen ihrer vermeintlichen Halluzination anschrie, doch das tat sie nicht. "Meine Rippen schmerzen beim Einatmen und ich habe immer noch höllische Kopfschmerzen." Der Arzt räusperte sich: "Und Ihre Halluzination?" Jetzt betrachtete der Seelenfänger die Frau im Bett, die auf ihrer Unterlippe kaute. "Oh ja, ihre Tabletten sind super, die haben echt geholfen." Nach diesem Satz hoffte der Seelenfänger, dass sie nun offen war, ihre Aufgaben als nächster Seelenfänger zu übernehmen. Ein weiterer hellere Nebel kam in das Zimmer mit der Ankündigung, dass der Verband gewechselt werden würde und schob das Krankenbett in ein Behandlungszimmer. Dort wurde die Verbände um ihre Rippen und um ihren Kopf erneuert, während sein Schützling zunehmend ungeduldiger wurde. Immer wieder fragte sie, wie lange es noch dauern würde, obwohl sie am Abend nur noch das Abendessen erwartete. Ihre Augen fixierten ihn und es kam ihm vor, als wollte sie ihm mit den Augen etwas sagen, aber er verstand ihre Botschaft nicht. Als sie wieder alleine in ihrem Krankenzimmer waren, platze sie sofort mit der Frage heraus, die ihr scheinbar seit Stunden auf der Zunge brannte: "Du hast mir einiges zu erklären", forderte sie ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Jetzt war also der große Moment für den Seelenfänger gekommen und er hoffte, dass er sie nun endlich überzeugen konnte, seine Aufgabe zu übernehmen. "Ich bin der Seelenfänger und du bist meine...", doch sie unterbrach ihn. "Jaja, überspringen wir diesen Teil. Was ist mit meinen Eltern?" Kurz musste der Seelenfänger seine Gedanken neu ordnen, bevor er seinen Vortrag weiterführte: "Deine Eltern waren vorsichtige Autofahrer, aber der betrunkene Unfallverursacher hat das Auto deiner Eltern zu spät gesehen, als er um die Kurve fuhr. Sie waren sofort tot." Die Rothaarige wurde nun ganz still und er konnte ihren Blick nicht deuten. "Was auch immer du bist, erzähl mehr von meinen Eltern" sagte sie. Ihr Blick wurde nun geistesabwesend und sie wartete gebannt auf seine nächsten Worte. "Sie hatten ein gutes Leben und ihre Wünsche haben sich erfüllt. Du warst ihr größter Wunsch und alles, was sie für ihr Glück noch gebraucht haben." Auf diese Situation war er nicht vorbereitet, doch seine Fähigkeit nie eine Seele zu vergessen, war ein großer Vorteil. Glitzernde Tränen sammelten sich in ihren Augen und ihre Trauer überflutete ihn beinahe. Nach kurzer Zeit aber schlich sich ein zartes aber zufriedenes Lächeln auf ihre zarten Lippen und er spürte ihren inneren Frieden. "Sie sind glücklich gestorben", flüsterte sie zu sich selber. "Sie haben dich sehr geliebt", ergänzte der Seelenfänger noch und bekam dafür einen Blick, der ihn auf eine gewisse Art und Weise machtlos machte. Er war vermutlich das mächtigste Wesen auf dieser Welt, doch in diesem Moment konnte er den Blick nicht abwenden, sich nicht bewegen. In diesem Moment hatte sie weitaus mehr Macht über ihn, als er über sich selber.
"Du kannst vor deiner Bestimmung weglaufen, dich verstecken,
doch entkommen wirst du ihr nie."
Mira:
Das war das erste Mal, dass ich in dem Gesicht meiner Halluzination eine Veränderung sah. Eine Weile schwieg ich ihn an und starrte gedankenverloren an die weiße Wand gegenüber meines Bettes. Ich war dankbar für die Ruhe, dankbar, dass er mir die Zeit gab, jedenfalls redete ich mir ein, dass er das absichtlich tat. Genau sagen konnte ich es aber nicht, denn er wendete nicht ein einziges Mal den Blick von mir ab. Ich rückte nervös in meinem Bett rum, sofern das mit einem gebrochenem Bein möglich war. Seine Arme hingen regungslos neben dem schwarzen Mantel, der bis zum Boden reichte. Er sah fast gelangweilt aus, doch seine gestrafften Schultern und der aufrechte Stand passten nicht zu seinem Ausdruck. Er beobachtete mich und ich fühlte mich wie ein außerirdisches Wesen, das er zu ergründen versuchte. Ich sah wieder die Wand an. Bald müsste es Abendbrot geben und ich nahm mir vor, nach einer neuen Zeitschrift zu fragen. Oder besser nach gleich mehreren. Bewusst verdrängte ich den Gedanken an meine Eltern, denn ich war noch so jung gewesen, dass ich mich ohnehin nur noch schemenhaft an sie erinnern konnte. Natürlich hatte ich Bilder von ihnen gesehen, sogar sehr viele davon, aber das war immer noch etwas anderes, als eine lebhafte Erinnerung in seinem Kopf zu haben.
"Bin ich die einzige, die dich sehen kann?" Diese Frage hatte ich eher unbewusst gestellt, als hätte mein Mund plötzlich einen eigenen Willen. Ich hielt an der Vorstellung fest, dass er eventuell keine Halluzination sondern mein Schutzengel war, das machte es einfacher, als zu glauben, dass er der Tod war oder ich wirklich trotz der Tabletten halluzinierte. Zugegebenermaßen klang Seelenfänger, wie er sich immer vorstellte, nicht grade nach einem Engel, aber ich wollte nichts anderes glauben. "Nein, viele Menschen können mich sehen", antwortete er. Darüber musste ich einen Moment nachdenken, denn wenn viele Menschen ihn sahen, dann war er definitiv keine Halluzination und ich war auch nicht verrückt. "Dann hast du mehrere Schützlinge?" Wenn ich diese Frage laut aussprach, kam ich mir bescheuert vor, denn im Grunde redete ich mit jemandem, der streng genommen gar nicht da war. Ich stellte mir die Situation vor, wenn einer der Ärzte oder ein Mitarbeiter des Pflegepersonals hereinkam und eine Frau mit der Wand reden sah. Erst grinste ich nur, doch dann konnte ich mich nicht mehr halten. Vor lauter Lachen bildeten sich Tränen in meinen Augen und den Gesichtsausdruck meines Schutzengels, der wieder mal die Welt nicht verstand, fand ich fast ebenso amüsant. Nur mit Mühe konnte ich mein Lachen unterdrücken. Der Mann stimmte nämlich nicht in mein Lachen ein und je länger ich lachte, desto unangenehmer wurde es mir. "Tut mir Leid, lag nicht an dir", entschuldigte ich mich, immer noch mit einem Grinsen im Gesicht. Ich legte eine Hand auf meinen Bauch, der sich anfühlte, als hätte ich Muskelkater. Erst jetzt bemerkte ich den brennenden Schmerz an meinen Rippen und atmete tief ein und aus, um nicht zu jammern. Als der Schmerz wieder so weit verebbt war, dass es nur noch ein dumpfer Druck war, sah ich ihn aufmerksam an und wartete auf seine Antwort. "Nein, nur dich." Irgendwie wurde ich nicht schlau aus seinen Antworten, obwohl ich mich stets für einigermaßen intelligent gehalten hatte und kam mir grade vor, wie in einem der Filme, in denen erst einmal ein großes Rätsel gelöst werden musste, um an den Schatz zu kommen. "Wenn ich dein einziger Schützling bin, wer kann dich denn dann noch sehen und warum?" Ich erhoffte mir mit dieser Frage eine sehr ausführliche Antwort, die alles erklären würde. "Die Seelen, dessen Zeit gekommen ist, können mich sehen, bevor sie mich begleiten und ich sie aufsammle." Jetzt runzelte ich die Stirn. Diese Antwort erklärte gar nichts. Sie sorgte lediglich dafür, dass iche das Bedürfnis hatte, doch wieder diese Distanz vom Anfang zwischen uns zu bringen. "Ich geh nirgends mit dir hin und ich will auch nicht Teil deiner Sekte werden." Hoffentlich hatte er diese Ansage verstanden. Ich hatte mir besonders viel Mühe gegeben, frech zu sein und zur Krönung wendete ich das Gesicht von ihm ab. "Du musst..", begann er, aber das musste ich natürlich gleich unterbrechen: "Ich muss gar nichts. Das habe ich doch schon einmal erklärt." Nun schwieg er wieder. Gott sei Dank.
Als sich die Tür meines Zimmers öffnete und ich das Abendessen auf einem Tablett entdeckte, freute ich mich wie ein kleines Kind. Mein Magen brummte nicht mehr, er knurrte schon wie ein hungriges Tier. Normalerweise aß ich meine Brote mit Butter, aber das übersprang ich heute und stopfte mir das Käsebrot in den Mund. "Kann ich vielleicht noch mehr Zeitschriften haben", brachte ich zwischen dem Kauen noch so grade heraus, bevor die Krankenschwester das Zimmer verließ. Ich ignorierte gekonnt den leicht angeekelten Gesichtsausdruck, der mir klar machte, dass die Krankenschwester mich für eine unerzogene Göre hielt und biss erneut in mein Brot. Sonst ließ ich mir immer Zeit beim Essen, aber heute brauchte ich nicht lange, bis ich auch den letzten Brotkrümel verputzt hatte. Allerdings zweifelte ich daran, dass diese Krankenschwerster mein Zimmer überhaupt noch einmal betreten würde und ich sollte Recht behalten, denn zwanzig Minuten später kam eine andere Frau in mein Zimmer, legte mir die gewünschten Zeitschriften auf den Metalltisch und nahm das Tablett freundlich lächelnd entgehen, bevor sie das Zimmer wieder verließ. Gleich darauf schnappte ich mir eine der neuen Zeitschrift und blätterte darin herum, in der Hoffnung, etwas Interessantes zu sehen. Leider ohne Erfolg. Ich konnte es gar abwarten, bis ich endlich das Krankenhaus verlassen und mein Leben wieder genießen konnte. Eigentlich hoffte ich auch, dass ich diese Halluzination oder den Schutzengel oder was auch immer er war, loswurde, wenn es mir wieder besser ging. Ich würde den Arzt gleich morgen danach fragen, wie lange ich noch bleiben musste. Gelangweilt warf ich die Zeitschrift wieder neben mir auf dem Tisch. Warum konnte nie etwas Spannendes in diesen Zeitschriften stehen? Wen interessierte es schon, welches Kleid irgendein Promi bei irgendeiner Feier trug? Es interessierte ja auch niemanden, welche Kleider die normalen Leute bei ihren Festen trugen. Ich seufzte und spürte, wie meine Augen vor Müdigkeit brannten. Das Krankenbett war zwar nicht unbequem, aber eben auch nicht wie meines zu Hause. "Schläfst du eigentlich nie?" fragte ich geistesabwesend in den Raum, ohne den Mann in der Ecke wirklich wahrzunehmen. "Nein, nie", antwortete er in dem gleichen ruhigen Tonfall, wie schon die ganze Zeit. Widerwillig musste ich zugeben, dass seine Stimme mich ungemein beruhigte, sowohl meine Gedanken, als auch meine Gefühle. Daher war es kein Wunder, dass ich schon früh am Abend einschlief.
Seelenfänger:
Während die Rothaarige in ihrem Bett schlief, verbrachte der Seelenfänger seiner Zeit damit, sie zu betrachten. Was sollte er auch anderes tun, er schlief schließlich schon lange nicht mehr. Jetzt, da ihre Seele schlummerte, spürte er mehr als deutlich, wie sehr ihre Trauer um ihre Eltern und darüber, wie einsam sie war, am Tag von ihr verdrängt wurde. Aber da war auch diese gewisse Stärke, die diese junge Frau so besonders machte. Nur wer eine solche innere Stärke hatte, konnte auch eine solch starke Macht wie die des Seelenfängers bewahren. Er hatte Respekt vor ihr, denn obwohl er kaum älter gewesen war, als er zum Seelenfänger wurde, hatte er dennoch weniger Stärke gehabt. Sein Interesse, sein wahres, persönliches Interesse an ihr wuchs mit jedem Tag, den er in ihrer Nähe verbrachte. Er schwebte näher an die schlafende Frau heran und fragte sich, ob er sie wohl berühren könnte. Nicht ihre Seele, ihren Körper wollte er berühren. Schon lange hatte er keinen Menschen mehr berührt und es reizte ihn, herauszufinden, wie es sich wohl anfühlen würde. Langsam streckte er die blasse Hand nach der Wange der Rothaarigen aus. Es waren nur noch wenige Zentimeter. Doch...er hielt inne und ließ seine Hand wieder fallen. Eine innere Blockade hinderte ihn daran, sie zu berühren. Dennoch blieb er direkt neben ihr stehen. Sie kniff im Schlaf die Augenbrauen zusammen und drehte ihren Kopf von der einen auf die andere Seite. Der Seelenfänger beobachtete fasziniert, wie die junge Frau träumte. Offensichtlich gefiel ihr der Traum nicht, aber er konnte ihn nicht aufhalten. Er konnte nur abwarten, bis die bösen Dämonen aus ihren Träumen wieder von ihr abließen. Er spürte, wie ihre Seele gegen die Geister kämpfte und versuchte aus dem Traum aufzuwachen. Die weiße Decke raschelte, als ihre Hände nach ihr griffen. Aber so sehr sie es auch versuchte, sie erwachte nicht aus ihrem tiefen Traum.
Der Seelenfänger verließ das Krankenzimmer und wandelte über die leeren Straßen. Nur in den wenigen Kneipen der Straßen befanden sich ein paar weiße Nebelwolken. Die meisten anderen Nebelwolken lagen in ihren Betten und schliefen. Er sah sich um. Durch die Mauern der Häuser erkannte er die wenigen schwarzen Nebelwolken, dessen Zeit gekommen war. Er schwebte zu einer der Wolken in einem Hochhaus. Der Mann lag scheinbar friedlich in seinem Bett, doch seine Nebelwolke war bereits dunkelgrau und mit jeder Minute wurde sie noch dunkler. Der Mann würde gleich vor Schmerzen aufwachen, weil er einen Herzinfarkt bekommen würde. Seine Frau würde panisch den Notarzt rufen. Dieser würde versuchen das Leben des Mannes zu retten, aber bevor ihm das gelang, würde der Seelenfänger die Seele des Mannes bereits eingesammelt haben. Der Seelenfänger sah diese kurze Zukunft in einem Bruchteil einer Sekunde. In der Sekunde, als der Mann erwachte und vor Schmerzen jauchte. Er drückte sich die große Hand auf die linke Brust. Erst schrie er schmerzerfüllt auf, dann stöhnte er und schließlich hörte er auf zu Atmen. Als seine Seele den Körper verließ, war sie bereits sehr schwach. Gemeinsam mit dem Seelenfänger durchlebte er ein weiteres Mal sein Leben. Diese Frau war alles, was er sich je gewünscht hatte und er hatte nie eine andere Frau geliebt. Er war noch nicht bereit, sie alleine zu lassen, er wollte noch eine Weile bei ihr bleiben. Aber er schaffte es nicht. Der Seelenfänger nahm all die Trauer und Verzweiflung zusammen mit der Seele in sich auf. Er empfand nur ein schwaches Abbild der Gefühle, die die Seele beim Verlassen des Körpers in sich getragen hatte, aber es war genug, um den Seelenfänger für einen Moment an diesem Ort festzuhalten und die Trauer der Frau zu beobachten. Sie weinte bitterlich, als der Notarzt den Kopf schüttelte. Der Seelenfänger sah zu, wie sich die strahlend weiße Nebelwolke der Frau verdunkelte. Es war nur ein kleiner Hauch, der für das Auge eines Menschen vermutlich nicht erkennbar gewesen wäre, doch er bemerkte es. Dennoch würde die Frau noch lange ohne ihren Mann leben, bevor sie ihm folgte.
Der Seelenfänger sammelte noch drei weitere Seelen ein, bevor er in das Krankenzimmer der Rothaarigen zurückkehrte. Diese schlief nun wieder ruhig in ihrem Bett und hatte ihren Albtraum überwunden. Er überlegte erneut, wie er die rebellische junge Frau dazu brachte, ihren Aufgaben nachzugehen. Vielleicht sollte er an ihren Vorstellungen, von dem, was er war, anknüpfen. Doch diesen Gedanken verwarf er sogleich wieder. Er rettete keine Leben, er nahm Leben. Er war der Tod und kein Schutzengel. Er konnte sie in diesem Glauben lassen, um sich mit ihr zu unterhalten und ihr Vertrauen zu gewinnen, doch nicht, um sie ihren Aufgaben näher zu bringen. Schließlich entschied er sich dafür, ihr zunächst auf all ihr Fragen eine Antwort zu geben. So würde sie ihm vielleicht schlussendlich dann glauben, dass er der Tod war. Jedenfalls war es das, was der Seelenfänger hoffte.
Er betrachtete sie ein weiteres Mal genauer und war dabei fasziniert von ihre Besonderheit. Sie war wohl der erste Seelenfänger in der Geschichte, der untot war. Warum musste grade er diese schwierige Situation bewältigen? Die restliche Nacht verbrachte er damit gedankenlos aus dem Fenster des Krankenzimmers zu sehen.
Am nächsten Morgen bemerkte der Seelenfänger die Veränderung bereits, bevor die Rothaarige ihn mit einem "Guten Morgen" begrüßte. Sie hatte nicht nur akzeptiert, dass der Seelenfänger zu ihrem neuen Begleiter geworden war, sie war auch nachdenklicher geworden. Sie schwieg den Vormittag über, blätterte in keiner Zeitschrift und sah ihn nicht an. Stattdessen starrte sie nur an die Wand und runzelte immer wieder die Stirn. Irgendwann betrat eine Krankenschwester das Zimmer und brachte die Rothaarige zum Röntgen. Der Seelenfänger wisch dabei nicht eine Sekunde von ihrer Seite und wartete wie schon beim Verbandwechsel, bis sie wieder zurück in ihr Krankenzimmer gingen. Doch heute dauerte die Untersuchung länger. Als der Seelenfänger einen Blick auf die Röntgenbilder warf, verstand er auch sogleich die verwirrten Gefühle des Arztes und der Arzthelferin.
"Sieh in allem stets etwas Positives, denn es gibt genug Negatives."
Mira:
Die Untersuchungen dauerten heute viel länger als sonst und der Arzt war mir immer wieder seltsame Blicke zu. Stimmte etwas nicht mit mir? Verunsichert sah ich zu meiner Halluzination, die mich überall begleitete und hoffte, er würde mir sagen, was hier los war. Doch mal wieder verstand er meinen Blick nicht, daher fragte ich den Arzt schließlich doch selber: "Ist irgendwas?" Aufgrund seines Gesichtsausdrucks hatte ich das Gefühl, er wusste nicht so recht, was er mir sagen sollte. "Du heilst zu schnell", antwortete ihre Halluzination ganz trcoken, als wäre das nichts Besonderes. Der kam echt von einem anderen Stern. Verdutzt starrte ich ihn an und fragte mich langsam, wer von uns beiden verrückt war. "Frau Letten,äh..", stotterte der Arzt und räusperte sich, bevor er seinen Satz beendete:"Ich habe noch nie jemanden so schnell heilen sehen. Ihre Knochen sind schon fast vollständig verheilt. Ich schätze, in sieben bis zehn Tagen können Sie das Krankenhaus verlassen." Statt mich darüber zu wundern, freut ich mich einfach nur riesig darüber, dass ich bald die weißen Wände nicht mehr sehen musste. "Wir würden Sie gerne noch für weitere Untersuchungen hier behalten. Ihr Heilprozess ist beeindruckend!" fügte der Arzt hinzu und sprach endlich das aus, was er vermutlich schon die ganze Zeit wollte. Er klang dabei, als wäre sie die Bibel zu all seinem Glauben. Nun kam ich mir vor wie eine Laborratte und brachte kein Wort heraus. "Er wird keine Ruhe geben", sagte ich männliche Begleitung felsenfest. Ach wirklich, darauf wäre ich nie im Leben alleine gekommen. Hielt er mich eigentlich für dumm? "Das muss ich erst einmal mit meinen Pflegeeltern besprechen, aber ich möchte so schnell wie möglich wieder nach Hause." Hoffentlich reichte dem verwirrten Arzt diese Ansage, damit man mich wieder in mein langweiliges Krankenzimmer brachte. Das verstehen wir natürlich!, gab der Mann im weißen Kittel zurück. Ich verdrehte unauffällig die Augen. Als ob dieser Arzt je etwas anderes im Kopf hatte als seinem Beruf nachzugehen und seine Patienten zu nerven.
Zu meiner großen Freude war heute mein Glückstag: Die Krankenschwester, die ich gestern mit vollem Mund schmatzend nach den Zeitschriften gefragt hatte, war heute wieder da und sollte mich auf mein Zimmer bringen. Ich konnte genüsslich beobachten, wie sich die freundliche Mimik der Frau mittleren Alters schlagartig änderte, als sie sah, wen sie da über die Gänge schieben sollte. Das heitere meine Laune zum Leidwesen der Pflegerin richtig auf. Ich erzählte der Hexe in allen Details von meinen wilden Partys und wie ich mich danach an der Bar übergeben hatte. Dabei achtete ich besonders darauf, alles möglichst dramatisch darzustellen. Innerlich freute ich mich darüber, dass wir erst durch einige Gänge im Erdgeschoss, dann mit dem Aufzu in die 2. Etage und schließlich wieder durch mehrere Gänge mussten, bevor wir in meinem Krankenzimmer ankamen. So hatte ich genügend Zeit, ohne Punkt und Komma eine Geschichte nach der anderen zu erzählen. Mein persönlicher Höhepunkt war die Geschichte mit de verheirateten Paar im feinen Restaurant und ich war stolz auf meine eigene Kreativität. In dieser Geschichte war ich die Kellnerin und bediente das grade eingetroffene Paar. Schon zu Beginn machte ich der Pflegerin deutlich, wie gutaussehend der reiche Mann war und wie langweilig seine graue Maus daneben aussah. "Also zog ich mein Top besonders tief, den Rock besonders hoch und schmierte ausreichend roten Lippenstift auf meine Lippen. Bei der Vorspeise warf ich absichtlich das Besteck herunter und hockte mich dann so, dass der Mann einen guten Blick auf meine Brüste hatte. Für die Frau nicht sichtbar zwinkerte ich dem Mann zu und warf ihm Luftküsse zu. Beim Entfernen vom Tisch betonte ich meinen Hüftschwung, schließlich sollte der Mann auch hier etwas zu sehen bekommen." Die Pflegerin schüttelte entsetzt den Kopf, was mich nur noch mehr motivierte. "Beim Hauptgang schüttete ich Dusselchen dem Mann aus Versehen das Wasser über die Beine und versuchte dann mit einem Tuch die nasse Stelle in seinem Schritt trocken zu rubbeln. Ich leckte mir natürlich übertrieben leidenschaftlich über die Lippen. Die Ehefrau wurde vor Wut langsam ganz rot im Gesicht." Mittlerweile biss die Pflegerin die Zähne zusammen und ihre Nasenlöcher waren riesig beim Einatmen. Aber ich hatte Respekt, sie beherrschte sich wirklich sehr gut, aber das würde ich noch ändern. "Als die Ehefrau kurz auf der Toilette verschwand, ging ich zum Tisch und nahm das Hohe Trinkgeld an. 200€ ! Davon konnte ich mir eine Menge kaufen. Dann wartete ich, bis die Frau wieder am Tisch war und dankte dem Mann dann für die Nummer und versprach ihn anzurufen. Vorher hatte ich mir eine Nummer auf einen Zettel geschrieben, um damit zum Abschied zu winken. Das war ein Spaß sag ich Ihnen", beendete ich meine Geschichte. Die Pflegerin wollte mir offensichtlich den Kopf abreißen. Ihre Augen waren ganz groß und ich war mir sicher, dass sie ihr gleich ausfallen würden. Natürlich waren alle Geschichten frei erfunden, aber es amüsierte mich einfach köstlich, wie man im Gesicht der Pflegerin sah, dass sie mich für eine respektlose, unerzogene, verruchte Göre hielt.
Als ich endlich wieder in meinem Zimmer war und die Pflegerin ohne ein einziges Wort die Tür zuknaltte, brach ich in Lachen aus. Die Tränen strömten mir nur so über das gerötete Gesicht und es dauerte eine Weile, bis ich bemerkte, was los war. Plötzlich verstummte ich, während mein düsterer Freund in der Ecke sich vor Lachen nicht mehr einkriegte. Ich war beinahe schockiert über die Gefühlsäußerung des sonst so emotionslosen Mannes. Auch er wischte sich ein paar einzelne Tränen von den Wangen bis er langsam wieder ruhiger wurde. Ich hingegen fand diese Tatsache beinahe bedauernswert, denn mit einem so wunderwollen Lachen war mir der in schwarz gekleidete Mann wesentlich sympathischer. Schließlich verstummte er wieder und nahm wieder seine emotionslose Miene an. "Die Leuten würden dich mehr mögen, wenn du freundlicher aussehen und mehr lachen würdest", bemerkte ich ernst und sah ihn dabei eindringlich an. "Ich bin der Seelenfänger, ich bin nicht freundlich und man muss mich nicht mögen." Wow, mir fiel grade die Kinnlade herunter, denn so eine Abfuhr hatte ich noch nie bekommen. Irgendwie betroffen und verärgert zugleich wendete ich den Blick ab und nahm mein Handy. Zwei Nachrichten von Jill blinkten auf dem Bildschirm auf. Während die erste nur aussagte, wann Jill hier sein würde, verkündete die zweite schlechte Nachrichten, nämlich eine Überraschung. Mir graute es schon jetzt und ich ahnte nichts Gutes. Jill glaubte an so ziemlich alles, woran man glauben konnte. Superkräfte, Todesrituale und auch Einhörner eingeschlossen. Nachdem sie beschlossen hatte, dass meine Halluzination mein Schutzengel war, hat sie sicherlich irgendein Ritual geplant und mir blieb keine andere Wahl, als mitzumachen. Ich seufzte schwer. Manchmal fragte ich mich, ob Jill vielleicht eine Schraube locker hatte. Kein Mensch im Alter von 18 Jahren glaube noch an Einhörner, das war peinlich. Aber irgendwie war Jill die einzige richtige Freundin, die ich hatte und die Tatsache mit ihrem Glauben machte sie überaus liebenswert. Außerdem war Jill eine Garantie dafür, dass mein Leben niemals langweilig werden würde und das passte perfekt. Denn wenn es eines gab, was ich neben pessimistischen, depressiven, traurigen Dingen hasste, dann war das Langeweile. Ich lächelte vor mich hin und freute mich wie ein kleines Kind auf Jill.
Seelenfänger:
Schon lange hatte der Seelenfänger nicht mehr so herzhaft gelacht wie an diesem Mittag, aber er empfand Lachen als sehr angenehm. Eigentlich war der heute Tag ein Fortschritt gewesen. Die Rohaarige hatte sogar mit ihm geredet, ohne dass er den ersten Schritt machen musste. Doch irgendwie war es ihm gelungen, die Unterhaltung gleich im Keim wieder zu ersticken. Er konnte sich allerdings nicht entsinnen, was er falsch gemacht hatte, denn er hatte ihr ja schließlich geantwortet. Seitdem schwieg sie ihn an und beachtete ihn nicht mehr. Lange Zeit wandelte er unter den Menschen, hatte viele Menschenleben miterlebt, aber aus ihr wurde er nicht schlau. Sie war für ihn ein Rätsel und das kannte er nicht. Natürlich spürte er, dass sie frustriert und verletzt war, aber er konnte keine logische Verbindung finden, warum. Er sah aus dem Fenster und betrachtete die Straßen unter ihm, so viele schwarze Nebelwolken, die eingesammelt werden mussten. Bei den letzten Seelen, die er eingefangen hatte, wurde ihm bewusst, das es mit jeder Seele schwieriger wurde. Zwar war der Unterschied nur gering spürbar, aber dennoch wusste er, dass er da war. Die Rohaarige musste bald ihre Aufgaben übernehmen, sonst wäre er bald nicht mehr da und keiner würde das Gleichgewicht wahren. Zum ersten Mal in seiner Zeit als Seelenfänger machte er sich Sorgen. Es würde Chaos herrschen ohne den Seelenfänger!
"Warum runzelst du die Stirn?" Ganz irritiert über die Frage, die von der Rothaarigen kam, tastete er mit seiner Hand seine Stirn ab. Tatsächlich. Irgendetwas stimmte mit ihm nicht: erst das Lachen, dann die Sorge um seine Aufgaben und jetzt die gerunzelte Stirn. "Ich weiß es nicht", antwortete er ehrlich und bemerkte dabei, wie sich der Blick der Rothaarigen änderte. "An was hast du denn grade gedacht?" Jetzt war sie wirklich aufmerksam und vielleicht würde sie ihm auch zuhören. "Dort unten in den Straßen sind so viele schwarze Seelen, die auf mich warten. Ihre Zeit auf dieser Welt ist abgelaufen." Wieder sah er raus auf die Straßen, bevor er wieder seine Hand an die Stirn hob. "Dann geh doch runter", war ihr schlichte Antwort, denn sie Verstand das Ausmaß dieser Antwort offensichtlich nicht. "Ich bin nicht dein Schutzengel, ich bin der Tod." Obwohl sie ihn immer noch betrachtete, hatte der Seelenfänger sie ein weiteres Mal zum Schweigen gebracht. In seiner Aufgabe als Mentor machte er sich nicht besonders gut.
Die Tür zum Krankenzimmer ging auf und die Freundin der Rothaarigen kam hereingeplatzt. "Jill, das bist du ja endlich", ein Freudenruf entfuhr der Rothaarigen als sie ihre Freundin sah. Sogleich änderten sich auch ihre Gefühle zum positiven. "Tut mir Leid, dass ich so spät bin, aber da war dieser heiße Typ und dann hab ich die Haltestelle verpasst. Dann musste ich den ganzen Weg zurück laufen, aber ich hab dir was mitgebracht..." Jill redete viel zu schnell am laufenden Band und der Seelenfänger konnte dem Inhalt des Gesprächs nicht folgen. Aus ihrem Rucksack holte sie eine Schüssel, eine Kerzen, eine Wasserflasche und eine Packung Salz und stellte alles geordnet neben Mira auf den Tisch. "Ähm Jill, was soll das werden?" fragte die junge Frau im Krankenbett, doch ihre Freundin war zu beschäftigt, um ihr zu antworten. Sie füllte Wasser in die kleine Schüssel und stellte sie auf den Boden. Dann zündete sie die Teelichter an und verteilte sie um die Wasserschüssel. "Ich hoffe, dein komisches Ritual vertreibt auch den Tod", seufzte die Rothaarige und starrte den Seelenfänger dabei genervt an. Plötzlich blieb Jill wie angewurzelt stehen und ihre Augen wurden ganz groß. "Der Tod ist hier?" fragte sie entsetzt und sank dabei in sich zusammen. Die Rothaarige nickte:"Ja, meine Halluzination da in der Ecke hält sich für den Tod." Jill sah panisch zum Seelenfänger, ohne ihn zu sehen. Aber er hatte die Vermutung, dass sie ihn spüren konnte, denn sie hatte sich bereits unwohl gefühlt, als sie das erste Mal hier gewesen war. Die Freundin der Rothaarigen schnappte sich das Salz und schüttete etwas um das Krankenbett und auf die Fensterbank, dann sah sie sich im Zimmer um. Dann verteilte sie noch einige Handvoll Salz im gesamten Raum. "Hey, die Pflegerin kann mich ohnehin schon nicht leidern", warnte seine Nachfolgerin ihre Freundin. Diese grinste und verteilte noch mehr Salz auf dem Boden. "Dann wird sich dich nun hassen", lachte sie schrill. Die Rothaarige schüttelte den Kopf und setzte sich zu den Kerzen und der Wasserschüssel auf den Boden. "Das ist ein Schutzzauber", freute sich Jill und war ganz aufgeregt. Der Seelenfänger wusste, dass diese Rituale nichts bewirkten und betrachtete stattdessen die schwarzen Nebelwolken auf den Straßen. Eine Weile lang war es still im Raum, bis die Rothaarige, die Geduld verlor und seufzte. "Jill, deine Rituale haben noch nie etwas gebracht, erzähl mir lieber von deinem neuen Typen." Es dauerte nur wenige Sekunden, bis die Freundin der Rothaarigen das Ritual abbrach und stattdessen aufgeregt von dem jungen Mann erzählte, den sie heute kennen gelernt hatte.
Jill war nun schon seit Stunden da und die beiden unterhielten sich über neue Jungen an der Universität und Jill's Studium über irgendetwas mythologisches, was genau, wusste der Seelenfänger allerdings nicht. Langsam begann er zu verzweifeln, weil er mit der Rothaarigen einfach keinen einzigen Schritt weiter kam. Aber ihm gingen die Ideen aus, er wusste nicht, wie er sie überzeugen sollte. Er stand nun schon seit knapp zwei Wochen in ihrem Krankenzimmer und trotzdem war er immer noch am Anfang. In einer Woche würde sie das Krankenhaus verlassen und dann würde es noch schwieriger werden, ihre Aufmerksamkeit zu bekommen. Also hatte er noch genau sieben Tage, um sie in die richtige Richtung zu lenken, sonst war alle Hoffnung verloren. Das Chaos würde über die Welt hereinbrechen und ein kribbelndes Gefühl unter der Haut überzog den Körper des Seelenfängers. Er hatte Angst. Angst, dass alles aus dem Gleichgewicht geriet und er war daran schuld. Er begann hin und her zu laufen und als er merkte, dass er mal wieder die Stirn runzelte, rieb er sie sich mit der Hand wieder glatt. Wen konnte er nur fragen? Er hatte niemanden, den er um Rat fragen konnte, niemanden, der ihn auch nur sehen konnte. Es gab einige weniger Menschen, die ihn spüren, in vielleicht auch in ihren Träumen hören konnten, aber er hatte keine Zeit, einen solchen Menschen zu suchen. Die wenige Zeit, die er noch hatte, brauchte er, um die nächste Seelenfängerin auf ihre Aufgaben vorzubereiten.
"So lange du es nur träumst,
ist es ein Wunsch.
Sobald du es machst,
ist es das Leben."
Seine menschliche Gestalt löste sich in einem schwarzen Nebel auf und wuchs zu einer riesigen Wolke heran, bei der mein Herz sich beinahe überschlug. Im Zimmer wurde es urplötzlich eiskalt und düster, obwohl draußen die Sonne fröhlich schien und ein Frösteln schüttelte mich. Dann formte sich der Nebel zu einer neuen, größeren Gestalt, die von wirbelnden Rauch umgeben war. Das silberweiße Metall der Sense blitzte auf wie ein blendendes Licht und es schallte, als das lange Ende der Sense auf den Boden traf. Der zerfetzte Mantel wehte um seine Schultern, obwohl kein Luftzug durch den Raum ging. Skelettfinger umfassten den langen schwarzen Stab, während die andere Hand mit ausgestrecktem Finger auf mich zeigte. Jetzt ähnelte der Seelenfänger schon eher dem, was man als Tod kannte, doch es gab dennoch einen entscheidenden Unterschied. Er hatte weder einen Skelettschädel noch war er gesichtslos oder zumindest nicht ganz. Seine blass grau leuchtenden Augen schienen immer noch unter seiner Kapuze hervor, nur waren sie viel heller als sonst. Beinahe so hell, dass ich den Blick abwenden wollte. Aber meine Angst hatte mich so sehr gelähmt, dass ich froh war, noch zu atmen. Sein Gesicht war eine Mischung aus hellem Weiß und dem schwarzen Nebel, der ihn umgab, ich konnte es nicht beschreiben.
Als er sprach, war sein Mund ein schwarzes Loch:"Du benimmst dich wie ein kleines Kind!" Seine Stimme explodierte laut in meinem Kopf und sandte eine weitere Schockwelle durch meinen Körper. Die Angst, die ich so gut gebändigt hatte, brach in mir aus, als hätte sie nur auf den richtigen Moment gewartet. Sie brannte in meinen Muskeln wie ein Gift, das mich zum fliehen zwingen wollte. Und doch lag ich wie versteinert da, mein Blick hing immer noch an dieser unheimlichen Gestalt, die mittlerweile fast das ganze Zimmer einnahm. Lange körperlose Fäden von dem schwarzen Rauch, der ihn umgab, streckten sich nach mir aus und suchten im Zimmer nach etwas, das mir nicht bewusst war.
Die ganze schreckliche Szene dauerte nicht einmal fünf Minuten, aber sie fühlte sich an wie eine Ewigkeit. Der schwarze Rauch zog sich zurück und verdichtete sich, um sich dann in Luft aufzulösen. Der Seelenfänger verwandelte sich zurück in sein menschliches Erscheinungsbild und betrachtete mich, als wäre gerade nichts passiert. Bei mir hingegen dauerte es eine Weile, bis ich meinen offenen Mund geschlossen hatte und den Kloß in meinem Hals runter schluckte. Ich wollte gleichzeitig 100 Dinge sagen und doch lieber schweigen. Schließlich entschied ich mich ausnahmsweise mal dafür meinen vorlauten Mund zu halten und mich nicht länger lebensmüde zu verhalten.
Der Seelenfänger schüttelte leicht den Kopf und verschwand durch die Wand. Jetzt da seine Anwesenheit nicht mehr meinen Körper und meine Gedanken betäubte, beschäftigte sich mein Gehirn mit dem, was er gesagt hatte. Vorher hatte ich es gehört, aber es war nicht zu mir durchgedrungen, nun verarbeitete ich seine Worte. Ich stellte fest, dass ich mich tatsächlich wie ein kleines Kind verhalten hatte, obwohl mir meine Antwort vorher eigentlich gut gefallen hatte. Aber so langsam sickerte die Wahrheit durch mich hindurch und lähmte mich erneut, als sich plötzlich ein einziger Gedanke festigte: Ich werde sterben. Was nach dem Tod geschah wusste ich nicht, aber der Seelenfänger war ebenfalls tot oder jedenfalls so etwas in der Art. So oder so würde ich mich von allem, was mit diesem Leben zu tun hatte, verabschieden müssen.
Zeit. Wie viel Zeit hatte ich noch?
Natürlich gab es noch mehr als diese eine Frage, aber sie war die einzige, die noch wichtig war. Wie viel Zeit hatte ich, um mich zu verabschieden? Noch die Dinge zu tun, die ich tun wollte ? Zu akzeptieren, dass meine Zukunft unabänderlich war? Wie viel Zeit hatte Jill, um mich gehen zu lassen?
Ich hatte nie Angst davor gehabt zu sterben und es immer für einen Teil des Kreislaufs gehalten, aber es war nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Ich würde nicht das gleiche erleben, wie jeder andere Mensch. Und ich hatte gedacht, ich müsste mir erst in einigen Jahren darüber Gedanken machen. Doch die meisten Dinge verliefen anders, als man erwartet oder sich erhofft.
Was sollte ich jetzt machen?
Ich hatte das Gefühl, alles gleichzeitig machen zu müssen aus Angst, ich könnte nicht mehr genug Zeit für alles haben. Jill würde erst morgen wieder kommen und meine Pflegeeltern würde ich erst wieder sehen, wenn ich das Krankenhaus verließ. Mein Blick wanderte ziellos durch den Raum, als wäre er des Rätsels Lösung und blieb an meinem immer noch aufgeschlagenen Zeichenblock hängen. Wie vom Blitz getroffen griff ich danach, schlug eine leere Seite auf und begann beinahe hektisch eine Überschrift zu schreiben. Als ich den letzten Buchstaben niedergeschrieben hatte, hielt ich meinen Block eine Armlänge von mir weg und begutachtete meine Überschrift noch einmal. Unzufrieden radierte ich alles wieder aus und schrieb es nun fein säuberlich erneut.
Dinge, die ich noch erleben will...
Ich machte eine Pause. Es war schon das ein oder andere Mal vorgekommen, dass ich gedacht hatte:"Das möchte ich mal erleben." Allerdings gab es ein paar Punkte, die ich noch erleben musste, bevor ich diese Welt verließ.
1. Die Welt sehen
In den vielen Dokumentation, die ich bereits gesehen hatte, hatte ich so viele schöne Orte kennen gelernt. Ich wollte sie sehen, ich wollte sie alle sehen. Ich hoffte, dass Jill mich begleiten würde, denn es würde mir schwer fallen, sie solange zurück zu lassen. Wir waren bisher noch nie über längere Zeit getrennt gewesen und ich wollte auch nicht wissen wie es war, ohne sie zu sein.
2. Die Liebe finden
Ich wollte ein einziges Mal das fühlen, was Jill offensichtlich bei ihrem Christian empfand. Ich wollte das Kribbeln im Bauch fühlen, schwitzenden Hände haben, wenn ich verabredet war und das brennende Sehnen, wenn ich nicht mit meiner Liebe zusammen war. Ich wollte es einerseits, um mich selbst zu überzeugen, dass es so etwas hab und andererseits war ich ein wenig neidisch darauf, wie glücklich Jill war.
3. Fallschirm springen
Diesen kurzen Moment, in dem man fliegen konnte, wollte doch jeder einmal erleben und ich träumte schon davon, seit ich klein war.
4. Ein Wochenende durchfeiern
Natürlich hatte ich mir mit Jill schon das eine oder andere Mal die halbe Nacht um die Ohren gehauen, aber ich wollte wissen, wie es war ein ganzes Wochenende zu feiern. Ich war mir ziemlich sicher, dass Jill bei Schlafmangel noch aufgedrehter sein würde und wir eine Menge Spaß haben würden. Ein breites Grinsen schummelte sich auf meine Lippen und die Aufregung baute sich in mir auf. Diesen Punkt würde ich auf jeden Fall sofort abhaken, sobald ich wieder richtig laufen konnte.
5. Sebastian Erding die Meinung sagen
In der 8. Klasse hatte unser Klassenkamerad Sebastian uns immer geärgert. Er hatte sich über Jill lustig gemacht, weil sie damals geglaubt hatte, unter uns würden Magier leben. Mich hatte er gehänselt, weil ich damals pummelig war und zu den grauen Mäuschen gehörte. Heute war ich mir darüber sehr bewusst, wie vielen Männern ich den Kopf verdrehte.
6. Mich für den Umweltschutz einsetzen
Ich hatte mich schon immer für den Umweltschutz einsetzen wollen, aber im Glauben ich hätte noch genug Zeit, hatte ich es immer wieder verschoben. In dieser Sache war ich wie alle anderen Menschen, die sich nicht die Zeit nahmen, das zu tun, was sie wirklich wollen.
7. Einen One night stand
Hitze stieg mir in die Wange, denn dieser Punkt war mir etwas peinlich. Aber ich hatte keine Zeit mir etwas vorzumachen und ich hatte mich immer gefragt, ob guter Sex ohne Gefühle besser war als Sex mit Gefühlen. Und je länger ich darüber nachdachte, desto mehr Sinn machte dieser Wunsch für mich. Wenn ich für eine weitere Person Gefühle empfand, gab es einen weiteren Menschen, von dem ich mich verabschieden musste. Noch einer, dem ich das Herz brechen würde. Ich schluckte schwer und zwang meine Gedanken schnell in eine andere Richtung bevor sie mir die Luft zum Atmen nehmen konnten.
8. Eine Survivaltour
So etwas hatte ich schon immer spannend gefunden, wobei Jill mich bei einer solchen Tour sicher nicht begleiten würde. Ich stellte mir vor, wie sie mich schief ansah, während ich ihr sagte, dass sie nun eine Weile auf ihre warme Dusche, eine bequeme Couch und ihre Kuscheldecke verzichten musste. Ich lache laut auf. Sie würde aussehen wie ein kleines süßes Reh, das gerade von einem Hasen eine Moralpredigt erhalten hatte und große Augen machte.
9. Meinen Pflegeeltern danken
Selbstverständlich hatte ich mich schon oft "Danke" gesagt, aber ich wollte ein richtig großes Danke, eine riesige Zeitungsanzeige oder so etwas. Sie hatten so viel für mich getan, obwohl ich sie jedes mal an ihre langjährigen, verstorbenen Freunde erinnerte. Je älter ich geworden war, desto öfter hatte ich den von Kummer erfüllten Gesichtsausdruck von Emma gesehen. Und trotzdem hatte sie alles dafür gegeben, dass ich mich wohl fühlte und eine glückliche Familie hatte. Ich war so froh, Emma und Tobias zu haben, dass jedes Dankeschön der Welt zu wenig wäre. Eigentlich wollte ich mich nicht von meiner Trauer überwältigen lassen, aber angesichts meiner nicht so rosigen Zukunft, war ich nicht stark genug sie zu verdrängen.
Verzweifelt legte ich den Block auf den kleinen Tisch neben mir und beschloss, später meine Liste fortzusetzen. Es hatte keinen Sinn mir etwas vorzumachen und zu glauben, ich könnte akzeptieren, dass ich bald nicht mehr hier war. Ich wollte leben! Mehr denn je sehnte ich mich nach Abenteuern, die mir das Adrenalin durch die Adern pumpte und mich wissen ließen, dass ich nicht tot war. Ich hatte das Gefühl, mein Inneres würde mich verzerren, wenn ich weiter hier lag und nichts tat.
Schnell drückte ich mir die Decke aufs Gesicht und schrie hinein, um den aufgestauten Frust loszuwerden. Vielleicht würde ich bald explodieren oder noch einen Autounfall haben oder...ich würde aus Versehen so lange in die Decke schreien, dass ich erstickte. Das war zwar eher unwahrscheinlich, aber nichts war unmöglich!
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Der Seelenfänger wurde plötzlich von einer Welle der Wut und der Verzweiflung durchflutet. Er wusste, dass es nicht seine eigenen Gefühlen waren, aber es war eine neue Erfahrung, die Gefühle eines anderen so intensiv zu spüren. Er konnte die Empfindungen aller Seelen spüren, aber nur wie einen blassen Abdruck. Miras Gefühle hingegen waren in ihm, ein Teil von ihm, so wie er Teil von ihr war.
Seine dunkle Essenz drängte ihn die nächste Seele einzusammeln, während Miras Gefühle ihn zu ihr zogen. Für einen Moment war Mira stärker als seine dunkle Essenz, doch es reichte aus, um die Richtung zu wechseln und auf das Krankenhaus zuzusteuern.
Dort angekommen schwebte er in den zweiten Stock und glitt durch die dicken Außenwände in Miras Zimmer. Sie schrie erneut, doch ihre Decke dämpfte die Lautstärke, sodass es mehr ein tiefes Grummeln statt ein frustrierter Schrei war. Er sah ihr dabei aufmerksam zu, als würde ihm das helfen, sie zu verstehen. Seine Augen glitten über ihre gewellten, braunen Haare, über die Strähnen, die ihr ins Gesicht fielen. So wie sie die langen schlanken Finger in die Bettdecke krallte, wirkten Mira wie ein kleines, verzweifeltes Mädchen.
Als sie ihren Kopf wieder hob, entdeckte der Seelenfänger die bernsteinfarbenen Augen, die von langen Wimpern umrahmt wurden. Er dachte an den tötlichen Autounfall ihrer Eltern, erinnerte sich in jedes einzelne Detail. Während sie ihn wortlos ansah, durchlebte er mit ihr gemeinsam den Unfall ihrer Eltern erneut. Der Seelenfänger fasste sich an die Stelle, an der sein Herz einmal geschlagen hatte, als könnte er die Leere füllen, die nicht seine eigene war.
Tag der Veröffentlichung: 20.05.2016
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