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Kapitel 1

 

Der Wecker klingelte und nötigte mich aufzustehen. Gnadenlose sechs Uhr zeigte das Display. Ich quälte mich aus dem Bett und wie jeden Morgen sorgte die frühe Stunde für miese Laune. Es fühlte sich gut an schlecht drauf zu sein. Ich genoss das täglich wiederkehrende Ritual, das mir die nötige Energie für den Tag verlieh. Der perfekte Start in den Morgen. Wer braucht schon Kaffee oder ein ausgiebiges Frühstück, wenn einem Überheblichkeit und Verdruss als Brennstoff zur Verfügung stehen?

Eine halbe Stunde brauchte ich für die notwendigsten Hygieneabläufe, dann war ich bereit für meinen persönlichen Murmeltiertag. In freudiger Erwartung meine negativen Schwingungen an die Umwelt zu senden, begab ich mich in die triste Welt herbstlicher Dunkelheit.

Es war Montag, aber es hätte auch jeder andere Tag sein können. Meine Reisegesellschaft in der Straßenbahn variierte nur in Nuancen und war kein zuverlässiges Werkzeug zur Wochentagsbestimmung. Meine Müdigkeit an jenem ersten Morgen in der Woche besaß diese spezielle Wehmut eines Wochenanfangs. Die Reue, die vergangenen 48 Stunden nicht effizient genutzt zu haben, befeuerte meine chronisch schlechte Laune zu dieser Tageszeit.

Ich ließ mich in den gepolsterten Sitz fallen und musterte unauffällig die anderen gutgeschmierten Rädchen der Tretmühle, die wie ich schon am ersten Tag der Woche den Freitagabend herbeisehnten. Mein Blick blieb mitleidig an Mireille Mathieu hängen, die irgendwann letzten Monat eine verhängnisvolle Wandlung vollzogen hatte. Der Morgen als Penelope Cruz zu Mireille Mathieu geworden war, war einer der schwersten Schicksalsschläge in der Historie der Bahnfahrten gewesen und ließ mich an der Berufsehre ihrer Friseurin zweifeln. Alle Fantasien um ihre ungezügelte Lebenseinstellung verloren sich mit den Haaren und raubten mir sämtliche Illusionen. Solche kleinen Erschütterungen des eingeschliffenen Alltags waren die bemitleidenswerten Abwechslungen, die mein Leben regelmäßig bereicherten.

„Dresden Mitte“ tönte die mechanische Stimme aus dem Lautsprecher und als wäre es das Startsignal für die Eröffnung des Büffets, kam plötzlich Bewegung in die träge Menschenmenge. Mireille Mathieu streifte mich und der süßliche Geruch der Verführung raubte mir für einen Augenblick den Verstand. Ich wagte einen Blick in ihr Gesicht und verschiedene Varianten ihres Charakters erschienen vor meinem geistigen Auge. Die Müdigkeit verhinderte die Entfaltung einer ordentlichen Fantasie und so unterwarf ich mich erneut dem Leidensdruck des Morgenmuffels.

Kaffee. Um näher an den Nullpunkt der Laune-Skala heranzukommen, brauchte ich Kaffee. Der gelobte Ort, an dem der Koffeinpegel sein gewohntes Niveau erreichen sollte, befand sich im Bahnhof Mitte. Dabei war der Kaffee arg gewöhnungsbedürftig und wie so vieles nur ein Zahnrad im Getriebe der Alltagsmaschinerie. Ein sinnloses, denn die Maschine würde sich auch dann weiterdrehen, wenn ich einen kalten Koffeinentzug wagte.

Zehn Minuten brauchte ich, um im Ansturm der Koffeinjunkies an das begehrte Getränk zu kommen. Es wurde Zeit, mit der Beute die Ruhe des Bahnsteiges zu suchen. Kein guter Plan, denn dort erwartete mich der Arbeitskollege, dem ich zu dieser frühen Stunde lieber nicht begegnen wollte.

Zu spät für den „Hab dich gar nicht gesehen“-Ausweg. Ein kurzer Händedruck, ein gequältes „Moin“ und dann harrte ich der Dinge, die da kommen mochten. Nach zwei Minuten belanglosem Austausch von Büronichtigkeiten wurde er plötzlich konkret.

„Wie sieht es aus mit den Abschlusszahlen?“

Michael Müller. Bedarf es einer weiteren Erklärung seiner Persönlichkeit als dieser Name? Der Prototyp eines Büroangestellten. Der Durchschnitt vom Durchschnitt. Sein Pech war jegliche fehlende Individualität seines Namens. Dazu Halbglatze und Brille bei einer Größe von eins siebzig. Das „Billy“-Regal im Großraumbüro. Praktisch, nützlich und überall anzutreffen.

„Die Zahlen?“, fragte das überteuerte Möbelstück nochmals nach.

„Wir sind dran“, hielt ich die Antwort so allgemein wie möglich, um damit meinem Gegenüber zu verdeutlichen, dass keinerlei Interesse an einer Fortführung dieser Unterhaltung vorhanden war.

„Wir müssen diesmal unbedingt den Termin halten.“

Billys Welt bestand aus Zahlen und Terminen. Ich hatte keine Lust, an einem Montagmorgen Teil dieser Welt zu werden. Erst recht nicht, wenn die Stechuhr noch nicht mal angefangen hatte, die zähen acht Stunden runterzuzählen.

„Ich hoffe, Sie schaffen das mit der Budgetplanung.“

Hatte ich bisher Skrupel, ihn hier am Bahnsteig stehen zu lassen, überkam mich auf einmal das Verlangen, ihn vor den nächsten anfahrenden Zug zu werfen. Ohne jegliche Reue und ohne große Mühe, meine Ausrede als notwendige Tatsache zu tarnen, ließ ich ihn unter dem Vorwand der Zuckersuche für meinen Kaffee einfach allein.

Erneut übernahm der morgendliche Miesepeter das Kommando. Der hatte leichtes Spiel, seine pessimistische Grundeinstellung wieder in den Vordergrund zu rücken. Billy hatte gute Vorarbeit geleistet und zu meinem Unglück zeigte sich dieser Novembermorgen von seiner schlechtesten Seite. Dicker Nebel und leichter Nieselregen dienten als Futter für das zarte Pflänzchen mit dem Namen Morgenmuffel. Ich nahm einen großen Schluck Kaffee und hoffte auf eine belebende Wirkung.

Das Sitzesuchen in der Bahn glich der „Reise nach Jerusalem“, doch keiner wartete das Ende der Musik ab. Ich hatte keine Lust das Spiel mitzuspielen und so blieb ich gleich am Eingang stehen.

Ein etwa siebzigjähriger Mann, der mich an einen hektischen Loriot erinnerte und trotz seines gebrechlichen Aussehens keinen Sitzplatz abbekommen hatte, schimpfte abwechselnd über die Verspätung, die Menschenmassen oder die Jugend. Dabei gab es den einen oder anderen bösen Blick für mich. Ich war mir keiner Schuld bewusst. Mein Gewissen war rein, immerhin hatte ich den Tanz um die Sitze gar nicht erst mitgemacht.

Loriot beruhigte sich erst, als ihm doch noch ein Sitz angeboten wurde und so nahm die Fahrt ihren gewohnten ereignisarmen Verlauf. Nur zwölf Minuten später verließ ich die Bahn und auf dem kurzen Fußweg ins Büro entfaltete das Koffein langsam seine aufbauende Wirkung. Ich hoffte auf einen gemächlichen Einstieg in die Arbeitswoche und da ich keinerlei Rückstände abzuarbeiten hatte, ließ ich mich entspannt in den ergonomisch unkorrekt eingestellten Bürostuhl fallen.

Der Blick in das elektronische Postfach sah vielversprechend aus, denn dort schlummerte tatsächlich nur eine neue Nachricht. Großer Besuch war für heute angesagt. Einer der Teilhaber schickte sich an, seine Untergebenen mit der Ehre seiner Anwesenheit zu beglücken.

Seit zwei Wochen wurde fiebrig auf diesen Tag hingearbeitet. Die Fahnen wurden gehisst, ein ausgeklügeltes Büffet bestellt und eine ausführliche Anweisung an die einzelnen Abteilungen verschickt, wie dieser Tag möglichst erfolgreich und ohne große Peinlichkeiten ablaufen sollte.

Der Inhalt war mir weitestgehend unbekannt, denn dieses Machwerk aus vorgefertigten Textbausteinen machte es einem schwer, bis zum relevanten Teil der Anordnung durchzuhalten. Ich beschloss, meine Zeit wichtigeren Dingen zu widmen, da die Wahrscheinlichkeit den finanziellen Heiland auch nur zu Gesicht zu bekommen verschwindend gering war. Ohne schlechtes Gewissen verschob ich die Anweisung dahin, wo sie meines Erachtens am besten aufgehoben war: in den virtuellen Papierkorb.

Das Großraumbüro füllte sich langsam. Nach und nach trudelten sie alle ein und vermittelten das Bild von Kühen, die in ihre Boxen getrieben wurden, um die Milch in Form von Arbeitsleistung abzugeben. Da war Frau Schawatzki, die Stubenälteste. Ihre genaue Anzahl der Jahre in diesem Unternehmen variierte je nach Quelle, aber es gab Gerüchte von dreißig plus x. Ich erinnerte mich vage an ihren spartanisch gefeierten 50. Geburtstag vor zwei Jahren hier in den heiligen Hallen der Buchhaltung. Ein kurzes Intermezzo von Selbstgebackenem und Billigkaffee. Das würde bedeuten, dass sie ihre Zahlenschieberei mit Anfang zwanzig begonnen hatte.

War das eine Alarmglocke, die da kurz in den Windungen meines Verstandes läutete? Ich war 25 und das mahnende Beispiel saß mir quer gegenüber und verhieß keine zufriedenstellende Zukunft. Das Bild der jungen Ursula Schawatzki ließ meine nicht jugendfreien Fantasien nur dadurch abkühlen, weil ich mit dem fünfzigjährigen Pendant fast täglich aneinandergeriet. Trotz Abzügen in der B-Note durch die Siebziger-Jahre Frisur. Wie konnte eine Frau, der ohne Frage ein Opferaltar zur Erhaltung ihrer Schönheit zustand, sich im Laufe der Zeit so zu ihrem Nachteil verändern? Es war weniger der körperliche Niedergang, der mich an der Gerechtigkeit des Alterungsprozesses zweifeln ließ. Es war ihre dermaßen spießige Einstellung zum Leben, die sie jeden Tag aufs Neue jedem in diesem Raum beweisen wollte.

Frau Schawatzki, wie sie offiziell für neunzig Prozent der Belegschaft hieß, bekamen dreißig Jahre exzessive Finanzbuchhaltung überhaupt nicht. Etwas, das mir noch bevorstand, aber ich war mir sicher, dass ich es besser machen würde. Nein, ich würde keine neue Schawatzki werden. Immerhin war mein Name Jakubowski. Niklas Jakubowski. Buchalter für Pollmen-Industries.

Einer der wenigen Privilegierten, die Ursula Schawatzki bei ihrem Vornamen nennen durften, war Ernest von Talle. Ein Name wie ein Glockenspiel voller Anstand und Moral. Sicherlich ein wesentlicher Grund für Ursula, ihre Prinzipien hinsichtlich der bevorzugten Art der Ansprache etwas aufzuweichen. Dabei war Ernest so weit weg von adligen Umgangsformen, wie ich von einem befriedigenden Sexualleben. Er hatte eine direkte Art, schaffte es aber mit Hilfe seines Charms, seine teilweise derben Wahrheiten galant zu garnieren. In den zwei Jahren in diesem Großraumkäfig erinnerte ich mich nicht an einen ernsthaften Disput hinsichtlich seiner Aussagen. Der wohlklingende Name, aber auch sein fortgeschrittenes Alter und vor allen Dingen die Tatsache, dass er niemanden persönlich anfeindete oder anschwärzte, verschafften ihm den nötigen Respekt von Ursula und den Anderen. Für mich war er das Licht in der Dunkelheit der Bilanzbuchhaltung und wäre er dreißig Jahre jünger, hätten wir sicherlich das eine oder andere Bier miteinander getrunken.

Mir direkt gegenüber saß Mandy. Lange blonde Haare, 26 Jahre alt und der fleischgewordene Traum eines Porno-Junkies. Mit ihren blauen Augen und der makellosen Figur erfüllte sie jeden einzelnen optischen Punkt des Anforderungsprofils einer idealen Partnerin. Trotzdem schwang das Pendel meiner Einstellung zu Mandy in die negative Richtung. Es ist ein Fluch solch perfekter Wesen, dass sie sich ihrer Perfektion bewusst sind und damit eine Arroganz an den Tag legen, die diese Perfektion in das komplette Gegenteil verkehrt.

Selbst bei härtestem Liebesentzug kamen mir nie unkeusche Gedanken zu Mandys Proportionen. Den Vorteil ihrer natürlichen Schönheit kompensierte sie durch ihren Charakter in ein Nullsummenspiel. Mein offensichtliches Desinteresse an ihrem Auftreten als verkante Schönheitskönigin, sah sie als Affront, den sie mit permanenter Verachtung bestrafte. In Mandys einfachem Weltbild, das sich im Wesentlichen nach dem gesellschaftlichen Status richtete, existierte ich als notwendiges Übel, das sie mit aller Überheblichkeit dieser Welt in die Kategorie Sozialhilfeempfänger einordnete.

Deutlich höher in Mandys Gunst stand Bernd Schumacher, Leiter des Commercial Department. Ein selbst ernannter Macher. Ein 16-Stunden-Schufter. Eine Lichtgestalt des mittleren Managements, der der Überzeugung war, dass ohne ihn die Firma längst in den Niederungen der Bedeutungslosigkeit verschwunden wäre. Trotz durchschnittlichen Talents in finanziellen Angelegenheiten erklomm er erfolgreich die Karriereleiter und die finalen Stufen zum Geschäftsführer für finanzielle Angelegenheiten von Pollmen-Industries sollten die Krönung seiner Karriere werden.

Hubert Wendler, derzeitiger CFO, würde dieses Jahr seinen 65. Geburtstag feiern und in den wohlverdienten Ruhestand gehen. Es wurde gemunkelt, dass die Stelle intern besetzt werden sollte, was Schumacher in den beruflichen Olymp bringen könnte. Dieser allmächtige Zustand würde Mandy zur endgültigen Jüngerin machen. „The winner takes it all“, schoss es mir durch den Kopf. Bevor ich mir eine ordentliche Fantasie über diese gewinnbringende Liaison für Schumacher ausmalen konnte, vibrierte mein Mobiltelefon.

Eine Kurznachricht von Peggy, Lebensabschnittsgefährtin von Niklas Jakubowski. Ein schöner Selbstbetrug, denn wenn es nach ihr ginge (und das tat es in der Regel), war die Beziehung zwischen uns kein zeitlich begrenztes Intervall. Für Peggy gab es nichts Geringeres als die gemeinsame Ewigkeit. Eine Perspektive, die jeden Mann in eine gewisse Panik versetzte, weil es die Endlichkeit der eigenen Jugend heraufbeschwor. Im Angesicht von Ehe, Kindern und Haus mit weißem Gartenzaun, überkam mich die Furcht, wesentliche Dinge aufgrund lebenslanger Verpflichtungen zu verpassen.

War ich nicht ein Kerl, der zu höherem berufen war? Sportstar oder Schauspieler. Vielleicht taugte ich ja sogar zum Unterwäschemodel? Verdammt, warum fühlte ich mich dann wie Al Bundy? Gefangen in einer Beziehung, obwohl ich eigentlich Football-Star sein könnte. Hieß dessen Frau nicht auch Peggy? Bevor ich weitere Gemeinsamkeiten aufdeckte, beschloss ich, mich der Nachricht zu widmen.

„Hi Schatz J… I komme heute A. später…. Friseurtermin wegen sa… muss mi ja schö machen lol… vergiss nich das geschenk zu hol… (; hdl“

Das eigentlich Schlimme war die unausgesprochene Regel, auf dieses Gemisch von Buchstaben zu antworten. Ein einfaches „Geht klar“ entsprach nicht Peggys Richtlinien einer Beziehungs-Nachricht. Da musste mehr kommen. Erschwerend kam hinzu, dass ich mit wenig graziösen Fingern gesegnet war, was den Zeitaufwand für ein fehlerfreies Schreiben mindestens verdoppelte. Ein echtes Problem in diesem Großraumdschungel. Lesen einer Nachricht war das Maximum an privaten Zulässigkeiten. Mein erwarteter Aufwand für das Schreiben einer Antwort würde den Eindruck erwecken, dass ich mit meinen Aufgaben nicht ausgelastet war. Die eigene Produktivität würde um einiges abgewertet. Also musste die Antwort warten, bis zur offiziellen Frühstückspause.

Schumacher betrat den Raum. Seiner Stellung angemessen war er schon geraume Zeit anwesend. Er ließ es sich nicht nehmen seinen Untergebenen zu vermitteln, dass Montagmorgen um sechs Uhr ein natürlicher Arbeitsbeginn war. Es war seine persönliche Art, auf die Standesunterschiede innerhalb dieses Büros hinzuweisen. Mit gehetzter Mine stand er in der Tür. Sein gestresster Eindruck erlaubte ihm nur ein kurzes allgemeines „Morgen“, dann verschwand er in seinem separaten Büro.

„Der arme Mann. Muss jeden Morgen so früh raus.“ Mandys Sorge um ihren Chef ging ins Leere und diente eigentlich nur als Mahnung dafür, dass wir (insbesondere ich) den Einsatz unseres Vorgesetzten nicht genug zu würdigen wussten. Ich blieb ihr die angemessene Anerkennung dahingehend erstmal schuldig und widmete mich meinen täglichen langweiligen Aufgaben. Ich spürte den bösen Blick, den mir das Ignorieren ihrer Bemerkung einbrachte.  

Kurz vor der Frühstückspause passierte das Unausweichliche. Der eigentliche Höhepunkt des Tages wurde durch Schumachers hektisches Verlassen seines Büros angekündigt. Offenbar war der Teilhaber eingetroffen und der Hofstaat hatte nun seine Aufwartung zu machen. Ein elendiges Protokoll aus Small Talk, Schmeicheleien und Hoffnungen auf die nächste Stufe der Karriereleiter. Ein mögliches Schicksal, das auch mir drohte, sollte ich wirklich irgendwann mehr Ambitionen entwickeln als das Bearbeiten von Rechnungen.

Aus Mangel an Ehrgeiz ein eher unwahrscheinliches Szenario, aber Peggy hatte mir letztens unmissverständlich klargemacht, dass ein Buchhalter nicht unbedingt ihre Kriterien für einen Traummann erfüllte. Auf die Nachfrage, was denn ihr Traumprinz auf dem weißen Schimmel beruflich machen sollte, fiel ihr nichts Besseres ein als „Controlling“. Ich verkniff mir die Frage, was denn an einem Leben als Controller nun so viel aufregender sein sollte, als beim herkömmlichen Buchhalter. Ich vermutete, dass sie mich auf ihre eigene verschrobene Art auf einen Karrieresprung vorbereiten wollte. Dezente Andeutungen hinsichtlich möglicher Weiterbildungen oder sogar eines Studiums bestätigten meine Theorie. Alle ihre Freundinnen hatten Akademiker als Partner. Für ein Mädchen wie Peggy, das gesellschaftlichen Status an diversen Titeln festmachte, war ich damit ein nicht lange hinnehmbares Handicap.

Eine halbe Stunde verging und die eigentliche Frühstückspause fiel einer der Anweisungen zum Opfer, die in meinem virtuellen Papierkorb verrotteten. Offensichtlich war es nicht erwünscht, dass der Heiland die zahllosen Gehaltsempfänger ausgerechnet bei ihrer Pause zu Gesicht bekam. Die Fabelwesen von nimmermüden Angestellten würden einen nie wiedergutzumachenden Eindruck von Realität vermitteln, wenn sie sich in ungeahnter Menge zu der verdonnerten Pausenzeit in der Kantine drängten.

So galt für diesen Tag eine verlängerte Mittagspause, deren Beginn von der zweifelsfreien Abreise des finanziellen Heilsbringers abhing. Mein Blick fiel auf mein Telefon und die immer noch offene Antwort auf das Nachrichten-Kauderwelsch versetzte mich in Unruhe. Ein Vorbote drohenden Unheils. Ein prophetisches Talent, das sich selten irrte.

Es würde sogar legendär werden, aber das wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Mit wenig Tatendrang stürzte ich mich in die langweiligen Aufgaben eines Buchhalters, der seinen Büroalltag durch wilde Fantasien so erträglich wie möglich zu gestalten versuchte.

Mein Favorit handelte von Abenteuern in der Karibik, mit allem was dazugehörte. Sonne, Strand und jede Menge Frauen, die das Wort „Nein“ so selten verwendeten, dass eigentlich jede Bitte zur Selbstverständlichkeit wurde. Getrieben von medialen Einflüssen, surfte ich wie Patrick Swayze die höchsten Wellen oder diskutierte wie Robin Williams an exotischen Plätzen mit Reisenden aus der ganzen Welt tiefgründig über den Sinn des Lebens.

Heute drängte sich ein realistischerer Wunschtraum in den Vordergrund, der tatsächlich mit einfacheren Mitteln umsetzbar wäre, würde die Zahlenschieberei nicht meinen Geist so weit beanspruchen, dass ich nach Feierabend nur noch Konzentration für ein paar Artikel aus der Bildzeitung besaß. Das Erlernen einer neuen Sprache. In eloquentem Spanisch sah ich mich spannende Projekte in den hintersten Winkeln von Südamerika realisieren, um den gebeutelten Ureinwohnern wahlweise einen Brunnen oder eine Schule zu ermöglichen. Irgendwas Sinnstiftendes fiel mir immer mit dem Erwerb der neuen Sprache ein, das mich fernab von Rechnungen in idealisierten Vorstellungen nahe an die Heiligsprechung führte. In Wahrheit hielt meine Motivation höchstens bis zum Feierabend und die Freude auf die neuste Folge meiner Lieblingsserie schien mir dann wichtiger als irgendwelche Bildungserfolge am Amazonas.

Die Flucht klappte heute ohnehin nicht. Zu erdrückend war die Realität um Büro, Peggy und graue Tristesse vor dem Fenster. Statt Weltverbesserungsfantasien setzte sich das Elend der Zahlen durch, die ich bis an mein Lebensende in diesen verdammten Computer tippen würde. Ich schaute rüber zu Ursula, deren Historie als Vorbild für mein Schicksal diente. Pollmen-Industries drohte mein Lebensinhalt zu werden. Vernunft und Fleiß formten mich zum perfekten Buchhalter und meine Arbeitszeugnisse würden überquellen von Wörtern wie „gewissenhaft“ und „zufrieden“. Meine ganz persönliche Chiffrierung für die Personaler der anderen Pollmen-Industries dort draußen. Ein weiteres Rad im Getriebe, das für die gigantische Maschinerie namens Wirtschaft angepasst war.

Das Bürotelefon klingelte und der Name „Baumert“ zierte das Display. Leiter der IT. Ähnlich wie Schumacher, persönlich von Gott gesalbt. Die Tatsache, dass er sich herabließ, einen gewöhnlichen Angestellten anzurufen, bedeutete nichts Gutes. Im Geiste ging ich sie durch, die Möglichkeiten für den Ärger, den mir das Abheben des Telefonhörers gleich einbringen würde. Ich legte mich fest auf die Bezahlung der drei neuen Laptops für den Vertrieb, die ich am Freitagnachmittag abgelehnt hatte, da eine Begründung für die Verweigerung des deutlich billigeren Angebotes gefehlt hatte.

Natürlich kannte ich den Grund: Baumerts Schwager war praktisch der Hauslieferant für die IT und die sehr optimistische Preisgestaltung hatte in den letzten Wochen ungeahnte Ausmaße angenommen. Nicht, dass ich etwas gegen diesen Familienklüngel unternehmen konnte, aber es gab nun mal die Anweisung, solche Überteuerungen zu begründen.

„Willst du nicht rangehen?“, fauchte mich Mandy von der anderen Seite des Schreibtisches an. Ein Grund mehr, das verdammte Telefon bis in alle Ewigkeit klingeln zu lassen, nur um die Toleranzgrenze in Sachen Selbstkontrolle bei dem blonden Kurvenwunder zu ergründen. Es half nichts. Die Melodie des Klingeltons schien immer ungeduldiger zu werden.

„Jakubowski“, hauchte ich viel zu unterwürfig in den Hörer.

„Schumacher hier. Sofort ins Büro der IT.“ Das Knacken in der Leitung ließ keinen Widerspruch zu und die Kürze des Anrufes ließ nichts Gutes erahnen. Ich hatte Mühe, den Hörer nicht fallenzulassen, als ich ihn zurück auf das Telefon legen wollte. Was immer da oben an Ärger auf mich wartete, es würde doppelt unangenehm werden. Dass mir gleich zwei dieser Halbgötter aus der mittleren Managementebene den Kopf waschen wollten, war auch für mich neu. Meine Beine fühlten sich wie Blei an, als ich mich aus dem Bürosessel quälte.

„Da bekommt wohl jemand Ärger“, sagte Mandy feixend. Meine Unfähigkeit zu einer geeigneten Retourkutsche bedachte Mandy mit einem extra fiesen Lächeln. Normalerweise konterte ich mit einem personalisierten Blondinenwitz, aber mein Gehirn hatte bereits hundert Prozent seiner Rechenleistung für die bevorstehende Konfrontation in der IT freigeschaufelt. Trotzdem hatte es wohl noch Sinn für Humor, indem es mir diese Analogie zur Computertechnik darlegte. Blieb also nur Ignoranz für Mandy, was sie als Sieg auf ganzer Linie verbuchte. Egal. Der Montagmorgen steuerte auf seinen ersten negativen Höhepunkt zu.

In der festen Überzeugung, dass irgendwo aus den Untiefen des Archivs eine längst verschollene Guillotine nur für mich entstaubt und bereitgestellt wurde, stand ich vor Baumerts Büro. Noch immer war mir nicht ganz klar, warum ich mich auf dem Weg zum IT-Schafott befand. Auch wenn ich kein Freund von starren Regeln war, bei der Zurückweisung der Klüngelrechnung galten die Firmenprinzipien. In gutem Glauben, nichts Falsches getan zu haben, öffnete ich die Tür und betrat mit frischem Selbstvertrauen die Krypta der IT.

Natürlich gab es keine Guillotine, aber der Wunsch danach wurde übermächtig, als ich sah, was mich auf der anderen Seite der Tür erwartete. Ich hatte eigentlich zwei zähnefletschende Abteilungsleiter vor Augen gehabt, die alles daran setzen würden, mir die Dreistigkeit der Majestätsbeleidigung auszutreiben. Stattdessen überraschten sie mich mit einer Anhäufung von Schlipsträgern, die sich steif und bieder die technischen Hintergründe einer Serveranlage erklären ließen.

„Ich komme wohl besser später wieder“, stammelte ich und der Totalverlust des gerade erworbenen Selbstvertrauens ließ mich wie ein Guppy im Haifischbecken wirken.

„Kommen Sie rein“, forderte mich Schumacher auf. Seine Stimme klang eher besorgt als wirklich verärgert.

Krokodilssorge, hörte ich den Scherzkeks in meinem aufgewühlten Verstand, den ich glaubte, ganz tief in der Kiste der Vernunft verstaut zu haben. Er hatte recht. Die Sorge war geheuchelt. Das war unweigerlich auf die enorme Anzahl der Leistungsträger unserer Gesellschaft zurückzuführen, die hier ihre Anzüge zur Schau stellten, die locker den Gegenwert meines Monatsgehaltes hatten. Geschäftsführer, Teilhaber und andere Leute von ähnlicher Wichtigkeit ließen das an sich geräumige IT-Büro zu einem Hamsterkäfig schrumpfen.

„Ich bin enttäuscht von Ihnen“, rügte mich Schumacher. Er gab sich alle Mühe, dass seine Worte von der ansehnlichen Traube von Alphatieren gehört wurden. Offenbar vergeblich, denn die versteckten ihre Langeweile hinter einer Maske von geheucheltem Interesse

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 29.05.2023
ISBN: 978-3-7554-4353-7

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