Cover

Kapitel 1

Der intergalaktische Transporter setze rüde auf bei der Landung, als wollte der Pilot sein fehlendes Talent für das Fliegen unbedingt ein letztes Mal unter Beweis stellen. Kenya schaute in die Gesichter ihrer Begleiter und die Erleichterung über die Ankunft spiegelte auch ihren eigenen Gemütszustand wieder. Die holprige Reise hatte an ihren Nerven gezerrt und die Menge an Passagieren sorgte für gelegentliche Spannungen innerhalb des kleinen Schiffes. Sie schätzte die Anzahl auf 70 Leute, die von ihrem Gastgeber in der gesamten Galaxie eingesammelt wurden. Gemeinsam teilten sie die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Was diese Hoffnung rechtfertigte und warum ausgerechnet sie eine der Auserwählten war, darüber hüllte sich Talor in Schweigen. Eine seltsame Person, die jegliche Form sozialer Aktion mied und seine Gäste mit abwertendem Schweigen bedachte. Trotz dieser Verachtung für so jeden Passagier an Bord, scheute er keine Mühen sie an diesen Ort zu bringen.

Vier Wochen war es nun her, dass dieser vermeintliche Freier ausgerechnet nach Kenya verlangte. Prostitution war in ihrer Heimat Cayuse offiziell verboten, aber selbst die konservative Regierung sah in unbefriedigten männlichen Trieben ein unkalkulierbares Risiko. Also gab es einen weniger offiziellen Betrieb des horizontalen Gewerbes, der ausschließlich hinter verschlossen Türen stattfand. Der der perfekte konservative Schein blieb gewahrt und so duldeten die Behörden das schmutzige Geschäft mit der käuflichen Liebe. Ein Geschäft von dem sich gut leben ließ für Frauen, die bereit waren sich darauf einzulassen. Am Anfang kostete es Kenya sehr viel Überwindung dieses Gewerbe zu betreiben und obwohl sie schnell lernte damit zu leben, trat nach gut zwei Jahren eine Abstumpfung ein, die sich nicht ausschließlich auf den sexuellen Kontakt mit Freiern beschränkte. Sie hatte das Gefühl, dass ihre Seele mit jedem verdienten Jeton ein wenig abstarb. Im Wachstum ihres Zweifels am Sinn ihres Schaffens erschien dieser blonde Hüne, dessen Erscheinungsbild so untypisch für einen Bewohner von Cayuse war. Wortlos legte er zehn schwarze Chips auf den Glastisch, welcher das Zentrum des kleinen Apartments darstellte, das sie extra für ihre Dienste angemietet hatte. Ein unglaubliches Vermögen und während sie überlegte, ob alle Perversitäten diesen Preis rechtfertigten, überraschte er sie mit einem Angebot.

Alles Geld der Welt konnte sie damals nicht davon überzeugen Cayuse zu verlassen um einem ominösen Unbekannten in eine fremde Welt zu folgen. Er blieb sehr wage, was die Gründe betraf. Medizinische Studien konnte Vieles beinhalten und in der heutigen Zeit führten solche Arrangements schnell in unvorhersehbare Schwierigkeiten. Alles sprach dagegen, aber trotzdem befand sie sich hier auf diesem viel zu engen Transporter und wartete darauf genau in diese fremde Welt hinauszuschreiten. Ihre Gedanken hingen fest an diesem schicksalhaften Moment, in dem ihr der Blonde eine weitere Option eröffnete, die sie unfähig war abzulehnen.

Talor erschien und riss Kenya aus den Erinnerungen. Sie war gespannt, was hinter dieser Luftschleuse auf sie zukommen würde. Wenn sie Talors Gesichtsausdruck richtig deutete, würde er gleich etwas widerwilliges tun. Sprechen.

"Wir sind auf Cree gelandet. Steigt in die bereitgestellten Flugtransporter. Sie bringen euch zu dem eigentlichen Ziel." verkündete er mit monotoner Stimme.

"Was meinst du, ob da wirklich was Menschliches in ihm steckt? Ich schätze er ist nur ein Roboter, der auf Grund von Ölmangel total steif rüberkommt." raunte Benni leise in Kenyas Ohr. Talor verzog verächtlich eine Augenbraue.

"Das Gehör ist mit Sicherheit nicht menschlich." erwiderte Kenya ebenso leise. Benni war einer der wenigen auf die sie sich in den letzten Tagen eingelassen hatte. Er besaß eine humorvolle Art die Dinge zu nehmen, die er eh nicht beeinflussen konnte. Damit entschärfte er regelmäßig Kenyas überschäumenden Fantasien über Cree mit vollkommen überspitzten Witzen. Mehr als einmal konnte sie sich ein leichtes Lächeln nicht verkneifen hinsichtlich der neuen Bilder, die sie sich daraufhin in ihrem Geist formten. Wieder entstand dieser Film in ihrem Kopf, wie Talor sich mit einer altmodischen Ölkanne abquälte ein paar Tropfen Schmiermittel in diverse Körperöffnungen einzuführen.

Die Luftschleuse öffnete sich und aus der Dunkelheit schwappte ihnen aufgeheizte Luft entgegen.

"Beeilen Sie sich." begrüßte sie eine panische Stimme.

"Oh Gott. So viele. Sie haben nichts gesagt von Menschenschmuggel in dieser Größenordnung."

Ihre Ankunft war nichts Offizielles. Ein weiteres Puzzleteil im Mysterium ihrer Mission. Der Einzige, der vollkommen gelassen blieb war Talor. Er steckte dem Fremden etwas zu. Mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Jeton mit sehr dunkler Färbung. Das beruhigte den wachhabenden Beamten.

"Sie haben 30 Minuten, um die Leute hier wegzubekommen. Danach kann ich für nichts mehr garantieren." sagte er schnell und verschwand in der Dunkelheit von Cree. Wortlos ging Talor auf einen der bereitgestellten Flugtransporter zu und winkte die Hälfte der Passagiere herbei. Die Dunkelheit verhinderte eine Einschätzung der Umgebung, aber Kenya konnte ein paar spärlich beleuchtete Gebäude ausmachen, dessen Konturen auf einen Raumhafen hindeuteten.

Glaubte Kenya endlich der Enge des Transporters entkommen zu sein, wurde sie in ihrem neuen Gefährt eines Besseren belehrt. Sie standen dicht aneinandergepresst. Die Ausdünstungen ihres unmittelbaren Leidensgenossen stiegen ihr unangenehm in die Nase. Vermutlich roch sie selbst nicht besser, denn die sanitären Möglichkeiten auf ihrem bisherigen Flug waren nur spärlich vorhanden. Die Nachwirkungen mangelnder Hygiene trugen ihren eigenen Anteil zur angespannten Atmosphäre bei. Wenigstens mussten sie es nicht lange in dieser Enge aushalten. Keine halbe Stunde dauerte das Martyrium, dann wurden sie erlöst und als die Sonne die ersten Strahlen des Tages auf sie nieder schickte, eröffnete sich ihnen ein Naturereignis, dass keiner der Neuankömmlinge in dieser Form bisher gesehen hatte.

"Wow." entfuhr es Benny. Er bestaunte das satte Grün. Nervös fingerte er an seiner Kette. Ein kleines metallisches Kreuz, welches für ihn eine persönliche Bedeutung besaß. Leises Gemurmel in der Gruppe bestätigte die allgemeine Überraschung. Kenya brauchte nicht lange um ihr Denken zu ordnen. Warum zum Teufel sollte jemand diesen Aufwand betreiben, um sie dann hier mitten in diesem Dschungel abzuladen? Die Angelegenheit wurde immer abstruser und wieder nagten die Zweifel an der Richtigkeit ihrer Entscheidung hier herzukommen. Am Ende war es ihre einzige verbliebene Option geblieben. Nachdem sie lächelnd das finanzielle Angebot des blonden Hünen abgelehnt hatte, zog dieser ein Pad hervor und fing an zu lesen.

"Diagnose: GDG. Prognose: Bei ausreichender Medikation wird bei der Patientin eine Lebensspanne von etwa zwei Jahren erwartet." verkündete er trocken. Irgendwie war er an den traurigen Beweis dafür gelangt, dass das stückweise Absterben ihrer Seele nicht nur Teil ihrer Einbildung war. Einer ihrer Kunden hatte mehr als nur ein paar Jetons bei ihr hinterlassen. Sie selber hatte die Diagnose erst vor wenigen Tagen bekommen und offenbar nahm es ihr behandelnder Arzt nicht ganz so genau mit seinem Amtsgeheimnis.    

"Hier auf Cayuse ein Todesurteil. Auf Cree stellen wir Ihnen vollkommene Heilung in Aussicht." sagte er mit diesem Gesichtsausdruck aus geheuchelter Fürsorge. Benny riss sie aus den Erinnerungen.

"Da drüben gibt es Hütten." Er zeigte den Fluss entlang und Kenya entdeckte die perfekt in die Dschungelkulisse eingebetteten Gebäude.

"Die sollten langsam mal rausrücken, was von uns erwartet wird." raunte sie und musterte die wenigen Bewohner, die ihnen entgegen kamen.

"Das ganze sieht nicht nach einem Krankenhaus aus. Ich kann hier nichts Technisches ausmachen." Benny teilte jetzt das Misstrauen und als Talor sich vor die Neuankömmlinge stellte, waren aller voller Erwartungen.

"Ihr werdet jetzt den einzelnen Hütten zugeteilt. Bitte folgt den jeweiligen Betreuern." Das schien ihm genug Konversation gewesen zu sein, denn er war bereits im Begriff sich abzuwenden. Die wenigen Worte befriedigten keinen der Anwesenden.

"Moment." kam es irgendwo aus der Masse. Genervt wandte sich Talor wieder an die Menge.

"In Kürze gibt es eine Informationsveranstaltung zu den Dingen, die wir von euch erwarten." Wieder wollte er gehen, aber eine Frage zwang ihn sich weiterhin mit den Leuten abzugeben.

"Was ist mit dem Rest der Bezahlung?" wollte jemand wissen. Der größte Teil ihrer Begleitung war ausschließlich den Verlockungen des Geldes gefolgt.

"Ihr werdet demnächst über alles aufgeklärt." entgegnete Talor mit einer gewissen Abscheu in der Stimme. Die einzige Emotion zu der er sich ab und an mal hinreißen ließ, war Ablehnung. Keine gute Vertrauensbasis für medizinische Untersuchungen.

"Bei der ersten Analsonde bin ich raus." erschuf Benny wieder eines dieser Bilder in Kenyas Kopf, die dieses Mal nichts Beruhigendes hatten. Eine fremde Frau trat auf sie zu und fragte nach ihrem Namen.

"Kenya. Und wie ist deiner?" fragte sie unumwunden die blasse Gestalt, die zu jung für eine Krankenschwester schien. Das kurz geschorene Haar und das ausdruckslose Gesicht ließ sie wie ein geschlechtsloses Wesen wirken.

"Priorität 1." sagte sie kurz und ignorierte Kenyas Frage.

"Klingt wichtig." scherzte Benny. Er selber bekam nur die Priorität 3. Damit trennten sich ihre Wege vorerst. Mit ungutem Gefühl folgte sie der Unbekannten in einer der Hütten, dessen karger äußerer Anblick auf keinen großen Komfort im Inneren hoffen ließ. Tatsächlich befanden sich in dem einzigen Raum nur zwei Betten, die wenig bequem erschienen. Ohne ein weiteres Wort wurde Kenya allein gelassen.

Sie war verunsichert. Was sollte sie jetzt machen? Es galt mehrere Stunden zu überbrücken. Gab es Regeln in diesem Camp? Wenn ja, wäre es gut gewesen, ihnen diese nahezubringen. Diese Waldbewohner schienen allgemein ein Problem mit klaren Ansagen zu haben. Kenyas Verunsicherung schlug nach zehn Minuten Zögerns in Wut über die Maulfaulheit ihrer Gastgeber um. Gerade als sie durch die Tür ins Freie wollte um sich den erst besten Einheimischen zu schnappen und ihn gnadenlos mit Fragen zu löchern, wurde ihr Mitbewohner von der schweigsamen Einheimischen in die Hütte geführt. Auch er wurde einfach stehen gelassen.

"Priorität 1?" fragte sie ihn.

"Ja." antwortete er schüchtern.

"Bisher hat uns das noch keinen Vorteil gegenüber den Anderen eingebracht. Ich bin Kenya." sagte sie. Der Junge strahlte eine Unsicherheit aus, die weit über Schüchternheit hinausging.

"Coen." kam es leise zurück. Er hielt seinen Blick gesenkt.

"Gut Coen. Hast du eine Ahnung, was die von uns wollen?" fragte sie und erntete nur ein Schulterzucken.

"Na toll. Noch einer der ungern spricht." sagte sie mehr zu sich selbst.

"Warum bist du hier? Des Geldes wegen?" fragte sie ihn.

"Nein. Ich wollte einfach nur weg." sagte er kurz und leise. 

"Kann ich verstehen. Wo immer du auch herkommst. Dort draußen gibt es nicht viele angenehme Welten." Sie hoffte auf ein wenig Konversation, schon allein der Ablenkung wegen. Coen verweigerte ihr diesen Gefallen und blieb stumm.

"Auch gut. Dann rede nur ich. Ich kann hier keinerlei medizinische Einrichtungen erkennen. Verdammt, die haben nicht mal Strom hier und wenn wir Pech haben, müssen wir uns unser Abendessen zusammensammeln. Anderseits schmeißen die mit soviel Geld um sich, damit könnten sie Jahre lang im Luxus schwelgen." wieder bekam sie keine Reaktion.

"Was ich damit sagen will mein schweigsamer Freund. Ich habe das Gefühl wir werden hier hintergangen." Sie tigerte jetzt die Hütte auf und ab. Eine halbe Stunde plapperte sie vor sich hin, ohne auch nur ein Wort von ihrem schweigenden Zuhörer zu bekommen. Fast lautlos betrat dieses scheinbar geschlechtslose Wesen die Hütte, welches die beiden vor kurzem so kommentarlos stehen lassen hatte.

"Bitte folgt mir." sagte sie kurz und verschwand auch schon wieder nach draußen. Ein kurzer zweifelnder Blickkontakt mit Coen, dann folgten sie ihr ins Freie. Ihr Weg führte sie in eine Hütte am Rande der Siedlung. Als sie eintraten, erwartete sie eine Gruppe von Fremden, die an einem langen Tisch saßen. Drei Männer und eine Frau, die in dieser schlichten Einheitskleidung und dem nichtssagenden Ausdruck kaum voneinander zu unterscheiden waren. Nur derjenige, der sich als David vorstellte, schien nicht vollkommen befreit von menschlichen Regungen. Er war es auch, der das Reden begann.

"Willkommen auf Cree. Ich hoffe ihr hattet eine gute Anreise? Ich bin mir sicher ihr habt unzählige Fragen. Bitte. Habt keine Scheu." sagte er freundlich und deutete auf die freien Stühle. So überrumpelt wusste Kenya gar nicht wo sie anfangen sollte. Sie fragte das erst beste, was ihr einfiel.

"Wo sind wir hier?"

"Auf Cree." kam es oberlehrerhaft von der einzigen Weiblichen, die ihr als Vaja vorgestellt wurde.

"Ja schon, aber das ganze sieht nicht aus wie eine medizinische Einrichtung." 

"Die medizinischen Einrichtungen befinden sich außerhalb eurer Wahrnehmung." sagte David freundlich.

"Na gut. Bevor ich mich zum Versuchskaninchen hergebe, solltet ihr euren Teil der Abmachung erfüllen." forderte Kenya.

"Du hast dich der Wollust hingegeben." kam es verächtlich von dem Mann an Davids rechter Seite, deren Name Kenya vergessen hatte. Sie wusste mit dem Begriff "Wollust" nichts anzufangen, aber den beleidigenden Unterton und die Verachtung über die Art ihres Broterwerbs konnte sie aus jedem noch so unbekannten Wortgeflecht heraushören.

"Moral ist was für Leute mit Geld. Alle Anderen müssen sehen, wie sie den Tag überstehen." erwiderte sie scharf.

"Verzeiht die rüden Worte." versuchte David die Situation zu entschärfen.

"Heute Abend wirst du der ersten Behandlung unterzogen. In ein paar Tagen ist die Heilung komplett." fügte er an.

"So einfach. Und der Preis dafür? Welche medizinischen Untersuchungen werdet ihr durchführen?" fragte sie.

"Wir haben eine Methode gefunden kognitive Fähigkeiten deutlich zu verbessern."

"Kogni..." versuchte Kenya das Wort zu wiederholen.

"Wir machen schlauere Menschen." kam es verächtlich von Vaja.

"Werden die dann auch so herablassend wie ihr?" fragte Kenya und erntete nur nichtssagende Blicke.

"Priorität 1 bedeutet, dass ihr beide vermutlich am besten auf die Behandlung ansprechen werdet." erklärte David weiter.

"Wird es wehtun?" wagte auch Coen ein paar Worte.

"Ja." sagte David kurz und knapp. Kenya wollte protestieren, aber sie sah ein, dass ihr keinerlei Wahl blieb sich auf das Experiment einzulassen. Wenigstens waren sie ehrlich, was die Untersuchungen betraf.

"Na toll." quetschte sie nur heraus. Coen schluckte, aber er machte nicht den Eindruck als würde es ihn abschrecken. Zum ersten Mal fragte sich Kenya nach den Motiven ihres Begleiters.

"Auch wenn es vielleicht etwas unangenehm ist. Ich versichere euch, ihr werdet keinen bleibenden Schaden erleiden." versuchte David die aufkommenden Zweifel zu zerstreuen.

"Ich für meinen Teil habe sowieso keine Wahl." erwiderte Kenya und schaute auf Coen. Sie deutete sein Schweigen als Zustimmung.

"Gut. Dann beginnen wir jetzt mit den psychologischen Tests." sagte ausgerechnet der Mann, der bisher kein Wort verloren hatte. Er schien in der Hierarchie etwas tiefer zu stehen, als der Rest der Gruppe.

"Psycho... was?" fragte Kenya erneut unwissend.

"Am Anfang stellt er euch Fragen." erklärte David und erhob sich. Gemeinsam mit zwei seiner Begleiter verließ er die Hütte. Der verbliebene Cree schob ihr ein Pad hinüber.

"Welche der Zeichnungen passt nicht zu den Anderen?" fragte er trocken und begann ohne weitere Erklärungen mit den Tests. Kenya erkannte den Fehler in den präsentierten Bildern sofort. Weitere solcher Fragen zierten das Pad und obwohl der Schwierigkeitsgrad anstieg, konnte sie bis zur zwanzigsten Frage alle Aufgaben richtig beantworten. Ihre Konzentration ließ nach und es war nicht verwunderlich, dass sie einen Fehler machte. Coen schaffte es 27 Aufgaben zu meistern, dann erlöste sie der Unbekannte. Er gönnte ihnen eine Pause, bevor er sie im ähnlichen Takt mit Mathematik quälte. Beide kamen auf Grund von mangelnder Bildung nicht sehr weit. Bis zum Abend marterte sie der Cree mit den verschiedensten Formen von Aufgaben, dann führte er sie zurück in ihre Hütte. Kenya war geistig erschöpft. Noch nie musste sie ihr Gehirn über solch lange Zeit im tief roten Arbeitsbereich halten. Nach dem Abendessen bekam sie ihre erste Tablette gegen ihre Krankheit und deren schwummrigen Nebenwirkungen sorgten dafür, dass sie bis zum nächsten Tag durchschlief.

Am folgenden Morgen gab es weitere Tests, welche die motorischen Fähigkeiten beurteilten. Auch hier schnitten Kenya und Coen nicht besonders ruhmreich ab, aber jegliche Wertung durch den Cree blieb aus. Ohne irgendwelche Regungen oder Erklärungen notierte er die Ergebnisse. Über acht Stunden wurden Reaktionen, Wahrnehmungen und Stärke gemessen. Erneut völlig erschöpft, schluckte sie am Abend die zweite Pille und wieder schlief sie umgehend ein. Die Zeit schien dahinzurasen und die seltsamen Untersuchungen fühlten sich schon am dritten Tag an wie Routine.

"Womit quälst du uns denn heute?" fragte Kenya Kirt am nächsten Morgen. Es hatte mehrere Anläufe gebraucht ihm seinen Namen zu entlocken, aber Kenyas Unnachgiebigkeit in der Namensfindung hatte Kirt irgendwann entnervt aufgeben lassen.

"Willenskraft." sagte er kurz.

"Erwarte da nicht zuviel." erwiderte Kenya. Er zog zwei runde metallische Gegenstände aus seiner Tasche, die nicht größer als ein Hosenknopf waren. Er synchronisierte sie mit seinem Pad und brachte sie an den Köpfen seiner Probanden an.

"Denkt an eine Farbe, aber auf keinen Fall an Rot." forderte er und starrte auf sein Pad. Kenya musste unweigerlich an Rot denken.

"Und jetzt an eine Zahl, die keine 2 enthält." Wieder kam ihr unweigerlich die zwei in den Sinn, aber etwas in ihrem Inneren steuerte den Gedanken auf die drei. Es war nichts Eigenes, soweit war sie sich sicher. Eine äußere Einflussnahme, die sie nicht spüren konnte.

"Was war das denn?" grummelte Coen leise vor sich hin. Offenbar hatte er Ähnliches erfahren.

"Nun an eine Person, aber nicht an den jeweils Anderen." Diese unheimliche Kraft lenkte Kenyas Gedanken erneut weg von dem selbstgeschaffenen Bild von Coen. Dieses Mal wollte sie sich nicht so leicht geschlagen geben. Mit trotziger Konzentration schaffte sie es die Anweisung erfolgreich zu ignorieren und Coen in den Mittelpunkt ihres Denkens zu stellen. Sie glaubte für einen Bruchteil einer Sekunde etwas Überraschung in Kirts Gesicht zu erkennen. Weitere Anweisungen folgten, aber Kenya kannte das Prozedere bereits und hatte sie sich eine Art Schutzfunktion zurechtgelegt, die jede äußere Einflussnahme im Keim erstickte. Coen an ihrer Seite hatte noch keine passende Gegenwehr gefunden, denn sein Leid war ihm deutlich anzusehen.

"Was ihr da auch veranstaltet. Bleibt raus aus meinem Kopf." drohte sie. Kirt ignorierte sie und attackierte weiter. Es wurde Zeit für einen mentalen Gegenangriff. Sie musste es schaffen die eindringenden Gedanken in eine greifbare Form zu bringen. Wasser war der erste Begriff, der ihr einfiel. Den mentalen Damm hatte sie bereits errichtet nun galt es die invasiven Fluten zu stoppen, bevor das Bollwerk zu brechen drohte. Es war ihr Verstand und damit ihre persönliche Welt, welche sie nach eigenen Vorstellungen gestalten konnte. Kälte. Diesen Gedanken setzte sie in ihrem Kopf fest und als der fremde Zufluss zu einem riesigen Eiswürfel gefror, zerkleinerte sie diesen mit einem gigantischen selbst geschaffenen Eispickel. Kirt gab sich geschlagen und zog sich nicht nur aus ihrem Geist zurück. Das erleichterte Stöhnen an ihrer Seite zeugte von Coens Befreiung.

"Das war geistige Vergewaltigung." sagte sie sauer.

"Entschuldigung. Versuchte geistige Vergewaltigung." schob sie süffisant hinterher, als sie Kirts verwirrten Gesichtsausdruck sah. Nur wenige Sekunden, dann hatte er sich wieder unter Kontrolle. Er nahm ihnen die technischen Geräte ab und ließ sie ohne ein weiteres Wort zu verlieren in der Hütte allein.

"Ist wohl nicht so gelaufen wie er dachte." sagte sie zu dem vollkommen irritierten Coen.

"Er war in meinem Kopf und er hat ... " Coen fehlten die Worte.

"Deine Gedanken manipuliert. Du wusstest, dass sie fremd sind, aber du konntest nichts dagegen machen." ergänzte Kenya.

"Ja."

"Hör zu. Das ist deine Welt dort drin." Kenya klopfte an Coens Stirn.

"Du hast die Kontrolle. Es liegt an dir, sie dir nehmen zu lassen." erklärte Kenya. Ihr Leben auf Cayuse hatte es notwendig gemacht die Dinge in bestimmten Regeln zu halten und offenbar hatte sie instinktiv dieses Muster auf die geistige Penetration angewandt. Wie ein Freier, der die ohnehin schon weitgefassten Grenzen überschritten hatte, wehrte sie den Eindringling erfolgreich ab. Vermutlich hatte sie doch mehr Willenskraft, als sie sich selber eingestehen wollte.

Sie saßen zwei Stunden allein in der Hütte und zum ersten Mal kam so etwas wie Konversation zwischen den beiden zustande. Coen taute langsam auf und öffnete sich indem er seine Gründe für dieses Experiment preisgab. Anfangs musste Kenya öfter nachhaken in seinen Ausführungen, aber als sie selber Teile ihrer eigenen Leidensgeschichte über GDG offenbarte, bekam ihre Beziehung so etwas wie Vertrauen. Er stammte von Comox und obwohl diese Welt im Vergleich zu Lassik oder Eyak angenehm in ihrem Erschienungsbild war, zog er auf Grund von persönlichen Problemen diese medizinischen Experimente mit unbekannten Ausgang vor. Sie war sich nicht sicher über die genauen Hintergründe, aber die restriktiven Vorgaben bei gesellschaftlichen Verpflichtungen auf Comox ließen ihn dieses Wagnis eingehen. In ihrem Beruf hatte sie ein umfangreiches Wissen über männliche Charaktereigenschaften gesammelt und der Typ Coen war eindeutig die Schublade leidenschaftsloser Buchhalter. Männer, die es schafften sich beruflich stundenlang in langweilige Tätigkeiten zu vergraben um diese Langeweile als wesentliches Merkmal ihrer Persönlichkeit zu etablieren. Irgendwann wird ihnen diese Tatsache bewusst und in Zusammenhang mit ihrer Erfolglosigkeit bei Frauen landete dieser spezielle Typ Mann in Kenyas Apartment. Spätestens da stellten sie fest, dass ihre eigene Courage nicht ausreichte um ihre Sehnsucht nach Abenteuer zu befriedigen. Sie war sich sicher, dass auch Coen irgendwann diesen Punkt erreichen würde. Die Erkenntnis, dass er die falsche Wahl getroffen hatte und die von Sicherheit geprägte Langeweile eher seinem Wesen entsprach, würde ihn früher oder später ereilen. Im Gegensatz zu ihren Freiern hatte er nicht ohne Weiteres die Möglichkeit einfach kehrtzumachen.

Die gemeinsamen Umstände zwangen zwei Persönlichkeiten zueinander, die unterschiedlicher nicht hätten sein können. Das einzige verbindende Element war die Misanthropie. Auf der einen Seite stand eine selbstbewusste Kenya, die auf Grund ihrer Berufswahl Männer als triebgesteuerte Kreaturen ansah und Frauen eine moralische Arroganz vorwarf. Sie traf auf einen schüchternen und von Selbstzweifeln geplagten Einzelgänger, der unfähig war sich in der Welt zurechtzufinden und alle Anderen dafür verantwortlich machte. Paradoxerweise verband sie genau diese Gemeinsamkeit der Ablehnung jeglicher menschlicher Nähe und machte sie zu einer vorübergehenden Schicksalsgemeinschaft.

Kirt erschien und trotz seiner Fassade aus Gleichgültigkeit konnte er seine Aufregung nicht vollkommen verstecken. Was immer auch Kenya mit ihrer erfolgreichen Abwehr in ihm zum Rumoren gebracht hatte, es schien ihn zu belasten. Mit gewohnter Wortkargheit bat er die beiden ihm zu folgen und als sie in einer Hütte mit unterirdischem Geheimgang verschwanden, ließen sich auch Kenya und Coen von seiner Aufregung anstecken.

Über eine halbe Stunde folgten sie einen in den Felsen getriebenen Stollen, bis er unspektakulär vor einer schlichten Tür endete. Für das elektronische Schloss benötigte Kirt einen aberwitzig langen Zugangscode, den er eine gefühlte Ewigkeit über das Bedienfeld eintippte. Ein leises Klick zeugte von der richtigen Eingabe und als er die Tür öffnete, erhellte Tageslicht den dunklen Gang. Die Verwirrung war groß bei Kenya und Coen. Wenn sie ihrem eigenen Geist noch trauen konnten, befanden sie sich mehrere Meter unter der Oberfläche. Wie zum Teufel kam dann die Sonne in diesen unterirdischen Raum?

Nachdem sich ihre Augen an die unverhoffte Helligkeit gewöhnt hatten, traten sie durch die Tür. Hatte schon das Tageslicht für vollkommenes Unverständnis gesorgt, verwirrte sie das darunterliegende Tal vollends.

"Was ist das?" schaffte es Coen dieses Mal als erstes die passenden Worte zu finden. Sie standen auf einer Plattform und unter ihnen befanden sich... Was befand sich da eigentlich? Kenya war es unmöglich die vielen Unwahrscheinlichkeiten zu erfassen. Waren das Berge am Horizont? Unmöglich. Normalerweise sollte es keinen Horizont hier unten geben. In der Ferne erkannte sie eine Stadt und die Bewegungen in den Gassen ließen auf Bewohner schließen.

"Da haben wir wohl eure medizinische Einrichtung." schlussfolgerte Kenya. Kirt ließ sich zu keiner Antwort hinreißen.

"Wir sind aber unter der Erde?" fragte Coen immer noch verblüfft.

"Ja." antwortete Kirt kurz und begann eine Treppe hinabzusteigen, die in der Masse der ganzen Unwahrscheinlichkeiten Kenya bisher gar nicht aufgefallen war. Sie folgten den scheinbar freischwebenden Stufen in die Tiefe und obwohl die Angst mit jedem Schritt mitschwang, siegte die Neugierde über das Mysterium zu ihren Füßen. Unten angekommen wehte ihnen eine leichte Brise ins Gesicht. Sie bestiegen einen Transporter, der sie in die nahegelegene Stadt brachte. Es war unglaublich wie schnell ihr Gehirn die Täuschung akzeptierte.

"Ich weiß, du bist kein Freund vieler Worte, aber hierzu solltest du schon mal was sagen." richtete sich Kenya an Kirt. Nicht wenig überraschend blieb er schweigsam.

Sie passierten ein paar Häuser am Stadtrand und der makellose Zustand der Bauten passte nicht in das übliche Bild der sanierungsbedürftigen Gebäude der Städte von Cayuse oder Comox. Vielleicht waren die Fassaden ähnlich falsch wie die Berge am Horizont. Da Kirt immer noch jegliche Informationen verweigerte, blieben ihnen nur die Spekulationen.

Sie hielten im Zentrum der Stadt und obwohl die Strassen von Menschen gesäumt waren, konnte Kenya nicht den üblichen Trubel ausmachen, den solch eine Menge an Leuten unweigerlich hervorrief. Ihr kam das Bild eines gezähmten Volkes in den Sinn, dem man verboten hatte laut zu sein oder zu sprechen oder andere nervige Geräusche zu verursachen. In diese selbstgeschaffene Vorstellung passte die Einheitskleidung und da man offenbar auch dem Friseur nicht viel Abwechslung bei seinen Frisuren zutraute, waren die übermäßig jungen Bewohner selbst in ihrem Geschlecht schwer zu unterscheiden. Was auch die Cree für eine Gesellschaftsform praktizierten, sie schienen sich von anderen in der Galaxie zu unterscheiden.  

Kirt führte sie in ein Gebäude, dass in seinem Erscheinungsbild auf jede Menge Verwaltung schließen ließ. Hinter der tristen Glasfassade gingen vermutlich Unmengen an Beamten den langweiligsten Tätigkeiten nach, aber Kenyas erster Eindruck stellte sich als falsch heraus. Nachdem sie in der Lobby geraume Zeit warten mussten, führte sie Kirt in das nächste Wunderland, dass in ihr Erstaunen aber auch Angst auslöste. In ihrem bisherigen Leben hatte sie nur wenig Rechentechnik zu Gesicht bekommen, aber in diesem riesigen Labor schienen alle Computer der Galaxie versammelt zu sein. Eingebettet in Gerätschaften, deren Funktionszweck nicht ansatzweise zu erahnen war, wirkte diese Ansammlung exotischer Technik wie Artefakte einer außerirdischen Zivilisation. Diese steril wirkende Umgebung, die mit ihrer vorherrschenden Farbe weiß an eine unaufgeregte Notaufnahme erinnerte, erzeugte eine unangenehme Spannung bei den Neuankömmlingen. Die vielen Cree, die mit stoischer Gelassenheit wenig Vertrauen einflößende Gerätschaften bedienten, nährten zusätzlich die Unsicherheit in Kenya. Einhergehend mit dem typischen Krankenhausgeruch bekam sie das Bild einer ängstlichen Ratte, die in einem ausweglosen Labyrinth umherirrte nicht mehr aus ihrem Kopf.

"Dort drüben könnt ihr euch umziehen." Kirt zeigte auf eine eingelassene Nische in der sich die typische Krankenhauskleidung befand.

"Ich hoffe du bist nicht schüchtern." sagte Kenya zu Coen, der offenbar mit dem fehlenden Sichtschutz haderte. Ihre berufliche Vergangenheit hatte jegliche Scheu schwinden lassen, von daher machte es ihr wenig Probleme sich vor Publikum vollkommen zu entkleiden. Coen dagegen veranstaltete allerlei Verrenkungen um seine Blöße nicht vollkommen darzubieten. Irgendwie schaffte er es die Kleidung zu wechseln, ohne sich vollkommen nackt zu präsentieren.

Sie betraten ein Krankenzimmer, dessen zwei Betten von mehreren medizinische Gerätschaften umgeben waren. Wirkten diese schon wenig vertrauenswürdig, beunruhigten Kenya die angebrachten Riemen zur Fixierung von Händen und Füßen zusätzlich.

"Na schön. Jetzt wird es wirklich Zeit für ein paar Erklärungen." sagte sie als Kirt auf die Betten deutete. Da beide keine Anstalten machten seiner Anweisung zu folgen, wirkte er etwas ratlos. Nach ein paar Sekunden angestrengten Nachdenkens ließ er sie einfach stehen.

"Vermutlich die letzte Möglichkeit einen Rückzieher zu machen." sagte sie zu Coen, der sich den Cree angepasst hatte und kein Wort von sich gab. Nach ein paar Minuten bangen Wartens erschien David in ihrem Krankenzimmer.

"Ihr macht euch vermutlich Sorgen wegen der bevorstehenden Tests." beantwortete er die unausgesprochene Frage.

"Allerdings. Spätestens jetzt wären ein paar Informationen hilfreich." Kenya deutete auf die Riemen.

"Natürlich. Ihr bekommt in Kürze eine Spritze. Danach ..." David wurde unterbrochen.

"Was beinhaltet die Spritze?" fragte Kenya. Sie konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er dieses Thema lieber umgangen hätte.

"Nanotechnologie." sagte er kurz. Kenya konnte mit dem Begriff nichts anfangen.

"Ihr könnt sie euch als winzig kleine Roboter vorstellen, die dann in eurem Blut sind." erklärte er weiter.

"Roboter?" fragte Kenya ungläubig.

"Ihr müsst vor ihnen keine Angst haben. Sie ändern nur bestimmte kleine Dinge in eurem Körper." David versuchte etwas zu beruhigen.

"Sie machen uns zu schlaueren Menschen?" fragte Coen.

"Indirekt."

"Was heißt das nun wieder?" Kenya klang verärgert.

"Es ist besser, wenn ich euch das hinterher erkläre. Dann ist eurer Geist aufnahmefähiger."

"Weil wir dann schlauer sind?"

"Wir wissen es nicht. Vielleicht passiert auch gar nichts."

"Oder diese Roboter zerlegen uns von innen, weil sie vollkommen außer Kontrolle sind. Ich bin raus." entschied Kenya.

"Auch das ist nicht vollkommen ausgeschlossen." Davids Ehrlichkeit verblüffte Kenya.

"Wir können diese Roboter deaktivieren, sollten sie wirklich außer Kontrolle geraten. Bedenke. Solltest du passen, können wir unseren Teil der Abmachung nicht einhalten. Es bedarf nur noch einer einzigen Behandlung, dann bist du geheilt." erklärte David ruhig.

"Also habt ihr mich am Haken." kommentierte sie ihr trauriges Schicksal und schaute Coen an. Er hatte sich bisher gar nicht zu den Risiken der Nanotechnologie geäußert.

"Für mich gibt es kein zurück mehr." sagte er traurig.

"Gut. Dann legt euch bitte in die Betten." forderte David sie sanft auf.

Mit ungutem Gefühl folgte Kenya der Anweisung. Kirt fixierte sie und zum ersten Mal spürte sie eine Angst, die ihr in knapp 25 Jahren Lebenszeit nie untergekommen war. Irgendwas in ihrem Inneren rebellierte gegen die bevorstehende Prozedur. Einzig die Vernunft, welche ihr die verkürzte Lebensdauer gnadenlos aufzeigte, überzeugte sie davon nicht einfach aufzustehen und diese verdammte Illusion hinter sich zu lassen.

Kenya spürte den Einstich nicht und während sie darauf wartete, dass irgendwas in ihrem Inneren sie dazu brachte die Riemen zu testen, gingen ihr die unmöglichsten Dinge durch den Kopf. Die meisten dieser wilden Gedanken fragten sich, ob ihr bisheriges Leben den gewünschten Verlauf nahm oder ob sie irgendwo in der Vergangenheit den falschen Abzweig gewählt hatte. Sicher sie hatte nie Hunger leiden müssen und obwohl sie nie wirklich vermögend war, haperte ihr es an nichts. Die Grundbedürfnisse waren nie das Problem, aber da musste es mehr geben, als einfach nur satt zu sein am Ende des Tages. Ihre Entscheidungen hatten sie hier an dieses Bett gefesselt mit der nicht unwahrscheinlichen Aussicht von innen zerlegt zu werden. Sie grübelte weiter als David erneut den Raum betrat. Diesmal war er nicht allein. Begleitet wurde er von den beiden älteren Cree, die sie in der Hütte mit Verachtung überhäuft hatten.

"Das wollt ihr euch wohl nicht entgehen lassen, aber ich muss euch enttäuschen. Bisher gibt es keine Veränderung." sagte sie.

"Wir werden in Kürze die Nanotechnologie aktivieren." sagte David trocken. Die Tatsache, dass es einen Einschaltpunkt gab, ließ ihrem Verstand genug Zeit um eine ängstliche Fantasie zu kreieren.

"Lasst euch nicht zu viel Zeit damit." drückte sie noch heraus, dann spürte sie den stechenden Schmerz in ihrem Kopf.   

Am Anfang waren es nur Kopfschmerzen. Nichts Natürliches wie Migräne oder die nervigen Nachwirkungen eines Alkoholexzesses. Es fühlte sich an, als würde etwas in ihrem Kopf hin und her schwirren um an bestimmten Punkten punktuell einen Schmerz zu erzeugen. Eine heiße Nadel, die nicht müde wurde neue Maschen in ihrem Gehirn zu erzeugen. Noch war dieser Schmerz erträglich, aber Kenya befürchtete, dass es erst der Anfang von etwas Größerem war. Sie versuchte sich abzulenken, aber jeder Versuch ihren Gedanken eine positive Richtung zu geben scheiterte an dem Chaos in ihrem Kopf. Die Qualen entpuppten sich als das kleinere Übel, denn wieder wurde sie mental manipuliert. Jetzt gab es keinen spärlichen Fluss von Kirt, den sie einfach mit einem geistigen Damm aufhalten konnte. Sie wurde von einem Tsunami überrollt und zu ihrer Überraschung gab es dieses Mal keine auswärtige Kraft. Etwas Neues entstand in ihrem Inneren und schickte sich an die Kontrolle zu übernehmen. Es ist deine Welt: rief sie sich ihren eigenen Ratschlag an Coen in Erinnerung und obwohl die Massen sie zu überfluten drohten, begann sie erneut mit ihren mentalen Gegenmaßnahmen. Der erste rebellische Gedanke wurde mit zusätzlichem Leid bestraft. Im Gegensatz zu Kirt gab sich dieser Emporkömmling nicht so leicht geschlagen, was ihren Widerstand weiter anfachte.

"Raus aus meinen Gedanken." zischte sie sich selber als Unterstützung zu, aber die Worte gingen unter in den Schreien vom Nachbarbett. Offenbar wehrte sich auch Coen. Kenya konzentrierte sich wieder auf sich selbst und versuchte weiter den geistigen Tsunami aufzuhalten, aber sie musste einsehen, dass ihr Widerstand nicht nur Unmengen an Schmerzen erzeugten, sondern auch wenig von Erfolg gekrönt war. Es wurde Zeit für eine Strategieänderung. Wenn sie die Wassermassen nicht aufhalten konnte, war es vielleicht möglich den riesigen Zufluss soweit zu steuern, das er ein Minimum an Schaden anrichtete. Bei dieser Flut war es wichtig bestimmte Dinge im Trockenen zu halten, denn sie spürte wie ihr die Kontrolle entglitt. Die bewusste Kenya wurde mehr und mehr zum Außenseiter in ihrem eigenen Verstand.

"Aufhören." schrie sie und wollte diese simple Aufforderung mit ein paar Flüchen untermauern, aber sie besaß einfach keinen Zugriff mehr auf den wortschöpfenden Bereich in ihrem Gehirn. Die Schubladen ihrer Erfahrungen, ihres Wissens und ihrer Erinnerungen, die je nach Verwendung auf und wieder geschlossen werden konnten, wenn ihr geistiger Inhalt benötigt wurde, schienen kontaminiert von der invasiven Flut und entzogen sich ihrer Kontrolle. Panik stieg in ihr auf und sie war sich der Ironie bewusst, dass ausgerechnet die Schublade der Angst weit offenstand. Unmöglich, dass ihr nur das blieb. Da musste noch mehr von wahren Kenya vorhanden sein. Wie konnte sie die Reste ihres bewussten Ichs retten, bevor der Zustrom alles unwiederbringlich unter Wasser setzte. Eine Blase. Es war unmöglich festzustellen wie dieser einzelne Gedanke durch das panische Chaos ihres im Umbau begriffenen Verstandes durchdrang, aber es genügte um einen Funken Hoffnung zu sähen. Sie atmete tief ein und pustete die Luft in das selbstgeschaffene Bild von einem Ballon. Es klappte. Die fremde Flut schmiegte sich um den winzigen mit Luft gefüllten Bereich und verschonte alles in ihrem Inneren. Noch war das Gebilde zu klein um wirklich ausreichend Kenyas Persönlichkeit zu schützen, aber weitere Atemzüge ließen das Volumen anwachsen. Es war nicht einfach in diesem Chaos die nötige Konzentration aufzubringen, aber Stück für Stück breitete sich die elastische Haut aus und umhüllte die Reste von dem, was sie Jahre lang geprägt hatte. Panisch packte sie alles was sie greifen konnte in die schützende Umgebung, denn ihr drohte die Ohnmacht. Noch kämpfte sie dagegen an, aber mit dem Voranschreiten der Invasion wurde sie schwächer und schwächer, bis ihr nur noch die Kapitulation blieb. Einen letzten eigenen Gedanken schickte sie dem Tsunami entgegen und als der hoffnungsschwangere Hilfeschrei überrollt wurde, wusste sie, dass sie verloren hatte.

Die Benommenheit wich schnell, als sie wieder zu sich kam. Verwirrung machte sich breit. Nur kurz, dann hatte sie sich unter Kontrolle. Was zur Hölle war passiert? Im inneren Kampf um ihr bewusstes Ich hatte sie von Anfang an nicht den Hauch einer Chance gehabt und nun stand sie vor den Trümmern ihrer ehemaligen Existenz. Aber waren es wirklich Trümmer? Das Gefühl in ihrem Inneren glich einem Neuaufbau, der geprägt war von Ordnung und Effizienz. Diese Klarheit mit der sie ihre Niederlage analysierte war ihr unbekannt. Normalerweise fiel es ihr schwer unter solch schwierigen Bedingungen einen Gedanken konzentriert weiter zu verfolgen. Panik und Angst wären die ideale Nahrung um ordentlich Chaos in ihrem Geist zu stiften und sie an den Rand des Wahnsinns zu führen, aber hier schien der Tunnel ihres Gedankengangs mit ungeahnt freier Sicht vor ihr zu liegen. Alles was stören könnte, wurde ihr durch einen mentalen Filter vorenthalten und instinktiv schaffte es sie genau die Dinge durchzulassen, die ihr zur Aufklärung ihrer Situation nützlich erschienen. War sie noch sie selbst oder hatte eine fremde Macht ihren Geist übernommen?

"Was ist passiert?" fragte sie David und die Anderen, die vor ihrem Bett standen. Die Frage hatte sie weniger aus Neugierde gestellt. Es mangelte ihr einfach an Informationen, um die Geschehnisse passend zu konstruieren. Schweigend wurde ihr ein Pad gereicht, als ob Worte unangebracht wären. Auf dem Bildschirm leuchtete das Wort, welches sie erst vor kurzem das erste Mal gehört hatte. Nanotechnologie. Offenbar beschrieb der Text die Funktionsweise dieser Technologie. Sie zögerte mit dem Lesen, denn selbst ein Studium der Ingenieurwissenschaft würde bei einem so komplexen Thema nur für bedingten Erkenntnisgewinn sorgen. Trotzdem öffnete sie die Datei und wieder hatte sie den Tunnel vor Augen, der alles Unnütze ausblendete und für grenzenlose Konzentration sorgte. Die Worte waren so aneinandergereiht, dass sie keinerlei Probleme mit dem Verständnis hatte. Es fühlte sich an, als wäre der Text genau für sie und ihren Verstand geschrieben worden und so verschlang sie die Worte regelrecht. Es war ihr eine unglaubliche Freude so viel Wissen aufzusaugen und die einzelnen Erkenntnisbausteine zusammenzusetzen. Die technischen Details, die physikalischen Hintergründe, aber auch die Genetik vermittelten ihr ein Wissen, dass die alte Kenya mit jahrelangem Studium nicht hätte erlernen können.

"Warum verstehe ich das?" fragte sie, als der Text keine neuen Erkenntnisse mehr Preis gab. Sie wusste, dass die neue Technologie in ihrem Inneren einen bewussten Bereich in ihrem Gehirn aktivierte. Sie war aber nicht dafür verantwortlich, dass sie ihre neugewonnene Genialität so einfach ausleben konnte.   

"Weil du jetzt eine Cree bist." erklärte ihr Goran. Es war jener der drei, dessen Namen sie sich nicht hatte merken können, aber nun schien er wie zementiert in ihrem Gehirn verankert. Kenyas Blick fiel auf Coen, der noch immer nicht bei Bewusstsein war.

"Geht es ihm gut?" fragte sie und ihr wurde bewusst, dass sie vollkommen atypisch reagierte. Dieser veränderte Eingriff in ihre Persönlichkeit sollte in ihr eigentlich Misstrauen, Angst oder Wut auslösen. Da war nichts, außer jede Menge Beherrschung.

"Ihr habt mich verändert." sagte sie ruhig.

"Nein. Cree hat dich verändert. Wir haben nur dafür gesorgt, dass deine Behinderung dir nicht mehr im Wege steht." erklärte Vaja.

"Behinderung?" fragte Kenya.

"Ein Geburtsfehler, den viele Menschen haben."

"Euer Gehirn war nicht ausgelegt für die nächste Evolutionsstufe. Die Nanotechnologie hat dafür gesorgt, dass dieser Makel behoben wurde." erklärte Goran weiter.

"Das ist doch keine Trisomie." warf Kenya ein und wunderte sich, dass ihr Bewusstsein dieses Wort auf Anhieb aus ihren tiefsten Erinnerungen gefischt hatte. Eigentlich hatte sie es nur ein Mal in einer langweiligen Diskussion unbewusst aufgeschnappt, ohne auch nur annähernd seine Bedeutung zu begreifen.

"Im Grunde genommen kann man es damit vergleichen." sagte David ruhig. 

"Du wirst die Vorteile schon erkennen." versprach Vaja hochmütig. Der übliche Konter von Kenya blieb aus. Irgendwas in ihrem Innern behielt die innere Ruhe und verhinderte jede Art von aufgebrachter Emotion.

"Ihr habt mich geistig kastriert."

"Selbstbeherrschung. Ein wesentlicher Baustein der Cree." sagte Vaja. Kenya schluckte. Sie wusste, dass irgendwo in ihrem Geist die verbotenen Emotionen vorhanden seien mussten. Sie war unfähig den Vorhang beiseite zu schieben, der sie verbarg.

"Ich fühle mich fremd im eigenen Körper."

"Das gibt sich mit der Zeit. Glaube mir. Du wirst dich schnell anpassen." beruhigte sie David.

"Ich werde euch dabei helfen. Ich bin sozusagen euer Mentor für euer neues Ich." fuhr er fort. Kenya war verwirrt. Offenbar war Verwirrung eines der Gefühle, die es nicht wert waren hinter dem Vorhang der Beherrschung isoliert zu werden. Im Bett neben ihr kam Coen zu sich. Langsam öffnete er die Augen und außer ein wenig Verwirrung war keinerlei Furcht oder Panik in seinem Gesicht zu erkennen. Er wirkte in sich gekehrt, so als müsste er erstmal verarbeiten, wer da jetzt seinen Verstand übernommen hatte. Bevor er auch nur ein Wort sagen konnte, wurde ihm das Pad gereicht. Ähnlich begierig wie Kenya begann er das Wissen aufzusaugen.

"Interessant, aber das erklärt nicht das da oben." Er tippte an seine Stirn und die Worte kamen ihm mit einer Selbstsicherheit und Abgeklärtheit über die Lippen, die dem bisherigen Coen vollkommen fremd waren.

"Es wird Zeit euch die Sache zu erklären." sagte David und begann mit der Historie der Besiedlung von Cree. Langsam und ein wenig traurig kramte er in seinen Erinnerungen nach den ersten menschlichen Siedlern. Nach seinen Schilderungen war er einer der ersten Menschen, die einen Fuß auf den damals fremden Planeten setzten. Auch er durchlebte den Prozess der Veränderung, aber im Gegensatz zu Kenya benötigte er dazu keine technischen Hilfsmittel. Er erklärte ihnen das Prinzip des Energieaustausches, welches die unbekannte Variable Mensch in dieses Ökosystem integrierte. Die meisten jedenfalls, denn einige Wenige waren immun gegen die Veränderung. Die Angst dieser Unveränderbaren führte zu Konflikten im Laufe der Geschichte. Für die Cree war es ein evolutionärer Sprung, den jeder der dafür geeignet war schnellst möglich vollziehen sollte. Der geringer werdende Rest der Menschheit sah sich genötigt diese Entwicklung aufzuhalten. Ein perfider Virus tötete den größten Teil der Cree und zu ihrem Unglück auch jene, die den Schritt noch nicht vollzogen hatten.

"Ich sah sie sterben. Freunde. Familie. Neugeborene. Nur wenige konnten sich dem Virus entziehen." sagte er traurig.

"Du warst immun."

"Selbst die schlimmste Waffe tötet nicht hundertprozentig. Von den ursprünglichen Siedlern überlebten nicht viele."

"Dann müsst ihr ja über tausend Jahre alt sein. Wie...?" Kenya kam die Erleuchtung, bevor sie die Frage zu Ende stellen konnte.

"Nanotechnologie. Sie schützt euch vor Verletzung und Krankheit. Warum nicht vor dem Virus?" fragte Coen.

"Unsere Neugeborenen sterben kurz nach der Geburt. Die Technologie selbst ist für Erwachsene und auch da nicht ganz ungefährlich."

"Und nun habt ihr die Nanotechnologie soweit erweitert, dass sie auch die nicht geeigneten Menschen zu Cree macht."

"Ihr seid die ersten, die diesen Schritt gegangen sind."

"Das meintet ihr mit Behinderung? Für euch waren wir unterentwickelt." sagte Kenya.

"Eine sehr unglücklich gewählte Formulierung." beschwichtigte David.

"Wie geht es jetzt weiter?" fragte Coen. Die drei Alten schauten sich vielsagend an, als wollten sie auf geistiger Ebene entscheiden, was sie bereit waren zu enthüllen.

"Euch steht es frei in eure Welt zurückzukehren, aber Cree ist jetzt in euch. Von daher würde ich euch empfehlen hier zu bleiben und Teil der Gemeinschaft zu werden." erklärte David.

"Das war von Anfang euer Plan. Da ihr kaum Nachwuchs zeugen könnt, plant ihr euch auf diese Art zu vermehren." schlussfolgerte Coen und seine unnatürliche Ruhe mit der er die Worte aussprach, passten nicht zu der ärgerlichen Aussage.

"Damit macht ihr den selben Fehler, wie vor tausend Jahren." sagte Kenya.

"Es ist kein Fehler. Es ist die natürliche Ordnung." mischte sich Goran mit der typischen Herablassung ein.

"Die Menschheit ist ein Auslaufmodell. Wir versuchen euch zu retten."

"Vielleicht wollen das die Menschen gar nicht." erwiderte Kenya immer noch gelassen.

"Du wirst die Vorteile mit der Zeit schon erkennen." damit hielt Goran die Diskussion für beendet und die drei verließen das Zimmer.

"Sie haben Recht. Spürst du nicht dieses Potential, das frei gelegt wurde?" sagte Coen.

"Natürlich spüre ich das, aber genau dieses Potential neu erworbener Weisheit sagt mir auch, dass es nichts auf der Welt gibt, was nur Vorteile besitzt. Ich habe das Gefühl, dass sie uns noch nicht über die negativen Nebenwirkungen aufgeklärt haben."

"Was sollte das sein?"

"Versuch mal wütend zu werden. Oder was ist mit Trauer oder Freude. Das scheint alles weggesperrt."

"Das ist doch ein Vorteil. Immerhin behindern uns Emotionen."

"Ach ja. Ist das so? Was hat dich hierhergebracht? Ich tippe mal auf Frustration. Diese ganzen negativen Gefühle sind doch Teil unseres Antriebes Dinge zu ändern. Was treibt die Cree an?"

"Logik." antwortete Coen nach kurzem Überlegen.

"Besser gesagt gnadenlose Logik. Sie haben die emotionale Variable aus allen Entscheidungen ausgeschlossen. Da sie Trauer oder Mitleid nicht mehr kennen, wird Rücksicht oder Mitgefühl überhaupt nicht mehr in Erwägung gezogen, da es nicht mehr Teil unseres Denkens ist. Das soll nun besser sein als das Menschliche?" fragte Kenya. 

"Ich glaube schon. Dort draußen tötet Habgier, Hass und Wut täglich tausende Menschen und das schon seit Jahrtausenden. Mag sein, dass die Logik der Cree auch gelegentlich Opfer verlangt, aber wenn sie das richtig anwenden, bleiben sie weit unter der Anzahl der Menschen. Du meinst Rücksicht und Mitgefühl sind wichtig. Wie oft hast du beides in letzter Zeit angewendet? Wenn du ehrlich bist, gibt es diese Eigenschaften schon seit Jahren nicht mehr." erklärte Coen und traf damit bei Kenya einen wunden Punkt.

"Nur, weil ich es vernachlässigt habe, bin ich nicht bereit dauerhaft darauf zu verzichten." erwiderte sie.

"Mir ist noch etwas aufgefallen." sagte sie nach kurzem überlegen.

"Auf deine Frage wie es weitergehen soll, schienen sie mir sehr abwesend. Als hätten sich alle drei in einen privaten geistigen Raum zurückgezogen."

"Das habe ich auch bemerkt."

"Telepathie." schlussfolgerte Kenya.

"Wäre nur logisch, nach allem was da verändert wurde." schlussfolgerte Coen und probierte sich in Gedankenübertragung.

"Nichts." antwortete ihm Kenya auf die menschliche Weise. Offenbar war diese Fähigkeit nicht so einfach zu erlangen.

Sie ergingen sich weiter in Mutmaßungen über ihren neuen Zustand und obwohl ihr geschärfter Verstand einiges an Möglichkeiten anbot, fehlten ihnen die Informationen um die Vielzahl der Variationen zu bestätigen. Sie waren erleichtert als nach drei Stunden das Cree Trio wieder an ihre Krankenbetten trat.

"Wie funktioniert die telepathische Verbindung?" fragte Coen unumwunden und Kenya musste feststellen, dass sein neues Selbstvertrauen anziehend auf sie wirkte.

"Dafür ist es noch zu früh." antwortete ihm Vaja.

"Ach ja. Wie sollen wir euch vertrauen, wenn ihr euch jedes Mal in eure eigene Welt zurückzieht, wenn wir ein paar kritische Fragen haben." erwiderte Coen. Diese Bemerkung traf ins Schwarze.

"Es ist schwer zu erlernen und sollte nicht am Anfang eurer Assimilation stehen." sagte Vaja. Sie war sich nicht bewusst, was sie mit dieser Aussage hervorrief. Dieses eine Wort feuerte das Misstrauen in Kenya ordentlich an und steigerte ihre innerliche Zerrissenheit. Diese Leute hatten sie verändert und obwohl die Vorteile bisher überwogen, blieb das Gefühl, dass ihr bisher wesentliche Aspekte dieser Veränderung vorenthalten wurden. Der Zweifel war da, aber nicht richtig greifbar. Diese verdammte Cree-Logik schien sie auf unnatürliche Art zu bändigen. Die alte Kenya wäre aus diesem Bett gesprungen und hätte vermutlich wütend ihr Recht auf mehr Aufklärung gefordert. Jetzt war da keinerlei Antrieb vorhanden für dieses doch sehr menschliche Vorgehen. Sie fühlte sich fremd im eigenen Geist.

"Ich kenne das Gefühl. Die neuen Veränderungen überfordern euch gerade. Es fühlt sich an, als wärt ihr zwei Persönlichkeiten in einem Körper. Vertraut mir. Das alles wird sich finden. Es wird eine Zeit dauern, bis ihr eure innere Stabilität erreicht habt." erklärte David mitfühlend. Kenyas Gedanken überschlugen sich. Ihre alte Persönlichkeit hatte zwar eine Niederlage erlitten, aber vollkommen besiegt schien sie doch nicht zu sein. Das wussten vermutlich auch die Cree und nun setzten sie alles daran die letzten Reste zu beseitigen. Ihr Blick fiel auf Vaja. Ein Ausblick dessen, was ihr bevorstand. Es war keinen Tag her, dass sie diese Person für den Inbegriff eines fehlgeleiteten Lebens hielt und nun war sie bereit genau diesem Beispiel zu folgen. Sie suchte das Feuer der Rebellion in ihrem Inneren, aber da war nichts mehr. Es gab nur leidenschaftslose Logik, der die Orientierung fehlte. Diese Lücke wollten die Cree mit ihren Regeln von Anstand und Beherrschung füllen. Sie war ein Stück Ton, den es galt zu formen. Dabei gestanden sie ihr kaum Mitspracherecht zu, denn Ziel war es sie zu einem produktiven Mitglied dieser Gemeinschaft zu machen. Das alles lag dank ihrer neuen Weisheit klar vor ihrem geistigen Auge. Obwohl ihr diese vorgeschriebene Zukunft vernünftig erschien, konnte sie den Zweifel nicht vollends verdrängen. Zum ersten Mal vermisste sie ihre Instinkte, die ihr so oft den richtigen Weg gewiesen hatten. Noch war sie nicht bereit alles aus ihrer Vergangenheit so kompromisslos aufzugeben. Ihr Blick viel auf David. Er entsprach nicht dem Protoyp eines typischen Cree. Wenn er es schaffte seine neue Persönlichkeit dahingehend zu bereichern, dass er nicht alles der Selbstbeherrschung und Vernunft unterordnete, gab es für sie vielleicht auch die Gelegenheit die alte Kenya nicht vollends zu begraben. Sie musste den Zweifel am Leben erhalten, denn er war vermutlich die einzige Möglichkeit der Modellierung durch die Cree etwas entgegenzusetzen.  

 

 

 

 

 

Kapitel 2

Für Coen hatte sich die Welt geändert. Wenn er ehrlich war, änderte sich nicht die Welt, sondern seine Sicht auf Dinge, die er vorher für unumstößlich hielt. Seine alte festgefahrene Persönlichkeit, die sich ein Leben lang in die Tiefen seines Geistes zurückgezogen hatte und die Rolle eines Beobachters aller Dinge um sich herum vorzog, hatte bereitwillig Platz gemacht für etwas, dass bereit war seine Umgebung aktiv mit zu gestalten. Die neugewonnene Weisheit zeigte ihm den Fehler dieses passiven Beobachters gnadenlos auf. Niemand existierte in diesem Universum ohne seine Spuren zu hinterlassen und hier bei den Cree bot sich die einmalige Gelegenheit, dieses Universum mit seiner persönlichen Note sinnvoll zu bereichern. Der Drang des alten Coen in der anonymen Masse möglichst unbeachtet unterzutauchen und sein Leben in vollkommener Unauffälligkeit dahinsiechen zu lassen, änderte sich in das Verlangen im Mittelpunkt allen Schaffens stehen zu wollen. Er spürte eine unbändige Energie, die bisher unter dem Mantel der Lethargie gut verhüllt war. Diese Energie entstand nicht aus dem Nichts. Sie war schon immer ein Teil seiner Persönlichkeit gewesen, aber Comox mit seinem konservativen Alltag hatte es erfolgreich geschafft dieses Potential zu unterdrücken. Eine einzige intuitive Eingebung hatte es durch diese Hülle aus Gleichgültigkeit geschafft und ihm diesen rebellischen Gedanken des Ausbruches vermittelt. Ein Gedanke, der von großen Zweifeln begleitet ihn hierherbrachte und nun hatte dieser Planet den Nebel des Stumpfsinns vollkommen beseitigt. Ironischerweise war diese Intuition jetzt nicht mehr Bestandteil seiner neuen Persönlichkeit. Obwohl er Kenya dahingehend nur schwache Gegenargumente präsentieren konnte, hielt er diese Intuition für seinen verbesserten Geist als wenig notwendig. Er hatte jetzt andere Instrumente, mit denen er zukünftige Entscheidungen optimal treffen konnte. Eine Art von Algorithmus ermöglichte ihm alle Einflüsse und Variablen bestmöglich gegeneinander abzuwägen. Die Logik war jetzt sein Werkzeug und genau jene Logik verhinderte emotionale Störeinflüsse. Ein unbestreitbarer Vorteil, den Kenya nicht so Recht wahrhaben wollte.

Es war jetzt drei Tage her, seit ihrer Veränderung. Der anschließende Lernprozess würde vermutlich Wochen dauern und David hatte ihnen Hilfe angeboten. Coen tat sich schwer mit ihm. Im Gegensatz zu den anderen Cree schien er sich nicht vollkommen der vorherrschenden Doktrin unterzuordnen. Was auch immer seinen Ausnahmezustand in dieser Gesellschaft rechtfertigte, es verwirrte Coen enorm. Es erschien ihm unvereinbar mit seiner Überzeugung von der Einzigartigkeit des eingeschlagenen Weges. Er empfand diese neue Welt in ihrer komplexen Einfachheit als ein Gebilde aus Einsen und Nullen, welche in der richtigen Anordnung unfehlbar in ihrem Ergebnis waren. Ausgerechnet der Einzige in dieser Gesellschaft, der trotz seines fortschrittlichen Verstandes auch zu Zwischentönen im Stande war, sollte ihnen helfen dieses scheinbar einfache System zu bedienen. Ein Widerspruch, der seinen neuen Glauben an die Unfehlbarkeit der Logik erschütterte.

"Wie fühlt ihr euch?" fragte David. Sie hatten die Labore verlassen und befanden sich in der dritten Etage des zentralen Gebäudes. Auch wenn nichts mehr auf eine medizinische Umgebung hindeutete, versprühte der Raum eine triste Atmosphäre. Der quadratische Tisch und die drei Stühle waren die einzige Einrichtung. Ihre graue Färbung passte sich perfekt der eintönigen Umgebung an.

"Ich bin verwirrt." gab Coen selbstsicher zu.

"Weswegen?"

"Ich nehme an wir sollen ein nützlicher Teil eurer Gesellschaft werden. Warum wurde uns dann als Mentor genau die Person zugeordnet, die am wenigstens in diese Gesellschaft passt?" fragte Coen.

"Weil ich der Einzige bin, der euren noch vorhandenen irrationalen Teil der Persönlichkeit versteht." antwortete David, als hätte er diese Frage erwartet.

"Und warum bist du nicht wie die anderen Cree?" fragte Kenya.

"Diese Weiterentwicklung zum Cree ist niemals vollständig abgeschlossen. Es bleibt immer ein Rest der ursprünglichen Persönlichkeit erhalten. Bei dem einen mehr. Bei dem anderen weniger. Erst die Zeit vollendet den Charakter. Dahingehend unterscheiden wir uns nicht von den Menschen." erläuterte David.

"Tausend Jahre sind genug Zeit für die Entwicklung. Warum entsprichst du trotzdem nicht dem Ideal eines Crees?" fragte Coen.

"Ich habe für mich entschieden einen Teil der menschlichen Persönlichkeit zu behalten."

"Haben wir diese Wahl auch?" fragte Kenya.

"Wollt ihr das denn?" beantwortete David die Frage mit einer Gegenfrage. Kenya zögerte. Coen spürte ihren Zwiespalt. Für sie hielten die kommenden Zeiten noch gewisse Unwägbarkeiten bereit. Coen dagegen hatte eine klare Vorstellung über seine Zukunft.

"Bitte beantworte meine Frage." wand sich Kenya und umging damit Davids Gegenfrage.

"Natürlich habt ihr diese Wahl, aber sollte eurer Drang zur Menschlichkeit ein gewisses Maß überschreiten, könnt ihr nicht mehr Teil unserer Gesellschaft werden." sagte David. Kenya wandte sich an Coen.

"Vor solchen Beschränkungen bist du auf Comox davongelaufen. Wieder gibt es Regeln und wieder musst du dich unterordnen." sagte sie ruhig. Coens glasklare Vorstellung seiner Zukunft hatte den ersten Dämpfer bekommen. Eigentlich galt es Kenyas Wankelmut in die richtigen Bahnen zu lenken, aber nun hatte er seine eigene Portion Zweifel erhalten. War die Situation wirklich vergleichbar mit Comox? Trotz aller Elimination von Empfindungen schaffte es dieses altbekannte Gefühl von Unterdrückung aus den Untiefen seiner Erinnerung emporzusteigen und den Schutzpanzer seiner neu geschaffenen Vernunft zu durchdringen. Jahrelang war dieses Gefühl ein ständiger Begleiter seines Denkens gewesen und wurde erst mit der Erschaffung seines neuen Ichs brutal verdrängt. Jetzt sah es seine Gelegenheit gekommen den zarten Zweifel zu nähren. War seine Überzeugung gerade noch unumstößlich, dass sein glasklarer Verstand in Zukunft immer die bestmögliche Entscheidung treffen würde, hatte Kenya es mit ein paar Worten geschafft diese Konstante zur Unbekannten zu machen. Vielleicht war ja nicht David ihr Mentor?     

"Noch gibt es widersprüchliche Empfindungen. Die Aufgabe der nächsten Wochen wird es sein, diese scheinbare Unvereinbarkeit zu einem kompletten Ganzen zusammenzufügen. Nicht alles ist vereinbar. Es liegt an euch zu entscheiden, welche Teile es wert sind eure neue Persönlichkeit zu bereichern. Wir werden euch auf dem Weg in die Gesellschaft begleiten und hilfreich beistehen." sagte David.

"Ich weiß nicht, ob ich eure Hilfe will." sagte Kenya und erntete einen fragenden Blick.

"Was immer auch vor drei Tagen mit uns passierte. Diese neugewonnene Weisheit ist nur eine Seite der Medaille. Die ganze Zeit frage ich mich, was wohl die negativen Seiten dieser Veränderung wären. Jetzt verstehe ich es." Kenya stand auf und berührte sanft die Tischoberfläche.

"Ich weiß, dass dieser Tisch grau ist, aber ansonsten kann ich diese Farbe überhaupt nicht einordnen. Ist es eine schöne Farbe? Wirkt sie beruhigend? Meine emotionale Wahrnehmung dafür wurde gestört. Ich muss mein Urteil über grau neu fällen." Ihr Blick fiel auf David.

"Unvoreingenommen. Unsere Gefühlswelt gleicht derzeit einer formatierten Festplatte. Wer sagt uns, dass es richtig ist sie mit Logik, Vernunft und Beherrschung neu zu beschreiben?"

"Ihr müsst uns vertrauen."

"Auf welcher Grundlage? Ihr glaubt eure Gesellschaft ist die Speerspitze menschlicher Evolution und dass alle eure Entscheidungen nach Abwägung sämtlicher Möglichkeiten zu dem bestmöglichen Ergebnis führen. Diese Arroganz hat vor tausend Jahren Milliarden Menschen das Leben gekostet, weil ihr sie zu eures gleichen konvertieren wolltet." sagte Kenya schlussfolgernd.

"Wir haben sie nicht getötet." rechtfertigte sich David.

"Es war eine Folge eures Handelns. Die fehlende Einsicht eures Fehlverhaltens, lässt euch diesen Fehler wiederholen. Warum sollte ich euch also vertrauen?" fragte sie. David war keiner Antwort mehr fähig.       

"Ihr haltet eure Idee der perfekten Gesellschaft für den einzig wahren Weg. Ihr verurteilt alle Andersdenkenden, erhöht euch moralisch über sie und verweigert euch jeglicher Diskussionen über die Nachteile eurer Entscheidungen. Die Cree sind kein Fortschritt. Die Cree sind Ideologie." konstatierte Kenya mit analytischem Geist.

"Es ist bedauerlich, dass du das so siehst." antwortete David und verließ bedrückt den Raum.

"Ich habe Recht und das weiß er. Er weiß es vermutlich seit tausend Jahren, aber mit seinen Zweifeln stand er bisher allein da. Was ist deine Meinung?" fragte Kenya.

"Mag sein, dass die Cree nicht perfekt sind, aber sie sind in all dem Übel unseres Daseins die beste Option, die sich uns bietet. In der Geschichte der Menschheit hat es vermutlich nie eine stabilere Form des Zusammenlebens gegeben als hier. All die Vielfalt menschlicher Charakter ergeben eine homogene Einheit, die frei von Zwietracht Neid und Missgunst ist. Die ganzen zerstörerischen Kräfte, die uns immer wieder an den Rand der Auslöschung brachten, existieren hier nicht. Wir haben endlich die Möglichkeit unser Dasein auf eine langfristig stabile Basis zu stellen." erklärte Coen.

"Zu welchem Preis? Ist das wirkliche Entwicklung, wenn wir Teile unseres Wesens einfach wegsperren. Nichts ist wirklich gut und nichts ist wirklich schlecht. Es liegt an uns die Dinge richtig einzuordnen. Hier vollziehen sie das Abschalten ungewollter Emotionen. Was unterscheidet uns dann noch von den Maschinen? Die Cree berauben sich eines einzigartigen Vorteils. Trauer oder Wut sind sicherlich unangenehm. Trotzdem ermöglichen sie uns eine Sichtweise, die neue Möglichkeiten bietet. Warum sollten wir uns denen verschließen, nur weil wir Gefahr laufen Schmerz zu erleiden?" Kenya redete sich in einen Rausch.

"Weißt du was ich glaube, was vor tausend Jahren passiert ist? Die ersten Siedler waren überfordert mit diesem erweiterten Gehirn, dass als Schutzfunktion vor Wahnsinn erstmal alles Emotionale unterdrückte. Ich bin mir sicher, dass es keine dauerhafte Verbannung geben sollte, sondern als wesentlicher Teil der nächsten Entwicklungsstufe vorgesehen war. Im falschen Glauben errichteten sie diesen Kult über Logik und Beherrschung und erkannten dabei nicht das Potential, das sie sich selber vorenthielten. Die Cree haben die nächste Evolutionsstufe noch nicht erreicht. Sie bekämpfen den finalen Schritt. Das Traurige ist, dass ihnen das nicht mal bewusst ist."

"Was, wenn du dich irrst? Das Öffnen der emotionalen Schleusenkammer könnte zu Leid unbekanntem Ausmaßes führen?"

"Schau in dein Innerstes. Du jonglierst mit komplexen Gedanken, die dir früher noch nicht einmal bewusst waren. Das Gefühl in deinem Verstand die Kontrolle über jeden noch so komplizierten Vorgang zu besitzen, endet doch nicht bei deinen Emotionen. Die Cree haben uns auf den Weg der Erkenntnis gedrängt. Ich bleibe doch nicht auf halber Strecke stehen."

"Das werden sie nicht zulassen." sagte Coen.

"Wir müssen sie erwecken aus ihrem stupiden Beherrschungsschlaf. Wir müssen sie davon überzeugen, dass sie einen Großteil ihres Potentials unterdrücken." Kenya wirkte entschlossen.

"Vielleicht hast du Recht. Vielleicht gehören Emotionen dazu, aber bevor wir die ganze Gesellschaft dazu veranlassen ihre Jahrtausend alte Lebensweise zu ändern, sollten wir erstmal unsere eigene Menschlichkeit wiedererwecken." schlug Coen vor.

"Einverstanden. Es wird nicht einfach werden. Wir haben keine Ahnung wie wir den Zugang freilegen. Weiterhin sollten wir aufpassen, dass sie uns nicht in ihren Kosmos aus endloser Beherrschung hineinziehen. Sie werden versuchen uns nach ihrem Vorbild zu formen. Wir müssen gegenseitig aufeinander aufpassen." Kenya hielt ihm die ausgestreckte Hand entgegen. Coen zögerte. Es war nur wenige Minuten her, dass er bedingungslos bereit war ein angepasstes Mitglied der Cree zu werden. Kenya hatte ihn mit wenigen Worten in eine andere Richtung gelenkt. Sein neues geschärftes Bewusstsein hatte alle Möglichkeiten in einem schwer zu verstehendem Algorithmus abgewogen und eine auf Logik basierende Entscheidung getroffen. Er war sich jetzt sicher, dass da mehr in seinem Verstand sein musste, als rationale Effizienz. Er war bereit Neuland zu betreten und besiegelte ihre gegenteilige Einstellung zu ihren Gastgebern mit einem kräftigen Händedruck.

Wie von Kenya befürchtet, versuchten die Cree ihre eigenen Vorstellungen in das jungfräuliche Bewusstsein der beiden zu impfen. David war zwar ihr offizieller Mentor, aber die Formung zu einem perfekten Mitglied der Gesellschaft gestalteten die Cree in gemeinschaftlicher Zusammenarbeit. Ihre Vorgehensweise war so subtil, dass nicht gleich eine Manipulation ersichtlich war. Einfache Notwendigkeiten, wie die Aufnahme von Nahrung wurden in ein dermaßen enges Regelwerk gepackt, dass die Indoktrinierung schleichend voranschritt. Um dieser Prägung entgegen zu wirken, setzten sich die beiden jeden Abend zusammen und rekapitulierten das Erlebte. Es war wichtig die einzelnen Erlebnisse richtig einzuordnen, denn ihr unbeschriebener Geist lechzte nach einer Programmierung. Da er sich dahingehend nicht verweigern konnte, waren die beiden gezwungen mit Sorgfalt darauf zu achten, dass sie den Einfluss der Cree auf ein Minimum beschränkten. Mit dieser Taktik der gegenseitigen Offenlegung der Beeinflussung durch ihre Gastgeber überstanden sie die erste Woche, die damit endete, dass sie mit einem Teil ihrer Reisegefährten wiedervereint wurden.

"Nur 17? Was ist mit dem Rest?" fragte Kenya. David zögerte kurz.

"Leider haben sich nicht alle als geeignet erwiesen." antwortete er knapp und weckte Kenyas Misstrauen. Sie erkannte, dass ihm das Thema unangenehm war.

"Was ist mit dem Rest passiert?"

"Die Veränderung ihres Gehirnes hat nicht eingesetzt. Sie werden uns in Kürze verlassen."

"Das ist nicht einmal die Hälfte."

"Das Ergebnis ist wirklich enttäuschend." konstatierte David und ließ sie einfach stehen. Es war Frühstückszeit und zum ersten Mal waren nicht  allein diesem speziell für sie vorgesehenen Speisesaal.

"Er weicht uns aus. Sie tun sich schwer mit lügen. Bevor er dazu gezwungen wird, lässt er uns lieber stehen." schlussfolgerte Kenya.

"Was immer auch bei den Anderen schiefgelaufen ist, er will nicht darüber reden." Coen ließ den Blick schweifen und erkannte ein paar Gesichter seiner Gefährten. Obwohl die Konturen vertraut schienen, passte ihre Gestik nicht zu den Erinnerungen. Da war Calvin, der Coen dadurch im Gedächtnis blieb, weil er durch seine hektische und aufdringliche Art für allerlei Ärger bei ihrer Anreise sorgte. Nun waren da bedächtige, schon fast sanfte Bewegungen. Oder Jasmin, die verängstigt und schüchtern jeden Kontakt gemieden hatte. Ihr Wesen hatte sich komplett geändert. Die Selbstsicherheit, mit der sie sich zu den Anderen setzte, hatte nichts Vergleichbares mit ihrer Persönlichkeit auf dem Schiff. Jeder einzelne Geist in diesem Raum war jetzt ein weißes Blatt Papier. Tabula Rasa, das bereit war für eine neue Beschriftung.

"Niemand wird zurückkehren und das Geld ausgeben für das er herkommen ist." fasste Coen seine Gedanken in Worte.

"Wir sind alle betrogen worden." antwortete Kenya ruhig und war immer noch verwundert, dass die Wut in ihrem Inneren ihr Anrecht auf Ausbruch nicht einforderte.

"Mag sein, aber noch können wir diesen Betrug zu unseren Gunsten auslegen. Wir müssen an die Emotionen ran, dann haben wir einen unschlagbaren Vorteil."

"Wir sind nun länger als eine Woche hier. Ich fühl mich mehr und mehr als Roboter. Nichts Menschliches. Keine Freude. Keine Wut. Höchstens Verdrossenheit." erklärte Kenya.

"Vielleicht fehlt uns die richtige Stimulation." Kenya ergriff seine Hand und zog ihn in einen Raum. Sie waren jetzt allein und bevor Coen etwas fragen konnte, presste sie ihre Lippen auf seine. Nur kurz, dann ließ sie wieder von ihm ab. Sie schien abwesend, als müsste sie in ihren Erinnerungen nach der richtigen Technik suchen. Dann startete sie einen zweiten Versuch und hatte Coen beim ersten Mal höchstens ein wenig Abscheu verspürt, drang jetzt die Lust aus seinen Untiefen hervor. Nur für einen Augenblick, dann drängte er sie wieder zurück. Ein Blick in Kenyas überraschtes Gesicht verriet, dass sie ebenfalls kurz aus dem Nebel der Beherrschung getreten war.

"Das war es. Wir müssen..." bevor er den Satz vollenden konnte, bekam er eine saftige Ohrfeige.

"Was zum ..." wollte er fragen, als er eine zweite Ohrfeige bekam. Kenya setzte zu einer dritten an, aber Coen konnte ihre Hand ergreifen bevor es schmerzhaft wurde.

"Hör auf." sagte er wütend und erst jetzt begriff er, dass sie ihn provoziert hatte.

"Wir sollten beim Küssen bleiben." sagte er nach einer kurzen Pause beherrscht. Er war verwirrt. Nach einer Woche Abstinenz jeglicher Emotionen überforderte ihn die plötzliche Achterbahnfahrt der Gefühle. Auch Kenya schien die wiedererlangte Gefühlswelt mitzunehmen.

"Gehen wir ..." stotterte sie und zeigte mit der Hand Richtung Speisesaal. Sie war unfähig passende Worte zu formulieren. Sie betraten erneut den vollen Gemeinschaftsraum und als sie sich Frühstück besorgt hatten und gut zehn Minuten schweigend vor sich hin aßen, herrschte eine angespannte Stimmung zwischen den beiden.

"Und jetzt? Verprügeln wir uns gegenseitig um die Wut zu schüren?" fragte Coen.

"Die Tür stand kurz offen. Bevor die Cree mit ihrer Gehirnwäsche es schaffen sie für immer zu versiegeln, sollten wir einen Keil dazwischenschieben und sie aus den Angeln heben. Der Schlüssel sind unsere Erinnerungen." sagte sie.

"Ich fürchte in der Richtung gibt es fast nur Frustration." Seine Gedanken schweiften zu dem Coen aus der Vergangenheit, der allein in dieser fensterlosen Kammer saß und Zahlen in ein Buch schrieb, die für ihn den Lebensinhalt für viele Jahre darstellen sollten. Die Freude hielt sich von Anfang in Grenzen, als seine Mutter dem damals 17jährigem Jungen mitteilte, dass er eine der wenigen Ausbildungsstellen in der öffentlichen Verwaltung von Comox antreten würde. Im Gegensatz zu der Mehrheit an Menschen in seiner Heimat wurde ihm damit eine einmalige Chance auf eine sichere Zukunft zugestanden. Obwohl es eine wahrlich eintönige Berufung war, gab es keinen einzigen Fall in dem ein Beamter von dieser langweiligen Tätigkeit vor seiner Pensionierung abberufen wurde. Sein Unterhalt schien bis an sein Lebensende gesichert und der erste Schritt auf dem Weg zu Frau, Kindern und vielleicht eigenem Haus war gemacht. Ein wahrhaftiger Glücksfall, aber die Ernüchterung stellte sich schnell ein. Sechs Tage die Woche opferte er zwölf Stunden seiner Lebenszeit für diese stupide Arbeit. Er konnte die Bewunderung seines spärlichen sozialen Umfeldes nicht nachvollziehen, aber allein die Tatsache eines geregelten Einkommens ließ ihn gesellschaftlich aufsteigen. Keine passende Entwicklung für einen introvertierten Charakter wie ihn. Mehr und mehr entwickelte sich der vermeintliche Glücksfall als Bürde. Der gesellschaftliche Karrieredruck brachte Verpflichtungen mit sich, die es seiner Meinung nach nie und nimmer wert waren, sich bis zur Unkenntlichkeit zu verbiegen. Mit akribischer Planung trieb seine Mutter ihn die Karriereleiter hinauf. Einer der wichtigsten Schritte war die Heirat in eine einflussreiche Familie. An diesem Punkt kippte seine Frustration zum ersten Mal in Rebellion. Bevor er auch nur einen Blick auf seine Zukünftige geworfen hatte, wurde die Verbindung in diskreten Absprachen besiegelt. Coen fühlte sich zunehmend entmündigt, aber sein Protest war zu schwach um gegen die gesellschaftlichen Konventionen anzukommen. Seine Mutter zog die Fäden an der Majornette, die den Namen Coen bekommen hatte. Er trat in elitäre Vereine ein, intensivierte Beziehungen mit Menschen, die er nicht leiden konnte und unterstützte gemeinnützige Organisationen, um sich ins rechte Licht der Hilfsbereitschaft zu rücken. All diese Dinge sollten sein Recht auf eine einflussreiche Position untermauern und die Basis für hochrangige Ämter legen. Alles geschah mit ansteigendem Widerwillen, doch sein eher ruhiges und unterwürfiges Wesen ließ ihn diese bittere Pille schlucken. Sein Weg schien vorbestimmt, aber alle seine Wohltäter hatten ihn in seiner Feigheit unterschätzt. Er wählte einen Notausgang, dem ihm keiner zutraute. Flucht.

Wie sein weiterer Weg aussehen sollte, war ihm zu dem Zeitpunkt als er seine Verlobte am Tag der Hochzeit versetzte vollkommen unbekannt. Er erkannte die letzte Möglichkeit sein Schicksal aktiv selbst zu beeinflussen. Mit seinem kläglichen Rest an Jetons betrat er eine dieser Fähren, die ihn auf die "verruchte Braut" brachte. Damit verriet er jeden, der in seine angeblich so ruhmreiche Zukunft investiert hatte. Dieses Gefühl des Verrates verblasste sofort als er den Fuß auf die metallischen Planken des Exxons setzte. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er das Gefühl frische Luft zu atmen und das obwohl der aufbreitete Sauerstoff eher stickig daherkam.      

Es verging nicht viel Zeit, als ihn diese hagere Frau ansprach, die sich in ihrem Alter nur unwesentlich von ihm unterschied. Damals empfand er ihr Angebot als glückliche Fügung des Schicksals seine spärlichen finanziellen Reserven durch ein paar medizinische Untersuchungen aufbessern zu können. Mit dem heutigen geschärften Bewusstsein war ihm klar, dass dieses Treffen wenig mit Zufall zu tun haben konnte. Die Daten der persönlichen Eingangsregistrierung gelangten durch ein paar gut gestreute Jetons in die Hände der Cree. Da seine Genetik offenbar eine gute Kompatibilität aufwies, wählte man ihn gezielt aus. Priorität 1 war seine Kategorie. Wenn dieses Mädchen damals zu irgendwelchen Empfindungen fähig gewesen wäre, hätte es vermutlich einen Freudentanz aufgeführt für diesen Volltreffer.

Nun war er hier. Mit verändertem Geist und einem Bewusstsein, dass in seiner Hilflosigkeit nach jeder Form der Prägung suchte. Es ist ein unausweichliches Schicksal jedes Menschen in die ein oder andere Form gegossen zu werden. Ähnlich wie bei den Träumen seiner Mutter ihn zu einem hochrangigen Politiker zu machen, steigerte sich Tag für Tag seine Abneigung gegenüber der Philosophie von Beherrschung und Effizienz. Der Drang möglichst viel seines eigenen Wesens in die zukünftige Persönlichkeit einfließen zu lassen, wurde jetzt mit der Klarheit seines Verstandes größer. Was war die wesentliche Komponente seines Wesens? Auch mit dem vollen Spektrum der Empfindungen war diese Selbstfindung schon unglaublich schwierig. 25 Jahre Lebenserfahrung waren einfach zu wenig um den geeigneten Weg fehlerfrei beschreiten zu können. Es war klar, was er nicht wollte, aber völlig unklar, was er wollte. Ein Dilemma, welches er mit den meisten Menschen in seinem Alter teilte.

Kenya hatte Recht. Die Tür zu seinen Emotionen hatte für einen Moment offen gestanden. Allein saß er in seinem kargen Quartier und erforschte sein Inneres. Seine Gedanken waren so erschreckend gut geordnet, dass sein Geist sich weigerte den perfekten Zustand mit etwas Zerstörerischem wie Emotionen zu kontaminieren. Seine Vergangenheit auf Comox bot eh nicht viel Möglichkeiten für tiefgehende Erinnerungen, also konzentrierte er sich auf den Kuss, mit dem Kenya ihn an diesem Morgen überraschte. Dank seines verbesserten Gehirns konnte er jedes optische Detail millimetergenau nachvollziehen. Was ihm fehlte war die emotionale Bindung zu dem Ereignis. Eine halbe Stunde stümperte er in seinem Verstand herum, ohne auch nur ansatzweise die gefühlskalte Ordnung zu erschüttern. Ein Klopfen holte ihn aus der Anspannung.

"Es geht nicht allein." kam es von Kenya als er die Tür geöffnet hatte. Auch sie sah die Sinnlosigkeit ihrer Versuche über Erinnerungen die Barriere zu beseitigen ein.

"Nicht wieder schlagen." antwortete Coen und zu seinem Glück hielt sie sich an seinen Wunsch. Sie schob ihn in den Raum, schloss die Tür und drückte ihre Lippen auf seine. Sofort überkam ihn Euphorie. Mit der Leidenschaft, mit der sie ihn küsste, musste auch Kenya den Beherrschungstunnel verlassen haben. Sie ließ ab von ihm und schaute ihm in die Augen.

"Ich... Ich..." setzte sie mit zittriger Stimme an.

"Es überfordert einen." ergänzte er ihren Versuch.

"Als wenn du nach drei Wochen Hunger ein Stück Sahnetorte vorgesetzt bekommst." Kenya atmete tief aus und das Zittern flachte ab.

"Dann sollten wir langsam essen." Auch er war aufgewühlt. Er fühlte, wie die Beherrschung das Vorrecht in seinem Verstand zurückforderte. Langsam hob er seine Hand und streichelte ihre Wange. Sie tat es ihm gleich. Gegenseitig erforschten sie minutenlang ihre Gesichter.

"Das ist besser." bestätigte sie sein Gefühl die passende Dosierung gefunden zu haben. Zuneigung, Lust und Geborgenheit überrollten sie nicht mehr. Weitere Minuten vergingen und nach einer Gewöhnungsphase wurde er mutiger. Langsam näherte er sich mit seinem Gesicht ihren Lippen. Vorsichtig zog sie ihren Kopf zurück. Er stockte.

"Ich weiß nicht, was gerade passiert. Ich bin nicht zum ersten Mal in dieser Situation, aber dieses veränderte Gehirn kann mit den passenden Erinnerungen nicht wirklich umgehen." sagte Kenya und klopfte sich an den Schädel. Coen kam ihr Vergleich mit der Farbe weiß in den Sinn. Vermutlich musste auch die Bewertung für Zuneigung erst neu geschrieben werden.

"Es ist schön, ohne Frage, aber ist es auch richtig? Was ist mit dir?" fragte sie ihn.

"Ich habe nichts, mit dem ich es vergleichen könnte." sagte er nüchtern.

"Du hast nie eine Frau geküsst?" fragte sie. Scham verdrängte die Zuneigung. Jetzt wünschte sich Coen die Beherrschung zurück, denn diese negative Emotion beeinflusste sein bewusstes Handeln auf ungeahnte Weise.

"Geh jetzt." sagte er ruppig und ein zweites negatives Gefühl machte sich in ihm breit. Reue.

"Halt die Tür dort oben offen." gab sie ihm als letzten Ratschlag und verließ das Zimmer. Zurück blieb ein Coen, der sich für einen Moment nach der eiskalten Logik der vergangenen Tage zurücksehnte. Im Gegensatz zu Lust oder Wut war Reue ein beständiges Gefühl und konnte nur mit einer gezielten Aktion beendet werden. Perfekt um den Zugang zu seinen verborgenen Empfindungen offen zu halten. Er konnte jetzt spielen mit dem Gleichgewicht zwischen Beherrschung und verschiedenen Gefühlen. Mentale Regler ermöglichten es ihm die Dosierung zwischen Logik und Empfindung perfekt einzustellen. Es gab nicht den Idealzustand, soviel war ihm bewusst. Jede Situation würde ein anderes Gemisch erfordern und erst die Erfahrung würde ihm das Optimum aufzeigen, Jetzt hatte er das Werkzeug dafür, diese Erfahrungen zu sammeln. Ein nicht unerheblicher Teil an Vernunft zwang ihn dazu sich bei Kenya zu entschuldigen.

"Es tut mir leid." sagte er, als sie ihm die Tür öffnete. Schweigend begegnete sie ihm mit einem Blick, der voll von Zweifeln über ihr Handeln war. Nach kurzem Zögern ließ sie ihn herein.

"Ich fühle mich wie eine Pubertierende. All die Gefühle fahren gerade Achterbahn." sagte sie nervös und tigerte in ihrem Raum auf und ab.

"Du darfst die Beherrschung nicht vollkommen ausschließen. Nutze sie als Kontrollmittel. Du hast auch dieses Rattern im Kopf, das alle Variablen verarbeitet und dich zu der best möglichen Entscheidung führt. Jetzt ist eine Entscheidungshilfe dazu gekommen. Du darfst sie nur nicht zu stark einfließen lassen. Lerne sie einzustellen." versuchte er ihr zu helfen.

"Was ist die richtige Einstellung?" fragte sie hilflos.

"Das werden wir herausfinden."

Kenya schaute ihn regungslos an. Sie musste seine Worte verarbeiten. Wenige Augenblicke später kam sie auf ihn zu und jetzt registrierte Coen, dass genau er Gegenstand einer dieser zu justierenden Entscheidungen war. Sie ergriff die Initiative und küsste ihn erneut. Dieses Mal konnte er die einsetzende Flut an Euphorie bändigen und obwohl er sich weit weniger seinen Trieben ausgesetzt sah, erwiderte er ihren Kuss. Es gab kaum Argumente einen Schritt weiter zu gehen und doch begann er ihr Oberteil aufzuknöpfen. Der einfachen Einheitskleidung der Cree konnten sie sich schnell entledigen. Sie standen sich nackt gegenüber und ihre Blicke beinhalteten Lust, Zuneigung aber auch Zweifel. Er fuhr mit seiner rechten Hand ihre Tallie entlang, die so oft von ihren Freiern als größter Makel kritisiert wurde. Dieses vermeintliche körperliche Defizit löste in ihr regelmäßig unangenehme Gedanken aus, aber in diesem Moment verkam es zur Nebensache. Auch dieser Aspekt bedurfte einer neuen Bewertung und Kenya hatte beschlossen ihn mit Nichtachtung zu belegen. Die Prioritäten hatten sich verschoben. In welche Richtung war ihr bisher unklar.

Es gab keinen dominanten Part in ihrer Vereinigung. Ihr gleichberechtigtes Zusammenspiel funktionierte nicht von Anfang an perfekt, aber ihr verbesserter Verstand ermöglichte ihnen eine steile Lernkurve. Die Abstimmung ihrer Libido dauerte nicht lange und Coen merkte schnell, welcher Weg zum Optimum an Lust führte. Obwohl er einem weiblichen Körper nie nähergekommen war als in diesem Moment, bestanden keine Zweifel an seinem Tun. Der Schlüssel lag in gegenseitigem Vertrauen, dass beide in einer unausgesprochenen Vereinbarung auf unendlich festgelegt hatten. Dieses Fallen ins Bodenlose ermöglichte ihnen eine Beziehung, die keiner in dieser Intensität erlebt hatte. Intuitiv erkannten sie die Sehnsüchte des Anderen und so genossen sie die Zweisamkeit in einem Akt, der zwar kontinuierlich auf den Höhepunkt zusteuerte, diesen aber gezielt vermied. In der Vorrausicht, dass genau dieser Höhepunkt diese einzigartige Verbindung beenden würde, verzögerten sie in gemeinsamer Kooperation das Finale. Im Glauben ein Maximum an Intimität erreicht zu haben, gaben sie sich ihren Trieben hin, aber die Grenzen dieser Intimität war noch lange nicht erreicht.

Er lag auf dem Rücken und im fahlen Licht der Nachttischbeleuchtung wirkte ihr Körper in Farbe, Kontur und Bewegung perfekt. Seit geraumer Zeit berauschte er sich an der Verbindung, die sein Glied mit ihrem Unterleib eingegangen war. Rittlings saß sie auf ihm und in sanften Erhebungen trug sie ihren Teil zum Akt bei. Er stieß gelegentlich in sie und die Abstimmung dahingehend hatten sie perfektioniert. Ein Geben und Nehmen an Lust. Gelegentlich beugte sie sich zu ihm nach vorn und legte sich über seinen Körper, dass ihre Gesichter nur eine Hand breit voneinander entfernt waren. In diesen Augenblicken bewunderte er ihr Antlitz, dass er vor diesem Tag nur als gewöhnlich wahrgenommen hatte. Ihr Mund sorgte für ein Feuerwerk an Hormonen und die wilden dunklen Haare komplettierten dieses Kunstwerk. Was ihn aber wirklich um den Verstand brachte, waren ihre Augen. Dieser Blick, der ihr Innerstes nach außen zu kehren schien, entpuppte sich als der Inbegriff der Offenbarung. Nie hatte ihm jemand so offen seine Seele präsentiert. Dieses Empfinden von unendlichem Vertrauen erzeugte in ihm ein Gefühl, das er bis dahin nicht kannte. Selbstachtung.

Sie senkte ihren Kopf und küsste ihn. Ohne bewusste Überlegung schob er sein Glied tiefer in ihren Unterkörper und zu seiner Überraschung erfasste ihn eine Welle an unbekannten Empfindungen. Da war etwas in seinem Kopf, dass er nicht beschreiben konnte. Dieser Impuls der Lust wurde durch seinen Schub ausgesendet. Warum fühlte er sich als Empfänger. Verwirrung ergriff ihn.

"Was hast du?" fragte sie ihn, als er sie sanft zurückschob.

"Ich... Ich..." Coen rang nach Worten, aber wie sollte er etwas beschreiben, dass er in dieser Form noch nie erlebt hatte. Er schaute ihr tief in die Augen.

"Ich glaube ich war kurz in deinem Kopf. Oder warst du in meinem? Ich kann es nicht erklären, aber ich spürte für einen Moment deinen Trieb in mir." erklärte er ungelenk.

"Du hattest eine telepathische Verbindung?" fragte sie.

"Ich denke ja. Es war ungewollt." sagte er. Sie wirkte irritiert. Ihre Konfusion über diese Offenbarung war ihr sichtlich anzusehen.

"Warum habe ich dann nichts gespürt?" Sie bewegte ihren Unterleib und er spürte die Erregung, die diese Bewegung in ihm auslöste. Wieder war da nicht nur sein eigenes Empfinden. Dieses Mal war die Verbindung keine Einbahnstrasse.

"Wow." entfuhr es Kenya und sie beugte sich nach vorn. Wieder küsste sie ihn leidenschaftlich, aber dieses Mal spürte er nicht nur seine eigenen Endorphine. Er bekam die doppelte Dosis an Glückshormonen. Jetzt sahen beide keine Notwendigkeit mehr den Höhepunkt zu verzögern. In einer unglaublichen Spirale an Leidenschaft schaukelten sie sich gemeinsam dem Finale entgegen und als sie sich schließlich voneinander trennten, befanden sich beide in einer nie dagewesenen Verfassung aus Befriedigung, Erschöpfung und vor allem Glück.

"Was immer auch hier gerade passiert ist. Es war das Unglaublichste, das ich erlebt habe." Kenya wirkte immer noch schwach.

"Wir haben Grenzen überschritten." bestätigte Coen.

"Spürst du es? Die emotionale Blockade. Sie ist für immer eingerissen."

"Ich weiß nicht, ob wir schon so weit sind mit all den Gefühlen um zu gehen. Wir müssen sie wieder aufbauen nur dieses Mal behalten wir den Schlüssel." Coen klang skeptisch.

"Du hast Recht. Bei dieser arroganten Einstellung der Cree ist die Gefahr hoch, dass wir ernsthaft die Kontrolle verlieren." sagte Kenya.

Coen erhob sich, zog sich an und gab Kenya einen letzten Kuss. Noch einmal spürte er dieses telepathische Geben und Nehmen von Lust. Für einen Moment drohte ihn der gemeinsame Trieb zu überwältigen, aber genau hier musste die neue Selbstbeherrschung ein erstes Mal greifen. Mit Erfolg. Er ging zur Tür und gönnte sich einen letzten Blick zurück. Auch Kenya kämpfte mit den Versuchungen. Er war sich nicht sicher, ob sie ihr eigenes Bollwerk erfolgreich errichtet hatte. Der nächste Morgen würde Gewissheit bringen, denn die eigentliche Schutzfunktion nach der Transformation war für immer eingerissen. Sie waren ihren Emotionen hilflos ausgesetzt. Kenyas Vergleich mit der zweiten Pubertät beschrieb ihren Zustand noch am besten. Es würde eine Zeit dauern die neuen Gefühle einzuordnen.

Wie an jedem neuen Morgen trafen sie sich im Speisesaal zum Frühstück, das aus einer kargen Mischung aus Körnern und ein wenig Obst bestand. Ihr Tagesplan beinhaltete verschiedene gesellschaftliche Verpflichtungen am Vormittag, die sie nach und nach zu einem nützlichen Mitglied der Cree erziehen sollten. Die theoretische Option einer Rückkehr in ihre Heimat blieb zwar weiterhin bestehen, aber alle wussten, dass niemand diese Option wahrnehmen würde. Die Veränderung hatte den Planeten als etwas Unverrückbares in ihrem Inneren manifestiert. Es gab kein zurück mehr, das wussten Kenya und Coen. Umso schlimmer wog die Form, mit der diese erzwungene Heimat gestaltet wurde. Die Cree waren ihr Schicksal und sie entschieden über Leben oder Tod.

Kenya wirkte nicht souverän, als sie den Speisesaal betrat. Die Konfusion der letzten Nacht war ihr anzumerken und Coen fragte sich, ob sein eigenes Auftreten ähnlich unnatürlich wirkte. Sie durften nicht auffallen mit ihrem neuen Zugriff auf all die verwirrenden Emotionen. Er steuerte auf sie zu und mit einem auffordernden Blick sich zusammenzureißen, erlangte sie ihre Selbstbeherrschung zurück. Mit gespielter Gleichgültigkeit setzten sie sich an einen der Tische, die in ihrem langweiligen Aussehen perfekt das Bild der Cree widerspiegelten.

"Wie sieht dein Tag heute aus?" fragte er, um sie mit Banalem abzulenken. Heute wurde ihnen der notwendige Umgang mit technischen Geräten erläutert, die so zahlreich vermutlich nur hier auf Cree vorhanden waren.

"Ich lerne heute etwas über Wiederaufbereitung. Waren, Wasser und Luft." sagte sie leicht gedrückt.

"Wirst du es packen?" fragte Coen.

"Ich werde einfach meinen Mund halten und eifrig lernen."

"Ich habe das andere Ende. Herstellung von Metallwaren."

"Klingt, als hätten wir beide unseren Spass." kommentierte Kenya.

"Schön, dass die alte sarkastische Kenya langsam zurückkehrt."

"Pass auf dich auf." gab er ihr noch mit. Er erhob sich mit dem ungutem Gefühl, dass der Tag keinen guten Verlauf nehmen würde.

Coens Ausbilder war einer dieser typischen Jugendlichen, denen man unmöglich ihr jahrzehntelanges Leben auf diesem Planeten glauben konnte. Mit sturer Gelassenheit erläuterte er Coen die Funktionsweise eines 3D-Druckers. Er hatte von solchen Maschinen gehört, aber dieses Wunderwerk in Aktion zu sehen, versetzte Coen in Staunen. Stück für Stück wurden Dinge erschaffen, die als Alltagsgegenstände, Maschinenteile oder Waffen dienten. Dank seiner verbesserten Fähigkeiten war es ihm ein leichtes nicht nur die Bedienung zu verstehen. Obwohl die Erklärungen seines Lehrers gut und gerne das Vorwissen eines umfangreichen Technikstudiums voraussetzten, hatte er keine Probleme mit dem Verständnis der technologischen Hintergründe. Die schwer zu verstehenden Begriffe fügten sich so einfach zusammen und entfachten in ihm ein Feuerwerk an Endorphinen. Er hätte nie gedacht, dass das Aufsaugen von Wissen seinen Geist in einen euphorischen Ausnahmezustand versetzte. Ein Vergnügen, was dem herkömmlichen Cree durch seine beherrschende Logik verwehrt blieb. Mit dem Zugriff auf seine Emotionen gierte sein Verstand nach einer extra Portion Wissensdurst, die mit reiner Rationalität längst ihr Ende gefunden hätte. Er fühlte sich bestätigt darin, dass reine Beherrschung ihm einen wichtigen Teil seiner Entwicklung vorenthielt. Mit Mühe überstand er den Vormittag ohne seine leidenschaftliche Freude all zu offen darzulegen. Er hoffte, dass Kenya ähnlich erfolgreich ihr wahres Wesen verheimlichen konnte, aber ein einziger Blick in ihr aufgewühltes Gesicht verriet ihm das Gegenteil.

"Was ist passiert?" fragte er. Es war Mittagszeit und der sterile Speiseraum war zum zweiten Mal an diesem Tag ihr Treffpunkt.

"Das ist passiert." Sie legte ihm einen Gegenstand hin, den er nicht zuordnen konnte.

"Ein Kreuz? Was ist damit?" fragte er.

"Es gehört Benny. Einem unserer Begleiter. Ich habe es im Recycling-Modul gefunden." sagte sie nervös. Coen schaute ungläubig.

"Warum sollte das Kreuz hierbleiben, während er den Planeten offenbar verlassen hat?" fragte sie.

"Dafür gibt es bestimmt eine einfache Erklärung." erwiderte Coen.

"Irgendwas stimmt da nicht. Dieses Kreuz war ein persönlicher Gegenstand. Er würde ihn nicht so einfach zurücklassen." erwiderte sie aufgebracht. Erste Blicke fielen auf die beiden.

"Wir fallen auf." sagte er beunruhigt.

"Egal. Ich will wissen, was hier los ist." Alle Gespräche in ihrer Umgebung verstummten. Coen und Kenya standen jetzt im Mittelpunkt.

"Habt ihr nicht alle das Gefühl, dass die Dinge anders sind, als man uns versucht weiszumachen." erwiderte sie die ungläubigen Blicke der Umstehenden. Coen gab es auf sie zu beruhigen. Kenya wurde jetzt von ihren Gefühlen mitgerissen.

"Da ist diese kleine fragende Stimme in eurem Kopf. Die Cree versuchen alles sie zum Schweigen zu bringen, aber sollten wir nicht besser diesen Zweifeln nachgehen?" fragte sie hoffnungsvoll, aber die Reaktion ihrer Leidensgenossen ließ eher auf das Gegenteil schließen.

"Roboter. Ihr seid verdammte Roboter." sagte sie resignierend und leicht wütend. David betrat den Raum. Offenbar hatte Kenyas dramatischer Auftritt dazu geführt, dass jemand sich veranlasst sah ihn zu rufen. Langsam steuerte er auf sie zu.

"Beruhige dich." sagte er sanft in der Hoffnung ihr Temperament zu zügeln. Vergeblich.

"Ich will Antworten." Ihre Stimme bebte vor Erregung.

"Was habt ihr mit uns gemacht? Was habt ihr mit uns vor?" Sie war dabei vollends die Beherrschung zu verlieren. Coen konnte jetzt erste Anzeichen von Panik in ihrem Gesicht erkennen und gemeinsam mit ihrer überhasteten Atmung wirkte sie wie eine Ertrinkende, die durch die Wellen des Irrsinns unterzugehen drohte. Ihr stand eine geistige Kernschmelze bevor. Offenbar schienen die Gefühle ihren Verstand zu überfluten. Ihr selbstgeschaffenes Bollwerk der Rationalität wurde einfach überrannt. 

"Schau mich an." David hatte jetzt ihren Kopf zwischen seinen Händen und zwang sie ihn anzuschauen. Seine Stimme wirkte als beruhigender Gegenpol zu ihrer zu Wahnsinn neigenden Fragerei. Bevor sie ihren Widerstand starten konnte, schaffte er es etwas Ordnung in ihrem aufgeregten Geist zu schaffen.

"Atme tief ein. Konzentriere dich nur auf die Atmung. Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Ausatmen." Zehn Minuten wiederholte er diese Worte, wobei er langsamer und ruhiger wurde. Mit Erfolg. Coen konnte förmlich sehen, wie sie sich nach und nach entspannte und die Kontrolle über ihren Geist zurückgewann.

"Gut. Jetzt können wir uns unterhalten." Ein sanftes Lächeln huschte über sein Gesicht. Bedurfte es eines endgültigen Beweises, dass er sich nicht wie die herkömmlichen Cree verhielt, hatte er es spätestens damit bestätigt. Sie folgten ihm in einen separaten Raum, der in seiner Enge gerade Platz für einen kleinen Tisch und einige wenige Stühle zuließ. Wenigstens gab es hier ein Fenster, das künstliches Sonnenlicht hineinließ.

"Ich weiß nicht, was da gerade mit mir passiert ist." sagte Kenya entschuldigend.

"Ich schon. Ich habe das alles auch durchgemacht. Auch wenn das schon eine Ewigkeit her ist. Mein verändertes Gehirn sorgt dafür, dass ich es nie vergessen werde." erwiderte David fürsorglich.

"Du hast die innere Barriere zu deinen Emotionen auch abgerissen." schlussfolgerte Coen.

"Interessante Metapher. Um bei diesem Bild zu bleiben. Ich habe mir einen Durchgang zugelegt, nachdem ich merkte, dass diese Emotionen mich zu überrollen drohten." antwortete er.

"Dann bist du auch der Auffassung, dass all die Gefühle ein Teil der Entwicklung darstellen?" fragte Kenya.

"Natürlich. Es ist Teil des Geschenkes, das uns der Planet überlassen hat. Aber es ist auch unberechenbar." David klang geheimnisvoll.

"Wie ihr sicherlich wisst, war ich einer der ersten Siedler hier auf Cree. Ich habe erlebt, was passiert, wenn wie ihr sagt, die Barriere komplett eingerissen wird. Wut, Hass und Zorn sind starke Gefühle, die meist aus Trauer, Liebe oder Leid hervorgehen und uns zu unheilvollen Taten verleiten. Dieser ungebändigte Geist sorgte damals für unaussprechliches Elend. Als wir uns dieser zerstörerischen Wirkung bewusstwurden, haben wir beschlossen dieses emotionale Potential ungenutzt zu lassen." erklärte David.

"Ihr wart feige." ergänzte Coen.

"Wenn du gesehen hättest, was ich gesehen habe, würdest du es als Vorsicht beschreiben."

"Ihr habt diesen Kult aus Beherrschung erschaffen, weil ihr euch nicht zutrautet mit euren Gefühlen klar zu kommen. Aber du hast einen Weg gefunden." ergänzte Kenya.

"Ich hatte von dieser verbotenen Frucht bereits gekostet. Damit gab es kein zurück mehr. Mir drohte der Tod, aber ich hatte glücklicherweise das Momentum auf meiner Seite."

"Sie wollten dich hinrichten?"

"Die eiskalte Logik der Cree erforderte es mich als Gefahrenquelle zu eliminieren. Ich war eine emotionale Bombe für sie, die jederzeit hochgehen konnte. Zum Glück schaffte ich es sie von meiner Kontrolle zu überzeugen. Ihr habt es sicherlich schon mitbekommen, was in einem so extrem erweiterten Gehirn abläuft. Alle Variablen werden in einen Topf geworfen und ein komplizierter Gedankenprozess trifft die beste Entscheidung. Im Hinblick auf die drohende Konfrontation mit den Menschen sahen die restlichen Cree offenbar mehr Möglichkeiten als Risiken in mir. Der Vorteil eine der wenigen Schnittstellen zwischen den Menschen und uns zu sein, sicherte mir mein Überleben." erklärte David ruhig.

"Ein Glück, dass nicht vielen Cree vergönnt war." bohrte Coen weiter.

"Ich fungierte als Vermittler und trotz der anfänglichen Erfolge, stand am Ende eine Katastrophe." David klang betrübt.

"Was ist passiert?"

"Als die Menschen registrierten, was hier auf Cree mit ihnen passierte, schickten sie eine gigantische Streitmacht, um das vermeintliche Übel auszumerzen. Trotz der Vielzahl an Schiffen, den tausenden Soldaten und der überlegenen Technologie bekamen sie uns nicht zu greifen. Wir waren mittlerweile ein Teil des Planeten geworden. Der dichte Dschungel bot viele Möglichkeiten für Verstecke. Als sie ein Großteil ihrer Fußtruppen durch die Veränderung zum Cree gewaltlos an den Feind verloren, erklärten sie sich zu Kompromissen bereit."

"Und du warst der Vermittler?"

"Ja. Ich war der Einzige, der beide Seiten verstand und so handelte ich einen Frieden aus. Eine ihrer wenigen Bedingungen bestand darin, dass wir unseren Planeten niemals verlassen durften. Ein guter Handel für uns, da jeder Cree eine Art Verbindung mit dieser Welt eingeht, die uns für immer hier bindet. Wir hatten die Möglichkeit unbehelligt von den Menschen unsere eigene Gesellschaft zu entwickeln. Doch sie hintergangen uns. Sie sorgten mit einer stellaren Blockade dafür, dass keine auswärtigen Besucher unser Volk unfreiwillig erweitern würden." erklärte David.

"Diese Blockade war ein existenzbedrohendes Problem. Habe ich Recht?" fragte Kenya.

"Ja. Dieser Ausschluss vom Rest der Galaxie brachte mehrere Probleme mit sich. Wir waren zu wenige. Es drohte uns spätestens nach der vierten Generation eine Degeneration im Erbgut. Die heutige Nanotechnologie besaßen wir damals noch nicht. Man hatte uns zwar die Medizintechnik gelassen, da wir aber von wichtigem Nachschub und Ersatzteilen abgeschnitten waren, konnten wir diese nur eingeschränkt nutzen. Wir waren von jeglichem Handel abgeschnitten und selbst wenn wir eine unabhängige Selbstversorgung hinbekommen hätten, wären wir über die Jahre hinweg vermutlich ausgestorben. Wieder gab es dieses Zusammenfassen aller möglichen Variablen, die in diesem komplizierten Algorithmus nur eine Lösung zuließen."

"Ihr habt das Abkommen gebrochen." schlussfolgerte Coen.

"Die Blockade von Cree war nie Teil des Abkommens. Wäre mir dieser Fakt von vornherein bekannt gewesen, hätte ich diesem Abkommen nie zugestimmt. Alle Versuche, wenigstens lebensnotwendige Güter auf den Planeten zu lassen, scheiterten an der Sturheit der Menschen. Der geschlossene Kompromiss sollte uns über die Dekaden aushungern. Nicht wir waren die Vertragsbrüchigen. Wir mussten uns wehren und wir taten es. Wir schafften es die energetische Ladung, die für die Veränderung des Gehirns zuständig war, zu konservieren. Es gelang uns sie an Bord der Blockadeschiffe zu transferieren und somit die Besatzung in Cree zu wandeln. Zu diesem Zeitpunkt merkten wir zum ersten Mal, dass nicht alle Menschen geeignet waren für die Veränderung. Wir hatten dadurch ein paar wenige Gefangene und wussten nicht so Recht, was wir mit ihnen machen sollten. Da wir eine erneute militärische Invasion befürchteten, haben wir beschlossen sie als Geste des guten Willens frei zu lassen. Ein großer Fehler, denn damit lieferten wir dem Feind die Munition für die ultimative Waffe."

"Den Virus."

"Vorerst versuchten sie es auf die herkömmliche Weise. Wieder schickten sie eine Streitmacht, die dieses Mal unsere Lebensgrundlage zerstören sollte. Sie planten mit Unmengen an Brennstoffen den Dschungel niederzubrennen. Unzählige Tanker sollten in der Atmosphäre ihre unheilbringende Fracht über die Wälder von Cree ergießen, doch hier zeigte sich der Vorteil unserer erweiterten Gehirne. Obwohl wir mit den erbeuteten Blockadeschiffen zahlenmäßig unterlegen waren, konnten wir diesen Makel mit taktischer Raffinesse ausgleichen. Nicht ein einziges feindliches Schiff erreichte den Planeten und zum ersten Mal in diesem Konflikt verloren hunderte von Menschen und Cree ihr Leben. Mit dieser Schlacht überschritten wir eine Grenze und der Krieg wurde endgültig schmutzig. Uns war klar, dass die Menschen uns niemals akzeptieren würden. Wir begannen mit Hilfe der gezähmten Energieladungen die Population der Cree außerhalb unseres Planeten zu erweitern. Gegen meinen Rat gingen wir aktiv dazu über die Menschen zu wandeln. Im Angesicht der unvermeidlichen Niederlage stellten wir unseren Feind damit vor eine Bedrohung, die ihn zwang seine schlimmste Waffe einzusetzen. Aus den resistenten Überlebenden des ersten Aufstandes hatten sie einen genetischen Virus erschaffen, der Cree und  Menschen mit extrem hoher Wahrscheinlichkeit tötete. Ihre Verzweiflung war so groß, dass sie beschlossen den größten Teil ihrer eigenen Population zu opfern, um uns die Grundlage zur Übernahme der Galaxie zu entziehen. Milliarden von Individuen starben. Was für ein Wahnsinn. Den Virus überlebten die Resistenten und einige wenige Cree, die wie durch ein Wunder immun waren. Leider übertrug sich diese Immunität selten auf unseren Nachwuchs, sodass unsere Anzahl unwesentlich gewachsen ist."

"Dieser Kult aus Beherrschung hat am Ende tausendfaches Leid verursacht. Ist euch nie der Gedanke gekommen, dass eurer Weg falsch ist?" fragte Coen.

"Nicht wir haben all diese Menschen und Cree getötet."

"Aber es war eine unmittelbare Folge eurer Entscheidungen. Was macht euch so überlegen, wenn ihr diesen Fehler ein zweites Mal wiederholt?" fragte Kenya und lenkte den Fokus auf ihr eigenes Dilemma.

"Es wird keine weiteren Cree geben. Wir sehen das Experiment als gescheitert an." sagte David traurig.

"Was ist mit den Anderen passiert?" Kenya kramte das Kreuz hervor und zeigte es David als Sinnbild eines schlechten Gewissens. Dieser blieb schweigsam.

"Das meintest du mit verlassen. Sie sind gestorben. Habe ich Recht?" Sie hatte Mühe ihre Gefühle im Zaum zu halten.

"Nicht alle. Wir haben die Experimente abgebrochen, nachdem die Todesrate ein gewisses Maß überschritten hatte. Offenbar stellten sich nur bei der Hälfte der Probanden die gewünschten Veränderungen ein. Bei der anderen Hälfte verlief die Transformation chaotisch." erklärte David.

"Ihr werdet nicht in die Galaxie hinausziehen und alle zu Cree wandeln?" fragte Coen.

"Das war nie unser Plan. Sollten wir anfangen die Cree in der Galaxis zu verbreiten, würden wir unweigerlich Aufmerksamkeit auf uns ziehen. Wir wollen hier auf dem Planeten unsere Population erweitern. Dabei haben wir einen Aspekt gewaltig unterschätzt. Die Integration neuer Cree in unsere Gesellschaft." antwortete David.

"Wir sind Problemfälle für euch?" fragte Kenya.

"Nein. Ihr seid Probanden, aus denen wir Erkenntnisse schlussfolgern. Wenn ein bestimmter Prozentsatz sich nicht wie vorgesehen integrieren lässt, müssen wir schauen, welche zusätzlichen Maßnahmen erforderlich sind."

"Da wir mit der Denkweise der Cree vertraut sind, vermute ich mal, dass nach Scheitern aller möglichen Optionen als letztes nur die Eliminierung bleibt." schlussfolgerte Kenya.

"Wir haben diesen Schritt mit einer Wahrscheinlichkeit von unter 2% bewertet." Davids Versuche sie zu beruhigen, schlugen fehl.

"Mit anderen Worten: Wir fügen uns oder wir sind tot." Kenya klang aufgebracht. David vermied es zu antworten.

"Sie hat Recht. Würden die Cree unseren Drang nach Emotionen akzeptieren? Was, wenn wir keine gefühlskalten Entscheidungsfinder werden wollen, sondern unsere Empfindungen als Variable mit einbeziehen. Würden sie weitere Davids dulden?" fragte Coen.

"Ich kann dir diese Frage derzeit nicht beantworten. Da unsere Population auf Grund des Fehlschlags begrenzt bleibt, werden wir alles Nötige dafür tun, dass ihr Teil der Gesellschaft werdet." Damit ließ er die beiden allein.

"Ich will nicht hierbleiben. Ich will nicht diese verdammte Einheitskleidung tragen, mich nur von Gemüse ernähren und mich mit diesen seelenlosen Übermenschen umgeben. Die werden sich nicht ändern. Nie und nimmer werden sie Gefühle in ihren Verstand lassen. Wir müssen hier weg. Weg von diesen Zombies." Kenya war aufgewühlt.

"Du weist das können wir nicht. Der Planet ist in uns. Wir brauchen ihn, wie die Luft zum atmen. Diese Welt ist jetzt unser Schicksal." antwortete Coen.

"Ich kann mich damit nicht abfinden." Sie kam auf ihn zu bis ihre Gesichter keine handbreit von einander entfernt waren.

"Derzeit kann ich meinen Gefühlen nicht trauen, aber eine Sache weiß ich. Was zwischen uns auch ist, es besitzt eine Dimension von Intimität, die vermutlich einmalig ist. Diese telepathische Verbindung hat uns in einer Weise vereint, die eine Trennung unmöglich macht. Was die Zukunft auch bringt, wir müssen es gemeinsam bewältigen." Ihre Stimme klang verletzlich. Nun brachen auch bei Coen alle Dämme. Er begann sie leidenschaftlich zu küssen und als diese besprochene Verbindung sich erneut etablierte, begriff er, dass sie Recht hatte. Es gab kein einzelnes Er oder Sie mehr. Ihre Beziehung hatte die Grenze jenseits der Liebe überschritten. Ihre Existenz gab es nur noch gemeinsam.

Die Wochen vergingen. Coen gab sich weiterhin der Hoffnung hin die Cree dahingehend zu ändern, dass sie ihre emotionale Seite in ihr Wesen und damit in die Gesellschaft ließen. In Kenya dagegen wuchs der Drang all die restriktiven Vorgaben ein für allemal hinter sich zu lassen und unabhängig von geistiger Stabilität eine eigenständige Zukunft jenseits der Cree zu gestalten. Diese abweisende Haltung zu ihren Gastgebern isolierte sie mehr und mehr. Noch gab es Coen, der sie jeden Abend stabilisierte, aber diese Zweifel an einer gemeinsamen Zukunft innerhalb der Cree ließen sich nicht einfach beseitigen. Es fühlte sich falsch an Teil einer Gemeinschaft zu werden, welche sie unter schäbigen Voraussetzungen zu dieser Transformation gezwungen hatte und nicht davor zurückschrak Menschenleben zu opfern. Sie konnte nicht verstehen, wie Coen und die anderen diese Tatsache ausblenden konnten. Die Cree hatten sie hintergangen und geistig vergewaltigt. Vielleicht wäre sie trotz ihrer rebellischen Gedanken eines Tages bereit gewesen diesen Weg des geringsten Widerstands zu gehen, aber ein neuer Beweis für die Verschlagenheit der Cree wandelte ihre Zweifel endgültig in Widerstand.

An jenem Tag absolvierte sie wieder eine dieser Einweisungen, die sie auf jede mögliche Aufgabe innerhalb der Cree-Gesellschaft vorbereitete. Einer dieser austauschbaren Ureinwohner erklärte ihr in stumpfsinniger Eintönigkeit die langweiligen Grundlagen der internen Buchhaltung. Nach drei Stunden hatte sie die wesentlichen Grundzüge der Software begriffen. Im Selbststudium konnte sie das Erlernte vertiefen und so überließ man ihr den Arbeitsplatz um die Feinheiten selbstständig zu ergründen. Um die Sache etwas interessanter zu gestalten, tippte sie ihren eigenen Namen in die Suchmaske ein. Anhand der persönlichen Registriernummer überprüfte sie ihre angelernten Fähigkeiten und zu ihrer Überraschung stieß sie auf einen Ausgabeposten, der nicht eindeutig zu zuordnen war. Z3129. Die Klassifizierung Z passte nicht in die von Effizienz strotzende Buchhaltungsstruktur der Cree. Sie wurde neugierig, was dieser Fremdkörper innerhalb des Systems ausgerechnet mit ihr zu tun hatte. Mit Hilfe eines schnell entworfenen Algorithmus engte sie die Ausgaben dieses Postens auf Cayuse ein. Ein Name ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Alfie.

Bevor sie überhaupt begriff, warum ihr dieser Name so instinktiv Unbehagen verschaffte, hatte ihr übernatürliches Gehirn die einzelnen Bausteine bereits zusammengesetzt. Alfie war ein ehemaliger Kunde von ihr gewesen und die Ungeschicktheit, mit der er seinen erkauften Liebesdienst vollzog, ließ auf mangelnde Erfahrung mit Frauen schließen. Tatsächlich hatte Kenya damals schon die Vermutung, dass Alfie mehr dem eigenen Geschlecht frönte und seine wenigen Besuche eine Art Horizonterweiterung darstellten. Ihr war es egal. Die Bezahlung lag oberhalb der üblichen Tarife. Mit der Entdeckung seines Namen in der Buchhaltungssoftware der Cree wurde ihr der wahre Grund seiner Versuche am unbekannten Geschlecht bewusst. Man hatte ihn bezahlt. "CDG" schoss es ihr durch den Kopf. Statistisch gesehen waren dreiviertel aller Infizierten homosexuelle Männer. Diese verdammten Cree wussten, dass Geld die damalige Kenya nicht bewegen konnte Cayuse für ein medizinisches Abenteuer zu verlassen. Zorn stieg in ihr auf. Sie war ein Opfer perfider Spiele geworden. Der übermächtige Drang Jemanden weh zu tun war schwer zu zähmen, aber dahingehend hatte ihr David in den letzten Wochen ein paar verlässliche Techniken gezeigt. Diese zügelten ihr Temperament erfolgreich. Vorerst jedenfalls. Sie verließ das Gebäude um einen frischen Atemzug aufbereiteter Luft zu nehmen.

Sie stand auf der Strasse und schloss die Augen. Die unzähligen Crees, die unaufgeregt ihren täglichen Beschäftigungen nachgingen, waren nicht hilfreich ihre angestaute Wut unter Kontrolle zu halten. Jeder Einzelne dieser Gestalten hatte das Potential den Deckel ihres brodelnden Kochtopfes davonfliegen zu lassen, also versuchte sie ihre Umgebung auszublenden. Vergeblich. Ihr innerer Druck schien sich nicht abbauen zu wollen. Viel zu schnell steuerte sie auf eines der Gebäude zu, dass es zu dieser Zeit unbewohnt war. Unter fragenden Blicken öffnete sie die Eingangstür und als sie mit pochendem Herzen die Tür hinter sich schloss, war sie bereit ihrer Wut ein Ventil zu geben.

Sie befand sich in einem Labor, dass ausschließlich zur Qualitätskontrolle der örtlichen Getreideproduktion diente. Da dieser Vorgang nur einmal die Woche von Nöten war, wurde diese Einrichtung nur sporadisch genutzt. Ein perfekter Zufluchtsort. Ihr Blick fiel auf einen der Kleiderständer, auf dem vorschriftsmäßig ein paar Laborkittel hingen. Ein Abbild der Cree jedes Detail in akribischer Sorgfalt umzusetzen und sei es nur die Kleiderordnung.

"Ich hasse euch." brüllte sie die Kittel an und riss sie von den Haken. Der Ständer kippte um und verbreitete ein befriedigendes Gefühl von Unordnung. Eine perverse Genugtuung machte sich in Kenya breit. Sie bewunderte die chaotische Lage des Kleiderständers. Davon musste es mehr geben, also warf sie einen der Bürostühle um. Der Kick dauerte nur kurz und war nicht wirklich befriedigend. Sie ergriff den Ständer und schleuderte ihn in Richtung des nächststehenden Computers. Klirrend brach das Glas des Monitors und dieses Mal dauerte das triumphale Gefühl des Chaos stiften ein paar Sekunden länger. Ihrem Rausch fielen weitere Monitore zum Opfer und als der letzte zerbrochen war, mussten die unzähligen Regale herhalten, die gefüllt mit Reagenzgläsern in ihrer zerbrechlichen Melodie nur unwesentlich anders klangen als die Computertechnik zuvor. Jeder Gegenstand aus Glas in diesem Labor wurde Opfer von Kenyas Zerstörungswut. Eine Pipette weigerte sich trotz Schwerkraft zu zerbrechen. Ein perfekter Anlass für Kenya so lange auf sie einzutreten, bis jeder Glassplitter zu Staub zermalmt war. Sie stoppte ihre Verwüstungsorgie erst nachdem alles Zerbrechliche in diesem Raum zumindest halbiert war. Erst jetzt setzte ihr Verstand wieder ein und als sie sah, was sie angestellt hatte, überkam zuerst Verzweiflung und dann Erleichterung. Endlich hatte sie eine Entscheidung getroffen. Nie und nimmer würden die Cree ihr diesen Akt des Vandalismus durchgehen lassen. Jetzt hatte sie endgültig gegen die Spielregeln verstoßen und damit unfreiwillig ihren inneren Zwist aufgelöst. Selbst mit größter Beherrschung wäre es ihr nicht möglich ein angepasstes Mitglied der Cree zu werden. Die Folgen wurden ihr unmittelbar bewusst. David kam ihr in den Sinn und sein Glück trotz aller Empathie der Hinrichtung entgangen zu sein. Ein Glück, was ihr verwehrt bleiben würde. Der hoch gezüchtete Gehirnalgorithmus kannte dieses Mal keine Gnade. Ein gescheitertes Experiment, dass am Ende mit bedingungsloser Logik beendet werden musste.

Sie öffnete die Tür und trat ins Freie. Die ohnehin geräuscharme Kulisse der Stadt war endgültig zum Erliegen gekommen. Gefühlte tausend Blicke ruhten auf ihr. Keinerlei Vorwürfe konnte sie in den Gesichtern lesen. Da war nur eintönige Gleichgültigkeit zu erkennen, die ihren Zorn erneut anzufachen drohte. Dieses Mal konterte sie das aufkommende Gefühl mit Verachtung.

"Ich fühle mich freier, als ihr es je sein werdet." sagte sie gelassen. David durchquerte die Menge und blieb mit traurigem Gesichtsausdruck vor ihr stehen.

"Es ist in Ordnung." sagte sie sanft.

"Ich bin froh endlich eine Entscheidung getroffen zu haben."

"Ich habe versagt." Die Verzweiflung in seiner Stimme war groß.

"Ihr alle habt versagt. Wie sagte einst ein weiser Mensch in der Vergangenheit. Es ist töricht das Gleiche zu tun und eine andere Reaktion zu erwarten. Hört auf damit Menschen zu eures Gleichen zu machen." Ohne Aufforderung ging sie in das Hauptgebäude und betrat ihr Quartier. Wenn sie richtig lag mit ihren Überlegungen, würde noch heute Abend über ihr unausweichliches Schicksal entschieden werden. Damit hatte sie maximal noch zehn Stunden zu leben.  

 

Kapitel 3

Coen stand mit gesenktem Haupt in ihrem Quartier, welches sie nach der Verwüstungsorgie im Labor nicht mehr verlassen durfte. Offiziell war sie keine Gefangene. Sie stand unter Arrest. Die Wahrscheinlichkeit war hoch, dass sie nie wieder etwas Anderes sehen würde, als diese kläglichen Wände ihres spärlich eingerichteten Quartiers. Seit zehn Minuten standen sie sich gegenüber und sagten kein Wort. Sie verweigerten sich körperlicher Intimität. Kein Kuss. Nicht einmal eine Umarmung gab es zur Begrüßung. Allein ihr telepathisches Verhältnis erlaubte ihnen trotz der physischen Entfernung eine Verbindung, die geprägt war von Sorge, Trauer und Trennungsschmerz.

"Es ist in Ordnung." sagte sie nach einer gefühlten Ewigkeit, obwohl Worte eigentlich unnötig waren.

"Das ist es nicht, aber es gab keine Lösung für unser Dilemma." sagte er sanft.

"Da haben sie uns soweit verändert, dass wir die bestmögliche Entscheidung treffen und dann gibt es immer noch Probleme, auf die wir keine zufriedenstellende Antwort finden."

"Vielleicht haben sie ja Recht und Emotionen führen uns in solche Sackgassen." sagte er. Kenya schwieg. Beide wussten, dass diese Worte gegen ihre Überzeugung waren.

"Wann werden sie ihre eiskalte Logik an mir anwenden?" fragte sie ängstlich.

"Noch ist der Integrationsprozess von uns Anderen nicht abgeschlossen. Sie befürchten negative Einflüsse, wenn sie dich sofort hinrichten. Du wirst noch eine Weile verschont werden."

"So lang, bis alle die Notwendigkeit einsehen." sagte sie trocken.

"Ich werde das nie." antwortete er.

"Dann bleibt dir nur eine Alternative. Wir gehen gemeinsam auf das Schafott."

"Sie haben David akzeptiert. Warum sollten sie dich nicht akzeptieren?" Coen klang resigniert, da er die Antwort bereits kannte.

"Weil ich es nicht will." sagte sie ruhig. Er wollte zum Widerspruch ansetzen, aber ein einziger sanfter Blick von ihr ließ ihn verstummen.

"Ich habe mich gegen die Cree entschieden." sagte sie ruhig. Coen kämpfte mit den Tränen. Das Schicksal hatte sie zusammengeschweißt und nun drohte es sie mit ungeahnter Grausamkeit zu zerreißen. Eigentlich wollte er jeden verbleibenden Augenblick mit ihr genießen, aber die Intensität der negativen Gefühle überforderte ihn. Ohne ein weiteres Wort verließ er ihr Quartier, um sich hinter seiner selbst erbauten Barriere zu verstecken. Es fühlte sich feige an, sich seinen Emotionen zu entziehen und dieser niederträchtigen Logik Spielraum zu lassen. Ein Logik, die auch ihn eines Tages davon überzeugen würde zum Wohle der Cree diesen grausamen Schritt zu gehen. Er war es ihr schuldig hemmungslos zu weinen und so kroch er im Schutze seines eigenen Quartiers aus seiner vermeintlichen Sicherheitszone hervor und füllte sein Kopfkissen mit Tränen. Es befreite seinen Geist auf natürliche Weise von diesen lästigen Gefühlen der Verlustangst. Mit neuem Tatendrang akzeptierte er die Gegenwart, nicht ohne sich eine Alternative für die scheinbar unverrückbare Zukunft zu überlegen. Wozu hatte er dieses geniale Werkzeug in seinem Kopf? Er wusste noch nicht wie, aber er war nicht bereit Kenya so einfach zu opfern.

Am nächsten Tag bestellte David ihn zu einem persönlichem Gespräch. Der Vorfall im Labor hatte für Unruhe unter den Cree gesorgt. In herkömmlichen Städten war Vandalismus ein allgegenwärtiges Verbrechen, was nur geringfügig bestraft wurde. Hier war es ein Ereignis, dass für weitreichende gesellschaftliche Veränderungen sorgte. Zu allem Überfluss wurde es von einer Auswärtigen begangen, der gönnerhaft das Geschenk einer Mitgliedschaft angeboten wurde. Ihre zerstörerische Ablehnung hatte die Cree dazu veranlasst eine generelle Überprüfung ihres Experimentes vorzunehmen.

"Wir müssen sichergehen, dass dieses Ereignis ein einmaliges und individuelles Vergehen darstellt. Von daher bitte ich dich die Fragen ehrlich zu beantworten." sagte David fürsorglich.

"Wie geht es dir?" fing er an und überraschte Coen mit dieser unpräzisen Frage.

"Nicht gut." Coen bemühte sich um Selbstsicherheit.

"Du hast eine spezielle Beziehung zu ihr. Kannst du mir beschreiben auf welche Art?"

"Sie ist telepathisch." Er wusste, dass es keinen Sinn machte zu lügen, also beschränkte er seine Antworten auf ein Minimum an Wahrheit.

"Das ist ungewöhnlich in eurer Phase der Entwicklung. Niemand anders in der Gruppe war bereits so weit. Du sagtest mir, dass du von ungewollten Emotionen geplagt wurdest. Wie steht es damit?"

"Ich habe sie unter Kontrolle, auch dank deiner Hilfe."

"Es besteht eine Art Skepsis innerhalb der Gesellschaft."

"Das ist verständlich, aber ich versichere dir, dass ich hier nichts kaputt schlagen werde."

"Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass ihr nie die vollkommene Beherrschung der Cree erlangen werdet. Wir stehen vor der Entscheidung, ob wir euch trotz der erkennbaren Mängel aufnehmen sollen." sagte David.

"Warum? Was ist der Grund, weshalb ihr euren Anspruch an Perfektion aufgebt?" fragte Coen.

"Dieses Experiment diente nicht nur der Vermehrung der Cree auf technische Art und Weise. Mit eurem Erbgut erhöhen wir die Wahrscheinlichkeit von Virus resistenten Nachkommen." erklärte David.

"Das mag sein, aber das erhöht ebenfalls die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Nachwuchs sich nicht zum Cree entwickelt. Da eure Nanotechnologie keine zuverlässige Umwandlung garantiert, würdet ihr nur Menschen heranzüchten." schlussfolgerte Coen.

"Das ist korrekt. Die Wahrscheinlichkeit einen gesunden Cree zu zeugen liegt bei unter 1%. Unsere Genetiker sind aber in der Lage den Wert signifikant zu erhöhen."

"Wie?"

"Der Schlüssel liegt wieder in der Nanotechnologie. Ich lasse dir gerne die genetischen Details zukommen, aber im Grunde helfen die Nanobots bei der Vorauswahl der männlichen Spermien. Die Erfolgsrate ist von Mann zu Mann unterschiedlich. Wir haben euch nach passenden genetischen Mustern ausgewählt."

"Das bedeutet, wir bekommen weitere Nanobots gespritzt?"

"Ja. Im Falle einer positiven Entscheidung über den Verbleib."

"Was passiert mit uns sollten die Cree entscheiden, dass wir nicht würdig sind Teil eurer Gesellschaft zu werden?"

"Darüber haben wir noch nicht entschieden." antwortete David. Coens Sorge, dass in diesem Fall höchstwahrscheinlich alle Kenyas Schicksal teilen würden, war nicht ganz unbegründet.

Mit ungutem Gefühl wurde Coen entlassen. Er wusste, dass der Planet Cree Teil seines Wesens geworden war. Sicherlich wäre es möglich auch außerhalb zu leben, aber ein wesentlicher Bestandteil seines Seins würde fehlen. Ein Mensch konnte sein Leben lang im Dunkeln hausen, doch das Sonnenlicht war mehr als nur die Beleuchtung der Umgebung. Es war Teil seiner Körperchemie und so ähnlich verhielt es sich mit Cree. Die Abkehr vom Planeten war keine Option. Nur in der Gesellschaft der Cree war ein angemessenes Leben möglich und darauf hoffte er trotz aller Differenzen. Das gelang nur, wenn sich ihre Schöpfer ebenfalls anpassten. Vielleicht war über die Jahre ein Einfluss der Neuankömmlinge dahingehend möglich. Vorerst war das alles unwichtig. Seine Prioritäten lagen auf der Rettung von Kenya. Noch waren die Variablen zu chaotisch um einen geeigneten Plan zu ergründen. Blieb die Hoffnung eine passende Gelegenheit zu erkennen, sollte sie sich ihm eröffnen.

Nachdem Coen die neuen Informationen verarbeitet hatte, kam er zu dem Schluss, dass die Verzweiflung der Cree sie zur Weiterführung des Experiments treiben würde. Zu gut kannte er mittlerweile die Gedankengänge seiner Gastgeber. In den letzten zwanzig Jahren gab es zu viele Fehlgeburten, als dass sie die Möglichkeit einer Verbesserung ihrer Chancen so einfach ausschlagen konnten. Er hatte sich zu den genetischen Hintergründen des Virus erkundigt und zum ersten Mal stieß sein erweitertes Gehirn an seine Grenzen. Welch teuflisches Genie sich diese tödliche Waffe auch ausgedacht hatte, eine Entschärfung war fast unmöglich. Selbst die schlausten Cree konnten höchstens die Streuung eingrenzen und genau da kam er ins Spiel. Offenbar war seine Genetik bestens geeignet um dieser Bürde wenigstens einen Teil seines Schreckens zu nehmen. Es schauderte ihn bei dem Gedanken, dass unzählige seiner Nachfahren die zukünftige Basis der Gesellschaft der Cree stellen sollten.  

Die Tage vergingen und Coen legte sich eine tägliche Routine zu, die jeden Abend mit dem Versuch endete Kenyas angeschlagenen Gemütszustand zu stabilisieren. Er brauchte keine Worte um mit ihr zu kommunizieren. Die verbale Art und Weise beschränkte nur die Möglichkeiten und so ermöglichte ihnen ihre Verbindung eine Gemeinschaft, die wohl einzigartig war in dieser Galaxie. Liebe und Intimität waren nur die Vorstufen dessen, was sie jeden Abend verwirklichten. Diese Abhängigkeit voneinander war im Angesicht von Kenyas bevorstehendem Schicksal Fluch und Segen zu gleich. Ihr Tod würde auch ihn zum größten Teil sterben lassen. Sich dessen bewusst, begann sie eines Tages sich ihm zu verweigern. Stück für Stück entwöhnte sie ihn von dem, was am besten mit Steigerung von Intimität zu beschreiben war. Für Kenya gab es nur wenig Hoffnung. Sie mussten die Zeit nutzen, um wenigstens Coens Absturz zu mindern.

"In drei Tagen werden sie uns offiziell weihen." Die Rückkehr zur verbalen Kommunikation war ein wesentlicher Teil ihrer unfreiwilligen Therapie. Es fiel ihm schwer die Lippen zu bewegen. In der Regel wurden Gedanken nicht nur einfach ausgetauscht. Ein Bestandteil ihrer telepathischen Beziehung war die emotionale Komponente. Er wusste um ihren seelischen Zustand, bevor auch nur ein Wort der eigentlichen Botschaft bewusst verarbeitet wurde. Jetzt hatte Kenya den Zugang zu ihrem Kopf verriegelt und so blieb ihm nur diese primitive Art der Kontaktaufnahme.

"Wie soll das ablaufen? Müsst ihr einen Eid schwören?" fragte sie nicht ohne Spott.

"Nein. Wir bekommen weitere Nanotechnologie."

"Die Weihe der Unsterblichkeit. Während meine Tage gezählt sind, wird dein Leben auf unendlich gesetzt." sagte sie bitter.

"Noch bist du nicht tot." Als Antwort bekam er ein resignierendes Stöhnen.

"Ich bekomme zwei weitere Technologien." fuhr er fort. Auch ohne Telepathie konnte er ihre Neugierde erkennen.

"Stell dir vor sie wollen mich als Vater ihrer Nachkommen."

"Sie haben etwas entwickelt, was die Überlebensrate ihres Nachwuchses verbessert?"

"In Kombination mit meiner Genetik."

"Und das Dritte?" fragte sie.

"Die Überwindung genetisch gesicherter Sperren." Kenyas Überraschung war offensichtlich.

"Du weißt, was das bedeutet? Wie erklären sie diese angebliche Notwendigkeit?"

"Eine Vorsichtsmaßnahme."

"Pah. Sie werden nicht aufhören zu versuchen die ganze Galaxie zu Cree zu machen."

"Mag sein." drückte er gepresst raus.

"Was?" fragte sie, denn offensichtlich bedrückte ihn noch etwas Weiteres. Er musste nicht antworten, denn auch Kenya wurde bewusst, was die vollständige Aufnahme in die Gesellschaft der Cree für sie persönlich bedeutete.

"Wie?" fragte sie stattdessen.

"Ist das von Bedeutung?" fragte er gereizt.

"Wie ich sie kenne, wird es ziemlich schmerzlos ablaufen."

"Ich werde das nicht zulassen. Besinne dich. Mit ein wenig Überzeugung überdenken sie ihre Entscheidung, aber du musst dich anpassen." Er klang flehentlich. Langsam kam sie auf ihn zu, streichelte mit beiden Händen seine Wangen und küsste ihn leicht auf den Mund. Ein zufriedenes Lächeln zierte ihr Gesicht.

"Ich liebe dich und du liebst mich. Wenn ich mich anpasse, ist das nicht die Person, für die du diese starken Gefühle hegst. Beide könnten wir nicht mit der Kenya leben, die die Cree unbedingt wollen." sagte sie sanft.

"Dann flieh."

"Wohin? Außerdem lassen sie mich nie und nimmer einfach ziehen. Sie werden mich finden."

"Ich rede mit ihnen. Irgendeine Lösung wird sich finden." Seine Gefühle drohten ihn zu übermannen. Fluchtartig verließ er das Zimmer und als er in seinem eigenen Bett auf die kahle Decke starrte, überkam ihn selbst das Verlangen nach Zerstörung. Er wusste, dass es Zeit wurde sich hinter sein mentales Bollwerk zu verziehen, sonst wäre Kenya nicht die Einzige, die auf möglichst schonende Art und Weise der Cree entsorgt wurde. Für einen rebellischen Moment malte er sich aus, wie sie gemeinsam die Spritze gesetzt bekamen und in telepathischer Vereinigung dem Tod entgegen steuerten. Die Logik drängte ihn hinter das Bollwerk und als all die schädlichen Gefühle gezähmt waren, begann er eine Alternativlösung zu ersinnen. Er fand vielversprechende Ansätze und mit zunehmender Zuversicht, traute er sich mehr Emotionalität zu. Er brauchte diesen Teil seiner Persönlichkeit, denn hier lag sein einziger Vorteil gegenüber den Cree. Kenyas Schicksal schien plötzlich nicht mehr unumstößlich.

Die eigentliche Zeremonie der Aufnahme wirkte wenig feierlich. Coen wurde in einen sterilen Raum geführt, dessen Mobiliar auf allerlei medizinische Geräte schließen ließ, die nur sporadisch genutzt wurden. Wozu auch, denn ein Cree wurde nie krank. Trotz all der technischen Schulungen in den vergangenen Wochen gab es Gerätschaften, die er bisher nicht kannte. Das überzeugte ihn von der technologischen Überlegenheit der Cree gegenüber allen anderen Zivilisationen außerhalb dieses künstlichen Habitats. Das es einen ebenbürtigen Gegenspieler geben könnte, schien auf Grund der angehäuften Technik absurd, aber die Science war real. Bisher wurden ihm Informationen über den Erzfeind vorenthalten. Als ein gleichwertiges Mitglied der Gesellschaft gab es keinen Grund mehr, warum er nicht das gleiche Wissen wie seine Mitbürger erhalten sollte. Er nahm sich vor noch heute mit dem Aufsaugen jeglicher Information zu beginnen.

Gabriel betrat wortlos den Raum. Ohne erweitertes Gehirn wäre es schwierig die einzelnen Cree auseinander zu halten, denn ihr Auftreten war nicht nur auf Grund ihrer Einheitskleidung schwer voneinander zu unterscheiden. Das emotionslose Gesicht, der gleiche Haarschnitt, aber vor allen Dingen die betont steife Körperhaltung, machten eine Unterscheidung für den Laien fast unmöglich. Es waren die Details wie Körpergröße, welche Coen für eine Zuordnung nutzte. Gabriels entscheidendes Kriterium waren seine blauen Augen, die ihm vermutlich im Rest der Galaxie einen Bonus in der Frauenwelt einbringen würden.

Gabriel ergriff die Spritze und mit einer kurzen Geste forderte er Coen auf seinen Arm freizumachen. Ein kurzer Einstich und dann war es vollbracht. Vier verschiedene Nanotechnologien hatte er im Blut und ein kleines Empfinden an Furcht konnte Coen nicht vermeiden. Trotz des Wissens über die neuen Bots in seinem Kreislauf kam er nicht vollständig gegen seine ängstliche Natur an. Die Tatsache, dass kein Schloss mehr vor ihm sicher war, konnte er noch halbwegs als nützlich einordnen. Die Unsterblichkeit dagegen ließ ihn verkrampfen. Das Gefühl dem Tod das Handwerk zu erschweren, erzeugte in ihm eine Mischung aus Arroganz, Ehrfurcht und ein wenig Besorgnis. Während 50 Jahre für Andere ein ganzes Leben bedeuteten, war es für ihn ein Bruchteil seiner Existenz. Sein Schicksal hatte eine entscheidende Wendung genommen und die Gleichgültigkeit, mit der Gabriel ihn aufforderte das Labor zu verlassen, war eines solch großen Momentes nicht würdig.

Es war keine reine Neugierde, die ihn dazu trieb mehr über die Science zu erfahren. Diese geheimnisvolle Organisation war einer der Ansätze Kenyas Schicksal doch noch zu ändern. Ihm blieb nicht viel Zeit, denn mit der Weihe würde sie ihren bisherigen Schutz verlieren. Zwar fehlte der genaue Termin, aber die Hinrichtung lag in nicht allzu ferner Zukunft. Ihm standen die Informationen in vollem Umfang zur Verfügung, daher vergeudete er keine Zeit. Er machte sich unmittelbar an die Einschätzung dieses so mächtigen Gegenspielers, der offensichtlich Milliarden Menschenleben zu verantworten hatte. Auch wenn es auf den ersten Blick paradox klang, könnte sich diese von Massenmord geprägte Science als einziges Refugium für Kenya erweisen. Nirgendwo wäre sie vor dem Zugriff der Cree so gut geschützt wie ausgerechnet bei ihrem Erzfeind.

Diesen verwegenen Plan im Hinterkopf durchforstete er die Datenbanken. Obwohl viele Informationen historischen Charakter besaßen und im Laufe der Zeit vermutlich nicht mehr aktuell waren, schaffte Coen es sich einen Überblick zu verschaffen. Vom ersten Eindruck einer barbarischen Organisation blieb nicht viel übrig. Offenbar fühlten sich die Menschen durch die fortschreitende Umwandlung dermaßen in die Ecke gedrängt, dass sie sich zu diesem drastischen Schritt genötigt sahen. Coen konnte die Verzweiflung dieser Tat nachvollziehen. Damals hatte die Menschheit ein technologisches Level erreicht, das es ihnen ermöglichte die Galaxie zu erkunden, sämtliche Krankheiten zu heilen und jegliche Art von Bedürfnis zu befriedigen. Das Verlangen nach Fortschritt war weiterhin ungebrochen und man stand an der Schwelle zu einer Entwicklung, die heute selbst für einen Cree schwer vorstellbar war. Von diesem Zeitpunkt an war Evolution nichts Zufälliges mehr. Der Beginn einer Epoche, die es erlaubte ihre biologische Zukunft nach eigenen Vorstellungen zu gestalten.

Die Daten zeugten von einem stetigem Wachstum des Wohlstands für den Großteil der Bevölkerung. Die Cree zwang die Menschheit auf die Bremse zu treten. Paradoxer Weise bewarten sie mit ihren Bestrebungen nach der nächsten Evolutionsstufe die Galaxie vor einem folgenschweren Fehler. Die Komplexität der Technologie überforderte die meisten Menschen schon vor der großen Katastrophe und versklavte sie in ein Abhängigkeitsverhältnis, von dem es kein zurück mehr gab. Mit der digitalen Revolution entstand eine existentielle Bindung an die Technik, die unweigerlich zur Entmündigung geführt hätte. Erste Anzeichen für die bevorstehende Unterwerfung fand er in Glaubensgemeinschaften, die keinem Gott mehr huldigten, sondern die künstliche Intelligenz als den alles bestimmenden Algorithmus verehrten. Die Menschheit war in ihrem Fortschrittsglauben bereit ihre individuelle Freiheit abzugeben, um dem Drang des höher, weiter und schneller uneingeschränkt zu folgen. Der technologische Pfad kannte nur die Richtung nach vorn und lediglich dieser schmerzliche Reset verhinderte den Siegesfeldzug der Maschinen über den Menschen. Die Cree mussten ihre Schlüsse aus dieser Fehlleitung gezogen haben, denn die Meister der Effizienz verzichteten auf neuronale Netzwerke und begnügten sich mit dezentraler Technik und einem einfachem Leben ohne allwissende Algorithmen.

Die Vorfahren hatten sich zu einer wissenshungrigen Gemeinschaft entwickelt, die bereit war ihre eigene Existenz dem Fortschritt zu opfern. Eine Art Urscience war entstanden, die ausgerechnet hier auf Cree an ihre Grenzen stieß. Eine der wichtigsten Entwicklungen waren die Nanobots. Ein Thema, das Coen beunruhigte. Wieder ratterte das überzüchtete Gehirn und alle Versuche seine Emotionen hinter die Barriere zu verdrängen, scheiterten auf Grund der Schlussfolgerungen. Er brauchte Gewissheit und so begab er sich in dieses Labor, in dem ihm Gabriel einen Tag zuvor mit dem Überschwang eines Tiefkühlers zum Cree weihte.

Er besaß nur Basiswissen über die Anwendbarkeit von Medizintechnik. Da Krankheiten auf Cree kein Thema waren, hielt man es nicht für notwendig ihm dahingehend eine weiterführende Schulung anzubieten. Mit gefährlichem Halbwissen suchte er nach einer Gerätschaft, mit der er sein eigenes Blut analysieren konnte. Obwohl er den Apparat schnell ausfindig machen konnte, bedurfte es einige Zeit bis er eine brauchbare Methode für die Anwendung fand. Nach zwei Stunden mehr oder weniger zweckhafter Nutzung bestätigten sich seine schlimmsten Befürchtungen. Wut stieg in ihm auf und in diesem Zustand war es nicht ratsam das notwendige Gespräch mit David zu suchen. Er zog sich zurück in sein Quartier und als er sich sicher war, dass der Vulkan in seinem Inneren nicht vor dem unmittelbaren Ausbruch stand, begab er sich zu David.

"Dich beunruhigt etwas." David wusste noch vor Coens erstem Wort, dass etwas nicht stimmte.

"Die Nanobots. Wir haben nicht nur vier injiziert bekommen. Habe ich Recht?"

"Wie hast du es rausgefunden?" antwortete David mit einer Gegenfrage. Er klang unaufgeregt, als hätte er damit gerechnet, dass diese unangenehme Wahrheit irgendwann ans Licht kam.

"Haben wir sie in uns? Die Controllnanos meine ich."

"Ja." David zögerte nicht mit der Antwort.

"Für euch werden wir immer ein gescheitertes Experiment bleiben. Sollten wir außer Kontrolle geraten, braucht ihr einfach nur auf den Knopf zu drücken und schon ist eure heile Welt frei von Verunreinigungen." Coen hatte Mühe seine Wut unter Kontrolle zu halten.

"Das mag auf Einige von uns zutreffen, aber ein nicht geringer Teil unserer Gesellschaft war mit dieser Vorgehensweise nicht einverstanden. Seit Jahrhunderten konnten wir uns immer auf ein Handeln einigen, dass in nahezu hundertprozentiger Übereinstimmung stand. Zum ersten Mal seit langer Zeit sind wir uneinig. Allein deswegen ist dieses Experiment ein Erfolg. Es zwingt uns zu alternativen Ideen und sprengt verkrustete Denkmuster auf. Ihr seid wichtig für unsere Gesellschaft. Dass ist leider nicht Jedem bewusst."

"Und du? Wo stehst du?" fragte Coen.

"Ich habe diese Maßnahme zur Kontrolle als Vertrauensbruch gesehen. Ich konnte den anderen Ursprünglichen nicht klar machen, dass wir euch als potentielle Bereicherung ansehen sollen und nicht als Bedrohung. Kenya hat leider mit ihrem Verhalten ihr Misstrauen befeuert. Glaube mir. Ich sehe euch als Notwendigkeit an und zur Wiederherstellung des Vertrauens werde ich dir erklären, was der sechste Bot in deinem Blutkreislauf für Aufgaben hat."

"Es gibt sogar noch einen weiteren Bot?" Coen hatte nach dem Auffinden seiner schlimmsten Befürchtung sein eigenes Blut nicht weiter analysiert. David überraschte ihn mit dieser Neuigkeit.

"Diese weitere Technologie unterstützt die Nanobots zur Entschlüsselung technologischer Sperren. Letzteres ist ein reines Werkzeug, das in Nanosekunden Dechiffrierungsalgorithmen abarbeitet. Die neue Technologie betätigt sich als eine Art Übersetzer." fing David an zu erklären.

"Übersetzer? Was übersetzt es denn?" Coen war erleichtert auf Grund der harmlosen Bezeichnung.

"Unser Körper ist voll elektrischer und chemischer Impulse. Du kennst sie als Synapsen. Eine Art biologisches Datenübertragungssystem, dass teilweise bewusst, zum größten Teil aber unbewusst Signale überträgt um den reibungslosen Ablauf unser Körperfunktionen zu regeln. Unsere Wissenschaftler haben es geschafft, die Postsynapse, also den Empfänger dieser Reize, teilweise durch Nanobots zu ersetzen. Sie empfangen spezielle Botschaften, die streng genommen nur elektrische Potentiale sind, verarbeiten sie und geben sie weiter an die Dechiffrierungsbots, die wiederum mit einem technischen Gerät verbunden sind." erklärte David. Coen brauchte eine Weile, bis er die einzelnen Bausteine zusammengesetzt hatte.

"Mit anderen Worten ich kann Maschinen mit Kraft meiner Gedanken steuern?" fragte er skeptisch.

"Bei herkömmlicher Rechentechnik sind die Möglichkeiten begrenzt. Es ist zum Beispiel ein umfangreiches Wissen an Programmierung notwendig um geringfügige Änderungen am Programmcode vorzunehmen. Dahingehend muss man sehr lange üben, um die Bots genau zu instruieren und dann können sie immer noch an einer Firewall scheitern. Die eigentliche Anwendung liegt in speziell dafür entwickelter Technik."

"Zu welchem Zweck? Was könnte es notwendig machen, irgendetwas gedanklich zu steuern?"

"Verteidigung. Die Menschen haben uns so oft angegriffen, dass wir in den letzten Jahrzehnten ein Abwehrsystem entwickelt haben. Die Komplexität machte es notwendig, diese Art der Steuerung zu entwickeln. Wie du weist, vertrauen wir keiner künstlichen Intelligenz und unsere Anzahl an Leuten ist zu gering um alle Funktionen manuell zu steuern. Unsere Gehirne sind die zentralen Schaltstellen des Verteidigungssystems."

"Ich habe keinerlei Informationen über ein solches System in den freigegebenen Dateien gefunden."

"Da ist es wieder, das fehlende Vertrauen. Wir haben euch diese Informationen vorenthalten, weil es ein wesentlicher Bestandteil unseres Überlebens ist."

"Und trotzdem habt ihr uns als Bestandteil dieses Verteidigungssystems vorgesehen, indem ihr uns die Bots injiziert habt."

"Ja. Für die Übertragung der Gehirnreize auf die Bots braucht es Übung. Nicht alle bekommen das hin. Mit einfachen Tests wollten wir herausfinden, ob das bei euch gegeben ist. Da die Veränderung eures Gehirns erheblich abweicht von der natürlichen Art der Transformation konnten wir unmöglich vorhersagen, ob die Bots bei euch Wirkung zeigen." erklärte David.

"Für den negativen Fall hätten wir vermutlich nie davon erfahren." David zog es vor auf diesen Vorwurf nicht zu antworten.

"Ich fasse es mal zusammen. Wir werden unter falschen Voraussetzungen hierher gebracht. Manche sogar mit schäbigen Tricks. Dann vergewaltigt ihr uns geistlich, zwingt uns euren Lebensstil auf, pumpt uns voll mit dieser Technik und zieht uns in diesen galaktischen Konflikt hinein. Wie sollen wir euch jemals trauen?" fragte Coen leicht erregt.

"Du hast Recht. Wir haben Fehler gemacht, aber für euch gibt es kein zurück mehr." David klang schon fast flehentlich.

"Wir brauchen ein Zeichen eures Vertrauens. Lasst Kenya und alle, die nicht hier bleiben wollen, ziehen."

"Das geht nicht."

"Dann werden wir eure Gefangenen bleiben." Coen beendete das Gespräch. Er merkte wie die Frustration in seinem Inneren in Wut umzuschlagen drohte. Das Furchtbare an Wut war, das sie ein Ventil brauchte um abgebaut zu werden, aber zum Glück bot sich ihm eine andere Option. Obwohl es sich falsch anfühlte, schob er alles hinter den Vorhang der Vernunft. Es war nicht der richtige Zeitpunkt seinen menschlichen Überresten nachzugeben. Die Cree waren unwillig sich anzupassen, also verspielten sie ihr Recht auf Kooperation und wurden damit zum Feind.

Am nächsten Morgen versuchte Coen mehr Informationen über dieses ominöse Verteidigungssystem zu erhalten, aber wie die Wochen zuvor, deutete nichts auf dessen Existenz hin. Die Cree waren gründlich in ihrer Geheimhaltung und hätte David nicht in einem Moment der Schwäche ihm davon erzählt, hätte er vermutlich nie etwas darüber erfahren. Trotz dieser perfekten Vertuschung gab er nicht auf und zog die viel gepriesene Logik der Cree heran. Eine umfangreiche Abwehr konnte aus rein baulicher Sicht nicht unsichtbar sein. Was immer die Cree gegen potentielle Feinde in die Schlacht führen würden, musste ja irgendwo gelagert werden. Er studierte die Baupläne dieses künstlich erschaffenen Biotops um unerforschte Räumlichkeiten oder verborgene Höhlen zu entdecken, in denen unzähliges Kriegsmaterial gelagert werden konnte. Trotz intensiver Suche fand er nichts. Mittlerweile war ihm jeder Winkel der unterirdischen Welt bekannt, von daher konnte er ausschließen, dass er etwas übersehen hatte.

Das Verteidigungssystem musste irgendwo außerhalb existieren, was auf den ersten Blick nicht viel Sinn machte. Bei einem Überraschungsangriff wäre ein langwieriger Weg wenig hilfreich. Es musste eine Verbindung bestehen, die es den Cree erlaubte mit diesem externen System zu kommunizieren. Er überprüfte sämtliche Kommunikation der letzten Jahre auf unbekannte Empfänger, aber auch hier fand er nichts. Er erinnerte sich an Davids Worte, die die Notwendigkeit spezieller Technik beschrieb. Nicht jede Gerätschaft in der Cree-Welt konnte er hundertprozentig nachvollziehen. Trotzdem war ihm der Zweck jeder einzelnen Maschine bekannt. Nichts deutete darauf hin, dass irgendetwas auf die Steuerung komplexer Abwehrsysteme ausgelegt war. Die Cree hatten ganze Arbeit geleistet bei der Verheimlichung und genau in dem Moment, in dem Coen überzeugt war einem gut gemachten Schwindel von David auferlegen zu sein, kam ihm die Erleuchtung.

Es gab einen Raumhafen in dieser unterirdischen Welt, der selbst größeren Schiffen den Zugang ermöglichte. Die Cree beschränkten sich auf kleinere Transporter, da sie weniger Aufmerksamkeit auf sich zogen. Wenn es unumgänglich war Waren von außerhalb zu transportieren, wurden die am offiziellen Raumhafen der Hauptstadt abgeholt. Trotzdem beanspruchte ein riesiger Frachter einen Großteil der Landefläche. Die "diosa sublime" war für Coen bisher nur ein weiterer Einrichtungsgegenstand, dem er keine genaue Beachtung geschenkt hatte.

Sollte seine Theorie stimmen, würde der Zugang zu dem Frachter nicht ohne weiteres möglich sein. Die Cree würden einiges an Sicherheitsmaßnahmen vorsehen. Er besaß zwar die Nanobots, die jegliches Schloss zu einem leicht überwindbaren Ärgernis degradierten, aber ein einfaches Dämpfungsfeld würde reichen um sie zu deaktivieren. Den ersten Gedanken dieses Dämpfungsfeld abzuschalten verwarf er, denn nach Logik der Cree würde sie gegen diese Art des Einbruchs sicherlich tausend Gegenmaßnahmen ergreifen. Blieb nur die Möglichkeit mit dem genetisch korrekten Schlüssel durch die Frachttür zu marschieren, aber ihm war unklar, wie er einen der Cree dazu überreden sollte genau diese Tür zu öffnen.

Es war der Zufall, der ihm die geeignete Gelegenheit präsentieren sollte. Am nächsten Tag wurde er in das Reproduktionslabor bestellt. Dieses Labor war der einzige medizinische Teil der unterirdischen Anlage. Da es keine Wunden oder Krankheiten zu heilen gab, beschränkte sich die biologische Forschung in der Regel auf die Kultivierung von Nutzpflanzen.

Heute gab es andere Gründe die wenig genutzte Medizintechnik anzuwenden. Ihm wurden durch Nanobots vorsortierte Spermien entnommen, welche die Wahrscheinlichkeit eines virusresistenten Nachfahren erhöhen sollten. Coen haderte mit dem Gedanken den Bestand der Cree ausgerechnet durch sein Erbgut zu erweitern. Er saß zweifelnd in diesem Behandlungsstuhl, als sein Blick auf eine Maschine fiel. Vermutlich war ihr Zweck in einer sich selbstheilenden Gesellschaft vollkommen sinnlos, aber irgendjemand hielt es für eine gute Idee den Hautgenerator trotz aller Nutzlosigkeit anzuschaffen. Was ihm jetzt noch fehlte, waren eine passende DNA und eine Bedienungsanleitung, um seine Pläne nutzbar umzusetzen. Letzteres stellte kein großes Problem da und ein einziger Abend reichte um sich mit den Grundlagen vertraut zu machen. Blieb die passende DNA für die Erzeugung eines Hautlappens, der ihm die Tür zum Frachter öffnen würde.

Es gab eine einfache Lösung. Natürlich war er nicht der erste, der die kläglichen Versuche einer erfolgreichen Fortpflanzung unterstützte. In dem Reproduktionslabor fanden sich Proben von fast allen männlichen Cree der Gemeinschaft und mit einer gewissen Genugtuung erwählte er die DNA von Goran, einem der Ursprünglichen, der sie jedes Mal mit einer Extraportion Arroganz bedachte. Weit nach Mitternacht klonte er ein kleines Stück Haut, was in dieser Form aber wenig nützen würde. Er hatte zwar eine passende DNA, aber diese tückischen Schlösser kontrollierten weitaus mehr, um die ersehnte Freigabe zu erteilen. Die Körpertemperatur war das kleinere Problem. Einen passenden Puls vorzutäuschen war unmöglich. Außerdem war die Haltbarkeit der erschafften Haut begrenzt. Er musste schnell handeln und so schnappte er sich den mobilen Teil des Hautgenerators und machte sich auf den Weg zur "diosa sublime".

Ruhig und verlassen lag der sonst so geschäftige Raumhafen vor ihm. Selbst mit verbesserten Körperfunktionen benötigten die Cree Regeneration, auch wenn diese mit vier Stunden weitaus kürzer ausfiel. Wie alles bei ihnen war diese Phase berechenbar und ordnete sich einer festgelegten Routine unter. Eine dreiviertel Stunde verblieb bis die gewohnten Abläufe wieder aufgenommen wurden. Genug Zeit sich dem Inneren des Frachters zu widmen. Natürlich nur für den Fall, dass sein Plan mit der geklonten Haut aufging. Zwei Minuten schätzte er. Dann würde sein Körper den Fremdkörper abstoßen. Er legte den Fetzen auf seinen rechten Zeigefinger und begann mit der Prozedur, die eigentlich für schwere Verbrennungen vorgesehen war. Ein leichtes Kribbeln in seinem Finger bestätigte die Ablehnung seiner Hand gegenüber der fremden DNA. Trotzdem hielt die Verbindung die ersehnten zwei Minuten. Coen presste den Finger auf das Panel und das "Klick" bestätigte den Erfolg seines verwegenen Unterfangens.

Eine Mischung aus Erregung und Neugierde ergriff ihn. Ein angenehmes Gefühl, das die Angst vor einem erwischt werden erfolgreich verdrängte. Er verzichtete auf die reine Logik und nutzte die freiwerdende Energie seiner Emotionen um die entscheidenden Schritte ins Innere zu setzen. Die Dunkelheit vor ihm diente als Nahrung für seine Neugier und während er noch über eine geeignete Lichtquelle nachdachte um den Frachtraum zu erhellen, erweckte ein leises Summen das Schiff zum Leben. Die Energie wurde hochgefahren und sorgte als erstes für Licht. Seine Anwesenheit hatte für ein automatisches Starten sämtlicher Systeme gesorgt. Lüfter begannen ihr eintöniges Rauschen um komplexe Rechensysteme zu kühlen. Kurze piepende Signaltöne verkündeten die Ladevorgänge verschiedener Computer. Auf Monitoren arbeiteten scheinbar wahllos zusammengestellte Datenkolonnen unbekannte Algorithmen ab und ein leichter Windhauch um sein Gesicht verriet ihm, dass die Umgebungsbedingungen auf menschliche Anwesenheit eingestellt wurden. Das alles war nichts Ungewöhnliches in Coens Augen und im gewissen Maße hatte er mit dieser Art von Technik gerechnet. Was ihn überraschte war der Mittelteil des großzügig ausgelegten Frachtraumes, der ihn unweigerlich an eine Zahnarztpraxis erinnerte. Ein dutzend Liegen standen kreisförmig aufgestellt im Zentrum des Frachtraumes und umringten ein Objekt, das er in dieser Form bisher nicht gesehen hatte. Diesem unbekannten Klotz konnte er seine Aufmerksamkeit nicht entziehen und als sein Gehirn alle möglichen Informationen verarbeitet hatte, gab es nur eine Schlussfolgerung um was es sich dabei handeln konnte.

Ehrfürchtig trat er näher und begutachtete den Quantencomputer, der offenbar kontaktlos mit den einzelnen Liegen verbunden war. In den historischen Aufzeichnungen hatte er von dieser Entwicklung gelesen und war zu der Überzeugung gekommen, dass keiner der heutigen Menschen oder Cree in der Lage wäre diese Art von Technologie zu nutzen. Eine Fehleinschätzung wie sich herausstellte. Ursprünglich wurde sie von den Vorfahren entwickelt um der künstlichen Intelligenz die notwendige Hardware zur Verfügung zu stellen. Es war verständlich, dass die Cree diese Technologie für ihre eigene blitzschnellen Gedankenwelt gebrauchten. Der Vorteil gegenüber herkömmlicher Rechentechnik, war die parallele Abarbeitung komplexester Aufgaben und das in einer Geschwindigkeit, die mehr als das tausendfache bekannter Computer übertraf. Vor Coens geistigem Auge sah er die Cree auf diesen Zahnarztstühlen liegen, wie sie diesen Quantencomputer mit ihren Gedanken fütterten und dieser mit der unglaublichen Menge von Daten die wahrscheinlichste Lösung präsentierte. Offenbar stießen die Cree an eine unüberwindbare Grenze ihrer geistigen Leistungsfähigkeit und benötigten technische Hilfe.

Vorsichtig legte Coen die Hand auf das schwarze Gehäuse und als er das leichte Zittern der metallischen Oberfläche vernahm, überkam ihn Demut. Auch wenn es die Cree vermutlich nie zugeben würden, war dieser seelenlose Klotz so etwas wie ihre Gottheit. Dieser Computer verkörperte all dass, was ihnen nur mit gewisser Einschränkung zur Verfügung stand. Trotz all der Vorteile nutzten sie diese technische Anwendung ausschließlich im Notfall eines Angriffes. Was auch der Grund war diese Spitzentechnologie weites gehend im Ruhemodus verweilen zu lassen, es war eines der wenigen unbekannten Geheimnisse der Cree, die sich für Coen nicht sofort offenbarten.

Er begab sich zu eine der Liegen, die bei genauer Betrachtung eher an höhenverstellbare Operationstische erinnerten. Neben den kleinen Bedienpanels rechts und links der Armlehnen, standen zwei medizinische Ständer, in denen sich Aufnahmen für Flüssigkeitsbeutel befanden. Futter für die Nanobots, die für ihre Funktionsweise Unmengen an Energie benötigten. Offenbar wurde die Nahrung intravenös verabreicht. Es gab keine Zweifel mehr, dass er die Schnittstelle der planetaren Verteidigung gefunden hatte. Ein dutzend Crees organisierten von hier aus mit Hilfe ihrer vermeintlichen Gottheit die militärische Abwehr. Unklar war die eigentliche Armeestärke, die vermutlich auf dem gesamten Planeten verteilt von hier aus koordiniert wurde.

Die Zeit wurde knapp. Nur noch zwanzig Minuten und der Regenerationszyklus der Cree war beendet und das künstliche Habitat würde zum Leben erwachen. Coen ging zu einer der Computerkonsolen hinüber, die an den Seitenwänden des Frachters angebracht waren. Nach zwei Minuten fand er den Abschaltmechanismus um die "diosa sublime" zurück in den Ruhestand zu versetzen. Obwohl ihm das einen gewissen Teil der Aufregung nahm, war es nicht die Information, die er suchte. Er war neugierig auf die Verteidigungsstärke der Cree und so durchforstete er weiter die Dateien, bis er einen genauen Aufstellungsplan der Verteidigungsanlagen fand.

Er zögerte mit dem Herunterladen der Datei. Die vermutlich wichtigste Information auf Cree wäre nicht einfach ungeschützt von einem Rechner entfernbar gewesen. Wer weiß, ob nicht längst sein Betreten des Schiffes irgendwo Alarm ausgelöst hatte. Das er ausgerechnet die DNA einer der Ursprünglichen wählte, beruhigte etwas seine Zweifel. Er wusste, dass die Ursprünglichen gewisse Privilegien besaßen, die bei diesem Einbruch sicherlich ein Vorteil waren. Trotzdem wagte er es nicht die Information zu stehlen. Er begnügte sich mit einem Kompromiss und öffnete die Datei. Ihm blieben nur noch zehn Minuten, um sich die wichtigsten Details einzuprägen. Er überflog die Einträge, aber die Überschaubarkeit der Anlagen überraschte ihn doch. Was hatte er erwartet? Wenn selbst die Cree technische Unterstützung bei der Koordinierung brauchten, sollte dann die Anzahl der Verteidigungsanlagen nicht gigantisch sein? Die Realität sah ernüchternd aus. Ein paar schlecht bewaffnete Flugdrohnen konnte er ausmachen. Wie angenommen verteilten sie sich auf der gesamten Planetenoberfläche. Drei vollautomatische Kampfkreuzer befanden sich auf der abgewandten Seite des hiesigen Mondes. Dazu gesellten sich zwei Schlachtschiffe, die vermutlich allein für ihre Steuerung ein Großteil der geistigen Ressourcen verbrauchten. Beide enthielten mehrere Dutzend Jäger. Die gesamte Flotte befand sich in beklagenswertem Zustand. Auch die Cree hatten Probleme bei der Ersatzteilbeschaffung, jedenfalls bezweifelte Coen die Einsatzfähigkeit im Falle eines Angriffes. Es gab stationäre Verteidigungsanlagen auf Mond und Cree, die allerdings in ihrer Feuerkraft beschränkt waren. Über die Jahrhunderte hatten sich die Cree ein Arsenal an Waffen zugelegt, aber trotz der ständigen Bedrohung durch die Science lagen die Prioritäten nicht in der Aufrüstung. Er schaffte es nicht Alles zu erkunden, denn die Zeit lief gnadenlos ab. Ein letztes Mal entschied er sich gegen ein Herunterladen und startete die Abschaltprozedur. Bisher hatte er die Cree als arrogante aber friedliche Gesellschaft gehalten. Mit diesem neuen Wissen änderte sich seine Ansicht. Er kannte mittlerweile die Verhaltensweisen der Cree und wenn die Logik sie dazu zwang, würden sie nicht zögern diese potentielle Feuerkraft gebrauchsfähig zu machen um in die Offensive zu gehen.

Coen stand vor der Tür seines Quartiers als der Nachtzyklus endete und die künstliche Sonne langsam aufging. Er hatte nun Informationen über die Verteidigungsstärke der Cree, die seines Erachtens nach eines Tages für größere Vorhaben vorgesehen war. Trotzdem ließ sich das Ganze schwer einordnen, da ihm brauchbare Daten über die militärische Stärke des Gegners fehlten. Sicherlich gab es Geheimdienstberichte in den Datenbanken der Cree, aber vorerst fehlte ihm die Zeit zur Recherche. Der kommende Tag bestand aus Verpflichtungen und mit der fehlenden Regeneration war es ohnehin schwer den mustergültigen Creeanwärter zu mimen. Er beschloss sein Glück nicht weiter zu strapazieren und fügte sich in die Routine. Trotz der langweiligen Aufgaben, die ihm die Cree zuteilten, arbeitete sein Gehirn weiter an Kenyas Flucht. Waren alle seine Pläne bisher noch wage und von wenig Erfolgsaussichten gekrönt, kristallisierte sich langsam eine vielversprechende Variante heraus. Noch ließen sich die Cree Zeit für die endgültige Lösung in Sachen Kenya. Ein untrügliches Zeichen für die von David angesprochene Uneinigkeit in diesem Fall.

Eine Woche brauchte er um das Für und Wieder seines Fluchtplanes abzuwägen. Getrieben von der Furcht, dass die Cree bei ihren Überlegungen zu den tödlichen Plänen gegenüber Kenya endlich zu einer Entscheidung kommen, beschränkte er sich auf wenige Möglichkeiten. Welches Vorhaben er auch immer am Ende favorisierte, es würde nicht ohne Hilfe funktionieren. Er war sich unsicher über die Einstellung seiner Leidensgenossen, die ebenfalls unfreiwillig in dieses Cree-Universum katapultiert wurden und vermutlich mit der Situation haderten wie er. Die Wahrscheinlichkeit war hoch, dass sich viele bereits damit abgefunden hatten ein nützliches Mitglied der Gemeinschaft zu werden. Allein die Tatsache das Kenya immer noch am Leben war, deutete darauf hin, dass er nicht der Einzige war, bei dem Restzweifel bestanden. Die Schwierigkeit bestand nicht allein in der Auffindung solcher Zweifler, auch die Überzeugung aktiv an der Rettung von Kenya mitzuwirken, würde ein erhebliches Risiko seines Vorhabens darstellen.

Wieder half ihm die Datenbank. Dieses Mal durchforstete er die Aufzeichnungen über die persönlichen Gespräche nach ihrer Wandlung zum Cree. Ihre Gastgeber hatten eine komplexe Beurteilungsmatrix jedes Neuankömmlings erstellt, die in einer Liste vereinfacht wurde. Diese Liste legte das rebellische Wesen jedes Einzelnen anhand der Position übersichtlich dar. Nicht überraschend stand Kenya ganz oben, aber dass der Name darunter nicht sein eigener war, verblüffte ihn. Er hatte Oliver eigentlich als ruhige und besonnene Person angesehen, die auf dem besten Wege war sich seinem traurigen Schicksal zu ergeben. Bei den Cree musste er für ordentlich Misstrauen sorgen. Mit diesem Wissen war er für Coen der ideale Kandidat, doch Vorsicht war geboten, denn mehr und mehr beschlich ihn das Gefühl, das sein Treiben nicht unbeobachtet blieb.

Jede Recherche im Netzwerk der Cree war ein Risiko. Es wurde protokolliert, welche Person sich welche Daten verschaffte, aber auf einen automatischen Algorithmus zur Auswertung wurde verzichtet. Sollte Jemand Interesse an seiner Neugier haben, musste dieser Jemand persönlich die einzelnen Bausteine zusammensetzen. Er brauchte Gewissheit und so entwarf er ein Programm, dass sämtliche Abfragen, die er tätigte noch weitere 20 Stunden überwachte. Tatsächlich wurden nur wenige Minuten später die jeweiligen Daten erneut aufgerufen. Das Ungewöhnliche an diesem Aufruf war die Anonymität der Quelle. Coen war es unmöglich rauszufinden, wer sich da für seine Neugierde interessierte, aber eins war sicher. Er wurde beobachtet.

Zu seinem Glück hatte er sich bei der Recherche zum wichtigsten Teil seines Fluchtplanes bisher zurückgehalten. Alle erhaltenen Informationen konnten dem allgemeinen Interesse zugeordnet werden und selbst seine intensive Suche nach den Verteidigungsanlagen hatte den Eindruck erweckt, dass sie erfolglos aufgegeben wurden. Den Abruf von Geheimdienstberichten über die Aktivitäten der Science würde vermutlich sämtliche Cree in Alarmbereitschaft versetzen. Trotzdem war es ein notwendiger Teil seines Plans. Er brauchte diese Informationen.

Es war unmöglich mit seinen eigenen Zugangsdaten diese heiklen Berichte zu erforschen. Ein weiterer Grund Oliver ins Vertrauen zu ziehen, um seinem anonymen Beobachter keine weiteren Absichten zu offenbaren. Vermutlich wurde Oliver ähnlich intensiv überwacht. Ein hohes Risiko, aber er brauchte Hilfe. Eine herkömmliche Kontaktaufnahme kam nicht in Frage, also entschloss sich Coen für die Methoden der Cree.

Eine gute Gelegenheit ergab sich im Speisesaal. Das Frühstück bot den gewohnten Mix aus Obst, Gemüse und verschiedenen Getreidesorten, die mit fehlenden Mineralien und Vitaminen versetzt wurden. Coen setzte sich an den Tisch, an dem Oliver Platz nahm. Eine kurze Geste der Begrüßung, dann aß jeder vor sich hin.

Coen unterschätzte die mentale Belastung seines Gehirns. Es war nicht nur der dilettantische Versuch einen telepathischen Kontakt zu Oliver herzustellen, der ihn an die Grenze seiner geistigen Belastbarkeit brachte. Viel schwieriger war es diese Bemühungen nach außen nicht erkennbar werden zu lassen. Diese Gleichgültigkeit, mit der er in seinem Obstsalat stocherte, war hohe Schauspielkunst die zusätzliche Energie fraß. Bisher gab es nur Kenya als erfolgreiche telepathische Referenz, aber die war als Empfänger vorbereitet gewesen. Hatte Coen am Anfang die Hoffnung sogar komplexere Sätze zu übertragen, musste er schnell einsehen, dass er froh seien konnte überhaupt Aufmerksamkeit zu erzeugen. Noch war in Olivers Gesicht kein Erfolg erkennbar.

Es funktionierte nicht solange er den größten Teil seiner Konzentration für den Anschein eines normalen Frühstücks verschwendete. Er legte seinen Löffel beiseite und schloss die Augen. Zehn Sekunden waren das Maximum um halbwegs als vernünftig durchzugehen. Wenn es nicht klappte, musste er einen anderen Weg finden unbeobachtet mit Oliver Kontakt aufzunehmen. Mit aller Konzentration schickte er ein einziges Wort in die gewünschte Richtung.

"Hilfe" brüllte er in die mentale Stille. Ihm wurde bewusst, dass nicht nur Oliver als Empfänger in Frage kam. Er hatte kein Gespür für die Feineinstellung der Lautstärke. Hoffentlich empfing nicht der ganze Speisesaal seinen Notruf.

Ein kurzes Zucken in Olivers Schultern bestätigte seinen Erfolg. Er hatte es tatsächlich geschafft Aufmerksamkeit zu erzeugen. Unmerklich schüttelte Coen den Kopf, um zu signalisieren, dass hier nicht der geeignete Ort war um tiefer auf seinen Hilferuf einzugehen. Er widmete sich wieder seinem Obstsalat und überprüfte beiläufig die Umgebung auf weitere Empfänger. Nichts schien darauf hinzudeuten, dass Andere den kläglichen Versuch seiner telepathischen Kontaktaufnahme mitbekommen hatten.

Für den heutigen Tag war er für die Instandhaltung der hiesigen Wasserversorgung eingeteilt worden. Das künstliche Habitat wurde zu 80% mit aufbereitetem Wasser betrieben, um die Ressourcen von Cree zu schonen. Eine intakte Natur außerhalb dieser unterirdischen Höhle war ein wesentlicher Bestandteil des notwendigen Gleichgewichts zwischen Bewohnern und Planet und so bemühten sich die Cree um ein Maximum an Recyling.

Coen war aufgewühlt und es gelang ihm nicht diese störenden Emotionen vollends hinter die selbst erschaffte Barriere zu verbannen. Am liebsten hätte er sich für zehn Minuten in sein Quartier verzogen, um im meditativen Zustand die vollständige Kontrolle zu erlangen. Leider erforderte die Bedienung dieser für die Wartung stillgelegten Anlage seine Aufmerksamkeit. Er kannte die schlichten Abläufe und so verwunderte ihn das atypische Verhalten der 8 binären Eingänge, die als Verbindung zum Netzwerk vorgesehen waren.

Die Bits änderten alle zehn Sekunden ihren Zustand. Warum wollte Jemand von außerhalb mit wahllosen Bitkombinationen ein chaotisches Verhalten der Maschine provozieren? Nur der vollständig stromlose Zustand verhinderte eine Katastrophe. Jetzt dämmerte es Coen. Nicht die Maschine war das Ziel. Jemand versuchte Kontakt mit ihm aufzunehmen und dass mit Hilfe einer hexadezimalen Codierung. Er rief sich die erste Bitstellung wieder ins Gedächtnis. Nur das zweite und das fünfte Bit waren aktiv. H. Jemand hat ihm den Buchstaben H binär geschickt. Eine sehr primitive, aber auch unauffällige Methode der Kommunikation. Coen setzte die einzelnen Kombinationen zu einem Wort zusammen.

"Hilfe?" übersetzte er. Hoffentlich war es Oliver, der da die einzelnen Bits der Maschine zum Tanzen brachte.

"Ja" antwortete Coen ihm mit Hilfe der Ausgangssignale.

"Treffen?"

"Regneration+1"

"beidir?"

"Ja" beendete Coen die kurze, aber aufwändige Kommunikation. Allein die Tatsache, dass Oliver diese anonyme Form der Kontaktaufnahme wählte, überzeugte Coen davon, dass die Zweifel bei seinem Kameraden nicht weniger klein waren als in ihm. Vielleicht war es nicht Kenyas Schicksal, was ihn umtrieb, aber die Philosophie der Cree schien bei ihm nicht vollends zu fruchten. Sie würden sich eine Stunde nach Beginn der üblichen Ruhephase bei ihm im Quartier treffen. Gemeinsam würden sie die "diosa sublime" betreten und mit diesem neuem Wissen hoffte Coen die wage Saat des Zweifels weiter zu nähren. Das war riskant. Erschwerend hinzu kam der unbekannte Überwacher, von dem Coen nicht wusste inwieweit dieser die einzelnen Puzzleteile bereits zusammen gesetzt hatte. Es wurde Zeit zu handeln. Trotz der vielen Unbekannten in seinem Plan musste er es zeitnah probieren.

Oliver erschien überpünktlich in seinem Quartier. Misstrauisch setzte er sich an den kleinen Tisch, welcher neben ein paar Stühlen und einer kleinen Kommode als spärliche Standardmöblierung fungierte. Er sagte kein Wort, was Coen als reine Vorsichtsmaßnahme interpretierte. Trotz der ungewöhnlichen Zeit gab es nichts, was auf konspirative Absichten hinweisen würde. Es war an Coen den wirklichen Zweck dieser Zusammenkunft zu offenbaren.

"Verrückte Sache diese Telepathie." fing er mit etwas Belanglosem an. Oliver schwieg.

"Ich muss dir etwas zeigen. Danach können wir über meinen Hilferuf reden." fuhr Coen fort. Er erhob sich und wollte zur Tür, als Oliver sich entschied doch ein Wort von sich zu geben.

"Nein." sagte er kurz.

"Es ist wichtig für das Verständnis." erklärte Coen.

"Ich traue hier Niemanden. Auch nicht dir." Der nüchterne Tonfall mit dem Oliver sein Misstrauen kund tat, verletzte Coen und zwang ihn seine Taktik zu ändern.

"Auch gut. Dann sag ich dir was ich vorhabe. Ich will Kenya hier raus bringen und dafür brauche ich deine Hilfe." konfrontierte er Oliver mit seinem Vorhaben. Tatsächlich verursachten die direkten Worte ein leichtes Erstaunen in Olivers Gesicht.

"Wie?" sagte er nach ein paar Sekunden intensiven Nachdenkens. Offenbar hatte Coen sein Interesse geweckt.

"Das wollte ich dir zeigen."

"Erkläre es mir." Es war jetzt an Coen misstrauisch zu sein.

"Es gibt eine Liste. Sie repräsentiert das Misstrauen der Cree gegenüber uns Neuankömmlingen."

"Ich kenne diese Liste." sagte Oliver und ersparte Coen die Erklärung, wer ganz oben stand.

"Findest du es nicht verwunderlich, dass sie uns darauf zugreifen lassen?"

"Nein. Wir haben ihnen Unehrlichkeit und Geheimniskrämerei vorgeworfen. Es ist ihre Art unser Vertrauen zu stärken." Olivers roboterhafter Tonfall zeugte entweder von einer gut gemachten Maske oder er hatte sich an die Cree angepasst.

"Ich weiß, dass ich beobachtet werde. Wie ist das bei dir?" fragte Coen. Oliver zögerte kurz.

"Ich vermute, dass ich auch beobachtet werde." sagte er trocken.

"Die Cree sind trotz Fehlen sämtlicher Emotionen ziemlich verschlagen. Sie ahnen vielleicht, was ich vorhabe und sie wissen, dass ich Hilfe brauche." Coen machte eine Pause um den folgenden Worten mehr Bedeutung zu geben.

"Sie können mich nicht einfach beschuldigen, dass würde das Vertrauen aller Neuankömmlinge für immer zerstören. Sie müssen mich überführen bei meinen Plänen. Wie glaubst du könnten sie mich überführen?" Coens Stimme klang ungewollt listig. Ihre Blicke trafen sich. Für ein paar Sekunden schien gegenseitiges Misstrauen den kompletten Raum zu fluten.

"Ich würde die Liste manipulieren." sagte Oliver leise, aber gut hörbar. Das Misstrauen schlug in Anspannung um.

"Genau. Damit ich an einen Getreuen anstatt eines Rebellen gerate." schlussfolgerte Coen.

"Ein ordentliches Dilemma." Zum ersten Mal glaubte Coen in der roboterhaften Stimme etwas Hinterlist zu vernehmen. Oliver spielte mit ihm, aber ob zum eigenen Vergnügen oder im Sinne der Cree war nicht zu ergründen.

"Ich biete dir die Möglichkeit gemeinsam mit Kenya den Planeten zu verlassen. Du hast die Wahl ein roboterhaftes Leben in dieser Höhle zu verbringen oder dein neu gewonnenes Potential dort draußen in der Galaxie zu verwirklichen." Wieder war eine leichte Überraschung im Gesicht zu erkennen.

"Wir brauchen den Planeten."

"Vielleicht ist es weniger bequem, aber ein Krüppel kann sich auch ohne Füße fortbewegen. Nichts Anderes wird es sein. Eine Behinderung. Mehr nicht." Coen musterte Olivers Gesichtszüge, aber dieser hatte seine Maskerade perfektioniert. Es war weiterhin unklar, ob er aus eigenem Antrieb hier her kam oder den Cree bereits hörig folgte.

"Ich habe keine Wahl. Ich muss alles auf Risiko setzen." fuhr Coen fort.

"Ich lege mein Schicksal in deine Hände. Wirst du mir helfen?" fragte Coen. Damit hatte er das Fundament gelegt. Sollte Olivers psychologisches Profil nicht manipuliert worden sein, besaß er ein Übermaß an Gerechtigkeitssinn. Was aber viel schwerer wog, war die Tatsache, dass es ihm fast unmöglich war gegen seine Überzeugung zu handeln. Die kognitive Dissonanz tendierte bei Oliver praktisch gegen null. Coen hatte seine Karten auf den Tisch gelegt und bot ihm ein Maximum an Verletzbarkeit an. Olivers innerer Konflikt über einen möglichen Verrat würde ihn im Falle der Creehörigkeit zu einem nein zwingen. Natürlich nur unter der Voraussetzung, dass der neue Cree in ihm nicht alle Eigenschaften des alten Oliver verdrängt hatte.

"Ja." bekam Coen als Antwort und jetzt war er überrascht. Ein Rest an Zweifeln blieb. Es gab ohnehin kein zurück mehr. Die Wette auf Kenyas Schicksal lag auf einem Rennpferd namens Oliver. Egal welche Wendungen die Ereignisse der nächsten Tage auch nehmen würden, für Coen stand am Ende des Weges nur der Abgrund. Sein persönliches Schicksal war die einzige Konstante in der unbekannten Zukunft und so fing er an Oliver seinen Plan zu erklären.

Die Umsetzung für Kenyas Flucht sollte in der nächsten Regenerationsphase der Cree geschehen. Zeitlich war alles knapp bemessen. Ihnen blieben vier Stunden um unerkannt zu operieren. Kein Spielraum für Unvorhersehbares. Jede kleine Verzögerung würde den Plan zum Scheitern bringen und trotz perfekter Planung eines überzüchteten Gehirns gab es jede Menge unbekannte Variablen. Vor allen Dingen die kurzfristige Findung eines Kontaktmannes der Science in der Hauptstadt war eine dieser Unbekannten. Der Zugriff auf die Geheimdienstberichte musste gleichzeitig zur stattfinden Flucht passieren, denn hier lag einer der möglichen Zeitpunkte für die Entdeckung seiner Pläne. Die Cree würden so sensible Informationen nicht ungeschützt lassen. Wie auch immer die Sicherungsmaßnahmen aussahen, es würde in kürzester Zeit alle seine Pläne aufdecken und spätestens da musste sich Kenya außerhalb ihres Zugriffsbereiches aufhalten. Vorgesehen war ein mehr als dreistündiger Fußmarsch, der Kenya und Oliver auf eine Lichtung führen würde, wo sie mit Hilfe eines Abfangjägers in die Hauptstadt gelangen würden. Dieser Abfangjäger befand sich in einer versteckten Basis in der näheren Umgebung und Coen plante ihn aus dem Inneren der "diosa sublime" bereitzustellen. Auch hier gab es mehrere unbekannte Einflussfaktoren. Obwohl Coen drei Stunden als sehr langfristig für den relativ kurzen Fußmarsch angesetzt hatte, bestand die Wahrscheinlichkeit viel Zeit durch das tückische Gelände des Dschungels zu verlieren. Notfalls bot die computergestützte Navigation diverse Ausweichrouten an. Die größeren Probleme sah Coen in der Bereitstellung des Jägers. Die Nanotechnologie ermöglichte ihm zwar den Zugriff auf die Verteidigungsanlagen der Cree, aber die mangelnde praktische Erfahrung machte die Steuerung des Abfangjägers zu einem Glücksspiel. Ihm blieben drei Stunden für das Erlernen. Zwölf Kilometer zwischen Lichtung und Versteck des Jägers erschienen ihm als keine große Entfernung und so war er zuversichtlich innerhalb der Zeitvorgabe das Fluchtobjekt bereitzustellen. Dann würde er es vom Netzwerk der Cree abkoppeln und Oliver würde es mit Hilfe seiner Nanotechnologie manuell in die Hauptstadt fliegen. Spätestens hier würden die Cree über seine Pläne Bescheid wissen und Gegenmaßnahmen ergreifen. Als letzte Botschaft würde er die Informationen über die Science senden. Von da an lag der Ausgang der Flucht nicht mehr in seinen Händen. Nach allen Abwägungen lag die Wahrscheinlichkeit für Erfolg bei etwa 60 Prozent, wobei er unbekannte Eingriffsmöglichkeiten der Cree nicht berücksichtigte. Am Ende war es nicht mehr als eine verdammte Lotterie, die über das Leben von Kenya entschied. Nur eins war gewiss. Er würde zurückbleiben und vermutlich Kenyas Platz einnehmen. Doch das war es ihm wert.

Der Zeitpunkt war festgelegt und nun galt es das eigentliche Objekt seines Planes einzuweihen. Es war Mittag, als er Kenya in ihrem Quartier besuchte. Der Arrest setzte ihr zu und sie war dankbar für jede Art von Besuch.

"Ich wünschte sie würden endlich mal zu einer Entscheidung kommen. Der Raum wird mir langsam zu klein." sagte sie ruhig. Für den Zeitvertreib blieben ihr eine selektive Auswahl an Literatur und viel Meditation. Letzteres war wichtig, um nicht den Verstand zu verlieren. Coen klopfte an die mentale Eingangstür ihres Geistes, aber wie die letzten Wochen zuvor verweigerte sie ihm den Zugang.

"Du weißt doch. Kalter Entzug von Kenya." sagte sie mit einem leichten Lächeln auf den Lippen.

"Ich bringe dich hier raus. Heute Abend noch." Coen flüsterte, obwohl er wusste das keinerlei akustische Überwachung vorhanden war. Kenyas Gesicht wurde ausdruckslos.

"Du bleibst hier?" fragte sie, ohne das sie es schaffte ihre Emotionen aus der Stimme zu halten. Allein an der Art der Verkündung ihrer Flucht wusste sie, dass es kein wir gab. Dafür kannte sie Coen zu gut. Als Bestätigung blieb er ihr die Antwort schuldig.

"Dann sitzt du demnächst in deinem Quartier und wartest auf dein Urteil." sagte sie mit zittriger Stimme.

"Dann ist wenigstens einer von uns in Sicherheit. Die Cree spielen offen mit dem Gedanken dieses Experiment auf die brutalste Art zu beenden."

"Ich will nicht ohne dich gehen." Tränen standen ihr in den Augen, aber noch trotzten sie der Schwerkraft. Sie kam auf ihn zu und öffnete ihren Geist. Glücklich schloss sie die Augen, als er mental in sie eindrang. Die Tränen flossen jetzt über ihre Wangen, doch dienten sie nicht ausschließlich der Trauer. Ein allerletztes Mal schlossen sie diese Verbindung und teilten diese Intimität, die so fernab jeglicher Beschreibung war. Ein inniger Kuss bestätigte das Gefühl, dass sich jegliche Individualität ihrem eigenen Nexus unterordnete. Kenya und Coen schufen ihr persönliches kleines Universum, das frei war von Gefangenschaft, Cree und Trennungsängsten. Noch ein Mal teilten sie das Paradies, dass die Grenzen zwischen physischer und spiritueller Welt verschwimmen ließ. In einem Akt mit unglaublicher Intensität genossen sie etwas, von dem sie wussten, dass sie es in dieser Form nie wieder erleben würden. Die Gewissheit, dass sie den Zenit ihres Daseins in dieser Minute überschritten hatten, hinterließ eine Leere, welche ihnen kurz den Lebenswillen nahm.

"Wir sehen uns wieder." sagte sie und gab beiden neuen Mut. Mit zitternder Stimme erklärte er ihr seinen Plan, dann war die Zeit gekommen auch körperlich Abschied zu nehmen. Alles in ihm weigerte sich diesen Raum zu verlassen. Nur kurz ließ er seiner trotzigen Sturheit freien Lauf, dann sah er ein, dass er das grausame Schicksal nicht besiegen konnte. Wenigstens wollte er einen guten Kampf liefern, trotz der wenig positiven Perspektiven seiner eigenen Zukunft. Kenya konnte er in einem selbstlosem Akt einen Neuanfang ermöglichen. Noch einmal trafen sich ihre Blicke, dann verließ er sie mit dem unangenehmen Gefühl sie nie wieder zu sehen.

Coen saß in seinem Quartier und sein meditativer Zustand gab ihm die nötige Ruhe für die Umsetzung seines Plans. Die Ereignisse ihrer Verabschiedung hatten ihn emotional instabil gemacht. Keine gute Vorraussetzung für sein Vorhaben. Er brauchte eine Weile bis er all das Chaos aus seinem Kopf verbannt hatte. Eine Stunde bis die Regeneration der Cree begann. Es wurde Zeit für die Vorbereitung. Er durchstreifte ein letztes Mal die Straßen dieser künstlichen Welt, dessen zahlreiche Passanten mit ihrer ruhigen Art für eine unwirkliche Stille sorgten. Es waren solche Dinge, an die er sich schwer gewöhnen konnte. Eine so große Anhäufung von Personen sollte ein gewisses Maß an Trubel hervorrufen, aber hier auf Cree schienen solch simple Naturgegebenheiten außer Kraft gesetzt zu sein. Dieses künstliche Habitat besaß eine künstliche Bevölkerung, welche keinerlei Unvorhersehbarkeiten zuließ. Stille war der Normalzustand, aber sein Plan wäre ein Schrei, der ihre heile Welt erschüttern würde.

Er steuerte auf das Gebäude zu, in dem sich das wenig genutzte medizinische Labor befand. Mit der Gelassenheit eines Todgeweihten startete er den Hautgenerator und klonte ein Stück von Goran. Er verstaute den kleinen Hautfetzen und begab sich zu der Ausgangstür, als ein ungewohnter Ton ihn dazu zwang noch einmal umzukehren.

"Verdammt." entfuhr es ihm, als er auf dem Monitor die unscheinbare Nachricht vernahm, die es für wichtig hielt ihre Botschaft mit diesem ungewöhnlichen Geräusch zu untersetzen. Sein selbst erzeugter Algorithmus hatte angeschlagen und verkündete ihm, dass Jemand gerade sein Tun hinterfragt hatte. Bei seiner ersten Anwendung ging die Nutzung des Hautgenerators noch als wissenschaftliche Neugierde durch, aber jetzt hatte er zum zweiten Mal die gleiche Haut geklont und wurde umgehend erwischt. Sollte sein Plan durchkreuzt werden, bevor er überhaupt richtig in Fahrt kam?

Es war wichtig seine Gelassenheit beizubehalten. Er ignorierte die Tatsache, dass sein erster Schritt nicht unbemerkt blieb und begab sich ins simulierte Freie. Die Straßen waren vollkommen verlassen. Die Regenerationsphase hatte begonnen, so dass er auf dem Weg zum Raumhafen keinerlei Cree antraf. Wieder stand er vor der Hauptluke der "diosa sublime" und wieder fing er an das Stück Haut auf seinen Finger zu transplantieren. Voller Anspannung legte er den präparierten Zeigefinger auf das Schloss. Ein kurzes Piepen verriet ihm, dass der Zugang verweigert wurde.

Er brauchte viel Anstrengung die Panik zu unterdrücken, aber hier zeigten sich die Vorteile seiner neuen Cree-Persönlichkeit. Er beherrschte sich und startete einen zweiten Versuch. Nichts. Hatte er was verkehrt gemacht bei der Transplantation? Unmöglich. Beim ersten Mal hatte es geklappt. Vielleicht hatte ihn Oliver am Ende doch verraten. Er fuhr herum und sah David, der keine fünf Meter entfernt stand.

Vielleicht war jetzt der Zeitpunkt seiner Panik ungehindert Auslauf zu gewähren, aber wieder kam der logische Cree in ihm durch und zeigte ihm die Nutzlosigkeit dieser Aktion auf. Er atmete tief durch und ging einen Schritt auf David zu.

Kapitel 4

 

Kenya folgte Oliver den Gang entlang, der trotz des langen Aufenthalts in ihren eigenen vier Wänden nichts an Vertrautheit verloren hatte. Wie verabredet hatte er sie nach dem Einsetzen der Regenerationsphase abgeholt und gemeinsam verließen sie das Wohngebäude, das die letzten Wochen ihr als unfreiwilliger Aufenthaltsort diente. Die künstliche Dämmerung auf den Straßen erzeugte die Illusion eines scheidenden Tages. Die regelmäßigen Tag/Nacht Zyklen ermöglichten es den Cree in der Regenerationsphase Energie zu sparen indem sie die künstliche Beleuchtung auf ein Minimum reduzierten. Im Halbdunkel erreichten sie die Treppe außerhalb der Stadt, die zu dem unterirdischen Stollen führte, dessen Ausgang das Tor zum unsimulierten Dschungel darstellte. Als Kenya die warme und unfiltrierte Luft atmete, hatte sie seit langem wieder das Gefühl von wirklicher Freiheit. Ein trügerisches Gefühl, denn trotz der neuen Umgebung befanden sie sich immer noch im unmittelbaren Einflussbereich der Cree.

"Wo lang?" fragte sie Oliver ungeduldig, der auf einem elektronischen Pad eine Karte studierte. Sein Blick wechselte von Bildschirm und Dunkelheit hin und her. Als einzige Orientierung dienten die kargen Hütten, die sanftes Fackellicht abgaben. Auf dem Pad stand nur ein einziges Wort. "Routenberechnung". Kenya wusste was das bedeutet. Trotz mangelnder Satelliten konnten sie die Karte zur Navigation nutzen. Es brauchte nur ein paar Parameter wie Ausgangspunkt, Himmelsrichtung und Schrittgeschwindigkeit um eine relativ genaue Bestimmung der Route zu gewährleisten. Ein kurzes Piepen des Pads und der Weg war klar. Wortlos kramte Oliver eine Lampe hervor und machte sich auf den Weg.

Kenya folgte ihm in den Dschungel und als sie sich weit genug von dem oberirdischen Dorf der Cree entfernt hatten, brach sie das Schweigen.

"Warum machst du das?" fragte sie. Als Antwort bekam sie nur ein Knurren. Trotz des schwierigen Geländes kamen sie gut voran.

"Ich will es wirklich wissen. Was treibt dich an? Gerechtigkeitssinn? Das Gefühl verraten worden zu sein? Oder willst du nur weg von den Cree?"

"Es ist eine Mischung aus Allem." sagte er nach einer langen Pause.

"Sie haben uns das angetan und tun so, als hätten sie uns von den Ketten des Menschseins befreit. Dabei sehe ich das Menschsein als Teil unserer neuen Existenz." sagte er schon fast monoton.

"Mit Menschen haben die Cree allgemein ein Problem."

"Sie sehen uns nicht mehr als Menschen, aber Cree sind wir auch nicht. Eigentlich sind wir Laborratten, von denen sie sich neue Erkenntnisse erhoffen und deren Kadaver notfalls entsorgt werden können."

"Wir sind keine Ratten." versuchte Kenya ihn zu beruhigen, denn in den letzten Worten schwang Ärger mit.

"Vielleicht sollten wir eine eigene Spezies gründen." Kenya versuchte es mit Humor, aber Oliver reagierte nicht.

Das Unterholz wurde zunehmend dichter und machte das Vorankommen schwieriger. Im Gegensatz dazu standen die Bäume nicht mehr so eng beieinander. Ein gutes Zeichen, dass sie der Lichtung näher kamen. Nach einer weiteren halben Stunde erkannte Kenya einen kleinen Lichtpunkt in der Ferne.

"Was ist das?" fragte sie Oliver. Dieser studierte angestrengt die Karte. Der rote Zielpunkt auf dem Display war sehr nahe.

"Der Abfangjäger." kombinierte Oliver. Kenya frohlockte. Coen hatte es tatsächlich geschafft ihr Fluchtfahrzeug bereitzustellen. Obwohl das Zielobjekt schon in Sichtweite war, brauchten sie eine weitere halbe Stunde um es zu erreichen.

"Wenig Platz." stellte Kenya fest, als sie auf der Lichtung den Jäger begutachtete, der still aber voll beleuchtet auf dünnen Stelzen stand. Er war kleiner als erwartet und seine Form erinnerte sie an einen plattgedrückten Papierflieger auf dem oben eine halbrunde Glasskuppel geklebt wurde. Auf den hauchdünnen Tragflächen waren Waffen installiert, die elektromagnetisch angetriebene Projektile abfeuerten. Oliver kletterte über zwei angebrachte Sprossen ins Cockpit und hielt das Pad an die Leitkonsole.

"Da ist die Information. Der Ansprechpartner der Science heißt Corado. Sein vermutlicher Aufenthaltsort ist in einer Bar namens "Bayreuth"." erklärte er. Jeder Ort in dieser Galaxie hatte dieses Lokal, in dem es relativ viel Sicherheit vor behördlichem Ärger gab. Der Name "Bayreuth" hatte sich als indirekte Chiffrierung für rechtsfreien Raum durchgesetzt.

Oliver hantierte weiter an der Leitkonsole und entfernte ein rundes elektronisches Bauteil, welches das Aussehen eines Miniatursalzstreuers hatte. Als hätte er damit dem Jäger das Herz rausgerissen, erloschen die vielen Lampen. Das Fluggerät war jetzt nur ein metallischer Klotz ohne Funktion.

"Der Jäger ist jetzt vom Netzwerk getrennt." erklärte Oliver.

"Dann hoffe ich mal, dass du ihn fliegen kannst." sagte Kenya.

"Theoretisch ja." erwiderte er etwas unsicher und legte seinen Daumen auf das genetische Schloss. Die Systeme fuhren wieder an.

"Die Codeknacker." Kenya sah diese Technik zum ersten Mal in Aktion und wirkte beeindruckt.

"Warnung. Es besteht keine Verbindung zum zentralen Netzwerk." ertönte eine mechanische Frauenstimme. Kenya gesellte sich zu ihm ins Cockpit und als er die gläserne Kuppel über ihnen schloss, kam ein unangenehmes Gefühl von Bedrängnis in ihr auf. Eine halbe Stunde würden sie brauchen. Zeit in der sie mit engsten Hautkontakt wie zwei Liebende aneinander gekuschelt sitzen würde. Auf Grund ihrer freizügigen Vergangenheit hatte sie damit weniger ein Problem als Oliver. Der wirkte verkrampft und zeigte erstmals kein roboterhaftes Verhalten.

"Wir sind beide erwachsen und sind so was Ähnliches wie Cree." beruhigte sie ihn. Er begann die Triebwerke zu starten, die wiedererwarten kaum Geräusche von sich gaben. Ruppig erhob sich der Jäger als Oliver ungelenk mit den Fingern über die Steuerkonsole glitt.

"Mehr Gefühl." hauchte sie sanft von hinten in sein Ohr.

"Ich brauche Konzentration." sagte er in bester Cree-Monotonie, was übersetzt so viel hieß wie "Lass mich in Ruhe.". Es dauerte ein paar Minuten, bis er die richtige Koordination seiner Hand erlernte und damit den Jäger besser unter Kontrolle bekam. Mit der linken Hand aktivierte er den Schub und tatsächlich bewegten sie sich in horizontaler Richtung. Andächtig glitten sie über die Baumkronen des riesigen Dschungels hinweg. Sie durften nicht zu hoch hinaus, denn für die Flugkontrollen der Stadt mussten sie unsichtbar bleiben.

"Geht es nicht schneller?" fragte Kenya ungeduldig. Das Tempo hatte gefühlte Schrittgeschwindigkeit. Widerwillig erhöhte Oliver den Schub, aber die Veränderung war minimal. Trotz aller theoretischen Grundlagen, die er sich vorher angeeignet hatte, traute er sich kein vernünftiges Tempo zu. So schlichen sie Richtung Hauptstadt und nach einer unsanften Landung vor den Toren der Stadt, waren beide froh der Enge des Cockpits zu entkommen.

"Gut gemacht." lobte Kenya ihn.

"Wir müssen schnellst möglichst ins "Bayreuth"." erwiderte Oliver unbeeindruckt und kramte die Karte hervor. Ohne ein weiteres Wort ging er auf die Stadt zu. Die dunkle Silhouette hatte jetzt endgültig was von einem Roboter.

Nach etwa zehn Minuten Fußmarsch erreichten sie die ersten Gebäude, die auf Grund der spärlichen Straßenbeleuchtung kaum einen Schluss auf ihren Zustand zuließen. Kenya vermutete, dass der Zahn der Zeit sie in Abbruchhäuser verwandelt hatte, die trotz der widrigen Bedingungen immer noch bewohnt wurden. Sie folgten dem Straßenverlauf ohne auf einen Einwohner zu treffen. Zu dieser späten Stunde wirkte die Stadt wie ausgestorben. Eine gespenstische Ruhe lag in den Gassen, die untypisch war für einen Ort dieser Größe. Im Gegensatz zu dem Trubel ihrer Heimat auf Cayuse schien dieser dicht besiedelte Flecken auf Cree wie tiefste Provinz. Erst als sie ihrem eigentlichen Ziel nahe kamen, trafen sie auf Einwohner, die sie unter dem Einfluss von Alkohol kaum wahrnahmen.

Geprägt von der heilen und berechenbaren Welt der Cree wirkte das "Bayreuth" auf sie wie ein Orkan, der sie mental zu destabilisieren drohte. Katapultartig wurden sie von dem Extrem der Logik, Ruhe und Ausgeglichenheit in das Gegenteil aus Chaos, Lärm und Unberechenbarkeit geschleudert. Sichtlich überfordert betraten sie das Etablissement.

Das stinkende Gemisch aus Tabakqualm, Erbrochenem und etwas Süßlichem, das an diesem Ort so deplatziert wie unangenehm war, wirkte wenig einladend. Der natürliche Drang zur Umkehr überkam sie und nur mit größter Anstrengung widerstanden sie dem natürlichen Fluchtreflex. Sie hatten viel Zeit verloren. Die Gefahr, dass die Cree ihre Flucht bereits bemerkt hatten, zwang sie die sichtlich angetrunkene Menge schnellst möglich zu passieren und an der Bar nach Corado zu fragen. Ihre weiße Kleidung stand im kompletten Gegensatz zur verschlissenen und zum größten Teil ungewaschenen Vielfalt der Einheimischen. Dieser unschuldig wirkende Auftritt machte sie zum modischen Leuchtfeuer innerhalb der ärmlichen Tristesse.

"Aus welcher Sekte seid ihr denn ausgebrochen?" wurde Kenya von einem Betrunkenem mit gelben Zähnen angelallt.

"Ich habe es noch nie mit einer Gottesanbeterin getrieben. Wie viel kostest du?" lallte er weiter. Die schmächtige Gestalt machte nicht den Eindruck, als würde sie noch lange der Schwerkraft trotzen können. Der übermäßige Konsum an Alkohol ließ ihn ordentlich schwanken.

"Leider bin ich anderweitig beschäftigt." Kenya schenkte ihm ein knappes Lächeln. Sie wusste aus ihrer Vergangenheit, dass ein Ignorieren oder eine allzu konsequente Absage das männliche Ego in die Aggression treiben würde. Sie hatte gelernt, dass ein kurzes Bedauern und ein Lächeln die meisten Testosteronbomben entschärfte. Auch hier hatte sie mit dem einstudierten Ritual Erfolg. Der potentielle Freier schwankte davon und so schafften sie es endlich an die Bar.

"Ich fürchte mein Laden ist viel zu fein für Leute wie euch." spielte der Wirt auf ihre Aufmachung an.

"Wir suchen einen Mann mit dem Namen Corado." kam Oliver schnurstracks auf den Punkt. Sein roboterhaftes Auftreten erzeugte nicht viel Vertrauen.

"Gibt´s hier nicht." antwortete der Wirt pampig. Kenya fiel es leichter aus dem Cree-Modus der Logik in den normalen, menschlichen Umgang zu wechseln.        

"Wir haben ihm ein Geschäft vorzuschlagen." Sie forderte Oliver mit einem kurzen Kopf nicken auf einen der mitgebrachten Jetons zu zeigen. Dieser legte einen blauen auf die Theke.

"Warum sagt ihr das denn nicht gleich." antwortete der Wirt und steckte das Geld ein.

"Darf ich die Herrschaften bitten in einem von meinen Hinterzimmern zu warten. Herr Corado wird in Kürze zu Ihnen stoßen." sagte der Wirt mit einem nicht ganz Ernst gemeintem Unterton in der Stimme und führte sie in einen abgeschlossen Bereich. Der Raum beinhaltete einen großen Tisch und ein paar Stühle, die sich in einem besserem Zustand befanden als ihre Gegenstücke im öffentlichen Areal.

"Der soll sich beeilen. Uns läuft die Zeit davon." Kenya wurde ungeduldig. Elendig lange zehn Minuten warteten sie, dann öffnete sich die Tür. Mit dem Erscheinen ihres langersehnten Besuches kamen ihr die Geschichten vom Antichristen in den Sinn. Obwohl es keinerlei visuelle Vorgaben für sein Erscheinungsbild gab, war sie sich sicher, dass er soeben hinab gestiegen war. Der lange schwarze Mantel und der Cowboyhut ergänzten perfekt seinen wenig Vertrauen einflößenden Gesichtsausdruck. Die vernarbten Hände ließen auf jede Menge Gewalt in der Vergangenheit schließen und die winzigen Augen offenbarten den heimtückischen Charakter. Keine Frage. Dieser Mann schrie in seiner ganzen Aufmachung nach Misstrauen.

Er setzte sich ohne ein Wort zu sagen an den Tisch und musterte sie ungeniert. Diese unheilvollen Augen in seinem schmalen Gesicht schienen sie zu durchlöchern.

"Cree." Nur ein einziges Wort, dann setzte er seine Musterung fort.

"Wir müssen zur Science und das sofort." platzte Kenya heraus.

"Ach ja?" fragte er leicht amüsiert.

"Wir sind auf der Flucht."

"Vor was? Vor Langeweile?"

"Wir sind das neuste Spielzeug der Cree. Vor ein paar Wochen hatte ich eine gut bezahlte Arbeit auf Cayuse bis ich den Verlockungen des Geldes folgte und sie mich im Dschungel zu eine der ihren machen wollte. Heute kann ich blitzschnell aus fünfstelligen Zahlen die Wurzel ziehen und habe das Verlangen nach Logik und Konstanz." sagte Kenya.

"Mein Beileid." erwiderte Corado sarkastisch und machte sich keine Mühe den Hochmut zu verbergen.

"Ihr seht zwar optisch aus, wie einer der Hinterwäldler aus dem Dschungel, aber ihr verhaltet euch nicht so." schlussfolgerte er.

"Wir sind eine Art Hybrid. Ein gescheitertes Experiment. Die Science wird sicherlich Interesse an uns haben, denn jeder von euch könnte der Nächste sein. Auch du."

"Und was wollt ihr, dass ich jetzt tue? Euch dort hinbringen, wegen dieser dünnen Geschichte von irgendwelchen Versuchen. Vergiss es." Corado stand auf und war im Begriff zu gehen.

"Warte." hielt ihn Oliver zurück. Er legte das Pad auf den Tisch.

"Wichtige Informationen über die Cree." sagte er monoton. Corado scrollte das Display entlang. Seine Miene verriet ernsthafte Überraschung. Nach kurzer Zeit setzte er sich wieder.

"Das ist hartes Zeug. Ich hoffe für euch, dass das nicht irgendeiner Fantasie entspringt und ihr nur einen kostenlosen Transport zur Science wollt. Solltet ihr mich hintergehen." Corado machte die Halsabschneidergeste. Oliver schluckte.

"Glaub mir. Das ist nichts gegenüber dem, was uns passiert ist." Kenya klang selbstbewusst. Sie hatten ihn am Haken. Jetzt musste er nur noch eingeholt werden.

"Wir müssen schnell weg. Die Cree haben unser Verschwinden sicherlich schon bemerkt und so clever wie die sind kommen die schnell dahinter wo wir sind." drängelte Kenya. Corado hatte ein Pokerface aufgesetzt, so dass seine Gedanken über das für und wieder äußerlich nicht erkennbar waren. Kurze Zeit später hatte er eine Entscheidung gefällt. Er stand auf.

"Nein. Ist mir zu heiß. Sucht euch jemand anderes." sagte er entschlossen.

"Was?" Kenya konnte es kaum glauben. Sie sprang auf und stellte sich ihm gegenüber.

"Wir sind der größte Erkenntnisgewinn für die Science und du weigerst dich aus Feigheit uns dort hin zu bringen." brüllte sie ihn an. Sie ignorierte das feige und hinterhältige Gesicht, das suggerierte, dass dessen Besitzer nicht oft Widerspruch duldete.

"Pass auf, was du sagst Mädel." drohte er.

"Ich habe nichts mehr zu verlieren. Wenn ich nicht zur Science komme, bin ich eh tot."

"Dann solltest du deine verbleibende Zeit nicht damit verschwenden mir auf die Nerven zu gehen." sagte er erneut drohend. Der Geräuschpegel in der anliegenden Bar hatte sich verändert. War es bisher der übliche Lärm mit angeregten Gesprächen und gelegentlichem Streit, war jetzt allgemeiner Aufruhr zu vernehmen.

"Sie haben uns gefunden." raunte Oliver leise. Der Wirt erschien aufgebracht im Zimmer.

"Polizei. Überall Polizei und sie suchen nach dir." erklärte er hektisch.

"Spitze." zischte Corado und überlegte kurz. Jeder Andere wäre vermutlich in Panik verfallen, aber die Ruhe mit der er sein weiteres Vorgehen überlegte, zeugte von vielen ähnlichen Erfahrungen in der Vergangenheit.

"Wir brauchen deinen speziellen Notausgang." fuhr er den Wirt an. Gemeinsam verließen sie den Raum und verschwanden in einem Gang, deren hinterste Tür zu einem kleinen Zimmer führte. Corado deutete auf Kenya ihm sich anzuschließen.

"Riecht zwar eklig, könnte euch aber den Arsch retten." bot der Wirt ein Loch im Boden an, das in die Kanalisation führte.

"Riecht auch nicht schlimmer als deine Bar." antwortete Corado und verschwand im Loch.

"Da hat er Recht." schob Kenya hinterher und stieg ebenfalls hinab. Oliver folgte ihnen schweigend.

"Raus mit der Sprache. Wie kommen die ausgerechnet auf mich?" fragte Corado als sie knietief durch die stinkende Brühe wateten.

"Wir haben deinen Namen aus einem Geheimdienstbericht der Cree. Ich sag ja die sind clever und haben das nach verfolgt." antwortete Kenya.

"Die Cree wissen über mich Bescheid. Verdammt. Damit ist der Planet für mich gestorben." fluchte Corado.

"Was passiert mit uns?"

"Jetzt muss ich euch sogar mitnehmen. Irgendwas muss ich denen erklären, warum ich aufgeflogen bin und da hab ich mit euch einen guten Grund."

"Wie wollen wir wegkommen? Der Raumhafen wird bestimmt überwacht." fragte Oliver. Corado grinste, als würde ihn Vorfreude ergreifen.

Sie verließen ihren stinkenden Fluchtunnel durch einen Schacht nahe dem Zentrum. Ihr Aussehen hatte ordentlich gelitten. Das weiß ihrer Anzüge ging unterhalb ihrer Knie in eine schwer zu definierenden Farbe über, die sämtliche unangenehmen Gerüche dieser Welt zu verkörpern schien. Sie hatten sich der neuen Welt angepasst und die hatte wenig mit der Reinheit von Logik und Vernunft zu tun. Kenya nahm einen tiefen Atemzug und genoss die neue Freiheit.

"Wenn du mehrere Wochen in einer Metallzelle eingeschlossen bist, lernst du jede neue Luft zu schätzen." antwortete sie auf Corados fragenden Blick. Er schüttelte nur den Kopf und folgte der Gasse Richtung Hauptstrasse. Auch hier gab es kaum Passanten. Offenbar war die einzige große Siedlung des Planeten ein sehr langweiliger Ort.

Flink und wendig passierte Corado die Hauptstraße und verschwand in einem Gebäude, das durch sein großes Haupttor an eine Feuerwehr erinnerte. Kenya sah in Olivers Gesicht die Frage, die auch sie umtrieb. Sollten sie ihm folgen? Verdammt, warum hat er ihnen keine Anweisung gegeben?

"Wir warten hier." sagte sie leise und starrte auf die Tür, in der Corado verschwunden war. Es dauerte über zehn Minuten, bis er wieder erschien. Neben ihm erschienen zwei weitere Männer, die genauso wie er einen länglichen Gegenstand in der Hand hielten.

"Sie wollen sich den Weg frei schießen." kombinierte Oliver. Jetzt erkannte auch Kenya die Gewehre. Corado winkte sie mit einer Handbewegung heran.

"Was soll das?" fragte Kenya, nachdem sie die Strasse überquert hatten.

"Was glaubst du wohl? Wir rechnen mit vier Polizisten, die mein Schiff bewachen." Kenya musterte seine Begleiter, die im fahlen Licht der Straßenbeleuchtung kaum erkennbar waren. Das einzige, was sie in ihren Gesichtern unmissverständlich ausmachen konnte, war der Trieb zu töten.

"Gibt es keine andere Möglichkeit?" Mit dieser Frage erntete sie nur ein höhnisches Schnauben.

Die Gruppe setzte sich in Bewegung. Kurze Zeit später gelangten sie an das Nebentor des um diese Zeit vollkommen geschlossenen Raumhafens. Auch hier wirkte der Charme der Provinz, denn die wenigen Landeflächen und die unscheinbaren Verwaltungsgebäude zeugten von wenig Verkehr. Sie verjagten den unbewaffneten Nachtwächter mit ein paar deftigen Worten. Der schwierige Teil lag nun vor ihnen, aber die schlechte Ausbildung der wachhabenden Polizisten und das Überraschungsmoment machten den Überfall zu einem Kinderspiel. Es war mehr eine Exekution, als ein wirklicher Kampf auf Augenhöhe und so standen sie einige Augenblicke später vor der Ladeluke eines Frachters, der in seinem Aussehen an eine gigantische Stecknadel mit einem Kopf aus Glas erinnerte. Da kein Frachtmodul angekoppelt war, gab es keinen Ballast, der eine schnelle Flucht behindern würde. Trotzdem standen sie vor einem Problem, mit dem sie in der Form nicht gerechnet hatten.

"Verdammt. Seit wann sind die so fix." fluchte Corado in die für einen Raumhafen ungewöhnliche Stille. Eine mechanische Stimme hatte ihm gerade verkündet, dass diesem Schiff auf Grund behördlicher Anweisungen jeglicher Zugang verweigert wurde. Auf einem Planeten, der vermutlich wie kein anderer auf intergalaktische Händler angewiesen war, mussten solche Maßnahmen von höchster Stelle genehmigt werden, was in der Regel mehrere Stunden in Anspruch nahm. In Corados Fall hatte man offensichtlich eine schnellere Variante gefunden.

"Scheiße." Corados Verwunderung schien in Wut umzuschlagen. Er nahm sein Gewehr und richtete es auf das widerspenstige Schloss.

"Warte." hielt ihn Kenya davon ab.

"Du hast Recht. Es gibt bessere Ziele." Sein Gewehrlauf wanderte jetzt in ihre Richtung. Eine Mischung aus Verzweiflung und Wahnsinn war ihm ins Gesicht gebrannt. Es gab keine Zweifel. Er war drauf und dran sie aus Frust über den Haufen zu schießen.

"Wir haben den Schlüssel." sagte sie ruhig.

"Codeknacker?" fragte er listig nach ein paar Momenten, in denen er ihre Worte gedanklich zuordnen musste. Sie nickte.

"Ist ein Versuch wert." Sein innerlicher Kampf gegen das Abdrücken des Abzuges war ihm deutlich anzusehen. Seine Wut verlangte ein Ventil, aber offenbar gab es auch den rationalen Corado, der ordentlich zu tun hatte, dass Finger krümmen zu bekämpfen.

Oliver kam jetzt die Rampe hinauf und war bereit die notwendige Tat durchzuführen. Kenya schluckte. Sollte aus irgendeinem Grund die Nanotechnologie versagen, erlebte sie in diesem Moment vermutlich die letzten Sekunden ihres Lebens. "Dämpfungsfelder" spülte ihr Unterbewusstsein ausgerechnet jetzt an die Oberfläche. Tatsächlich gab es Möglichkeiten die Nanotechnologie zu unterdrücken und sollte die Polizei von Cree so weitsichtig gewesen sein genau hier eins zu installieren, wäre es genau die Art von Auslöser, die den rationalen Corado an seine Grenzen bringen würde. Sie hielt den Atem an, als Oliver den Finger auf das Schloss legte. Ein "Klack" bestätigte den Erfolg und all die angesammelte Luft in ihren Lungen entwich mit einer riesigen Portion Erleichterung.        

"Ihr seid nützlicher als ich dachte." Der Tonfall seiner Stimme verriet, das der Wahnsinn in seinem Inneren auf dem Rückweg war, aber es genoss ein letztes warnendes Signal zu senden. Seine Leute und er betraten das Schiff und machten es für den Abflug bereit. Oliver hielt Kenya davon ab das Schiff zu betreten.

"Warte." sagte er und drückte ihr das Pad in die Hand.

"Was soll das?" fragte sie. Oliver schüttelte nur leicht mit dem Kopf.

"Du kommst nicht mit? Warum nicht?" fragte sie ihn.

"Was sind wir? Cree? Mensch? Eine eigene Spezies? Ich sehne mich nach der Ordnung der Cree, aber auch nach den Gefühlen der Menschen. Diese Widersprüche zerreißen mich. Ich glaube nicht, dass den Cree klar ist, was sie mit ihren Versuchen angestellt haben. Für sie ist das nur ein Fehler in der Gleichung, der ausgemerzt werden muss, aber ich muss sie davon überzeugen, dass sie gescheitert sind. Sie müssen aufhören und das will ich ihnen klar machen. Du sagst allen dort draußen, was sie hier anstellen und ich konfrontiere sie mit unserem wahren Wesen."

"Du wirst sterben." sagte Kenya traurig.

"Dann ist es auch eine Art Lösung." Oliver ging jetzt die Rampe hinab.

"Wo will er hin?" hörte sie Corado in ihrem Rücken fragen.

"Er hat sich entschieden zu bleiben." Wehmütig verfolgte sie Olivers Silhouette, die in der kläglichen Beleuchtung immer kleiner würde. Ein Anflug von Neid machte sich in ihr breit, da er nicht auf Entzug des Planeten gehen musste. Auch wenn sein Schicksal vermutlich ein trauriges Ende nehmen würde, blieb die tiefe Verbindung mit dem Planeten bis zu seinem letztem Atemzug bestehen. Sollte sie in den Weiten des Alls sterben, würde ihr dieses Privileg verweigert werden.

"Es geht hier nicht nach wollen." hörte sie Corado neben sich und aus den Augenwinkeln erkannte sie, wie er sein Gewehr in Anschlag brachte. Mit einer blitzschnellen Reaktion versuchte sie den Schuss zu verhindern. Sie war sich nicht sicher, ob sie es geschafft hatte vor dem tödlichen "plopp" die Bahn der Patrone entscheidend zu ändern. Das Wegdrücken des Laufes kam hoffentlich noch rechtzeitig. In der Stille des Raumhafens konnte sie weder Schmerzensschreie, noch das Geräusch von splitternden Knochen oder fallenden Körpern vernehmen. Ihr prüfender Blick in das schwach beleuchtete Areal bestätigte weder das Überleben noch den Tod von Oliver. Die Dunkelheit hatte ihn verschluckt. Bevor sie genauer die Umgebung begutachten konnte, streckte sie ein gezielter Faustschlag nieder.

"Was glaubst du wer du bist, Prinzessin?" Der Wahnsinn war zurück in Corados Stimme. Der einsetzende Schmerz hinderte Kenya an einer Antwort. Sie versuchte sich aufzurappeln, aber Corado stellte seinen Fuß auf ihren Rücken und verhinderte jegliche Bemühungen wieder in die Senkrechte zu kommen.

"Du bleibst unten." zischte er und suchte die Umgebung ab.

"Ihr kommt da reingeplatzt ins "Bayreuth" und wollt, dass ich für euch springe. Dann reitet ihr mich in diese Scheiße hier, zwingt mich zur Flucht und am Ende sagt ihr mir "Schönen Dank, aber wir gehen wieder nach Hause." Was glaubst du, wer ich bin? Der liebe Onkel von nebenan? So geht das nicht Prinzessin." Er suchte weiterhin die Umgebung ab.

"Erwischt." kam es triumphierend. Offenbar hatte er Oliver gefunden.

"Olek." schrie er ins Innere des Frachters.

"Übernimm mal unser Püppchen. Ich muss da draußen noch etwas nachhelfen." befahl er.

"Keine Zeit mehr. Da rücken mehrere Polizeistreifen an, die dir gehörig den Arsch aufreißen wollen." erwiderte ein schmaler Mann, dessen eingefallenes Gesicht auf einen exzessiven Drogenkonsum schließen ließ.

"Mist." Corado zerrte Kenya an den Haaren auf die Beine und schob sie Richtung Frachtereingang.

"Das wirst du mir bezahlen." fluchte er und verschloss von innen die Tür. Mit blutiger Nase wurde Kenya auf die Kommandobrücke gebracht.

"Was ist passiert?" fragte der Dritte im Bunde, dessen Name Kenya bisher noch nicht kannte. Er besaß ein sehr attraktives Aussehen, was in dieser aufgeheizten Atmosphäre aus Adrenalin, Wut und Testosteron ungewöhnlich anziehend auf sie wirkte.

"Der kleine Pisser hat sich verdrückt. Und sie... Na ja, du siehst ja selbst." sagte Corado abwertend. Der Unbekannte ging zu einem Wartungsschrank und holte einen Erste-Hilfe-Koffer hervor.

"Fang." rief er in Richtung Kenya und schleuderte den Koffer in ihre Richtung. Geschickt fing sie das Flugobjekt auf.

"Wer bist du? Mutter Theresa?" kommentierte Olek die Aktion und lachte dreckig.

"Schnauze jetzt. Was halten die für uns parat?" Die Ruhe wurde erschüttert durch das Hochfahren der Antriebe. Das Schiff fing leicht an zu zittern.

"Ein paar Atmosphärengleiter. Das war es auch schon. Wir sind hier in der tiefsten Provinz. Vermutlich schmeißen die mit Steinen nach uns." erklärte der Unbekannte.

"Gut. Dann las uns hier verschwinden, bevor die etwas mit mehr Feuerkraft auffahren." Ein blinkendes Licht an der vorgelagerten Konsole erregte Corados Aufmerksamkeit. Mit einem kurzem Fingertipp öffnete er die Kommunikation.

"Hier spricht die Polizei von Cree. Stellen Sie die Maschinen ab und verlassen sie umgehend ihr Schiff." forderte eine ziemlich maskuline Stimme sie auf.

"Und hier spricht der liebe Corado und ich sage euch. Ihr könnt mich mal." äffte Corado im gleichen Tonfall nach, worauf Olek in schallendes Gelächter ausbrach.

"Fertig für den Start." kam es jetzt vom unbekannten Piloten.

"Los. Ich werde diesem Kaff keine Träne nachheulen."

"Wenn Sie sich nicht beugen, dann sind wir gezwungen Gewalt anzuwenden." kam es aus dem Lautprecher.

"Bla Bla." beendete Corado die Kommunikation.

"Haben die irgendwas, was uns schaden könnte?" fragte er Richtung Pilot. Der schüttelte den Kopf. Das Schiff schwebte mittlerweile mehrere Meter über dem Boden. Ein Erschütterung erfasste den Rumpf.

"Was war das?"

"Ein Stein." versetzte der Pilot die Crew ins Gelächter. Sie gewannen weiter an Höhe und einer der Polizeigleiter setzte sich bedrohlich vor das breite Fenster der Brücke.

"Keine Angst. Unser doppelt verstärkter Rumpf sollte ihre Geschosse abfangen." versicherte der Pilot. Corado hielt den Atem an. Jeden Moment würde diese schwebende Polizeistreife auf sie feuern.

"Ich mach mir auch mehr Sorgen um das Fenster." sagte er leicht angespannt. In diesem Moment trommelten die ersten Geschosse gegen das vermeintliche Glas. Tatsächlich prallten sie ohne den geringsten Schaden zu verursachen einfach ab.

"Ich wusste die Verstärkung würde sich eines Tages auszahlen." sagte Corado erleichtert. Er ging auf das Fenster zu und legte seine Hand auf die vibrierende Oberfläche. Ein Grinsen zierte sein Gesicht und im Übermut der Unverwundbarkeit streckte er dem Polizeigleiter den Mittelfinger entgegen.

"Wichser." formte er das Wort mit seinen Lippen überdeutlich. Der Beschuss hörte auf. Der Frachter stieg weiter auf und verließ nach einigen Momenten die Atmosphäre.

"Welches Exson hat die Ehre uns von diesem Mistplaneten wegbringen zu dürfen?" Corado badete jetzt in Triumpfgefühl.

""Die verruchte Braut" bringt uns direkt nach Yuma." antwortete der Pilot.

"Perfekt." antwortete Corado. Sie befanden sich bereits im All und steuerten auf einen unscharfen Punkt in der Schwärze zu, der mit jedem Augenblick größer wurde. Obwohl Kenya mit genau jenem Exson hier nach Cree gelangt war und dessen Ausmaße bereits kannte, konnte sie ihre Bewunderung für das technische Meisterwerk schwer leugnen. Die Dimensionen waren einfach unglaublich und die Tatsache das dieses riesige Ei mit seinen Ringen sie an das andere Ende der Galaxie bringen würde, rang ihr ein gewisses Maß an Ehrfurcht ab.

Mit dem neu erlangten technischem Wissen, konnte sie den Umfang an notwendigem Erfindergeist so etwas zu erschaffen jetzt richtig einordnen. Allein die absurde Idee ein Paralleluniversum zur Energiegewinnung anzuzapfen, rang ihr höchsten Respekt für die Vorfahren ab. Ein disziplinierter Geist der Cree hätte diese Art des Antriebs nicht einmal in Erwägung gezogen. Nicht zum ersten Mal sah sie diese Mischung aus unkonventionellen Denken der Menschen und rationaler Logik der Cree als ultimative Entwicklung an. Die jeweiligen Vorteile würden alle Bewohner der Galaxie in ein besseres Zeitalter führen. Leider stand sie mit dieser Erkenntnis ziemlich alleine da.

Sie legten an Andockbucht 22 an und als der steife Beamte sie an der Luftschleuse empfing, überkam Kenya zum ersten Mal ein Gefühl von Heimweh. Schon wenige Stunden nach dem Verlassen des Planeten setzte der Entzug ein. Es fühlte sich an, als ob ihrer Seele ein ihrer Nahrung entzogen wurde. Dort wo gerade noch Ausgeglichenheit, Zuversicht und Optimismus vorherrschten, gab es jetzt nur Leere, die schleichend von Empfindungen wie Angst, Ungewissheit und Verwirrung besetzt wurde. Dieser Zustand des Überganges verursachte ein Chaos in ihrem Verstand, der ungewohnten Zwiespalt hervorrief.

"Alles in Ordnung?" fragte der Pilot, dessen Name sich als Maca herausstellte.

"Ich muss mich an die neue Umgebung erst gewöhnen." antwortete Kenya.

"Daumen aufs Pad." begrüßte sie der Beamte unfreundlich. Offenbar war diese abwertende Art ein festes Ritual auf "der verruchten Braut", denn schon bei ihrem ersten Besuch bestachen die Angestellten durch Unfreundlichkeit.

"Wir würden gerne unerkannt bleiben." entgegnete Corado in ungewohnt freundlichem Tonfall.

"So. Würden Sie gerne." fauchte ihn der arrogante Beamte an. Corado setzte ein falsches Lächeln auf, das einen Hauch von Drohung beinhaltete. Er hielt dem Wichtigtuer einen blauen Jeton hin, der ignoriert wurde.

"Bestechung ist ein schweres Vergehen und kann unangenehme Folgen nach sich ziehen."

"Genauso wie ein schwerer Unfall." drohte Corado jetzt unverhohlen. Die Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Mit zitternder Hand ergriff der Beamte den Jeton und verschwand im Trubel des Habitatringes.

"Schisser." feixte Olek.

"Gut. Zwanzig Stunden bis zum Sprung. Das Motto unseres Aufenthaltes ist: Nicht auffallen. Ist das allen klar?" richtete er die letzte Frage Richtung Olek, der offenbar diese extra Ermahnung nötig hatte.

"Schon klar. Ich halt mich zurück." beschwichtigte der Angesprochene.

"Gut. Ich werde mich jetzt mal in Ruhe mit unserer Prinzessin unterhalten." Corado drängte Kenya in den Habitatring. Er benötigte eine Weile, bis er den nächsten Lift fand.

"Endlich entkomme ich dem langweiligsten Planeten des Universums und nun muss ich mich zusammenreißen nicht aufzufallen." fluchte er, als er Ring 4 anwählte. Als sich die Fahrstuhltüren wieder öffneten, verstand Kenya seinen Frust. Habitatring 4 war offensichtlich das Feierzentrum des Exsons. Ein Fakt, der ihr bei ihrem ersten Besuch entgangen war, da ihr der Ausgang untersagt wurde.

"Da entlang." brüllte Corado sie über den Feierlärm hinweg an. Dieses Gewirr aus lauten Stimmen, Musik und Feierstimmung, verunsicherte Kenya weiter. Zum ersten Mal wusste sie die angenehme Ruhe der Cree-Welt zu schätzen. Corado drängte sie in eine Bar mit dem Namen "Twister" und obwohl auch hier die Anzahl der Feierwütigen den beschränkten Raum zu sprengen drohte, war eine Kommunikation möglich, ohne dass die Stimme nach wenigen Worten zu schwinden drohte. Die Musik hatte eine angenehme Lautstärke und die zahlreichen Tänzerinnen erinnerten Kenya an die Zeit vor all dem Cree-Wahnsinn.

"Oh. Wir fischen wohl auf dem gegenüberliegenden Ufer." interpretierte Corado ihre neugierigen Blicke auf die Tänzerinnen verkehrt. Sie machte sich nicht die Mühe das Missverständnis klarzustellen.

"Ich kann dich gerne von den Vorzügen der Männerwelt überzeugen." kam es schmierig von Corado. Kenya schenkte ihm einen verächtlichen Blick, der ihn nur noch mehr anzuspornen schien.

"Aber deswegen sind wir nicht hier." lenkte Kenya ihn wieder auf das eigentliche Thema.

"Richtig. Wir wollten uns ja unterhalten." Ihre Blicke trafen sich und jetzt wurde Kenya klar, dass auch Corado was zu verbergen hatte.

"Was wissen die Cree über mich?" fragte er argwöhnisch.

"Ich weiß es nicht. Ich habe nur deinen Namen als Ansprechpartner bekommen."

"Von wem?"

"Jemanden, der mir bei der Flucht geholfen hat."

"Und warum wolltest du weg?"

"Sie wollten mich töten."

"Hör zu Püppchen. Wenn du die Science beeindrucken willst, solltest du ein bisschen mehr bieten, als ein paar wage Andeutungen." Corados Stimme drohte wieder in Wut umzuschlagen.

"Die Cree machen dort unverantwortliche Versuche. Sie versuchen uns zu transformieren. Offenbar mit mäßigem Erfolg und nun versuchen sie das gescheiterte Experiment zu beenden. Ich habe Technologie in meinem Blut, die den ganzen Wahnsinn unterstützt. Ich bin mir sicher, die Science will wissen, was die da veranstalten." entgegnete Kenya. Corado piff kurz auf.

"Endlich mal was Handfestes, denn deine Militärgeheimnisse bestätigen nur, was wir ohnehin wussten."

"Du wirst bezahlt für Informationen über die Cree. Sie lassen sich aber nicht so leicht ausspionieren, so dass du kaum was Brauchbares rausbekommen hast. Jetzt endlich hast du was Greifbares, aber das auch nur weil ich dir alles auf einem Silbertablett serviert habe." schlussfolgerte Kenya und traf einen Nerv.

"Vorsicht Prinzessin." ließ es Corado sich nicht nehmen zu drohen.

"Ich bin so etwas wie ein freier Mitarbeiter der Science. Ich halte meine Nase in den Wind der Galaxie und schnüffle nach Informationen. Seit Wochen versuche ich was Neues über die Cree zu erfahren, aber die sind gerissen." gab er schließlich zu.

"Die Nanotechnologie macht dich zum Informanten des Monats." munterte Kenya ihn sarkastisch auf.

"Das ist der Punkt, der mich misstrauisch macht. Wochenlang nix und jetzt aus heiterem Himmel Jackpot. Ich bin zu lange in dieser Branche unterwegs um zu wissen, dass einem nicht einfach etwas zugeflogen kommt."  

"Dieses Mal schon. Ihre Pläne verändern die gesamte Galaxie auf unvorhersehbare Weise. Sie müssen aufgehalten werden."

"Was solls. In Yuma steigen wir um auf ein Raumschiff mit Überlichtgeschwindigkeit. Das bringt uns zur Science und von da an, bist du ihr Problem und ich verprasse meine neugewonnenen Jetons in den Bordellen von Cayuse." Der letzte Satz versetzte sie unbewusst in die Zeit vor der Verwandlung zurück. Gesichter von Freiern drängten sich in ihr bewusstes Denken und mit einer gewissen Furcht erwartete sie in dieser unendlichen Bibliothek der Kundschaft irgendwo auf Corado zu treffen, aber entweder war er tatsächlich nie Kunde der alten Kenya oder ihr Verstand war weise genug diese Erinnerung für immer zu verbergen.

"Apropos. Warum eigentlich warten." überkam Corado die Erleuchtung. Er kramte zwei grüne Jetons hervor und spielte damit zwischen seinen Fingern.

"Das Buffett ist eröffnet." Er erhob sich und ging zu den Tänzerin hinüber. Nach einer ausführlichen Begutachtung jeder Einzelnen entschied er sich für eine langhaarige Blondine, dessen wohlgeformter Hintern offensichtlich das ausschlaggebende Kriterium war. Nach ein paar kurzen Flirts, welche sich vermutlich als gut kaschierte Preisverhandlungen darstellten, verließen beide gemeinsam die Bar.

Kenya saß jetzt allein an dem kleinen Tisch und obwohl alles in ihr danach drängte diese überlaufende Bar schnellst möglich zu verlassen, verharrte sie aus Mangel an Alternativen an diesen für sie furchtbaren Ort. Sie sehnte sich nach der Ruhe ihres Quartiers, das zwar die letzten Wochen einem Gefängnis geglichen hatte, aber ein perfekter Platz zum Meditieren war. Cree war aus ihrem Inneren verschwunden und die erwartete Freude der unsäglichen Beherrschung endlich zu entkommen, wollte sich nicht einstellen. Ganz im Gegenteil. Sie vermisste das, was sie die letzten Wochen zu hassen gelernt hatte. Sie schloss die Augen in der Hoffnung all den Lärm irgendwie auszusperren und das mentale Gleichgewicht mit Gewalt erzwingen zu können, aber so funktionierte es nicht. Diese Erkenntnis war bitter, aber die Tatsache, dass sie lernen musste mit diesem Zustand aus Chaos ein Leben lang klarzukommen, entmutigte sie für den Moment. Resigniert öffnete sie die Augen und erblickte Maca, der allein an der Bar saß.

"Was solls." sagte sie zu sich selbst und erhob sich. Sich mit diesem Lumpen zu unterhalten, konnte nicht viel abstoßender sein, als sich alleine in der Ecke den Widrigkeiten ihres neuen Lebens zu ergeben, also setzte sie sich neben ihn.

"Offenbar sagt dir die Auswahl nicht zu." Kenya deutete mit dem Kopf auf die Tänzerinnen. Kein guter Einstieg für ein Gespräch, aber Kenya war nach ein wenig Provokation.

"Da ist tatsächlich nichts für mich dabei." sagte er lächelnd. Kenya brauchte ein paar Momente, bis sie die volle Bedeutung dieser Worte begriff. Die Gleichgültigkeit, wie er sie und ihre Geschlechtsgenossen ansah, ließ nur einen Schluss zu.

"Oh. Verstehe." sagte sie nach der Einsicht, dass er mehr das eigene Geschlecht bevorzugte. Sie wusste nicht genau warum, aber dieser Fakt ließ ihn sympathischer wirken. Sie lächelte verlegen.

"Frauen." sagte er leicht herablassend. Kenyas fragender Blick nötigte ihn zu einer Erklärung.

"Dieser Automatismus weibliche Reize einzusetzen. Es ist als würdet ihr eure Maske absetzen, weil ihr merkt, dass es keinen Sinn hat." erklärte er.

"Tut mir Leid. Evolutionäres Verhalten." Tatsächlich wurde ihr gerade bewusst, dass sie intuitiv ihre komplette Einstellung gegenüber Maca geändert hatte. Ihr antrainiertes Verhalten gegenüber attraktiven Männern zog bei seiner Sorte tatsächlich nicht.

"Evolutionär?" fragte er.

"Nicht wichtig. Bis vor ein paar Wochen kannte ich dieses Wort auch nicht."

"Also stimmt es, was man über die Cree sagt." Er tippte sich an die Stirn um Schläue anzudeuten.

"Vermutlich. Mich interessiert aber mehr was man über die Science sagt."

"Die sind auch nicht dumm. Irgendwie haben sie es geschafft jeden schlauen Kopf der Galaxie aufzusaugen."

"Was glaubst du werden die mit mir machen, wenn ich dort auftauche?"

"Da ist alles möglich. Von Kopfschuss bis zur Heiligsprechung."

"Ich bin kein Cree, aber ich bin auch kein Mensch mehr." erklärte sich Kenya.

"Ich sagte ja, die sind immer interessiert an schlauen Köpfen. Je besser du sie überzeugen kannst, dass du ordentlich was in der Birne hast, umso mehr steigen deine Überlebenschancen."

"Danke für den Tipp." Kenya bestellte eine Runde Bier und als das Getränk mit einer ordentlichen Schaumkrone vor ihr stand, fiel ihr ein, dass sie seit Monaten kein Alkohol getrunken hatte. Sie zögerte.

"Was ist los?" fragte sie Maca.

"Ich habe noch nie viel Alkohol vertragen und mit dem neuen Hirn dort oben, bin ich mir unsicher, ob ich das tun sollte." erklärte sie. Die Cree in ihr sah es als komplett überflüssig an seine Körperfunktionen sinnlos zu beeinträchtigen. Es war weniger eine banale Entscheidung zwischen ja oder nein. Hier ging es darum der menschlichen oder der Cree-Seite zu vertrauen. Sie schob das Glas beiseite und entschied sich für die Logik. Die Zukunft würde sie vor tausende solcher Entscheidungen stellen. Wie ein Teenager, der sich den Widrigkeiten des Erwachsenwerdens stellen musste, würde sie ihre Persönlichkeit durch Erfahrungen formen. Bloß wie konnte sie etwas einordnen, wenn sie zu feige war auch negative Erlebnisse zu riskieren. Waren es nicht die unangenehmen Erkenntnisse, die den nachhaltigsten Fußabdruck hinterließen. Sie starrte auf den Krug Bier und in einem inneren Konflikt entschied sie sich gegen die gerade noch unumstößliche Vernunft.

"Na bitte." kommentierte Maca ihren großen Schluck Bier.

"Es ist verrückt. Ich muss erst wieder meinen Platz finden."

"Hey. Keiner kann das besser nachvollziehen als ich. Die Vernunft sagt dir: pass dich an und fall nicht auf. Dann hast du ein leichtes Leben. Aber deine Seele sagt dir: Scheiß drauf. Lebe einfach. Die Welt dort draußen ist ein ewiger Kampf zwischen Verurteilung und Anerkennung. Einige sehen mich als Opfer, dass durch vermeintliche Diskriminierung soviel Toleranz verdient, dass sie mir sogar ein Mord durchgehen lassen würden. Andere würden dich am liebsten am nächsten Baum aufhängen. Wie sollst du zwischen diesen Extremen deine wahre Natur finden? Das Leben ist scheiße." Maca nahm einen großen Schluck Bier.

"Nein ist es nicht. Vielleicht entsprechen wir beide nicht der menschlichen Norm, aber wir gehen den gleichen Weg des Lebens wie alle anderen auch. Mag sein, dass mehr Stolpersteine uns die ganze Sache erschweren und wir weniger Orientierungspunkte vorfinden. Entscheidend ist die Einstellung. Du kannst keinen Berg erklimmen, wenn du ständig Angst hast abzustürzen. Wir dürfen nicht akzeptieren, dass uns das Schicksal eine unüberwindbare Bürde verpasst hat. Wenn dir klar wird, dass deine größte Last eigentlich deine ganz individuelle Herausforderung ist, eröffnen sich dir ganz andere Sichtweisen." Der Alkohol verbreitete seine unheilvolle Wirkung schneller als befürchtet, aber noch war sie klar bei Verstand. Die Weisheit, die sie Maca so philosophisch dargelegt hatte, war ohne weiteres ihr eigener Orientierungspfad. Die Erkenntnis, dass sie in ihrem neuen Leben vermutlich ein permanentes Außenseiterdasein fristen würde, war nicht neu. Jetzt hatte sie sich selbst einen Ausweg für dieses Dilemma offenbart.

"Du bist in Ordnung." lallte Maca, der ebenfalls die verheerende Wirkung des Alkohols zu spüren bekam.

"Ja. Ich bin die Beste." erwiderte Kenya sarkastisch und leerte ihr Glas.

"Noch eins?" fragte sie, obwohl sie es besser wissen müsste.

"Klar." erwiderte Maca und signalisierte dem Wirt, dass er zwei weitere Bier erwartete. Für Kenya war es eine Art rebellische Genugtuung der vernünftigen Cree in ihr ein weiteres Bier zu präsentieren.

Es sollte nicht ihr letztes Bier gewesen sein. Kenya genoss die Gesellschaft von Maca, der sich bei näherer Betrachtung als absolutes Gegenteil eines raubeinigen Weltraumschurken entpuppte. Ähnlich wie Corado bot er seine Fähigkeiten gegen Bezahlung an, nur war es bei ihm keine Informationsbeschaffung. Das Steuern verschiedener Raumschifftypen verschaffte ihm ein unregelmäßiges Einkommen. Sein Beruf war Pilot und diese Tätigkeit verschlug ihn quer durch die Galaxie. Fast jede künstlich erschaffene Welt der Vorfahren hatte er bereits bereist und seine Geschichten über die Vielfältigkeit der einzelnen Bewohner besaßen eine Faszination, der sich Kenya schwer entziehen konnte. Die Welt dort draußen war voller mystischer Geheimnisse und unter dem Einfluss des Alkohols, schwor sie sich jedes Einzelne zu ergründen.

Zu Kenyas Überraschung blieb der totale Absturz aus. Sie war angetrunken, dass konnte sie nicht leugnen, aber offenbar vertrug ihr neues Wesen doch mehr Alkohol, als sie sich anfangs zugetraut hatte. Maca hatte deutlich mehr Probleme das Gelage zu verarbeiten und so benötigte er Kenyas Hilfe beim Rückweg zu ihrem Frachtschiff.

"Du bist in Ordnung Mädel." lallte er, als Kenya ihn in seinem Quartier zu Bett brachte. Mehr als dieses ungewöhnliche Danke brachte er nicht mehr heraus, denn die Müdigkeit forderte ihr Recht auf Schlaf ein. Wie ein Kind kuschelte er sich in sein Kissen und war umgehend eingeschlafen.

"Schlaf gut." hauchte sie ihm zu. Erst jetzt registrierte sie, dass ihr dieser ungewöhnliche Abend gut getan hatte. Auf Cree war sie soweit abgestumpft, dass sie vergessen hatte, wie wichtig soziale Kontakte für den menschlichen Teil ihres Wesens waren. Für die Gesellschaft der Cree wären die vergangenen Stunden eine sinnlose Verschwendung von Zeit und Energie gewesen, aber sie war keine reine Cree. Mit dem ersten Schluck Bier war sie den Schritt gegangen, um erste Anhaltspunkte ihrer unbekannten Existenz zu ergründen. Das Wagnis Alkohol brachte ihr die Erkenntnis, dass genug alte Kenya in ihr steckte, die ihren Teil zur neuen Persönlichkeit beitragen würde. Das alles würde nur klappen, solange diese alte Kenya nicht mit reiner Vernunft erstickt wurde.

Als sie erwachte, war es nur noch eine knappe Stunde bis zum Sprung. Es war unglaublich wie lange sie geschlafen hatte. Normalerweise reichten ihr die vier Stunden Regneration, aber ohne den Planeten und mit viel zu viel Alkohol im Blut schien ihre menschliche Seite mehr Erholung zu fordern. Eine kleine exotische Mahlzeit diente ihr als Frühstück und selbst ohne großes Wissen über die Biochemie ihres Körpers wusste sie, dass jegliche Nahrung in Zukunft nie die optimale Zusammensetzung von Cree-Nährstoffen erreichen würde. Hier draußen herrschte der Mangel und der zeigte sich bedauerlicherweise auch bei Vitaminen und Mineralien. Ihre Flucht würde nicht nur die geistigen Fähigkeiten beeinträchtigen. Die körperlichen Defizite durch Mangelernährung würden sie anfälliger für Krankheiten machen. Sie verfluchte ihre neu gewonnene Weisheit, denn die zeigte ihr mit gnadenloser Präzision jeden vermeintlichen Nachteil auf.

"Gut geschlafen, Prinzessin?" begrüßte sie ein gut gelaunter Corado als sie die Brücke betrat. Offenbar hatte die Tänzerin ihm soviel Testosteron entzogen, dass er sich sogar zu einem Lächeln herabließ. Sie ignorierte ihn, auch weil er keine Antwort erwartete und ging auf Maca zu.

"Alles gut?" fragte sie. 

"Ein wenig Übelkeit." erwiderte er mit bleichem Gesicht.

"Da haben sich ja zwei gefunden. Nur schade, dass ihr beide im falschen Teich fischt." spottete Corado.

"Falscher Teich. Der war gut." feixte Olek. In diesem Moment wurde das Schiff von einer Erschütterung erfasst. Sie waren gesprungen. Es dauerte eine halbe Stunde, dann bekamen sie die Freigabe zum Ablegen.

"Kurs auf die Yuma-Hauptstation ist eingegeben. Eine dreißig Minuten werden wir ungefähr brauchen." verkündete Maca pflichtbewusst seine Aufgaben. Da sie direkt auf Yuma zusteuerten, konnte Kenya den trostlosen Planeten durch die Glasfassade sehen. Zweidrittel des atomar verseuchten Klumpen Drecks lagen im Schatten und der Rest schimmerte in einem wenig einladendem Grau. Die Vorfahren hatten Yuma von einem Felsen in eine lebendige Welt verwandelt, um sie ein paar hundert Jahre später durch Atomraketen wieder unbewohnbar zu machen. Einzig die umkreisenden Raumstationen waren noch bevölkert, aber im Vergleich zum Exson wirkten sie wie Spielzeuge.

"Gut. So ist der Plan." verkündete Corado.

"Wir legen an der Hauptstation an. Die Prinzessin und ich werden umsteigen. Hoffentlich haben die Bastarde von der "destello rojo" keine Verspätung. Olek du bleibst auf der Station bis ich zurück bin. Dann verjubeln wir unsere Jetons. Maca. Ich entlasse dich aus meinen Diensten." Corado unterstrich die letzten Worte mit einer ausladenden Armbewegung in Gutsherrenmanier. Im Hinblick auf viele Jetons war Corado immer noch guter Laune.

Das Anlegemanöver am einzigen Habitatring der zentralen Yumastation war die letzte Aufgabe von Maca. Ohne große Verabschiedung verschwand er in seinem Quartier, packte seine Sachen und verließ das Schiff. Der Alkohol am letzten Abend hatte Kenya und ihn in bestimmten Dingen zu Verbündeten im Geiste gemacht und ein wenig Wehmut ergriff Kenya nun doch, zumal sie die kommenden Ereignisse wieder als Einzelkämpferin durchstehen musste. Sie verscheuchte dieses falsche Gefühl in ihrem Inneren und zwang ihre Konzentration auf die unbekannte Zukunft vor ihr, welche vorerst nur eine langweilige Raumstation für sie bereit hielt. Zu ihrem Glück verweilten sie gerade mal eine halbe Stunde auf Yuma, als Corado von einem Fremden angesprochen wurde, der in seinem Auftreten an einen steifen Finanzbeamten erinnerte.

"Das ist sie?" sprach er die Beiden ohne Begrüßung in nüchternem Tonfall an. Corado nickte erwartungsvoll.

"In Originalgröße und im Wert von hoffentlich vielen schwarzen Jetons." erwiderte er. Der Fremde musterte Kenya, als wäre sie ein Kunstwerk, bei dem der Betrachter nicht wusste, ob es ihn ansprach.

"Und sie sind?" fragte Kenya, nachdem keine Vorstellung folgte.

"Dieser vor Lebensfreude sprühende Herr ist unser Jasper." übernahm Corado die Vorstellung.

"Prinzessin du musst verzeihen. Hochwohlgeboren ist nicht sehr redselig."

"Ihre schlechte Angewohnheit jedem unpassende Spitznamen zu vergeben, können sie wohl nicht lassen." erwiderte Jasper in einer Mischung aus Herablassung und Ignoranz. Er wandte sich an Kenya.

"Ich hoffe Sie sind den Aufwand wert." Seine Zweifel waren unverkennbar.

"Ich habe Nanotechnologie in mir, die jeden Menschen in einen Cree wandeln kann." sagte Kenya. Jasper versuchte sich an einem Pokerface, aber seine Überraschung war nur schwer zu verbergen.

"Wenn dem so ist, sind sie damit vermutlich zur interessantesten Person für die Science geworden." Jasper hatte wieder seine Finanzbeamtenfassade zurück und verkündete die Worte mit der Leidenschaft eines Buchhalters.

"Wir werden das prüfen." schob er hinterher, musterte sie einen Moment und begab sich zurück auf sein Schiff.

"Ich dachte eigentlich, dass ihn nichts aus der Fassung bringt, aber hey. Das war mitten in die Fresse rein. Für seine Verhältnisse ist der ordentlich verunsichert." feixte Corado, als sie ihm gemeinsam folgten.

"Dass sollte er auch sein. Wenn die Cree ihre Technik verbessern, war es das vermutlich für die Menschheit."

"Ich werde mir die Scheiße nicht in die Blutbahnen jagen."

"Versteh das doch. Nanotechnologie ist nur die erste Stufe. Irgendwann ist es im Trinkwasser oder in der Atemluft. Dann bekommst du gar nicht mit, wie diese Scheiße in deine Blutbahnen gerät." Corado war verunsichert.

"Diese Wichser." fluchte er.

Es war nicht mehr ersichtlich welche Verwendung die "destello rojo" zu Zeiten der Vorfahren hatte. Mit Sicherheit war es kein Frachtschiff und die chaotische Anordnung der einzelnen Kabinen entsprach nicht dem üblichen Schachbrettmuster für Personentransportschiffe. Die Gänge waren so verwinkelt, dass man höchstens ein paar Meter weit schauen konnte, bevor durch eine geschwungene Kurve oder durch eine willkürliche Kreuzung die Richtung wechselte. Dieses verrückte Design machte es Kenya schwer die Größe des Raumschiffes zu schätzen, aber ein paar Abzweigungen später war sie sich sicher, dass die "destello rojo" ein sehr großes Schiff sein musste. Vor allen Dingen die enorme Anzahl an Menschen zeugte von einer indigenen Gemeinschaft mit eigenständiger Infrastruktur und homogenen Erscheinungsbild, die alle viel Platz benötigten.

"Wie groß ist das Ding?" fragte sie Jasper, der ein paar Schritte vor ihr ging. Sie war wenig überrascht darüber, dass sie keine Antwort bekam. Auch wenn ihr die Orientierung schwer fiel, gab es kaum einen Zweifel, dass sie sich dem Zentrum näherten. Die metallischen Wände gingen in eine kunstvoll verzierte Hausmauer über und das von billigen Leuchtmitteln erzeugte künstliche Licht änderte sich in sanftes Tageslicht. Offenbar wurde hier auf die selben Mittel zurückgegriffen wie auf Cree. Kenya streifte mit einer Hand einen Ziegel und tatsächlich griff sie ins Leere.

"Beeindruckend. Nicht wahr?" meinte Corado, als sich vor ihnen ein Marktplatz unter blauem Himmel auftat, als stamme er aus dem tiefsten Mittelalter.

"Spielerei." erwiderte Kenya unbeeindruckt. Auf Cree hatte sie gelernt auf die kleinen Fehler in der Simulation zu achten, aber hier musste sie sich nicht besonders anstrengen um Illusion und Wirklichkeit zu unterscheiden. Offenbar gaben sich die Science weniger Mühe, eine perfekte Kulisse zu erschaffen. Nur wenige Minuten brauchte sie, bis sie merkte das lediglich das kleine Gebäude auf das sie zusteuerten wirklich real war.

"Das muss Unmengen an Energie kosten." konfrontierte sie Jasper. Tatsächlich ließ er sich herab zu antworten.

"Es wird nur alle 5 Stunden für eine Stunde bereitgestellt. Es dient der Entspannung des Personals und beugt Depressionen vor." erklärte er gelangweilt.

"Du musst wissen, niemand verlässt das Schiff. Sie werden hier geboren, leben hier und sterben auch hier. Totale Freaks." erklärte Corado.

"Was sollen wir auch da draußen. Es herrscht nur Chaos und Krieg."

"Schon gehört. Der Liberator hat einiges an Stabilität gebracht."

"Er wird scheitern." entgegnete ihm Jasper.

"Die Welt ist besser als sie in eurer Blase erscheinen mag." antwortete Corado ruhig.

"Die Zeit des Liberators neigt sich dem Ende entgegen und mit ihm auch seine Stabilität." zischte Jasper gepresst und beendete die Diskussion.

Sie steuerten auf das mittelalterliche Rathaus zu, das vermutlich ohne die simulierte Fassade ein unansehnlicher Metallklotz war. Im Gegensatz zum Habitat der Cree herrschte hier vollkommene Windstille, was zur Folge hatte, dass ein modriger Geruch die falsche Umgebung einhüllte. Sie betraten die kargen Innenräume, die überhaupt nicht zur idealisierten Welt vor der Tür passten. Offenbar hielt man es nicht für nötig das kleine Cafe im Inneren mit einem passenden Ambiente zu versehen. Die abgewetzten Tische, zwischen denen vereinzelt ein paar Bedienungen hin und her eilten, passten sich perfekt der üblichen tristen Einrichtung an. Erst auf den zweiten Blick ließ sich erkennen, dass es sich hier um ein Lokal handelte, welches nicht besonders abwechslungsreiche Mahlzeiten servierte.

"Romantisch." kommentierte Corado sarkastisch den Raum, der sicherlich für verschiedene Zwecke genutzt wurde. Sie steuerten auf einen der längeren Tische zu, an dem bereits zwei Männer saßen.

"Verwalter Barrick und Kapitän Newmont." stellte Jasper die beiden vor. Während die beiden Corado vollkommen ignorierten, wurde Kenya ungeniert gemustert. Das abgeschiedene Leben auf dem Raumschiff hatte ihre gesellschaftlichen Umgangsformen verkümmern lassen.

"Soll sie sich ausziehen." kommentierte Corado die ungehörige Form der Begrüßung.

"Das ist nicht notwendig." antwortete Barrick ohne den Sarkasmus dahinter zu verstehen.

"In der Regel sind uns unsere Passagiere bekannt, von daher sind wir immer etwas misstrauisch, wenn wir Fremde an Bord haben." fuhr er fort.

"Sie gehören zur Science?" fragte Kenya. Das Verzichten auf Höflichkeitsfloskeln hatte seine Vorteile. Es erinnerte sie an die Cree und machte die Gegenüber berechenbarer.

"Wir stehen in ihren Diensten." antwortete jetzt Newmont mit einer hohen Stimme, die Kenya bei dem kräftigen Körperbau nicht erwartet hatte.

"Dann bringen Sie uns hin." forderte sie. Barrick runzelte die hohe Stirn, die nahtlos in eine von spärlichem Haarwuchs überzogene Kopfhaut überging. Seine trüben Augen hinter der großen Brille erinnerten Kenya an einen Nerd, der die letzten vierzig Jahre hinter Computermonitoren verbracht hatte.

"Nicht bevor wir uns unterhalten haben." setzte jetzt Barrick wieder ein. Offenbar wechselten sie sich ab in der Konversation. Ein übliches Mittel in Verhören um Verwirrung zu erzeugen, doch Kenya hatte nicht die Absicht etwas zu verheimlichen.

"Hören Sie. Ich bin auf ihrer Seite. Ich werde Ihnen alles sagen. Sie müssen nur einfach fragen und nicht ihre Zeit mit lausigen Psychospielchen verschwenden." konterte sie die offensichtliche Strategie. Diese Offenbarung ihrer Absichten verunsicherte die beiden für einen Moment. Kenya nutzte den Vorteil der kurzfristigen Überlegenheit und begann mit ihrer Geschichte. Zehn Minuten brauchte sie um die wesentlichen Aspekte der letzten Wochen darzulegen.

"Wir brauchen eine Blutprobe von Ihnen." Barrick fiel es schwer seine Überraschung zu verbergen, also flüchtete er sich in etwas praktischem.

"Sollten sich ihre Behauptungen bestätigen, werden wir ein Treffen mit der Science arrangieren." ergänzte Newmont. Offenbar konnten sie es nicht lassen sich gegenseitig zu ergänzen. Er kramte einen Kommunikator aus seiner Hosentasche hervor und bestellte in kurzem Kommandoton einen Sanitäter in das Cafe.

"Mir ist nicht so richtig klar, warum sie ausgerechnet zu der Science wollen." sagte Newmont.

"Sie müssen aufgehalten werden mit dem was sie tun. Ich wüsste niemanden anderes, der das schaffen könnte."

"Und die Anderen, die zurückgeblieben sind?"

"Werden vermutlich sterben." Kenya versuchte jegliche Emotion zu vermeiden.

"Du bist ja ein hartes Biest." zeugte ihr Corado von der Seite seine Anerkennung. Barrick und Newmont musterten sie, als würden sie nach der Lüge in ihrer Aussage suchen. Ein leises Räuspern unterbrach ihre Inspektion. Der angeforderte Sanitäter stand an ihrem Tisch und suchte ihre Aufmerksamkeit.

"Entnehmen Sie ihr eine Blutprobe und untersuchen Sie sie auf unbekannte Nanotechnologie. Ich erwarte den Bericht spätestens in einer Stunde." befahl Newmont knapp. Kenya legte ihren Arm auf den Tisch und der Sanitäter begann ihre Vene anzuzapfen. Ein paar Sekunden später verschwand er mit seiner Beute. Nun galt es bis zum Ergebnis die Zeit zu überbrücken. Zu Kenyas Bedauern waren ihre Gastgeber nicht sehr redselig.

"Was ist das eigentlich für ein Schiff?" versuchte sie das peinliche Schweigen nach zehn Minuten Stille zu durchbrechen. Offenbar hatten die Beiden kein Interesse an Konversation, so dass Corado das Reden übernahm.

"Geschlossene Gesellschaft. Innerhalb dieser Rostlaube gibt es nur Inzucht, Kinderschänder und jede Menge Langeweile. Hier kommst du schon gestört auf die Welt, verbringst dein ganzes Leben als Freak und stirbst höchstwahrscheinlich an irgendeiner Geschlechtskrankheit. Eine kleine aber exklusive Sekte, welche auswärtige Kontakte zu meiden versucht." gab er einen kurzen Abriss über die "destello rojo".

"Wie viele Menschen leben hier?" fragte Kenya.

"Das ist eine dieser verrückten Sachen. Sie halten ihre Anzahl auf genau 200 Menschen. Obwohl nicht mehr alle unbedingt menschlich sind." versuchte Corado zu provozieren, hatte aber vorerst keinen Erfolg. An Barrick und Newmont prallten die Worte ab.

"Ab und zu holen sie sich dann doch mal frisches Blut, wenn sie merken, dass die Missgeburten, die sie zeugen zu schwachsinnig werden." fuhr er fort und hatte endlich Erfolg.

"Es sind unsere Regeln, die uns seit Jahrhunderten das Überleben sichern, während dort draußen Verderben und Chaos die Menschheit langsam ausrotten." versuchte sich Newmont zu rechtfertigen.

"Hey. Ich verurteile Niemanden. Jeder muss sehen wie er in diesen Zeiten mit dem Arsch an die Wand kommt, obwohl eure Hintern vermutlich nie lange jungfräulich bleiben. Dummerweise könnt ihr uns auch nicht restlos ignorieren, weil ihr trotz eurer tollen unabhängigen Lebensweise Dinge aus der bösen Außenwelt braucht. Also seid ihr gezwungen Botendienste für die Ungläubigen dort draußen zu verrichten." Newmont atmete tief ein und besänftigte damit den aufsteigenden Zorn. Corado amüsierte das und stichelte weiter.

"Ich weiß ihr würdet uns lieber auf dem Grill sehen. Vermutlich habt ihr schon einige Rezepte ersonnen, je nachdem was gerade in euren künstlichen Plantagen heranwächst. Ich rate mal, was ihr für mich vorgesehen habt. Corado an gedünstetem Gemüse gereicht mit einer Soße aus verschiedenen Kräutern der Saison." Jetzt hielt es Newmont nicht mehr auf seinem Stuhl.

"Das sind alles nur Gerüchte. Wir essen keine Menschen." brüllte er Corado wütend an.

"Ach ja. Und warum steigt dann immer die Vermisstenanzahl, sobald ihr eines der Exson verlasst?" konfrontierte Corado ihn mit Fakten.

"Das hat nichts mit uns ..." Newmont wurde durch das Piepen des Kommunikators unterbrochen.

"Ja.." blaffte er den Sanitäter in der Leitung an.

"Äh... Verzeihung." stammelte dieser sichtlich überrascht.

"Sag schon. Was hast du rausgefunden?" kanalisierte jetzt Newmont seine Wut auf den verdutzten Gesprächspartner.

"Wir haben zwei verschiedene Nanotechnologien in der Blutprobe ausmachen können. Davon ist eine uns vollkommen unbekannt."

"Welche ist die Bekannte?" fragte Kenya vollkommen überrascht. Sie wartete nicht auf den Sanitäter, denn ihre Creelogik präsentierte ihr die Antwort bereits nach wenigen Gedankengängen.   

 

 

Kapitel 5

 

Die Blutprobe hatte Newmont und die Anderen davon überzeugt, dass Kenya einen unschätzbaren Wert für die Science darstellen würde und somit erhielt sie das zweifelhafte Privileg Passagierin der "destello rojo" zu werden und damit das seltsame Biotop mit ihrer Anwesenheit zu kontaminieren. Die genau 200 Bewohner machten keinen Hehl aus ihrem Misstrauen ihr gegenüber und obwohl die gesellschaftliche Ablehnung kein neues Gefühl für sie war, gab es im Gegensatz zu den relativ offenen Cree hier jede Menge Umtriebe, die sie als Fremde nicht erfahren durfte.

Corado hatte gewisse Andeutungen gemacht und sollten diese auch nur annähernd der Wahrheit entsprechen, war es vermutlich für ihr Seelenheil besser, dahingehend nicht weiter nachzufragen. Ihr wurde eine Kabine zugewiesen, die sie ausschließlich zu den Mahlzeiten verließ, welche sie in dem trostlosen Gebäude im simulierten Zentrum des Raumschiffes zu sich nahm. Sie achtete penibel darauf nur vegetarische Gerichte zu bestellen, denn trotz Ermangelung von Nutzvieh, stand auch Fleisch auf der Speisekarte.

Dieses Transportmittel zu der Science war ein trostloser Ort, dessen einzige Abwechslung in der Simulation bestand, die zwischen dem Mittelaltermarkt einem vorindustriellen Einkaufzentrum und einer Freiluftarena ohne Freiluft variierte. Es war ihr unvorstellbar, dass hier jemand sein komplettes Leben verschwendete, wenn hinter den Luftschleusen ganze Welten voller neuer Eindrücke warteten. Die teilweise entstellten Gesichter, denen sie voller Angst und Misstrauen auf den Gängen begegnete, würden nie den Schritt in eine dieser Welten wagen. Was immer auch hier hinter den Kulissen passierte, es verängstigte seine Bewohner so sehr, dass sie alles Unbekannte als Frevel ansahen. Corado hatte Recht. Sie befand sich inmitten einer Sekte und sie hoffte, dass die Anzahl ihrer Mitglieder für den Zeitraum ihrer Reise stabil bei 200 blieb und sich keiner gezwungen sah, Neuanwerbungen bei den Passagieren zu versuchen.

Die "destello rojo" konnte unabhängig von den Exsons operieren. Dank des Überlichtantriebs war es ihr möglich jeden Punkt in der Galaxie anzusteuern. Da die Science keinen festen Ort für ihre Basis bevorzugte, war das Schiff ein ideales Werkzeug für Dienstleistungen aller Art im interstellaren Transportwesen. Neun Tage waren sie unterwegs und die Langeweile trieb Kenya dazu etwas mehr über den ungewöhnlichen Schiffstyp in Erfahrung zu bringen.

Obwohl die Datenbanken nicht frei zugänglich waren, hatte sie keine Mühe die Sperren unerkannt zu umgehen. Tatsächlich handelte es sich bei der "destello rojo" um ein ehemaliges Vergnügungsschiff der Vorfahren, das mit unendlicher Energieverschwendung und massiven Ressourcenverbrauch an Dekadenz schwer zu überbieten gewesen sein musste. In den Wirren der großen Katastrophe fiel es an einen Orden mit dem Namen "Reinheit des Lichtes und der Familie", dessen Nachfahren noch heute die Verwaltung inne hatten und offenbar einige Regeln und Gesetze pflegten, die im Laufe der Jahrhunderte absurde Formen annahmen und sie zu dem sonderlichen Volk machten, mit dem Kenya heute konfrontiert wurde. Auch hier war es nicht ratsam genaue Details dieser Regeln zu ergründen und so begann sie irgendwann sich auf das unausweichliche Treffen mit der Science vorzubereiten.

Ihre Informationen waren zu spärlich, als dass sie eine genaue Strategie entwerfen konnte. Die wichtigsten Joker befanden sich ohnehin in ihrem Blut. Neben der neuen Nanotechnologie, die dieses seltsame Signal im Gehirn aktivierte auf welches die Energieladungen des Planeten reagierten und ihr unheilvolles Werk begannen, gab es auch die Kontroll-Bots, die für das Misstrauen der Cree ihr gegenüber standen. Auf diese beiden Tatsachen musste sie eine Art argumentatives Grundgerüst aufbauen, dass so flexibel war, dass sie jederzeit spontan auf Unvorhergesehenes reagieren konnte. Es bedurfte einer gewissen Schlagfertigkeit um ihre Ziele zu erreichen, die primär darin lagen weitere Versuche der Cree zu verhindern.

Weiterhin musste sie aufzeigen, dass eine diplomatische Lösung vorzuziehen war, was Angesicht der militärischen Schwäche der Cree die Science dazu verlocken würde den Planeten einfach zu überrennen. Es würde nicht einfach werden und mit jedem Tag der verging, stieg ihre Anspannung.

Es war Corado der sie am Tag ihrer Ankunft in ihrem Quartier aufsuchte. Auch ihn hatte sie die letzten Tage gemieden, da sie ihn als unberechenbar ansah. Sein Temperament konnte innerhalb eines Momentes von überschwänglich gut gelaunt, in wütende Brutalität umschlagen und das Anwachsen seines Triebes ließ das Pendel zwischen diesen Extremitäten mehr und mehr in Richtung Letzterem schwingen. Mürrisch verkündete er ihr, dass sie ihr Ziel erreicht hätten und wies sie unnötigerweise darauf hin, dass eine gute Geschichte ihren Wert und damit auch Corados Anteil deutlich steigern würde. Als Treffpunkt war vorerst wieder nur das kleine Cafe inmitten der Simulation vorgesehen, aber Kenya begab sich nicht direkt dort hin. Sie ließ es sich nicht nehmen, einen Abstecher an eines der Außenfenster zu machen, denn ihre Neugier auf die mysteriöse Science war enorm. Bisher besaß sie nur wage Informationen, aber nun wurde es Zeit, diese auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen.

Die Dunkelheit dort draußen ging über in ein Spektrum aus sämtlichen sichtbaren Farben und in dem Moment, als sie die Überlichtgeschwindigkeit unterschritten, erblickte sie nicht nur die vertrauten Sterne. Die Gelassenheit des Weltalls, das normalerweise eine unendliche Ruhe in seiner Schwärze ausstrahlte und höchstens mit seinen leuchtenden Punkten für etwas Ablenkung sorgte, wich einem aufgeregten Treiben, das an kleine Ameisen erinnerte, die zwischen riesigen Artgenossen hin und her wuselten.

Vor dem Fenster eröffnete sich ihr eine riesige Flotte, deren größte Schiffe wie träge Bauklötze in verrücktem Design wirkten, welche hektisch umschwirrt wurden von kleinen Transportern, die scheinbar ziellos zwischen ihren riesigen Brüdern hin und her irrten und gelegentlich in den Luftschleusen furchteinflößender Kampfkreuzer verschwanden. Das alles überforderte Kenya für den Moment, denn dort draußen schien es eine Welt zu geben, die sich so sehr von der Norm eines planetaren Lebens unterschied, dass es ihr schwerfiel, die neue Umgebung richtig einzuordnen.   

Die "destello rojo" machte einen Rechtsschwenk und das was sie jetzt sah, degradierte die gerade noch beeindruckenden Kreuzer und Fregatten zu winzigen Statisten. Ein Exson tat sich vor ihr auf, welches scheinbar das Zentrum dieser verrückten neuen Welt darstellte. Auch hier schwirrten unzählige Schiffe um das Gebilde, welches zwar in seiner ursprünglichen Funktion erkennbar war, aber im Laufe der Zeit bis zur Unkenntlichkeit erweitert wurde. Im Vergleich zum Standard der "verruchten Braut" fehlten einige Habitatringe, dafür gab es Module, die wie wildwüchsige Tumore chaotisch vom zentralen Ei abzweigten. Kenyas überzüchteter Verstand ließ nur einen Schluss zu. Es handelte sich bei diesen Auswüchsen um unabhängige Einheiten, die für den Notfall jederzeit abgetrennt werden konnten und separat eine gewisse Zeit überlebensfähig waren.

Die "destello rojo" steuerte auf einen der verbliebenen Habitatringe zu. Bis zum Andockmanöver würden nur noch wenige Minuten vergehen, also beschloss Kenya ihr eigentliches Ziel aufzusuchen. Sie riss sich los vom faszinierenden Anblick vor dem Fenster und begab sich in das Cafe, indem Corado, Barrick und Newmont auf sie warteten. Letztere machten aus ihrer Verärgerung über ihre Verspätung keinen Hehl, aber Kenya ignorierte ihre genervten Blicke und amüsierte damit ungewollt Corado.

"Was jetzt?", fragte sie sichtlich angespannt.

"Wir warten", erwiderte Barrick kurz angebunden.

"Unglaublicher Anblick dort draußen", versuchte sie die Zeit etwas mit Konversation zu überbrücken. Ohne Erfolg.

"Reizt es euch nicht, die Welt außerhalb eures Schiffes zu erkunden?", bohrte sie weiter.

"Dann würden sie ja die Jämmerlichkeit ihres Daseins begreifen", antwortete Corado stattdessen. Ihm gefiel es zu provozieren.

"Ist es nicht so? Wenn ihr seht, welche Alternativen es dort draußen gibt, wird euch der Scheißhaufen hier drin erst so richtig bewusst. Dann könntet ihr all den Gestank hier nicht mehr ertragen, also verweigert ihr euch dem Neuen, damit das alles hier seinen normalen Schein behält." Barricks Mühe sich zu beherrschen war ihm deutlich anzusehen. Corado wollte gerade weiter sticheln, als Jasper mit einem Fremden an ihren Tisch trat, der Kenya ungeniert musterte.

"Ich bin Ko", kam der Fremde seinem Begleiter zuvor.

"Das ist mal ein verdammt kurzer Name für ein Schlitzauge", warf Corado großspurig ein und spielte damit auf seine genetische Herkunft an. Tatsächlich hatte Kenya bisher nur wenige seiner Art gesehen. Das glatte schwarze Haar, die kleinen Augen ohne Lider und die zierliche Gestalt ließen ihn exotisch wirken. Trotz dieser wenig respekteinflößenden Statur ging eine selbstsichere Aura von ihm aus, die verstärkt wurde durch eine hellblaue Uniform.

"Ich würde Sie bitten uns von ihrer widerlichen Anwesenheit zu erlösen. Wir werden Ihre Belohnung separat besprechen", forderte Ko in freundlichem, aber drohendem Tonfall Corado auf den Tisch zu verlassen.

"Keine Chance", protestierte der Angesprochene halbherzig. Erst jetzt gönnte Ko Corado mehr Aufmerksamkeit. Sein Blick war einschüchternd und drohend zugleich.

"Mistkerl", fluchte Corado und verließ angesäuert den Tisch. Auch Jasper ging, so dass sie nur noch zu viert waren. Kenya setzte an ihre Fluchtgeschichte zu wiederholen, aber Ko unterbrach sie.

"Ich kenne bereits alle Details", sagte er trocken und schien sie mit abschätzendem Blick zu mustern, so als wäre er unschlüssig über den ersten Eindruck von ihr.

"Und was sagen Sie?" Kenya gefiel es gar nicht, dass Ko die Steuerung ihres Gesprächs so früh an sich riss. Das nahm ihr viel Spielraum in ihrer weiträumig eingeplanten Vorgehensweise.

"Kennen Sie einen Laplaceschen Dämon?", fragte er aus heiterem Himmel vollkommen unpassend.

"Im groben handelt es sich um die Berechnung der Zukunft, unter der Vorraussetzung, das sämtliche Naturgesetze bekannt sind und die Zustände aller Teilchen im Universum mit einbezogen werden. Gottes unwiderruflicher Plan, wenn Sie es religiös mögen." Kenya hatte in der Langeweile ihres Hausarrest die umfangreiche Bibliothek ihrer Hausherren studiert und in der Menge der Bücher war sie auch unweigerlich auf den angesprochenen Dämon gestoßen, der für die Eliminierung des Zufalls steht.

"Was hat das mit unserer Angelegenheit zu tun?", fragte sie Ko. Sein Gesicht verriet keinerlei Regung, so als hätte er die Frage überhört und müsste erst in seinem Inneren klären, ob die Antwort korrekt war. Er kramte ein Pad hervor und fing an darauf rumzuwischen.

"Wir haben Erkundungen über Sie eingeholt. Kenya. Aufgewachsen auf Cayuse. Vater unbekannt. Mutter Verwaltungsangestellte im Justizministerium. Ihre Schulnoten waren durchwachsen. Keinerlei Ausbildung. Mit 16 fingen Sie an sich zu prostituieren. Verschwunden vor ein paar Wochen. Ihre intelligenteste Leistung bestand darin, in ihrem Gewerbe nicht den Drogen zu verfallen. Nichts deutet darauf hin, dass diese Person weiß, was ein Laplacescher Dämon ist", erklärte er nüchtern.

"Diese Person existiert nicht mehr."

"Unsere Geheimdienstberichte wussten von der Forschung an der Nanotechnologie zur Aktivierung des Locksignals. Allerdings ist es für uns neu, dass bereits menschliche Versuche stattfinden."

"Ich bin der lebende Beweis dafür."

"Offensichtlich und Sie haben sich sogar freiwillig an uns gewandt. Warum?"

"Wir drohten als gescheitert eliminiert zu werden. Diese verdammte Cree-Logik in meinem Kopf zwang uns dazu diesen Schritt zu gehen."

"Wir sind mit der rationalen Denkweise der Cree vertraut."

"Also werden Sie mir helfen?"

"Es gibt nur eine Gewissheit. Sie werden mit mir kommen. Es bleibt die Frage, ob als Gefangene oder als Angestellte."

"Was? Sie wollen mir eine Anstellung anbieten?", fragte Kenya verblüfft. Ko hatte sie mit den extrem gegensätzlichen Optionen überrascht.

"Was ich will sind die Informationen. Ich werde Sie ausgiebig befragen und danach werde ich auf Grund Ihrer Aussagen entscheiden, ob wir Ihnen trauen können."

"Das ist nur fair. Also fangen wir an", erwiderte Kenya selbstsicher und sammelte den ersten Pluspunkt.

Über drei Stunden erläuterte Kenya ihren Aufenthalt im Habitat der Cree und vermied dabei übermäßige Opferdarstellungen. Ko war clever und würde Übertreibungen jeglicher Art erkennen. Also legte Sie sich einen neutralen Erzählstil zu und beantwortete die eingestreuten Fragen mit präziser Gleichgültigkeit in der Stimme. Weitere zwei Stunden brauchte sie, um die Details ihrer Flucht darzulegen und hier bohrte Ko regelmäßig und teilweise redundant nach, um sie in Widersprüche zu verwickeln. Vergeblich aus Kenyas Sicht und nachdem sie zufriedenstellend alles erläutert hatte, verkündete er seine Entscheidung.

"Ich bin befugt Ihnen im Namen der Science eine Anstellung im Bereich der "Freund/Feind Koordinierung" anzubieten."

"Ist das so eine Art Geheimdienst? Sie wollen mich als Doppelagentin verpflichten?"

"Das ist korrekt. Vorerst nur in beratener Funktion."

"Ha...", entfuhr es Kenya überrascht.

"Sie erfüllen zwei Eigenschaften, die sie prädestiniert machen für die Arbeit. Sie besitzen einen unglaublichen Intellekt und wissen vermutlich mehr über unsere Konkurrenz als jeder andere. Die Science ist immer bemüht qualifiziertes Personal anzuheuern. Meiner Einschätzung nach zeigen Sie eine hohe Motivation diese Eigenschaften in unseren Dienst zu stellen. Also. Was sagen Sie?"

"Die Alternative wäre Gefangenschaft?", fragte sie. Ko nickte fast unmerklich.

"Dann würde ich sagen, Sie haben einen neuen Mitarbeiter."

 "Gut", erwiderte Ko emotionslos, als hätte er gerade ein neues Ersatzteil erworben.

"Die Cree hätten ihre Freude an Ihnen", kommentierte Kenya sarkastisch und versuchte ihn aus der Reserve zu locken. Vergeblich. Mit sturer Gleichgültigkeit spulte er seine Anweisungen ab, die vorerst darin bestanden ihre Sachen zu packen, um dieses Schiff zu verlassen. Die wenigen Habseligkeiten waren im Handumdrehen verstaut und wenige Minuten später traf sie Ko an der Luftschleuse.

"Was passiert jetzt?", fragte sie.

"Ich werde meinen Bericht abgeben und danach werden sie den Rat treffen."

"Ich nehme an, dass sind eure Führer." Ko antwortete nicht. Er durchquerte die Luftschleuse ohne ein weiteres Wort und als Kenya ihm folgte, begriff sie die Tragweite dieses kleinen Schrittes. Sie war im Begriff ein neues Kapitel ihres Lebens zu beginnen. Es wurde Zeit, dass dieses besser verlief, als die vorangegangenen.

Sie gingen den Habitatring entlang, der sich in seiner Aufmachung kaum von den herkömmlichen Exsons unterschied. Während links ein paar Fenster einen Blick auf das wuselige Treiben im All offenbarten, gab es auf der gegenüberliegenden Seite ein paar Wohnquartiere, die gelegentlich von ein paar Geschäften abgelöst wurden. Der erste Ausblick von der "destello rojo" hatte ihre Fantasie über den Zustand im Inneren ordentlich angeheizt, umso enttäuschter war sie über den vertrauten Anblick. Der einzige Unterschied bestand in den Menschen, die im Gang an ihr vorbeieilten. Ihre Kleidung variierte nur zwischen der von Ko bekannten und in der Farbe wenig vorteilhaften Uniform oder einem klinisch weißem Ganzkörperanzug. Mit ihrem weinroten Hemd, das auch noch leicht verschlissen wirkte und ihre Rundungen viel zu vorteilhaft betonte, war sie der farbliche Fremdkörper in diesem modischen Einheitsbrei. Dementsprechend wurde sie von fast jedem im vorbeigehen bemustert.

Von einem Zoo in den anderen dachte sie sich, als sie Ko mit schnellen Schritten folgte. Das Gefühl ein Exot zu sein, hatte ihr auf Cree zu schaffen gemacht, aber da hatte sie wenigstens Begleiter, mit denen sie das Gefühl des Fremdseins ein wenig teilen konnte. Hier fühlte sie sich mehr den je allein. Es war unglaublich. Sie vermisste Cree. Es war als hätte man ihr ein Teil ihrer Energie beraubt, der sie sich erst bewusst wurde, nachdem sie abhanden gekommen war. Sie begriff jetzt, was die Cree meinten, als sie sagten, dass der Planet für immer ein Teil von ihr sein würde. Zum ersten Mal kamen Zweifel an ihrer Entscheidung zur Flucht.

Sie durchschritten eine weitere Luftschleuse, die dieses Mal nicht zu einem Schiff führte, sondern zu den chaotisch wirkenden Anbauten, die sie schon an Bord der "destello rojo" erblickt hatte. Auch hier gab es überwiegend Wohnquartiere, die in ihrer Aufmachung aber weitaus größer und luxuriöser erschienen. Die Gänge wirkten in ihrem Erscheinen freundlicher und das sanfte Licht verbreitete ein Ambiente, das abwich von der kalten Sterilität des Exsons.

Ein farblicher Streifen lockerte das metallische Design der Wände auf und offenbar schien sich Ko an der jeweiligen Farbe im Labyrinth der Gänge zu orientieren. An jeder Gabelung gab es einen Buchstaben und jede Tür besaß eine Nummer, so dass jedes einzelne Quartier eine Adressierung besaß. Vor purpur 22A blieb er stehen und klopfte mit strenger Faust gegen die Tür. Wenige Sekunden später erschien ein blonder Lockenkopf im Türrahmen, der an Unsicherheit kaum zu überbieten war.

"Wir werden Sie zu gegebener Zeit abholen", wandte sich Ko an Kenya und ließ sie ohne eine Antwort abzuwarten einfach stehen.

"Hi", hörte Kenya fast unmerklich. Die kleine zierliche Frau war ein Kontrast zu den selbstsicheren Personen, mit denen Kenya in den letzten Wochen zu tun hatte. Schweigend senkte sie ihren Blick zu Boden, so als würde es ihr unheimlich peinlich sein auch nur ein Wort zu sagen.

"Kenya", stellte sie sich vor und streckte ihr die Hand hin. Ein unglaublich schwacher Händedruck untermauerte das geringe Selbstbewusstsein, das vor ihr stand.

"Und wer bist du?", fragte Kenya.

"Oh ja... Ich bin Catarina. Eigentlich nur Cat", sagte sie mit brüchiger Stimme.

"Offenbar teilen wir uns ein Quartier", stellte Kenya fest.

"Oh ja. Komm rein", forderte Cat sie leicht nervös auf. Kenya betrat einen Raum, der in seiner Inneneinrichtung geschmackvoll eingerichtet war. Couch, Sessel und Tisch erinnerten an eine der alten Sitcoms, die in den Tagen der Vorfahren zum Zeitvertreib dienten. Selbst die Wände erzeugten eine Illusion längst vergangener Zeitalter und waren mit Imitatholz verkleidet. Nur das technische Equipment schien aus der Zeit gefallen zu sein und gab dem Ambiente etwas Futuristisches. Eine Tür an der gegenüberliegenden Wand führte ins Schlafzimmer.      

"Nett", kommentierte Kenya das Quartier. Cat hatte wieder ihren Blick gesenkt und stand abwartend hinter dem Sofa.

"Und warum bist du hier?", versuchte Kenya das Eis wenigstens anzuschmelzen.

"Oh.. Ich.. Ich..", stotterte Cat. Sie hatte offenbar nicht mit Konversation gerechnet.

"Biotechnik", brachte sie kläglich heraus.

"Abteilung Biotechnik".

"Morgen ist mein erster Tag", schob sie schnell und nervös hinterher, dass es kaum zu verstehen war.

"Glückwunsch", antwortete Kenya und versuchte jeglichen Sarkasmus zu vermeiden.

"Und du?", fragte Cat fast stimmlos.

"Geheimdienst", antwortete Kenya kurz und zerstörte damit das kaum vorhandene Selbstvertrauen endgültig.

"Keine Angst. Nur in beratener Funktion", versuchte Kenya ihre Aussage zu entschärfen.

"Oh ja. Aber das macht keinen Unterschied." Cat hatte sich wieder gefangen. Kenya sah sie fragend an und tatsächlich fuhr Cat ohne Aufforderung fort.

"In der Abteilung "Freund/Feind Koordinierung" wird das Fundament gelegt für eine politische Karriere", sagte sie kleinlaut.

"Du kennst dich ja gut aus", erwiderte Kenya vorsichtig.

"Natürlich. Hast du dich denn nicht auf deine neue Aufgabe vorbereitet?"

"Bis vor ein paar Stunden wusste ich noch nicht einmal, dass ich überhaupt hier arbeiten würde." Ein Satz den Kenya sofort bereute. Sie befand sich auf einem neuem Spielfeld mit unbekannten Regeln und vollkommen fremden Mitspielern. Auch wenn Cat so wirkte, als würde sie schon ein einfaches "Hallo" sprachlich überfordern, durfte Kenya nicht den Fehler machen zu arglos Informationen Preis zu geben. Cat war hier und hatte die Science trotz der offensichtlichen Nachteile davon überzeugen können sie zu engagieren. Irgendwas passte bei dieser Frau nicht zusammen und dieser offensichtliche Widerspruch machte Kenya misstrauisch.

"Oh..", kam es bloß kurz.

"Wie hast du es geschafft?", fragte Kenya.

"Oh... Ich...", es fiel Cat sichtlich schwer etwas über sich Preis zu geben.

"Ich komme von Shasta", kam es hektisch.

"Es gibt ein paar reguläre Schulen, aber die unterforderten mich. Die Science sendet Talentscouts aus, weißt du? Irgendwie sind die auf mich gekommen und haben mich auf eine ihrer Schulen geschickt, die weitaus anspruchsvoller sind. Dort fördern sie dich, weißt du? Finden deine Stärken heraus." Die Worte überschlugen sich und machten das Verständnis schwer.

"Und deine war Biotechnik."

"Ja. Ich habe meine Abschlussarbeit über Nanotechnologie mit hervorragend bestanden", kam es stolz und endlich mal im beruhigendem Tonfall.

"Interessant", kommentierte Kenya den Zufall, ohne weiter das Thema Nanotechnologie zu vertiefen. Verdammt. Sie fühlte sich wie der Hering im Haifischbecken. Es war ihr unmöglich diesen Fakt sauber einzuordnen. War das wirklich nur Zufall oder war Cat eine Schachfigur, die dann doch allzu offensichtlich in ihrer Nähe platziert wurde. Sie musste sich hier schnell zurecht finden, denn im Gegensatz zu den berechenbaren Cree, fanden hier die wirklich wichtigen Dinge im Hintergrund statt. Bis sie die Mechanismen der Science durchschaut hatte, galt äußerste Vorsicht.

Kenya verließ das gemeinsame Quartier unter dem Vorwand, sich mit der Umgebung vertraut machen zu wollen. Sie lud einen Lageplan aus dem öffentlichen Netzwerk herunter und stellte fest, das sie sich in einem Modul mit etwa 2000 baugleichen Wohnquartieren befand. Es gab sechs dieser Module mit unterschiedlicher Funktion und wenn sie nicht wie im Moment am Exson angedockt waren, verbanden sie sich mit einem Sondermodul, das als Zentrale irgendwo dort draußen um das Exson kreiste und vollkommen autark in der Grundversorgung von Wasser und Energie war. In dem Labyrinth aus Gängen suchte sie die Luftschleuse zum Exson, was sich trotz Karte schwieriger darstellte als gedacht.

Die Hoffnung sich frei bewegen zu können, hielt nicht lange vor, denn als sie durch die Schleuse trat, empfing sie ein mürrisch gelaunter Mann, der selbst in der weißen Kleidung nur wenig sympathisch wirkte. Mit kurzen Worten stellte er sich als Karim vor. Er wurde Kenya als Assistent zugeteilt, der offiziell die Aufgabe hatte, sie bei der Eingewöhnung zu unterstützen.

"Normalerweise haben wir ein paar Tage Vorlaufzeit für die Vorbereitung, aber ihre Verpflichtung war so überstürzt, dass wir dieses Mal improvisieren mussten. Leider hat die Personalabteilung noch nicht ihre Adresse, so dass ich sie hier an der Schleuse abfangen musste", erklärte er sich. Sein schmales Gesicht wurde eingerahmt von zwei riesigen Ohren, die ihn mit Sicherheit zum Gespött der Kollegen machten.

"Also mache ich Sie mit den Örtlichkeiten vertraut und weise sie in die Regeln unseres Unternehmens ein." Seine Stimme klang herablassend und bestätigte sein unsympathisches Äußeres. Er begann mit den Kleidervorschriften und obwohl Kenya sich bereits mit den bereitgestellten Sachen weites gehend angepasst hatte, bemängelte Karim ihren Aufzug, welcher seiner Meinung nicht korrekt umgesetzt wurde. Den modischen Beschränkungen in weiß hatte Kenya versucht mit Ärmel hochkrempeln und offenen Knöpfen etwas entgegenzusetzen, aber offenbar hatte sie damit gegen eine der Firmenregeln verstoßen. 

Karim wies sie ein in den öffentlichen Bereich. Nahrung, Kleidung und Hygieneartikel waren kostenlos erhältlich und degradierten die Geschäfte zu reinen Ausgabestationen. Für alles andere waren Jetons notwendig, die ihr in elektronischer Form eines kleinen Gehalts alle fünf Tage überwiesen wurden. Dafür erhielt sie einen Aoc, was als Abkürzung für "Aufenthalt und Organisation Chip" stand und injiziert in ihrer rechten Hand alles Organisatorische regelte und ihren Standort permanent an eine Leitstelle übermittelte.

Kein schöner Gedanke jederzeit auffindbar zu sein, aber Karim versicherte ihr, dass Angestellte der FFK, ab einem bestimmten Status die Möglichkeit bekamen ihre Ortung zu deaktivieren. Er eröffnete ihr im Schnelldurchlauf eine neue Welt und Kenya beschlich der Gedanke, dass er ihr einige Aspekte bewusst verschwieg, so als wäre sie es noch nicht wert alles bis ins Detail zu kennen. Besonders im Bereich öffentlicher Sicherheit hielt er sich äußerst wage, aber es musste ein ausgeklügeltes Polizeisystem geben, was illegale Aktivitäten fast unmöglich machte.

"Ich danke für Ihre Hilfe, aber ich bin mir sicher, dass ich jetzt alleine klarkomme", versuchte Kenya ihren Begleiter loszuwerden, der seine Prioritäten auf die Erklärung von Kleinigkeiten des öffentlichen Lebens legte und damit Kenya daran hinderte die wirklich wichtigen Dinge zu erforschen. Sein beleidigter Gesichtsausdruck zeigte ihr, dass er damit gar nicht einverstanden war.

"Wenn Sie meinen", erwiderte er pikiert und wandte sich einer Infotafel zu, die es scheinbar alle paar Meter an den Wänden gab.

"Damit können Sie sich orientieren. Einfach mit der Hand kurz drüber wischen und schon bekommen Sie eine individuelle Beratung", erklärte er und ergriff ihre Hand, um sie vor das Display zu halten.

"Willkommen Kenya. Wie kann ich behilflich sein?", ertönte eine sanfte Frauenstimme. Mit einem Kopfnicken forderte Karim sie auf eine Anweisung zu geben.

"Zeige mir den Weg zu meiner neuen Arbeitsstelle", forderte Kenya sie auf. Ein roter Punkt am rechten Bildschirmrand fing an zu blinken.

"Ganz einfach. Folgen Sie den blinkenden Punkten. An jeder Abzweigung gibt es eine Infostelle. Links, Mitte oder rechts. Je nachdem wo der Punkt steht, gehen sie in die Richtung", erklärte Karim herablassend.

"Viel Glück dabei", sagte er und ließ sie beleidigt stehen ohne ihr zu erklären, woran sie erkannte, dass sie die Ebene wechseln musste. Egal. Kenya war froh ihre eigene Erkundung zu starten und so folgte sie den blinkenden Infotafeln, bis sie vor einer Tür stand, die nicht für jeden zugänglich war. Offenbar war sie bei der FFK angekommen. Sie atmete tief durch und ohne viel Hoffnung, dass sie eine Zugangsberechtigung hatte, legte sie ihre Hand auf das elektronische Schloss.

"Willkommen.", wurde sie von einer mechanischen Stimme begrüßt. Es klappte also und mit ordentlich Anspannung im Bauch durchschritt sie die automatisch geöffnete Schiebetür. Sie ging ein paar Schritte den metallischen Gang entlang, welcher wieder das trübselige Einheitsdesign der Vorfahren besaß. Sie kam nur bis zur ersten Kreuzung, als ihr Ko wenig erfreut entgegen kam.

"Was haben Sie an der Anweisung, dass wir Sie abholen würden nicht verstanden?", begrüßte er sie verärgert. Kenya setzte zu einer Entschuldigung an, aber Ko bügelte sie mit einer Handbewegung ab.

"Folgen Sie mir", forderte Ko sie hektisch auf. Offenbar war der Zeitpunkt für ihren spontanen Besuch unpassend. Sie passierten ein paar Türen, hinter denen sich Büroräume befanden. Zu Ihrer Überraschung ging eine dieser Türen plötzlich auf und es erschien eine gestresste Angestellte, der Kenya nur mit Mühe ausweichen konnte. Eine kurze Entschuldigung von Kenya wurde ignoriert und ihr Beinahezusammenstoß als ärgerliches Vorkommnis abgetan, das Sekunden später wieder vergessen war. Zu sehr war ihre Gegenüber mit ihren Aufgaben beschäftigt. Kenya wagte einen Blick in den Raum, dessen Tür sich gerade wieder zu schließen begann.

Eine Gruppe Männer diskutierte angeregt, wobei einer dabei die ganze Aufmerksamkeit der Anderen förmlich aufzusaugen schien. Offenbar war er der Ranghöchste im Raum, aber bevor sie weitere Schlüsse über die Zusammenkunft ziehen konnte, schloss sich die Tür. Trotzdem reichte der Moment, um zu begreifen, dass dieser offenbare Mittelpunkt der Diskussion kein Unbekannter für Kenya war.

"Da hinein", befahl Ko und verfrachtete Kenya in einen kleinen Raum mit Verhörambiente. Nach einer kurzen Warnung dieses Mal die Anweisung zu warten nicht wieder zu ignorieren, ließ sie Ko allein. Offenbar hatte die spontane Eingebung ihre neue Arbeitsstelle früher zu besuchen als erlaubt, die Abläufe ordentlich durcheinander gebracht.

Woher kannte sie nur das Gesicht, dass die Abteilung FFK gerade in einträchtige Salutstellung brachte? Es war eine Erinnerung der alten Kenya und da tat sie sich manchmal schwer mit einer richtigen Zuordnung. Was sie wusste war, dass sie diesem Mann nie persönlich begegnet war. Vermutlich war es nur ein kurzer Blick auf ein Bild in einer Zeitung oder auf einem Plakat. Etwas, dass beiläufig kommentiert und sofort wieder vergessen wurde. Ihr neues Gehirn hatte automatisch einen Verweis auf eine vergangene Begebenheit erzeugt, ohne mehr Kontext zu liefern. Zum verrückt werden, wenn einem die Lösung verweigert wurde.  

Mehr als drei Stunden ließ Ko sie in dem kargen Raum schmoren. Kenya wagte es nicht die unverschlossene Tür zu öffnen. Sie war sich sicher, dass Ko alle fünf Sekunden ihren Aoc in dieser Abstellkammer überprüfte, in die sie mit aller Eile abgeschoben wurde. Als er dann endlich erschien, war sein Ärger noch nicht verflogen.

"Offenbar kam ich zum unpassenden Zeitpunkt", kam sie ihm seiner strafenden Ansprache zuvor.

"In der Tat", presste er heraus.

"Wer war der Ehrengast?", fragte sie und erzeugte eine Anspannung, die sie bei dem beherrscht wirkenden Ko bisher so nicht gesehen hatte. Wie erwartet ignorierte er ihre Frage.

"Da Sie schon mal hier sind, können Sie auch gleich den Rat treffen." Da Kenyas Anwesenheit ungeplant war, musste die Anwesenheit des kompletten Rates andere Gründe haben. Wieder kam ihr das Gesicht in den Sinn, das sie unfähig war zuzuordnen. Wer zum Teufel war dieser Mann, der es schaffte, die obersten Führer der Science zu empfangen?

Sie folgte Ko in den Raum, in den sie vorhin nur diesen verhängnisvollen Blick werfen konnte, der sie unermüdlich in ihren Erinnerungen kramen ließ. Ein langer Tisch stand quer zur Eingangstür, an dem mit gebührendem Abstand fünf Personen saßen, die regungslos auf ihre Ankunft warteten. Sie befanden sich offensichtlich in einem der größeren Konferenzräume der Abteilung FFK, denn die Vielzahl an freien Stühlen deutete auf Kapazitäten für mehrere Dutzend Teilnehmer hin.

"Es tut mir Leid für das improvisierte Treffen", rechtfertigte sich Ko vor den Fünfen.

"Finden Sie heraus, warum ihr Zugang bereits aktiviert wurde. Beginnen Sie bei der Personalabteilung. Deren Inkompetenz ist vermutlich die Ursache", erwiderte ein kahlköpfiger Mann in strengem Befehlston. Er versprühte die Aura eines Anführers mit dem Charme eines Militärdiktators. Im Gegensatz zu den Standarduniformen in hellblau, war seine tief schwarz. Ko nickte kurz und verließ den Raum. Da keiner gewillt war etwas zu sagen, erfüllte Schweigen den großen Raum, das einherging mit gegenseitigem Bemustern.

"Sie sind also eine Cree?", durchbrach der Kahlköpfige die Stille. Er saß mittig des Tisches und schien innerhalb des Rates den Vorsitz zu haben.

"Nein", erwiderte Kenya. Ihr Gegenüber zuckte kurz. Offenbar war ihm dieses einfache Wort nicht allzu vertraut.

"Was sind Sie dann?", fragte er ohne sie aus den Augen zu lassen. Kenya ignorierte seinen prüfenden Blick und schaute sich im Raum um. Es war jetzt wichtig Selbstsicherheit auszustrahlen. Das folgende Gespräch musste unbedingt auf Augenhöhe erfolgen, da aber dieser Rat vermutlich selten mit Leuten auf Augenhöhe sprach, war es notwendig sie dahin gehend zu erziehen. Sie schnappte sich einen der Stühle und setzte sich dem Kahlköpfigen gegenüber.

Der Abstand zwischen den Beiden betrug nur noch einen Meter und damit entkam sie der tribunalähnlichen Sitzordnung durch Nähe und beförderte nebenbei die anderen vier durch Ignoranz ins Abseits.

"Bevor ich weitere Fragen beantworte, möchte ich wissen mit wem ich es zu tun habe", erwiderte sie so fordernd und leise, dass es für die anderen kaum hörbar war. Das Blut in ihr raste bei diesen Psychospielchen, aber es gelang ihr trotz allem die ruhige Fassade aufrechtzuerhalten.

Der Kahlköpfige dagegen hatte weniger Glück mit seinem Pokerface. Ein kurzes Zucken verriet seine Überraschung, dass jemand es wagte ihm auf die Art und Weise zu antworten. Dieser kleine Moment der Unsicherheit ihres Gegenübers und das einsetzende Triumphgefühl über ihren ersten Punktsieg nutzte Kenya, um den Pulsschlag etwas zu beruhigen.

"Ihre Taktik gefällt mir. Beim Kartenspiel ist dieses vorgetäuschte Selbstbewusstsein eine gute Finte, aber wir spielen nicht. Egal, was Sie auf der Hand haben, gegen uns kommen Sie nicht an. Für Sie geht es nur darum, wie blutig es Sie am Ende erwischt." In den letzten Worte schwang eine leichte Drohung mit.

"Verdammt noch mal. Ich habe den Willen für meine Zusammenarbeit mehrfach bestätigt. Für die Cree bin ich ein Verräter. Eine Tatsache, die ich schwer widerlegen kann und womit ich mein Leben lang klar kommen muss. Trotzdem bin ich nicht bereit, bedingungslos vor der Science um Anerkennung zu buckeln. Wenn Sie nur einen weiteren Lakaien suchen, der ihnen ehrfürchtig die Stiefel leckt, dann lassen sie es blutig werden. Wenn Sie allerdings bereit für größere Zusammenhänge sind, dann sollten wir uns zusammensetzen und diesen Quatsch vom überlegenen Rat für den Moment mal außen vor lassen."

Kenyas Puls raste wieder, aber dieses Mal nutzte sie ihn als Treibstoff, um ihrem Ärger Luft zu machen. Blitzschnell hatte sie ihre Strategie von selbstbewusst und arrogant auf alles oder nichts geändert und damit ihren Gegenüber gezwungen sein eigenes Verhalten anzupassen. Sie musste unbedingt die Oberhand behalten und so schlug sie den nächsten Haken, um maximale Verwirrung zu erzeugen.

"Und verraten Sie mir nun ihren Namen?", fiel sie zurück auf den Bluff mit der selbstsicheren Verhandlungsposition. Ihre Blicke trafen sich und nachdem keiner gewillt war das Gesicht abzuwenden, wurde mit der Einigung auf Unentschieden stillschweigend vereinbart das folgende Gespräch ohne Hierarchien zu führen.

"Hagen", enthüllte der Kahlköpfige endlich seinen Namen.

"Hallo Hagen. Ich bin Kenya." Sie hielt ihm symbolisch die Hand hin. Mit seiner Ergreifung besiegelte er endgültig die unausgesprochene Vereinbarung. Kenya hatte ihr Gespräch auf Augenhöhe. Hagen wischte über das Pad vor ihm.

"Interessante Daten, die Sie da mitgebracht haben", kommentierte er den Text.

"Militärisch sind Sie keine Bedrohung, aber technisch haben sie vor die Galaxie zu ändern", antwortete Kenya.

"In der Tat sind die Cree in der Erforschung von Nanotechnologie uns um Lichtjahre voraus. Sie sind nun hier und haben ihre Peiniger verraten. Was glauben Sie sollen wir nun tun?", fragte Hagen und überraschte damit Kenya.

Natürlich hatte die sich Vorschläge zurecht gelegt, doch mit einer direkten Frage am Anfang hatte sie nicht gerechnet. Ihre Taktik den Rat dezent in bestimmte Richtungen zu steuern, war damit über den Haufen geworfen. Hagen hatte sie kalt erwischt.

"Die offensichtlichste Vorgehensweise ist sie einfach zu überrennen", brachte Kenya das Argument vor, dass sie eigentlich von Hagen erwartet hatte. Sie bekam weder Zustimmung noch Ablehnung.

"Dieser Weg würde der Science allerdings viel verbauen, gerade im Hinblick auf die Nanotechnologie. Die Cree sind kein barbarisches Volk. Sie entscheiden nach rein logischen Aspekten. Von daher würde ich Ihnen raten sie genau da zu packen. Offenbaren sie ihnen einen Vorschlag, der sie zwingt diesen Mustern zu folgen und ihnen genau den Vorteil bringt, den Sie sich erhoffen." Hagen erwiderte nichts und überließ Kenya weiterhin das Reden.

"Ich denke deswegen bin ich hier und nicht in den Kerkern dieser Station. Ich weiß, wie die Cree denken. Lassen Sie mich ihnen helfen."

"In der Vergangenheit der Vorfahren, lange vor dem technischen Durchbruch, zu einer Zeit, in der sich die Menschen mit Äxten und Knüppeln die Köpfe eingeschlagen haben, gab es eine Schlacht um einen Ort namens Troja. Legenden, bei denen keiner weiß, wie viel Wahrheit in ihnen steckt. Doch an eine Sache erinnert man sich noch heute. Die blinde Naivität der Unterlegenen", philosophierte Hagen. Kenya wusste worauf er hinaus wollte und konnte seine Zweifel nachvollziehen. Die Möglichkeit eines trojanischen Pferdes war offensichtlich.

"Da stecken Sie wohl in einem Dilemma. Es war nie einfacher an die Geheimnisse des Feindes ranzukommen, allerdings war das Risiko auch nie so hoch." Kenya wusste, dass jeder weitere Versuch Hagen von ihrer Loyalität zu überzeugen nichts an seinen Zweifeln ändern würde, also unterließ sie weitere Beteuerungen.

"Wir lassen es Sie wissen, wenn wir weitere Hilfe von Ihnen in dieser Angelegenheit benötigen", beendete Hagen das Gespräch und forderte sie auf den Raum zu verlassen.

Als Kenya durch die Ausgangstür schritt, spürte sie wie die Anspannung tonnenweise von ihr abfiel. Dieses kurze Gespräch mit dem Rat, welcher gewissermaßen die Herrschaft dieser Organisation darstellte, hatte ordentlich Energie gekostet. Ihrer Meinung nach hatte sie sich gut geschlagen, bei diesem ersten Abtasten. Mehr war es nicht. Sie holten sich einen ersten Eindruck von ihr, der sie hoffentlich nicht sofort aus dem Spiel nahm.

Sie war sich relativ sicher, dass der Angriff vorerst nicht stattfinden würde. Sollten die Science sich doch entscheiden Cree in Schutt und Asche zu legen, würde die Reue über ihren Verrat sie ein Leben lang begleiten. Verdammt. Dieser Rat war hoffentlich clever genug die beiderseitigen Chancen einer friedlichen Beilegung des Konfliktes zu erkennen.

Es blieb vorerst bei ihrer beschränkten Freiheit und so konnte sie die FFK ohne Auflagen wieder verlassen. Der Hunger trieb sie an eine dieser Nahrungsausgabestellen und als sie den trostlosen Fraß serviert bekam, der wohl eine Mischung aus Reis und zermanschten Bohnen darstellte, begrub sie die Hoffnung innerhalb der Science schmackhaftes Essen zu bekommen. Auch bei den Cree wurde der Geschmack hinten angestellt, trotzdem enthielten ihre Mahlzeiten wenigstens die wichtigsten Nährstoffe. Das erwartete sie hier gar nicht, aber wenn sie schon minderwertiges Essen zu sich nehmen musste, sollte es wenigstens den Gaumen erfreuen und so ließ sie das Gemisch unangetastet stehen und begab sich hungrig in ihr Quartier.

Dort erwartete sie Cat, die sich wie zum Hohn gerade über eine pizzaähnliches Gericht hermachte. Offenbar gab es hier ein paar Segnungen der Zivilisation wie Lieferservice und als Kenya eingeladen wurde das Wenige zu teilen, zögerte sie nicht die Einladung anzunehmen.

"Das kostenlose Essen der Science ist Mist", hauchte Cat.

"Du hast dafür bezahlt?", fragte Kenya mit schlechtem Gewissen und bekam ein leichtes Kopfnicken.

"Ich habe ein Restaurant gleich an der Schleuse gefunden."

"Ist lecker. Ich werde mich revanchieren." Kenya versuchte so etwas wie Vertrauen aufzubauen, aber Cat blieb weiter verkrampft.

"Also Nanotechnologie ist dein Ding? Wie bist du dazu gekommen?", versuchte Kenya es mit einem Thema, für das sich Cat begeistern konnte. Mit Erfolg.

"Reiner Zufall. Nachdem Shasta unter die Vereinigung der Planeten durch den Liberator fiel, wurde das Schulsystem reformiert. Eine staatliche Bibliothek wurde gegründet und mit tausenden neuen Büchern aufgefüllt. Ich lese für mein Leben gern und bis dahin beschränkte sich das Angebot auf ein paar Kochbücher. An diesem Tag der Neueröffnung stand ich in dieser Bibliothek wie ein Mädchen im Süßwarenladen und wusste nicht, was ich zuerst probieren wollte. Also griff ich blind zu und erwischte die Einführung in die Mikroelektronik. Es ging weniger um das Thema. Ich wollte einfach nur Wissen in mich aufsaugen. Ich kam in einen Rausch und wollte immer mehr wissen und irgendwann landete ich bei der Nanotechnologie." Cat plapperte, aber irgendwas an diesen schnell aneinandergereihten Worten ließ Kenya hellhörig werden.

"Na zum Glück hast du nicht "50 Shades of Grey" erwischt", flaxte Kenya und in diesem Moment wurde ihr bewusst, worauf sie ansprang. Sie legte das Pizzastück beiseite und begab sich zu dem Rechner auf dem Schreibtisch.

Offenbar wollte man die Mystik des Liberators aufrechterhalten, denn es gab nicht viele Bilder von ihm und wenn doch, dann meist in übertriebenen heroischen Posen oder göttlicher Gnade, aber irgendwann fand sie auch eine Profilansicht.

Es war keinen halben Tag her, dass sie die wichtigste Person der jüngsten Geschichte in einem Konferenzraum gesehen hatte und die Tatsache, dass dieses Treffen offensichtlich geheim bleiben sollte, erweckte ihr Misstrauen. Science und Liberator waren wie Feuer und Wasser. Während der eine öffentlichkeitswirksam die Einigung der Galaxie prosperierte, wirkte die Science wie eine wenig bekannte Organisation im Hintergrund, welche an den Fäden politischer Marionetten zog. Welcher Zusammenhang dort auch immer existierte, er würde vermutlich ein politisches Erdbeben auslösen.

Kenya verzichtete darauf Cat von der Begegnung zu erzählen. Es war eine Mischung aus Misstrauen, aber auch Verantwortung gegenüber Cat, sie mit dieser Tatsache nicht zu konfrontieren. Die Spielregeln innerhalb der Science waren ihr weiterhin unbekannt und allein der Fakt, dass es die FFK mit ihrem geheimdienstlichen Anstrich gab, machte es wahrscheinlich, dass ein Überwachungsapparat innerhalb der Organisation existierte.

Sie rief die Organisationsstruktur der FFK auf und tatsächlich bestand der erste Abzweig des unübersichtlichen Geflechts in der Unterscheidung von inneren und äußeren Angelegenheiten. Über allem thronte als Leiter der Abteilung der Name Cahn. Eine kurze Recherche ergab, dass er einen Posten innerhalb des Rats besetzte und sie ihm damit heute begegnet seien musste. Da sie zu dem Zeitpunkt all ihre Aufmerksamkeit Hagen widmete, konnte sie sich nur vage an das Gesicht ihres neuen Chefs erinnern. Er hatte ein definitiv jüngeres Aussehen und im Gegensatz zum Ratsoberhaupt besaß er noch alle seine Haare. Nur wage Eindrücke rückten in die Erinnerung. Die Zeit im Konferenzsaal war einfach zu kurz gewesen, um detaillierte Informationen zu sammeln.

Cat hatte einfach weiter geplappert, während Kenya ein paar Informationen abrief. Sie hatte es geschafft die schnell aneinander gereihten Worte auszublenden, aber jetzt gab es etwas in dem Redeschwall, dass ihr Verstand als wichtig einstufte.

"Was hast du gesagt?", fragte Kenya nach.

"Nanotechnologie. Die Vorfahren haben drei Funktionen entwickelt. Das ist faszinierend, da nur zwei wirklich sinnvoll sind. Ich meine, wer braucht denn eine Reizansteuerung. Das bekommt doch unser Gehirn von alleine hin", ratterte sie die Worte runter.

"Drei?" fragte Kenya.

"Ja. Es gibt zwar irgendwelche Verschwörungstheorien, dass andere geheime Institutionen noch weitere entwickelt haben, aber wenn selbst die Science es nicht geschafft hat. Ja sicher. Dann bekommen es irgendwelche Waldbewohner besser hin." Cat hob ihre Hände und machte die Gänsefüßchengeste. Sie war jetzt in ihrem Element und begann Vertrauen gegenüber Kenya aufzubauen.

"Was ist denn das Problem?"

"Die Programmierung. Normal gibt es null oder eins. Der Strom fließt oder er fließt nicht. Nanotechnologie findet auf atomarer Ebene statt. Mit Qubits. Die können mehr als zwei Zustände annehmen. Der Code dahinter ist viel komplexer und nur teilweise erforscht. Ich hoffe eines Tages diesen Code zu verstehen und die Technologie in ihrem Verhalten zu ändern." Cat schwärmte jetzt. Kenya hatte sich auf Cree nur am Rande mit dem inneren Aufbau der Nanotechnologie beschäftigt. Selbst ihr neues Gehirn streikte bei der Vielzahl an Varianten, die eine Qubit-Programmierung ermöglichte. Trotzdem mussten einige der Cree die Geheimnisse von Quantenverschränkungen und Quantenteleportation ergründet haben.

"Und was würdest du sie machen lassen?", fragte Kenya und überraschte Cat. Offenbar hatte sie sich darüber keine Gedanken gemacht.

"Egal. Irgendwas Nützliches. Etwas, dass die Menschheit voranbringt."

"Ich wette, dass hat auch einer der Vorfahren gesagt. Hoffentlich hast du mehr Glück", erdete Kenya Cat. Sie fuhr fort weitere Informationen über ihren neuen Arbeitgeber zu erlangen, aber die ganzen theoretischen Zusammenhänge langweilten sie irgendwann. Keine acht Stunden mehr, dann könnte sie anhand praktischer Erfahrungen das wahre Wesen der Science ergründen. Sie wollte ausgeruht sein und so ging sie früh zu Bett.    

Es war am Morgen, als Kenya sich aufmachte ihre neue Arbeitsstelle anzutreten. Jedenfalls war das die chronologische Vorgabe. Auf der ganzen Station herrschte ein 24-Stundenzyklus, der sich an der längst vernachlässigten natürlichen Lebensweise orientieren sollte. Sie bezweifelte, dass die Bewohner der Science überhaupt jemals einer artgerechten Umgebung ausgesetzt gewesen waren. Ihre blasse Haut zeugte vom Mangel an natürlichem Sonnenlicht und obwohl es Angebote für Lichttherapien gab, waren die künstlichen Lichtquellen kein ausreichender Ersatz für die Wirkung wahrer Sonnenenergie. Hinzu kam die minderwertige Nahrung mit ihrem Nährstoffmangel und so glichen die Bewohnern eher Zombies als vollwertigen Menschen.

Trotz dieser offensichtlichen Nachteile des Lebens auf einer Raumstation, hielten sich die Einheimischen für privilegiert. Man erhob sich über den Rest der Galaxie, welche in ihrer rohen und primitiven Art für das vollständige Versagen menschlichen Zusammenlebens stand. Dahingehend unterschieden sie sich nicht von den Cree, welche ebenfalls mit Verachtung auf alle Menschen außerhalb ihrer kleinen Welt schauten. Einen kleinen Unterschied konnte Kenya dann doch ausmachen. Innerhalb ihrer Gesellschaft existierte eine Art Klassengesellschaft, welche zwischen hier Geborenen und Zugezogenen unterschied. Offenbar ein gewolltes Konstrukt, das die Vorteile eines Teile-und-Herrsche-Prinzip unterstützte.

Als sie ankam war es wieder Ko vorbehalten sie in ihr neues Aufgabengebiet einzuführen. Nach ein paar organisatorischen Einweisungen wurde sie ihren neuen Kollegen vorgestellt, welche sie mit gespieltem Gleichmut begrüßten. Da Kenya nicht mehr als drei Tage auf dieser Station verbracht hatte, galt sie als Auswärtige, die nicht mehr als ein gelangweiltes "Hallo" verdiente. Die unausgesprochenen gesellschaftlichen Regeln verlangten Ignoranz für die nach der vorherrschenden Meinung ungerechtfertigte Anstellung als Beraterin. Natürlich wussten alle, dass sie vom Feind übergelaufen war und so war diese Ignoranz nur ein Feigenblatt für Misstrauen.

Dieses Misstrauen wurde weiter befeuert, als sie bereits eine halbe Stunde nach ihrer Ankunft von Cahn höchstpersönlich vorgeladen wurde. Dieses Treffen hatte sie eigentlich erst in den kommenden Tagen erwartet, aber diese Eile bestätigte die Wichtigkeit, mit der die Science die Ambitionen der Cree einstuften. Als sie das Vorzimmer des Büros betraten, wurde Ko von einer Vielzahl an Assistenten empfangen, die alle mit scheinbar wichtigen Dingen seine Aufmerksamkeit suchten.

"Später", knurrte er nur in die Menge und tatsächlich löste sich das Knäuel an Hilfesuchenden auf. Offensichtlich leistete sich Cahn eine ganze Schar an Assistenten und um diese Menge unter Kontrolle zu halten fungierte Ko als ihr Anführer. Nach einer kurzen Ankündigung über die Sprechanlage, betraten Kenya und Ko das Büro des Ratmitgliedes.

"Kommen Sie. Setzen Sie sich", wurde sie überschwänglich begrüßt. Sie schüttelte die ausgestreckte Hand und ließ sich in einem luxuriösen Sessel nieder.

Das Büro wirkte wie aus einer anderen Zeit. Im Gegensatz zu dem Imitat ihres Quartiers wurde hier für die Vertäfelung der Wand auf echtes Holz zurückgegriffen. Davor taten sich mit Gold überzogene barocke Regale auf in denen Gegenstände standen, deren Zweck nicht ersichtlich war und zur reinen Dekoration dienten. Dieser Prunk wurde nur unterbrochen von einer riesigen Karte aus Papier, deren altertümlicher Stil die moderne Struktur der Station darstellte und einnehmend die Rückwand zierte. Der ganze Raum schrie nach Protz und Großmannsucht und wirkte in seiner Aufmachung so abstoßend, dass es keiner großen psychologischen Analyse bedurfte, um den Hausherren hinsichtlich seiner Sympathie einzuordnen.

"Gefällt ihnen mein Büro?", fragte Cahn stolz, als er sich in einem luxuriösen Sessel hinter seinem Schreibtisch niedergelassen hatte. Kenya fuhr mit der Hand über ihre Lehne und begutachtete die seltsame Oberfläche.

"Das Leder stammt von einer Kreatur, welche die Leute auf Cree Kenotcha nennen. Man braucht ein mehrere Wochen für die Gerbung des Fells. Erst dann bekommt es diese Oberfläche, die sich anfühlt wie fließende Seide. Auf ganz Cree gibt es nur zwei Leute, die das hinbekommen", prahlte Cahn. Kenya zuckte zusammen. Auf einer Oberfläche zu sitzen, die einmal etwas Lebendem gehörte, widerstrebte ihr.

"Ketotcha", verbesserte sie ihren Chef, der sie fragend anschaute.

"Wir nennen sie Ketotcha", erklärte sie gelassen.

"Das gefiel mir gestern schon an Ihnen. Sie widersprechen auch gern mal. Sie werden der Abteilung gut tun zwischen all den ganzen Ja-Sagern", sagte er mit gespielter guter Laune.

Kenya kannte diese Art von Männern durch ihre Tätigkeit auf Cayuse. Sie pflegten das Erscheinungsbild eines kultivierten und intellektuellen Lebemanns und mochten es gar nicht, wenn jemand minderwertiges wie eine Hure oder Angestellte sie in ihrem eigenen Weltbild erschütterte.

"Nix für ungut Ko", schickte er halb entschuldigend an den Mann, der in Kenyas Rücken stand.

"Sie haben mich doch nicht hergeholt, nur um mit ihren Spielsachen anzugeben", eröffnete Kenya mit leicht flirtendem Unterton, um die eigentliche Provokation zu entschärfen. Dieser Typ war ihr vom ersten Moment an unsympathisch und die rationale Kenya hatte es schwer diesen ganzen Egoismus einfach zu schlucken.

"Sie wissen doch warum Sie hier sind", erwiderte er ohne aufgesetzten Charme. Er sah ein, dass die typische Art über Banalitäten sich Vertrauen zu erschleichen und damit Ergebenheit zu sichern, bei Kenya versagen würde.

"Ich hatte Ihnen gestern schon meine empfohlene Vorgehensweise erläutert."

"Und wir ziehen sie in Betracht. Was nicht bedeutet, dass alle anderen Optionen vom Tisch sind. Es liegt an Ihnen ein vernünftiges Konzept zur diplomatischen Lösung zu präsentieren. Das wird Ihre erste Aufgabe sein in unserer Organisation. Überzeugen Sie uns, dass... Nein. Bringen Sie uns davon ab in Cree militärisch einzugreifen", erklärte Cahn.

"Sie haben zwei Tage dafür", sagte er nach einer kurzen Pause.

"Das ist nicht genug Zeit. Für eine umfangreiche Beurteilung der Lage muss ich beide Seiten kennen. Es ist unmöglich in nur 48 Stunden die Beweggründe der Science zu ergründen", protestierte sie. Cahn lächelte wissend und jetzt kam Kenya die Erleuchtung.

"Sie wollen mein Scheitern. Wenn es nach Ihnen persönlich ginge, wäre Cree längst überrannt worden. Glauben Sie mir. Wenn Sie das machen haben Sie gar nichts. Alle Geheimnisse nehmen die Cree mit ins Grab." Kenya hatte Schwierigkeiten ihre Stimme auf normaler Lautstärke zu halten. Cahn beugte sich über den Tisch und erwiderte leise.

"Das ist mir scheißegal", sagte er ruhig und ließ sich in seinen Sessel zurückfallen.

"In ein paar Wochen feiere ich meinen 712. Geburtstag. Plus, Minus 10 Jahre. Wer weiß dass schon so genau. Verdammt. Vermutlich werde ich noch mal 700 Jahre alt. Wenn alles Wissen dort unten verloren geht... Was solls. Wir haben die fähigsten Leute hier, die fortschrittlichste Technik und vor allen Dingen unendlich viel Zeit. Die Einzigen, die uns gefährlich werden können, sitzen da draußen im Dschungel. Wir wollten sie da verrotten lassen, aber sie haben sich entschlossen in die Offensive zu gehen. Die Mobilmachung läuft bereits. Wir haben den Finger am Abzug. Mit ihrem Auftreten gestern haben Sie den Rat ins Grübeln gebracht, aber mehr ist es auch nicht. Grübeln. Das Unausweichliche wird passieren, egal wie gut Sie sich auch anstrengen mögen."

"Das ist die falsche Entscheidung."

"Das werden Historiker beurteilen", sagte er lax. Kenya sah ein, dass jegliche Argumentation sinnlos sein würde. Enttäuscht stand sie auf und wollte gehen.

"Da ist noch etwas", hielt sie Cahn zurück.

"Die Nanotechnologie. Für welche Anwendungen haben die Cree sie weiter entwickelt?", fragte er listig. Jetzt wurde Kenya bewusst, warum Cahn es so eilig hatte sie zu sprechen. Sie sollte keine Gelegenheit bekommen die Geheimdienstberichte über die Cree zu studieren. Was wusste die Science über die Nanotechnologie der Cree? Verdammt sie wurde gerade auf Loyalität getestet. Langsam drehte sie sich zurück und sah ihm fest in die Augen.

"Es gibt zwei Anwendungsmöglichkeiten. Das Signal für die Gehirntransformation und die Möglichkeit über Quantencomputer die Verteidigung zu koordinieren. Noch fehlt ihnen die notwendige militärische Ausrüstung. Meines Erachtens räumen sie dem Aufbau einer Verteidigung wenig Priorität ein." Sie verschwieg die Verbesserung der Reproduktion ihres Nachwuchses, um Cahn keine weiteren Argumente zu liefern.

"Mehr nicht?", vergewisserte er sich. Mit glaubhafter Selbstsicherheit verneinte sie seine Frage.

"Danke. Das war alles", entließ er sie. Ko führte sie hinaus. Als sie wieder im Vorzimmer waren, wandte sie sich an ihn.

"Sind Sie seiner Meinung? Halten Sie Angriff für die Beste Option?", fragte sie unumwunden.

"Nein", antwortete er nach kurzem Zögern.

"Gut, denn ich brauche Ihre Hilfe. Wenn ich den Rat überzeugen will, brauche ich sämtliche Informationen. Nicht nur das, was im Netzwerk steht. Nein auch das Inoffizielle. Persönliches über jedes einzelne Mitglied. Wer sind die, die schwanken und warum? Solche Sachen. Werden Sie mir helfen?", fragte sie.

"Das sind interne Angelegenheiten. Ich kann Ihnen nicht einfach vertrauliche Informationen weitergeben", rechtfertigte Ko seine Entscheidung.

"Wenn Sie mir nicht freiwillig helfen wollen, muss ich Sie dazu zwingen."

"Pfff", antwortete er abwertend.

"Der Liberator", sagte sie kurz und ließ Ko verkrampfen.

"Vielleicht macht man die Personalabteilung zum Sündenbock für das Sicherheitsleck gestern, aber wenn ich erzähle, was ich gesehen habe, kann ich meine Geschichte so ausschmücken, dass Ihnen eine tragende Rolle zukommt", drohte sie. Ko hatte sich wieder unter Kontrolle und antwortete ruhig.

"Sie haben die Mechanismen unserer Abteilung schneller adaptiert als ich dachte."

"Dann kann ich auf Ihre Unterstützung zählen?", fragte Kenya.

"Sie bekommen heute Abend ein paar persönliche Einschätzungen der einzelnen Mitglieder", erwiderte er fast lautlos und Kenya dankte ihm nicht ohne schlechtes Gewissen. An ihrem ersten Tag einen leitenden Angestellten zu erpressen, war sicherlich nicht der Einstieg in eine neue Karriere, den sie sich vorgestellt hatte. Anderseits war es vermutlich ein probates Mittel, das hier öfter genutzt wurde und so schob sie die Zweifel beiseite und widmete sich ihrer Aufgabe.

Den ganzen Vormittag über studierte sie die Datenbanken der FFK. Sie fand es unglaublich schwierig die einzelnen Informationen auf ihren praktischen Wahrheitsgehalt zu validieren. So traf sie auf Widersprüche, die selbst bei genauerer Betrachtung keinerlei Schluss auf den wirklichen Zustand erlaubten. Besonders verwirrend war das Ratsmitglied Latress, von der es schwer war auch nur ansatzweise auf den Charakter zu schließen. Offiziell war sie verantwortlich für die wissenschaftliche Forschung, aber weder ihr beruflicher Hintergrund noch ihre Führungsqualitäten schienen sie dafür als geeignet einzustufen. Nach ersten Einschätzungen fungierte sie als eine Art Marionette der oberen wissenschaftlichen Führungsebene, denn laut Einschätzung der FFK wurde ihr wenig Kompetenz und Durchsetzungsvermögen bescheinigt.

Trotz dieser niederschmetternden Eigenschaften wechselte ihr Spitzenpersonal regelmäßig nach Ereignissen, die durchaus als Putschversuch gegen sie gedeutet werden konnten. Das deutete darauf hin, dass sie durchaus wusste, wie sie ihre privilegierte Position verteidigen konnte. Immerhin steuerte sie auf ihr hundertes Jahr als Ratsmitglied zu und von daher schien ein wesentlicher Teil ihrer Persönlichkeit nicht von den Berichten wiedergegeben zu werden.

Neben Cahn und Hagen gab es den militärischen Anführer Castill und den für die Zivilverwaltung zuständigen Conner. Beide Profile waren deutlich stimmiger hinsichtlich ihrer Aufgabengebiete, aber für Kenya waren die auf diesen Informationen  erschaffenen Charakterprofile zu glatt. Selbst der am besten geeignete Kandidat hatte nicht solch perfekte Vorrausetzungen wie die beiden. Diese Unmöglichkeit sich ein vollständiges Bild der einzelnen Mitglieder zu erschaffen, frustrierte sie und so beschloss sie bis zum Eintreffen der Daten von Ko sich einen Überblick über das Leben auf der Station zu verschaffen.

Wie in jeder halbwegs funktionierenden Gesellschaft gab es ein paar zentrale Punkte, an denen sich das soziale Leben abspielte. Im Gegensatz zu den anderen Exsons gab es innerhalb der Science kein ausuferndes Partyleben, aber auch willige Arbeitstiere brauchten Zerstreuung. Obwohl Platz ein rares Gut für die im scheinbar endlosem Kosmos lebenden Bewohner war, wurde ein nicht gerade kleiner Bereich dafür genutzt. Als Kenya im Vergnügungsviertel eintraf, befragte sie eine der Infotafeln über das Angebot.

Die mechanische Frauenstimme eröffnete ihr eine Auswahl aus mehreren Restaurants, Bars oder exklusiven Bekleidungsgeschäften. Sie verkniff sich die Frage zu was letzteres notwendig wäre, da sowieso nur die Wahl zwischen weißer Einheitskleidung oder militärischer Uniform bestand, aber für solche Nichtigkeiten fehlte ihr die Zeit. Was sie suchte war jemand, der ihr die Gewohnheiten abseits der trügerischen Optik erklärte. Ein schwieriges Unterfangen, denn als Neuankömmling galt sie als wenig vertrauenswürdig. Der Fakt, das sie Mitglied der FFK war, kam noch erschwerend hinzu. Nach mehreren gescheiterten Versuchen Vertrauen zu einem der Einheimischen aufzubauen, wollte sie aufgeben, als sie ein bekanntes Gesicht in einer der Bars erkannte.   

"Prinzessin", wurde sie von einem grimmig dreinschauenden Corado begrüßt, der angewidert an einem Bier nippte.

"Du bist noch hier?", fragte sie.

"Ja. Die Freunde des gepflegten Inzests haben beschlossen noch ein paar Tage hier zu bleiben. Nun habe ich scheiße viele Jetons und kann sie nur für alkoholfreie Bierpisse ausgeben." Er nahm einen kräftigen Schluck und schüttelte sich.

"Der Typ da." Corado zeigte auf den Barkeeper.

"Der hat mit Sicherheit den guten Stoff unter dem Tresen, aber er rückt ihn nicht raus, weil er Schiss hat, dass ich ihn bei der FFK verpfeife."

"Alkoholische Getränke sind illegal. Ich kann dafür meine Arbeit verlieren und mehrere Wochen ins Gefängnis kommen." rechtfertigte sich der Barkeeper. Corado winkte nur ab, aber Kenya ging auf ihn zu.

"FFK." Sie zog ihre ID-Karte hervor und hielt sie dem verdutzten Barkeeper unter die Nase.

"Haben Sie da wirklich Alkohol?", fragte Kenya und versetzte damit ihren Gegenüber in Schockstarre. Das Schütteln seines Kopfes wirkte nicht sehr glaubhaft.

"Muss ich das erst kontrollieren?", drohte sie. Er kramte eine Flasche hervor, die sich im Aussehen nicht von den Anderen unterschied. Kenya öffnete den Verschluss und roch daran.

"Riecht vielversprechend. Bezahl ihn. Dann können wir reden", forderte sie Corado auf, der umgehend einen blauen Jeton auf den Tresen legte. Eilig verschwand er in der Tasche des Barkeepers.

"Scheiße Prinzessin. Du hast ja ungeahnte Qualitäten", lobte sie Corado übermütig gut gelaunt, als sie an einem Tisch Platz nahmen. Er nahm einen großen Schluck aus der Flasche und schüttelte sich dieses Mal vor Entzücken.

"Könnte Tequila sein. Könnte allerdings auch Abflussreiniger sein. Egal. Hauptsache Stoff mit dem gewissen Kick", frohlockte er und hielt ihr die Flasche hin. Auch Kenya nahm einen Schluck. Die These von dem Abflussreiniger war deutlich wahrscheinlicher.

"Gut. Zeit sich zu revanchieren", forderte sie mit kratziger Stimme.

"Gerne doch", erwiderte er zweideutig.

"Ich will nur reden."

"Scheiße noch mal. Das mit dem Reden ist echt überbewertet." Kenya verkniff sich eine Antwort.

"Na gut. Was willst du wissen?"

"Erzähl mir was über diesen Ort. Nicht das offizielle Gewäsch für Touristen. Ich will eher die schmutzigen verborgenen Details." Kenya nahm einen weiteren Schluck und gab die Flasche zurück.

"Na gut. Alles weiß ich auch nicht, aber der Rat ist hier die offizielle Gesetzgebung. Es gibt zwar alle paar Jahre Wahlen, aber so wirkliche Auswahl haben die Bleichgesichter nicht wirklich."

"Bleichgesichter?"

"Zombies war schon vergeben. Ein paar Wochen hier im Kunstlichtparadies und du hast dich voll integriert als Bleichgesicht", scherzte Corado. Kenya fuhr sich unbewusst über die Wange.

"Im Grunde läuft es ganz einfach. Die mit den vielen Jetons kaufen sich die Sitze. Das machen sie natürlich nicht direkt. Sie pumpen ihr Geld in die Medien und in einen Haufen PR-Agenturen, die sie zu Heiligen erklären. Gleichzeitig verleumden sie alle anderen Kandidaten mit weniger Kohle. Das hat bei den letzten Wahlen dazu geführt, dass tatsächlich keiner mehr gegen die fünf angetreten ist. Es gibt keine Alternative mehr und ich glaube darauf holen die sich nach jeder Wahl einen runter", feixte Corado und nahm einen Schluck.

"Also eine vorgetäuschte Demokratie. Interessant. Warum lassen sich das die Bleichgesichter gefallen?", verfiel Kenya in Corados Wortschöpfung.

"Denk doch mal nach Prinzessin. Du weißt wie es da draußen aussieht. Hier hast du einen gewissen Wohlstand. Solange die es da oben nicht übertreiben, schlucken die Bleichgesichter die Kröten. Ich glaube man nennt es konginative Dissoirgendwas-Scheiße."

"Kognitive Dissonanz", verbesserte Kenya.

"Wie auch immer. Damit das auch so bleibt, drücken die Medien regelmäßig den Panikknopf, indem sie Nachrichten außerhalb dieses Spießerbiotops übertreiben. Es dürfen keine Zweifel aufkommen. Hier drinnen ist das Paradies und da draußen ist die Hölle. Wir sind die Guten. Das sind die Abgewichsten, die selbst daran Schuld sind, dass sie in der Scheiße hocken. Hier herrscht Überfluss. Da Mangel. Dabei wissen die hier nicht einmal, was ein ordentliches Bier ist. Du musst es im Vergleich immer nur übertreiben und hintergründig andeuten, dass jeder aus diesem verschissenen Paradies fliegen könnte." Corado nahm einen weiteren Schluck.

"Spiel nach den Regeln und wir garantieren dir ein Höchstmaß an Sicherheit", schlussfolgerte Kenya.

"Das Witzige ist, dass so viel Sicherheit gar nicht notwendig ist. Wer sollte denn gefährlich werden? Die Cree mit ihren paar Schiffen? Der Liberator mit seinem "Ich komme in Frieden"-Scheiß? Ha. Die Bleichgesichter merken gar nicht, dass sie ihre Freiheit komplett geopfert haben für ein Übermaß an Sicherheit. Mittlerweile gibt es so viele Gesetze, dass du schon bei einem gepflegtem Furz in den Bau wanderst." Corado fing leicht an zu lallen.

"Und alles wird kontrolliert von der FFK?"

"Natürlich. Eins der Fs steht für Freund. Jeder und alles wird überwacht. Steigt der Druck im Kessel können sie rechtzeitig handeln. Dafür gibt es mehrere Möglichkeiten." Corado wurde langsam unverständlich.

"Erstens", lallte er.

"Härte. Ein paar Bleichgesichter müssen über die Klippe springen. Egal, ob sie was angestellt haben oder nicht. Nur die Botschaft des strengen Papas zählt. Zweitens. Streicheleinheiten. Die Aussicht auf Erfolg. Ein paar Bleichgesichter bekommen die Nanotechnologie der Unsterblichkeit und beweisen damit, dass alle hier gleich sind und es mit harter Arbeit in den scheiß elitären Zirkel schaffen können. Das hat den angenehmen Nebeneffekt, dass sich alle Anderen umso mehr reinhauen und die Produktivität steigt auf zu neuen Höhen." Corado wedelte mit dem Arm nach oben. Er war jetzt deutlich erkennbar angetrunken.

"Gab es auch schon Situationen, wo beides nicht half?"

"Klar. Dann hilft nur noch drittens. Theater."

"Was?"

"Wenn die FFK tatsächlich zu dem Schluss kommt, das weder Zuckerbrot noch Peitsche den Mob besänftigt, dann kommt wie aus heiterem Himmel irgendein plötzlicher Scheiß der ablenkt. Beliebt ist ein Anschlag. Irgendein Penner von draußen ist so neidisch auf den Wohlstand hier drinnen, dass er allen die Kehle umdrehen wollte. Die Medien singen dann das Lied von Solidarität, so nach dem Motto "Wir sind doch alle eine große Familie und halten zusammen" und gleichzeitig schüren sie den Hass auf Andersdenkende, um die angestaute Wut umzulenken. Klappt jedes Mal und diese blassen Idioten merken nicht einmal wie sie verarscht werden."

"Wir stehen gerade wieder vor so einem Ausbruch. Heute Morgen habe ich ein paar Memos dahingehend gelesen. Die Medien schaffen es nicht mehr die Thesen des Liberators mit ihren Kampagnen zu entkräften."

"Der Liberator. Diese Muschi? Echt? Respekt, wenn er es schaffen könnte eine Revolution loszutreten." 

"Vielleicht gibt es ja dieses Mal ein Viertens", grübelte Kenya. Dieses Treffen, dessen Zeuge sie gestern unfreiwillig wurde, könnte der Anfang einer Kooperation werden, deren Details sie noch nicht kannte. Wenn tatsächlich eine Art Zusammenarbeit zwischen den Großmächten der Galaxie bevorstand, hatte das natürlich Auswirkungen auf die bevorstehende Konfrontation mit den Cree. Der Liberator konnte sich als ganz großer Trumpf erweisen. Welche Vereinbarungen im Hintergrund auch liefen, sie musste diese Planungen zu ihrem Vorteil nutzen.

Sie ließ Corado mit seiner Flasche allein und steuerte wieder auf die Räumlichkeiten der FFK zu. Im Vorzimmer zu Chans Büro traf sie auf einen vielbeschäftigten Ko, der sich bemühte die Vielzahl seiner Assistenten zu koordinieren. Es gab vermutlich keinen schlechteren Zeitpunkt für einen Vier-Augen-Gespräch, aber mit der erneuten Androhung von Erpressung bekam sie fünf Minuten seiner Aufmerksamkeit. Als sie sich in einen kleinen Nebenraum zurückzogen, schien dem sonst so gefassten Ko der Geduldsfaden zu reißen.

"Wenn Sie glauben, Sie haben mich in der Hand und ich springe jedes Mal wenn Ihnen danach ist, muss ich Sie enttäuschen. So dick ist der Fisch auch nicht, den Sie da gegen mich auffahren", drohte er genervt.

"Der Liberator. Ich will wissen, was da läuft", kam Kenya ohne Umschweife zur Sache.

"Pah. Ich gebe Ihnen da sicherlich keine Informationen darüber", wiegelte Ko ab und wollte sie einfach stehen lassen.

"Warten Sie", hielt ihn Kenya zurück. Sie musste sich eingestehen, dass sie ohne Plan oder Strategie in das Gespräch mit Ko gegangen war. Ein schwerwiegender Fehler, aber die Zeit war so knapp geworden, dass sie auf ihr Improvisationstalent vertraute.

"Ich glaube wir erleben gerade einen Wendepunkt der Geschichte. Die Galaxie steht vor einem gigantischen Umbruch. Cree, Liberator, Science. Das alles kommt offenbar auf irgend eine Weise zueinander. Die folgenden Wochen werden entscheidend für den weiteren Verlauf der Menschheitsgeschichte. Noch ist die Richtung nicht klar. Das Schicksal hat uns beide unerwartet an eine der Stellschrauben verschlagen und jetzt müssen wir, ob wir wollen oder nicht Entscheidungen treffen, die Auswirkungen auf zukünftige Generationen dort draußen haben werden. Es ist nicht die Zeit sich an Regeln zu halten. Es ist die Zeit seinem Gewissen zu folgen." Ko sah sie an und tatsächlich hatten ihre Worte die Wirkung nicht verfehlt.

"Was passiert, wenn es die falschen Entscheidungen sind?", fragte er vollkommen verunsichert.

"Dann müssen Sie mit diesem Fehler leben. So ist das nun mal mit unserer Existenz. Das Leben zwingt uns in Situationen, in die wir nie wollten. Ich hatte viel zu viele davon und glauben Sie mir. Dass was Sie nicht tun sollten ist Zögern. Damit wählen Sie garantiert den Weg des Scheiterns." Damit verließ sie einen vollkommen verwirrten Ko.

Kapitel 6

 

Sie begab sich an eines der Außenfenster und beobachtete das Treiben

in der Umgebung des Exsons. Hilflosigkeit ergriff sie als sie einen der Kreuzer betrachtete, der vermutlich in naher Zukunft seine todbringenden Qualitäten auf Cree anwenden würde. Ihr größter Albtraum schien gerade Realität zu werden. Sie hatte auf ein friedliches Miteinander zwischen Cree und Science gehofft, aber ihrer neuen Heimat schien wenig daran gelegen den jahrhundertealten Konflikt unblutig zu lösen. Wer war sie, dass sie glaubte solch tiefgreifende Abneigung mit ein paar Worten beseitigen zu können. Es war noch nicht lange her, da hatte sie Freier für Geld bedient und nun lastete die Zukunft einer ganzen Gesellschaft auf ihren Schultern. Was qualifizierte ausgerechnet sie dazu erfolgreich zu sein wo andere bereits scheiterten? Wird es Verrat oder Selbstüberschätzung sein womit die Geschichte über sie richten wird? Die trüben Gedanken lähmten ihren Intellekt und da das Gefühl von Versagen nicht so einfach zu vertreiben war, beschloss sie ihr Quartier aufzusuchen, um in Meditation ihr Gleichgewicht zurück zu erlangen.

Sie genoss die Ruhe ihrer vier Wände und tatsächlich schaffte sie es ihren Verstand wieder in den rationalen Normalzustand zu versetzen. Sie wollte sich noch ein paar Minuten Entspannung gönnen, aber ein Geräusch an der Eingangstür erforderte ihre Aufmerksamkeit. Ein Bote übergab ihr ein Pad. Ko hatte ihr also Informationen zukommen lassen und offenbar waren sie so heikel, dass er es vermied sie über das öffentliche Netz zu schicken.

Kenya überflog die einzelnen Dossiers der Ratsmitglieder, ohne die einzelnen Informationen wirklich zu verarbeiten. Was sie eigentlich suchte fand sich am Ende der Zusammenstellung. Protokolle über die einzelnen Treffen mit dem Liberator und sogar Auswertungen, Strategien und Ansätze für eine weitere Zusammenarbeit. Was Ko ihr hier geliefert hatte, konnte ohne Weiteres als streng geheim klassifiziert werden und die Euphorie über einen vielleicht doch noch positiven Ausgang ihrer Bemühung, unterdrückte die viel zu zarte Stimme, welche verzweifelt versuchte eine Warnung durch all die Zuversicht zu schicken. Gegen alle Erwartungen lief es gut für sie. Zu gut. Aber jetzt war nicht die Zeit für Bedenken. Die logische Kenya wurde gebraucht und so verbannte sie die Intuition aus Zweifel als lästigen Störfaktor.

Den ganzen Abend arbeitete sie sich durch die Flut an Informationen und merkte schnell, dass sie Prioritäten setzten musste. Das schnell erschaffene Charakterprofil von Castill ergab nur eine geringe Wahrscheinlichkeit ihn in seiner festen Überzeugung von der militärischen Notwendigkeit umzustimmen, also verschwendete sie keine weitere Zeit mit ihm. Genauso verhielt es sich mit Conner, dem zweiten Ratsmitglied, nur dass hier eine friedliche Variante bevorzugt wurde. Unter Einbeziehung von Chan, dessen Standpunkt ebenso unumstößlich war, stand das Verhältnis bisher 2:1 zu ihren Ungunsten. Also widmete sie sich der charakterlichen Wundertüte Latress und tatsächlich fiel es ihr immer noch schwer sie nutzbringend einzuordnen.

Latress war vor 97 Jahren das erste Mal in den Rat gewählt worden. Sie hatte dieses Privileg ihrem Vorgänger zu verdanken, der durch zwielichtige Geschäfte in Verruf geraten war und durch einige inszenierte Skandale tatsächlich das Kunststück geschafft hatte nicht wiedergewählt zu werden. Viele trauten ihr damals keine komplette Amtszeit zu, geschweige denn überhaupt längerfristig diese Aufgabe auszuführen, aber sie hatte sich irgendwie durchgebissen und das war der Punkt den sich Kenya lange nicht erklären konnte. Erst nähere Recherchen über den abgewählten Soros brachten etwas Licht ins Dunkel. War er am Anfang vielleicht einfach nur ihr Mentor, entwickelte er sich mehr und mehr zum Strippenzieher und irgendwann kam Kenya zu der Erkenntnis, dass sie nicht Latress sondern ihn überzeugen musste. Das eigentliche Ratsmitglied war mehr Schein als Sein und in Wirklichkeit hatte Soros den Rat nie verlassen. Diese Konstellation erschwerte ihr Unterfangen, aber noch war genug Zeit um Informationen über Soros zu sammeln.        

Dieses Mal mussten die offiziellen Datenbanken als Informationsquelle dienen. Obwohl der Name Soros selten vordergründig zu finden war, konnte er mit ein wenig Recherche praktisch überall nachgewiesen werden. In so ziemlich jedem Bereich indem Geld verdient wurde, ob nun im Kauf oder Verkauf von Waren oder im Angebot von Dienstleistungen, stand am Ende in einer Verflechtung von Beteiligungsgesellschaften sein Name. Manchmal hatte sogar Kenyas verbessertes Gehirn Schwierigkeiten diesen Zusammenhang zu erkennen, aber alle wichtigen Handelsgesellschaften standen mehr oder weniger unter seinem Einfluss. Welch findiges Genie sie hier gerade versuchte zu ergründen, zeigte sich in der Tatsache, dass Soros sich seine Absatzmärkte sogar selbst erschuf. Das beste Beispiel war das Einkaufen in die Nahrungsmittelindustrie. Er hatte es tatsächlich geschafft bei jedem Hersteller oder Zulieferer über komplexe Unternehmenskonstrukte die Mehrheitsverhältnisse zu erlangen und mit Optimierungsmaßnahmen den Profit um ein Vielfaches zu steigern. Der eigentliche Clou bestand aber darin, die unerwünschten Nebenwirkungen der kostenoptimierten Lebensmittel, die jetzt zwar deutlich billiger herzustellen waren, deren verringerte Qualität bei den Konsumenten allerdings nun verhäuft zu Krankheiten wie Diabetes oder Fettleibigkeit führten, mit seinen zuvor absatzschwachen Medikamenten zu behandeln. Die Nachfrage nach Schmerzmitteln, Blutdrucksenkern oder Insulin explodierte förmlich in den letzten Jahrzehnten und machten ihn zu einem reichen Mann. Aber das reichte ihm offenbar nicht. Auch Vereine oder Schulen sogar Gefängnisse, welche auf Spenden oder Zuwendungen angewiesen waren, standen in unheilvoller Abhängigkeit zu Soros. Zu diesem Zwecke hatte er gemeinnützige Organisationen gegründet, die unter dem Deckmantel der uneigennützigen Hilfe sogar auf Kinder Einfluss nahmen. Er hatte es in den letzten hundert Jahren geschafft sein Spinnennetz über die gesamte Science und damit auch über Großteile der Galaxie zu ziehen und je nachdem an welchem Faden er zog, beeinflusste es den weiteren Verlauf. Die eigentliche Macht lag außerhalb des Rates und das war der Punkt, an dem Kenya ansetzen musste. 

Sie versuchte ein Bild des heimlichen Patrons zu finden, aber da gab es nichts Aktuelles. Obwohl diese Person so ziemlich mit allem und jedem innerhalb der Science in Verbindung stand, schien er sich in der Öffentlichkeit sehr rar zu machen. Sie suchte im Archivmaterial und fand Bilder aus Zeiten seiner aktiven Zeit als Ratsmitglied. Als Mitarbeiterin der FFK hatte sie Zugriff auf die Kameradaten der Station und so erschuf sie einen Algorithmus, der genau nach diesen Gesichtskonturen suchte. Nichts. Innerhalb der letzten fünf Jahre gab es keinen Treffer. Natürlich gab es die Möglichkeit, dass er sich auf einem der Schiffe aufhielt, aber dass so eine wichtige Persönlichkeit praktisch nie das Exson besuchte, hielt sie für unwahrscheinlich. Aber warum sollte sich jemand die Mühe machen, alle Aufzeichnungen zu löschen?

Es war mittlerweile Abend und nach einem kurzen Mahl mit Cat, zog sie sich in ihr Zimmer zurück. Sie brauchte Ruhe um klare Gedanken zu fassen, immerhin hatte sie nur noch einen Tag für ihren Überzeugungsvortrag. Sie war sich sicher, dass sie Hagen mit ein paar zeitlich gut angebrachten Argumenten überzeugen konnte und so blieb ihr tatsächlich nur noch Latress oder besser gesagt Soros. Was trieb solch einen Mann an. Geld? Davon hatte er sicher genug. Macht? Auch da gab es vermutlich nicht viele Steigerungsformen. Kontrolle? Die besaß er schon. Sie dachte zu kompliziert. Es musste was viel Primitiveres sein. Rache. Gekränkter Stolz. Diese Richtung schien vielversprechend. Kenya ergriff das Pad und stöberte in der Geschichte der Science. Was war wohl das demütigendste Ereignis für Soros? Das kannte sie ja schon, aber nun galt es die Ursachen dafür herauszufinden. Die Skandale, die seiner Abwahl damals vorausgingen, schienen wegen ihrer Einfachheit eigentlich keine große Aufregung wert, aber die Medien hatten die Ereignisse dermaßen aufgeblasen, dass die Wahrheit am Ende arg überstrapaziert wurde. Über Wochen wurde der Eindruck vermittelt, dass Soros untragbar geworden war und jedes Mal wenn das Volk müde wurde sich mit immer absurderen Verdächtigungen auseinanderzusetzen, kam der nächste aufgeblasene Skandal auf die Titelseite. Eine regelrechte Kampagne war erkennbar gewesen, jedenfalls für jemanden mit fast hundert Jahren Abstand. Das permanente mediale Feuer über seine Missetaten, gegen die er sogar gerichtlich vorging und sich tatsächlich nach seiner Abwahl als übertrieben darstellten, führten zu dem damals Undenkbaren.

Es galt also die treibende Kraft hinter der Kampagne zu finden und dafür kamen nur Wenige in Frage. Die beste Position für eine dermaßen mediale Breitseite fand sich innerhalb der FFK. Chan war auch damals schon oberster Leiter dieser Organisation und so brauchte es nicht viel um die Puzzleteile zusammenzusetzen. Was immer auch der Anlass der Fehde zwischen Chan und Soros war, vermutlich irgendwas Banales wie gekränkte Eitelkeit, die letzten Jahrzehnte hatten beide ihre Burggraben so tief ausgehoben, dass ihre Rivalität keinen Gewinner mehr zuließ. Während Soros die Kontrolle über jeden Aspekt der Wirtschaft übernommen hatte, gehörten Chan Geheimdienst, Medien und öffentliche Meinung. Der Wetteifer sich gegenseitig fertig zu machen, hatte sich zwar deutlich abgekühlt, aber die Flamme würde vermutlich nie vollständig erlischen. Da wollte Kenya ansetzen. Es wurde Zeit das Feuer wieder etwas anzufachen.

Sie hatte nun den Hebel gefunden, an dem sie ansetzen konnte, aber nicht am eigentlichen Termin für ihre Anhörung würde es sich entscheiden, ob Cree überleben würde oder nicht. Die Sache musste in einem der sprichwörtlichen Hinterzimmer geklärt werden und das ging nur indem sie Latress oder sogar Soros selbst persönlich traf. So steuerte sie am nächsten Morgen das eigentliche Herz der Science an. Die wissenschaftliche Abteilung machte den Unterschied zu all den anderen Fraktionen in der Galaxie, die zwar Zugriff auf die Technologie der Vorfahren hatte, aber zu reinen Anwendern verkommen waren. In diesen Räumen gab es tatsächlich noch Wissen und abgesehen von den Cree, waren sie die Einzigen die versuchten den Geheimnissen der Vorfahren auf die Spur zu kommen. 

"FFK." versuchte sie sich an der Anmeldung Zutritt zu verschaffen.

"Das ist zwar schön für Sie, aber ohne entsprechende Einladung kann ich Sie nicht durchlassen." erwiderte die Empfangsdame selbstsicher. Kenya war überrascht. Bisher empfand sie ihren Ausweis als Generalschlüssel, der ihr Zutritt zu jedem Bereich auf der Station gewährleistete. Offenbar befand sie sich im Reich von Soros und damit galt sie als potentielle Gegnerin.

"Die habe ich leider nicht, aber ich brauche einen Termin mit Ratsmitglied Latress. Möglichst heute noch." drängte Kenya.

"Was glauben Sie wer Sie sind? Der Terminkalender von Ratsmitglied Latress ist auf Monate ausgebucht." erwiderte die Empfangsdame hochnäsig. Eine kleine zierliche Person mit blasser Haut und schlecht gefärbten wasserstoffblonden Haaren. 

"Außerdem sind heute alle Termine geblockt. Spezielle Veranstaltung." schob sie arrogant nach. Konnte es sein, dass Kenya bereits erwartet wurde und nur daran scheiterte an dieser selbstverliebten falschen Blondine vorbeizukommen?

"Vermutlich bin ich diese spezielle Veranstaltung." erklärte sie sich.

"Warten Sie." kam es sichtlich genervt zurück. Sie öffnete die Kommunikation zum Sekretariat des Ratsmitgliedes. Nach ein paar Worten in den Kommunikator wandte sie sich wieder an Kenya.

"Tatsächlich. Konnte ja keiner ahnen. Die FFK ist hier nicht gern gesehen." rechtfertigte sie sich. Wieder öffnete sie den Kommunikator und bestellte einen Sicherheitsmann.

"Ist das wirklich notwendig?" fragte Kenya und erntete nur einen strengen Blick.

In Begleitung von Constantin, der in seiner Aufmachung an einen Kraftsportler erinnerte, der mit Absicht zwei Kleidergrößen zu wenig trug um seine Muskeln zu betonen, betrat Kenya die Empfangshalle der wissenschaftlichen Abteilung der Science. Der komplette obere Habitatring diente der Forschung und bis auf ein paar Fahrstühle, die als Zugang fungierten, war der Bereich eine abgeschlossene Welt voller Wissenschaftler, Ingenieure und privilegierten Verwaltungsangestellten der höheren Ebene. Gab es in den öffentlichen Bereichen gelegentliche modische Abwechslung durch Militäruniformen war weiß hier die vorherrschende Farbe. Nicht nur Kleidung auch Einrichtung und Gegenstände variierten höchstens in trüben Grautönen. Alles wirkte wie ein doppelt sterilisiertes Labor, dass sämtliche Farben zu schlucken drohte.   

"Müssen wir die Schuhe ausziehen?" versuchte sie Constantin mit einem Scherz aus der Reserve zu locken, aber er wies ihr nur mit grimmiger Miene den Weg. Offenbar war die Abneigung gegen FFK-Mitglieder eine Grundvoraussetzung für eine Anstellung in diesen Laboren, denn so ziemlich jeder, der ihren Weg kreuzte, bedachte sie mit Misstrauen. 

Sie durchquerten die Halle und gelangten zu einer Treppe, die auf den ersten Blick vollkommen sinnlos erschien. Die Stufen führten zur Außenwand der Station hinauf und endeten an einer Tür, hinter der sich nach Kenyas Wissen über Exsons unweigerlich das schwarze Weltall befinden musste. Als Constantin seine Hand auf das elektronische Türschloss legte, hoffte sie inständig, dass sich ein weiterer neuerschaffener Anbau vor ihr auftun würde, denn sollte tatsächlich nichts anderes als schwarze Leere dahinter sein, würden innerhalb weniger Sekunden alle Anwesenden in die Kälte hinaus geblasen werden.

Zu ihrem Glück eröffnete sich ihr ein Vorzimmer, das im Gegensatz zu Chans Reich von nur zwei Sekretärinnen besetzt war. Auch hier herrschte diese absolut sterile Atmosphäre, die jegliches Schmutzkrümmelchen zum Feind erklärte.

Kenyas Blick wurde automatisch von einem Fremdkörper angezogen, der in dem ganzen Weiß schon fast rebellisch wirkte.

"Das ist eine Rose." stellte Kenya fest und roch vorsichtig an der Blüte, die eine der Sekretärinnen in einer Vase auf ihrem Tisch hatte. Die Blume war nicht künstlich und als Kenya gerade fragen wollte, wo auf dieser Station so etwas Kostbares erworben werden konnte, forderte sie die Besitzerin auf das Büro von Latress zu betreten.

Es war der Geruch, der Kenya als erstes in die Nase stieg bevor sie auch nur die Möglichkeit hatte den Raum optisch zu beurteilen. Eine Vielzahl an Düften überforderten die von recycelter Luft geprägten Atemwege und obwohl Natur nix Unbekanntes für sie war, genoss sie die verschiedenen Variationen. Sie betrat das Büro und jetzt sah sie auch die Quelle ihres ersten prägenden Eindruckes. Unmengen an Pflanzen zierten die Regale und das vorherrschende Grün war nicht nur eine Abwechslung zum schon fast einschüchternden Weiß vor der Tür, nein es war auch durchzogen von allen möglichen Farben, die ihren Ursprung in verschiedenartigen Blumen hatte.

"Das ist wunderschön." entfuhr es Kenya ehrfurchtsvoll. Erst jetzt bemerkte sie die Frau, die bisher regungslos hinter ihrem Schreibtisch stand. In ihrem Rücken befand sich ein riesiges Panoramafenster, welches einen eindrucksvollen Ausblick auf die umkreisenden Schiffe offenbarte.

"Ich habe Sie bereits gestern erwartet." sagte sie streng und schaffte das Kunststück außer ihren Lippen keinen anderen Muskel zu bewegen. Selbst ihre langen roten Haare, die offensichtlich natürlichen Ursprungs waren und in ihrer Fülle jede Frau neidisch machten, zeigten keinerlei Erschütterung. Der weiße schon fast alabasterfarbige Hautteint passte perfekt als Kontrast zu ihrer Frisur. Eine alte Erinnerung von Cayuse schaffte es aus den Tiefen von Kenyas Gedächtnisses an die Oberfläche. Rosa, eine "Kollegin" in ihrem Gewerbe hatte ähnliche körperliche Vorzüge und die Exklusivität ihrer Haare und ihrer Haut, machten sie zu einer Exotin, für die einige Freier bereit waren einen Extra-Preis zu zahlen. Keine Frage, diese Frau war nicht nur eine Schönheit. In Kombination mit ihrer unterkühlten Ausstrahlung würde sie selbst beim phlegmatischsten Mann die Hormone zum Kochen bringen.

"Ich wollte nicht unvorbereitet hier auftauchen." rechtfertigte sich Kenya. Sie musterte die strengen Gesichtszüge ihrer Gegenüber, ob sie irgendwelche Emotionen wahrnehmen konnte. Nichts. Latress hielt ihre Fassade aufrecht. Es war für Kenya schon fast ein Ansporn diese Strenge zum Entgleisen zu bringen.

"Ich hoffe Soros wird noch dazu stoßen." sagte sie keck und hoffte das versteinerte Gesicht zu erschüttern. Zu ihrer Überraschung gab es keine Verwunderung oder sogar Entsetzen. Nur ein leichtes Lächeln huschte über Latress Lippen und steigerte damit ihre Attraktivität weiter. 

"Die Geschichten über die Intelligenz der Cree sind offenbar nicht übertrieben. Sie haben ihre Hausaufgaben gut erledigt. Trotzdem muss ich Sie enttäuschen. Wir werden unter uns bleiben." Mit einer kurzen Geste wies sie Kenya an sich zu setzen. Nachdem beide sich jetzt gegenüber saßen, versuchte es Kenya vorsichtig mit Smalltalk.

"Schönes Büro haben Sie hier. Deutlich geschmackvoller als das von Chan." sagte sie. Latress ignorierte das Kompliment und kam gleich zur Sache.

"Auch ich habe meine Erkundungen über Sie eingezogen. Nach Ihren eigenen Aussagen sind Sie nicht ganz freiwillig zur Cree geworden."

"Was mich hier herführte. Wir müssen es stoppen."

"Darüber sind wir uns schon einig. Was bleibt ist die Frage wie."

"Und deswegen bin ich hier. Sie sind sozusagen das Zünglein an der Waage. Ihre Stimme entscheidet."

"Ein einfache binäre Entscheidung, welche Auswirkungen auf unzählige Leben hat." Latress Stimme klang schwermütig.

"Wie war das Leben auf Cayuse? Haben Sie es genossen in seiner Einfachheit? Sehnen Sie sich manchmal zurück an die Zeit, wo die schwerwiegendste Entscheidung darin bestand, was es zum Abendessen gab? Auch bei mir gab es solche Zeiten und in diesen Situationen wünschte ich mir nicht in dieser Position zu sein."

"Ich muss zugeben diese einfachen Zeiten hatten ihren Reiz. Ich kann mir heute aber nicht mehr vorstellen solch ein banales Leben zu führen. Der menschliche Geist ist auf Entwicklung ausgelegt und auch wenn bei mir unfreiwillig der Turbo gezündet wurde und ich teilweise immer noch überfordert werde mit der Komplexität der Ereignisse ist der Geist aus der Flasche. Ich will nicht mehr zurück. Ich will jedes einzelne Atom dort draußen zum Schwingen bringen, auch wenn ich dabei leiden muss."

"Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen." zitierte Latress aus eine dieser Literaturwerke der Vergangenheit, die auch Kenya in der Langeweile ihres Hausarrest gelesen hatte. Obwohl sie Probleme hatte den von Logik geprägten Geist auf so etwas Chaotisches wie Kultur einzustellen, verstand sie die Botschaft dahinter. Nur hier gab es keine Engel, welche trotz eventuellen Misserfolg ihr eine Erlösung garantieren.

"Sie würden sicher gern wissen, wie meine Einstellung zu den Cree ist." fuhr Latress fort.

"Tatsächlich konnte ich mir kein abschließendes Bild davon machen."

"Ehrlich gesagt bewundere ich die Cree. Aus rein beruflicher Sicht natürlich. In Sachen Forschung sind sie uns ebenbürtig, wenn nicht sogar überlegen. Der Wissensdurst und die Aussicht auf eine Zusammenarbeit nötigt mich förmlich dazu für eine friedliche Regelung zu stimmen."

"Ich vermute es gibt aber auch Argumente dagegen."

"Die wirtschaftlichen Interessen wiegen da deutlich schwerer. Wenn wir die Cree offiziell legitimieren, verlieren wir ein wesentliches Alleinstellungsmerkmal. Die Gefahr, dass wir uns damit unnötig einen Konkurrenten erschaffen ist sehr hoch."

"Die Cree haben keinerlei Interesse an Profit." beschwichtigte Kenya.

"Das mag wohl stimmen. Bisher war durch die erzwungene Isolation der Handel keine Option für sie. Sollte ihnen der in Zukunft auch nur theoretisch zur Verfügung stehen, zwingt sie die Logik darauf zurück zu greifen, um ihre eigenen Ressourcen zu erweitern. Nicht nur militärisch würden sie irgendwann zu uns aufschließen. Sie könnten in noch größerem Maße in Forschung investieren und uns damit weiter abhängen. Egal was sie antreibt. Früher oder später würden unsere Interessen kollidieren. Es wäre einfacher das Übel sofort zu beseitigen." erklärte Latress die Alternative.

"Sie sehen die Möglichkeiten nicht. Wenn Sie es clever anstellen, bekommen sie Zugriff auf Teile ihrer verbesserten Technologie. Stellen Sie sich all die neuen Dinge vor, von denen Sie heute noch nicht einmal wissen, dass es sie überhaupt gibt." versuchte sich Kenya weiter in wirtschaftlichen Argumenten.

"Seien Sie nicht naiv. Glauben Sie wirklich es geht um immer mehr Geld oder sogar Wohlstand? Da irren Sie sich. Es geht um die Erhaltung der Macht in der Galaxie und da können wir keine aufstrebende neue Konkurrenz gebrauchen." erklärte Latress ruhig.

"Nach allem was ich so höre haben Sie die doch bereits. Der Liberator öffnet den Menschen dort draußen die Augen. Er erklärt ihnen, dass ihr Elend kein endgültiges Schicksal ist. Er bringt Ordnung in diese chaotische Galaxie und stört damit extrem euer auf Angst und Elend basierendes Geschäftsmodell. Einfach beseitigen ist keine Option, denn dann würdet ihr eine Revolution auslösen, die ihr zwar mit Leichtigkeit niederschlagen könntet, aber am Ende hättet ihr dann ein totalitäres System, dass auf kurz oder lang zum Scheitern verurteilt wäre. Ihr seid lieber die manipulative Kraft im Hintergrund, von der jeder weiß dass sie existiert, die aber auf Grund der vagen Vorstellung einschüchterner wirkt als jede Gewaltherrschaft. Deswegen trefft ihr euch seit Wochen mit dem Liberator, um diese Bedrohung irgendwie einzudämmen, aber so richtige Fortschritte könnt ihr nicht vorweisen. Der Mann ist einfach überzeugt von seiner Vision für die Menschheit und ihr müsst euren Platz in der unausweichlichen Veränderung finden. Euer altes System wird in Zukunft nicht mehr funktionieren und alles, was sich nicht anpasst wird untergehen. Es wird Zeit einen neuen Weg einzuschlagen und die Cree stellen sich als einmalige Möglichkeit da." Kenya hatte ohne es zu wollen ihren Vortrag mit ordentlich Leidenschaft versehen.

"Sie sind äußerst gut informiert." versuchte Latress die eigentliche Botschaft zu ignorieren.

"Ich sagte ja. Ich musste mich vorbereiten."

"Ich muss sagen Ihre Argumentation besitzt gewisse Aspekte, die nicht von der Hand zu weisen sind. Vielleicht leben wir wirklich schon viel zu lange in diesem Zustand, der uns zwar satt und zufrieden macht, aber gleichzeitig ein Umfeld aus Trägheit erschaffen hat, welche uns hemmt und jegliche Innovation behindert. Veränderung ist irgendwann ohnehin unausweichlich und lieber sollten wir den Weg bestimmen, als durch unkontrollierbare Querschläger ins Chaos zu stürzen. Allerdings sehe ich die Cree nicht zwangsläufig als Gelegenheit an. Es ist durchaus möglich, dass sie als eine dieser Unberechenbarkeiten fungieren. Dahingehend bin ich mir unsicher."

"Es gibt nichts Berechenbareres als die Cree."

"Und trotzdem bin ich mir im Unklaren, wie wir mit ihnen weiter verfahren sollen. Ich habe Ihnen alle Vorteile und Nachteile beider Entscheidungsmöglichkeiten dargelegt. Nun ist es an Ihnen mich morgen von ihrer Ansicht zu überzeugen."

"Ich würde auch gern mit Soros sprechen."

"Das ist leider nicht möglich. Er lebt sehr zurückgezogen. Aber glauben Sie mir. Im Gegensatz zu der landläufigen Meinung sind wir ein Team auf Augenhöhe." Latress war es wohl wichtig diesen Umstand zu betonen.

"Ich bin erst ein paar Tage hier auf dem Exson und soweit ich das mitbekommen habe, gibt es zwischen den einzelnen Ratsmitgliedern gewisse Differenzen. Ist das der Grund, warum er mich nicht sehen will?" Kenya versuchte das Thema geschickt auf die Fehde zwischen Soros und Chan zu lenken.

"Differenzen gehören zum politischen Handeln dazu." versuchte Latress das Thema nicht weiter zu vertiefen. Kenya musste konkreter werden.

"Mag sein. Dabei sollten Sie aber nicht persönlich werden. Mir ist noch unklar, wie tief die Gräben wirklich sind." Zum ersten Mal erkannte Kenya eine Regung in dem schneeweißen Gesicht vor ihr. Latress erhob sich und schaute aus dem Panoramafenster.

"Ich nehme an, Sie kennen die Geschichte meiner ersten Ratsmitgliedschaft?" fragte sie.

"Nur die offizielle Version."

"Es gibt immer eine Hintergrundgeschichte. Damals gab es 19 Kandidaten für 5 Plätze. Normalerweise gibt es kaum Chancen neu in den Rat zu kommen und selbst als sich abzeichnete, dass Soros seinen Platz verlieren würde, wäre niemand auf die Idee gekommen ausgerechnet mich als Ersatz vorzusehen. Doch die Medien bauten mich als unterkühlt intelligente Superfrau mit Herz auf."

"Aber die Medien stehen doch unter Kontrolle von Chan."

"So ist es. Politische Ränkespielchen. Ich sollte ihm regelmäßige Mehrheiten liefern, aber Soro´s erster Gegenschlag bestand darin mich für seine Zwecke praktisch zu kapern."

"Wie?" Latress drehte sich jetzt zu ihr.

"Das Wie ist nicht von Relevanz. Finden Sie das Warum und Sie kommen dem Ursprung dieser Dauerfehde einen Schritt näher. Jedenfalls war es von diesem Zeitpunkt an persönlich und das ist es bis zum heutigen Tage. Das bringt uns bedauerlicherweise auf verschiedene Seiten. Ein Zustand, der nicht von Dauer sein muss. Ihr Intellekt würde auch gut in die Forschung passen."

"Ein verlockendes Angebot, zumal die Beziehung zu meinem Vorgesetzten nicht gerade von Vertrauen geprägt ist. Der Eklat bei meinem potentiellen Wechsel wäre vermutlich ein zusätzlicher Bonus für Soros." Jetzt zog Kenya den Rivalitätsjoker und obwohl Latress intelligenter war als vorher angenommen, musste sie es versuchen.

"Das wäre es in der Tat. Leider kann ich Ihnen noch keine endgültige Entscheidung hinsichtlich meines Abstimmungsverhaltens geben, aber ich versichere Ihnen, das ich alle Argumente abwägen werde. Ihre Ankunft hätte zu keinem passenderen Zeitpunkt erfolgen können. Sie haben Unumstößliches doch noch zum Wanken gebracht. Nun liegt es an Ihnen, ob Sie es endgültig kippen werden." Damit beendete Latress das Gespräch und nachdem Kenya die keimfreie Umgebung des wissenschaftlichen Habitatringes verlassen hatte, zog es sie förmlich in den dreckigsten Winkel der Station. Die technische Ebene entpuppte sich als genaues Gegenteil zu der von Sterilität durchzogenen elitären Führungsebene und als sie die verschwitzten und von Öl beschmierten Anzüge der Wartungstechniker erblickte, bekam sie den erhofften Abstand, den sie brauchte um das Gespräch richtig einzuordnen. Ihr FFK-Ausweis ermöglichte ihr trotz fehlender Freigabestufe einen Zugriff auf die Mechanik eines Generators und während sie sich darauf konzentrierte die notwendige Reparatur durchzuführen, schaffte sie sich den Abstand den sie benötigte. Für eine Stunde gab es keine Cree, Latress oder Liberator. Nur Öl, Schraubenschlüssel und Wartungsanweisungen schafften es in ihren Geist und gaukelten ihr eine einfache Welt vor, in der alles mit dem passenden Werkzeug repariert werden konnte. Zutiefst befriedigt drückte sie den Startknopf und als die Maschine leise vor sich hinsummte, genoss sie das unheimlich gute Gefühl etwas erreicht zu haben. Sie brauchte den Erfolg als Bestätigung, dass der Wille selbst den schwierigsten Herausforderungen ihren Schrecken nahm. Jetzt hatte sie die richtige Einstellung für den kommenden Morgen und sollte die Angelegenheit nicht den erhofften Verlauf nehmen, gab es nichts, was sie sich im Nachhinein vorwerfen konnte. Sie war bereit ihren Anteil der Menschheitsgeschichte beizutragen.

Vollkommen verdreckt betrat sie ihr Quartier und ignorierte die fragende Blicke ihrer Mitbewohnerin. Nach einer ausgiebigen Dusche genoss sie ein reichhaltiges Mittagessen und da Cat an diesem Tag offensichtlich erst zur Spätschicht antreten musste, suchte sie die Zerstreuung in einer belanglosen Konversation.

"Warst du wirklich auf Cree?" fragte Cat nach einer halben Stunde zaghaften Austausches von persönlichen Informationen. Kenya nickte.

"Es heißt, sie machen dich schlauer. Verändern dein Gehirn." Cat war unsicher, ob sie das Thema weiter vertiefen sollte.

"Im besten Fall. Sie erreichen das mit Hilfe deiner geliebten Nanotechnologie." Gab Kenya eine Information preis, die sicherlich nicht ans schwarze Brett mit der Aufschrift Cat gehörte. Anderseits würde ihre Blutprobe vermutlich schon jedem Praktikanten in den Wissenschaftslaboren untergekommen seien.

"Dann ist es wahr." platzte es aus Cat heraus. Jetzt überschlugen sich ihre Worte wieder.

"Sie verändern die Nanos. Wie?"

"Um das zu ergründen, haben sie Leute wie dich eingestellt." erwiderte Kenya. Das persönliche Gespräch im Vorfeld hatte eine gewisse Vertrauensbasis geschaffen.

"Was ist das für ein Gefühl, die Nanos im Körper zu haben? Kommunizierst du mit ihnen? Machen die sich irgendwie bemerkbar?" hakte Cat neugierig nach. Kenya schüttelte lächelnd den Kopf. Jetzt hielt es Cat nicht mehr auf ihrem Stuhl. Aufgedreht lief sie im Raum hin und her und plapperte vor sich hin.

"Wir kennen rudimentär den Aufbau der Selbstheiler oder der Codeknacker. Aber das...." Ihre Stimme wechselte von hektisch auf ehrfürchtig.

"...das ist wahrer Fortschritt." vervollständigte sie den angefangenen Satz und schaute dabei Kenya an, als wäre sie das neuste Modell eines Raumkreuzers.

"Was habt ihr noch entwickelt?" verfiel Cat wieder in euphorischen Tonfall. Kenyas Verstand, der gerade den Freizeitmodus als Möglichkeit zur Entspannung nutzte, wechselte zur Vorsicht. War es möglich, dass sie gerade ausspioniert wurde? Unmöglich. Es handelte sich um Cat, die von Natur aus neugierig auf alles in Sachen Nanotechnologie war. Trotzdem widerstrebte es ihr das Thema weiter zu vertiefen.

"Das ist streng geheim." erwiderte sie scherzhaft.

"Oh." kam es von einer enttäuschten Cat.

"Hey. Wenn die Dinge in den nächsten Wochen richtig laufen, wirst du bald mit neuem Wissen förmlich überschüttet werden. Also gedulde dich noch ein bisschen." versuchte Kenya sie aufzubauen. Ihre Entspannung war dahin und so konnte sie sich genauso gut wieder den wirklich wichtigen Dingen widmen. Sie begab sich an den Rechner und rief endlich die Daten ab, die sie eigentlich schon vor zwei Tagen plante abzurufen. Die Science besaß Kenntnisse über drei Weiterentwicklungen der Nanotechnologie. Während die Funktionen der Signalverstärker und die Koordinierung der Militärtechnik tatsächlich relativ nah an die Wahrheit kamen, war die dritte Entwicklung reine Spekulation. Ihr Blick fiel auf Cat, die gerade enttäuscht in eine Frühlingsrolle biss und wieder stellte sich Kenya die Frage, ob Cat nicht gezielt auf sie angesetzt wurde. Eigentlich spielte es keine Rolle. Wenn der morgige Tag gut lief, dann würden die Geheimnisse untereinander sowieso der Vergangenheit angehören. Bis dahin musste sich Cat mit ihrem Wissensdurst zurückhalten.

Den Rest des Tages verbrachte Kenya damit sich auf die morgige Anhörung vorzubereiten. Es galt Hagen mit ein paar gezielten Argumenten von einer friedlichen Lösung zu überzeugen. Ihr Ansatz bestand darin, dass der Frieden innerhalb der Science durch einen bewaffneten Konflikt gestört werden könnte und tatsächlich hatte die Vergangenheit gezeigt, dass genau dort die größte Sorge des Ratsoberhauptes bestand. Selbst ein schneller und vor allen Dingen diskreter Erstschlag könnte nicht für immer der Öffentlichkeit vorenthalten werden und wenn die Gerüchteküche brodelte hinsichtlich dem Vernichten einer ganzen Zivilisation, würde das ungeahnte Konsequenzen für den Zusammenhalt bedeuten. Nach der Analyse seines psychologischen Profils entwarf sie eine Strategie, welche die Logik der Cree als zentralen Mittelpunkt darstellte, aber subtil immer wieder genau diese Befürchtung mit einstreute. Gegen Abend hatte sie die Gewissheit über diese Taktik an seine begehrte Stimme zu kommen. Damit war ihr Verstand frei für die Überzeugung von Latress, doch hier kam sie an ihre Grenzen. Zu groß war die Unbekannte Soros. Natürlich würde sie es wieder über die Rivalität zu Chan probieren und auch die vorgetragenen Argumente eines zukünftigen Konkurrenten würden sich entkräften lassen, aber die fehlenden Informationen über Soros wahre Absichten, würden viel Improvisationstalent erfordern. Leider half ihr das weiterentwickelte Gehirn da nur bedingt weiter. Gegen Mitternacht merkte sie, dass selbst die beste Vorbereitung kein positives Ergebnis garantieren würde, also gab sie es auf sich mit Wahrscheinlichkeiten zu quälen und begab sich zu Bett.

Schon mit dem Aufstehen war ihre Gelassenheit dahin. Die Anspannung würde sich vermutlich erst nach der Entscheidung entweder in Enthusiasmus oder in Frust verwandeln und bis dahin ihren Puls in erhöhter Frequenz weiter schwingen lassen. Diese angestaute Energie entlud sie mit einem intensiven Training im Fitnessraum und nachdem sie sich ordentlich ausgetobt hatte, verzehrte sie in einer der öffentlichen Kantine ein reichhaltiges, wenn auch etwas fades Frühstück. Eine halbe Stunde noch bis zu dem vermutlich wichtigsten Ereignis in ihrem Leben, was ironischerweise wenig Einfluss auf sie selber haben würde, aber so ziemlich jeden Anderen, den sie die letzten Wochen kennengelernt hatte grundlegend ändern wird.

Der Weg in die FFK unterschied sich rein optisch nicht von dem des gestrigen Tages, aber trotzdem hatte Kenya das Gefühl, dass jeder Schritt bedeutender war als die Tage zuvor. Sie passierte die selben Geschäfte, mit den selben Inhabern und ihre Gesichter hatten an Blässe gegenüber gestern nichts verloren, aber sie schaffte es nicht sich eine Normalität über banale Dinge zu erschaffen. Zu wichtig war das vor ihr liegende Ziel und als sie in Chans Vorzimmer erschien, bestätigte die ungewohnte Stille der Heerschar an Assistenten, dass große Ereignisse bevorstanden. Hier beim gemeinen Volk wollte niemand Krieg und schon gar nicht ein Gemetzel. Dementsprechend herrschte angespannte Ruhe.

"Der Rat wird Sie jetzt empfangen." sagte Ko nach scheinbar endlosen zehn Minuten Wartezeit. Sie folgte ihm, aber jeder Schritt fiel ihr unnatürlich schwer, weil sie das Gefühl hatte, dass irgendjemand heimlich ihre Schuhe mit Blei ausgegossen haben musste. Dieser Gang zum großen Konferenzsaal schien so unendlich lang und da sie sich zwingen musste normal zu atmen, konnte sie ihre Aufregung nur schwer kontrollieren. Nie zuvor hatte sie sich dermaßen nach ein paar Minuten Meditation gesehnt um ihren Geist in Einklang zu bringen, aber leider blieb ihr diese Notwendigkeit versagt. Wenn sie schon ihre Anspannung nicht abschütteln konnte, musste sie die Energie gewinnbringend abbauen und so entschied sie sich ihre Argumente nicht wie geplant mit Gelassenheit vorzubringen, sondern mit einer Note Leidenschaft zu versehen. Es war wichtig authentisch zu wirken und von daher bestand die Gefahr, dass eine ruhige Argumentation zu aufgesetzt wirkte.

Zum zweiten Mal betrat sie den Raum, der wirkte als hätte man ein Tribunal für sie vorgesehen. An diesem unnötig langem Tisch saßen die einzelnen Mitglieder mit so gehörigem Abstand als gäbe es etwas Ansteckendes zwischen ihnen. Das Licht war gedämmt und verlieh dem eh schon unnötig großen Raum eine Aura des Unendlichen. Kenya verwarf den Gedanken die einzelnen Mitglieder zu bitten den Umkreis zu verkleinern, denn die Sitzordnung war ein Teil ihrer Prüfung, den sie zu akzeptieren hatte. Bewegung würde also ein zusätzlicher Aspekt ihres Vortrages werden und es war entscheidend bei den einzelnen Punkten ihrer Argumentation dem richtigen Ansprechpartner gegenüber zu stehen. Zusätzlich dazu diente das Ablaufen des Konferenztisches zum Abbau unnötiger Anspannung und würde ihr vielleicht sogar die ein oder andere Sekunde zur Überlegung bringen.

Bevor die wahrscheinlich wichtigste Stunde ihres Lebens anbrach, verkündete ein ranghoher Beamter in monotonem Protokoll-Stil die Agenda der bevorstehenden Sitzung, die strenggenommen nur aus ihrem Vortrag bestand. Nachdem er knappe zehn Minuten in kompliziertem Behördengewäsch den administratorischen Teil abhakte, übergab er das Wort dem Ratsvorsitzendem Hagen, der auch ohne große Rede zum Punkt kam.

"Punkt 1 der Sitzung: Mögliche Revision und erneute Abstimmung zu Beschluss 22.2 der letzten Ratssitzung auf Grund neuer Informationen. Präventiver Erstschlag auf Cree. Ich übergebe Ihnen das Wort." wandte er sich an Kenya.

"Sehr geehrte Ratsmitglieder. Ich werde ihnen erläutern, welche Nachteile ein Militärschlag für unsere Organisation bedeutet und ihnen die Vorteile einer Kooperation mit den Cree darlegen." Verdammt sie wollte mehr Leidenschaft in ihre ersten Worte packen, aber der Protokollant hatte sie mit seinem behördlichem Kaudawelsch angesteckt und sie in diesen langatmigen Beamtenton verfallen lassen. Wie wollte sie jemand dazu bringen seine Entscheidung zu überdenken, wenn sie das Auftreten eines Buchhalters an den Tag legte. Sie ging ein paar Schritte den Tisch entlang und als sie dem ganz links sitzenden Castill gegenüber stand, wechselte sie die Richtung bis sie die rechts außen sitzende Latress erreichte. Genau an diesem Punkt der Ungewissheit begann sie ihren Vortrag, der wie geplant mit einem psychologischen Abbild der Cree begann. Mit rhetorischer Raffinesse schaffte sie es, die Cree als eine von Vernunft und Logik getriebene Gesellschaft darzustellen, welche mit gezielten Argumenten zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit überredet werden konnte. Um diese Argumente anschaulich darzulegen benötigte Kenya eine ganze Stunde ihrer Redezeit, denn die subtile Einstreuung der Vorteile für die Science bedurfte ihres ganzen Könnens. Am Ende war sie sich sicher, dass sie das vorherrschende Bild eines galaktisch umtriebigen Gegenspielers in eine von Vernunft beherrschte Konkurrenz auf Augenhöhe geändert hatte. Den leichten Teil ihrer Überzeugungsarbeit hatte sie mit Bravur gemeistert, aber nun galt es die Dinge aus Sicht der Science darzulegen. Jetzt würde sich zeigen, ob die letzten drei Tage ausreichend waren, um tief genug das Wesen der Science zu erkennen.

Sie ignorierte Castill auf der linken Seite vollkommen. Genau genommen degradierte sie ihn zu einem Einrichtungsgegenstand, da sie sein Abstimmungsverhalten als ohnehin unumstößlich einschätzte. Conner bekam immerhin eine gelegentliche Aufwartung, wenn sie logistische oder organisatorische Argumente anbrachte. Seine Stimme war ihr ohnehin sicher, also konzentrierte sie sich wie geplant auf Hagen, den sie unterschwellig mit gesellschaftlichen Verwerfungen oder zumindest mit unangenehmen Folgen für den Rat an sich konfrontierte. Gekonnt verflechtete sie Errungenschaften der Cree hinsichtlich Versorgung mit Lebensmitteln, fortschrittlicher Technik oder besserer Gesundheit mit der hiesigen Unzufriedenheit der eigenen Bevölkerung. Sie zeigte den Widerspruch zwischen der Annäherung an den Liberator mit seinen friedlichen Thesen und die feindliche Aggression gegenüber den Cree auf und dezent konstruierte sie eine mögliche Revolte, welche genau aus diesen Dissonanzen entstehen konnte. Tatsächlich schaffte sie es seine größte Befürchtung mit gezielten Szenarien zu bedienen. Sie steuerte auf die Entscheidung zu. Sie stand jetzt ganz rechts.

"Was treibt uns an?" fragte sie nach einer längeren Pause.

"Geld? Wohlstand? Macht?" fuhr Kenya in einem Monolog fort, der eigentlich Latress zum Ziel hatte.

"Das alles klingt nach erstrebenswerten Zielen, in denen wir unseren Sinn des Lebens sehen. Aber was passiert, wenn wir das Ende des Weges erreicht haben und all die Zweifel, die uns ein Leben lang begleiteten sich im Nachhinein als gerechtfertigte Warnung herausstellten? Die Erkenntnis, dass wir unsere ganze Energie einer Illusion von falscher Erfüllung geopfert haben und wir unser Leben in Unzufriedenheit verschwendeten, um am Ende einer Enttäuschung gigantischem Ausmaßes gegenüberzustehen, würde unseren ganzen Daseinszweck rückblickend als unnütz einstufen. Die Reue der eigentlichen Bestimmung ausgewichen zu sein würde unser Leben am Ende zu einem Fiasko machen." Kenya machte eine dramaturgische Pause um ihre philosophische Anwandlung wirken zu lassen. Sie versuchte eine Regung in Latress Gesicht zu erkennen, aber wie immer schaffte die es eine perfekte Fassade aufrechtzuerhalten.

"Vielen passiert das und durch die begrenzten Lebensjahre fehlt uns normalerweise die Zeit für einen Neuanfang. Ein berühmter Philosoph der Vorfahren nannte das "Die Erkenntnis des Leidens". Nur haben wir die Natur ausgetrickst. Die Lebensjahre sind unendlich geworden. Wir haben jetzt die Möglichkeit den Pfad zu verlassen, doch je länger wir in die falsche Richtung laufen, um so mehr Schmerz werden wir erdulden müssen. Wenn die Zweifel am "höher, weiter, schneller" immer nagender werden, sollten wir wenigstens anhalten und dieser inneren Stimme die Möglichkeit geben ihre Argumente vorzubringen." Kenya legte eine weitere dramaturgische Pause ein und wandte sich jetzt direkt an Latress.

"Was wird sie wohl sagen?" flüsterte sie leise. Das bleiche Gesicht zeigte immer noch keine Regung.

"Vielleicht so etwas wie 2723. Das ist die Zahl der potentiellen Opfer für den nächsten Schritt auf dem Weg des Leidens." Endlich erkannte sie so etwas wie Emotionen in ihrer Gegenüber. Ein fast schon unmerkliches Zucken in den Augenwinkeln. Offenbar hatte sie es geschafft durchzudringen.    

"Und das ist nur der Anfang. Also. Was ist es, was uns wirklich antreiben sollte?" Kenya wandte sich jetzt an den gesamten Rat.

"Ich muss sagen, dass ich trotz meines verbesserten Gehirns keine Antwort auf diese Frage habe. Mich hat jemand letztens gefragt, ob ich mein einfaches Leben zurückhaben möchte. Für den Fall würde das bedeuten, dass all die falschen Entscheidungen der Vergangenheit, die mich am Ende an diesen Punkt gebracht haben ihres einzigen Zweckes beraubt würden, nur weil ich mich feige in der Vergangenheit verstecke." Kenya schaute Latress jetzt tief in die blassblauen Augen.

"Diese verdammten Fehler sind ein Teil von mir geworden und sie dienen mir als Orientierung für Alles was kommt. Das Schicksal hat mich und diesen Rat in eine Position gebracht, die nicht nur unsere eigene Zukunft oder die der Cree beeinflusst. Die gesamte Menschheit steht an einem Wendepunkt ihrer Entwicklung. Es wird Zeit den egoistischen Weg des Leidens zu verlassen um uns alle auf den wahren Pfad der Bestimmung zu leiten. Hier vor mir sitzen mehrere tausend Jahre Lebenserfahrung. Wenn die es nicht schaffen den ersten Schritt in die richtige Richtung zu tätigen, haben wir es als Menschheit nicht anders verdient als in naher Zukunft unterzugehen." Damit schloss sie ihren Vortrag und obwohl sie für Latress eine vollkommen andere Strategie vorbereitet hatte, improvisierte sie mit diesen wenigen Worten der Philosophie. Sie folgte der Eingebung ihre Intelligenz anzusprechen und die pragmatischen Argumente oder sogar die Rivalität außen vor zu lassen. Damit überraschte sie Latress und allein die Tatsache, dass Kenya es schaffte ihre Gedankenwelt zu erschüttern, zeigte mehr Wirkung als jeder logische Beleg.

"Die Abstimmung wird in einer halben Stunde erfolgen." verkündete Hagen und Kenya wurde nach draußen geleitet.           

Mit dem Schließen der Konferenztür hinter ihnen schien es fast so, als hätte jemand die Schwerkraft auf Minimum umgeschaltet. Jetzt lag es nicht mehr in Kenyas Hand und dementsprechend erleichtert atmete sie einen tiefen Zug der wiederaufbereiteten Luft ein. Fast zwei Stunden hatte sie voller Leidenschaft ihre Argumente vorgebracht und nach ihrem eigenen Empfinden war die Sache optimal verlaufen. Wieder und wieder ging sie jede Kleinigkeit ihrer philosophischen Anwandlung gegenüber Latress durch und da sie es trotz intensiver Recherche nicht geschafft hatte eine endgültige charakterliche Einordnung zu erstellen, überkam es sie in einem Anflug von Improvisation die logische Cree in die hintersten Winkel ihres Verstandes zu sperren und der intuitiven Seite das Handeln zu überlassen. Tatsächlich schien diese in eine offene Flanke gestoßen zu sein, denn die wenigen emotionalen Regungen von Latress interpretierte sie als Überraschung, Erkenntnis und vor allen Dingen Respekt gegenüber ihrer Ausführung. Eine Stunde suhlte sie sich in ihrem Erfolg die unterkühlte Intelligenz von Latress mit ihrer Argumentation in Unordnung gebracht zu haben.

Die Zeit war verstrichen, aber der Rat schien sich in dem Treffen einer endgültigen Entscheidung schwer zu tun. Dieses Zögern erschütterte Kenyas Zuversicht die Dinge zum Guten gewendet zu haben. Im Geiste ging sie unterschiedliche Diskussionsrunden des Rates durch, aber der spekulative Anteil ließ keine vernünftige Schlussfolgerung zu, warum die halbe Stunde nicht reichte um die militärische Invasion zu bestätigen oder im besseren Fall zu stoppen. Nachdem ihr Verstand drohte mit immer absurderen Theorien die Verzögerung zu erklären, beschloss sie sich abzulenken um dem Wahnsinn in ihrem Kopf die Nahrung zu entziehen. Sie setzte sich an einen der Computer und begann wahllos Daten abzurufen.

Es waren die militärischen Geheimdienstberichte, die endlich die ersehnte Ablenkung hervorbrachte. Im Grunde unterteilte die Science gegnerische Fraktionen in der Galaxie in militärisch ungefährlich und bedrohlich. Zu ersterem zählten einige wechselnde Verbünde, die sich in kleinen Flotten zusammengetan hatten um ihre Kräfte gegen räuberische Überfälle durch Piraten zu bündeln oder lokale Milizen die auf den einzelnen Welten mit Einwilligung der Bürger begrenzt für Recht und Ordnung sorgten. Die zweite Kategorie beinhaltete nur den Liberator und die Cree.

Jetzt blendete Kenyas Verstand die Ratssitzung endgültig aus. Wieso liefen die Cree mit ihrer unzureichenden Ausrüstung als einzige neben der wirklich ebenbürtigen Macht unter bedrohlich. Die begrenzte Anzahl an Berichten stand eigentlich nicht für einen Gegner auf Augenhöhe. Sie überflog die ersten Dokumente, welche ihr Wissen über den desaströsen Zustand der Cree-Verteidigung bestätigte. Nichts rechtfertigte die Einordnung bedrohlich und als sie schon nichtmilitärische Gründe wie die Entwicklung von Nanotechnologie dafür verantwortlich machen wollte, fiel ihr eine Datei auf, die allein schon von ihrer Größe für Neugierde sorgte.

Eigentlich war es keine Datei im herkömmlichen Sinne. Hierbei handelte es sich um ein Zugangsportal für einen separaten Datenserver. Irgendjemand in der Abteilung hatte wohl aus Bequemlichkeit diese Verknüpfung hierher verlegt, um schnell auf separat abgelegte Dateien zugreifen zu können. Leider blieb dieses Portal für Kenya verschlossen, da eine genetische Zugangskontrolle nur ausgesuchten Mitgliedern der FFK den Zugriff gewährte. Offenbar gab es noch Erkenntnisse, die nicht für herkömmlichen Mitarbeiter der FFK vorgesehen waren. Diese verbotene Frucht wirkte verlockend auf Kenya und als sie sich die ersten Möglichkeiten überlegte das Schloss doch noch zu überwinden, betrat Ko den Raum und forderte sie auf ihn in den Konferenzraum zu begleiten.

Auf einen Schlag waren die verborgenen Cree-Informationen aus ihrem Verstand verschwunden. Ihre volle Konzentration galt jetzt den wenigen Schritten in den benachbarten Raum. Sie konnte es nicht vermeiden, das sich ihr verselbständigter Geist verschiedene Szenarien ausdachte und diese in übertriebener Weise als Schauspiel präsentierte. Erst als sie durch die Tür schritt, beherrschte sie das Chaos in ihrem Kopf und als erste notwendige Maßnahme musterte sie die einzelnen Gesichter der Ratsmitglieder.

Latress hatte ihre Fassade komplett neu hergerichtet und die Perfektion mit der sie ihre Unterkühlung an den Tag legte, ließ Kenya daran zweifeln, ob sie es jemals geschafft hatte überhaupt irgendwelche Risse zu verursachen. Hagen der zweite Wackelkandidat saß in seiner gewohnt professionellen Haltung in der Mitte und schied damit als Stimmungsbarometer ebenfalls aus. Als nächstes musste Chan herhalten, dessen gespielte Arroganz und Großmannsucht in seiner Intensität meist durch Erfolg oder Misserfolg variierte. Dummerweise war dieses Mal gar nichts zu erkennen, was entweder auf eine totale Niederlage hinwies oder tatsächlich so was wie routiniertes Auftreten zu offiziellen Anlässen erkennen ließ. Da sie auch keinen Frust oder Wut ausmachen konnte, war sein Verhalten zu zwiespältig für eine sichere Prognose. Egal. In wenigen Momenten würde sich alles auflösen.

"Ergebnis zur Abstimmung über eine Revision zu Beschluss 22.2." verkündete der Protokollant und machte eine ungewöhnlich lange Pause.

"Der ehrenwerte Rat hat mit einer Mehrheit von 4 zu 1 entschieden, dass die Revision zu Beschluss 22.2 angenommen wird." In Kenya arbeitete es. Dieses Behördengewäsch musste sie erstmal übersetzen. Sie hatte gewonnen und das sogar überzeugender als erwartet.

"Damit wird Beschluss 22.2. nicht umgesetzt und wird in den Protokollen als ungültig geführt." bestätigte der Protokollant ihre Schlussfolgerung.

"Ja." frohlockte Kenya und ballte die Faust. Den missbilligenden Blick des Protokollanten ignorierte sie. Wieder musterte sie die Gesichter der einzelnen Ratsmitglieder, aber immer noch ließ sich keine wirkliche Reaktion daraus erkennen. Sie hatte eine Stimme mehr als benötigt und diese Abweichung vom eigentlich erwarteten Ergebnis ließ den Triumph zu einem kurzen Strohfeuer verkommen. Chan oder Castill hatten ihre Meinung geändert und da ihre ausgearbeiteten Profile dieses Verhalten als eigentlich unmöglich einstuften, musste sie sich dahingehend entweder geirrt haben oder in den letzten Tagen gab es ein Ereignis, dass einen von beiden veranlasste die Invasion von Cree nicht mehr zu unterstützen. Da letzteres wahrscheinlicher war, wuchs ihr Misstrauen. Irgendwas passte hier nicht zusammen. Wenn das Ergebnis am Ende doch so eindeutig ausfiel, warum zum Teufel brauchten sie dann länger als veranschlagt für die Beratung darüber?

"Gratulation." sagte Ko trocken, als sie wieder vor der Tür des Konferenzraums standen.

"Danke, aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass diese Revision auch ohne meinen Vortrag bestätigt worden wäre. Hat Chan seine Meinung geändert? Warum?" fragte sie Ko unumwunden. Damit konnte sie seine Beherrschung nicht erschüttern und das kurze Zucken der Schultern verriet, dass er entweder keine Kenntnisse über den Sinneswandel hatte oder er nicht gewillt war darauf zu antworten. Ohne eine Antwort ließ er sie einfach stehen und obwohl Kenya ihre Interessen durchsetzen konnte, war ihr nicht nach Feiern zu Mute.

Sie begab sich in ihr Quartier und die wirren Gedanken in ihrem Kopf zwangen sie zu der schon am Morgen ersehnten Meditation. Eine halbe Stunde benötigte sie, dann war ihr Geist wieder geordnet. Sie bat Ko um einen Termin bei Chan, aber die nächsten Wochen konnte oder wollte er sie nicht empfangen, also versuchte sie ihr Glück bei Latress, aber auch hier gab man ihr zu verstehen, dass kein Interesse an einem persönlichem Treffen bestand. Mit diesen Absagen wurde ihr plötzlich unwichtiges Dasein bestätigt. Politisch war sie zu einem Niemand geworden also musste sie ein wissenschaftliches Pfand einsetzen.

"Sagen Sie Latress, dass ich bereit bin ihr nähere Informationen über die weiterentwickelte Nanotechnologie der Cree zur Verfügung zu stellen." Der Bildschirm in ihrem Quartier zierte das Gesicht jener Sekretärin, die es damals wagte das sterile weiß des Vorzimmers mit einer Rose zu kontaminieren. Kenya musste schon alle Überredungskünste anwenden, um überhaupt einen Kommunikationskanal ins Vorzimmer der Leitung der wissenschaftlichen Abteilung zu bekommen.

"Tut mir Leid, aber es besteht kein Interesse an einem Treffen." erwiderte die Assistentin kurz.

"Was?" Kenya konnte es kaum glauben.

"Mädchen. Ich will ihnen Erkenntnisse zu einer der fortschrittlichsten Technologien liefern und Sie sagen es besteht kein Interesse daran." Etwas Hochmut schwang in Kenyas Stimme mit und schwächte ihre Verhandlungsposition.

"Es steht Ihnen frei ihr Anliegen als Verbesserungsvorschlag einzureichen. Eine Kommission wird dann beurteilen, ob es unserer Organisation in irgendeiner Form nutzen wird und sie dann dementsprechend mit einem finanziellen Bonus vergüten." erwiderte die Assistentin jetzt ihrerseits mit Hochmut. Kenya sah die Sinnlosigkeit ihrer Bemühungen ein und mit ordentlich Wut im Bauch beendete sie die Kommunikation. Jetzt hatte sie den Grund für die verlängerte Beratung bei der Abstimmung. Der Rat wusste einfach nicht, wie sie weiter mit ihr verfahren sollten und offensichtlich hatte man keine Übereinstimmung gefunden und so wurde sie temporär kalt gestellt. Sie versuchte auf die Datenbank der FFK zuzugreifen und tatsächlich wurde ihr der offizielle Zugang verweigert.

"Verdammt." fluchte sie. Zwei Minuten dauerte es, dann hatte sie die Sperre überwunden. Sie öffnete ihre persönliche Akte und tatsächlich hatte man ihren Aufenthalts-Status auf "geduldet unter verstärkter Beobachtung" geändert. Das bedeutete, dass sie das Exxon nicht verlassen konnte und der Aoc in ihrer Hand jeden Schiffskapitän dazu veranlasste jeglichen Versuch zu melden. Weiterhin wurde ihr Tracker jetzt persönlich von einem Mitglied der FFK überwacht, so dass jeder Schritt nun in Echtzeit nachvollzogen werden konnte. Nun war sie doch eine Gefangene, die zwar nicht hinter Gittern bei Brot und Wasser dahinschmachtete, sondern der ein gewisser Freiraum eingeräumt wurde.

Sie überlegte ob sie Ko kontaktieren sollte, aber vermutlich würde er sie genauso mit Floskeln hinhalten wie diese von falscher Zuvorkommenheit bornierte Sekretärin. Offensichtlich wurde bei der Abstimmung mehr Zeit damit verbracht ihre weitere Zukunft innerhalb der Science zu diskutieren, als das für und wieder einer Invasion abzuwägen. Immer noch waren ihr die Gründe für einen Meinungswechsel von Chan oder Castill unklar und sie widerstand der Versuchung sich ins FFK-Netzwerk zu hacken um nach Spuren zu suchen. Es wäre ein Leichtes für sie in das Netzwerk einzudringen, aber sie konnte nicht ausschließen dabei erwischt zu werden und am Ende doch noch bei karger Kost in einer Gefängniszelle zu verrotten. Also beschäftigte sie ihren Geist damit die einzelnen Argumente der Ratsmitglieder für ihren weiteren Verwendungszweck zu hinterfragen. Dieses Mal waren die Motive von Latress eindeutig. In irgendeiner Form sollte sie als wissenschaftliches Untersuchungsobjekt fungieren. Ob diese Funktion nun als Laborrate oder als Angestellter ausgefüllt werden sollte, traute sich Kenya nicht weiter zu hinterfragen. Deutlich unklarer waren Chans Motive, aber vielleicht wollte er sie wirklich nur als eine Art Doppelagentin, welche in der bevorstehenden Kontaktaufnahme mit den Cree als unschätzbarer Bonus ihm einige Vorteile einbringen würde. Sie war zum Streitobjekt der beiden Blöcke innerhalb der Cree verkommen und da man sich offensichtlich nicht einigen konnte, wurde sie vorerst als neutrales Objekt behandelt, dessen Eigentumsstatus noch geklärt werden musste.

Zur Untätigkeit verdammt gönnte sie sich einen halben Tag Muße. Ein guter Ausgleich zu der Anspannung der letzten Tage, aber schon am nächsten Mittag überkam sie die Langeweile und der Drang ihre Energie nutzbringend einsetzen zu müssen, ließ sich nicht länger ignorieren. Die ganze Situation erinnerte sie an den Hausarrest bei den Cree, bei dem sie sogar räumlich weitaus weniger Platz hatte. Das wirklich Furchtbare war die lähmende Apathie, die irgendwann die Seele ergriff und einen an den Rand des Wahnsinns führte. Auch hier ergriff sie dieses Gefühl und das obwohl ihr Gefängnis weitaus geräumiger war.

Sie brauchte also ein Ziel um ihren Geist nicht im Standby-Modus zu parken und so entsann sie einen Plan um unerkannt an die Datenbank der FFK zu gelangen. Vermutlich waren die gesuchten Daten zu elitär um sie im Netzwerk des Geheimdienstes relativ leicht aufzuspüren, aber sie erinnerte sich an die Verknüpfung im Geheimdienstbericht über die militärische Zuordnung der Cree. Das Portal zu einer Datenbank, die offensichtlich so wichtige Informationen enthielt, dass sie genetisch gesichert werden musste. Wenn sie Protokolle zu Ratssitzungen, Abstimmungen oder Diskussionen einsehen wollte, war das vermutlich der Ort an dem sie fündig wurde. Doch wie sollte sie Zugriff bekommen.

Den Geist zu beschäftigen, auch wenn das eigentliche Ziel scheinbar unmöglich erschien, tat ihr gut. Mehrere Strategien entwarf sie, aber die Erfolgswahrscheinlichkeit war jedes Mal zu ihren Ungunsten. Die Sperre zu überwinden ging nur mit Nanotechnologie oder mit einer genetischen kompatiblen Person. Sie verwarf sogar die erste Variante, denn die Science würde vermutlich Abwehrmaßnahmen gegen diese Art des Eindringens ergriffen haben. Ihr verbessertes Gehirn kam das erste Mal an seine Grenzen und nach zwei Wochen Abwägen aller Möglichkeiten musste sie einsehen, dass es für sie keine Möglichkeit gab dem Rätsel des Abstimmungsergebnisses oder die Diskussionen über ihre weitere Verwendung zu ergründen.

Sie erwachte eines Morgens und schon das Verhalten von Cat bewies, dass dieser Tag nicht wie jeder andere werden würde. Ihre Mitbewohnerin war selbst für ihre Verhältnisse aufgedrehter als üblich und als Kenya nach der Ursache fragte, erklärte sie mit ihrer typisch überschlagenden Stimme, dass es eine außerordentliche Pressekonferenz des Rates gab.

"Des gesamten Rates. Verstehst du? Wenn die alle geschlossen vor die Kamera treten, haben die wirklich was wichtiges zu verkünden."

"Die Cree." hauchte Kenya und erntete einen fragenden Blick.

"Sie haben wohl eine Entscheidung getroffen, wie sie mit den Cree weiter verfahren." schob sie hinterher. Kenya ließ sich jetzt von Cats Aufregung anstecken. Tatsächlich musste sie sich zwingen wieder normal zu atmen. Auf dem Bildschirm erschien das Gesicht einer Nachrichtensprecherin, die Vermutungen über den Inhalt in die Kamera äußerte.

"Bist du sicher? Sie sagt, dass ...." eine Fanfare unterbrach Cats Gedanken und der durchdringende Ton verkündete die Wichtigkeit des kommenden Programms. Wenige Sekunden später erfasste die Kamera tatsächlich das einträchtige Bild des versammelten Rates, das medienwirksam vor einem Wandbild stand, dass einen Kreis mit fünf Sternen auf schwarzen Grund zeigte.

Es folgten die üblichen Ankündigungsfloskeln des Ratssprechers, der mit seinem steifen Tonfall die Anspannung aller Zuhörer zu ersticken drohte. Nach gefühlten 1000 Hinweisen über den Verlauf der Pressekonferenz machte er endlich Platz für Hagen, der mit ernster Miene an das Mikro trat.

"Meine lieben Mitbürger, Angestellte und Besucher. Heute ist ein besonderer Tag in der Geschichte unserer Gesellschaft. Mit Stolz darf ich den Anbruch einer neuen Ära verkünden, die jeden von uns in ein Zeitalter voller Wohlstand und Zufriedenheit führen wird." begann Hagen seine Ansprache. Es folgten weitere heilsbringende Ankündigungen, welche mit zunehmender Auflistung ihre prophetische Wirkung verloren.

"Mach schon. Komm zum Punkt." drängelte Cat, als Hagen sich anschickte weitere Zukunftsvisionen vorherzusagen.

"Um das alles zu verwirklichen, verkünden wir eine neue strategische Partnerschaft." Hagen trat jetzt theatralisch einen Schritt zu Seite und da auch alle Ratsmitglieder in seinem Rücken es ihm gleich taten, entstand eine kleine Gasse an der sie Spalier für einen Ehrengast standen. Dieser nutzte den freigemachten Platz und betrat das Sichtfeld. Mit einer Anmut und einer Ausstrahlung, die jedem am Bildschirm in ehrfürchtiges Staunen versetzte, lief er an den Ratsmitgliedern vorbei und begrüßte sie herzlich, bis er neben Hagen stand. Freudig ergriff er dessen Hand und gemeinsam streckten sie die Arme in die Höhe.

"Der Liberator." hauchte Cat ehrfürchtig.

"Die Katze ist aus dem Sack." Kenya war trotz des Wissens über die Geheimverhandlungen überrascht.

"Mögen wir unsere Zukunft gemeinsam gestalten und die gesamte Menschheit in ein Zeitalter aus Frieden, Wohlstand und Einigkeit führen." verkündete er mit einer selbstsicheren Aura, die scheinbar aus unendlicher Zuversicht und grenzenlosem Optimismus bestand. Keine Frage. Die bloße Präsenz dieses Mannes konnte selbst manisch depressive ein zuversichtliches Lächeln abringen. Kenya fand es unglaublich, wie er die Ratsmitglieder allein mit seinem Auftreten zu unsicher wirkende Statisten degradierte. Vor der Kamera stand die personifizierte Hoffnung auf eine Zukunft, die nicht nur aus hohlen Phrasen bestand. Der Rat begab sich mit dieser Entscheidung auf dünnes Eis, denn alles was Kenya über den Liberator in Erfahrungen bringen konnte, deutete auf konträre Interessenlagen hin. Offenbar war eine Zusammenarbeit das geringste Übel für die Science, denn hier holte man sich einen vermeintlichen Partner ins Boot, der Massen nur auf Grund seiner Ausstrahlung in ungewünschte Bewegung setzen konnte.

"Interessant." kommentierte Kenya das Dargebotene.

"Das ist..." stotterte Cat. Sie hatte Tränen in den Augen.

"Das ist wunderbar." schaffte sie es doch noch den Satz zu vollenden.

Die Pressekonferenz ging weiter und obwohl die Aussagen über die Art der Zusammenarbeit eher schwammig daher kamen, gab es auch konkrete Aussagen, die darauf hindeuteten, dass die Science massive Einschnitte hinsichtlich intergalaktischer Angelegenheiten hinnehmen musste. Wenn Kenya das in heroischen Zukunftsvisionen versteckte Kleingedruckte richtig interpretierte, war die Science zum Beispiel zu unangenehmen Kompromissen in der Gestaltung von Handelsverträgen gezwungen. Die viel zitierte gerechte Vision des Liberators sah keine Bereicherung Weniger auf Kosten der Mehrheit vor und damit traf er eigentlich das Kernstück der Science, die versicherte im Namen der Menschlichkeit das Streben nach Profit einzuschränken.

"Ha." entfuhr es Kenya bei diesem Punkt, den Hagen mit schlecht gespielter humanitärer Miene verkündete. Offenbar hatte der Liberator es geschafft, dass der Rat gegen seine eigene Überzeugung handelte. Was immer auch in den Hinterzimmern der FFK untereinander ausgehandelt wurde, der Rat hatte deutliche Zugeständnisse machen müssen. Eine Kröte, die sie jetzt zähneknirschend schlucken mussten.

Zwei Stunden wurde über das historische Ereignis medial diskutiert und nachdem sich die Worte in unendlicher Wiederholung abnutzten, schaltete Kenya den Bildschirm ab.

"Hey." protestierte Cat. Kenya ignorierte ihren Einwand. Mehr denn je wollte sie die wahren Hintergründe der Vereinbarung ergründen, aber die Erfolglosigkeit der letzten Wochen frustrierte sie. In ihrer Verzweiflung meldete sie sich wieder illegal im Netzwerk der FFK an. Bis zu einem gewissen Punkt konnte sie unerkannt Daten abrufen, aber besondere Dateien waren mit Gewissheit abgesichert und würden unangenehme Konsequenzen für sie bedeuten, also beschränkte sie sich auf unverfängliche Informationen und tatsächlich wurde sie fündig. Ein Querverweis eines Transportauftrages erregte ihre Aufmerksamkeit. Es waren die Zielkoordinaten, welche eindeutig Cree zuzuordnen waren. Die Datei, welche Abflugzeit, Ladung und Schiffsname enthielt, lag zum öffnen vor ihr auf dem Bildschirm.

Wie Millionen andere Frachtpapiere schien auch dieses File unverfänglich. Einzig das Ziel machte es für Leute wie sie zur Verführung und die Wahrscheinlichkeit ungewollte Aufmerksamkeit zu erregen war hoch. Dieses Mal setzte sich die rationale Cree in ihr durch. Sie widerstand der Versuchung sich die Informationen zu besorgen und meldete sich ab.

Trotzdem nagte das Verlangen weiter an ihr und die Unruhe über das Auffinden der winzigen Brotkrumenspur konnte sie nicht vollends unterdrücken. Transporte nach Cree waren nichts Ungewöhnliches, auch wenn sie eher selten waren. Die Wahrscheinlichkeit, dass ausgerechnet dieser Auftrag mit den Cree im unterirdischen Habitat zu tun hatte war hoch, umso mehr spornte es sie an den eigentlichen Grund zu erfahren. Wieder vertraute sie auf ihr Improvisationstalent der menschlichen Seite als sie auf die Räumlichkeiten der FFK zusteuerte.

"Sie haben keine Zutrittsberechtigung." wurde sie von der Empfangsdame erwartungsgemäß abgewiesen.

"Ich muss mit Ko sprechen." forderte Kenya ohne Erfolg. Es folgten drei weitere Versuche, ohne das sich irgendetwas an der Einstellung ihrer Gegenüber änderte. Kenya musste ihre Strategie anpassen.

"Hören Sie. Ich will nur, dass Sie ihm diese Nummer übermitteln. Will er mich dann nicht sprechen, verziehe ich mich wieder. Ansonsten nerve ich Sie noch den ganzen Tag. Glauben Sie mir. Ich habe da viel Durchhaltewillen." Widerwillig nahm die Empfangsdame den Code des gefundenen Transportauftrages an und tippte ihn in ein Computerterminal. Sollte tatsächlich mehr als nur eine Ladung Nahrungsmittel hinter dem geplanten Transfer stecken, würde Ko jetzt ins Schwitzen kommen.

Es dauerte ein paar Minuten, bis ein leises Piepen auf dem Computerbildschirm die Antwort der gerade verschickten Nachricht verkündete.

"Und?" fragte Kenya ungeduldig.

"Sie werden abgeholt." bekam sie trotzig als Antwort. Keine zwei Minuten später erschien Ko, der sie missmutig in Empfang nahm.

"Gehen wir ein Stück." schlug er vor und gegen Kenyas Erwartung entfernten sie sich wieder von der FFK. Nachdem sie gebührend Abstand hatten, fuhr Ko sie an.

"Was soll das?"

"Das Ziel ist Cree." gab sie ihre einzige Information preis, die sie darüber wusste.

"Die Schiffe gehen Sie gar nichts an. Halten Sie sich daraus." forderte er sie auf. Volltreffer. Der Transport bestand also mehr, als aus nur einem Schiff. Aus Mangel an weiteren Informationen war Kenya gezwungen zu bluffen.

"Ich habe die Sache entschieden vorangetrieben. Ich will bei diesem Treffen dabei sein." forderte sie, obwohl ihr nicht mal ansatzweise klar war, worum es ging.

"Sie überschätzen ihre Wichtigkeit." verspottete sie Ko. Es war also was Offizielles.

"In Ihrem Interesse. Vergessen Sie das. Sie gelten für Teile des Rates als Sicherheitsrisiko. Halten Sie sich bedeckt oder Sie werden weggesperrt." drohte Ko. Das es tatsächlich so kritisch um sie stand war ihr nicht bewusst. Wenn Ko ihr Wissen über die Mission nach Cree melden würde, wäre sie vermutlich nicht mehr lange in Freiheit. Blieb die Hoffnung, dass das vermeintliche Sicherheitsleck auch auf ihn zurückfallen würde und er es mit der Meldepflicht nicht allzu genau nahm.

Sie hatte jetzt zwei neue Informationen und damit entsann sie eine Strategie um mehr über die Mission zu erfahren. Wichtig war der zeitliche Rahmen und da es um eine offizielle Angelegenheit ging, würden ein oder mehrere Ratsmitglieder mit auf die Reise gehen. Was sie also brauchte, war der Zugriff auf die Terminkalender. Chan genoss es in seiner Großmannsucht mit den Speichelleckern der hiesigen Elite die Abende in Restaurants zu verbringen, um die überlegende Rangordnung zur Schau zu stellen. Zu diesem Zweck stellte er den Sekretärinnen hochrangiger Beamter seinen privaten Terminkalender zur Verfügung, damit sie sich um die freien Abende regelrecht prügeln konnten. Es war für sie ein leichtes einen Zugang der öffentlichen Verwaltung von Sektor 22 zu simulieren um auf die Abendgestaltung von Chain zuzugreifen. Tatsächlich stand ein dreiwöchiger Block nicht für Termine zur Verfügung.

"Schon in vier Tagen." raunte Kenya. Jetzt glich sie den Zeitraum mit der Verfügbarkeit einzelner Schiffe ab und tatsächlich fand sie drei Schiffe, die genau für diese Spanne auf unbekannt gebucht waren. Sie war auf der richtigen Spur, denn es handelte sich ausschließlich um Personentransporter. Wenn es eine offizielle Mission war, warum wurde sie dann nicht öffentlich proklamiert und warum wurde sie nicht mit einbezogen? Wenn der Rat beschlossen hatte sie auf Grund verschiedener Interessenlagen vorerst zu ignorieren, musste sie sich anderweitig näher ans Geschehen bringen.

Der Bereich für die Unterbringung des Ehrengastes war weiträumig abgeriegelt und jeder Versuch irgendwie an den Soldaten vorbei zukommen würde ihr unweigerlich Ärger einbringen und ihre Möglichkeiten weiter einschränken. Jetzt, wo die Science beschlossen hatte ihre Kooperation mit dem Liberator öffentlich zu machen und die Cree nicht im Feuersturm zu verbrennen, wäre der nächste logische Schritt die drei Mächte zusammenzubringen um den viel gepriesenen Wohlstand auch wirklich zu realisieren. Die Wahrscheinlichkeit war hoch, dass der Liberator sich ebenfalls in wenigen Tagen Richtung Cree aufmachen würde und wenn schon die Science keinerlei Interesse an ihren Fähigkeiten hatte, würde er vielleicht auf ihre Erfahrungen zurückgreifen wollen. Ihr Plan war es eine Nachricht zu übermitteln, um eine Zusammenarbeit anzubieten. Das Problem bestand nicht darin diese Nachricht unbemerkt von der Science an den Empfänger zu bringen. Viel mehr Bestand die Gefahr, dass ihren Worten keinerlei Beachtung geschenkt wurde und die Nachricht ungelesen im Spamordner landete.

Sie durchforstete die Unterlagen, die Ko ihr zur Verfügung gestellt hatte und auf der Suche nach der ultimativen Aufmerksamkeit, die in eine Betreffzeile passte, wurde sie fündig bei der eigentlich nebensächlichen Tatsache, dass der Liberator eine Vorliebe für mediterranes Essen besaß. Diese vermutlich im Smalltalk erwähnte Vorliebe löste bei der FFK eine paranoide Suche über die Bedeutung des Wortes "mediterran" aus, aber trotz umfangreicher Datenbanken konnte keine wirkliche Erklärung gefunden werden und so landete das Wort als Randnotiz in den Gesprächsprotokollen. Für Kenya war es der ideale Ansatz um die gewünschte Aufmerksamkeit zu erregen.

"Einladung zum Informationsaustausch bei mediterranem Essen." Die eigentliche Nachricht enthielt den Treffpunkt und die Uhrzeit. Sie wollte damit keineswegs den Appetit des Liberators ansprechen. Allein die Tatsache, dass sie eigentlich persönliche Informationen über die wichtigste Person der Galaxie besaß, würde ihr hoffentlich das nötige Interesse einbringen.           

Am Abend begab sie sich in das von ihr erwählte Restaurant, welches natürlich keinerlei mediterrane Speisen auf der Karte hatte. Das privat geführte Lokal begnügte sich damit ein paar klägliche Eintöpfe anzubieten, deren Hauptbestandteile hauptsächlich aus Wasser und künstlichen Aromen bestanden. Das Ambiente unterschied sich nur in Nuancen vom herkömmlichen Design der Station, welches in diesem sterilen Charme aus Metallstreben im tristen grau überall anzufinden war. Lieblos aufgehängte Bilder sollten für Abwechslung sorgen, aber irgendwie hatten sie sich im Laufe der Jahre an die Tristes angepasst und verbreiteten eine depressive Grundstimmung. Dieser Gesamteindruck wurde perfektioniert durch das abgewetzte Mobiliar, dass scheinbar schon zu Zeiten der Vorfahren als Einrichtung diente und im grellen Licht all die Abnutzung dem Besucher förmlich aufdrängte. Trotz all dieser wenig einladenden Atmosphäre war das Lokal gut besucht und Kenya musste sich mit einem kleinen Tisch nahe der Küche zufrieden geben.

Sie hatte die Tür im Blick, um jeden Besucher als mögliche Antwort auf ihre Nachricht zu kontrollieren. Es benötigte nicht viel Kombinationsgabe um den hochgewachsenen und extrem gutaussehenden Gast als Erfolg ihrer Bemühungen einzuordnen. Allein die Kleidung verriet ihn als Auswärtigen und durch diese Abweichung von der weißen Norm zog er alle Blicke auf sich, was er offensichtlich zu genießen schien. Kenya erhob ihren Arm und winkte ihn heran. In diesem Augenblick, als ihm bewusst wurde mit wem er es zu tun hatte, änderte sich seine Ausstrahlung von abwartend auf flirtend. Kenya kannte diese Reaktion von ihrer Zeit auf Cayuse. Männer waren in diesem Zustand Wachs und der ließ sich beliebig formen. Gab es auf Cayuse dann meist ein paar Extrajetons, hoffte sie hier auf eine leichtere Informationsbeschaffung.

"Wie angenehm." begrüßte er sie ohne Scham. Kenya deutete auf den freien Stuhl, auf dem er sich auf elegante Weise niederließ.

"Kenya." stellte sie sich vor.

"Mario." Er rollte das r, was ihm auch sprachlich exotisch wirken ließ.

"Ich nehme an sie sind gekommen, um der geheimnisvollen Botschaft auf den Grund zu gehen." kam Kenya gleich zur Sache.

"Tatsächlich waren wir etwas verwirrt wie so wenige Worte so viel über ihn enthüllen, was nur Wenige wissen können." Jedes r von ihm klang wie die pure Verführung. Offenbar hatte er sich einen Akzent zugelegt, der sein perfektes Äußeres ideal ergänzte. Kenya musste zugeben, dass auch sie nicht ganz immun dagegen war.

"Ich muss mit ihm sprechen." forderte sie.

"Das geht leider nicht. Deswegen bin ich ja da." erwiderte er in balzendem Unterton.

"Ich bin eine Cree. Ich möchte meine Hilfe bei dem bevorstehenden Treffen anbieten." konfrontierte sie ihn.

"Sie scheinen eine Menge zu wissen."

"Leider immer noch zu wenig. Viele Sachen kann ich nur spekulieren. Ich vermute Sie sind zu ähnlichen Verhandlungen nach Cree unterwegs, wie Sie es hier auf dem Exxon getan haben."

"Es ist der nächste logische Schritt um die Galaxie zu einen."

"Dann könnte ich sehr hilfreich sein."

"Ihre Uniform verrät Sie als Angestellte der FFK. Ich glaube nicht, dass Sie eine Genehmigung dafür bekommen."

"Ich bin nur eine freie Beraterin. Hören Sie. Sie brauchen mich. Es war beeindruckend, wie der Liberator der Science ein Zugeständnis nach dem anderen abgerungen hat, aber die Cree sind anders. Sie lassen sich nicht durch ein strahlendes Auftreten überzeugen. Denen müssen Sie mit Argumenten kommen, sonst droht ihre Mission zu scheitern."

"Sie kennen doch gar nicht unsere Ziele der Mission."

"Wohlstand und Einigung der Galaxie." mutmaßte Kenya.

"Das ist der Zuckerguss mit dem alles zugekleistert wird, damit die Pille am Ende nicht ganz so unangenehm schmeckt. Glauben Sie die Science waren die Einzigen die Zugeständnisse machen mussten. Kompromisse sind für beide Seiten schmerzhaft."

"Die Cree waren Teil Ihrer bitteren Pille." schlussfolgerte Kenya. Offenbar hatte ihr Ko wesentliche Teile der Protokolle über die Verhandlungen zwischen Science und Liberator vorenthalten. Bisher hatte sie auf Grund der Zugeständnisse die Science als eindeutigen Verlierer gesehen, aber offenbar waren sie bereit über Jahre aufgebaute Privilegien aufzugeben. Ihr war vollkommen unklar welche Gegenleistung der Liberator dafür aufbringen musste. Nur eins war sicher. Es hatte mit den Cree zu tun.

"Was ist das wahre Ziel Ihrer Mission?" fragte sie Mario. Der lächelte wissend und ihr Verlangen nach Informationen ließ ihn wieder in den Flirtmodus wechseln. Er wollte mit ihr spielen, aber bevor er auch nur einer seiner Versuche starten konnte, betraten ein halbes Dutzend FFK-Mitarbeiter das Restaurant.

"Tut mir Leid, aber offenbar können wir unsere Unterhaltung nicht fortführen." sagte er bedauernd.

"Los. Sagen Sie es mir." forderte Kenya als der Trupp auf ihren Tisch zusteuerte.

"Was bringt es Ihnen jetzt noch. Ich fürchte Sie werden den Rest Ihres Lebens in einer Gefängniszelle verbringen." Kenya schaffte es nicht seinen Satz zu erwidern. Brutal wurde sie von ihrem Stuhl hochgerissen und mit dem Oberkörper auf den Tisch gepresst. Schmerz ergriff sie als ihre Arme auf den Rücken gedreht wurden, um ihr Handschellen anzulegen. Die Spitzel der FFK hatten schneller reagiert als ihr lieb war. Jetzt war sie eine Gefangene mit zugehörigem Gefängnis.  

 

  

 

 

 

Kapitel 7

 

"Nur du allein?" fragte Coen.

"Wir wissen Bescheid." antwortete David ruhig.

"Oliver?" David verweigerte eine Antwort.

"Ich musste es probieren." rechtfertigte sich Coen.

"Ich akzeptiere deine Entscheidung, aber genau diese Entscheidung war vorhersehbar. Ihr seid ein großes Sicherheitsrisiko."

"Ihr werdet uns alle töten?"

"Nein." antwortete er kurz.

"Gut. Was dann?"

"Wir sind noch am Überlegen." David schwieg kurz und fuhr dann fort.

"Ihr seid nur die erste Stufe eines langfristig angelegten Projekts."

"Ihr wollt alle zu Cree machen. Das ging doch schon mal schief."

"Eine bittere Erfahrung aus der Vergangenheit aus der wir gelernt haben. Die Menschen bleiben Menschen, aber sie werden unter unserer Führung stehen. Wir sehen diese Variante als bestes Szenario für die Galaxie."

"Da wird die Science aber was dagegen haben."

"Das ist korrekt. Sie werden uns angreifen."

"Ich kenne die Streitmacht der Science nicht, aber ihr habt nicht viel um euch zu wehren." In Coen sprang das überzüchtete Gehirn an.

"Es sei denn ihr habt uns falsche Daten gegeben. In diesem Fall würden sie auf einen übermächtigen Gegner treffen und gnadenlos vernichtet werden. Kenya ist eine Art Honigtopf."

"In den letzten zwei Jahren haben sich die Spionageaktionen der Science gegen uns mehr als verzehnfacht. Der Quantencomputer berechnet aus den vorliegenden Geheimdienstinformationen eine Wahrscheinlichkeit für einen Angriff in den nächsten zehn Jahren von 80%. Die Nachricht, dass wir wieder aktiv an der Umwandlung der Menschheit arbeiten, zwingt sie zum schnellen Handeln."

"Die wahre Stärke eurer Streitmacht ist der Science noch nicht bekannt. Kenya gibt ihnen das, was sie glauben zu wissen als Verifizierung. Sie denken sie haben leichtes Spiel, aber dabei laufen sie in eine Falle."

"Kein Geheimnis ist für ewig sicher. Auch die Science erkennt irgendwann unsere wahre militärische Stärke. Wir müssen sie zum Handeln zwingen bevor, sie ihre Fehleinschätzung bemerken."

"Wir als Experiment waren nur eine gut gemachte Falle für die Science?"

"Nein. Dafür war es zu unvorhersehbar. Erst mit euch beiden ergab sich die Möglichkeit die Science zum Angriff zu zwingen. Eure emotionsgeladene Beziehung musste nur in die passende Richtung gelenkt werden."

"Dann war der Hinweis auf eure Verteidigungsanlagen kein Vertrauensbeweis, sondern ein Schachzug in einem perfidem Spiel?" fragte Coen. David schwieg.

"Und jetzt?" fragte Coen.

"Ihr steht alle unter Arrest bis der Angriff vorbei ist." David bat ihm mit einer Geste sich von dem Frachter zu entfernen und ihm zu folgen.

"Was passiert mit Kenya?" fragte Coen als sie auf dem Weg zu seinem Quartier waren.

"Sie wird den von dir ersonnen Plan umsetzen. Ich persönlich werde ihr den Abfangjäger bereitstellen und auch die Information über den Kontaktmann zukommen lassen. Als lebendiger Nachweis für das Experiment und mit dem falschen Wissen über unsere Verteidigung rechnen wir mit einem Angriff der Science in den kommenden drei Monaten." David zögerte nicht ihm ihre Pläne offen zu legen.

Coen atmete tief durch als David hinter ihm die Tür zu seinem Quartier schloss. Er war aufgeregt, aber nicht weil sein ganzes Vorhaben gründlich daneben gegangen war oder weil er schon fast heimtückisch hintergangen wurde. Nein. Der eigentliche Grund lag in der Verwirrung, die ihn erfasst hatte, als sein logisch operierender Verstand ihm mitteilte, dass das eigentliche Ziel mit Mitteln erreicht wurde, die nicht nur ein Minimum an Aufwand für ihn bedeuteten, sondern auch eine Erfolgsbilanz von 100% aufwiesen. Trotz all der Niedertracht, die ihm David gerade offenbart hatte, nahmen die Dinge ihren erhofften Verlauf. Hatte er sich selber als rebellischer Verräter gesehen, der sich heldenmütig hinter seine Taten stellen würde und jeden einzelnen Schritt verteidigte, trübte die Erkenntnis als Majornette der Cree fungiert zu haben sein Triumph über den Erfolg. Sie hatten ihn ein weiteres Mal missbraucht und während er noch überlegte, ob Kenya jemals wirklich die Hinrichtung drohte, stieg doch die Wut in ihm auf. Sollte die Science erkennen, was ihnen da mit Kenya wirklich präsentiert wurde, wäre ihr Leben vermutlich auf der Stelle verwirkt. Dann wäre er am Ende doch noch gescheitert. Jetzt hatte er einen Ausgang der viel schlimmer war als Scheitern. Ungewissheit.

Genau diese Ungewissheit brachte ihn fast um den Verstand. Der logische Cree versuchte nicht einmal das Chaos in seinem Kopf zu bändigen und so überließ er schon aus Trotz der emotionalen Seite volle Entfaltungsfreiheit. Sorge, Wut und Scham die Niederträchtigkeit der Cree nicht erkannt zu haben, wechselten sich ab und versetzten ihn in ein lange unterdrücktes Gefühlschaos. Eine Zerrissenheit ergriff ihn, die ihn in einem Moment weinend in der Ecke seines Quartiers zusammenkauern ließ, während er fünf Minuten später ein Stuhl quer durch den Raum warf, um seine Aggressionen abzubauen. Die Verarbeitung seines Frustes sollte der menschliche Teil in ihm übernehmen, aber als sich zwei Tage später keinerlei Verbesserung seines Gemütszustandes einstellte, schob er all den emotionalen Ballast doch wieder hinter die Barriere. Die geistige Stabilität verlieh ihm endlich den klaren Kopf den er brauchte, auch wenn sich der Verdacht sich dem eigentlichen Problem feige entzogen zu haben, nicht ganz ausräumen ließ. Er verlangte ein weiteres Treffen mit David, aber zu seiner Überraschung besuchte ihn Oliver in seinem Arrest.

Wie immer verhielt er sich wortkarg und Coen versuchte anhand seiner Körpersprache zu ergründen, ob er es mit einem Verräter oder einem Leidensgenossen zu tun hatte, der wie er reingelegt wurde.

"Warum bist du hier?" fragte Coen nachdem er zu keinem endgültigen Urteil gelangt war. Oliver ging einen Schritt auf ihn zu, so als wolle er sich Vertrauen erkaufen, indem er die Distanz verringerte.

"Um dir zu zeigen, was nötig ist." antwortete er kryptisch.

"Du redest von Verrat?" Coen befand sich im rationalen Cree-Modus.

"Ich rede von Loyalität."

"Alles eine Frage der Sichtweise." 

"Nein. Alles eine Frage der Einstellung." Olivers Stimme erhob sich unmerklich.

"Ihr versteht es einfach nicht." fuhr er fort.

"Du und Kenya seid der Grund, warum die Cree uns abstoßen. Ihr seid das negative Extrem. Illoyal, rebellisch und ablehnend. Ich bin der Gegenpart. Der Teil ihres Experiments, der sie nicht sofort zwingt den Resetknopf zu drücken. Ohne mich wären wir alle schon längst tot. Sie sind Sklaven ihrer Logik und mein Verhalten bringt Variablen in ihr Denken, die euch vorerst das Leben sichern." erklärte er nicht frei von Emotionen.

"Dann sollen wir dir danken, dass du uns verraten hast?" fragte Coen sarkastisch.

"Ja. Ich bin der Grund, warum du in Arrest bist und nicht schon hingerichtet."

"Aber du bist einer von uns. Dir haben sie dasselbe angetan wie mir."

"Wir können es nicht rückgängig machen. Was uns bleibt, ist zu lernen damit zu leben. Ich bin immer noch einer von euch. Mein oberstes Ziel ist, dass wir alle überleben. Vielleicht tut sich deine menschliche Seite schwer damit, aber der Cree-Teil in dir wird mein Handeln verstehen." Oliver verließ sein Quartier und zurückblieb ein vollkommen verwirrter Coen. Noch nie war der innerliche Konflikt seiner zwiespältigen Persönlichkeit größer. Bisher gab es keine Argumente um Verrat zu rechtfertigen, aber Oliver hatte ihm in dieser verhassten Cree-Beweisführung eines besseren belehrt. Tatsächlich hatte er mit seiner Loyalität zu den Cree die Loyalität zu der Gruppe bewiesen. Doppelloyalität. Noch so etwas, was eigentlich gar nicht existieren durfte, aber im Scheinwerferlicht seines neuen Verstandes vollkommen schlüssig klang. Was hatte er auch geglaubt, welche Konsequenzen sein stümperhafter Befreiungsversuch haben würde. Natürlich hatte er den Rest der Gruppe gefährdet, nur um Kenyas Leben zu retten. Gab er dem Menschen Coen mit all seinen Gefühlen gegenüber Kenya zu viel Leine und zog er das Wohl Weniger dem der Mehrheit vor? Nein. Da war mehr als Egoismus. Immerhin drohte der ganzen Galaxie sein Schicksal. Aus dieser Sicht würde die Mehrheit wieder profitieren. Verdammt. Die Welt war so kompliziert geworden, wenn man anfing die Dinge bis zu ihrem Grundübel zu hinterfragen. Wo war der Coen geblieben, dessen schwierigste Entscheidung darin bestand, welche Beamtenlaufbahn er einschlagen würde? Dieser war vermutlich für immer verschwunden und Oliver hatte Recht. Er musste lernen mit seiner neuen Persönlichkeit zu leben, auch wenn sie ihn wie in diesem Moment drohte in den Wahnsinn abgleiten zu lassen.

Die Tage vergingen und vermutlich würde ein endgültiges Urteil über ihre Zukunft erst nach dem Angriff der Science gefällt werden. Coen fragte sich, wie groß die wahre Streitmacht der Cree wirklich war, aber da sie die Science förmlich zum Handeln provoziert hatten, mussten sie sich über den erfolgreichen Ausgang der Schlacht ziemlich sicher sein. Würde er es in seinem Quartier überhaupt mitbekommen, wenn dort draußen eine Gefecht toben würde. Vermutlich nicht und als die Tage scheinbar unendliche Länge annahmen, überraschte ihn David mit einem Besuch.

"Die Vorbereitungen sind abgeschlossen und wir haben eine Flotte feindlicher Schiffe geortet, die in Kürze hier eintreffen werden." erklärte er Coen nach einer kurzen Begrüßung.

"Warum erzählst du mir das?"

"Weil ihr als Beobachter teilnehmen werdet."

"Ihr gebt uns eine zweite Chance."

"Eine endgültige Entscheidung ist noch nicht getroffen worden, aber wir glauben, dass die kommenden Ereignisse eure Einstellung zu uns beeinflussen werden. Es herrscht nur eine gewisse Unklarheit darüber in welche Richtung." David forderte Coen auf ihm zu folgen und als dieser erstmals wieder andere Wände als die seines Quartiers erblickte, erfasste ihn ein trügerisches Gefühl von Freiheit. Egal welchen Verlauf sein zukünftiges Leben haben würde, vermutlich würde er nie wieder Herr über seinen Entscheidungen sein und so verdrängte er die falsche Euphorie. Gemeinsam mit David betrat er einen der größeren Räume im Hauptgebäude, wo er auf die anderen Neubewohner von Cree traf. Ein kurzen Moment der Erleichterung über die Unversehrtheit gönnte sich Coen, dann verdrängte er alle Emotionen und überließ der Logik sein Handeln. Ein großer Bildschirm wurde hereingebracht, welcher kurze Zeit später ein einsames kleines Raumschiff vor der planetaren Kulisse von Cree zeigte. Die Bühne für einen entscheidenden Wendepunkt der Menschheitsgeschichte war hergerichtet.   

Oliver erschien an seiner Seite und entgegen seiner üblichen Schweigsamkeit, fing er von sich an mit dem Reden.

"Sie hat es übrigens geschafft. Kenya meine ich. Ich habe das Raumschiff starten sehen."

"Der Teil eures Plans ist also aufgegangen."

"Wohl nicht ganz so wie geplant. Offensichtlich war sie eine Verfechterin für eine friedliche Lösung. Jedenfalls sagen das die Geheimdienstberichte." erklärte Oliver.

"Offensichtlich vergebens."

"Nein. Sie hatte die Science tatsächlich abhalten können einen Angriff zu starten." erklärte Oliver und verwirrte Coen.

"Was ist das dann für eine Flotte?"

"Die Cree vermuten, dass es der Liberator ist."

"Der Liberator? Wie passt der den da rein?"

"Es gibt wohl seit neustem eine Kooperation zwischen Liberator und Science. In welcher Form? Darüber herrscht vollkommene Unwissenheit und das macht die Cree nervös."

"Vielleicht ist das gar kein Angriff, sondern ein Friedensangebot."

"Unwahrscheinlich. Allerdings ist die Anzahl der Schiffe zu gering für einen wirklichen Angriff."

"Der Liberator ist auch nicht bekannt dafür sich Welten mit Gewalt zu erobern." erklärte Coen.

"Das ist wahr, aber er ist auch kein Heiliger, wie ihn die Galaxie verklärt. Er ist nur ein wahnsinnig guter Stratege, der seine Schachfiguren über die Jahrzehnte gut platziert hat. Die letzten Jahre fährt er die Ernte ein und schafft es meist durch Erpressung, dass sich die Welten ihm mehr oder weniger freiwillig anschließen."

"Wie?"

"Es ist eigentlich immer die selbe Strategie. Die einzelnen Welten schieben Unmengen an Schuldenbergen vor sich her. Wie heißt es so schön: Kontrolliere die Schulden und du kontrollierst die Regierungen. Der Liberator ist im Grunde genommen der Gläubiger der Galaxie und die einzelnen Welten müssen sich seinem Willen beugen. Stricke noch eine gute PR-Kampagne von einem mystischen und charismatischen Heiland drum herum und du hast die Massen als zusätzliches Pfand um die Regierenden zu Marionetten zu degradieren. Die Einzigen bei denen dass nicht funktioniert, sind die Science und die Cree. Die Science hat er mittlerweile auch in der Tasche, aber keiner hier weiß, welche Strategie er für die Cree plant. Deswegen sind alle sehr nervös. Nichts hassen die Cree mehr als die Abweichung von einem Ereignis, welches eigentlich mit hoher Wahrscheinlichkeit hätte eintreten sollen."

"Das macht ihnen bewusst, dass sie auch nicht unfehlbar sind." erwiderte Coen. Olivers Aufmerksamkeit richtete sich auf den Monitor. Die Kameradrohnen erfassten aus mehreren Winkeln kleine Raumschiffe, die sich dem Cree-Schiff näherten. Im Raum herrschte vollkommene Ruhe. Alle Blicke waren jetzt auf den Monitor gerichtet, der in achtfacher Unterteilung, die Aufnahmen der verschiedenen Drohnen lieferte.

Vier Schiffe zählte Coen, die sich seiner Meinung nach wenig bedrohlich vor dem Cree-Transporter positionierten. Zwei Minuten lang passierte gar nichts und als die Anspannung schon fast unerträglich wurde erschien auf der linken Hälfte des Monitors Vajas Gesicht, welches in seiner Gleichgültigkeit dem historischen Moment spottete.    

"Ich bin Vaja von den Cree. Warum sind Sie hier?" fragte sie brüsk, auf jedes diplomatische Geschick verzichtend. Es dauerte nur wenige Momente und auf der rechten Seite des Monitors erschien das unbekannte Gesicht eines Mannes.

"Mein Name ist Nataniel. Unterhändler und Weisungsbeauftragter des Liberators. Wir sind hier um offizielle Beitrittsgespräche mit Cree aufzunehmen. Sie sind kein offizieller Gesandter der Regierung, von daher sehen wir keine Notwendigkeit dieses Gespräch fortzuführen." Das Gesicht auf dem Monitor verschwand wieder und die Schiffe ignorierten ihr Cree-Pendant und steuerten auf den Raumhafen zu.

Vajas überraschter Gesichtsausdruck hatte schon etwas ironisches, als ihre Fassade aus Gleichgültigkeit dadurch erschüttert wurde, dass es jemand gewagt hatte ihr noch mehr Ignoranz und Herablassung entgegenzubringen, als es sie normalerweise bei ihren Gesprächspartnern praktizierte. Bevor weitere ungewohnte Emotionen den Weg in ihren Geist fanden, erlosch das Bild und die angespannte Ruhe im Raum schlug um in leises Gemurmel.

"Was war das denn?" kam es von Oliver neben ihm.

"Ein erbärmlicher historischer Moment." kommentierte Coen. David erschien und forderte alle auf sich wieder in ihr Quartier zu begeben. Auf den Weg dort hin versuchte Coen ihn über gezielt eingestreute Fragen einen Kommentar zu entlocken, aber offensichtlich hatte auch David nicht mit diesem Ausgang gerechnet, denn er verweigerte alle Antworten mit ungläubigem Schweigen.

Den kurzen Anfall von Erdrückung verscheuchte Coen, als er wieder in den vier Wänden seines Quartiers allein war. Obwohl der zurückliegende Moment höchstens eine Minute gedauert haben konnte, ging er ihm nicht aus dem Kopf und so hatten die trüben Gedanken weitere Wochen in diesem Gefängnis zu verbringen vorerst keine Chance. Die Vorstellung eines wegweisenden Ereignisses hatte in ihm die Zuversicht über eine positive Zukunft für die Menschheit hoffen lassen, aber ein hochnäsiger Diplomat schaffte es diese Vision mit ein paar wenigen Worten zu zerstören. Was zum Teufel passiert hier gerade? Es wurde notwendig die Fakten zu sortieren, um eine brauchbare Hypothese erstellen zu können.

Zum einen ignorierte der Liberator die wirkliche Großmacht auf Cree und stellte Kontakt zur Provinzregierung der Hauptstadt her, die zwar als offizielle Ordnungsmacht fungierte, aber über organisatorische Aufgaben wie Wasserversorgung oder die Farbe der Blumenbeete nicht hinaus kam. Ihr Einflussbereich endete an den Stadtgrenzen und selbst wenn der Liberator aus unerfindlichen Gründen den offiziellen Weg bevorzugte, war es unverständlich die Cree im Dschungel so zu brüskieren. Jedenfalls unverständlich, wenn friedliche Absichten vorlagen. Hier schlussfolgerte Coen seine erste Erkenntnis. Ein offizielles Abkommen war nicht erwünscht. Verdammt. Er besaß zu wenig Informationen über den Liberator und da ihm die Cree sämtliche Rechentechnik entzogen hatten, konnte er dieses Manko nicht ausgleichen. Die spärlichen Wortfetzen von Oliver ließen kein abschließendes Bild zu, aber offenbar handelte es sich um einen Strategen, der anhand von geschickten Zügen zum Erfolg kam. Ihm waren seine Interessen vollkommen unklar und die Vorstellung, dass auch die Cree gerade ihre Prognose auf unbekannt anpassen mussten, gab ihm ein klein wenig Genugtuung.   

Die viel besorgniserregendere Schlussfolgerung war der eigentliche Zeitpunkt. Nur wenige Wochen zuvor gab es dieses Abkommen und ausgerechnet jetzt rückte dieser provinziale Planet in den Focus des Liberators. Coen konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Erzfeind der Science als Verhandlungsmasse in diesem Abkommen eine nicht unwesentliche Rolle spielte. Im schlimmsten Fall gab es eine Vereinbarung, die den Liberator dazu zwang das Problem der Cree für immer zu lösen. Mit roher Gewalt schien er jedenfalls nicht vorzugehen und genau da durchkreuzte er die Pläne der Cree. 

Vier weitere Wochen vergingen und die Trostlosigkeit seines Quartiers hätte Coen ohne die Flucht in die Gleichgültigkeit eines Crees vermutlich in den Wahnsinn getrieben. Gegenüber Kenya, die wenigstens auf eine stattliche Ansammlung von Büchern zugreifen konnte, überließen ihn die Cree praktisch sich selbst. Das Einzige, was sie ihm zugestanden war ein wenig Literatur in unbekannter Sprache. Er konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie durch die Notwendigkeit der Unterdrückung sämtlicher Emotionen versuchten in ihm den Menschen Coen förmlich aushungern zulassen. Tatsächlich wagte er sich nicht vor die emotionale Barriere aus Angst den Wahnsinn auch nur anzufüttern und so blieb ihm nur die Meditation, die für einen stabilen Zustand seines Geistes sorgte. Abwechslung gönnte er sich nur in dem Ergründen der ausgestorbenen Sprache der Vorfahren, was ihm aufgrund der verbesserten kognitiven Leistungsfähigkeit unheimlich leicht fiel. In diese Routine aus Einsamkeit platzte David, der ihn gemeinsam mit den Anderen zu einer weiteren Lagebesprechung abholte. Die Cree testeten weiter ihr Verhalten, dass am Ende über ihr endgültiges Schicksal entscheiden würde.

"Wir brauchen eure Hilfe." eröffnete David die Runde, die dieses Mal in einem kleineren Konferenzraum stattfand, welcher durch die Enge eine trügerische Illusion von Zusammenhaltsgefühl erzeugte. Er war tatsächlich der einzige Cree in dem Raum und mit diesen Eröffnungsworten entblößte er ungewollt eine Verletzlichkeit, die jeglichen Anflug von Rebellion entschärfte.

"Was ist passiert?" fragte Coen und durchbrach die angespannte Neugierde.

"Die planetare Führung hat offizielle Beitrittsgespräche mit dem Liberator begonnen. Wir werden weiter ignoriert." erklärte er kurz.

"Kein gutes Zeichen." kam es irgendwo aus der Menge.

"Wir haben nicht genug Informationen um eine brauchbare Vorhersage zu treffen, aber die Wahrscheinlichkeit eines Konfliktes ist hoch. Die planetare Regierung hat dem Liberator erlaubt Truppen in der Hauptstadt zu stationieren."

"Bodentruppen? Wenn sie euch damit angreifen wollen, stehen eure Chancen schlecht." schlussfolgerte Coen.

"Einen Angriff würden wir vermutlich nur unter hohen Verlusten überleben. Die langfristigen Folgen würden unseren Untergang bedeuten." erklärte David.

"Eine Invasionsflotte hättet ihr locker abfangen können, aber mit dieser Guerilla-Taktik durch die Hintertür haben sie euch kalt erwischt."

"Wir haben unseren Gegner unterschätzt und dieses Szenario als unwahrscheinlich eingestuft. Tatsächlich besitzen wir keinerlei Überlegenheit mehr in dieser Art der Kriegsführung." David klang tatsächlich besorgt.

"Und wie können wir euch nun helfen?" fragte Coen.

"Wir sehen einen Präventivschlag als wirkungsvollste Gegenmaßnahme an." bestätigte David Coens Vermutung.

"Aber vielleicht ist es genau dass, was sie wollen. Sie zwingen euch dazu den ersten Schritt zu machen."

"Der Kontakt zu unseren Informanten in der Hauptstadt ist abgebrochen. Wir vermuten das Schlimmste. Diese Ungewissheit über die Ziele und die Anzahl der stationierten Soldaten verhindert vorerst unsere Pläne."

"Und wir sollen euch diese Informationen liefern?" fragte Coen. David nickte.

"Wir würden es ja selber tun, aber unser Verhalten würde uns enttarnen."

"Das kostet euch was."

"Wir bieten euch ..." Coen unterbrach ihn.

"Die freie Entscheidung unseres Schicksals. Nicht weniger als die Entscheidungsfreiheit ist unser Preis." Damit setzte Coen wohl höher an, als David bereit war zuzugestehen. Dieser hatte das garantierte Überleben als Verhandlungsmasse geplant, aber Coen überrumpelte ihn. 

"Einverstanden." gab er sich geschlagen.

"Heute morgen ist ein Exson angekommen und hat jede Menge Besucher aus der Galaxie mitgebracht." begann David seinen Plan zu erklären.

"Damit fallt ihr als Fremde nicht auf. Wir brauchen einen Überblick, wie viele Soldaten bereits in der Stadt sind. Wenn ihr es schafft die wahren Absichten der Stationierung herauszubekommen, wäre das hilfreich, aber ihr solltet die Risiken nicht unterschätzen. Wichtig ist vor allen die Truppenstärke." fuhr er fort.

"In zwei Stunden werden wir dich und Athena in der Nähe der Hauptstadt absetzen. Wenn jemand fragt: Ihr seid ein Ehepaar von Lassik, dass nach neuen Anbaukulturen für ihre Heimat sucht." David drückte ihm zwei elektronische Aufenthaltsgenehmigungen in die Hand, wo vermutlich genau diese Daten hinterlegt waren.

"In zwei Stunden schon." erwiderte Coen verblüfft.

"Wir dürfen keine Zeit verlieren. Wöchentlich kommen mehr Soldaten in die Stadt."

"Wie soll euer Erstschlag überhaupt aussehen?" fragte er David, aber dieser wollte nicht antworten.

Coen kehrte zurück in sein Quartier. Die Freude diese verdammten Wände wenigstens in den nächsten Tagen nicht sehen zu müssen wollte sich nicht so recht einstellen. Er wurde auf eine Spionagemission geschickt und das für ein Volk, zu dem er gelinde gesagt eine zwiespältige Einstellung besaß. Immerhin hatte er sein eigenes Überleben und das seiner Kameraden gesichert. Sollten die Cree ihr Wort halten, wäre sogar die Freiheit möglich. Das David sich auf diesen Handel einließ, verdeutlichte die Verzweiflung der Cree, die offensichtlich durch diese Art des Angriffs mit dem Rücken zur Wand standen. Sie hatten sich in ihrer logischen Arroganz ordentlich verzockt und nun stand das Überleben der kompletten Gesellschaft auf dem Spiel.

Ihm wurde normale Alltagskleidung zur Verfügung gestellt und den ungewohnten Stoff an sich zu sehen, versetzte ihn in ungewollte Aufregung. Seit Wochen war er in diesem Quartier eingesperrt und es gab Tage, da bestand seine Kommunikation ausschließlich in einem "Danke" bei der Essensübergabe. Soziale Kontakte waren schon in einem normalen Cree-Alltag spärlich, aber die Isolation hatten sie vollständig verkümmern lassen. Jetzt wurde er ins kalte Wasser einer von Menschen überfüllten Stadt geworfen und er zweifelte, dass er diesen mentalen Turbo auf Anhieb kontrollieren konnte. Wenigstens würde er dieses Abenteuer nicht allein angehen, aber er befürchtete, dass Athena ähnlich unsicher agieren würde.

"Hallo." begrüßte er sie, als sie am Raumhafen den kleinen Flugtransporter betraten, der sie in tiefem Flug knapp über den riesigen Baumwipfeln unerkannt in der Nähe der Stadt absetzen sollte. Bisher beschränkte sich sein Verhältnis zu ihr auf wenige kurze Gespräche zur Erläuterung von kniffligen Gegebenheiten der zahlreich angesammelten Technik. Er kannte in groben Zügen ihren bisherigen Lebenslauf, der ein trostloses Dasein auf Lassik beinhaltete. Eine Welt voller Regen, Kälte und unnatürlicher Schwerkraft, die diesen Planeten zu keinem lebenswerten Ort machten. Obwohl Cree dagegen als wahres Paradies wirkte, zweifelte auch sie an der vorherrschenden Gesellschaftsform. Vermutlich schwankte sie ebenfalls zwischen moralischen Ansprüchen und der verführerischen Einfachheit der Cree-Logik. Dieser Widerspruch war ihr auch optisch anzusehen, denn sie widersetzte sich dem Gebot der Einheitsfrisur, indem sie ihren wilden Locken auf dem Kopf ungezügeltes Wachstum erlaubte. In den Alltagssachen offenbarte sie eine herbe Attraktivität, die sie zwar schon auf Grund ihres ausgeprägten Nackens chancenlos in einem Schönheitswettbewerb machte, aber dieses gewisse Etwas erzeugte, dass sich nur auf den zweiten Blick zeigte. Vor allen Dingen ihre dunklen Augen, welche das Exotische ihrer schwarzen Haut verstärkten, konnten einem Mann im zweiten Anlauf doch noch den Verstand kosten.

"Hallo." erwiderte sie unsicher. Coen ergriff ihre Hand und drückte sie in der Hoffnung eine ordentliche Portion Zuversicht zu übertragen.

"Wir schaffen das." sagte er vertrauensvoll und ein zaghaftes Lächeln verriet seinen Erfolg. Mit einfachen Worten weihte er sie in seinen Plan ein, der in einfachstem Fall kaum schwerwiegende Aktionen erforderte. Die Tatsache, dass Soldaten gerne trinken, würde sie in die gut besuchten Bars der Stadt führen und mit ein wenig Glück trafen sie auf einen prahlenden Infanteristen, der ihnen großmäulig die Pläne offenbarte. Sollte dieser wirkliche Glücksfall ausbleiben, hatte er Alternativen parat, die er vorerst für sich behielt, denn eine dieser Alternativen konnte ausschließlich von Frauen umgesetzt werden und noch wollte er Athena nicht verunsichern. Sie war clever genug, Flirten als mögliche Informationsbeschaffung nicht selbst zu erkennen, aber trotzdem blieb Plan B vorerst unausgesprochen.

Der Transporter setzte sie eine halbe Stunde Fußmarsch entfernt vor der Stadt ab. Es war bereits dunkel und das unbekannte Gelände erschwerte das Vorankommen, aber als sie die ersten spärlichen Lichter der Häuser sahen, waren sie erleichtert sich nicht verirrt zu haben. Eine zugewucherte Strasse diente ihnen als Orientierung und führte sie näher an die Behausungen, die ungewöhnlich still als begrenzende Bauwerke des Stadtrandes dienten. Die verfallende Fassade wirkte in der kläglichen Beleuchtung eher abschreckend und Coen hoffte für das Wohlergehen der Bewohner, dass sich die eigentliche Bausubstanz in deutlich besserem Zustand befand. Sie folgten weiter dem Verlauf der Strasse und obwohl sie sich dem Zentrum relativ rasch näherten, blieb die Anzahl der Einwohner im öffentlichen Raum überschaubar.     

Wie schon bei Kenyas Flucht sollte das "Bayreuth" als erster Anlaufpunkt dienen. Die schäbigste Absteige auf dieser Welt war wie geschaffen für Soldaten um den geringen Sold in möglichst viel Alkohol umzusetzen. Tatsächlich war die Spelunke kaum zu verfehlen, denn mit jedem Schritt näher stieg der Geräuschpegel. Offenbar hatten einige der Gäste, die durch ihre Uniformen unverkennbar als Fußtruppen des Liberators erkennbar waren, ihre Feier an die frische Luft verlegt.   

Alkoholgeschwängerte Wortfetzen drangen an ihr Ohr und obwohl die Worte schwer verständlich waren, ließ der aggressive Tonfall darauf schließen, dass Schimpfwörter im Übermaß gebraucht wurden. Coen erkannte Angst in Athenas Gesicht und so ergriff er erneut ihre Hand.

"Ich schaffe das schon." versicherte sie und riss sich los um einen Schritt auf die uniformierte Menge zuzugehen.

"Hey Chica." kam es aus der Ansammlung betrunkener Soldaten und irgendwo ertönte eine kurze Pfeifmelodie, die vermutlich überall in der Galaxis als Signal für die Anwesenheit attraktiver Frauen stand. Sämtliche Augenpaare waren jetzt auf Athena gerichtet, die mit einem schüchternen Lächeln langsam aber zielstrebig auf die Eingangstür des "Bayreuth" zusteuerte. Wie auf einem Laufsteg wurde jeder ihrer Schritte beobachtet und erst als sich hinter ihr die Tür schloss, setzten die Gespräche wieder ein, welche in ein von zu viel Alkohol verzerrtes Grundrauschen übergingen. Es war nun an Coen die Menge zu passieren und wenig überraschend ging die erzeugte Aufmerksamkeit gegen null. Schon fast unbeobachtet folgte er Athena in die Bar, die auf Grund der stattlichen Ansammlung an Soldaten, die in ihren grünen und blauen Uniformen das triste grau der Einrichtung förmlich verschluckten, bedrückend eng wirkte. Das extreme Gegenteil zu der distanzierten Lebensweise der Cree war der erste Baustein für eine Panikattacke, aber noch behielt Coen die Beherrschung. Ein tiefer Atemzug sollte als Entspannung dienen, aber als er das Gemisch aus Tabakqualm, Schweiß und irgendwas Süßlichem in sich aufsog, bereute er umgehend diesen Versuch zur Entspannung.

"Es stinkt fürchterlich." schrie Athena gegen den Lärm an, der hauptsächlich aus gefühlten tausenden Unterhaltungen bestand, die von rockiger Musik unterlegt zu einem Schwall aus unerträglichem Trubel verschmolzen. Sie wagten ein paar Schritte auf den Tresen zu, bis die Menge so dicht wurde, dass sie ohne Berührungen nicht mehr vorankamen. Vereinzelt erkannte Coen auch einheimische Frauen in der Menge, die vermutlich aus Neugierde auf die fremden Soldaten mutig genug waren, sich dem Überhang an Männern zu stellen.

"Was jetzt?" fragte Athena. Coen zögerte für einen Moment.

"Luft anhalten." schlug er vor und fing an die Menge vorsichtig zu teilen. Tatsächlich wurde ihm bereitwillig Platz eingeräumt und so schlug er sich eine Schneise bis zum Tresen, in deren Fahrwasser ihm Athena folgte. Dort hatten sie wieder etwas mehr Freiheit und das Zittern seiner Begleiterin, spiegelte seinen eigenen Gefühlszustand wieder. Diese engen Kontakte mit vollkommen Fremden überforderten die von Cree geprägte Distanz zu anderen Menschen.   

"Was wollt ihr?" wurden sie rüde vom Wirt angefahren, der es offensichtlich nicht gewohnt war, dass seine Bar von so vielen Trinkfreudigen förmlich überrannt wurde.

"Ein Wasser." antwortete Coen und erzeugte blankes Entsetzen im Gesicht des Wirtes.

"Schnulleralarm." brüllte jemand in seinem Rücken und schaffte es tatsächlich mit diesem absurden Wort den Lärm zu übertönen. Plötzlich war Coen der Mittelpunkt des "Bayreuth". Ein zustimmendes "Hey" aus tausend Kehlen erschütterte den Raum. Eine schwankende Gestalt erschien an Coens Seite und begann lallend mit einer Erklärung.

"Dritte Hausregel. Wer außerhalb zur halben oder vollen Stunde was alkoholfreies bestellt, muss eine Saalrunde geben."

"Es ist die vierte Regel." wurde er ebenso sprachlich unsicher von seinem Kumpanen verbessert.

"Was ist dann die dritte Regel?"

"Verdammt wen interessiert das. Hauptsache es gibt Alk." Diese stotternde Konversation hätte was Belustigendes an sich haben können, wenn ihre Konsequenz nicht eine Unmenge an teuren Alkohol wäre. Bevor Coen protestieren konnte, fing der Wirt schon an die Gläser zu füllen.

"Ich fürchte ich habe nicht genug Geld dabei." offenbarte er sein Dilemma dem Wirt.

"Dann bleibt nur der Tisch." er deutete auf einen unscheinbaren Tisch, der trotz der Menge unbesetzt war.

"Du kannst um die Rechnung trinken, wenn du jemanden findest, der bereit ist gegen dich anzutreten. Gewinnst du, bezahlt er die Rechnung. Verlierst du, wird es umso teurer. Einfach hinsetzen." erklärte der Wirt.

"Ich könnte zurück und von den Cree ausreichend Jetons holen." schlug Athena vor.

"Nein. Das ist unsere Chance unverfänglich Kontakt mit den Soldaten aufzubauen."

"Das ist Wahnsinn." erwiderte sie. Coen schaute sich in der Menge um. Euphorisch wurde ihm zugeprostet und einen gewissen Spot konnte er in dem einen oder anderen Gesicht erkennen. Sein Blick blieb an einem Tisch in der Ecke hängen, der ausschließlich von blauen Uniformen besetzt war. Nicht nur modisch unterschieden sich die Soldaten von ihren grölenden Kameraden in grün. Die Haut war bleicher und die eher zurückhaltende Art des Alkoholkonsums, ließ auf höhere Offiziersgrade schließen.

"Lassen sich die auch herausfordern?" fragte Coen den Wirt.

"Das bezweifle ich. Den Großkotz in der Mitte nennen sie Cahn. Muss wohl ein höheres Tier von denen sein, aber so richtig Respekt zeigt eigentlich auch keiner. Keine Ahnung in welcher Beziehung die hier zueinander stehen. Was ist nun? Tisch oder zahlen?"

"Tisch." Coen bahnte sich einen Weg durch die Menge auf das verlassene Möbelstück zu. Selbstsicher nahm er auf einem der Stühle Platz. Jubel ergriff die Menge und alles schien sich um ihn zu versammeln, aber noch gab es keinen Gegner, der bereit war sich dem Trinkspiel zu stellen.

"Marvin. Marvin. Marvin." erschallte es aufordernd im Chor der Soldaten und tatsächlich spuckte die Menge einen Hünen aus, der schon auf Grund seiner muskulösen Erscheinung einschüchternd wirkte. Begleitet von anfeuerndem Jubel nahm er Coen gegenüber Platz.

"Ich habe zwar schon mehr Alkohol als Blut in den Adern, aber dich halbes Hemd trinke ich noch locker unter den Tisch." Unter frenetischem Jubel klatschte er mit seinen Kameraden ab.

"Nicht reden. Trinken." forderte Coen auf und erntete ein langgezogenes "Huuuuh". Der Wirt erschien mit einer Flasche Hochprozentigem und zwei Schnapsgläsern. Sofort fing Marvin an die Gläser zu füllen.

"Los gehts." leerte er das erste Glas. Coen tat es ihm gleich und schüttelte sich vor Ekel. Was immer da auch aufgetischt wurde, er würde schon Probleme haben das zweite Glas hinter zu bekommen. Unter reichlich Spott der Menge stellte er das Glas zum erneuten Befüllen auf den Tisch. Er suchte Athena in der Menge, aber die war verschwunden. Vermutlich schätzte sie seine Siegeschancen ähnlich gering ein wie er selbst und war bereits auf den Weg um Jetons zu besorgen. Es war egal. Dieses Besäufnis war die ideale Gelegenheit um an Informationen zu gelangen. Marvin verschüttete ein paar Tropfen beim Nachschütten.

"Ich hoffe du bist mit der Waffe zielsicherer als mit der Flasche." nutze Coen die Möglichkeit den Fokus auf das Militärische zu lenken.

"Die paar Waldbewohner erledige ich auch im Vollrausch." fing er an zu prahlen.

"Die wollt ihr erledigen? Die sind doch harmlos." streute Coen so gleichgütig wie möglich ein.

"Scheiße, wen interessiert es. Am Ende machen wir einen Haken dran und nennen sie Terroristen. So machen wir es doch immer. Wer nicht mitspielen will. Puff." Marvin setzte den Zeigefinger an die Stirn und drückte ab.

"So und nicht anders." bestätigten seine umstehenden Kameraden. Coen schaute sich erneut um und tatsächlich erblickte er Athena, die am Tisch der blau uniformierten Soldaten saß und sich offenbar mit Cahn unterhielt. Was ging hier vor? Athena hätte doch nie von alleine den Kontakt aufgebaut, also musste Cahn das Gespräch gesucht haben. Unruhe machte sich in Coen breit. Waren sie als Spitzel aufgeflogen? Unmöglich. Vielleicht hatte Athena eine Art sexuelle Anziehungskraft auf den Offizier ausgeübt und dieser versuchte jetzt sein Glück, aber die Körpersprache deutete nicht auf Balzverhalten hin.

"Deine Kleine wird dir wohl untreu." feixte Marvin als Coen den Blick zu lange in die Richtung von Athena lenkte.

"Was sind das für Typen? Gehören die zu euch?" fragte Coen.

"Pah. Das sind nur Beobachter." Er betonte das letzte Wort als würde er es selber nicht glauben.

"Was beobachten sie denn?"

"Im Moment deine Frau." Für diesen Witz klatschte er gleich mehrfach mit seinen grölenden Kameraden ab.

"Trinken wir jetzt oder tratschen wir weiter über Ehefrauen." erwiderte Coen gereizt und nahm freiwillig den nächsten Schluck des widerlichen Gebräus. Marvin zog mit und weitere fünf Mal wiederholten sie unter heftigen Ansporn der umstehenden Soldaten das Ritual. Gerade als Coen glaubte das veränderte Gehirn hätte ihn auch immun gegen die Nebenwirkungen des Alkoholkonsums gemacht, belehrte ihn sein Körper eines Besseren. Von einem Moment auf den Anderen wurde ihm schwindelig und sein Magen machte ihm unmissverständlich klar, dass kein weiterer Nachschub erwünscht war. Seine Gedankenwelt ähnelte einem chaotischen Tanz von Irrlichtern und während er im letzten klaren Moment bei einer Prüfung seines Gegenübers feststellte, dass hundert weitere Flaschen Marvin vermutlich nicht zum Aufgeben zwingen würden, veranlasste irgendwas in seinem Inneren ihn dazu aufzustehen.

"Hey. Wenn du diesen Tisch verlässt hast du verloren." Marvins Worte konnten nicht mehr so wirklich verarbeitet werden und als er Richtung Toilette taumelte, brüllte der halbe Saal vor Stolz auf ihren Kameraden.

Viel Inhalt gab er der Toilettenschüssel nicht, als der Schwall Flüssigkeit seine Speiseröhre emporgeschossen kam. Es war fast nur Wasser und noch nicht verarbeitete Reste dieses widerlichen Selbstgebrannten, der aus irgendeiner eingeschleppten Pflanze destilliert wurde. Immerhin gab es ihm teilweise Kontrolle über seine Körperfunktionen zurück. Er wusste, dass in naher Zukunft der Kopfschmerz das alles beherrschende Gefühl in seinem Inneren sein würde, aber noch blieb ihm diese Pein erspart. Diesen engen Spielraum musste er nutzen, um erstens Athena zu diesem mysteriösen Treffen zu befragen und zweitens vielleicht doch noch ein paar Informationen aus den Soldaten zu bekommen. Er betrat wieder den Schankraum, der irgendwie verändert wirkte. Der Nebel in seinem Gehirn verhinderte eine Schlussfolgerung, was ihn hier irritierte. Dieser verdammte Alkohol beeinflusste seine Wahrnehmung. Er steuerte auf den Tisch zu, an dem er Cahn und Athena zuletzt gesehen hatte, aber jetzt wurde der belagert von einem halben Dutzend Soldaten in grünen Uniformen. Plötzlich wurde ihm bewusst worauf sein vernebelter Geist ansprang. Er ließ seinen Blick schweifen und tatsächlich bestätigte sich seine Erkenntnis.

Offenbar war er der Einzige, dem auffiel, dass sämtliche blaue Uniformen verschwunden waren. Kein Grund zur Besorgnis sagte er sich immer wieder, aber auch von Athena war nichts zu sehen. Das konnte unmöglich Zufall sein und die Tatsache das der Cree-Teil in ihm einen Alarm nach dem Anderen schickte ließ ihn unruhig werden. Offenbar liefen die Recheneinheiten hinter der Dunstglocke aus Alkohol bereits auf Hochtouren und die schickten eine hohe Wahrscheinlichkeit in seinen betäubten Verstand, dass irgendwas Schlimmes im Anmarsch war. Eine böse Vorahnung, die mathematisch begründet war. Handeln war jetzt angesagt und aus Mangel an Informationen wandte er sich an den Wirt.

"Ich habe meine Frau verloren." kam es etwas unsicher.

"Sie können meine dafür haben." scherzte er um gleich wieder Ernst zu werden.

"Aber vorher bezahlen Sie die Rechnung." In Coen schrillten die Alarmglocken immer lauter. Er schloss die Augen um die Konzentration auf die Unruhe in seinem Inneren zu stärken. Verdammt noch mal, da kam immer noch keine brauchbare Erklärung durch das alkoholische Gedankenchaos. Er steuerte wieder auf die Toiletten zu, aber dieses Mal war die Damentoilette sein Ziel. Ungeniert öffnete er die Tür und fand in einer der Boxen seine vermeintliche Ehefrau. Bewusstlos hatte sie irgendjemand dort abgeladen.

"Hey." schüttelte er sie sanft und tatsächlich kam sie nach kurzer Zeit zu sich. Die Nanotechnologie in ihr ließ keine längere Ohnmacht zu. Sichtlich benommen fing sie an sich zu entschuldigen.

"Tut mir Leid. Wir sind aufgeflogen." sagte sie leise.

"Kein Problem." versuchte Coen sie zu beruhigen. Offenbar hatten sie nicht die unverfängliche Ausstrahlung, die David von ihnen erwartet hatte, denn der Cree in ihnen verriet sie schon nach wenigen Minuten. Warum zum Teufel schmorten sie dann nicht schon längst in einem Verhörraum? Wieder diese Unruhe, die langsam in einen Fluchtreflex überging. Irgendetwas stimmte nicht an ihrer Situation. 

"Wir müssen hier raus." Coen half Athena auf die Beine und stützte sie, während sie zurück in die eigentliche Bar gingen. Sie begannen gerade sich einen Weg durch die olivgrüne Masse zu bahnen als der Wirt sie zurückhielt.

"Hey. Vergesst ihr nicht etwas?" Seine Stimme hatte einen drohenden Unterton. Coen wollte zu einer Erklärung ansetzen, als die Menge im Chor ein einzelnes Wort melodisch anstimmte.

"Aufmachen. Aufmachen. Aufmachen." skandierten sie. Das veranlasste den Wirt seine Prioritäten zu ändern.

"Die Ausgangstür kann nicht verschlossen sein. Ich bin der Einzige der einen Schlüssel für das Schloss hat." versuchte er die aufgebrachte Menge zu beruhigen. Offenbar klemmte die Tür ins Freie. Nein. Sie klemmte nicht. Irgendjemand hatte sie von außen verriegelt. Jemand in blauer Uniform. Diese Schlussfolgerung versetzte Coen in Panik. Was immer auch die Ursache für seine Unruhe war, es steuerte auf sein Finale zu. Ein verhängnisvolles Finale.

Immer noch tat sich Coen schwer seine Gedanken zu ordnen. Nur eins war klar. Selbst wenn der Wirt es schaffen würde die Ausgangstür umgehend zu öffnen, würden sie eine Ewigkeit brauchen, um sich einen Weg durch die Menge zu bahnen. Soviel Zeit hatten sie vermutlich nicht mehr, also mussten sie einen anderen Weg finden hier schleunigst rauszukommen. Die Hintertür. Einen Versuch wert, aber sicherlich auch verriegelt. Sie saßen in der Falle.

"Die Kanalisation." hauchte Athena erschöpft. Coen wollte es schon als wirres Gefasel abtun, als sie weitere Erklärungen nachschob.

"Im Raum am Ende des Ganges gibt es einen Zugang zur Kanalisation." Coen zögerte nicht lange und gemeinsam begaben sie sich hinter die Theke. Ein Gang führte in den Privatbereich des Wirtes und da dieser mit der Öffnung der Eingangstür beschäftigt war, konnten sie unerkannt in die eigentlich verbotene Umgebung eindringen.

"Wo?" fragte Coen als sie in der Tür standen und der Zugang nicht sofort ersichtlich war.

"So genau hat es Oliver nicht beschrieben." seufzte Athena. Panikschreie ertönten aus dem Schankraum und setzen Adrenalin in Coen frei. Endlich lichtete sich der Nebel in seinem Gehirn und seine Kombinationsgabe konnte sich jetzt frei entfalten. Die Logik verhalf ihm den Zugang im Boden zu finden und nachdem sie Tisch und Teppich beseitigt hatten, öffneten sie die in den Boden eingelassene Klappe und stiegen in die Kanalisation ab. Über ihnen herrschte das Chaos. Die Panikschreie wurden weniger, dafür gab es jetzt ein Gemisch aus Röcheln und Grunzen.  

"Was ist passiert?" fragte Coen Athena, die jetzt langsam wieder ihren Normalzustand erreichte.

"Als du dich an diesem Tisch betrunken hast, kamen diese Soldaten auf mich zu und zwangen mich zu einem Kerl namens Cahn."

"Was wollte er?"

"Das war seltsam. Er faselte was von einem entscheidendem Augenblick, zeigte mir einen metallischen Behälter und spendierte mir ein Getränk. Danach kam ich in der Damentoilette wieder zu mir." erklärte sie.

"Hast du den Behälter berührt?" Athena nickte.

"Fingerabdrücke." kombinierte Coen. Der Trubel über ihnen flaute weiter ab und ging langsam in gespenstische Stille über. Weitere fünf Minuten später herrschte vollkommene Stille. Offenbar hauchten dort oben alle ihren letzten Atemzug aus.

"Dieser Behälter enthielt vermutlich ein tödliches Gas." schlussfolgerte Coen.

"Ein Anschlag. Und ich soll die Schuld dafür bekommen. Warum ich?"

"Ich weiß es nicht." gab Coen unumwunden zu. Der Gestank aus Abwassern nötigte sie dazu sich in Bewegung zu setzen und nach zehn Minuten ekligen Watens in undefinierter Brühe verließen sie die Kanalisation im Zentrum. Sie brauchten eine Weile sich zu orientieren, aber eine halbe Stunde später fanden sie sich an der verabredeten Abholstelle ein. Eingehüllt in eine Wolke aus Fäkalien wurden sie sofort zu David gebracht, der sie umgehend befragte.    

Athena wiederholte ihre Geschichte und David saugte die einzelnen Informationen in sich auf. Mit geschlossenen Augen folgte er den Ausführungen und nur gelegentlich stellte er kurze Zwischenfragen, welche eine von ihm bereits favorisierte Schlussfolgerung bestätigten. Coen konnte sich täuschen, aber nachdem David alle Fakten dargelegt wurden, glaubte er ein kurzes Lächeln zu erkennen.

"Offenbar ist die neu geschmiedete Allianz gegen uns nicht so verlässlich wie wir befürchtet haben." erklärte er kryptisch.

"Die blauen Uniformen. Das waren die Science." kombinierte Athena.

"Korrekt." bestätigte David.

"Aber sie haben den Anschlag durchgeführt. Warum?" fragte Coen.

"Warten wir die nächsten Tage ab. Wenn sich bestätigen sollte, was ich vermute, hat sich mit dem heutigen Abend alles grundlegend geändert." Mehr war David nicht bereit zu erklären. Coen musste wieder in die Enge seines Quartiers zurück und nach einer halben Stunde Mediation versuchte er seine eigenen Schlüsse aus dem Erlebten zu ziehen.

"False flag" war der passende militärische Begriff für die Ereignisse im "Bayreuth". Eine heimtückische Aktion, die fälschlicherweise einem viel zu passiv agierendem Gegner unterstellt wird, um einen Erstschlag zu rechtfertigen. Doch hier passte es nicht so richtig, denn normalerweise wurde dieses Mittel nicht als erste Option eingesetzt und schon gar nicht mit dieser enormen Anzahl an eigenen Verlusten. Die Verluste waren das entscheidende Kriterium, an dem Coen sich störte. Es hatte ausschließlich die Soldaten des Liberators getroffen, was vermuten ließ, dass dieser Anschlag in Eigenverantwortung der Science durchgeführt wurde. Aber wieso und warum zu diesem Zeitpunkt? Die Cree hatten ja bereits eigene Pläne für reale Anschläge. David hatte Recht. Offenbar stand der vor kurzem geschlossene Pakt zwischen Science und Liberator auf wackligen Füßen. Ohne genaue Kenntnisse dieser Vereinbarung waren die Absichten schwer zu ergründen. Sichtlich unbefriedigt keine endgültigen Antworten zu finden, begab sich Coen in die Regenerationsphase.

Neben dem eigentlichen Frühstück erhielt Coen am nächsten Morgen zusätzlich ein elektronisches Pad, auf dem die regionalen Nachrichten der Hauptstadt in elektronischer Form gesammelt wurden. Wie nicht anders zu erwarten beherrschte der Anschlag im "Bayreuth" die Schlagzeilen. Die Opferzahlen variierten, aber in Allem waren sich alle einig. Der überwiegende Teil der Toten bestand aus Soldaten der stationierten Truppen und so brauchte es nicht viel Kombinationsgabe, dass der Giftgasanschlag ein terroristischer Anschlag von Gegnern der Beitrittsverhandlungen war. Auch wenn über die Hintermänner noch keine konkreten Informationen vorlagen, gab es erste Andeutungen über die seltsame Gemeinschaft im Dschungel, die auf Grund ihrer unklaren technischen Ausstattung schon des Öfteren für wilde Spekulationen sorgte. Für viele Bewohner der Hauptstadt waren sie harmlose Spinner, die sich der Esoterik ergaben und nur in Einklang mit der Natur leben wollten. Doch gab es immer wieder Andeutungen, dass diese technische Zurückhaltung nur als Feigenblatt für eigentliche Überlegenheit diente. Vermutlich würde es nicht lange dauern und die Zeitungen würden überquellen mit wüsten Theorien über die Cree. Dezent würde sich der Fokus mehr und mehr dahingehend verschieben, bis es nur noch eine logische Schlussfolgerung geben würde. Athenas Fingerabdrücke wären vermutlich der Katalysator und wenn dann irgendwie die Verbindung zu den Cree konstruiert wurde, gab es keine Zweifel mehr an den Schuldigen. Ein einfacher Plan, der mit dem unerwarteten Überleben von Athena zwar mehr Kreativität erforderte, aber trotzdem kein anderes Ende zuließ. Der Zweck dahinter war immer noch unklar, aber vermutlich müsste er einfach nur jeden Morgen die Nachrichten verfolgen, dann würde sich die wahre Absicht irgendwann offenbaren.

Tatsächlich bekam er jetzt jeden Morgen die neusten Nachrichten bereitgestellt und wie erwartet drehte die Stimmung mehr und mehr zu Ungunsten der Bruderschaft. Diese Bezeichnung wurde eines Tages wie auf Absprache von allen Zeitungen übernommen und verschaffte den Cree die notwendige Verschlagenheit. Existierten am Anfang noch Artikel, die eine Schuld der harmlosen Waldbewohner anzweifelten, gerieten diese eher ausgewogenen Artikel mehr und mehr in den Hintergrund. Wilde Spekulationen zierten jetzt die Deckblätter der Zeitungen und irgendwann tat es Coen nicht gut diese frei interpretierten Geschichten über das Zusammenleben der Cree auch nur zu lesen. Journalisten, welche vermutlich nie die schützenden Mauern der Stadt verlassen hatten, fühlten sich ermutigt über die geheimnisvollen Beziehungen zwischen Waldbewohnern und Tierwelt zu schreiben, natürlich immer auf Berufung von Experten, die ihrerseits auch nur ihr Wissen aus Büchern erlangten. Als die Absurditäten der hiesigen Presse die Vorarbeit der Schuldfrage ausgiebig vorbereitet hatten, legten die ermittelten Behörden endlich den längst überfälligen Beweis der Fingerabdrücke vor.

Die zugehörige Leiche fehlte erwartungsgemäß, aber weitere Nachforschungen wiesen eindeutig auf die esoterische Bruderschaft im Dschungel hin. Auf Nachfrage wie diese Nachweise konkret aussahen, verwiesen die Ermittler auf einen auswärtigen Geheimdienst, dessen geheime Identität mit Bekanntgabe der Beweise gefährdet wäre. Eine Versicherung, dass alles genau geprüft wurde müsse reichen und das jetzt ein weiteres Vorgehen mit dem Liberator abgesprochen wurde. Die Schuld war zweifelsfrei bewiesen und tatsächlich nahmen die Ereignisse ihren vorgeschriebenen Verlauf. Bis dahin ging Coens Prophezeiung auf, aber ab dem heutigen Tag zeigte seine Glaskugel wieder nur das Testbild. Er musste unbedingt mit David sprechen, um sein Informationsdefizit auszugleichen.

Dieser verweigerte ihm vorerst ein Treffen und so bleib ihm nur der morgendliche Erguss aus den Zeitungen. Aus Mangel an Substantiellem wurde das Thema mit Meinungen und Kommentare lokaler Intellektueller weiter angefüttert. Offenbar wurde bei der Auswahl sehr darauf geachtet das Narrativ der hundertprozentigen Schuldfrage nicht in Frage zu stellen, denn tatsächlich wurde sich nur über die Gründe ausgelassen, die in einer so schrecklichen Tat mündeten. Vermeintliche Streitgespräche mit intellektuellem Anstrich prangerten zwei Wochen lang von den Titelseiten, bis endlich wieder was von Bedeutung dieses unsägliche Gewäsch ablöste.

Die Nachricht, dass der Bürgermeister dem Liberator volle Befugnisse auf dem Planeten einräumte, ging fast unter, denn der Stadtbevölkerung sollte die praktische Übernahme der Verwaltung in einem kurzen aber schmerzlosem Nebensatz so knapp wie möglich mitgeteilt werden. So war es nicht verwunderlich, dass fast im selben Atemzug die rigorose Ausmerzung der terroristischen Keimzelle im Dschungel alles andere überlagerte. Von Erleichterung war die Rede und die Zustimmung der heimischen Bevölkerung für das entschlossene Vorgehen war laut lokaler Presse überwältigend. Jetzt offenbarte sich Coen endlich der ganze Sinn des Ganzen, aber zur Bestätigung musste er unbedingt mit David sprechen.

"Sie laufen in eine Falle." eröffnete Coen das Gespräch.

"Eine Falle, die wir nicht für sie gestellt haben." erwiderte David.

"Die euch aber gelegen kommt."

"Dieser Ausgang der Ereignisse ist unerwartet."

"Die Science zieht an euren Strippen und an den Strippen des Liberators. Sie kennen eure wahre Streitmacht und vermutlich die von euch gestellte Falle. Nur nutzen sie die Gegebenheiten und schicken ihren Widersacher in das vorbereitete Unglück."

"Sie haben die Wahl sich einem ihrer Feinde zu entledigen. Wir als Cree sind wohl das geringere Übel. Ein Bodenangriff hätte uns früher oder später unsere Existenz gekostet. Mit dem Anschlag haben sie nicht nur das notwendige Übel einer Konfrontation beschleunigt, sie haben dem Liberator seiner wichtigsten Waffe beraubt. Für einen effizienten Angriff muss er frische Bodentruppen stationieren."

"Da jetzt offiziell verkündet wurde uns zu vernichten, kam das praktisch einer Kriegserklärung gleich."

"Ein geschickter Schachzug der Science. Sie zwingt den Liberator zum Handeln und wir können Maßnahmen ergreifen und es als Verteidigung verkaufen."

"Aber die Cree sind doch schon als Giftgasmordende Terroristen den ersten Schritt gegangen."

"Die öffentliche Meinung ist manipuliert worden. Nach der Vernichtung des Liberators wird sie korrigiert werden."

"Und ihr glaubt der Liberator wird persönlich hier auftauchen?"

"Wir glauben, dass es ein entscheidender Teil des Plans der Science ist. Wir werden die gesendeten Truppentransporter noch vor der Landung zerstören. Danach wird er gezwungen sein, seine Invasionsflotte zu schicken, die auf vermeintlich geringen Widerstand stößt."

"So muss es nicht enden. Ihr könnt mit Diplomatie ein Blutbad verhindern."

"Ich werde dir ein Dozier über den Liberator zukommen lassen. Danach wirst du einsehen, dass Diplomatie keine Lösung ist."

"Mit der Science ist er doch auch übereingekommen."

"Mit uns als Preis. Wir haben die Situation gründlich analysiert. Die Konfrontation mit dem Liberator ist unvermeidbar." David hatte dieses Mal überhaupt keine Zweifel. In dieser unbestechlichen Logik hatten die Cree nach Vorlage aller Informationen die Möglichkeiten abgewogen und vermutlich mit einem Punktesystem bewertet. Am Ende stand eine überwältigende Mehrheit für die kriegerische Auseinandersetzung. Es war nicht die Zeit für Worte. Die Cree zogen in die Schlacht.

Wie versprochen bekam Coen die taktische Einordnung der anderen großen Macht in der Galaxie, die für ihn immer etwas Heroisches besaß. Schon als Kind wuchs er mit den Geschichten über den Liberator auf, die jetzt mit dem klaren Verstand der Cree mehr Legenden als historischen Begebenheiten glichen. Der Heilsbringer der Galaxie brachte die Hoffnung auf den vergangenen Wohlstand der Menschheit zurück und das ohne die Durchsetzung von Gewalt. Dieses Meisterwerk der Geschichte einte die meisten Welten und zwangsläufig kollidierte diese Ausdehnung seines Einflusses mit den Interessen der Science. Die Vorgehensweise war trotz des Ausbleibens von Gewalt nicht immer so pazifistisch wie es am Ende die Historiker darstellten. Das Verschwinden von unliebsamen Skeptikern der neuen Gesellschaftsordnung war ein wiederkehrender Aspekt bei den glorreichen Beitritten der einzelnen Welten. Das Erpressungspotential der herrschenden Regierungen war so enorm, dass der Liberator mit seinem Gespür für politische Intrigen meist leichtes Spiel hatte. Wie schon von Oliver angekündigt, ging es meist über die Verschuldung und wenn diese nicht ausreichte wurden politische Marionetten installiert, welche im Sog einer ausgeklügelten PR-Kampagne den heroischen Nährboden für einen Beitritt vorbereiteten. Manchmal dauerte es bis zu zwei Jahre bis die jeweilige Strategie aufging, aber die Geduld des Liberators war legendär. So wuchs der auf dem Papier gleichberechtigte Verbund von Welten stetig an und selbst die Science profitierte von Handelsprivilegien oder von bisher unerschlossenen Märkten. Mit jeder neuen Welt viel auch ein Kuchenstück für sie ab und so entwickelte sich die Menschheit zu einer Gesellschaft voller Gewinner. Dieser paradiesische Zustand schien an seine Grenzen gekommen zu sein, denn dieses Aufblühen der Zivilisation stand jetzt kurz vor dem Ende. Statt eines neuen historischen Momentes drohte der erneute Zusammenbruch.

Es blieb die Frage nach dem warum? Dieses Bündnis aus allgemeinen Gewinn und Zufriedenheit schien nicht mehr zu reichen und es war vollkommen unklar, wieso die einzelnen Parteien den eigentlich erfolgreich eingeschlagenen Weg nicht weitergehen wollten. Waren die Cree der Störfaktor mit ihrem Bestreben nach der Veränderung des menschlichen Wesens? Durchaus möglich. Aber warum bündelten sie dann nicht die Kräfte um sich gemeinsam der Bedrohung aus dem Dschungel zu stellen? Es musste etwas Anderes dahinter stecken, aber die Daten gaben nicht mehr her.

Schon zwei Tage später überschlugen sich die Nachrichten hinsichtlich der gescheiterten Erweiterung der Stationierung der Truppen des Liberators. Gab es am Anfang noch Spekulationen über den Verbleib des Nachschubes wurde es schnell zur Gewissheit, dass eine gezielte terroristische Aktion die Truppentransporter hinderte auf Cree zu landen. Ein feiger Angriff durch ein paar gekaperte Abfangjäger zwang die Flotte zur Umkehr und jeder Journalist war sich sicher, dass nun die geballte Streitkraft dem Treiben im Dschungel ein Ende machen würde. Die nächsten Tage waren die Seiten voll von Ratschlägen, wie die Bevölkerung in der Hauptstadt die Säuberungsaktion am besten überstehen würde. Zufluchtsräume wurden eingerichtet, Notversorgungen angelegt und der Ausnahmezustand ausgerufen. Die Sorge über Anschläge in der Stadt füllte die Titelseiten der Presse und die Artikel überschlugen sich in Spekulationen über die Nachwirkungen der kommenden Ereignisse. Nur eins stand wohl unwiderruflich fest. Der Liberator würde als strahlender Gewinner die Siegesrede halten. Ein Umstand auf den Coen nicht unbedingt wetten würde.

David berief sie eines Morgens in den Versammlungsraum. Ein zuverlässiges Zeichen, dass die Ereignisse in Gang kamen. Kurz erklärte er die Situation und obwohl sich jeder Cree mit einer gewissen Gleichgültigkeit umgab konnte David seine Nervosität nicht vollständig verstecken.

"Irgendwas stimmt nicht." bemerkte Coen als er David unter vier Augen sprechen konnte.

"Das ist korrekt." bestätigte David. Coen ließ ihm einen Moment, dann fuhr er von sich aus fort.

"Wie du weißt entwerfen wir immer Modelle und selbst das pessimistischste Szenario endet mit einer Gewinnwahrscheinlichkeit von über 90%. Die Angreifer haben eigentlich keine Möglichkeit uns zu besiegen." Die Zweifel konnte er nicht vollkommen unterdrücken.

"Du klingst nicht ganz so optimistisch."

"Modelle sind immer nur so aussagekräftig, wie die Zuverlässigkeit ihrer Eingangsparameter mit denen sie gespeist werden. Meines Erachtens haben wir bei mindestens zwei Punkten eine falsche Bewertung vorgenommen." erklärte er.

"Zum einen unterschätzen wir die Kampferfahrung unseres Gegners. Der viel wichtigere Aspekt ist allerdings die Unvorhersehbarkeit der Emotionen. Meiner Meinung nach sind Moral, Loyalität aber auch Verzweiflung wichtige Komponenten der Kriegsführung und können einem Feind ungeahnte Fähigkeiten verleihen. In unseren Berechnungen haben wir diese Punkte vollkommen außer Acht gelassen, da wir sie nicht quantifizieren können. Meines Erachtens ein Fehler. Nicht für die anderen Cree. Ihre Arroganz weigert sich diesen Aspekt mit einzubeziehen." erklärte David unruhig.

"Ich könnte euch mit diesen Punkten helfen." schlug Coen vor.

"Der Punkt ist. Sie wollen es nicht hören. Ich habe eine bessere Idee." David machte eine Pause, um die Worte besser vorbringen zu können.

"Du wirst Teil unserer Abwehrstrategie." sagte er dann doch sehr kryptisch.

"Wie du weißt, koordinieren wir unsere Aktionen mit Hilfe des Quantencomputers. Er ist ein nützliches Hilfsmittel, aber auch er ist geprägt von technischer Logik. Seine Wahrscheinlichkeiten variieren nur unwesentlich von uns rational denkenden Cree."

"Du willst, dass ich die KI mit meinen Emotionen kontaminiere?" fragte Coen unsicher.

"Nein. Das wäre unklug. Die KI berechnet in Nanosekunden die Auswirkungen von uns entworfener Strategien und Taktiken. Wir legen anhand dieser Ergebnisse unsere weiteren Maßnahmen fest. Angriffsmanöver, Ausweichen oder Rückzug. Diese Berechnungen haben die gleichen Defizite wie unsere Modelle. Ihnen fehlt die emotionale Komponente des Gegners. Dafür brauchen wir dich."

"Ich müsste vermutlich wochenlang trainieren, um überhaupt eine Glühlampe an einem Abfangjäger zum Leuchten zu bringen." warf Coen ein.

"Du wirst auch nicht aktiv die Technik steuern. Deine Rolle ist die des Beobachters, der Unvorhergesehenes erkennt und uns zwingt unsere Entscheidungen anzupassen." erklärte David.

"Selbst wenn deine Leute mich als Beobachter mit einbeziehen, werden sie niemals auf mich hören." äußerte Coen weitere Bedenken.

"Das müssen sie auch nicht, denn ich bin die zentrale Schnittstelle. Sozusagen das Oberkommando. Die Koordination der gesamten Abwehr. Alles muss über meinen Kopf und ich habe die Möglichkeit für ein abschließendes Veto. Ich brauche dich, als mein Auge für die Dinge dort draußen auf dem Schlachtfeld, die uns Anderen verborgen bleiben."

"Ich bin kein Soldat." äußerte Coen seine Zweifel.

"Das sind wir alle nicht, aber die Cree müssen überleben."

"Um dann als Sieger die Menschheit nach euren Vorstellungen zu formen?"

"Die Logik bestimmt diesen Plan, aber wie auch die Abwehrstrategie lässt sie wesentliche Punkte außer Acht. Wenn du uns aufzeigen kannst, dass wir nicht fehlerfrei sind mit unserer Logik, kommen vielleicht auch die Bedenken an diesem Unterfangen." erklärte David.

"Du meinst ich könnte sie mit meiner Hilfe davon abhalten?"

"Du könntest wenigstens Zweifel wecken."

David ließ ihm ein paar Stunden Bedenkzeit, aber Coen hatte seine Entscheidung bereits beim Verlassen des Raumes getroffen. Er nutzte die ihm eingeräumte Zeit, um seine Gedanken zu ordnen und die intuitive Eingebung mit Fakten zu bestätigen. Der wesentlichste Aspekt war sicherlich die Tatsache, dass er trotz seiner schon was schizophrenen Persönlichkeit, für den Rest der Menschheit dort draußen ein hundertprozentiger Cree war. Damit blieb ihm nicht mal die Neutralität und sollte Davids Ahnung über den Verlauf der Schlacht im schlimmsten Szenario enden, dann würden sie ihn mit all den anderen Cree als Terroristen der Bruderschaft des Dschungels hinrichten. Ihm kam das Bild von Marvin in den Sinn, wie er sich den Finger an die Stirn setzte und unter grölendem Jubel abdrückte. Die ganze Galaxie würde aufatmen, wenn die Bedrohung beseitigt wäre. Für einen Moment meldete sich seine menschliche Seite, die genau diese Variante favorisierte. Der Menschheit würde eine Versklavung durch Logik erspart bleiben, aber was wäre die Alternative. Die Herrschaft einer Organisation, welche einen Genozid als probates Mittel anwandte. David hatte Recht. Seine Hilfe konnte den Weg zu einer Alternative ebnen. Vielleicht war das ihre Bestimmung Menschen und Cree mit einem Kompromiss zu einen.

Es ging unmittelbar an die praktische Umsetzung, als Coen seine Zustimmung zur Verteidigung mitteilte. Gemeinsam mit David betrat er die "diosa sublime" und in kurzen Anweisungen wurde ihm die Funktionsweise der Liegen erklärt. Im Grunde war es nichts weiter als eine Schnittstelle zwischen seinen Nanobots, dem Verteidigungssystem und dem Quantencomputer. Gefüttert wurde er aus hochkalorischen Plastikbeuteln, die ihm intravenös zugeführt wurden. Das Verarbeiten der Informationen, das Treffen der Entscheidungen und die Koordinierung der einzelnen Abwehrmaßnahmen beschleunigten den Stoffwechsel auf gefühlte Lichtgeschwindigkeit und verbrauchte Unmengen an Energie. Selbst ein gestählter Verstand der Cree würde das nicht ewig aushalten und so gab es alle zwei Stunden ein starkes Aufputschmittel gegen die Erschöpfung, welches sehr unangenehme Nebenwirkungen hervorrief, die wiederum durch die Heiler-Bots korrigiert wurden.

"Bereit?" fragte ihn David, als er alles Wesentliche erklärt hatte. Coen nickte, aber ein gewisses Unbehagen konnte er nicht leugnen. Anstatt ihm diese Angst zu nehmen, befeuerte David sie noch.

"Am Anfang wird dich die Informationsflut förmlich erschlagen. Alles dort draußen, was einen aktiven Sensor besitzt, sendet dir permanent Signale. Es ist an dir diese Flut zu ordnen. In der Regel braucht man zwei Wochen um zu lernen wie man das Chaos bändigt." erklärte David.

"Vermutlich habe ich keine zwei Wochen."

"Nein. Maximal drei Tage. Ich habe einen Filter eingebaut, der dich nur mit den wesentlichsten Sensoren verbindet. Hauptsächlich Beobachtungsdrohnen, die dir einen groben Überblick verschaffen. Wir beginnen mit einer einzigen Drohne. Versuch einen Kontakt mit ihr herzustellen." David zeigte auf eine der Liegen. Mit ungutem Gefühl legte sich Coen auf das sterile Weiß. Er versuchte seinen Puls zu beruhigen, aber die Herzfrequenz galoppierte regelrecht.

"Beruhige dich. Das wird jetzt ein klein wenig wehtun." Es war einer dieser Phänomene der Cree zwei gegensätzliche Aussagen so vollkommen emotionslos zu präsentieren. Ein halbes Dutzend Nadeln bohrten sich in seine Arme und die Überraschung überwog gegenüber dem Schmerz.

"Kontaktnadeln, an denen die Nanotechnologie andockt."

"Habt ihr nichts kabelloses?" Coen empfand es eher unangenehm als wirklich schmerzhaft.

"Die Übertragungsrate ist zu langsam und die Signale sind zu schwankend. Konzentriere dich jetzt und kontaktiere die Drohne." forderte ihn David auf. Coen schloss die Augen und suchte in seinem Inneren nach ungewöhnlichen Signalen.

"Da ist nichts." erwiderte Coen.

"Das Signal ist da. Du musst es nur finden. Versuch es mit einem symbolischen Akt." schlug David vor. In Coen entstand das Bild eines Postboten, der in seinen kurzen Hosen und mit der Nickelbrille so lächerlich wirkte, dass er unmittelbar grinsen musste. "Los. Hol mir das Paket." forderte er seinen imaginären Zusteller auf. Dieser machte keine Anstalten sich zu bewegen. Offenbar war er beleidigt vom spöttischen Äußeren, dass ihm Coen verpasst hatte, dass er eine Mitarbeit verweigerte. Er löschte den Nerd in Uniform und erschuf einen Hund, dessen Aussehen stark an einen Collie mit Helfersyndrom erinnerte. "Hol das Stöckchen, Lassie." befahl er und tatsächlich verschwand er für einen Moment, um mit einem undefinierbarem Gegenstand im Maul wieder zu erscheinen. Mit einer imaginären Hand griff Coen zu.

"Ha." kam es erschrocken und überrascht zugleich aus seinem Mund. Er konnte sprichwörtlich seinen Augen nicht trauen, denn trotz geschlossenen Lidern sah er das Bild einer Planetenoberfläche als würde er höchstpersönlich im Orbit schweben. Panisch öffnete er die Augen, aber der Planet verschwand nicht. Obwohl alle anderen Sinne darauf bestanden auf einer Liege im Inneren eines Raumfrachters zu sein, sendeten ihm seine Augen eine widersprüchliche Information.

"Das passt nicht." faselte Coen verstört. Er versuchte mit seinen Händen das widersprüchliche Bild mit Wedeln zu erschüttern, aber seine Arme waren an der Liege fixiert.

"Die Nanotechnologie hat an deinem Sehnerv angekoppelt und konvertiert die Bilder der Drohne in organische Impulse." erklärte David nüchtern.

"Das ist verstörend." Coens Gehirn drohte zu überlasten. Diese unterschiedliche Interpretation der einzelnen Sinne über die Welt um ihn herum versetzte ihn in einen mentalen Ausnahmezustand.

"Es wird gleich besser. Dein Verstand braucht einen Moment um das eigentlich Unmögliche zu akzeptieren." versicherte David.

Coen kämpfte weiter mit dem Wahnsinn, aber tatsächlich fing sich sein Verstand nach einer Weile und akzeptierte die Anomalie als neue Realität.

"Verrückt." kommentierte er die Tatsache, das er fremde Bilder empfing.

"Bewege die Drohne." forderte David. Coen neigte seinen Kopf nach links und tatsächlich änderte sich das Bild als würde er seinen eigenen Blick in die Richtung verlagern.

"Das war ja einfach."

"Gut. Ich schalte jetzt eine zweite Drohne zu." Für Coen änderte sich erstmal nichts. Erst als sein Verstand aktiv nach einer zweiten Signalquelle forschte, erschuf sein Unterbewusstsein einen zweiten identischen Collie. Auch er hatte etwas undefinierbares im Maul. Coen griff zu, aber der Hund knurrte nur bösartig und rückte nichts raus.

"Was ist denn jetzt los?"

"Lerne die Signale zu koordinieren." erklärte David.

"Ich weiß nicht, wie ich das Programm wechseln kann." entfuhr es Coen und auch wenn er es nicht sehen konnte, spürte er den fragenden Blick von David.

"Erschaffe wie beim ersten Mal Symbole, um bestimmte Aktionen auszuführen." Coen konzentrierte sich und tatsächlich bekam der Gegenstand im Hundemaul eine Knochenform. Wenig hilfreich stellte er für sich persönlich fest. Er musste es schaffen den ersten Knochen an seinen Besitzer zurückzugeben, um auf den zweiten Knochen zugreifen zu können. Seine Fantasie half ihm. Er knüllte das Bild des Planeten wie ein Blatt Papier zusammen und seine verkappte Bastelkunst formte daraus einen Knochen, den er über den Kopf des Hundes ins schwarze Nichts warf. Lassie Nummer 1 brauchte nur einen Bruchteil einer Sekunde, um den Knochen zu apportieren. Nun gab Lassie Nummer 2 sein Signal frei und Coen sah die Planetenoberfläche aus einer anderen Perspektive.

"Hat geklappt." frohlockte er.

"Tatsächlich." erwiderte David überrascht.

"Normalerweise braucht ein Cree zwei Tage Übung, um die unterschiedlichen Signale zu verarbeiten."

"Vermutlich fehlt euch die Fantasie für brauchbare Symbole. Meine menschliche Hälfte bringt die nötige Kreativität mit."

"Vermutlich. Mal schauen, ob deine Symbolik auch für 30 Signale taugt."

"Bin bereit." erwiderte Coen optimistisch und streckte seine mentalen Fühler aus. Ein ganzes Rudel aus Hunden erschien und machte Platz vor seiner mentalen Eingabeforte.

"Ich kann sie nicht mehr unterscheiden."

"Du wirst was finden. Die Eingabe scheinst du gut kontrollieren zu können. Jetzt müssen wir an der Kommunikation arbeiten. Ich werde jetzt dem Netzwerk beitreten. Dann wirst du versuchen mir eine Botschaft zu senden."   

Es würde eine Weile dauern bis David sich ankoppelte und so spielte Coen mit der doch ansehnlichen Meute an Collies, die zu seinem Leidwesen vollkommen identisch waren. Der Versuch eine Unterscheidung durch verschiedene Rassen zu erreichen scheiterte vorerst. Hunde existierten nicht auf Comox und so war dieses Tier ähnlich exotisch wie ein klingonischer Targ, den er in einer dieser Unterhaltungssendungen der Vorfahren gesehen hatte. Als Kind fiel es ihm immer schwer Fiktion und Realität in der Tierwelt zu unterscheiden, da die Fauna seines Heimatplaneten sich auf Ratten und Kakerlaken beschränkte. Da hatte er gelernt komplexe Differenzialgleichungen zu lösen, aber so etwas Einfaches wie Tiere waren ihm vollkommen fremd. Ein paar Arten kannte er aus Büchern und so kramte er einen bunten Mix aus Hunden, Katzen und Nutztieren aus seinem Gedächtnis hervor und ordnete die einzelnen Gattungen den unterschiedlichen Signalen zu. Ein seltsames Bild tat sich vor ihm auf, denn eine Kuh mit einem Knochen im Maul wäre vermutlich in der freien Wildbahn eher selten.

Gerade als er alles halbwegs zugeordnet hatte, erschien ein weiterer Collie, welcher ihm ungefragt seinen Knochen in die imaginäre Hand drückte. Hinter diesem aufdringlichen Manöver konnte nur David stecken und dieses Mal musste er keinen anderen Knochen in die Schwärze werfen. Das Planetenbild blieb vor seinen Augen und der Collie fing tatsächlich an zu sprechen.

"Hallo Coen." kam es viel zu leise.

"Ich höre dich." antwortete er, aber irgendwie verließen die Worte nicht seinen Verstand.

"Nutzte Symbole um zu antworten." forderte ihn der Hund auf. Verrückt. Er fühlte sich wie Dr. Doolitle aus einem der Märchen. Dieser konnte mit Tieren kommunizieren, aber bisher war es Coen nicht vergönnt zu antworten. Er musste das System ändern, da offenbar der Collie unwillig war zuzuhören. So blätterte er weiter in dem viel zu dünnen Lexikon über Tiere und ersetzte den Hund durch einen kleinen posierlichen roten Nager von dem er nur soviel wusste das er Eicheln und Nüsse hortete.

"Ich höre dich." formte er die Worte zu einer Nuss und legte sie dem Eichhörnchen hin. Es klappte. Das Tier mit dem buschigen Schwanz schnappte sich die Wortnuss und verschwand. Kurze Zeit später tauchte es wieder auf und warf ihm die Nuss zu.

"Gut. Auch wenn es zu Verzögerungen in der Kommunikation kommt, schaffen wir es Informationen auszutauschen. Wir müssen ..." hörte er jetzt eine fremde Stimme direkt in seinem Kopf. Wieder rebellierte sein Verstand und blockte den Rest der Botschaft. Vermutlich ein unwillkürlicher Abwehrreflex, der ihn zwar vor dem Wahnsinn bewahrte, aber die eigentliche Botschaft verstümmelte.

"Was müssen wir?" schickte er die Nuss zurück.

"Üben" bekam er als Antwort, aber dieses Mal dauerte es deutlich länger, bis der Nager wieder auftauchte. Mehrere Male tauschten sie Nachrichten aus, aber nicht nur die Zeit variierte zwischen Millisekunden und Minuten, auch die Vollständigkeit der Worte war meist unzureichend. Nicht nur, dass sein eigener Verstand mit einer Art Schließreflex gegen die fremde Stimme ankämpfte, auch die gesendeten Botschaften kamen nur unzureichend an. Er wechselte die Symbolik, aber Telegraphenleitungen und Telefone waren noch unzuverlässiger. Coen musste sich eingestehen, dass dieser kleine rote Nager trotz seiner Defizite zur Zeit am besten für die Kommunikation mit David geeignet war. Ihnen fehlte einfach die Zeit um die Nachrichtenübertragung zu verbessern.

Eine halbe Stunde dauerten Coens erste Versuche innerhalb des Verteidigungsnetzwerkes die ersten spärlichen Schritte zu wagen. Obwohl ihm David versicherte, dass er mehr zustande gebracht hatte als erwartet, hatte er nicht das Gefühl mit den minimalen Erfolgen in Kommunikation wirklich hilfreich seien zu können. Sie hatten sich wieder abgekoppelt und als Coen aufstand, ergriff ihn Schwindel. Was immer da auch auf der Liege mit seinem Körper passierte war nicht gesund. Klar würden die Heilungsbots die ganze Sache wieder in Ordnung bringen bevor Coen auch nur ansatzweise etwas von dem angerichteten Schaden mitbekommen würde, aber diese Vergewaltigung seiner Körperfunktionen war nicht vollends zu unterdrücken. Mal abgesehen vom Alkoholrausch im "Bayreuth" befand sich sein Körper seit der Verwandlung in einen Cree in einem eingeschwungenen Zustand der Perfektion. Jetzt fühlte er sich körperlich schlecht. Hunger machte sich in seinem Inneren breit und da sie auf die Zuführung der intravenösen Kalorien verzichtet hatten, brauchte er unbedingt Energie. David reichte ihm ein Getränk, das schon auf Grund seiner Färbung auf viel Kalorien hindeutete. Tatsächlich verbesserte die Energiezufuhr seinen körperlichen Zustand.

"Geht es dir wieder besser?" fragte David.

"Ich fühl mich irgendwie müde." antwortete Coen. Tatsächlich tat er sich schwer das Erlebte zu verarbeiten, da sein Körper nach Erholung drängte.

"Erhole dich eine Stunde, dann werten wir das Ganze aus." schlug David vor und Coen war ihm unheimlich dankbar für die Möglichkeit seine Batterien wieder aufzuladen. Noch nie hatte er seine Nanotechnologie in dieser exzessiven Weise verwendet. Die Nachwirkungen waren wirklich unangenehm und zum ersten Mal kam Unsicherheit über die Kontrollierbarkeit auf. Was, wenn irgendwas die Bots dazu veranlasste in seinem Inneren massiv Energie zu verbrauchen. Würde er dann einfach verhungern? Er hatte fünf verschiedene Arten in seiner Blutbahn, die alle auf unterschiedliche Reize ansprachen. Hoffentlich gab es einen Ausschalter, wenn das Energielevel auf einen bestimmten Wert absank. Selbst wenn. Wie lange würde er dann ohne Nahrung überleben? In einer Galaxie, in der Hunger zum großen Teil als Normalzustand galt, ein beängstigender Gedanke.

Coen vermied es zu schlafen und setzte auf die entspannende Wirkung der Meditation. Tatsächlich brachte die Regeneration seinen geistigen Normalzustand zurück und er ertappte sich dabei, dass er die Ausgeglichenheit eines Cree-Verstandes sogar für einen Moment vermisst hatte. Sichtlich entspannt wurde er zu David geführt, wo sie gemeinsam die Erlebnisse im Verteidigungsnetzwerk erörterten. Zum wiederholten Male zeigte sich David überrascht über den Fortschritt, den er unweigerlich auf Coens Zusammenspiel zwischen menschlicher Anpassungsfähigkeit und Logik der Cree zurückführte. Sie diskutierten ein paar Möglichkeiten die Kommunikation zu verbessern, aber alle praktischen Versuche, die sie in den kommenden Tagen durchführten, brachten keinerlei Verbesserungen. Warum auch immer sein innerer Botengänger in Form eines Eichhörnchen so unterschiedlich schnell reagierte und die Nachrichten teilweise unvollständig übermittelte, ihnen blieb keine Zeit das Problem anzugehen. Die feindliche Flotte war im Anflug und eines Morgens kam es zur unausweichlichen Konfrontation. Die Cree zogen in die Schlacht.

    

Kapitel 8

 

Es war unglaublich, mit welcher Ruhe die Cree das Projekt planetare Verteidigung angingen. Hatte Coen eine aufgeregte Menge erwartet, die angespannt durch die Straßen rannte um die vorgeschriebenen Orte im Falle eines Angriffs einzunehmen, startete der Tag wie alle anderen Tage zuvor. Die Regenerationsphase endete planmäßig und die Unterschiede in der Morgenroutine waren nur bei genauerer Beobachtung auszumachen. Die eingeteilten Aufgaben wurden kurzfristig angepasst, aber die stoische Ruhe mit der Wartungstrupps, Dienstleister oder Behörden die veränderten Aufgaben wahrnahmen, ließen kaum eine Abweichung von der üblichen Geschäftigkeit erkennen. Einzig das ausgefallene Frühstück deutete auf große Ereignisse hin, die den Tag von seinen Vorgängern unterscheiden würde. Coen betrat die "diosa sublime" und der Anblick der liegenden Cree, die mit Hilfe von Kontaktnadeln mit dem Verteidigungssystem verbunden waren, brachte die unangenehme Erinnerung zurück, dass die vor ihm liegende Prozedur eine große körperliche Belastung bedeutete. Ein einziger Platz war noch unbesetzt.

Sie hatten also ohne ihn angefangen, aber Coen bezweifelte, dass die Schlacht schon in vollem Gange war. Es waren die üblichen taktischen Vorbereitungen, die jede Kommandantur egal ob barbarisches Wikingerheer oder hyperintelligente Cree vornehmen musste. Seine Aufgabe beschränkte sich ohnehin aufs Beobachten, was ihn zum Status eines Melders degradierte. Ein Melder, der nicht sicher war, ob seine Nachrichten hundertprozentig verstanden wurden, denn nicht nur die aufgebaute Leitung war fehlerhaft, auch war er sich unklar, ob er David seine Erkenntnisse überhaupt glaubhaft erläutern konnte. Intuition war keine verlässliche Erklärung für einen Cree, aber da David ihn genau wegen dieser Empfindungen überhaupt rekrutiert hatte, hoffte er auf eine halbwegs zielführende Zusammenarbeit.   

Ein dutzend Mal hatte Coen diese binäre Parallelwelt bereits betreten und obwohl die Nadeln kein angenehmes Gefühl waren, hatte er eine gewisse Gleichgültigkeit entwickelt. In dem Wissen, dass dieser erneute Besuch keine weitere Übungsstunde werden würde, war diese Gleichgültigkeit nicht mehr vollends aufrechtzuerhalten. Es ging um nichts Geringeres als ihr Leben und obwohl alle Prognosen einen glorreichen Sieg voraussagten, konnte er die Anspannung nicht leugnen. Er wünschte sich seine menschliche Seite und damit all die Zweifel und Ängste in die hintersten Winkel seines Verstandes schieben zu können, aber leider wurde ausgerechnet dieser Teil seines Wesens für die bevorstehenden Ereignisse gebraucht.

Mutig ergriff er den Knochen eines Wollschafes und als er die Schwärze des Weltalls erblickte, kam er sich elendig klein vor. Demut ergriff ihn, als sich die Unendlichkeit vor ihm auftat. Was immer auch an diesem Tag geschehen würde, das Sternenlicht war unerschütterlich. Diese winzigen kleinen Punkte würden ihr spärliches Licht auch dann noch auf Cree werfen, wenn alles Menschliche bereits verschwunden war. Dieser kleinliche Disput war  nur ein Sandkorn am grenzenlosen Strand des Universums und würde im Gefüge der Existenz keinerlei Beachtung finden. Vielleicht stand die Menschheit am Scheideweg ihrer Entwicklung, aber das große Ganze nahm unbeirrt davon seinen vorgeschriebenen Verlauf. Das Eichhörnchen unterbrach seine philosophischen Gedanken, indem es ihm seine Nuss zuwarf.

"Bereit?", hörte er die fremde Stimme, die sein Verstand der Tonlage von David angepasst hatte.

"Bereit.", schickte er den Nager los. Noch gab es da draußen nichts, was seine Aufmerksamkeit erforderte. Welche Taktik die Cree auch immer ersonnen hatten, bisher war keinerlei aktive Verteidigung ersichtlich und so überprüfte er die einzelnen Blickwinkel, die ihm die Drohnen lieferten.

Eine Stunde verging, ohne das sich etwas an der eigentlichen Lage änderte. Obwohl keine großartige Notwendigkeit für die Nanotechnolgie bestand irgendetwas von Bedeutung durchzuführen, war der Energieverbrauch enorm. Coen spürte wie das erste aufkommende Hungergefühl durch die Infusionen ausgeglichen wurde. Wenn jetzt schon nachgetankt werden musste, wie hoch war dann der Bedarf bei Volllast. Er verwarf die Spekulationen, als das Eichhörnchen wieder Aktivität zeigte.

"Es geht l...", wollte ihm David sagen, aber die Stimme schaffte es nicht den Satz zu vollenden. Verdammt. Es lag an ihm, dass die Übertragung stockte. Eine Art Lidreflex, der in diesem Falle seinen Verstand vor invasiven Stimmen schützte. Coen begann die Perspektive zu wechseln, aber er konnte keinen Feind ausmachen. Er wollte dem Eichhörnchen eine "Wo?"-Nuss zuwerfen, als eine kleine Flotte auf der Bildfläche erschien.

Ihm fehlte die passende Referenz um den drei Schiffen eine richtige Größe zuzuordnen. Es konnte sich hierbei um gigantische Schlachtkreuzer handeln oder um winzige Spielzeuge, die ein Kind in der Unendlichkeit des Weltalls verloren hatte. Er suchte in seinem mentalen Lexikon nach einer Zuordnung des vorhandenen Typs, aber sie waren zu weit entfernt für eine Klassifizierung. Erst mit der Annäherung bemerkte er die kleineren Transporter, die im Schutze ihrer größeren Begleitung sich dem Planeten näherten.

Es war also weiterhin das Ziel des Liberators Truppen auf Cree zu stationieren und da der erste Versuch fehlgeschlagen war, gab es jetzt den Begleitschutz in Form von Zerstörern. Helios-Klasse schaffte Coen es endlich die Schiffe in die passende Form zu pressen. Mit ihren knapp zweihundert Metern Länge waren sie sehr wendig und ideal geeignet kleinere Abfangjäger zu bekämpfen. Sie umschlossen die Truppentransporter in einer Dreiecksformation und waren gewillt alles zu Sternenstaub zu zerbröseln, was es wagte diesen Konvoi zu attackieren. Langsam aber stetig kamen sie Cree näher, bis sie plötzlich stoppten.

Coen wechselte die Ansicht und sah, wie ein halbes dutzend Jäger sich den Zerstörern näherten. Was immer auch damit bezweckt werden sollte, diese Art von Attacke war vollkommen aussichtslos auch nur irgendeinen Schaden anzurichten. Mit Leichtigkeit wurden fünf der sechs Jäger durch eine ganze Batterie an Raketen zerstört. Der verbliebene Angreifer drehte ab und entzog sich seiner drohenden Vernichtung, indem er hinter dem fünften Planeten Deckung suchte. Ein elendiges Stück Felsen, auf dem einige stationäre Verteidigungsanlagen installiert waren. Sollten die Schiffe des Liberators der Verlockung eines vermeintlich einfachen Ziels folgen, würde sie eine böse Überraschung erwarten.

Tatsächlich brachen sie die Formation auf und die Dreiecksvariante wurde durch eine zweiseitige Flankierung ersetzt. Der freigewordene Zerstörer näherte sich dem kargen Planeten und als er außer Sichtweite seiner Kameraden war, musste auch Coen die Ansicht ändern. Er hatte jetzt die Rückseite in seinem Sichtfeld und der Anflug des Zerstörers steigerte die Spannung.

Der Jäger ruhte regungslos im Orbit des Planeten und seine offensichtliche Hilflosigkeit machte ihn zu einem einfachen Ziel. Natürlich war sein einziger Zweck den Zerstörer in die Reichweite der stationierten Raketenabwehr zu locken, aber die ganze Falle schien zu durchsichtig, denn die potentielle Beute weigerte sich den dargebotenen Köder so einfach zu schlucken.

"Das ist zu eindeutig", nutzte Coen erstmals die Kommunikation.

"Simuliert ein Treibstoffleck oder irgendwas, was ihn glaubhaft bewegungsunfähig macht", riet er und war sich unsicher, ob er erhört wurde. Weitere Minuten vergingen, dann startete der Jäger seine Triebwerke, die ihn mit minimaler Leistung in Bewegung setzte. Tatsächlich machte er den Anschein, als würde ihn eine schwere Beschädigung an der Flucht behindern. Vergeblich. Das Misstrauen des Zerstörers war ungebrochen. Weiterhin zögerte dieser in die Falle zu tappen.

Poker. Schoss es Coen durch den Kopf. Gab es da nicht den Begriff des doppelten Bluffs? Die hohe Kunst seinen Gegner von seinem eigenen Bluff zu überzeugen, obwohl man die besseren Karten besaß. Alles mit dem Ziel den Pott weiter anzufüttern. Der Zerstörer musste glauben, dass die Cree nur ein lausiges Paar auf der Hand hatten und jetzt die Nerven verloren.

"All in", schickte er ins Netzwerk um doch noch präziser zu werden.

"Die drei verbliebenen Jäger müssen starten." David schien ohne große Nachfrage seinem Verlangen nachzukommen. Zu viert attackierten die hoffnungslos unterlegenen Jäger den Feind. Nun kam Bewegung in den Zerstörer. In dem Glauben die Falle erkannt zu haben, manövrierte er sich in eine Position, die ihm eine optimale Verteidigung ermöglichte. Jetzt war er in Reichweite der westlichen Raketenbatterie und die schickte ihre verhängnisvolle Botschaft in den Orbit.    

Eine einzige Rakete reichte aus, um das Schiff in zwei Teile zu spalten. Eine Horion-5-Rakete bestand aus etwa 30 Gramm Sprengstoff und einem gigantischen Sauerstofftank. Die ursprüngliche 2 Kilogramm Bombe, die konzipiert war für eine Explosion in einer Planetenatmosphäre, hatten die Cree für den stellaren Kampf zu einer Rakete weiterentwickelt. Das eingesetzte Sprengstoffgemisch entfaltete seine zerstörerische Kraft nur mit ausreichend Sauerstoff und diesen lieferten sie für den eingesetzten Zweck praktischerweise gleich mit.

Ein kurzer aber intensiver Feuerball zeriss die Außenwand des Zerstörers und die Kraft der Explosion richtete sich gezielt in die innen liegende Struktur seines Ziel. Das Schiff wurde mittig förmlich aufgebogen und als die schier unbändige Kraft die gegenüberliegende Außenwand erreichte, hatte diese dem Energieschub nichts entgegenzusetzen. Der Bug driftete in Richtung des freien Raumes, während das Heck sich der Anziehung des Planeten ergab. Die erste Schlacht hatten die Cree gewonnen, aber der Joker mit dem Namen Überraschungsmoment war aufgebraucht. Coen wechselte seine Sicht auf die verbliebene Flotte. Diese stoppte den Anflug und entfernte sich wieder von Cree. Der nächste Kampf würde nicht so einfach werden.    

Zwei Stunden hielt sich der Feind außerhalb jeglicher Waffenreichweite auf. Zeit, in denen die Cree ihre Optionen durchgingen. Es bestand die Möglichkeit ihren riesigen Schlachtkreuzer auf die hoffnungslos unterlegenen Zerstörer loszulassen, aber die Wahrscheinlichkeit, dass eines der Schiffe entkam war hoch und so schien es besser, ihren stärksten Trumpf nicht sofort zu offenbaren. Die defensive Einstellung der Cree hatte aber noch einen anderen Grund, denn dort draußen lag nur ein Bruchteil an Schiffen von dem, was der Liberator beabsichtigte ins Feld zu führen. Beim ersten Abtasten hatte er sich die Finger verbrannt und die Wahrscheinlichkeit war hoch, dass er im nächsten Schritt mit voller Härte zuschlagen würde.

Nach einer weiteren halben Stunde kam Bewegung in die feindliche Flotte und für einen Moment ergab sich der Eindruck, als würde sie trotzig ihren ersten erfolglosen Versuch wiederholen den Raumhafen des Planeten trotz aller Gefahren anzusteuern.

Coen sprang in den einzelnen Ansichten hin und her, aber nirgends war ein Abfangmanöver der Cree zu erkennen. Vermutlich liefen die Gehirne heiß, aber was auch an Gegenmaßnahmen in Erwägung gezogen wurde, bisher schien es ihm nicht ersichtlich. Offensichtlich waren sie noch nicht bereit eigene Schiffe in die Schlacht zu führen, denn ungehindert näherten sich die flankierten Transporter ihrem Ziel.

Es hatte etwas von einem Silbertablett, als sich Coen die wartenden Schiffe betrachtete, die in Kürze wieder von Horion-5 Raketen zerfetzt werden würden.

Noch blieb es still und unbewusst praktizierten die Cree eine Art perverses Folterspielchen. Solange sich die Truppentransporter im Orbit befanden, genossen sie den Schutz der Zerstörer, aber mit dem Eintritt in die Atmosphäre waren sie praktisch sich selbst überlassen. Offenbar war dies der Grund, warum das Landemanöver bisher ausblieb. Auf der anderen Seite zögerten die Cree mit dem Start der Raketen, denn die naive Art des Feindes sich bewusst der planetaren Verteidigung auszusetzen, überlastete ihre Synapsen. Was immer auch der Feind damit bezweckte sich so offensichtlich in die Schusslinie zu manövrieren, brachte die eigentlich unerschütterliche Logik der Verteidiger an die Grenzen.

Es war dieses Mal an den Cree misstrauisch zu sein und so offenbarte sich für Coen eine Art gegenseitiges Belauern. Zehn Minuten passierte gar nichts und als Coen schon überlegte ein paar ziemlich vage Theorien dem Eichhörnchen zu übergeben, war es an den Cree, die eigentlich nicht vorhandenen Nerven zu verlieren. Sie drückten den mentalen Startknopf und vier Horion-5 machten sich auf den Weg die ungebetenen Gäste zu pulverisieren.

Das der Feind diesen Angriff erwartete, hatten die Cree sicherlich in ihre Überlegungen mit einbezogen, aber am Ende mussten sie zu dem Schluss gekommen sein, dass egal was der Gegner auch plante, dieser ohnehin kein probates Mittel gegen die zerstörerische Sprengkraft hatte. Die Raketen steuerten in zwei Paaren auf die Zerstörer zu und zu Coens Überraschung, vollführten diese ein Manöver, welches die eigentlich zu beschützenden Transporter vollkommen auslieferten.

Tatsächlich zogen diese den Angriff auf sich und kehrten das Beschützer-Opfer Verhältnis ins Gegenteil um. Die Horion-5 verpulverten ihr gigantisches Zerstörungspotential an ein paar wartungsbedürftigen und vermutlich leeren Truppentransportern.

Was war der Sinn dieses unerwarteten Opfers? Der ergab sich für Coen relativ schnell. Der Standort der Abschussbasis war nun kein Geheimnis mehr und geriet damit ins Schussfeld von potentiellen Angriffen, doch die Helios-Zerstörer dienten ausschließlich dem Kampf im freien Raum. Sie würden also kein Unheil über Cree bringen. Coen wechselte wieder die Perspektive um mögliche Verstärkung auszumachen, aber keine der Beobachtungsdrohnen zeigte feindliche Schiffe. Was sollte dann das Ganze? Die Cree würden einfach solange Raketen starten, bis dem Feind die Transporter als Schutzschilde ausgingen.

Das ergab alles keinen Sinn und während Coen wilde Theorien entsann und wegen Absurdität wieder verwarf, überraschte ihn der Gegner mit einer Option, die er nicht mal ansatzweise in Betracht gezogen hatte.

Die Bomber tauchten aus dem Nichts auf. Als hätte der Liberator mit den Fingern geschnipst und schon erschienen sie im Orbit. Es brauchte nicht die eiserne Logik der Cree, um diese aberwitzige These zu widerlegen. Ein Sprungantrieb war die einzige Erklärung, aber es gab kein Exson. Also wie hatten sie es geschafft die unerwartete Streitmacht so schnell und vor allen Dingen so präzise zu platzieren?

Er schaltete zwischen den Drohnen hin und her, bis er die Stelle, an der die Schiffe so unerwartet auftauchten am besten begutachten konnte. Das konnte doch nicht wahr sein. Da schwebte tatsächlich eine Art Miniaturexson. Bevor er es weiter untersuchen konnte, verschwand es wieder.

Coens Gedanken überschlugen sich. Für die Krümmung des Raumes wurde wahnsinnig viel Energie benötigt, was die regulären Exsons dazu nötigte Paralleluniversen anzuzapfen. Es gab Theorien, welche einen Sprung mit alternativen Energiequellen bewiesen, aber erstens war die Reichweite begrenzt und zweitens gab es keinerlei praktischen Nachweis. Nicht nur, dass der Liberator es trotzdem irgendwie realisieren konnte, den Cree lagen auch keinerlei Informationen über diese Technologie vor. Wie sollten sie einem Angreifer begegnen, der jederzeit an jedem Ort auftauchen konnte?

Es blieb keine Zeit sich dem eigentlichen Phänomen zu widmen. Die Bomber befanden sich bereits in der Atmosphäre von Cree und ließen ihre verhängnisvolle Fracht auf die Raketenstellungen nieder regnen. Feuerbälle erhoben sich aus dem Grün des Dschungels und trotz der Tatsache, dass dort ausschließlich Militärtechnik zerstört wurde, demütigte es die Verteidiger enorm. Abfangjäger wurden gestartet, aber sie kamen zu spät für eine effiziente Verteidigung. Im Schutze der Zerstörer verließen die Angreifer den Orbit praktisch unbehelligt. Die Cree hatten gegen alle Prognosen ihre erste Niederlage erlitten.

Der Liberator hatte sie überrascht mit dieser unbekannten Komponente ihrer Flotte. Es war weniger das Miniaturexson an sich, dass für Erstaunen sorgte, sondern die Unkenntnis über diese Technologie. Gab es noch mehr davon? Das verlieh allen Wahrscheinlichkeiten ein unnatürliches Ausmaß an Unvorhersehbarkeit. Die Modelle und Berechnungen der Cree waren hinfällig geworden, allein durch die Tatsache, dass sie nicht wussten, was der Feind noch gegen sie auffahren würde. Sollten sie in ihrer stoischen Lebensweise so etwas wie Panik kennen, wäre jetzt der richtige Zeitpunkt dafür. Es gab nichts Schlimmeres für sie, als eine unberechenbare Zukunft.

Coen ordnete seine Gedanken und versuchte diesen unerwarteten Vorteil seines Gegners zu quantifizieren. Der Feind hatte sich wieder entfernt, um seine nächsten Schritte zu planen und da Coen von der taktischen Analyse ausgeschlossen wurde, blieb ihm die Zeit für eigenen Schlüsse. Die benötigte Energie um Miniaturexson samt angeschlossener Bomber etwa ein Lichtjahr mit einem Sprungantrieb hin und wieder zurück zu bewegen, war enorm und wenn er eine unbekannte Energiequelle ausschloss, welche vielleicht zufällig vom Liberator entdeckt wurde, existierte nichts in dieser Galaxie, was diese Leistung realisieren konnte.

Er verkürzte in seiner Formel die Entfernung und ab einem viertel Lichtjahr waren Raumkrümmungen wenigstens theoretisch möglich. Der "Rubikon-Kristall" besaß auf Grund seiner Beschaffenheit eine Schwingungsenergie, die potenziert auf die benötigte Leistung käme. Sieben Stück wären erforderlich, welche in Resonanz tatsächlich dieses Ausmaß an Energie erbringen würden. Die Vorfahren fanden zu ihrer Zeit einen einzigen natürlichen Kristall und alle Versuche die Beschaffenheit auf künstliche Weise zu duplizieren scheiterten.

Entweder hatte der Liberator mehr Erfolg oder er stieß auf eine natürliche Quelle, die ihm dieses Miniaturexson ermöglichte. Er überlegte kurz, ob die Energie steigerbar war und damit mehr Schiffe oder größere Distanzen möglich wären, aber ein achter Kristall würde eine unkontrollierbare Energiemenge erzeugen.

Das begrenzte die Möglichkeiten und eine Navigation war ohnehin nur möglich, wenn am Ziel bereits eine Art Haltepunkt vorhanden war. Einer der Zerstörer musste als Navigationsleuchtfeuer gedient haben, um diese wahnsinnige Präzision zu erreichen. Das war ein weiter Schwachpunkt des Systems. Neben der Begrenzung an Fracht konnte die Genauigkeit nur erreicht werden, wenn bereits ein Anlaufpunkt vorhanden war.

Zu dem Schluss, dass die feindliche Flotte kein Lichtjahr weit entfernt sein konnte, kamen auch die Cree. Der Hauptangriff würde vermutlich innerhalb der nächsten halben Stunde auf den ohne Raketenabwehr fast schutzlosen Planeten erfolgen.

Coen ging die Verteidigungsstärke durch. Der extrem stark bewaffnete Schlachtkreuzer, den die Cree mit ihrem Sinn für Pragmatismus auf "Schiff Nr.1" getauft hatten, wurde begleitet von vier Fregatten, welche ausschließlich zum Schutz dienten. Daneben besaßen die Cree noch zwei Zerstörer und eine Vielzahl an Abfangjägern, welche verstreut auf dem Planeten gerade gestartet wurden. Die Mobilmachung ihrer Drohnen-Flotte musste wahnsinnig viel menschliche Energie verbrauchen und vermutlich wurden die Transfusionen im Minutentakt aufgefrischt. Die daraufhin einsetzende Müdigkeit wurde chemisch bekämpft und die Nachwirkungen der Drogen wurden wiederum von den Heiler-Nanobots repariert. Ein Wahnsinn, dem sich die Cree aussetzten.

Die Cree gingen davon aus, dass dem Liberator die wirkliche Verteidigungsstärke unbekannt war, aber der unerwartete Einsatz des Miniaturexsons hatte Zweifel über die Aktualität der Geheimdienstinformationen geweckt. Die ursprünglich für die Science gestellte Falle war hinsichtlich ihrer Erfolgswahrscheinlichkeit ins Ungewisse verschoben worden, aber da weder Angst noch Panik bei den Cree eine Cahnce hatten, passten sie ihr Handeln mit der ihnen gegebenen Logik einfach an. Vermutlich entwarfen sie gerade unzählige taktische Strategien, auf die sie je nach Anwendungsfall zugreifen konnten.

Ihr ganzes Wissen basierte auf theoretischen Abhandlungen der Kriegsführung, welche den Mangel an praktischen Erfahrungen komplett ausgleichen mussten. Ihre Gegner dagegen waren kampferfahren und besaßen emotionale Eigenschaften, die ihnen entweder ungeheure Stärke in Form von Mut verliehen oder sie im Falle von drückender Unterlegenheit zu angsterfüllten Kanonenfutter degradieren konnten. Diese widersprüchlichen Systeme prallten in Kürze aufeinander und Coen war sich über den Ausgang unsicherer denn je.

Die feindliche Flotte erschien in Sichtweite und die Hoffnung auf eine militärische Überlegenheit zerschlug sich umgehend. Auch der Feind besaß einen riesigen Schlachtkreuzer, auf dem vermutlich der Liberator höchst persönlich das Kommando inne hatte. Flankiert wurde er von drei kleineren Kreuzern und den beiden Zerstörern. In ungeheurer Geschwindigkeit näherten sie sich dem Raumhafen von Cree, wo die Verteidiger ihre eigenen Schiffe im Orbit positioniert hatten. Die höchste Priorität bestand darin, jegliche Truppenstationierung auf dem Planeten zu unterbinden und so stellten sie sich dem offenen Kampf im Weltraum.

Tatsächlich schien die Strategie der Angreifer vorerst gescheitert. Der offensichtlich geplante Anflug von Transportern wurde auf Grund der unvermittelt auftauchenden Schiffe abgebrochen. Das Überraschungsmoment wirkte und zwang den Liberator seine Pläne anzupassen. Sein riesiges Schiff spuckte ein paar Raketen in Richtung des unerwarteten Widerstandes aus, aber ein paar Abfangraketen von "Schiff Nr.1" sorgten dafür, dass dieser Versuch einer Kampfhandlung nicht mal in die Nähe der Verteidiger kam. Diese nur mit Treibstoff bestückten Raketen waren von den Cree in der Steuerung so effizient modifiziert worden, dass sie praktisch jedes anfliegende Objekt zuverlässig torpedierten.

Die Angriffsraketen würden nur dann ihr Ziel erreichen, wenn es dem Liberator irgendwie gelänge, diese Art des Abfangens zu unterbinden. Die wahrscheinlichste Variante war eine Art Geleitschutz von Jägern, welche die Abfangraketen ihrerseits abschossen. Und tatsächlich entpuppte sich dieses Szenario als nächstes Angriffsmanöver.

Wie ein Insektenschwarm näherten sich drei Dutzend Jäger "Schiff Nr.1" und obwohl die Fregatten einiges an Feuerkraft auf die Angreifer abfeuerten, erwirkten sie keinerlei Treffer. Die längliche Form, welche Ähnlichkeit mit einer fliegenden Karotte hatte, bot kaum eine Angriffsfläche für die Geschütze. Das einzig verbliebene Gegenmittel waren die eigenen Drohnenjäger und so entwickelte sich ein Kampf zwischen feindlichen Piloten und auf Liegen kontaktierten Cree.

Die von Logik getriebenen Verteidiger, welche sich keinerlei Angst um ihr kurzfristiges Schicksal machen mussten, kämpften gegen Gegner die überschüttet mit Adrenalin jedes Manöver zu einer Überlebensfrage gestalteten. Trotz dieser unterschiedlichen Herangehensweise im Kampf Jäger gegen Jäger, setzte sich vorerst keine der Parteien durch und nach einer Stunde kamen die Kampfhandlungen auf Grund von Munitionsmangel zum Erliegen. Die Angreifer drehten ab und kehrten zum Rest der Flotte zurück. Da auch die Cree keinen Gegenangriff wagten, blieb die Zeit für einen ersten Rückblick.

Viele Verluste gab es auf beiden Seiten nicht zu beklagen und so schien dieses ganze Geplänkel wie ein gegenseitiges Abtasten der gegnerischen Kampfkraft. Die zweite Runde würde viel intensiver werden und Coen konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Liberator es nicht bei einem Jägerangriff beließ. Schließlich hatte er die Cree schon Mal überrascht und warum sollte es...

Coen unterbrach seine Gedanken und fing an das vergangene Schlachtfeld aus den verschiedenen Perspektiven zu untersuchen. Die Cree hatten immerhin drei der Angreifer erwischt und zum Glück dafür gesorgt, dass nur Weltraumschrott von den Jäger übrigblieb. Aber reichte das wirklich? Ein einziger Transponder könnte als Navigationsfeuer dienen. Hatten die Cree das in ihre Überlegungen mit einbezogen? Er musste auf Nummer sicher gehen.

"Denkt an das Miniaturexson", warf er aufgeregt dem Eichhörnchen die Wortnuss zu. Das legte ausgerechnet jetzt keinerlei Motivation an den Tag die Botschaft zu überbringen. Die Cree befanden sich in taktischen Überlegungen und hatten das "Bitte nicht stören" Schild raus gehangen. Ein verdammt schlechter Zeitpunkt ihn zu blocken. Coen wurde nervös

Er versuchte seine Gedanken zu sortieren. Für den Fall, dass es irgendwo einen Signalgeber gab, würde er kein Dauersignal senden. Eine Abstimmung mit dem nächsten Angriff war wahrscheinlich, aber was war das Ziel? "Schiff Nr.1" war selbst mit einem Dutzend Horion-5 Raketen, die aus dem Nichts erschienen, kaum klein zu kriegen. Die Fregatten und Zerstörer hingegen hatten keine so dicke Panzerung und würden sich als leichtere Ziele herausstellen. Coen war sich sicher. Das nächste Ziel waren die Begleitschiffe. Hoffentlich kam David zu der gleichen Überzeugung.

Die nächste Angriffswelle startete und dieses Mal bekamen die feindlichen Jäger Unterstützung durch die Zerstörer. Das zwang die Cree-Fregatten ihre Formation aufzubrechen, um ihrerseits die eigenen Truppen zu unterstützen. Das Schlachtfeld wurde jetzt unübersichtlich, aber da sich das Flagschiff des Liberators und die begleitenden Kreuzer zurückhielten, erlangten die Cree Stück für Stück die Oberhand. Der Angriff drohte zu versiegen, da die Fregatten empfindliche Schäden anrichteten und so war es wenig verwunderlich, dass ein erneuter Rückzug der Angreifer eingeleitet wurde.

Auf Grund des missglückten Angriffes bildeten die beschädigten Zerstörer des Feindes eine Art Wagenburg, welche den Verteidigern wenig Angriffspunkte gaben. Diese seltsame Formation diente einzig und allein dazu einen geordneten Rückzug einzuleiten und als sich diese Formation in Bewegung setzte, mussten sie heftige Treffer der Fregatten einstecken. Wieder wechselte Coen die Perspektive, um die zurückgebliebene Flotte des Liberators zu beobachten. Immer noch verweigerte sie jegliche Unterstützung. Warum zum Teufel kamen sie ihnen nicht zur Hilfe?

Weil sie "Schiff Nr.1" isolieren wollten, kam Coen die Erleuchtung. Dem Liberator war nicht daran gelegen die Überlegenheit der Cree auf dem derzeitigen Schlachtfeld zu beenden. In diesem trügerischen Gefühl des Vorteils würden die Fregatten den auf dem Rückzug befindlichen Schiffen überall hin folgen und genau das schien die Absicht zu sein. Das Kampfgeschehen entfernte sich immer mehr von "Schiff Nr.1". Tatsächlich befand es sich jetzt vollkommen auf sich allein gestellt im Orbit des Planeten, als Absicherung um spontan auftauchende Feinde abzuwehren.

Auch den Cree musste dieser Umstand aufgefallen seien, aber das Vertrauen auf unbändige Verteidigungskraft ließ sie diesen Fakt ignorieren. Coen dagegen wurde das Gefühl nicht los, in eine vorgefertigte Falle zu laufen. Aber was konnte so einem Giganten überhaupt etwas anhaben? Die Cree waren vermutlich vorbereitet auf das Auftauchen des Miniexsons und selbst wenn es die tödlichsten Raketen oder Bomben im Schlepptau hätte, bliebe genug Zeit, um mit Hilfe von Abfangraketen jeglichen Spontanangriff zu unterbinden. Diese scheinbare Unbesiegbarkeit ließ die Cree unvorsichtig werden und so entfernte sich ein nicht unwesentlicher Teil ihrer Flotte immer weiter vom Planeten.

Jetzt kam auch Bewegung in die bisher passiv agierenden Schiffe des Liberators. Während die Kreuzer sich der eigentlichen Schlacht näherten, verharrte das Schlachtschiff weiter auf seiner abwartenden Position. Die Fregatten der Cree hatten die feindlichen Zerstörer sturmreif geschossen, aber die finale Vernichtung blieb ihnen aufgrund der neuen Truppenbewegung verwehrt. Sie waren gezwungen sich der kommenden Bedrohung zu stellen und so verlagerte sich das Kampfgeschehen.

Als die ersten Raketen aufeinander abgefeuert wurden, offenbarte sich eine Art Patt-Situation. Die trägen Kreuzer setzten kaum Wirkungstreffer, da der Feind sich mit gekonnten Manövern den Angriffen entzog. Auf der anderen Seite verhinderte die starke Panzerung schwerwiegende Schäden durch Beschuss der Cree und so positionierten sich die Schiffe des Liberators als eine Art Bollwerk zwischen dem Planeten und den weg gelockten Verteidigern. Das war der Punkt, der Coen in Alarmstimmung versetzte. Welche Pläne es auch immer mit "Schiff Nr.1" gab. Es würde keinerlei Unterstützung bekommen.

Coen wechselte von den Kampfhandlung auf die Kamera-Drohnen im Planetenorbit. Noch lag "Schiff Nr.1" friedlich vor der grünen Dschungelkulisse von Cree. Ein majestätischer Anblick, der mit großer Wahrscheinlichkeit in Kürze durch Explosionen und Weltraumschrott getrübt werden würde. Coen verkniff sich eine Warnung abzuschicken, denn auch die Cree mussten die Pläne des Feindes erkannt haben. Sie waren bereit zur Verteidigung, auch wenn vollkommen unklar war, was auf sie zukam.

Coen zwang sich ruhiger zu atmen. Er hatte das Gefühl die Sekunden des Wartens würden sich stundenlang hinziehen. Er schaffte es nicht die lebhaften Fantasien über exotische Technologien zu unterdrücken. Was auch der Liberator gleich auffahren würde, "Schiff Nr.1" würde damit klarkommen. Er brauchte den Optimismus, denn die Unbestimmtheit des Angriffs verhinderte jegliche Prognose.

Zu seiner Überraschung tauchte nur das bekannte Miniaturexson auf. Die Enttäuschung über die Einfallslosigkeit des Gegners wurde noch verstärkt, als Coen erkannte, dass es weder Raketen, noch Bomben oder irgendeine andere bedrohliche Fracht bei sich trug. Es lag einfach nur da und schien die Cree mit seiner Harmlosigkeit zu verspotten.

Er wechselte auf verschiedene Außenkameras des Schlachtschiffes, um sicher zu gehen, dass er nichts von Bedeutung übersehen hatte, aber er konnte tatsächlich keinerlei Ladung ausmachen. Ein einziger Knopfdruck und das Problem Miniaturexson hätte sich erledigt. Bevor er den Zweck dieses scheinbar sinnlosen Opfers hinterfragen konnte, brach das Bild zusammen.

Eine schlimme Ahnung ergriff Coen und als er erfolglos versuchte auf andere Kameras umzuschalten, wurde ihm bewusst, dass dieses harmlos erscheinende Spielzeug eine Art Störsignal gesendet haben musste. Die Anzahl der tierischen Botengänger in seinem Kopf war auf eine überschaubare Anzahl zusammengeschrumpft. Nicht alles war gestört, aber die unmittelbare Umgebung von "Schiff Nr.1" war unergründbar geworden. Was, wenn das Schiff selber keine Befehle mehr annahm. Dann war es ein leichtes Ziel.

Coen griff auf eine weiter entfernte Drohne im All zu und mit Erschrecken musste er feststellen, dass das Schlachtschiff des Liberators Kurs auf den Planeten nahm. Nicht mehr lange und es war in Waffenreichweite.

Panik stieg in Coen auf und so sehr er es sich auch wünschte, er konnte dem rational denkenden Cree nicht allein seinen Verstand überlassen. Was es jetzt brauchte waren unkonventionelle Ideen seiner menschlichen Seite, aber die musste erstmal in den Normalzustand versetzt werden. Ein paar angelernte Entspannungstechniken später hatte er sich halbwegs unter Kontrolle für eine erste Bestandsaufnahme.

Der Feind hatte es geschafft ihre Kommunikation zu stören und das trotz massiver Sicherheitsmaßnahmen. Die Signale wurden mit einem komplizierten Mechanismus verschlüsselt und die hochfrequente Übertragung machte eine Störung eigentlich unmöglich. Es sei denn es stünde fast unendlich viel Energie zur Verfügung. In diesem Falle wäre es möglich eine Art energetische Blase zu erzeugen, die eingehende Signale zerstreut. Rubikon-Kristalle, schoss es Coen durch den Kopf.

Seine Gedanken überschlugen sich weiter und es war nicht ganz klar, welche der beiden Hälften zum Erkenntnisgewinn beitrugen. Die Abschirmung von "Schiff Nr.1" verhinderte einen internen Systemausfall, also war das Schiff größtenteils intakt. Das einhüllende Energiefeld störte nicht nur die Kommunikation, sondern mit Sicherheit auch die Sensorik. Ein Problem, was auch den Angreifern drohte. Innerhalb der Blase konnten sie nicht navigieren und auch abgefeuerte Raketen hatten keinerlei Orientierung. Der Liberator musste also außerhalb dieser Blase seine Waffen abfeuern und hoffen einen Glückstreffer zu landen. Leider bot das Ziel jede Menge Angriffsfläche. Coen verwarf einige Theorien "Schiff Nr.1" aus dieser Blase zu bekommen. Wenn er das Schiff nicht bewegen konnte, war es vielleicht möglich die Blase zu bewegen.

"David", schickte er das Eichhörnchen in die Spur. Wieder verweigerte es jegliche Mitarbeit. Wertvolle Zeit verging, bis der virtuelle Kontakt urplötzlich gelöst wurde. Coen sprang förmlich von seiner Liege und wollte auf David zusteuern, aber Schwindel ergriff ihn. Die Nachwirkungen schlugen voll durch und als er die abgemagerten Gestalten um sich herum sah, ahnte er, wie jämmerlich sein eigener körperlicher Zustand sein musste.

"Das dauert einen Moment bis die Nanotechnologie das Schlimmste repariert", begegnete ihm ein müder David. Seine Augen waren Blut unterlaufen und seine Wangenknochen traten unnatürlich hervor. Die Verteidigung hatte ihm eine Art Schnell-Diät durchmachen lassen und damit einiges an Körpergewicht gekostet. Er nahm einen großen Schluck Kalorien aus der Flasche und reichte sie dann Coen.

"Was jetzt?", fragte dieser als er die Flasche komplett geleert hatte.

"Die planetare Verteidigung ist gefallen. Wir haben beschlossen uns auf den Bodenkampf vorzubereiten." Davids Augen nahmen langsam wieder eine natürliche Färbung an.

"Das ist Wahnsinn. Noch gibt es da oben ein Schiff."

"Wir haben keinen Zugriff mehr."

"Dann holen wir uns den Zugriff zurück."

"Wir sehen keinerlei Möglichkeit", erklärte David und wollte sich abwenden, aber Coen hielt ihn zurück.

"Die gibt es. Entweder bewegen wir das Schiff oder wir bewegen das Störfeld." Jetzt hatte er Davids Aufmerksamkeit.

"Du willst die Quelle verschieben? Wie?" fragte er gespannt. Coen zeigte nach oben

"Wir müssen darauf und zwar physisch."

"Ein Drohnenjäger ist zu klein um die Störquelle zu bewegen."

"Kein Jäger." Coen öffnete die Arme.

"Du willst die "diosa sublime" in den Orbit bringen? Wir können sie innerhalb des Feldes nicht steuern. Es ist also sinnlos." David klang enttäuscht.

"Das Feld ist nicht sehr groß. Wir bringen sie an den Rand, berechnen dann einen Kollisionskurs und stellen die Triebwerke ab."

"Das ist ein verwegener Plan", kommentierte David den Vorschlag.

"Vielleicht für einen Cree. Deswegen habt ihr ihn von vornherein ausgeschlossen."

"Wenn ich das richtig verstehe, willst du die "diosa sublime" als Treibgut missbrauchen, um den Störsender zu verschieben. Selbst bei genauster Berechnung haben wir nur eine Erfolgswahrscheinlichkeit von 30%."

"Das sind weitaus bessere Cahncen als einen Bodenangriff zu überleben. Ist es nicht dass, was ihr immer macht? Wahrscheinlichkeiten abwägen", versuchte Coen mit Logik zu überzeugen.

"Wir müssen handeln, bevor die letzte Verteidigung sturmreif geschossen wurde", schob er drängelnd hinterher. Noch zögerte David und sein innerer Kampf war ihm deutlich anzusehen. Coen verkniff sich weitere Argumente anzubringen.

"Gut. Die "diosa sublime" war nie vorgesehen für Kampfhandlungen und so gab es keinen Grund sie an das Verteidigungsnetzwerk anzuschließen. Ich werde sie steuern und du wirst mein Copilot. Wir brauchen ein paar Minuten, um sie startklar zu machen. Zeit genug um unsere Pläne abzustimmen."

David begab sich zu seinem Stellvertreter und als dieser den waghalsigen Plan vernahm, wurde seine steife Körpersprache durch ein kurzes Anzeichen von Abneigung erschüttert. Obwohl er Coens Vorschlag als wenig erfolgversprechend einstufte, gab es keinerlei Diskussionen hinsichtlich seiner Loyalität. Sie stimmten das weitere Vorgehen ab und nach kurzer Zeit begab er sich auf seine Liege. Ein kurzes Nicken von David reichte und Coen folgte ihm ins Cockpit, welches durch scheinbar unzählige Kontrollleuchten erhellt wurde.

"Seltsames Gefühl ein Schiff per Hand zu steuern", murmelte David, als er seine Finger über das Bedienfeld huschen ließ.

"Gefühl? Scheint mir als wäre ich nicht der Einzige mit einer menschlichen Komponente", ließ es Coen sich nicht nehmen Davids emotionale Anekdote zu kommentieren.

"Das Schicksal eines ganzen Volkes hängt vom Gelingen unserer Mission ab", sagte David mit nüchterner Fassade. Coen ahnte, dass es in seinem Innerem weniger gleichgültig zugehen musste. Das Schiff erhob sich durch die offene Luke und sein vielleicht letzter Blick hinab auf den Raumhafen offenbarte dann doch die Zweifel, die ihn offensichtlich ergriffen.

"Es wird klappen", versuchte Coen ihn zu ermutigen.

"Natürlich wird es klappen", wischte David die ungewollte Sensibilität weg. Er war fokussiert auf die vor ihm liegende Aufgabe und so ignorierte er den fantastischen Ausblick, welches das satte Grün unter ihnen zu bieten hatte. Diese Farbe ging in dieses spezielle Blau über, welches nur der Himmel von Cree zu bieten hatte, aber auch dieser Farbton blieb nicht lange vorherrschend. Als sie den Orbit erreichten, breitete sich elendige Schwärze vor ihnen aus.

"Schauen wir mal, wie die Situation ist." David tippte ein paar kryptische Symbole auf dem Bedienfeld vor sich an und nur kurze Augenblicke später hatte er die Bordkamera auf dem Bildschirm. Das Schlachtschiff des Liberators hatte bereits mit dem Angriff auf das hilflose "Schiff Nr.1" begonnen.

"Es gibt einige Beschädigungen, aber bisher nichts Kritisches. Nur jede vierte Rakete trifft ihr Ziel", berichtete er.

"Wird Zeit, dass wir die Chancengleichheit wieder herstellen", versuchte Coen sich in Aufmunterung.

"Ich bring uns so nah wie möglich an das ..." Ein energischer sich wiederholender Pfeifton unterbrach seinen Satz.

"Was ist los?", fragte Coen.

"Wir werden angegriffen", bestätigte David seinen Verdacht, dass eine Rakete den Annäherungsalarm ausgelöst hatte. Die "diosa sublime" besaß keinerlei Abfangmöglichkeiten und so war das nahende Unheil faktisch unaufhaltsam.

"Was jetzt?", fragte Coen, aber David hatte sich vollends in seine Überlegungen zurückgezogen und war vollkommen unempfänglich für äußere Einflüsse. Die Frequenz des Pfeiftones stieg ins Unermessliche und drohte zu einem Dauerton zu verkommen.

"David...." Coen klang flehentlich und ungeduldig zugleich. Davids Finger flogen nur so über das Bedienfeld. Plötzlich ergriff eine Schubwelle das Schiff und beschleunigte auf Maximum. Unbeeindruckt davon näherte sich der Annäherungsalarm dem Dauerton, aber bevor er den unvermeidlichen Höhepunkt erreichte, verstummte er einfach. Sie befanden sich jetzt im Inneren der Störungsblase, die jegliche Sensorsignale zerstreute. David löste sich vom Bedienpult und zog den Kopf ein. Nichts passierte.

"Die Rakete hat wohl ihr Ziel verloren." Er schaute aus dem Cockpit in die Schwärze des Alls und sah ein wild umherirrendes Objekt, das sich von ihnen entfernte. Er hatte kurzerhand die Flucht nach vorne angetreten und den Angriff in die sensorfreie Zone verlegt. Damit nahm er der Bedrohung ihre Orientierung.

"Das ist die gute Nachricht, aber konntest du den Kollisionskurs mit der Störquelle berechnen?", fragte Coen angespannt. Sein Puls raste immer noch, obwohl die Rakete irgendwo weit von ihnen entfernt vermutlich gerade ausbrannte.

"Ich hatte die Berechnungen abgeschlossen. Leider war es mir nicht möglich sie zu verifizieren."     

"Wir haben vollen Schub. Wie lange werden wir brauchen, bis wir wissen, ob du dich geirrt hast?"

"Nur ein paar Minuten", sagte David ruhig. Er schaute aus dem Cockpit und beobachte, wie eine Rakete in einen Ausleger von "Schiff Nr.1" einschlug. Hoffentlich blieb von dem Schiff genug übrig für eine Verteidigung.

"Sie schießen weiter auf uns." David zeigte auf ein paar sich nähernde Raketen, welche in ihrer chaotischen Flugbahn nicht mal ansatzweise in ihre Nähe kamen.

"Sie passen die Richtung Stück für Stück an, aber ich denke wir sind zu klein für einen Zufallstreffer", erklärte David.

"Hoffen wir es. Jetzt, wo uns das Ende droht, würde ich gerne deine persönliche Meinung über uns als Experiment hören," versuchte Coen sich in Abwechslung, da sie derzeit keinerlei Einfluss auf das Geschehen dort draußen hatten.

"Du siehst, wo es uns hingeführt hat." David zeigte auf das dunkle Schwarz außerhalb des Schiffes.

"Wir haben in unserem arroganten Schatten der scheinbaren Überlegenheit geglaubt die Menschheit nach unseren Vorstellungen formen zu können. Selbst wenn die Sache am Ende für uns doch noch gut ausgehen sollte, haben wir eine schmerzhafte Lektion in Sachen Demut erteilt bekommen. Ich glaube nicht, dass wir diesen Ansatz weiter verfolgen sollten."

"Das ist richtig, denn Menschen sind dabei gestorben", hakte Coen ein. David schwieg.

"Ihr müsst euch dem stellen. Wenn noch irgendwas an Mensch in euch ist, könnt ihr damit nicht für alle Zeit leben." David schwieg weiterhin und Coen wollte weiter nachhaken, als sein Blick an einem sich nähernden Objekt hängen blieb.

"Die kommt verdammt nah an uns ran", kommentierte er die Rakete, die im Schlingerkurs genau auf ihr gläsernes Cockpit zusteuerte. Sie drohte rechts auszubrechen, korrigierte aber wieder nach links um in dieser Richtung zu übersteuern, bis sie wieder massiv gegensteuerte. Dieses taumelnde Schauspiel wiederholte sich einige Male, aber trotz dieser extremen Schwankung blieb sie ihrer Grundausrichtung treu und die führte geradewegs in die "diosa sublime".

"Wir müssen nach oben ausweichen." forderte Coen, aber in Davids Adern schien pures Eis zu fließen. Er machte keine Anstalten die Korrektur einzuleiten.

"Wir können den Kurs nicht ändern, dann haben wir verloren", erklärte er unruhig. Coen starrte auf das sich nähernde Unheil. Er wollte die Augen schließen und mit Hilfe irgendwelcher verborgenen mentalen Kräfte das Verderben in eine andere Bahn lenken, aber dieser absurde Gedanke half nicht, sich dem eigentlichen Übel zu stellen. Unfähig sich zu bewegen, sah er wie die Rakete gegen ihre extreme Linkslastigkeit ansteuerte und für einen Moment perfekt ausgerichtet einen optimalen Einschlagwinkel erzeugte. Nur noch ein Wort schaffte es in Coens Gedankenwelt, aber das in scheinbar unendlicher Wiederholung. "Übersteuer. Übersteuer. Übersteuer."

Die Zeit schien in diesem Moment stillzustehen und alle Reue und alles Bedauern machte sich bereit die verbliebenen Sekunden in seinem Leben zu vereinnahmen. In scheinbarer Zeitlupe driftete seine finale Bestimmung nach rechts und passierte im Millimeterbereich den Rumpf an Steuerbord.    

Coen atmete hörbar aus und als er seinen Blick Richtung David wendete, konnte er dessen Gelassenheit kaum fassen. War es nur eine gut antrainierte Fassade oder bestanden seine Nerven wirklich aus meterdicken Drahtseilen? Vielleicht hatten die Jahrhunderte an Lebenszeit eine Resilenz entwickelt, welche anfliegende Raketen mit einer Gleichgültigkeit bedachten, die jeglicher Bedrohung ihren Schrecken nahmen. Vielleicht würde sich diese Art der Gelassenheit über die Jahre auch bei Coen entwickeln. Vorrausetzung dafür war ein Überleben dieses Angriffes und da standen ihre Chancen weiterhin schlecht.

"Noch knapp drei Minuten." David deutete jetzt auf ein Objekt, welches im Frontbereich ihres Blickfeldes immer größer wurde. Aus der Nähe betrachtet, wirkte das Miniaturexson wie ein zurückgelassenes Spielzeug eines Kindes.

"Wir glauben, dass die Energiequelle aus aneinandergereihten Kristallen besteht", bestätigte David die bereits von Coen entworfene Theorie.

"Das glaube ich auch. Aber wieso wusstet ihr nichts davon?"

"Offenbar arbeiten unsere Quellen nicht so zuverlässig wie erhofft." Davids Blick war jetzt stur auf das stetig an Größe gewinnende Objekt vor ihnen gerichtet.

"Wir werden es verfehlen", bestätigte er Coens Vermutung als ihr Kurs immer weiter nach links driftete.

"Was jetzt?", fragte Coen.

"Ich werde die Triebwerke starten und hoffen, dass der Schub uns in die Richtung der Störquelle bringt", schlug David vor und war bereit das Manöver auszuführen.

"Das ist reines Glücksspiel", warf Coen ein.

"Hast du eine bessere Idee?"

"Die habe ich tatsächlich. Wir müssen das Schwingungsfeld der Rubikon-Kristalle stören", schlug Coen vor.

"Destruktive Interferenz. Dafür fehlt uns die Energie."

"Wir müssen die Wellen ja nicht komplett auslöschen, sondern nur ihre Resonanz stören. Wie eine Orgel, welche die falschen Töne erzeugt, wenn eine ihrer Pfeifen verschoben wird."

"Hoffen wir, dass wir wenigstens dafür nah genug rankommen. Ich bereite einen gebündelten Energieschub vor. Das Störungsfeld wird ihn zerstreuen und so ist nicht sicher, ob die Restenergie reichen wird, um die Pfeifen nachhaltig zu verrücken." Davids Finger flogen wild über die Bedienkonsole.

"Wir können nur raten, wann wir die kürzeste Distanz erreicht haben." David zögerte mit der Ausführung. Coens Blick richtete sich auf die Frontansicht und das Miniaturexson hatte mittlerweile solch enorme Ausmaße angenommen, dass bereits der größte Teil sich ihrem Sichtfeld entzog. Nur noch ein paar einzelne Ausläufer zierten den rechten Bereich ihrer Ansicht.

"Ich denke jetzt ist ein guter Zeitpunkt", sagte Coen und David nickte. Er bestätigte ein blinkendes Licht auf seiner Konsole und gab die Energie frei.

Davids abwartende Gesicht drohte in Resignation umzuschlagen, als nach zehn Sekunden keinerlei Anzeichen erkennbar waren, dass ihr Versuch die Rubikon-Kristalle nachhaltig zu stören den gewünschten Erfolg brachte. Gerade als er verbal seinen Unmut äußern wollte, stimmte die Bedienkonsole eine Symphonie an Warntönen an.

"Die Sensoren sind wieder brauchbar. Das Feld ist zusammengebrochen", jubelte David.

"Schön, aber irgendwie kann ich mich nicht so recht über die Alarmmeldungen freuen." Coen hatte ein ungutes Gefühl bei einer solchen Vielfalt an akustischer Panik.

"Wir werden angegriffen", bestätigte David die unheilvolle Eingebung. Er startete den Antrieb und änderte den Kurs, so dass das angreifende Schlachtschiff vor ihnen lag. Dies hatte bereits eine Vielzahl an Raketen auf die "diosa sublime" abgefeuert und der Annäherungsalarm verkündete mit zunehmender Frequenz die sich ständig verringernde Distanz.

"Da kommen sie", deutete David auf die winzigen Punkte, die sich rasch vergrößerten und damit ihr drohendes Unheil immer näher brachten.

"Komm schon "Schiff Nr.1". Lass uns nicht hängen", forderte Coen und sein Puls nahm in ähnlicher Frequenz zu wie der Alarmton. Er hielt den Atem an, denn die Bedrohung war jetzt in sechsfacher Ausführung deutlich erkennbar. Wenn nur eine von diesen Raketen durchkam, war jeglicher Widerstand mit einem Streich erledigt. Wo verdammt blieben diese verdammten Abfangraketen?

"Puh", konnte Coen sich nicht verkneifen als sechs Feuerbälle vor ihm den Erfolg des Abfangens optisch bestätigten. Die Verteidigung der Cree war wieder online und obwohl "Schiff Nr.1" einiges an Schäden aufwies, funktionierten die wesentlichen Systeme offenbar noch.  

"Ich glaube ich bin gerade um zehn Jahre gealtert", verkündete Coen, als sich sein Puls und sein Adrenalin auf einen normalen Pegel eingeschwungen hatten.

"Im Angesicht der Unsterblichkeit ein winziges Übel", scherzte David. Auch sein Gemütszustand war angeregt. Offenbar war das Eis in seinen Adern nicht ganz so gefroren, wie er hoffte.

"Und nun?", fragte Coen.

"Die Störquelle wurde bereits zerstört, so dass wir mit einer stabilen Kommunikation rechnen. Ich werde die "diosa sublime" in den Schutzbereich von "Schiff Nr.1" manövrieren", kommentierte David.

"Was passiert da?", Coen zeigte auf das angreifende Schiff des Liberators. David griff auf eine der Beobachtungsdrohnen zu und legte das Bild auf den Hauptschirm.

"Der Liberator geht zum Frontalangriff über."

"Sie nähern sich soweit an, um Bordkanonen und Raketen abzufeuern", schlussfolgerte Coen.

"Diese gebündelte Feuerkraft wird unser Schiff nicht überstehen."

"Was ist mit der Verstärkung?" David schüttelte den Kopf. Alle anderen Schiffe waren weiterhin blockiert. Sie bekamen zwar langsam die Oberhand auf dem Nebenkriegsschauplatz, würden aber das Schicksal von "Schiff Nr.1" nicht verhindern können.

"Wir müssen was machen", forderte Coen, denn das Schiff des Liberators befand sich jetzt in Waffenreichweite der Bordkanonen.

"Es ist zu spät. Die Beschädigungen sind zu stark. Ein paar gezielte Treffer und das Schiff bricht auseinander."

"Noch können wir uns verteidigen."

"Was nützt es. Wir können ein paar Treffer setzen, aber am Ende halten sie länger durch als wir."

"Wenn wir nicht gewinnen können, erkämpfen wir ein Remis", schlug Coen vor und erntete nur ein skeptischen Blick.

"Konzentriert das Feuer auf den Antrieb. Wenn sie nicht mehr fliehen können, werden sie mit uns untergehen."

"Eine Überlastung unseres Antriebs erzeugt eine Explosion, welche alles im Umkreis zerstört und ..." David vollendete den Satz nicht sondern tippte ein paar Anweisung in das Bedienterminal.

"Hoffentlich wird es reichen", sprach er mehr zu sich selbst, als er seinen Stellvertreter in der virtuellen Verteidigungsumgebung die neuen Anweisungen überbrachte. Als Bestätigung seines Pessimismus prasselte ein Hagel an Raketen auf das Heck von "Schiff Nr.1"

ein und riss große Teile aus dem Schiffsrumpf.

"So ziemlich alles, was wir haben, ist unterwegs in Richtung ihres Antriebes." David wechselte die Ansicht und Coen konnte erkennen, dass mindestens fünf Dutzend Raketen Richtung Gegner gefeuert wurden. Bei dieser unglaublichen Menge an Zerstörungskraft war die Wahrscheinlichkeit groß, dass nicht alles abgefangen werden konnte. Eine für die Cree ungewöhnliche Verzweiflungstat sollte als vermutlich letzte Aktion die drohende Niederlage verhindern. Unzählige Explosionen erschwerten den Überblick, aber als die Raketenabwehr des Feindes ihr möglichstes getan hatte, erkannte Coen zufrieden, dass die Triebwerke des Gegners einiges an Beschädigungen aufwiesen.

"Wir haben alle Haupttriebwerke erwischt. Das wird einige Zeit dauern, bis sie die wieder hochgefahren haben", resümierte David.

"Die Überladung des Antriebs von "Schiff Nr.1" hat begonnen. Für uns heißt es jetzt die Deckung verlassen und soviel Abstand wie möglich zwischen uns und der Explosion zu bringen." David beschleunigte die "diosa sublime". Damit wurden sie wieder potentielles Ziel für Angriffe.

Kaum hatten sie ihren Schutz verlassen, ertönte das bereits bekannte Panikorchester aus Warntönen. Offenbar hatte der Liberator beschlossen so ziemlich jede Waffe auf die Fliehenden abzufeuern. "Schiff Nr.1" war mittlerweile kampfunfähig und konnte ihnen dieses Mal keinerlei Hilfe anbieten.

Die verbliebenen Abfangjäger taten ihr Bestes, um dem drohenden Unheil entgegenzuwirken, aber die Vielzahl an Raketen überforderten die heillos unterlegenen Drohnen. Der spontane Verzweiflungsakt der Cree, welche mit dem Opfer ihrer stärksten Verteidigungswaffe eine unerwartete Wendung der schon sicher geglaubten Niederlage hervorrief, quittierte der Liberator seinerseits mit dem unbedingtem Willen, die Verluste auf der Verteidigerseite wenigstens nicht auf null stehen zu lassen.

Eine Unmenge an Raketen steuerte auf die "diosa sublime" zu und drohte für das angestrebte Remis einen blutigen Preis zu verlangen. Die Frequenz der Warntöne wurde schneller und als Coen auf den Bildschirm des Umgebungsscanner schaute, zählte er mehr als ein Dutzend Punkte, die unaufhaltsam auf ihr Heck zusteuerten. Nur am Rande nahm er die Explosion wahr, welche "Schiff Nr.1" von innen zerfetzte und seinen Angreifer mit ins Verderben riss. Ein letzter Triumph vor dem finalen Kapitel seiner viel zu kurzen Lebensgeschichte. Er wollte die letzten Augenblicke nicht in Panik verbringen und so schloss er die Augen, lächelte und holte einer dieser legendären Momente mit Kenya aus den Schubladen seiner Erinnerung. Er war bereit für den Tod, aber als die Warntöne verstummten, blieb ihm das unausweichliche Schicksal doch erspart.

"Was ist passiert?", fragte er David, als er ungläubig den Umgebungsscanner prüfte. Nichts Bedrohliches flog mehr auf sie zu, aber wo zum Teufel waren die Raketen abgeblieben.

"Ich musste es tun", rechtfertigte sich David, der am ganzen Leib zitterte.

"Was tun?", fragte Coen und überprüfte das Schiff auf Beschädigungen. Da gab es nicht mehr viel zu überprüfen. Allein das Cockpit war noch vorhanden.

"Oh mein Gott. Du hast das Frachtmodul abgekoppelt", schlussfolgerte Coen.

Ein apathischer David starrte auf die Schwärze des Weltalls. Coen wollte etwas sagen, aber kein Wort der Welt hätte das mindern können, was David gerade durchmachte und so entschied er sich zu schweigen, bis sein Gegenüber bereit war die Stille zu brechen. Eine Stunde kreisten sie im Orbit, ohne auch nur einen erkennbaren Laut von sich zu geben. Coen war sich nicht sicher, ob David sich in der Zeit überhaupt bewegte, aber eins konnte er mit Gewissheit sagen. Selbst wenn es David vergönnt war weitere tausend Jahre zu leben, würde dieser Moment nie in Vergessenheit geraten. Diese eine Entscheidung über den Tod von einem Dutzend Kameraden hatte ihm eine lebenslange Bürde auferlegt.

"Hättest du genauso gehandelt?", fragte er unverhofft, als Coen glaubte, dass David seine Schockstarre niemals überwinden würde. Wollte er überhaupt eine Antwort oder brauchte er nur eine Rechtfertigung. Coen zog es vor nicht zu antworten.

"Vierzehn Leben. Dieser verdammte Knopfdruck hat vierzehn Leben gekostet", sagte David mit zittriger Stimme und starrte auf die Stelle des Bedienbildschirms, welche das Frachtmodul abkoppelt.

"Hättest du ihn nicht gedrückt, wären es sechzehn gewesen", sagte Coen leise. Davids Blick wanderte vom Bedienfeld des Verderbens zu Coens Gesicht. Noch nie hatte er soviel Verzweiflung in einem Gesicht der Cree gesehen.

"Das ist diese verdammte Cree-Logik. Sie wiegt Leben gegeneinander auf. Eine Gleichung, bei der die Variablen und Konstanten geschoben und gekürzt werden, bis das x an der richtigen Stelle steht." Er tippte sich an die Stirn, bevor er fortfuhr.

"Da oben ist alles darauf ausgerichtet die nützlichste Entscheidung zu treffen. Aber ist es auch die beste Entscheidung? War es richtig meine eigene Haut zu retten?", fragte er sich voller Selbstzweifel. Mitleid machte sich in Coen breit, aber das war derzeit unangebracht. Mit fester Stimme fuhr er fort.

"Du kannst nicht rückgängig machen, was geschehen ist. Wie ich das sehe bleibt dir nur die Wahl zwischen vierzehn ehemaligen Kameraden, von denen du nicht weißt, ob sie dir aus dem Jenseits Vorwürfe über deine egoistische Entscheidung machen oder einem ewig dankbarem Überlebendem, der froh ist, dass du diesen verdammten Knopf gedrückt hast", sagte er bestimmt. David sah ihn einen Moment nachdenklich an, so als müsste er das Gesagte kurz verarbeiten.

"Vermutlich steckt mehr Cree in dir, als du zugeben möchtest." Davids Finger begannen in alter Routine über die Kommandokonsole zu fliegen.

"Schauen wir mal, wie es da draußen aussieht." Offenbar hatte der rationale Cree die Herrschaft in seinem Verstand zurückerobert.

"Der Rest unserer Flotte liegt regungslos im All. Der Feind hatte es wohl nicht für nötig gehalten sie zu zerstören, sondern lieber den Rückzug angetreten. Das spricht dafür, dass der Liberator an Bord des zerstörten Schlachtschiffes war. Mit dem Verlust des Anführers hat wohl keiner die Notwendigkeit gesehen weiter zu kämpfen", schlussfolgerte David in bester Cree-Tradition, so als hätte es das Gefühlschaos vor wenigen Momenten nie gegeben.

"Dann haben wir wohl gesiegt", bestätigte Coen.

"Nur über den einen Feind. Es besteht zu befürchten, dass die Science unsere Schwäche nutzen wird."

"Sie werden angreifen?"

"Das würden wir nicht überleben. Wir haben aber noch einen Trumpf", sagte David kryptisch, als er den Rest der "diosa sublime" in Richtung Planetenoberfläche steuerte.

Coen hatte eine Art Empfangskomitee erwartet, als David die Überreste des Frachters im Raumhafen landete, doch niemand hielt es für notwendig die Helden oder je nach Sichtweise die Egoisten zu begrüßen. Eine kurze Anweisung über ein Lagetreffen war alles, was ihnen verbal entgegen gebracht wurde, dann verschwand der Bote wieder in den Weiten der unterirdischen Stadt.

Coen begleitete David zur Auswertung der vergangenen Stunden und nachdem sie die Ereignisse auf der "diosa sublime" detailgetreu wiedergegeben hatten, gab es keinerlei Vorwürfe oder sogar Anklagen. Im vom Effizienz geprägten Kosmos der Cree handelten sie in der bestmöglichen Art und Weise und so blieb es allein David vorbehalten mögliche emotionale Widersprüche zu verarbeiten.

"Sie haben die Rechtmäßigkeit deiner Entscheidung bestätigt", versuchte Coen einen immer noch niedergeschlagenen David aufzumuntern.

"Mit nichts Anderem habe ich gerechnet", erwiderte er mit dünner Stimme.

"Für Vaja und die Anderen war deine Entscheidung nichts Anderes als die beste Abwägung aller Wahrscheinlichkeiten. Aber was ist eine Gesellschaft wert, in der der Tod ihrer Mitglieder als notwendiges Übel betrachtet wird und die Trauer über den Verlust als eine Art Behinderung angesehen wird. Wie könnt ihr leben mit dieser Art von Unterdrückung von allen Emotionen?", fragte Coen. David schwieg eine Weile und setzte dann zu einer Erklärung an.

"Es ist für mich nicht das erste Ereignis, dass mich in diese Art von Ausnahmezustand versetzt hat. Beim ersten Mal drängte alles in mir nach dieser seelenlosen Abgebrühtheit der Anderen, aber selbst die größte Disziplin erschuf nur ein Gefühl des Selbstbetruges. Was immer bei mir auch anders lief bei der Wandlung zum Cree, Emotionen gehören zu meiner Persönlichkeit. Ich brauchte Jahre für diese Erkenntnis, aber am Ende fühlte sich das Eingeständnis einen wesentlichen Teil meiner menschlichen Seite behalten zu haben als Befreiung an. Auch wenn der Schmerz in mir derzeit groß ist, weiß ich, dass ich gerade einen nicht unwesentlichen Schritt in meiner Persönlichkeitsbildung durchlaufe. Die Jahrhunderte haben mich gelehrt, dass selbst die schlimmsten Erfahrungen ihren Nutzen hervorbringen. Es liegt jetzt an mir dieses Desaster best möglich zu verarbeiten. Diese Erkenntnis, dass die dunkle Seite des Lebens die wahre Herausforderung im Umgang mit der Unsterblichkeit ist, steht dir noch bevor. Ich würde dir gerne einen Ratschlag dahingehend geben, aber die Wahrheit ist, dass es nichts gibt, was dich darauf vorbereiten kann. Es wird dich überrollen und den Coen in einer Weise verändern, die unter Umständen Freunde zu Feinden macht. Leben ist ein ständiger Prozess der Veränderung und da wir davon unendlich viel besitzen, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass wir das komplette Spektrum menschlicher Persönlichkeiten durchleben. Wer weiß. Vielleicht bekriegen wir uns das nächste Mal da oben."

"Noch sind wir Verbündete", erwiderte Coen nachdenklich.

"Und müssen uns dem nächsten Feind stellen. Die Science wird unsere Schwäche ausnutzen wollen. Wir müssen schnell handeln. Ein Treffen ist bereits vereinbart. Hoffen wir, dass wir weitere Tote verhindern können", erklärte David.

"Was hast du vor?", fragte Coen.

"Das wirst du sehen, denn du wirst mich begleiten."

"Das wird der Rat nie erlauben."

"Hat er schon. Ich habe ihn von deiner Nützlichkeit bei der Verteidigung überzeugen können."

"Da hast du aber mächtig übertreiben müssen, denn viel habe ich nicht geleistet", beschwichtigte Coen.

"Die Wahrheit ist: Ich habe dich gern an meiner Seite. Es erleichtert ungemein, wenn jemand nicht ausschließlich von Logik getrieben wird. Außerdem ergibt sich für dich die Möglichkeit mehr über das Schicksal von Kenya zu erfahren. Ich glaube das schulden wir dir. Also. Bist du dabei?", fragte David. Coen nickte.

"Gut. In zwei Stunden brechen wir auf." David ließ ihn einfach stehen und als Coen sich in sein Quartier begab, blieb wenig Zeit die Geschehnisse im All zu verarbeiten. Sein Geist würde vorerst keine Ruhe finden, denn die Ereignisse gingen in die nächste Runde. Ein unendlicher Kreislauf aus Stress, den sein verbesserter Verstand offenbar gut verarbeiten konnte. Der alte Coen mit seiner mentalen Instabilität hätte sich längst der Erschöpfung hingegeben. So blieb ihm genug Energie kräftig am Rad der Menschheitsgeschichte zu drehen, denn nichts anderes passierte gerade. Den ersten Konkurrenten hatten sie vom Brett gefegt. Jetzt galt es nicht selber in den Geschichtsschreibungen als gescheitertes Experiment einer verwirrten Gesellschaftsform zu verkommen. Was David auch vorhatte. Militärisch konnten sie der Science nichts mehr entgegensetzen.

Es dämmerte bereits als der Flugtransporter den unterirdischen Raumhafen der Cree verließ. Dieser Tag, dessen letzte Sonnenstrahlen am Horizont verschwanden, war einer der ereignisreichsten in Coens Leben. Die halbe Stunde Flugzeit reichte gerade aus, um sich die wesentlichsten Höhepunkte wenigstens im mentalen Schnelldurchlauf in Erinnerung zu rufen. Es war ihm unmöglich in dieser Vielzahl an kritischen Situationen sich an jedes Details zu erinnern. Dass er mehr als ein Mal um sein Leben fürchtete war ihm bewusst, aber die genauen Umstände waren irgendwo in seinem Geist verschollen. Sein Verstand weigerte sich in dieser Phase der Anspannung solche Kleinigkeiten zu ergründen. Viel wichtiger erschien ihm das kommende Treffen und so gab er es irgendwann auf. Es war nicht die Zeit für eine Verarbeitung, denn der Tag mit seiner scheinbaren Unendlichkeit an Ereignissen hatte noch mehr zu bieten. Hoffentlich gab es überhaupt irgendwann die Möglichkeit in Ruhe das Ganze zu analysieren, denn David hielt sich weiterhin bedeckt über die Art und Weise dieser Zusammenkunft.

Sie hatten keine Waffen dabei, als sie das kleine Haus in der Innenstadt betraten. Paradoxerweise beruhigte ihre Wehrlosigkeit Coen, denn David schien nicht von einer gewalttätigen Auseinandersetzung auszugehen. Ein untersetzter Mann bat sie mit grimmiger Miene herein und aus seiner Ablehnung solch verkommene Subjekte wie sie auch nur ansehen zu müssen, machte er keinen Hehl. Die mediale Kampagne der letzten Wochen hatte jeden Cree zu Sündenböcken für alles Leid des Planeten erkoren. Trotzdem ließ es David sich nicht nehmen mit Freundlichkeit diese unangebrachte Einstellung zu erschüttern.

"Danke, dass Sie uns so bereitwillig empfangen." Den Worten folgte ein ehrliches Lächeln und tatsächlich verunsicherte es den Gastgeber sichtlich. Er hatte vermutlich ein ordentliches Salär bekommen für die Bereitstellung seiner privaten Behausung. Wusste er, dass gerade ein historischer Moment in seinem Wohnzimmer vollzog. Vermutlich nicht, denn die Jetons waren sicherlich so reichhaltig, dass er es nicht für nötig hielt Hintergründe zu erfragen.

Sie folgten dem Hausherren den Flur entlang, der an einer offenen Tür endete. Ein kurzer Fingerzeig genügte, dann verschwand der verstimmte Mann schweigend in einem der Nebenräume. Vorsichtig ging David auf die offenstehende Tür zu und wagte einen kurzen Blick in den Raum. Er nickte Coen zu ihm zu folgen und als dieser durch die Tür schritt, bot sich ihm ein seltsamer Anblick.

Der Raum diente offensichtlich als Wohnzimmer, denn die Einrichtung war voll gestellt mit Dingen, deren Zweck jede praktische Notwendigkeit fehlte. Bilder von fremden Leuten standen auf den Kommoden neben Glasfiguren und seltsam geformten Steinen. Die Wände waren in einem fürchterlichen Grünton gestrichen, der das langweilige metallische Design der Cree-Innenarchitektur zur Erholungsoase empor hob. Unpassend dazu stand ein knallrotes Sofa in der Mitte des Raumes, welches einen Glastisch einrahmte auf dem mehrere Getränke und ein paar Früchte standen. Wirklich absurd wurde es, als er die beiden Männer in Uniform erblickte. Als wollte die Farbe blau ihr Anrecht auf diese verkorkste Farbenvielfalt gelten machen, saßen die beiden Soldaten als verwirrender Kontrast auf der Couch und musterten die Neuankömmlinge.      

"Kommen Sie nur rein", wurden sie von dem ranghöheren Offizier begrüßt. Coen erkannte ihn wieder.

"Cahn." raunte er.

"Gut. Sie kennen mich bereits", erwiderte er arrogant, als wäre er es gewohnt überall erkannt zu werden.

"Allerdings. Bei unserem letzten Treffen hatten Sie die Absicht mich umzubringen." Coen konnte die Wut in seiner Stimme nur unzureichend unterdrücken.

"Tatsächlich. Dann können Sie ja froh sein heute hier zu stehen. Es gibt nicht Viele, die das Privileg haben zu überleben", provozierte Cahn. Mit Erfolg. Coens Wutpegel stieg weiter an.

"Genug der höflichen Begrüßungsfloskeln. Setzen Sie sich. Wir haben wichtige Dinge zu bereden", forderte Cahn die beiden auf. Widerwillig setzten sie sich den Soldaten gegenüber.

"Ich nehme an, Sie haben um dieses Treffen gebeten um über ihre Kapitulation zu verhandeln", begann Cahn nach einer kurzen Pause und nippte angewidert an einem Glas mit Hochprozentigem.

"Nein. Wir wollen einen Waffenstillstand aushandeln", erwiderte David gelassen.

"Pah. Sie haben keine Waffen mehr, die Sie stillhalten könnten. Wir dagegen..." Cahn nahm eine aufgeschnittene Zitrusfrucht in die Hand und quetschte sie symbolisch aus. David zog ein Pad aus seiner Tasche und wischte gelassen über das Display. Nach ein paar Sekunden hatte er gefunden, was er suchte und schob das Pad dem selbstgefälligen Offizier hin.

"Was ist das?" Gelangweilt überflog Cahn den dargebotenen Zeitungsartikel.

"Unsere Verhandlungsmasse", erwiderte David kryptisch.

"70 Dorfbewohner auf Cayuse sind verschwunden. Wen kümmerts?"

"Lesen Sie weiter", forderte David, aber Cahn schob das Pad zu seinem Begleiter rüber.

"Können Sie da irgendwas von Relevanz erkennen?" Der Angesprochene las den Bericht mit mehr Sorgfalt und nach etwa zwei Minuten verfinsterte sich seine Miene.

"Was?", fragte Cahn erregt und entriss ihm das Pad.

"Die Polizei griff zehn der Vermissten im Raumhafen der Hauptstadt auf", zitierte Cahn den Artikel.

"Nach Recherchen der örtlichen Behörden versuchten die Festgenommenen eine Passage nach Cree zu buchen." Die letzten Worte starben fast ab.

"Ok. Jetzt bin ich neugierig." Sämtliche Arroganz war aus Cahns Stimme verschwunden. Davids Blick fiel auf Coen.

"Darf ich Ihnen Coen vorstellen. Seine Heimat ist Comox und sein Intellekt erreichte bis vor kurzem nicht ein Mal Durchschnitt. Heute löst er schwierige Differenzialgleichungen und ähnlich wie die armen Seelen in diesem Artikel sieht er Cree als seine neue Heimat an", erklärte David.

"Ihr Verrückten habt diese armen Dorftrottel zu Cree transformiert?", fragte Cahn erschrocken.

"Überall und zu jeder Zeit sind wir dazu in der Lage", erklärte David trocken.

"Wir haben unsere Leute an allen wichtigen Punkten der Galaxie stationiert. Sollten sie von der Zerstörung unserer Heimat erfahren, werden sie aktiv. Glauben Sie mir, dann wird es nicht nur Bauern treffen", fuhr David fort.

"Das ist Terrorismus", entfuhr es Cahn gepresst.

"Wissen Sie, was eine Expotentialfunktion ist? Am Anfang sind wir Wenige, aber jeder neue Cree wird weitere Menschen wandeln. Vielleicht schaffen Sie es uns aufzuhalten, bevor es in den steilen Anstieg geht. Wenn nicht ist es nur eine Frage der Zeit, bis wir in der Mehrheit sind. So muss es aber nicht kommen", erklärte David.

"Unser Angebot. Wir tun es nicht und bleiben friedlich hier auf Cree. Der Planet fällt nicht unter das Einflussgebiet der Science. Was sie sonst dort draußen treiben ist uns vollkommen egal, aber Cree bleibt außen vor." Jetzt war es an David zu fordern.

"Wer sagt mir, dass es wirklich so ist. Vielleicht war das nur ein gutgemachter Trick auf Cayuse?", versuchte Cahn ein wenig Selbstsicherheit zurückzugewinnen.

"Das ist Teil ihrer Entscheidung, aber Sie wissen, dass wir die Möglichkeiten dafür haben." David wartete auf eine Antwort. Keine Regung zierte jetzt Cahns Antlitz. Zwei Pokerspieler, die auf Fehler des jeweils Anderen lauerten.

"Ich kann das nicht allein entscheiden." Cahn verlor das Machtgehabe.  

"Das ist mir bewusst", antwortete David gelassen.

"Lassen Sie sich alle Zeit der Welt für eine Entscheidung", fuhr er fort und erhob sich.

"Ich habe eine von ihren Leuten als Überläuferin." Cahn gab sich noch nicht geschlagen. David vermied es auf diese Bemerkung zu antworten.

"Wie geht es ihr?", fragte Coen stattdessen.

"Gut. Noch jedenfalls, aber ich denke sie wird die zweifelhafte Ehre haben, als erstes Opfer des neuen Konfliktes zwischen Cree und Science in die Analen einzugehen", provozierte Cahn. Er war es nicht gewohnt als Verlierer vom Platz zu gehen. Coen behielt die Beherrschung obwohl der heimtückische Gesichtsausdruck nach einem Faustschlag schrie.

"Sie hat ihre Entscheidung getroffen und muss mit den Konsequenzen leben", erwiderte David ruhig. Damit nahm er Cahn die Freude an der Provokation.

"So sei es", sagte Cahn listig und erhob sich ebenfalls.

"Wir sehen uns wieder und wer weiß, ob die Sache so entspannt ablaufen wird", fuhr er fort. Er schenkte David einen drohenden Blick, welcher mit schier unbändiger Gelassenheit erwidert wurde. Ein letzter Akt des Kräftemessens, dann verließen die beiden Cree das Haus.

"Sag mir, dass das Ganze nur ein Bluff war", forderte Coen, als sie die Straßen der Hauptstadt durchquerten. David schwieg und bestätigte Coens schlimmste Vermutungen.

"Ihr tötet Menschen damit", entfuhr es Coen. David stoppte und sah sich zu einer Rechtfertigung genötigt.

"Wir gehen nicht davon aus, dass wir dieses Mittel wirklich einsetzen müssen."

"Es wäre Massenmord. Auf Cayuse ist der Großteil der Bauern bei der Wandlung gestorben. Das waren unschuldige Menschen, die in einen Konflikt hineingezogen wurden, mit dem sie nichts zutun hatten." David erwiderte nichts.

"Was passiert, sollte die Science sich dazu entschließen euren Waffenstillstand abzulehnen? Werdet ihr tausende unschuldige Leben opfern?", fragte Coen.

"Im Krieg gibt es nun mal Opfer."

"Ihr seht euch als die nächste Stufe der Evolution, aber im Grunde genommen habt ihr nur die Mechanismen von Gewalt, Tod und Leid in neue Gewänder gepackt. Diese Rechtfertigungen für das eigene Überleben gab es tausendmal in der Geschichte der Menschheit. Ihr seid nicht innovativ in eurer Gesellschaftsform. Ihr betreibt eine Ideologie, die auf den Grundsätzen von Logik beruht. Tödlicher Logik."

"Sollen wir uns opfern?" David war aufgebracht.

"Ihr steckt fest in dem Wahn bei jeder Entscheidung das bestmögliche für die Cree zu erhalten. Vielleicht wird es Zeit eigene Opfer zu akzeptieren, um das große Ganze in die richtige Richtung zu lenken. Es gibt nicht nur Extreme. Lernt Kompromisse auszuhandeln. Nur Science oder nur Cree bringt unweigerlich die Auslöschung einer Seite. Warum findet ihr keine Lösung, die das Beste beider Seiten vereint. Das wäre mal wirklicher Fortschritt. Dafür müsst ihr euch von alten Mustern lösen und Schritte wagen, die jenseits eurer Philosophie sind."

"Diese Lösung gibt es doch bereits." David zeigte mit dem Finger auf Coen.

"Ihr könntet das erste Glied sein, welches Science und Cree zusammenführt. Nur der Zeitpunkt passt nicht. Wir drohen uns gerade gegenseitig zu vernichten, aber sollte die Eskalation vermieden werden, könntet ihr genau das Bindeglied werden. Ein Änderungsprozess, der nicht von heute auf morgen zu verwirklichen ist. Das wird vermutlich Jahrzehnte dauern. Wir haben Zeit. Wir müssen nur aufpassen uns bis dahin nicht gegenseitig zu vernichten. Vertraue mir. Die Science werden den Waffenstillstand akzeptieren. Auch dort gibt es Kräfte, welche die Veränderung wollen und vielleicht wird Kenya eine Botschafterin der neuen gemeinsamen Zukunft." David klang euphorisch.

"Das wird alles ein wenig viel", erwiderte Coen.

"Das Ganze überfordert euch, aber ihr werdet in die Aufgabe hineinwachsen. Ich werde euch unterstützen. Gemeinsam werden wir die Cree auf den richtigen Weg führen, auch wenn wir noch nicht wissen wie dieser aussieht."

Zehn Minuten später erreichten sie den Transporter und als Coen sich in den Sitz fallen ließ, schien die Last nie größer.

David entwickelte sich für Coen zu einem undurchschaubaren Phänomen. Gefangen zwischen Cree und Mensch hatte seine Entwicklung in den letzten Jahrhunderten eine schwer zu deutende Richtung angenommen. Auf der einen Seite würde er alles für das Überleben seines Volkes tun, anderseits stand da der unbedingte Wille für ein friedliches Miteinander mit den Menschen. Ein Balanceakt der auch Coen bevorstand. Die Jahrhunderte hatte David zu der Erkenntnis gebracht, dass die zwei Seiten einer Medaille Stück eines gemeinsamen Ganzen waren. Bisher stand er mit dieser Ansicht alleine da. In Coen und den Anderen sah er die ersten Verbündeten, die er trotz eines Mangels an Erfahrungen über die Jahre zu seinen Mitstreiter formen wollte. Doch diese potentielle Verstärkung strotzte vor Unsicherheit und das Wandeln zwischen den Welten entpuppte sich mehr und mehr zur unlösbaren Herausforderung.

Davids Motiv schien tadellos und auf den ersten Blick gab es nur wenige Argumente sich diesem edlen Vorhaben zu verweigern. Es deckte sich mit seinen eigenen Bestrebungen, aber die Wahl der Mittel für die Umsetzung erzeugte eine Art von Zweifel, die David schwer einschätzbar machte. Die Geschichtsbücher waren voll von gescheiterten Ansätzen die Menschheit in eine besseres Zeitalter zu führen. Dem letzten Versuch hatten sie gerade im Orbit ein Ende gesetzt. Die Gefahr zum willigen Handlanger erzogen zu werden, war groß. Er konnte dieses Gedankenkarussell zu keinem vernünftigen Ende führen. Zum ersten Mal an diesem Tag überkam Coen die Müdigkeit. Die Nanobots zwangen ihn zur Regeneration und als der Transporter im unterirdischen Raumhafen landete, schleppte er sich wie ein Zombie in sein Quartier. Ohne große Abendhygiene ließ er sich auf sein Bett fallen und schlief umgehend ein.

Kapitel 9

Er erwachte am nächsten Morgen weit nach dem offiziellen Ende der festgelegten Regenerationsroutine der Cree. Offenbar gönnten die Cree ihm den zusätzlichen Schlaf, denn die Ereignisse des Vortages hatten wahnsinnig viel Energie gekostet. Als Bestätigung diente der Blick in den Spiegel, der einen untergewichtigen Coen abbildete, dessen eingefallenes Gesicht auf eine nächtliche Crashdiät schließen ließ. Sein Magen verlangte nach Nahrung, aber vorerst ignorierte er das aufdringliche Knurren. Die übermäßige Adrenalinausschüttung des Vortages verlangte nach einer Dusche und als er sich unter dem kläglichen Wasserstrahl einseifte, hatte er das Gefühl einem Skelett die letzte Ölung zu verpassen.

Sauber und in frischer Kleidung betrat er ausgehungert den Speisesaal, der zu diesem Zeitpunkt vollkommen leer war. An einem der Tische hatte der Verantwortliche bereits sein Frühstück bereitgestellt, dass heute von vielen Kaloriengetränken mit dunkler Färbung eingerahmt wurde. Begierig leerte er die erste Flasche und sein Körper schaltete kurze Zeit später eine Energiestufe höher. Die kleinen Biester in seiner Blutbahn lauerten im Standbye-Modus auf ihr Futter und konnten endlich ihren unheilvollen Tätigkeiten in seinem Inneren nachgehen.

Er machte sich gerade über den bereitgestellten Haferbrei her, als Oliver erschien. Er hatte sich als Anhänger der Cree preisgegeben, doch Coen war sich sicher, dass auch in ihm die Saat des Zweifels wuchs. Sein bevorstehender Zwist zwischen Mensch und Cree würde er von der anderen Seite her angehen. Er musste seine neue Seite hinterfragen. Coen dagegen hatte mit seinem alten Ich von Comox zu kämpfen. Zwei unterschiedliche Betrachtungsweisen für ein und die selbe Herausforderung. Ein Prozess der Jahre für seine Entwicklung brauchte, aber als Oliver auf ihn zusteuerte, konnte er klar und deutlich erkennen, dass er kurzfristigere Probleme hatte.

"Athena ist verschwunden", kam er ohne große Begrüßungsfloskeln gleich zur Sache. 

"Sie ist geflohen?", fragte Coen .

"Das glaube ich nicht. Die Cree ignorieren ihr Verschwinden. Jegliche Nachfragen bleiben unbeantwortet."

"Das ist seltsam."

"Ich hatte gehofft, dass du herausfinden kannst, was passiert ist", spielte Oliver auf Coens gutes Verhältnis zu David an.

"Ich kann es probieren, aber wenn sie dir schon nicht sagen, was mit ihr passiert ist, habe ich bei mir auch nicht viel Hoffnung", konterte Coen mit der bewiesenen Loyalität von Oliver.

"Befragen wir sie gemeinsam", schlug Oliver vor.

"Einverstanden. Ich hoffe meine Nanobots sind auf Betriebstemperatur." Coen schob den Teller beiseite und nahm einen großen Schluck aus der violetten Kalorienflasche. Er folgte Oliver auf den Flur und als sie zehn Minuten später im großen Verwaltungsgebäude vor Davids Bürotür standen, zögerten sie mit dem Anklopfen.

"Was glaubst du ist passiert?", fragte Oliver.

"Ich habe keine Ahnung. Du bist derjenige, der ihr Handeln besser versteht als jeder Andere von uns."

"Ich befürchte es hat mit eurem Ausflug vor kurzem zu tun."

"Durchaus möglich."

"Die Antwort finden wir hoffentlich hinter dieser Tür." Coen klopfte und nach einem kräftigem "Herein" betraten sie Davids spärlich eingerichtetes Büro.

"Was kann ich für euch tun?", fragte er sichtlich erfreut über den Besuch.

"Athena", beantwortete Coen seine Frage mit einem einzigen Namen.

"Setzt euch." Davids Mine wurde ernst.

"Sie ist weg und wir würden gern wissen, was mit ihr passiert ist", forderte Oliver.

"Ich werde es euch erklären, da es Morgen vermutlich ohnehin in allen Zeitungen stehen wird."

"Der Anschlag. Ihre Fingerabdrücke. Ihr habt sie..." Coen konnte den Satz nicht vollenden.

"Wir benötigen die öffentliche Meinung auf unserer Seite", rechtfertigte sich David.

"Aber ihr könntet es ihnen erklären. Das wir reingelegt wurden und die Science hinter den Anschlägen steckt."

"Das wäre bei dem gerade verhandelten Waffenstillstand das Schlimmste, was wir machen könnten." 

"Was soll das bedeuten?", fragte Oliver.

"Sie ziehen doppelten Nutzen aus der Auslieferung von Athena." schlussfolgerte Coen.

"Zum einen könnt ihr die örtliche Bevölkerung von eurer friedliebenden Art überzeugen, indem ihr Gewaltverbrecher den Behörden übergebt und zum Anderen verstärkt ihr euren Willen euch an euren Teil des Waffenstillstandes zu halten, indem ihr die Science von dem Anschlag praktisch freisprecht", fuhr er fort.

"Athena ist ein Opfer für eure politische Interessen?", fragte Oliver.

"Ja", gab David unumwunden zu.

"Das hat sie sicherlich nicht freiwillig getan." Oliver war aufgeregt.

"Es war notwendig", rechtfertigte sich David.

"Ihr droht die Hinrichtung." Olivers sonst so gefasste Ausstrahlung war vollkommen hinüber.

"Es tut mir Leid", kam es erneut von David. Oliver war unfähig weitere Worte des Protests anzubringen.

"Ihr habt die Vereinbarung gebrochen." Coens Stimme zitterte.

"Freie Entscheidung über unser Schicksal, wenn wir euch helfen. So haben wir uns geeinigt."

"Dieser Handel ist weiterhin gültig."

"Aber offenbar nicht für Athena." Coen klang sarkastischer als ihm lieb war. David unterließ neue Rechtfertigungen. Weitere Worte waren auch nicht nötig. Alle Anwesenden kannten die Hintergründe dieses Verrats, der aus Sicht der Cree eine Notwendigkeit darstellte. Es reihte sich ein in die rationalen Entscheidungen, welche menschliche Experimente oder Terrorismus als geeignete Mittel rechtfertigten. Coen musste eine Entscheidung treffen, bevor es weitere Opfer dieser tödlichen Effizienz gab, die frei von emotionalen Befindlichkeiten jegliche Form von Kollateralschaden akzeptierte.    

"Ich komme damit nicht klar", stotterte Coen.

"Mit was genau?" fragte David.

"Mit dieser Art von Problemlösung."

"Die Jahrhunderte haben mich gelehrt, dass es keine komfortable Lösung gibt. Der Erfolg erfordert unangenehme Entscheidungen. Was zählt ist unsere Bestimmung. Wir müssen die Menschheit einen. Du bist jung und du tust dich schwer erlernte Denkmuster aufzubrechen. Vertrau mir. Ich habe all die Sackgassen probiert, von denen du glaubst, dass sie vernünftige und schonende Alternativen wären. Das funktioniert nicht. Ich habe Athena geliebt, doch du siehst es aus der falschen Perspektive. Ihr Tod ist weder Verrat noch ist es ein Opfer. Es ihr Beitrag auf dem Weg zum ganz großen Ziel. Damit verleiht sie ihrem kurzen Leben mehr Sinn, als es dem Großteil der Menschheit vergönnt sein wird", erklärte David.

"Nein. Nein. Das funktioniert so nicht." Coen klang verstört.

"Ihr müsst mir vertrauen. Ich will euren leidvollen Weg der Erkenntnis nur verkürzen", kam es flehentlich.

"Wo ziehst du die Grenze? Wird Massenmord dem großen Ganzen untergeordnet. Wenn es dem Liberator gelungen wäre seine Bodentruppen zu stationieren, hättet ihr die ganze Hauptstadt ausgelöscht?", hakte Oliver ein.

"Es gab tatsächlich Pläne für einen biologischen Angriff, doch die Wahrscheinlichkeit für dieses Szenario war gering", gab David unumwunden zu.

"Ihr seid verrückt. Nein, du bist verrückt. Du bist vollkommen verrückt", faselte Coen. Durch die gemeinsame Neigung zu Emotionen hatte er in David einen Freund gesehen. Als ihm dieser seine noblen Ziele zur friedlichen Koexistenz zwischen Cree und Science offenbarte, entwickelte er sogar eine Art Verehrung für ihn. Nun präsentierte er die notwendigen Werkzeuge zur Umsetzung seiner Pläne und die waren mit seinen eigenen Überzeugungen nicht in Einklang zu bringen. Selbst wenn David mit seinen Ansichten den wahren Pfad der Erkenntnis gefunden haben sollte, gab es für Coen nicht einfach die Möglichkeit den Schalter umzulegen.

"So funktioniert das nicht", fing Coen an seine eigene Sicht der Dinge darzulegen.

"Mag sein, dass du Recht hast, aber mir fehlt die Überzeugung deinem Weg zu folgen. Vielleicht bestehen die Alternativen wirklich aus Sackgassen, aber ich muss jede Einzelne persönlich prüfen, bevor ich auch nur in Erwägung ziehe deinen Wahnsinn als brauchbare Lösung zu akzeptieren. Ich muss raus aus dieser Blase aus Logik, von daher werde ich Cree verlassen", legte er sich fest.

"Das ist bedauerlich, aber wir akzeptieren deine Entscheidung. Jedem steht es frei den Planeten zu verlassen. Ihr solltet nur eins wissen. Jeder ist willkommen, sollte er sich entscheiden zurückzukehren." David wirkte wenig überrascht. Coen und die Anderen standen in ihrer Entwicklung erst am Anfang und obwohl David über die Jahrhunderte eine Persönlichkeit hervorgebracht hatte, die an Weisheit schwer zu überbieten war, akzeptierte er den Drang auf eigene Erfahrungen. Es war eine Notwendigkeit, dass seine Fehler der Vergangenheit von Coen wiederholt wurden.

"Wenn die Science den Waffenstillstand akzeptiert, haben wir alle Zeit der Welt. Geh da raus und hol dir deine blutige Nase. Kommt zurück, wenn der Schmerz zu groß wird." David hielt ihm zum Abschied die Hand hin. Es sollte für lange Zeit ihr letztes Zusammentreffen sein.

Die Cree hielten Wort und erlaubten jedem, der es wollte die Gesellschaft aus Logik und Vernunft zu verlassen. Es gab eine kurze Zusammenkunft der Neuankömmlinge und die kurzen Diskussionen über das weitere Vorgehen endeten in dem einstimmigen Beschluss, dass alle gemeinsam Coens Entscheidung folgten. Selbst Oliver, der mit seinen Ansichten den Cree bisher wohlwollend gegenüberstand, beschloss die gewagte Reise anzutreten. Die Aufbruchsstimmung wurde getrübt durch allerlei praktische Hindernisse, welche ihren bevorstehenden Spagat zwischen der Welt der Cree und der Galaxie der Science vorweg nahm.

Trotz der Erlaubnis den Planeten zu verlassen, stellten die Cree bestimmte Bedingungen an die vermeintliche Freiheit. Die Gefahr war groß in die Hände der Science zu fallen und für diesen Fall gab es eine besonders perfide Methode keinerlei Informationen an den Feind zu verraten. Erneut waren die Nanobots der Schlüssel. Eine Weiterentwicklung der Vorfahren, die in ihrer Genauigkeit die Streuweite einer Schrottflinte besaß.

Ihre Funktion bestand in der Blockierung bestimmter Gehirnareale, die überwiegend für das Langzeitgedächtnis zuständig war. Diese Engramme konnten in ihrer Bedeutung selbst durch solch fortschrittliche Technologie nicht vollständig unterschieden werden. Im Falle einer Anwendung wäre nicht nur die Cree-Existenz komplett ausgeblendet, auch jegliche Erinnerung an das Leben vor ihrer Wandlung wäre dahin. Eine dritte Persönlichkeit würde entstehen, die zwar die grundlegenden Handlungen wie Essen und Trinken nicht neu erlernen müsste, aber in ihren Erfahrungen praktisch bei Null begann. Coen schauderte bei dem Gedanken an den erneuten Reset seines Charakters. Die Cree testeten die Technologie an ihren eigenen Leuten und stellten dabei fest, dass jeglicher Fortschritt des veränderten Gehirns in den ausgesperrten Bereich fiel. Die Bots wandelten die Cree zurück in einen Menschen.

Ein allerletztes Mal fand sich Coen in diesem medizinischen Labor wieder, dass auf Grund von Ermangelung an Krankheiten nur selten benutzt wurde. Es war erneut Gabriel vorbehalten ihm die Injektion zu verabreichen. Seine blauen Augen musterten die Einstichstelle und als er die Nadel wieder herauszog, zwang er sich seine Abneigung gegen Worte wenigstens für diesen Moment zu überwinden.

"Diese Nanotechnologie ist kompliziert und gefährlich zugleich", begann er wenig aufmunternd.

"Es ist ratsam nur eine gewisse Zeit im Zustand der Blockade zu verweilen", erklärte er in gleichgültigem Tonfall.

"Experimente haben gezeigt, dass durch zu langes Ausschließen der eigentlichen Persönlichkeit nach einem Rückbau der Blockade mit Schizophrenie zu rechnen ist."

"Das klingt nicht gut. Wie aktiviere ich sie? Noch wichtiger. Wie kann ich sie wieder einreißen?", fragte Coen.

"Es gibt zwei Möglichkeiten der Aktivierung. Ein Automatismus erkennt die Situation und aktiviert die Technologie umgehend. Bestimmte Zustände müssen dafür vorhanden sein. Erhöhter Adrenalinspiegel, der Eindruck von Gefangenschaft und der Zusammenhang zur Science. Die zweite Möglichkeit ist das Aussprechen eines gewissen Codes." Gabriel hielt ihm ein Pad unter die Nase.

"Merke dir diese Buchstabenreihenfolge. Sie aktiviert umgehend die Technologie."

"Und wie deaktiviere ich die Bots?"

"Das ist weitaus komplizierter und nicht allein zu schaffen. Finde einen Vertrauten, der dir mit einem verbalen Entschlüsselungscode hilft." Wieder wurde ihm eine Buchstabenkombination unter die Nase gehalten. Damit war für Gabriel alles Wichtige gesagt. Sieben Nanotechnologien hatte Coen jetzt in seiner Blutbahn, was ihn in einer Welt von aussterbender Technik zu einer der wertvollsten Personen der Galaxie machte. Vielleicht war es keine gute Idee den Planeten zu verlassen, aber die Alternative in dieser rationalen Blase der Cree zu verkümmern, ließ ihn das Wagnis eingehen. Sie mussten verdammt vorsichtig sein dort draußen.

Wohin würden sie gehen? Ein Punkt der bei ihren Entschlüssen bisher wenig Beachtung fand. "Die verruchte Braut" würde in vier Tagen planmäßig das Cree-System ansteuern. Genug Zeit sich über ihr eigentliches Ziel klarzuwerden. Trotz aller Diskussionen gab es keine Einigung über eine gemeinsame Lösung und so drohte die Aufteilung der Gruppe. Viele wollten in ihre jeweilige Heimat zurück, um dort mit der neuen Intelligenz die Strukturen von Grund auf zu erneuern. Andere wiederum planten in intergalaktischen Unternehmen wie dem Exson oder Goliath Invest ihre Fähigkeiten anzubringen. Das alles waren für Coen keine Optionen und so beschloss er vorerst auf "der verruchten Braut" zu bleiben, bis sich ihm eine vielversprechende Möglichkeit bot.

Wie erwartet löste die Auslieferung von Athena eine mediale Flutwelle aus. Der tödliche Anschlag hatte nun ein Gesicht und die Bevölkerung konnte ihrer Wut endlich ein Ziel geben. Es tat Coen weh die Nachrichten zu lesen, die seine Freundin zu einem psychopatischen Monster aufbauten, dass in der Einöde der Bruderschaft fehlgeleitete Gedanken entwickelte. Es wurde ein Kindheitstrauma konstruiert, dass einen wenig logischen Zusammenhang mit den Besatzungstruppen des Liberators herstellte. Die Bruderschaft entschuldigte sich offiziell und damit verfestigte sich mehr und mehr der Eindruck einer gestörten Einzeltäterin. Die Auslieferung wurde als ein Ereignis von großer moralischer Instanz dargestellt und damit hatte David sein Ziel erreicht.

Die Cree waren nicht länger im Fadenkreuz der übrigen Bevölkerung. Die Presse schoss sich auf Athena ein und die örtliche Justiz klagte sie für mehrfachen Mord aus niederen Motiven an. Ein getürktes Ereignis, das den Planeten nachhaltig prägen sollte. In den folgenden Wochen nahm die mediale Hetzjagd Formen an, die am Ende auf ein einfach zu begreifendes Motiv hinauslief. Athenas Hautfarbe wurde zum Inbegriff der Abscheu und obwohl jeder Einzelne in der Hauptstadt die Absurdität der Vereinfachung erkannte, verschaffte es ungeahnte Befriedigung. Eine einfache Erklärung für eine abscheuliche Tat. Die überwiegend weiße Bevölkerung akzeptierte die fragwürdige Begründung, dass der Neid einer unterprivilegierten Schwarzen sie zu diesem Wahnsinn trieb. Auf dieser irrigen Annahme wurden neue Gesetze erlassen und der Wahn alles genetisch Unreine zu verbannen, nahm in den folgenden Jahren religiöse Züge an. Was als Selbstbetrug anfing, endete im Laufe der Jahre in der Perfektionierung des Rassismus.

Am Tag der Abreise gab es keine große Verabschiedung. Coen hoffte auf ein letztes Treffen mit David, aber dieser sah keine Notwendigkeit für unnütze Lebewohl-Floskeln. Er erinnerte sich an den Ausflug ins "Bayreuth" und wie ihn all die Tücken der Außenwelt überforderten. Damals ein Problem auf Zeit. Dieses Mal gab es kein zurück mehr in die Beschaulichkeit einer Cree-Stille. Sie mussten sich an eine Welt anpassen, die ihnen vollkommen fremd geworden war. Ein Blick in die Gesichter seiner Begleiter spiegelte seine eigene Aufregung wieder. Der Transporter stand bereit und wenige Schritte trennten ihn vom nächsten Abschnitt seines Lebens. Eines Tages würde er zurückkehren. Er fühlte sich wie ein Kind, dass in die Welt hinauszog, um zum Mann zu werden. Er hoffte auf viel Erfahrungen, welche die Entwicklung der Cree zu ihrem Vorteil vorantreiben würden.         

Der Transporter brachte sie zum Raumhafen und eine halbe Stunde später betraten sie die Fähre zur "verruchten Braut". Die letzte Tour versicherte ihnen der Pilot. Er klagte ihnen sein Leid von der drohenden Arbeitslosigkeit, denn der Regelbetrieb der Exsons nach Cree wurde auf unbestimmte Zeit eingestellt. Ein Zeichen dafür, dass die Science den Waffestillstand akzeptiert hatte. Sie koppelten den Planeten vom Rest der Galaxie ab und damit hatten die Cree ihre ersehnte Ruhe. Eine Rückkehr für Coen und die anderen war damit nur unter erschwerten Bedingungen möglich. Hoffentlich hatten sie die richtige Entscheidung getroffen.

Bevor sie den ersten Schritt auf das Exson wagen konnten, konfrontierte sie ein eifriger Beamter mit den Einreiseformalitäten. Normalerweise ein einfacher Vorgang, da es für keinen von ihnen der erste Besuch war. Eine einfache Registrierung über den Daumenabdruck genügte, aber irgendwas beunruhigte den Beamten und veranlasste ihn weitere Fragen zu stellen.

"Was ist das endgültige Ziel Ihrer Reise?", fragte er ohne Coen direkt anzuschauen.

"Yuma."

"Es gibt einen Zwischenstopp auf Lassik", erklärte der Beamte argwöhnisch, so als würde er befürchten Coen könnte eher von Bord gehen.

"Ich habe bis Yuma bezahlt", versicherte Coen.

"Angenehme Reise", erwiderte der Beamte unsicher und wandte sich ab.

"Irgendwas stimmt nicht", kommentierte Oliver das Verhalten.

"Vermutlich stehe ich auf irgendeiner Fahndungsliste. Das ging schneller als befürchtet", schlussfolgerte Coen.

"Da werden wir vermutlich bald alle drauf landen. Wir müssen uns eine zweite genetische Identität zulegen."

"Die Nanotechnologie könnte uns dabei helfen, aber ich habe keine Ahnung, wie ich sie so gezielt einsetzen kann."    

"Reine Übungssache. Hoffe ich jedenfalls", versuchte Oliver ihn aufzumuntern. Sie betraten das Exson.

Obwohl auf Habitatring 2 nur wenige Leute unterwegs waren, überforderte Coen die ungewohnte Umgebung fremder Menschen. Die Verunsicherung zwang ihn hinter sein logisches Bollwerk, aber diese vielfach rettende Oase der Vernunft stellte sich heute als löchriges Gebilde heraus.

"Ich kann mich nicht richtig konzentrieren", bestätigte Oliver seine eigene Empfindung.

"Ich brauche auch extra Energie, um halbwegs klar denken zu können."

"Der Planet. Sein fehlender Einfluss ist wohl größer als wir dachten", erklärte Oliver.

"Damit mussten wir rechnen. Wir werden uns schon anpassen."

"Dieser Ort fühlt sich fremd an."  

"Lass uns das gebuchte Quartier suchen." Auch Coen ergriff das Gefühl der Fremde. Ihr Geist war im Begriff auf Entzug von Cree zu gehen.

"22a. Das ist unser Quartier", bestätigte Oliver die erfolgreiche Suche nach ihrer Unterkunft. Sie betraten das kleine Einzimmerapartment, das im Wesentlichen aus einem großen Bett, einem abgetrennten Badezimmerbereich und einer Computerkonsole bestand.

"Sieht so aus, als müssten wir uns ein Bett teilen", stellte Oliver fest und steuerte auf den Rechner zu. Seine Finger flogen über das Bedienfeld und nach etwa 20 Minuten hatte er sein Werk vollbracht.

"Dieser Rechner hat eine genetische Schnittstelle. Ich habe ein kleines Programm entwickelt, dass eine Abfrage auswertet, sobald jemand den Daumen drauflegt. Es vergleicht das genetische Profil mit abgelegten Daten. Deine Aufgabe ist es, sich für mich auszugeben, obwohl dein Daumen auf dem Scanner liegt", forderte er Coen auf.

"Mal schauen ob meine Nanos in Form sind." Coen legte den Daumen auf den Scanner.

"Keine passende Übereinstimmung gefunden.", plärrte eine mechanische Stimme.

"Es ist kein Schloss, bei dem ein automatischer Algorhythmus abläuft. Hier musst du die Nanotechnologie dazu bringen, ein fremdes genetisches Profil vorzutäuschen."

"Aber wie?"

"Keine Ahnung, aber du hast drei Tage Zeit es rauszufinden."

Es tat gut eine Aufgabe zu haben. Die tägliche Routine auf Cree hatte Coen daran gewöhnt jeden Tag mit nutzbringenden Tätigkeiten zu erfüllen. Die Befürchtung in ein Loch aus Langeweile zu fallen war damit vorerst gebannt. Voller Eifer versuchte er die Nanotechnologie dahin gehend zu konditionieren, dass sie eine falsche Identität vortäuschte. Zwei Stunden versuchte er sich daran. Vergeblich.

Er fand keine Möglichkeit bewusst mit den Nanos zu kommunizieren. Der Misserfolg war keine Frage der eingesetzten Technik. Die Nanos waren bereit das gewünschte Ergebnis zu liefern, doch ihr Anwender stellte sich als unfähig heraus, die gewünschten Knöpfe zu drücken. Auf ein direktes Ansprechen reagierten sie nicht. Entweder musste er eine geistige Metapher finden, ähnlich wie beim Nachrichten überbringenden Eichhörnchen oder er benötigte eine vollkommen neue Art der Körperbeherrschung. Das würde aufwendiges Training bedeuten, dass ihn viel Zeit kosten würde. Nur galt es hier keine Tanzschritte zu verinnerlichen oder nicht vom Fahrrad zu fallen. Trotz des ähnlichen Prinzips war die Angelegenheit weitaus komplexer. Leider gab es niemanden, der ihm dabei helfen würde.

Er brauchte dringend eine Pause. Die Abwesenheit des Planeten Cree wirkte wie ein Entzug von Energie. Es war ihm unmöglich die notwendige Konzentration in der üblichen Weise aufrecht zu erhalten und so verlies er nach seinem andauernden Misserfolg geistig erschöpft das Quartier.

Als er Habitatring 2 auf der Suche nach einem Lift durchquerte, erinnerte er sich an die Zeiten auf Comox. Damals überforderten ihn bereits banale Sachen. Kurz bevor er die Raumfähre zum Exson betrat, die ihn dann über mehrere Stationen am Ende in den Dschungel von Cree bringen sollte, stand er in der öffentlichen Toilette des Raumhafens vor diesem Gebilde, das zwar Ähnlichkeiten mit einem Wasserhahn hatte, ansonsten aber nichts zum schieben, drehen oder hebeln besaß. Keine Mechanik konnte den Zufluss starten und erst eine kurze Erklärung eines Mitreisenden gab das Wasser frei. Nie und nimmer wäre er darauf gekommen seine Hand vor diesen unscheinbaren Sensor zu halten. Berührungslose Wasserhähne existierten in seiner Vorstellung bis dahin nicht, von daher bot sein Verstand auch keine passende Lösung an.

Mit dieser deprimierenden Erkenntnis verschob er das Projekt neue genetische Identität und er begann die unbekannte Umgebung zu erkunden. Bei seinem ersten Besuch wurde ihm untersagt die Annehmlichkeiten der "verruchten Braut" ausgiebig zu nutzen. Damals wie heute durfte er nicht auffallen, aber am heutigen Tage gab es keinen Talor, der ihn davon abhielt sein Quartier zu verlassen.

Es war weniger der Drang nach Vergnügen, der ihn auf Habitatring vier brachte, sondern die Notwendigkeit sich auch in seiner äußeren Erscheinung eine neue Identität zuzulegen. Die Zeit auf Cree hatte ihn trotz seiner abweichenden Einstellung gegenüber der beherrschten Lebensweise gewisse Wesenzüge annehmen lassen, die in dieser Umgebung von gewöhnlichen Menschen als auffällig galten. Besonders dieser übertriebene aufrechte Gang, der in seiner Ruhe und Zurückhaltung schlecht in diese von hektischem Treiben diktierte Atmosphäre passte, verlieh ihm ein elitäres Auftreten.

Damals im "Bayreuth" auf Cree war er bereits gezwungen gewesen, dieses auffällige Merkmal abzulegen. Mit der Energie des Planeten stellte es sich als kleines Problem dar diese Tarnung für eine überschaubare Zeit aufrechtzuerhalten. Jetzt galt es diese verräterischen Charakterzüge dauerhaft zu überwinden. Coen studierte in einer Bar mit dem Namen "Twister" die Bewegungen seiner Umgebung und schlüpfte erneut in die ihm ungewohnte Rolle des natürlichen Bewohners. Er lauschte den Gesprächen und passte seine Worte bei der Bestellung eines Biers der hiesigen Art und Weise an. Verrückt. Er musste lernen wieder menschlicher zu werden.

Der Trubel im "Twister" überforderte ihn schnell und als eine Schlägerei wegen Nichtigkeiten ausbrach, beschloss er in die Ruhe seines Quartiers zurückzukehren. Dort traf er auf einen Oliver, den etwas zu beunruhigen schien.

"Was ist los?", fragte Coen. Olivers sorgenvolle Miene ließ nichts Gutes erwarten.

"Nach dem Ereignis an der Luftschleuse habe ich ein paar Recherchen unternommen.", fing er an zu erklären.

"Was hast du getan?"

"Auf dieser Station kannst du für Jetons alles kaufen. Drogen, Informationen oder Frauen." Bei letzterem zuckte Coen zusammen.

"Es war nicht leicht, aber ich habe mir die Personalplanung des Sicherheitsdienstes besorgt. Die spuckte folgende Nummer aus, die für die Überprüfung der Passagiere von Cree eingeplant war." Coen schaute auf eine Reihe von Zahlen. Eine Chiffre für die Verwaltung, hinter der mit Sicherheit ein Angestellter steckte, der seinen Lebensunterhalt in den Weiten des Alls bestritt und ausgerechnet Dienst bei ihrer Ankunft hatte. Auch wenn Coen keinen Namen dazu hatte, erinnerte er sich an die Gesichtszüge des Beamten.

"Irgendwas Auffälliges?"

"Nein. Ein gewöhnlicher Beamter, dessen Tagesablauf aus Routine besteht."

"Trotzdem beunruhigt dich etwas an ihm."

"Sein Schichtplan wurde geändert."

"Das klingt nicht besonders beunruhigend."

"Er wurde zu einer kurzfristig einberufenden Beratung eingeladen." Oliver deutete auf die betreffende Stelle auf seinem Monitor. Der zeigte verwirrende Tabellen, die offensichtlich die Planung des hiesigen Sicherheitspersonals aufzeigte.

"Die ist in zwei Stunden und er ist nicht der Einzige. Die halbe Belegschaft nimmt an dieser eilig einberufenen Beratung teil. Die planen irgendwas. Meinst du, das hat mit uns zu tun?", fragte Coen.

"Möglich. Wir sollten Vorbereitungen treffen für den Fall der Fälle."

"Vielleicht war es ein Fehler Cree zu verlassen."

"Vielleicht, aber wir können es nicht rückgängig machen.", kommentierte Oliver Coens Einsicht. Im Grunde genommen wussten alle, dass mit dem Verlassen des Planeten die Wahrscheinlichkeit hoch war in die Fänge der Science zu geraten. Umso erstaunlicher war es, dass die Cree sie trotzdem ziehen ließen.

"Glaubst du, dass David und die Anderen uns einfach nur loswerden wollten, weil sie die Stabilität ihrer Gesellschaft in Gefahr sahen?", fragte Coen.

"Dann hätten sie uns einfach umbringen können."

"Vielleicht waren sie dazu nicht mehr in der Lage."

"Du kennst sie. Sie rechtfertigen alles mit eiskalter Logik."

"Dann steckt mehr dahinter."

"Die Gedächtnisbots. Vielleicht sind wir eine weitere Demonstration ihrer Möglichkeiten.", spekulierte Oliver.

"Sie haben uns mit Kenya schon einmal eine Falle gestellt." Coen sah Oliver misstrauisch an.

"Wenn dem so seien sollte, habe ich dieses Mal keine Kenntnis davon", rechtfertigte er sich.

"Es ist vollkommen egal. So oder so bleiben wir Schachfiguren auf einem galaktischem Spielfeld. Was planst du für den Fall der Fälle?"

"Ich gehe davon aus, dass bisher nur du der Grund für die Sondersitzung des Sicherheitspersonals bist, weil du bei der Registrierung irgendein Alarm ausgelöst hast. Da wir uns ein Quartier teilen, bin ich vermutlich auch auf ihrer Liste. Die Anderen gelten noch als unauffällig."

"Das heißt: Sie sind ausschließlich hinter uns beiden her", schlussfolgerte Coen.

"Das ist meine Vermutung. Wir brauchen Gewissheit. Solltest du wirklich der Grund sein, werden sie beschließen dich zu beobachten. Da setzen wir an. Wir beide tauchen unter. Früher oder später sollten Beamte vor 22a die Observation beginnen. Unsere Leute werden das überprüfen und wenn tatsächlich irgendjemand unser Quartier beobachtet, haben wir unsere Gewissheit und werden weitere Schritte einleiten."

"Hoffen wir, dass sich das alles als Paranoia herausstellt." Coen packte seine wenigen Habseligkeiten zusammen und gemeinsam verließen sie das Quartier.

Es wäre logisch gewesen, sich in einem der Quartiere ihrer Mitreisenden zu verstecken, bis sie über ihren genauen Status auf dem Exson Bescheid wussten. Eine mögliche Fahndung wäre damit nicht ganz so einfach, aber in einem rebellischem Akt gegen die logische Vernunft in ihrem Inneren, beschlossen sie vorerst in der Masse unterzutauchen.

Das "Diamant House" war ideal für ihr Unterfangen. Auf mehreren Etagen konnten Feierwütige unterschiedlichen Trieben frönen. Es gab eine Tanzfläche, welche um diese Zeit brechend voll war und auf der zu elektronischer Musik überwiegend Jugendliche in Ekstase die seltsamsten Verrenkungen hinlegten. Spielautomaten erleichterten naive Passagiere um ihre hart verdienten Jetons, was dann frustriert in den angrenzenden Bars mit Alkohol verarbeitet werden konnte. Professionelle Tänzerinnen heizten die aufgeladene Stimmung aus zweifelhaften Vergnügen, zu viel Alkohol und sexuellen Schwingungen zusätzlich an und für Schwache, die sich letzterem nicht entziehen konnten, gab es separate Kabinen, wo sie für ein paar Jetons die geschaffenen Fantasien über die Freizügigkeit des tanzenden Personals auf Realität überprüfen konnten.

Oliver zögerte, als sie die opulente Eingangstür passierten, die umrandet von einer Leuchtreklame einer paradiesischen Pforte glich, welche nach dem durchschreiten ewige Freude versprach. Immer vorausgesetzt es waren ausreichend Jetons vorhanden, gab es kaum Grenzen bei diesen Freuden.

"Ich weiß, das Ganze überfordert einen", brüllte Coen gegen die laute Musik an. Sein Ausflug ins "Twister" hatte ihn etwas resistenter gegen die vorherrschende Normalität gemacht, die sich für ehemalige Cree-Bewohner als eine Art Kulturschock darstellte. Auch wenn es schwer fiel, hatte er das Chaos von neuen Eindrücken im Griff. Oliver dagegen sah er den Kampf gegen die geistige Überlastung deutlich an.

"Es wird gleich besser", munterte er ihn auf. Ein paar Minuten standen sie einfach nur da, dann bekam sich Oliver wieder in den Griff.

"Da müssen wir durch, um in dieser Welt zu bestehen", verkündete er und steuerte auf eine der Bars zu.

"Das müssen wir", bestätigte Coen und bestellte zwei Bier.

"Der Trubel ist nur eine Sache. Wir müssen auch sprachlich unauffälliger werden. In einer Welt besteht man nicht. Man kommt klar mit dem Ganzen oder passt sich an. So was in der Art", belehrte er Oliver. Sie hatten jetzt die bestellten Getränke auf dem Tresen.

"Ist das eine gute Idee?", fragte Oliver.

"Vermutlich nicht. Wir sollten es jedenfalls nicht übertreiben."

Oliver ließ seinen Blick schweifen und nahm dann widerwillig einen kleinen Schluck aus dem Glas.

"Dieser Ort ist einzig und allein dafür geschaffen worden um Gelüste zu befriedigen. Ich weiß nicht, ob ich jemals wieder das Verlangen nach Alkohol, Tanzen oder Frauen haben werde." Oliver klang verwirrt.

"Wenigstens bei Letzterem können wir relativ schnell eine Antwort finden." Coen packte Oliver am Arm und zog ihn zu den Stangen hin, an denen verführerisch die schönsten Frauen des Etablissements tanzten. Den ständigen Zwiespalt zwischen Cree oder Mensch hatte Coen nie wirklich auflösen können. Je nach Situation nutzte er die jeweiligen Vorteile aus Logik oder Instinkt, ohne dabei ein endgültiges Urteil über seine wirkliche Persönlichkeit zu fällen. Hier und jetzt konnten sie einen Beweis dafür finden, ob sie wirklich die nächste Stufe der Evolution beschritten hatten, die nach Meinung der Cree aus einem Übermaß an Vernunft und Zurückhaltung bestand oder ob noch genug Mensch in ihnen steckte, um dem natürlichen Trieb der Sexualität, welche nicht zur Fortpflanzung diente, wenigstens in der Vorstellung zu verfallen.

Ein unwissender Beobachter würde es gaffen nennen, was die beiden dort seit fast einer Minute veranstalteten. Für Oliver und Coen war es die Ergründung ihres Wesens, das in seiner Unbestimmtheit durch die Cree erschaffen wurde. Würde David in diesem Moment neben ihnen stehen, könnte er einen großen Erkenntnisgewinn über die alles entscheidende Frage verbuchen. War ihr Experiment gelungen?         

"Nichts. Absolut nichts." Oliver klang schockiert.

"Ich sehe das alles und ich kann sogar die ästhetische Einordnung als besonders reizvoll einstufen, aber das alles kommt nicht aus meinem Inneren. Es ist was rein Rationales. Ich ..." Er brach ab, als ihm bewusst wurde, dass der Cree in ihm dominierte.

"Was ist mit dir?", brüllte er Coen an. Die Musik war lauter geworden, so dass sie sich in einen ruhigeren Bereich zurückziehen mussten.

"Ich ..." Coen brach ab, da er nicht sofort die passenden Worte fand.

"Mir ging es ähnlich, aber ..." Er wandte sich wieder den Stangen zu. Wie sollte er es Oliver erklären, dass eine der Tänzerinnen ihn unweigerlich an Kenya erinnerte und damit verwirrende Empfindungen auslöste. Trieb überkam auch ihn nicht, aber die Sehnsucht nach der Intimität, die ihre Vereinigungen erzeugt hatten, ließ ihn durchaus eine Erregung spüren, die mehr durch Erinnerungen angeheizt wurde.

"Ich bin mir nicht sicher." Oliver sah ihn ungläubig an.

"Es ist Kenya. Sie löst widersprüchliche Empfindungen bei mir aus", versuchte Coen das Unerklärliche zu erklären.

"Ich verstehe. Ich habe jetzt wenigstens so eine Art Gewissheit, aber ich weiß nicht, ob ich froh darüber sein soll", sagte Oliver immer noch verwirrt.

"Das weißt du doch gar nicht. Im Laufe der Zeit könnte sich die menschliche Seite wieder entwickeln."

"Ich glaube unterbewusst habe ich mich bereits für eine Seite entschieden. Dieses Ablehnen der Gelüste diente als Bestätigung dessen, was ich mir nicht bereit war einzugestehen. Du allerdings scheinst mir noch unentschieden." Coen war bereit für einen philosophische Gedankenaustausch, als er von einer winkenden Person am Eingang abgelenkt wurde.

"Da ist Nathan, mit vermutlich wenig guten Neuigkeiten", wies er Oliver auf die Person hin, die es nicht wagte einzutreten.

Sie verließen das "Diamant House" und begaben sich in Nathans Quartier. Auf dem Weg dorthin verloren sie kein Wort, aber es war offensichtlich, dass sich ihre schlimmste Befürchtung bewahrheitet hatte. Sie standen unter Beobachtung und so waren sie gezwungen ihre Reisepläne zu ändern.

"Was jetzt?", fragte Coen.

"Wir müssen das Exson beim nächsten Halt verlassen."

"Die Fähre können wir nicht nutzen, es sei denn du bekommst das mit der falschen Identität hin."

"Das wird nichts", bestätigte Coen Olivers Vermutung.

"Dann müssen wir anders raus. Wir sollten ein Raumschiff finden, dass uns von dieser Station schmuggelt."

"Du sagtest hier kann man alles kaufen. Sicherlich auch eine Passage nach Lassik."     

"Und was dann? Irgendwann wird die Science dahinterkommen, dass wir die "verruchte Braut" früher verlassen haben und den ganzen Planeten nach uns absuchen", sagte Oliver.

"Lassik ist nicht wie Cree. Dort verkehren jede Menge Handelsschiffe, die unabhängig von den Exsons operieren. Wir haben jede Menge Jetons, um jeden von uns dahin zu bringen, wo er hin will. Wir müssen den Planeten nur schnell genug wieder verlassen", erklärte Coen.

"Gut. Dann schaue ich mal welche Schiffe in Frage kommen, die uns von dieser Station schmuggeln könnten." Oliver begann das Register der angelegten Schiffe zu durchsuchen. Nach einer halben Stunde verkündete er das traurige Ergebnis.

"Ich habe nur einen geeigneten Kandidaten gefunden." Er drehte den Bildschirm, so dass Coen die aufgerufene Registerkarte sehen konnte.

"Ein passender Name", stellte Coen fest. "Rebelde glorioso" hieß das Schiff, in dass sie ihre Fluchthoffnungen setzten. Unter den vielfältigen Sprachen der Vorfahren hatten sie ausgerechnet die für die Namensfindung benutzt, die Coen in den einsamen Tagen des Arrestes auf Cree erlernt hatte.

"Interessanter ist der Kommandant. Er hat bereits mehrere Anklagen wegen Schmuggels erhalten. Es wurde ihm aber nie etwas nachgewiesen."

"Kannst du ihm vertrauen?"

"Sicherlich nicht, aber er ist der Einzige, der bei einer Anfrage nicht sofort die Sicherheit benachrichtigen würde."

"Ich gehe allein hin. Sollte etwas schief gehen, hast du immer noch die Möglichkeit für einen anderen Plan", erklärte Coen.

"Viele Möglichkeiten bleiben dann aber auch nicht mehr."

Coen verließ Nathans Quartier. Es war ihm unmöglich sofort die Andockrampe der "rebelde glorioso" anzusteuern. Ohne eine passende Strategie würde er scheitern, also lud er sich alle relevanten Daten auf ein Pad und setzte sich an einen Tisch im "Twister".

Der Countdown zum Sprung verkündete knappe drei Stunden und die meisten Reisenden nutzten diese Zeit für ihre individuellen Vorbreitungen. In der spärlich besuchten Bar befanden sich ausschließlich Einheimische. Die Phase zwischen dem Ablegen der Passagiere von Cree und den Neuankömmlingen von Lassik nutzten sie traditionell zur Entspannung. Ein ewiger Zyklus zwischen Kommen und Gehen von Fremden, welche die Station und seine Bewohner ernährten.

Domenic hieß die Person, die es zu überzeugen galt. Der Rufname beschränkte sich auf Dom und genau da gab es bereits die erste Herausforderung. Die ersten Sekunden der Kontaktaufnahme waren entscheidend für den weiteren Verlauf der Verhandlungen. Zwei Optionen eröffneten sich ihm. Eine höfliche Anrede aller Domenic war das bevorzugte Szenario, allerdings existierte die Möglichkeit mit einem personalisierten Dom sofort Vertrauen zu schaffen. Das Pad gab nicht viel her, was die Persönlichkeit betraf, so dass er gezwungen seien würde dahin gehend zu improvisieren. Nicht nur der Cree hasste diese Art der Beeinflussung eines Gesprächverlaufs. Auch die menschliche Seite musste eingestehen, dass da viel Einfühlungsvermögen von Nöten war, erst Recht bei einem illegalen Anliegen.

Die Erkenntnis, dass eine Vorbereitung nur bedingten Nutzen bringen würde, ließ ihn den Plan einer Strategie verwerfen. Der Ausgang seiner Anfrage war ungewisser denn je und die Tatsache, dass jegliche Wahrscheinlichkeit über den erfolgreichen Ausgang unberechenbar war und damit den inneren Cree in Ungewissheit versetzte, erzeugte eine gewisse Genugtuung. Die eingeschliffenen Muster der Logik waren in diesem Fall nicht gefragt. Langsam bekam er ein Gespür, wann er die antrainierte rationale Seite ausblenden musste. Er steckte das Pad weg und begab sich zur Luftschleuse der "Rebelde glorioso".

Das Schiff war nicht besonders groß und die Tatsache, dass er den Kommandanten überzeugen musste mehr als ein Dutzend Passagiere aufzunehmen, würde sein Unterfangen zusätzlich erschweren. Etwa 20 Stunden dauerte der Transfer nach Lassik, die mit Sicherheit gewisse Spannungen erzeugen würde.

"Hallo", begrüßte Coen eines der Mannschaftsmitglieder, das gelangweilt am Schiffseingang zur Wache eingeteilt wurde. Eine unberechenbare Variable, die eine entworfene Strategie ohnehin hinfällig gemacht hätte. Bevor er mit dem Kommandanten reden konnte, musste er einen seiner Laufburschen dazu bringen, ihn überhaupt vorzulassen. Sein bescheidenes Einfühlungsvermögen wurde schneller benötigt als geplant.

Die kräftige Statur, die Totenschädel-Tatoos an seinen Unterarmen und der Wildwuchs an Haaren auf seinem Kopf prädestinierten die eingeteilte Wache als Abschreckung für ungebetene Gäste. Zu Coens Unglück ließ er keinerlei Kooperation erkennen. Er bekam nicht mal eine Antwort.

"Ich würde gern mit ..." Dom oder Domenic hielt ihm der innerliche Cree nicht ohne Schadenfreude das bereits prognostizierte Dilemma als erneute Frage vor.

"... den Kommandanten sprechen", improvisierte er das erste Mal erfolgreich.

"Verpiss dich", bekam er als Antwort. Verdammt. Diese Unhöflichkeit versetzte ihn in eine Mischung aus Ärger und Ideenlosigkeit. Hilflos stand er vor dem groben Türsteher und war unfähig die gerade noch viel gepriesene Improvisation anzubringen. Diese primitive Art der Zurückweisung versetzte seinen Geist in Aufruhr und verhinderte klare Gedanken. Ausgerechnet ein logischer Einwurf brachte die rettende Idee. Ein grüner Jeton könnte buchstäblich als Türöffner fungieren. Er kramte einen aus der Tasche und hielt ihn in Richtung der ungehobelten Wache.

"Sie bekommen einen Weiteren, wenn Sie ihrem Kommandanten offenbaren, dass ich ihm ein Geschäft offerieren möchte." Erst nachdem die Worte Coens Mund verlassen hatten, begriff er die hochgestochene Wortwahl. Die Bewohner einer leidgeprägten Galaxie konnten mit den Worten offenbaren und offerieren wenig anfangen. Wahrscheinlich war nicht mal die Höflichkeitsform angebracht. Er musste unbedingt lernen seine Aussprache anzupassen.

"Anders gesagt. Es sind viele Jetons für euch möglich", schob er nach. Der Jeton wurde ihm förmlich aus der Hand gerissen.

"Warte hier", knurrte der Bestochene und verschwand im Inneren des Schiffes. Es dauerte nur zwei Minuten, dann kam er in Begleitung zurück.

Dom wirkte schmächtig gegenüber seinem tätowierten Untertan. Das schüttere Haar, die blasse Haut und das freundlich wirkende Gesicht machten ihn weniger furchteinflößend, als Coen es von einem Schmuggler erwartet hätte. Dieses unauffällige Aussehen war sicherlich vorteilhaft in seinem Geschäft, aber diese unscheinbare Erscheinung war mit hoher Wahrscheinlichkeit nur Fassade. Die wahre Persönlichkeit war weniger offensichtlich als erhofft und trübte Coens ohnehin naive Zuversicht in seine Verhandlungskünste.

"Domenic, aber du kannst mich Dom nennen", stellte er sich vor. Bevor Coen etwas antworten konnte, lenkte sein tätowierter Begleiter die Aufmerksamkeit mit einem wenig dezenten Räuspern auf sich.

"Oh ja. Ich fürchte da ist noch eine Rechnung offen", fuhr Dom fort. Coen holte einen weiteren Jeton aus seiner Tasche und beglich seine Schulden.

"Folg mir", forderte Dom ihn höflich auf. Zu zweit passierten sie die Luftschleuse und als sie das Innere des Schiffes betraten, bemerkte Coen, dass er die Geräumigkeit der "Rebelde glorioso" sogar noch weit überschätzt hatte. Die klaustrophobische Enge war sofort spürbar und während sie den Gang entlang gingen, zweifelte Coen über die Umsetzbarkeit seines Vorhabens. Natürlich bestand die Möglichkeit nur ihn und Oliver von der Station zu schmuggeln. Noch lief der Rest der Gruppe unter dem Radar der Science, trotzdem wollten sie so wenig Spuren wie möglich hinterlassen. Außerdem war eine Trennung der Gruppe eine schlechte Option, auch wenn sie zeitlich begrenzt wäre.

"Mir wurde gesagt: Da steht ein Kerl an der Luftschleuse, der nach Geld stinkt und darum bettelt es los zu werden", begann Dom das Gespräch, als sie in seiner Privatkabine an seinem Schreibtisch Platz genommen hatten. Ein recht karg möblierter Raum, der in seiner düsteren Aufmachung eher einschüchternd als gemütlich wirkte. Die wenigen LEDs an der Decke erleuchteten das bisschen Einrichtung nur unzureichend, aber Coen vermutete, dass Dom die Gestaltung seiner Privatsphäre eher praktikabel anging. Der geringe Platz ermöglichte ohnehin nur wenig Spielraum für unnütze Dekoration.

"Nicht meine Worte. Ich zitiere nur", fuhr er fort und holte eine Flasche mit Hochprozentigem und zwei Gläser aus der untersten Schublade. In dem spärlichen Licht konnte Coen den Alkohol als Tequilla identifizieren. Ein Getränk, dass er nur aus Büchern kannte und weder gesehen noch jemals gekostet hatte.

"Tatsächlich möchte ich Ihnen ein Geschäft vorschlagen", kam Coen sofort zur Sache.

"Ich nehme an, dass es um eine spezielle Dienstleistungen geht." Dom nahm einen großen Schluck und forderte Coen auf es ihm gleich zu tun. Der ignorierte das ihm angebotene Getränk.

"Ja. Schmuggel", platzte er heraus. Das passte mal gar nicht, aber die soziale Gepflogenheit heikle Themen etwas langsamer und vor allen Dingen diskreter anzugehen, hatte er noch nicht verinnerlicht.

"Was es da auch für Gerüchte um meine Person gibt, ich versichere dir, dass ich mit solchen Machenschaften nichts zu tun habe."

War die Tür zu? Hatte Coen mit seinem undiplomatischen Auftreten diese Möglichkeit einer Flucht unmöglich gemacht. Er überlegte zurückzurudern, um die Angelegenheit etwas dezenter mit geheimnisvollen Metaphern zu umschreiben, aber das würde ihn unglaubwürdig machen und so beschloss er seiner direkten Linie treu zu bleiben.

"Das ist schade, denn ich würde einen anständigen Preis dafür bezahlen." Dom musterte ihn. Eine Minute sagte er nichts, schaute Coen nur tief in die Augen, als könnte er seine Absichten durch die Fenster der Seele ergründen.

"Diese Art von Geschäften können einem viel Ärger einbringen", sagte er schließlich.

"Aber auch viele Jetons. Je höher das Risiko, umso höher der Profit." Es war wichtig selbstsicher zu bleiben.

"Die Ware?"

"Passagiere. 18. Unerkannter Transfer nach Lassik." Coen erwartete aufgrund der Anzahl einen Protest oder sogar eine Ablehnung wegen Platzmangels, aber offenbar hatte Dom kein Problem damit. Stattdessen schob er ihm die genetische Schnittstelle seines Rechners hin.

"Ich wüsste gern, mit wem ich es zu tun habe", erklärte er sein Handeln. Coen zögerte. So hatte er sich die Sache nicht vorgestellt. Ein anonymer Transport, ohne große Fragen oder Recherchen über seine Person sollte es werden.

"Ist das wirklich notwendig?" Dom lächelte und ließ sich in die Lehne seines Stuhls fallen. Er faltete die Hände zusammen und spielte mit dieser gebetsartigen Formation an seiner Unterlippe. Ein paar Sekunden vergingen, in denen er Coen ausgiebig musterte.

"Ist es", sagte er kurz und wartete auf die Ausführung der Identifizierung. Für Coen war es müßig die Optionen durchzugehen. Auf dem Exson zu bleiben, hieße über kurz oder lang in die Fänge der Science zu geraten. Mit diesem Transporter zu verschwinden schloss dieses Schicksal nicht aus, aber die Wahrscheinlichkeiten auf eine erfolgreiche Flucht waren deutlich besser. Er hatte keine Wahl, also legte er mit gespielter Selbstsicherheit den Finger auf das Display. Ein letzter Versuch seine Nanos für einen Betrug zu überreden, schlug fehl und so gab er widerwillig seine wahre Identität preis.

"Coen. Zugestiegen auf Cree. Zweiter Aufenthalt auf der "verruchten Braut". Ursprungsplanet Comox", las Dom die Stationseinträge vom Monitor ab. Er überflog die weiteren Standarddaten stillschweigend und blieb an einer Information hängen, die offenbar Freude in ihm auslöste.

"Jetzt wird es interessant," fuhr er fort.

"Deine Datei ist markiert mit einem Negativeintrag. Du warst wohl ein böser Junge. Was hast du angestellt?"

"Sie haben Zugriff auf die Stationsdatenbank?", fragte Coen.

"Für die Art von Geschäften eine Notwendigkeit. Was immer auch hinter diesem Negativeintrag steckt, es erhöht auf alle Fälle den Preis", verkündete er strahlend.

"Wie viel?"

"Schwarz ist die Farbe zum Glück und das in dreifacher Ausführung", verkündete er gierig. Coen schluckte. Drei schwarze Jetons für einen einfachen Transport war ein Vermögen. Zum Glück besaßen sie eine prall gefüllte Reisekasse.

"Einverstanden", erwiderte Coen und versetzte Dom damit in Erstaunen. Offenbar hatte er sich auf längere Verhandlungen eingestellt.

"Freut mich mit dir Geschäfte zu machen." Dom hielt Coen die Hand hin. In keiner guten Vorahnung besiegelten sie ihre Vereinbarung. 

Coen hatte einen Fehler gemacht. Das wurde ihm bewusst, als er die "Rebelde glorioso" verließ, um Oliver über den Erfolg seiner Bemühungen zu unterrichten. Zuerst konnte er dem nagenden Zweifel über die einfache Übereinkunft keine rationale Erklärung liefern, aber auf dem Weg zu Nathans Quartier wurde ihm das ganze Ausmaß seines Verhängnisses bewusst.

Die Vielfalt menschlicher Charakterzüge stand im Gegensatz zu den einheitlichen Persönlichkeiten, mit denen Coen die letzten Monate auf Cree zugebracht hatte. Das Allgemeinrezept für soziale Interaktion war nicht mehr anwendbar und dementsprechend fiel ihm der Umgang in menschlicher Umgebung schwerer, als er es sich eingestehen wollte. Der Aufenthalt bei den Cree hatte ihm die Normalität der übrigen Galaxie abtrainiert. In unaussprechlicher Einfalt hatte er sich einem Raubtier genähert, dass ihn in trügerischer Sicherheit wog, um im passenden Moment gnadenlos zuzuschlagen. Doms verschlagener Charakter traf auf einen naiv überschätztes Selbstvertrauen, das durch eine Welt stolperte, die vollkommen falsch eingeschätzt wurde. Er fühlte sich überfordert und es ergriff ihn Reue Cree verlassen zu haben.

Diese unpassende Eingebung schüttelte er ab, als er Nathans Quartier betrat. Auf dem Schachbrett ihres Schicksals hatten sie ihren nächsten Zug gemacht, auch wenn dieser mehr offenbarte, als beabsichtigt. Die fehlende Bereitschaft über den Preis des Transports zu feilschen, verriet Dom mehr über ihn, als alle Datenbanken der Station es vermochten. Es war nicht schwer zu schlussfolgern, dass diese drei schwarzen Jetons nur ein geringen Teil ihrer Reisekasse ausmachten. Obwohl Doms Persönlichkeit schwer einzuschätzen war, gab es ein hervorstechendes Merkmal, dass hundertprozentig auf ihn zutraf. Gier. Das ohnehin spärliche Vertrauen war damit endgültig dahin.

Die schnelle Akzeptanz des Preises verursachte weitere Auswirkungen, die schwer einschätzbar waren. Negativeinträge werden in Folge von ungebührlichem Verhalten oder nicht beglichener Schulden vergeben. Solche Belanglosigkeiten wurden normalerweise nicht in netzwerkunabhängigen Datenbanken hinterlegt. Das machte Coens unbedingten Drang die Station um jeden Preis verlassen zu wollen noch geheimnisvoller und würde Dom dazu veranlassen diese Einträge genauer zu ergründen. Was immer er dann auch finden würde, es wertete die Ware mit Sicherheit auf und könnte ihm einen schnellen Nebenverdienst bei der Science einbringen.

All diese Unsicherheiten diskutierte er mit Oliver und den Anderen, um am Ende zu der Überzeugung zu gelangen, dass ihnen im Grunde keinerlei Alternativen blieben. Die Rückkehr nach Cree war unmöglich. Der Fährbetrieb war eingestellt worden und selbst für den unwahrscheinlichen Fall, dass sie ein Schiff für einen Rücktransport finden würden, könnte es das Exson sicherlich nicht ungeprüft so einfach verlassen. Es blieb nur die Flucht nach Lassik und die wenig vertrauenswürdige Passage auf der "Rebelde glorioso".  

Mit ordentlich Misstrauen betrat die Gruppe ihr Fluchgefährt und als Dom sie überschwänglich begrüßte, verlor niemand ein Wort. Die ganze Szenerie glich einer Herde Schafe, die nicht wusste, ob sie zum Grasen auf die Weide durfte oder der Schlachthof ihr endgültiges Schicksal besiegelte. Das wenig aufrichtige Lächeln ihres Gastgebers machte wenig Hoffnung und nach der eigentlichen Bezahlung, wurden sie an einen Ort geführt, der Coen bei seinem ersten Besuch nicht ersichtlich gewesen war.

"Was ist das?", fragte er, als Dom auf ein Loch im Boden deutete.

"Ein Raum für spezielle Fracht. Es macht euch unsichtbar für alle Sensoren, die da draußen eventuell auf uns gerichtet werden könnten", erklärte Dom.

"Sieht eher aus wie ein Verlies", stellte Oliver fest.

"Nur in eurer Fantasie."

"Man kann das Schott von unten nicht öffnen", bemerkte Coen.

"Warum wollt ihr das denn? Wir sind doch hier oben, um euch wieder rauszulassen." Wieder dieses künstliche Lächeln, das jegliches Vertrauen erdrückte. Die Gruppe zögerte.

"Wir haben keine Geld-Zurück-Garantie vereinbart. Es ist an euch, da runter zu klettern oder wieder auf die Station zu gehen. Mir egal." Coen versuchte herauszufinden, ob Dom seine Gleichgültigkeit nur vortäuschte.

"Einer von uns bleibt oben", erwiderte Coen bemüht selbstsicher.

"Keine Chance. Wenn die uns kontrollieren und feststellen, dass sich eine Person mehr hier aufhält als angegeben, bekommen wir Ärger." erklärte Dom freundlich.

"Sie ...", Coen brach ab.

"Du bekommst das hin, aber einer bleibt oben", korrigierte er sich. Einer Forderung in Höflichkeitsform hätte die nötige Entschlossenheit gefehlt.

"Alle oder keiner", kam es von Dom zurück. Die Situation hatte jetzt etwas von einem Pokerspiel, bei dem nicht klar war, wer genau bluffte.

"Dann keiner." Coen wandte sich der Gruppe zu und forderte sie mit einer Kopfbewegung auf ihm in Richtung Luftschleuse zu folgen. Ohne Proteste verließ einer nach dem Anderen die "Rebelde glorioso". Es war mehr eine Eingebung als eine wirklich rationale Entscheidung, die auf Doms Vorliebe für viele Jetons abzielte und damit seine Absichten auf die eine oder andere Weise offenbaren würden. Die fehlende Geld-Zurück-Garantie ermöglichte ihm einen enormen Profit ohne jegliches Risiko. Er brauchte sie einfach bloß ziehen zu lassen und die Bordellbesitzer von Lassik hätten in den nächsten Tagen ein unerwartetes Umsatzwachstum. In dem Fall wäre Coens Bluff ins Leere gelaufen und sie wären keinen Schritt weiter mit ihren Fluchtplänen. Doch Doms Gier ermöglichte ein Alternativszenario, dass nicht unbedingt auf eine Verbesserung ihrer Lage hinauslief. Die Aussicht auf mehr als drei schwarze Jetons zwang ihn aus der Deckung.  

"Mein Freund. Warte!", intervenierte Dom nachdem die Hälfte der Gruppe bereits die Luftschleuse passiert hatte.

"Für einen weiteren Jeton bin ich bereit deine Forderung zu erfüllen", sagte er gönnerisch.

"Einverstanden." Die Gewissheit über Doms unlautere Absichten entspannte paradoxerweise Coen. Die Umgebungsvariablen wurden zu festen Parametern und damit konnten brauchbare Strategien entworfen werden. Das Pokerspiel wurde zum Schach und mit dem überlegendem Intellekt der Cree hatten sie einen Vorteil auf ihrer Seite. In Zusammenhang mit der Nanotechnologie ergaben sich damit Möglichkeiten, das Schicksal zu ihren Gunsten zu wenden. Der geheime Frachtraum mit seinem genetischen Schloss würde Dom eine unangenehme Überraschung bereiten und ihnen die Gewalt über das Schiff einbringen. Coen begann bereits verschiedene Übernahmestrategien zu ersinnen, als die Dinge eine Wendung nahmen, die er nicht in Erwägung gezogen hatte.

Nachdem die Gruppe im Frachtraum untergebracht worden war, folgte Coen Dom auf die Kommandobrücke. Kurze Zeit später erschütterte der Sprung das Schiff und nachdem sie die Freigabe erhalten hatten, brauchte die eingespielte Mannschaft nicht lange für das Ablegemanöver. Freier Raum tat sich vor ihnen auf und als die "Rebelde glorioso" einen Kurswechsel nach Steuerbord einschlug, offenbarte sich die orange Sonne des Lassiksystems hinter der Glasfront des Schiffes. Ein kleiner leuchtender Punkt der unheimlich weit entfernt schien und so fremd gegenüber dem Stern von Cree wirkte. Selbst die Schwärze des Weltalls schien nicht zu passen. Coen befand sich Lichtjahre entfernt von seiner eigentlichen Heimat und alles dort draußen fühlte sich falsch an. War es Sehnsucht, Heimweh oder eine Art Entzug der Droge Cree, was ihn ergriff? Der menschliche Coen hatte Probleme das vorherrschende Gefühl passend einzuordnen.

Drei Stunden vergingen ohne große Konversation. Coen hatte einen Sitz auf der Kommandobrücke zugewiesen bekommen. Damit war er unter ständiger Beobachtung. Offenbar fiel dem tätowierten Türsteher die Verantwortung zu, ihn keinen Moment aus den Augen zu lassen. Anfangs bekam er alle dreißig Sekunden einen Kontrollblick, aber nach etwa einer halben Stunde vergrößerten sich die Abstände und nach einer weiteren Stunde besaß er den Status eines Überwachungsmonitors, dem nur Aufmerksamkeit gewidmet wurde, wenn er Signale in Form von Tönen von sich gab.

Er war also Teil der Einrichtung geworden und solange er keine hektischen Bewegungen vollzog, würde niemand ihm Beachtung schenken. Trotzdem war es nicht möglich die Kommandobrücke unbemerkt zu verlassen und seine Kameraden aus dem Verlies zu befreien. Für die Übernahme des Schiffes war eine Ablenkung notwendig. Bis zu diesem finalen Akt ihrer Meuterei war noch einiges zu erledigen und so fing er an die einzelnen Unwegsamkeiten abzuwägen.

Dom mit seiner schwer einschätzbaren Persönlichkeit stellte sich als größte Unbekannte heraus. Das Schmugglergewerbe erforderte eine gewisse Intelligenz, aber seine unerschütterliche Fassade machte es schwer ihn dahin gehend einzuschätzen. Den Nachweis für ein gewisses Maß an Hinterlist hatte er bereits erbracht, aber Coen bezweifelte, dass er es mit einem Superschurken zu tun hatte, der ausgefeilte Pläne zur Weltherrschaft anstrebte. Sein Antrieb war der Profit und wenn er nicht gerade durch spontane Täuschungsmanöver gezwungen wurde eine schnelle Entscheidung zu treffen, war er sehr geduldig bei der Umsetzung seiner Pläne.

Diese Charaktereigenschaft und die Tatsache, dass Coens Gruppe sehr kurzfristig Doms Dienste in Anspruch nahm, führte zu dem Schluss, dass ihr weiteres Schicksal in den Details noch ziemlich unbestimmt war. Die Absicht mit ihnen seinen Gewinn zu steigern, hatte Dom bereits offenbart, aber genaue Pläne für die Umsetzung, da war sich Coen sicher, gab es auf Grund der Kürze der Zeit nicht. Die Reise bis Lassik würde vermutlich ereignislos bleiben, aber nach der Landung müsste Dom dafür sorgen, dass sie nicht einfach verschwinden. Coen blieben weniger als 17 Stunden, um seine Kameraden zu befreien und die "Rebelde glorioso" zu übernehmen.

Ein weiteres Problem bestand in der Bewaffnung seiner Wache. Die einzige Waffe auf der Kommandobrücke soweit Coen das beurteilen konnte. Trotz der Selbstheiler würde ihre Übernahme nicht unblutig ablaufen und es war nicht sicher, ob bestimmte Treffer, wie zum Beispiel ein Kopfschuss, nicht am Ende zu unerwarteten Verlusten führen würden. Er überlegte sich gerade verschiedene Entwaffnungsmanöver, als sich Unruhe in die Routine der Mannschaft schlich.

"Was ist los?", fragte Coen. Dom ignorierte ihn und tippte konzentriert auf dem Bedienfeld seines Kommandorechners herum. Leichte Besorgnis war ihm anzusehen, die auf Coen übergriff. Irgendwas passierte dort draußen und die Tatsache, dass ihm die passende Information verweigert wurde, machte ihn nervös.

"Was?", wiederholte Coen seine Frage jetzt kürzer, aber prägnanter.

"Ein Schiff befindet sich in unserer Flugbahn. Vermutlich Piraten." Dom wirkte verärgert, weil er kurz einen Teil seiner Konzentration für die Beantwortung einer lästigen Frage opfern musste. Er zischte ein paar Anweisungen an seine Mannschaft und umgehend vollführte die "Rebelde glorioso" ein Manöver Richtung Steuerbord. Hinter der Glasfront gab es nur noch Schwärze. Offenbar versuchte Dom dem drohenden Überfall mit Flucht zu entkommen. Weitere Befehle erschütterten die angespannte Stille der Kommandobrücke, aber erst ein warnender Dauerton erschütterte die Gelassenheit der Mannschaft.

"Annäherungssensoren", brüllte jemand.

Was immer dort draußen auch vorging, die Lage spitzte sich offensichtlich zu. Eilig wurden Lageberichte verfasst und im nachhinein wünschte sich Coen er hätte besser zugehört, aber seine Konzentration galt der geheimen Ladeluke. Eine bessere Situation würde sich nicht mehr bieten und so verließ er unbemerkt die Kommandobrücke, während Dom und seine Leute hektisch die Flucht organisierten.

Er eilte den Gang entlang. Das Adrenalin überschüttete ihn und ließ ihn die paar Meter gefühlt in Lichtgeschwindigkeit absolvieren. Die Aufregung verhinderte das klare Denken und unterdrückte die warnende Stimme, die aus irgendeinem Grund unbedingt jetzt ein paar Worte anbringen wollte. Es blieb keine Zeit für Grußbotschaften seines Unterbewusstseins, denn lange würde sein Verschwinden nicht unbemerkt bleiben. Er musste schnell und entschlossen handeln.

Das Schloss für die Luke befand sich versteckt in einer der metallischen Schiffswände. Coen schob die unauffällige Abdeckung beiseite und presste seinen Finger auf die genetische Schnittstelle. Die grüne Lampe bestätigte den Erfolg, aber zu seiner Überraschung öffnete sich die Luke im Boden nicht.

Nichts. Kein Klick für die Entriegelung, kein freudiges Wiedersehen mit seinen Kameraden und erst Recht keine Übernahme der "Rebelde glorioso". Nur ein grünes Licht, das ihn zu verspotten schien. Es wurde Zeit dem unterdrückten Unterbewusstsein mehr Spielraum einzuräumen und das verkündete ihm, dass ein Dauerton beim Annäherungsalarm gleichzusetzen war mit einer Kollision.

Verdammt. War der Piratenangriff nur inszeniert? Wurde er Opfer einer billigen Falle, die er zwar erkannt hatte, aber trotzdem zugeschnappt hatte, weil er die Anzeichen ignorierte? Coen war es gewohnt komplexe Operationen zu ergründen und mit der Arroganz eines überlegenen Geistes hatte er die offensichtlichen Warnsignale in seinem Hochmut ignoriert. Ihm wurde gerade eine Lektion in Sachen Demut erteilt. Wenigstens war das ein Gefühl mit einem gewissen Lerneffekt, denn nie wieder würde er Dom unterschätzen. Das zweite Gefühl stellte sich als viel unangenehmer heraus und wurde noch verstärkt, als er sich zurück auf die Kommandobrücke begab. Scham.

"Erwischt", begrüßte ihn Dom breit grinsend. Die ganze Mannschaft verfiel in Heiterkeit, als Coen mit gesengtem Haupt auf seinen Platz zusteuerte.

"Keine Piraten?", fragte Coen. Dom schüttelte den Kopf.

"Aber jede Menge Geheimnisse wie mir scheint", antwortete er stattdessen.

"Ich schätze du hast rausgefunden, was in diesem Negativeintrag stand." Doms Grinsen hatte jetzt was Überlegenes.

"Ehrlich gesagt, steht da gar nicht viel drin. Nur eine kurze Anweisung, dass ein Typ mit dem Namen Guy informiert werden soll, sobald du auftauchst." Dom legte eine kurze Pause ein und versuchte zu ergründen, ob der Name bei Coen irgendeine Reaktion verursachte.

"Den kenne ich nicht", sagte er.

"Okay. Dafür kenne ich den jetzt ganz gut, nachdem ich mir ein paar Informationen besorgt habe. Er ist so eine Art selbstständiger Berater, der für alle großen Organisationen der Galaxie arbeitet. Cereal Inc. Goliath Invest. Sogar die allmächtige Science. Als wäre das nicht schon beeindruckend genug, habe ich einen Eintrag über ihn gefunden, der mehr als 200 Jahre alt ist." Wieder machte Dom eine Pause, um die Reaktion von Coen zu ergründen.

"Dafür gibt es nur eine Erklärung. Femtos", sagte er bedeutungsschwanger. Mit diesem Begriff konnte Coen nicht sofort was anfangen, aber es brauchte nicht viel Kombinationsgabe um dahinter den umgangssprachlichen Begriff für die Nanotechnologie zu vermuten.

"Spitzentechnologie der Vorfahren. Es gibt Gerüchte über ihre Funktionen. Man sagt sie verleihen einem Mann enorme Kräfte und ein übernatürlich langes Leben. Ehrlich gesagt hatte ich befürchtet, dass du die Luke versuchst mit Gewalt zu öffnen, aber offenbar gibt es da filigranere Methoden. Zum Glück besitzt der Raum noch ein zweites Schloss. Ich musste dich einfach testen, ob du auch irgendwas in der Richtung besitzt", erklärte er fast entschuldigend.

"Was nun? Lieferst du uns diesem Guy aus?"

"Das könnte ich machen und ich denke er wäre bereit viele schwarze Jetons für euch zu bezahlen. Doch könnten wir uns auf eine andere Art Vereinbarung einigen. Ich bin ohnehin ein Verfechter von "eine Hand wäscht die andere". Es gibt eine Sache, bei der ich eure Hilfe bräuchte und als Belohnung würde ich euch auf Lassik absetzen und ihr könntet unbehelligt eurer Wege ziehen."

Da war sie wieder seine größte Schwäche. Coen musste aus dem Nebel der Demütigung auftauchen und genau da ansetzen. Der Erfolg von Doms einfachen Täuschungsmanöver hatte damit auch was Gutes. Es verfestigte den Eindruck mit Coen einen naiven und leicht beeinflussbaren Charakter vor sich zu haben. Diese Illusion musste er weiter aufrecht erhalten um Dom damit zu ähnlich überheblichen Fehlern zu verleiten, wie es ihm gerade passiert war. Natürlich würde er sie nie einfach gehen lassen, wenn am Horizont immer die Aussicht auf jede Menge schwarze Jetons bestand. Mit dieser Fassade des naiven Grünschnabels willigte Coen ein.

"Okay. Wie können wir dir helfen?" Dom führte ihn zu seinem Bedienpult und öffnete eine Sternenkarte. Er separierte das Lassiksystem und deutete auf einen kleinen Punkt, der offensichtlich einen kleinen Mond darstellte.

"Dort sind wir auf ein Geheimnis gestoßen, das hoffentlich mit deinen Spezialkräften gelöst werden könnte. Sozusagen ein weiterer geheimer Laderaum, der dummerweise nicht von mir geöffnet werden kann", erklärte Dom.

"Worum handelt es sich?", fragte Coen.

"Wir wissen es nicht. Es gibt keinerlei Informationen über diesen Ort, aber die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass sich im Inneren jede Menge Vorfahrentechnologie befindet." Doms Augen fingen bei der Aussicht auf Jetons an zu leuchten.

"Es ist ungeheuer einfach. Du legst einfach den Finger auf dieses Schloss und alle werden glücklich." Dom hielt ihm die Hand hin. Was blieb Coen für eine Wahl? Er wünschte, er könnte die Entscheidung mit Oliver besprechen. Trotz mangelnder Alternative würde es den Druck der Verantwortung mindern. Es half nichts. Er war allein zuständig für das Schicksal seiner Kameraden und so willigte er mit einem zaghaften Handschlag ein.

"Kurs auf den Mond", befahl Dom und die Mannschaft fing an die notwendigen Dinge in die Wege zu leiten.

"Ich würde gern meine Leute informieren", forderte Coen. Dom ignorierte ihn.

"Hier draußen gibt es niemand, der uns überprüft, also kannst du sie auch rauslassen." Coen bekam ein verachtendes Schnauben als Antwort.

"Wir sind doch jetzt Partner. Ein wenig Vertrauen wäre angebracht." Coen blieb hartnäckig. Dom schenkte ihm jetzt mehr Aufmerksamkeit.

"Na gut. Ich lass dich da runter. Dann kannst du sie informieren, aber rauslassen werde ich sie auf keinen Fall." Er wies Coens übermäßig tätowierte Wache an ihn zur Luke zu bringen.

"Fünf Minuten", knurrte der, als er das zweite Schloss freilegte und damit den Eingang öffnete. Coen stieg hinab und die fragenden Blicke seiner Gefährten interpretierte seine menschliche Seite als Anklage für das Versagen seiner Versuche die Geschicke in eine gewünschte Richtung zu lenken. Diese Scham über sein Scheitern hätte unpassender nicht sein können und so versuchte er diese hinter eine Burgmauer aus Rationalität zu schieben. Es gelang ihm nur eingeschränkt und verhinderte damit klare Gedanken.

Er informierte Oliver über die geänderten Pläne und die Tatsache, dass seine Fähigkeiten genetische Schlösser zu öffnen, kein Geheimnis mehr für Dom waren. Sein Eingeständnis in die simple Falle von Dom getappt zu sein, wirkte paradoxerweise erleichternd. Oliver machte ihm keine Vorwürfe und genau das nahm sein Verstand zum Anlass, endlich Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Der Planet Cree mochte zwar außerhalb ihrer Reichweite sein, aber solange der Zusammenhalt der Gruppe intakt war, gab es eine alternative Energiequelle für ihn.

Dieses Abgreifen von Zuversicht war keine Einbahnstraße. Jetzt war er an der Reihe seine Kameraden die nötige Hoffnung zu geben. Er schaute in die Gesichter seiner Umgebung, welche alle die selbe Unsicherheit widerspiegelten, die auch ihn ergriffen hatte. Selbst wenn er ein paar aufmunternde Worte hinbekommen hätte, wären sie nur Hülsen für belanglose Floskeln gewesen und so entschied er sich jeden Einzelnen kurz zu umarmen.

Diese unfreundliche Welt wurde dadurch nicht besser, aber diese für Cree untypischen Gesten bestärkten jeden von ihnen in der Ansicht, dass sie ihren Platz darin finden würden. Schweigend verließ Coen das Verlies wieder und begab sich auf die Kommandobrücke.

Stunden vergingen, bis sie ihr Ziel erreicht hatten. Der Mond schimmerte grau im spärlichen Licht der Sonne von Lassik und diese trostlose Farbe wirkte wenig einladend. Der Steuermann manövrierte das Schiff zur dunklen Seite, so dass im Gegenlicht der Sonne nur noch die kreisrunde Kontur zu erkennen war. Das machte den zu erwartenden Spaziergang zu einer unheimlichen Angelegenheit und die Anspannung in Coen nahm mit jedem Meter zu, dem sie sich der Oberfläche näherten.

"Gut Dimitri. Ich hoffe du hast aus dem letzten Landemanöver deine Lehren gezogen. Damals haben wir uns ordentlich Dellen im Rumpf zugezogen", ermahnte Dom seinen Steuermann. Der bereitete voll konzentriert die Landung vor.

"Die Landefläche ist extrem klein und wir haben ziemlich wenig Spielraum die "Rebelde glorioso" dort unten heil zu landen", erklärte Dom einem angespannten Coen. Eine leichte Erschütterung erfasste das Schiff. Noch waren sie nicht unten.

"Vorsichtig", zischte Dom. Wieder zitterte das Schiff, aber dieses Mal quittierte Dom die Kollision nur mit einem Kopfschütteln. Der dritte Versuch klappte und die "Rebelde glorioso" setzte auf dem felsigen Untergrund auf.

"Besser als beim letzten Mal, aber noch nicht perfekt", kommentierte Dom die geglückte Landung. Er tippte auf dem Display ein Kommando ein und plötzlich erhellte sich die Glasfront vor ihnen. Scheinwerferlicht fiel auf eine Steinwand, die sich keine zehn Meter von ihnen entfernt auftat.

"Was ist das?", fragte Coen. Diese Wand konnte unmöglich natürlichen Ursprungs sein. Keine Vorsprünge oder Vertiefungen waren zu erkennen.

"Hoffentlich der Zutritt zu jede Menge Jetons", kommentierte Dom Coens Aufregung erheitert. Er sprang aus seinem Kommandosessel und forderte Coen auf ihm zu folgen. Gemeinsam betraten sie die Luftschleuse, in der zwei Raumanzüge bereitgestellt wurden.

"Nicht ganz deine Größe, aber in der heutigen Zeit können wir nicht wählerisch sein. Außerdem ist der Weg nicht allzu weit, also sei nicht schüchtern und zieh dich um", forderte Dom Coen auf den Anzug anzulegen. Tatsächlich tat sich Coen schwer in der Übergröße ohne Beeinträchtigung zu laufen. Dom ließ ihm keine Zeit für ein paar Trainingsschritte. Hoffentlich waren es wirklich nur ein paar Meter, denn die Gefahr war groß für einen Sturz und trotz der verringerten Schwerkraft würde es schwer werden wieder hochzukommen. Er setzte den Helm auf und verriegelte das Visier.

"Bereit?", fragte Dom. Coens Puls raste. Es war nicht ungefährlich in diesem von wenig Vertrauen strotzenden Anzug eine Umgebung zu betreten, die aus Dunkelheit, scharfer Kanten und keinerlei Atmosphäre bestand.

Dom verriegelte den Zugang zur "Rebelde glorioso" und nach zwei Minuten Wartezeit begannen seine Leute die Schleuse zu entlüften. Die grüne Signallampe wechselte auf rot und mit dem Entweichen des Sauerstoffes eroberte die Stille die Luftschleuse. Das Vakuum erstickte jeden Laut gnadenlos und selbst das metallische "plong", das Doms schwere Stiefel nach jedem Schritt verursachten, konnte Coen nur noch erahnen. Er versuchte die Vibrationen des Bodens zu verspüren, als Dom sich auf die Außenluke zu bewegte, aber seine Sinne waren nicht so sensibel, dass er irgendwas erfassen konnte. Diese unglaubliche Ruhe um ihn herum, nährte seine Furcht und als er selber geräuschlos voranschritt, glaubte er für einen Moment an diesem Ort sein Gehör verloren zu haben. Erst der Kommunikator im Helm überzeugte ihn, dass er körperlich in Ordnung war.

"Los gehts", ertönte Doms verrauschte Stimme. Die Außenluke öffnete sich und da Coen die Pumpen akustisch nicht vernehmen konnte, wirkte die Prozedur wie eine von einer göttlichen Macht gesteuerte Offenbarung.

Die glatte Felswand war keine zehn Meter entfernt und wirkte mit ihrer makellosen Oberfläche wie ein architektonisches Meisterwerk. Obwohl sich eine offensichtlich rein zweckgebundene Einrichtung wie ein Lagerraum oder ein Außenposten dahinter befand, hatten die Vorfahren Wert auf eine ästhetische Fassade gelegt. Das stand im Gegensatz zu ihrer praktischen Veranlagung, die darauf ausgelegt war ein Optimum an Ertrag zu erwirtschaften. Warum zum Teufel hatten dann hier unzählige Baumaschinen diese Oberfläche bis zur Ekstase poliert? Das konnte nur technische Gründe haben, die für Coen derzeit nicht ersichtlich waren. Er machte ein paar Schritte auf die Wand zu und legte seine Hand auf das Gestein, um vielleicht dadurch Antworten zu bekommen.

"Beeindruckend, nicht wahr", tönte es durch den Lautsprecher des Helmes. Coen wandte sich Dom zu, der mit seinem Finger auf eine Stelle im Massiv zeigte.

"Wenn ich bitten darf", forderte er. Extrem vorsichtig begann Coen die wenigen Meter bis Dom zurückzulegen. Obwohl die Schwerkraft hier deutlich geringer war als der Standard, hatte er Probleme mit dem unpassenden Anzug. Ein Sturz würde ihn zwar nicht verletzen, aber bei seinem in die Jahre gekommenen Schutz, könnte die kleinste Beschädigung zu unangenehmen Folgen führen.

Diese übertriebene Vorsicht ließ Dom ungeduldig werden und in Kombination mit seiner Aufregung, ließ er sich zu ein paar Flüchen hinreißen, welche die Geschwindigkeit mit blumigen Metaphern verglich, von denen lahmarschige Schildkröte noch die freundlichste Variante war. Endlich angekommen, drängte er Coen seine Hand auf die Stelle unterhalb einer kleinen blinkenden Lampe zu legen.

"Ich weiß nicht, ob es mit Handschuh funktioniert", erklärte Coen sein Zögern. Dom hielt es nicht für nötig zu antworten, ergriff stattdessen seine Hand und packte sie dorthin, wo er sie schon vor zwei Minuten haben wollte.

Das erste Anzeichen für den Erfolg zeigte sich mit der Änderung des blinkenden Lichtes, dass sich in ein stabiles Grün wandelte. Dom wollte gerade zu einer Jubelrede ansetzen, als ihn die Vibrationen im Boden dazu zwangen ein paar Schritte zurückzutreten. Irgendwas passierte im Inneren des Massivs und einige Sekunden später offenbarte sich ihnen eine Luftschleuse.

"Heureka", ließ er endlich seiner Freude freien Lauf. Er packte Coen am Arm und schleppte ihn Richtung Eingang. Offenbar war er es Leid weitere wertvolle Zeit mit der seiner Meinung nach übervorsichtigen Fortbewegung seines Partners zu verschwenden. In der Mitte der Schleuse ließ er ihn einfach stehen und steuerte auf einen Bedienfeld an der gegenüberliegenden Wand zu. Nach ein paar Eingaben schloss sich die Außenluke und die Zufuhr von Sauerstoff wurde gestartet. Zwei Minuten später riss sich Dom seinen Helm vom Kopf und nahm einen tiefen Atemzug.

"Hah. Riechst du dass? Der Geruch von Jetons", feierte er den Zutritt. Wieder tippte er auf dem Bedienfeld seine Befehle ein und einen kurzen Moment später öffnete sich der Zugang zu seinem sehnlichsten Wunschtraum.

"Es ist Bescherung", verkündete er gut gelaunt.     

Es brauchte eine Weile bis sich die Beleuchtung automatisch einschaltete. Für Dom eine unnötige Verlängerung seiner Vorfreude und in dem Moment als er seine ersten Flüche über die vor ihm liegende Dunkelheit anbringen wollte, begannen die ersten Lampen spärliches Licht zu verströmen. Ventilatoren sprangen an und begannen aufbereitete Luft in den Raum zu pumpen, die von ihren Gegenstücken auf der gegenüberliegenden Seite wieder abgesaugt wurde. Ein Luftzug entstand, der einen kontinuierlichen Austausch der Atemluft garantierte. Einzelne Töne waren zu vernehmen und dienten als Nachweis für das Hochfahren der Rechentechnik. Der ganze Raum erwachte zum Leben und begrüßte ihre Besucher auf vielfältige Weise.

"Das ist kein Lager", stellte Coen fest, als sich ihm der kreisrunde Raum vollends offenbarte.

"Offenbar nicht. Sieht eher aus wie ein Labor." Dom ging auf eine der zahlreichen Computerkonsolen zu, welche die Außenwand komplett in Beschlag nahmen. Für Coen war die Technik nebensächlich. Der wirkliche Zweck würde sich mit der Untersuchung der Plattform in der Mitte des Raumes ergeben. Er nahm die drei Stufen nach oben und fand sich in einer Art Ansammlung von transparenten Särgen wieder.

"Kryokammern", schlussfolgerte er. Dom sah ihn fragend an.

"Diese Technik dient zur Konservierung von menschlichem Gewebe", versuchte Coen sich an einer Erklärung.

"Du meinst, die Vorfahren haben hier so was wie Arme und Beine eingefroren?", fragte Dom.

"Ich denke eher ganze Menschen."

"Boah. Warum?" Coen ging auf eine der Kammern zu um ihren Inhalt zu überprüfen. Leer.

"Ist da jemand drin?" Dom folgte Coen auf die Plattform und begann die einzelnen Kammern nach Vorfahren abzusuchen.

"Alle leer. Was soll das Ganze?", fragte er sich. Eine gute Frage. Coen versuchte den Sinn dieser Einrichtung zu ergründen, ohne eine wirklich vernünftige Erklärung zu finden. Was blieb war die Spekulation. Vermutlich trafen sie hier auf eine der Möglichkeiten sich dem wachsenden Einfluss der Cree zu entziehen. Als die Vorfahren realisierten, dass sie mehr und mehr zurück gedrängt wurden in der Galaxie, war das Virus sicherlich nicht die einzige Option dem Untergang der ursprünglich menschlichen Spezies entgegenzuwirken. Vielleicht planten sie hier eine Art Arche, um der Transformation der Cree zu entkommen. Allerdings sprach die überschaubare Anzahl der Kammern gegen diese These. Es könnte sich bei diesem Labor um eine erste Testreihe eines langfristigen Plans handeln, der sich mit der Entwicklung des Virus erledigt hatte. Was immer auch die Intention der Vorfahren hier war, für Dom entpuppte sich der Ort als Enttäuschung.

"Verdammt. So ein Mist braucht heutzutage kein Mensch." Wütend trat er gegen eine der Kammern.

"So eine Scheiße. Los zurück", forderte er Coen auf seinen Helm aufzusetzen. Mit ordentlich Wut im Bauch betrat er die Luftschleuse und als sie kurze Zeit später wieder die künstlich aufbereitete Luft der "Rebelde glorioso" einatmeten, hatte sich Dom immer noch nicht beruhigt. Unter Flüchen verschwand er in seiner Kabine und Coen war sich sicher, dass der ein oder andere Einrichtungsgegenstand durch Umherwerfen auf seine Bruchfestigkeit getestet wurde. Eine Stunde verging bis Dom einen seiner Angestellten in sein Quartier zitierte. Eine weitere Stunde verging, dann betrat Coen die bedrohlich wirkende Kabine des Kommandanten. Eine perfekte Kulisse für das kommende Unheil.

"Setz dich", forderte Dom, ohne die übliche aufgesetzte Höflichkeit. Offenbar war die Zeit des Taktierens und Bluffens vorbei. Die Karten lagen auf dem Tisch und Dom hatte definitiv das bessere Blatt. Ein Beweis dafür war die Anwesenheit des tätowierten Besatzungsmitglied, welcher bewaffnet hinter seinem Chef stand und diese Art von Bedrohung aussandte, die Coen vermittelte, dass er seine Niederlage akzeptieren musste.

"Ich denke, ich muss dir nicht erklären, was jetzt passiert", begann Dom eisig zu erläutern. Die Hand seines Angestellten wanderte zum Griff seiner Pistole. Noch zögerte er sie zu ziehen und auf Coen zu richten.

"Wolltest du je unsere Vereinbarung einhalten?", fragte Coen.

"Natürlich. Alles da unten schrie nach jede Menge Profit. Alle hätten glücklich seien können. Und dann das. Das zwingt mich umzudenken."

"Du kannst die Technik ausschlachten und auf den Märkten der Galaxie verkaufen", schlug Coen vor.

"Das werde ich sicherlich machen, aber der Gewinn ist überschaubar. Nichts im Vergleich zu eurem Wert."

"Das stellt dich aber vor neue Herausforderungen." Coen klang jetzt drohend. Dom ließ sich in seinen Sessel zurückfallen und faltete abwartend die Hände, bevor Coen fortfuhr.

"Wenn ich die Sache richtig einschätze ist Zeit dein größtes Problem. Allein die Reise nach Lassik dauert mehr als einen Tag. Dann musst du diesen Guy kontaktieren und ehe du ihn ausfindig gemacht und überzeugt hast hier herzukommen, vergeht sicherlich eine Woche. Dann noch eine Woche für die Anreise und eine weitere Woche für die Verhandlungen. Wenn es schlecht läuft, musst du uns vier Wochen in Gefangenschaft halten. Eine Gruppe, die dreimal so groß ist wie deine Besatzung und von der du nicht weißt, welche Femtos sie noch als Geheimwaffe einsetzen kann. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir den Laden hier einfach übernehmen ist höher, als der erfolgreiche Abschluss des Geschäftes, also lass uns eine neue Vereinbarung aushandeln, die für beide Seiten gewinnbringend ist."

Dom ließ sich zu einem leichtem Lächeln hinreißen, das Coen vermitteln sollte, trotz genau dieser Bedingungen einen geeigneten Plan zu haben. Nach einer kurzen Phase von zu Schau gestellter Dominanz verkündete Dom seine Absichten.

"Du hast Recht. Ich habe nicht die Möglichkeiten euch vier Wochen auf der "Rebelde glorioso" gefangen zu halten, aber ironischerweise hat sich mit dem Fehlschlag dort unten eine neue Möglichkeit ergeben." Er lauerte auf eine Reaktion von Coen, aber der hatte seine Selbstsicherheit im Griff.

"Du willst uns dort unten aussetzen?"

"Zwischenparken trifft es wohl eher. Ich gebe euch Proviant für zwei Wochen mit. Wir planen das Geschäft auf Lassik und statten euch zwischendurch einen Besuch ab, um euch mit Kaloriengetränke zu versorgen." Ein gewinnendes Lächeln zierte Doms Gesicht. Coen sprang auf.

"Das kannst du nicht machen. Wenn was schief geht, werden wir elendig verhungern." Er sah sich jetzt dem Lauf einer Waffe gegenüber.

"Du hast keine Wahl", entgegnete Dom gelassen einem aufgebrachten Coen.

"Wir werden uns weigern, dass mitzumachen."

"Wenn du auf den Zugang zum Labor anspielst, haben wir bereits eine Lösung vorgesehen. Es liegt an dir, wie viel Tote Kameraden du in Kauf nimmst, bis du deinen Finger auf das Schloss legst."

Coen verfiel in Panik. Wieder hatte er das Nachsehen und erneut schien es nur eine Option zu geben. All die intellektuelle Überlegenheit schien nutzlos gegenüber der Verschlagenheit eines Dom. Mit Erschrecken musste er feststellen, dass die Galaxie außerhalb von Cree eine Unberechenbarkeit aufwies, die ihn und seinen Kameraden das Leben kosten konnte. Im Rückblick erschien ihn die Entscheidung zum Verlassen seiner neuen Heimat als schrecklicher Fehler. In unglaublicher Arroganz hatte er geglaubt die Tücken einer im Sterben liegenden Gesellschaft mit überlegener Hirnchemie zu meistern. Was er in einer Welt außerhalb von rationaler Betrachtungsweise brauchte, waren nicht von Logik geprägte mentale Fähigkeiten. Hier überlebte nur derjenige, der sich den Spielregeln aus Hinterlist und Habgier anpasste. Sie mussten neue Variablen wie Neid, Missgunst oder Misstrauen mehr in ihre Entscheidungen mit einfließen lassen. Auf Cree existierten diese Parameter des Zusammenlebens nicht und so liefen sie unvorbereitet in ihr Verderben. Sie hatten die Verdorbenheit der menschlichen Natur maßlos unterschätzt und eine bittere Lektion erhalten, die sie am Ende mit dem Entzug von Freiheit oder vielleicht sogar mit ihrem Leben bezahlen würden.

"Ich schätze dich überfordert das gerade und wirft all die Pläne über den Haufen, die du in deinem Verstand entworfen hast", bohrte Dom in der offenen Wunde.

"Ich hätte auch lieber unsere ursprüngliche Vereinbarung umgesetzt, aber du musst mich verstehen. Ich trage Verantwortung gegenüber dem Schiff und seiner Besatzung und kann euch daher nicht so einfach gehen lassen", rechtfertigte sich Dom halbherzig.

"Du hast genug Geld für unseren Transport bekommen."

"Nur ein kleiner Nebenverdienst und vernachlässigbar gegenüber dem was dieser Guy vermutlich für euch springen lässt. Bespreche das mit deinen Kameraden, aber wie ich das sehe, gehen euch die Optionen aus. Bereite sie darauf vor in dieses Labor zu gehen."

Mit einem Kopfnicken forderte Dom seinen tätowierten Untergebenen auf Coen zur Luke zu führen. Als dieser kurze Zeit später in die fragenden Gesichter seiner Begleiter schaute, verließ ihn der Rest an Zuversicht.

"Wie konnten wir nur glauben in dieser höllischen Welt bestehen zu können", klagte Coen, nachdem er die Situation mit einer ordentlichen Portion Resignation erklärte hatte. Er brauchte dieses Ventil um das Scheitern dieses Mal verbal zu verarbeiten. Von Oliver kamen weder Vorwürfe noch Unterstützung. Sein Verstand schien die neuen Bedingungen vollkommen emotionsfrei zu verarbeiten. Nach ein paar Minuten intensiven Nachdenkens fing er an seine Gedankengänge den Anderen mitzuteilen.

"Verbale Kommunikation ist beeinflussend und manipulierend", sagte er kryptisch.

"Der resignierende Unterton deiner Darlegung der Ereignisse macht es schwer die Situation vernünftig zu beurteilen." Das auch Oliver den schizophrenen Kampf zwischen der menschlichen und der Cree-Seite ausfocht, wurde vor kurzem im "Diamant House" ausführlich besprochen. Damals gab er zu, dem vernunftgeprägten Anteil den Vorzug zu geben. Offenbar hatte ihm diese Ausprägung eine Option offenbart, die dem vom emotionalen Tsunami überrollten Coen verwährt blieb.

"Du siehst es als vollkommen aussichtslos an. Nach dem Ausblenden aller negativen Schwingungen komme ich zu dem Schluss, dass wir hier eine einmalige Gelegenheit haben." Coen ergriff Hoffnung. Zwar ein positives Gefühl, aber der Schub an unangebrachter Freude erzeugte ein Überschießen an Glücksgefühlen und unterdrückte das klare Denken in ähnlicher Weise. Er beneidete in diesem Moment Oliver, der es schaffte sämtliche emotionale Störeinflüsse zu verbannen.

"Ich bin mir sicher, dass selbst bei einem Einhalten der ursprünglichen Vereinbarung wir früher oder später von der Science aufgegriffen worden wären. Vielleicht gelänge einigen von uns die erfolgreiche Rückkehr zu unseren Heimatwelten, aber dort erwartet uns ein Leben in vollkommener Unauffälligkeit. Wir müssen zurück nach Cree."

"Was ist mit Dom?"

"Er wird ein wesentlicher Bestandteil unserer Rückkehr werden."

"Wie?"

"Ich halte es für besser dir meinen Plan nicht vollständig mitzuteilen. Du bist emotional nicht stabil genug." Oliver schaute Coen ausdruckslos an und obwohl er mit der Aussage Recht hatte, war das nicht der Grund für seine Zurückhaltung. Was er auch vorhatte, Coen durfte nicht alles erfahren und für den Moment akzeptierte dieser die Geheimniskrämerei widerwillig. Immerhin konnte Coen wenig Erfolge vorweisen bei den bisherigen Versuchen ihre Situation zu verbessern. Vielleicht hatte Oliver ja mehr Glück.

"Na gut. Dann sag mir, was ich wissen soll", erwiderte Coen trotzig.

"Ihr werdet die Kryokammern nutzen, sobald ihr unten seid. Nicht nur das. Ihr werdet die Gedächtnisblockade aktivieren."

"Ihr? Was soll das bedeuten? Außerdem ist das gefährlich."

"Es ist notwendig, falls mein Plan nicht funktioniert. Einer da unten muss wach bleiben. Das wirst du sein. Ich begleite Dom nach Lassik. Dieses Mal werde ich derjenige sein, der auf der "Rebelde glorioso" verbleibt. Er muss ohnehin einen von uns mitnehmen, da er sonst nicht mehr in die Anlage kommt", erläuterte Oliver.

"Wieso ausgerechnet du?", fragte Coen.

"Ich habe in dieser Isolation ein paar Überlegungen angestellt, wie ich das Schiff allein übernehmen kann. Eine der Möglichkeiten hat eine Erfolgswahrscheinlichkeit von über 80 Prozent." Oliver verfiel in den vernünftigen Cree-Tonfall bei der Verkündung der Erfolgsaussichten.

"Ich nehme an, das ist der Teil deines Plans, den du uns nicht mitteilen möchtest." Olivers Gesicht zierte wieder die ausdruckslose Miene.

"Ja. Nimm es nicht persönlich, aber die Wahrscheinlichkeit auf Erfolg würde massiv sinken."

"Ich fasse mal zusammen. Wenn es schief geht, findet uns die Science und kann mit uns nicht viel anfangen, da wir keinerlei Erinnerung an Cree besitzen. Für den Fall, dass du Erfolg hast, kommst du zurück, beseitigst unsere Blockaden und wir kehren zurück nach Cree. Ist das korrekt?", fragte Coen.

"Ihr müsst euch vorbereiten", wich Oliver einer Beantwortung aus.

"Wir haben genug Zeit da unten. Offen bleiben ein paar Fragen. Wie willst du alleine das Schiff landen? Was, wenn du bei deiner Meuterei getötet wirst? Wer öffnet dann das Labor?"

"Vertrau mir. Alles wird gut werden."  

"Ich werde Dom überzeugen uns beide mitzunehmen."

"Das wird er nicht machen. Du musst mir in der Sache vertrauen." Coen zögerte. All seine Strategien für eine erfolgreiche Flucht waren schief gegangen und vielleicht wurde es wirklich Zeit, Oliver mit seinem rationalem Verstand die Geschicke zu übertragen. Anderseits hatte Coen bereits die Lektion gelernt, dass die logischen Mechanismen der Cree nur wenig erfolgversprechend waren.

"Cree funktioniert hier draußen nicht. Deine Wahrscheinlichkeiten musst du um einige abwegige Parameter erweitern. Was bleibt dann von deinen Erfolgsaussichten übrig?" Oliver sah ihn weiter mit ausdrucksloser Miene an.

"Es wird funktionieren. Lass uns gemeinsam zu Dom gehen und ihn davon überzeugen, dass ich derjenige bin, der ihn ab jetzt begleiten wird." Coen schaute in die Gesichter seiner Begleiter. Es war ihm unmöglich ihre Gefühle mit dem rationalen Teil seiner Persönlichkeit zu beurteilen und so überließ er dem emotionalen Menschen eine abschließende Meinung. Der war immer noch geprägt von dem Versagen seiner bisherigen Bemühungen. Er willigte ein mit der festen Überzeugung, dass die Gruppe eine neue Führung bevorzugte. Für den Bruchteil eines Moments überkam ihn die Einsamkeit. Der mentale Absturz drohte, aber dieses Mal fingen sie ihn auf. Es brauchte keiner Worte oder Gesten, der Zusammenhalt war auf eine Weise spürbar, die seine menschliche Seite als familiäre Verbindung eingeordnet hätte. Ein schwacher Vergleich, aber für den Moment fand er keine bessere Umschreibung.

Es brauchte eine Weile bis sie ihre Wache überreden konnten zu zweit wieder bei Dom vorstellig zu werden. Dieser war wenig begeistert über ihre Pläne eines Rollentauschs, aber Coen überredete ihn mit dem Argument des Anführers, der in jedem Fall bei seiner Gruppe seien sollte. Nachdem Oliver den Nachweis seiner Fähigkeiten zum Öffnen genetischer Schlösser nachgewiesen hatte, willigte Dom ein. Seine Laune war weiterhin schlecht und die fehlende Motivation auf langwierige Diskussionen, ließ ihn am Ende einknicken. Er wollte nur weg von diesem Ort, um dahin zu gelangen, wo der Profit wartete. Einer nach dem Anderen wurde in das Labor gebracht und am Ende stand der große Abschied von Oliver.

"Du kommst nicht zurück, habe ich Recht?", fragte Coen und bekam ein bestätigendes Nicken. Die Wache am Eingang drängte zum Aufbruch, aber Oliver ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.

"Wir hätten Cree nicht verlassen dürfen", sagte Oliver leise.

"Dein Plan war es nie das Schiff zu übernehmen?"

"Nein. Ich habe dich angelogen." Die Tatsache, dass Oliver zu einer Lüge fähig war, überraschte beide.

"Die Cree haben auf jedem Planeten Vertraute", fuhr Oliver fort.

"Ich habe mir die Namen eingeprägt. Auf Lassik ist es ein gewisser Omar. Sobald die "Rebelde glorioso" in Kommunikationsreichweite kommt, werde ich versuchen ihm eure Koordinaten zu übermitteln. Dann können David und die Anderen euch holen kommen."

"Sie werden nicht rechtzeitig hier sein." Oliver vermied das Offensichtliche zu bestätigen.

"Für euch ist nur wichtig in diese Kammern zu steigen und eure Sperren zu aktivieren."

"Hey, es wird Zeit", rief die Wache vom Eingang und nötigte Oliver zur Eile.

"Präge dir die Entschlüsselungscodes von allen ein. Du musst sie zurückholen." Er kramte in seiner Tasche und drückte ihm ein kleines Amulett in die Hand.

"Bleibe so lange wie möglich wach. Wenn du feststellst, dass niemand kommt und dir die Kalorien ausgehen, dann folge den Anderen in die Kammer. Nutze das und finde einen gebündelten Lichtstrahl. 402 Nanometer bei einem Winkel von 32,4°. Da erscheint dein Entschlüsselungscode. Du bist der Schlüssel für alle, also finde einen Weg deinem neuen Ich im Notfall diese Daten zu kommenzulassen."

"Was hast du vor?", fragte Coen besorgt.

"Die "Rebelde glorioso" darf Lassik nicht erreichen."

"Wie willst du es verhindern?"

"Diese Bauart des Raumschiffes hat so viele Schwachpunkte, ein Wunder, dass es nicht von selbst explodiert."

"Tu das nicht. Es muss eine andere Lösung geben."

"Vielleicht ist es selbstlose Opferbereitschaft. Vielleicht ist es aber auch Feigheit. Tatsache ist: Ich will so nicht leben. Weder bei den Cree noch in dieser sterbenden Galaxie. Ich bin etwas geworden, was nirgendwo reinpasst. Es ist die logische Konsequenz, dieses Experiment für mich zu beenden. Ich muss die Gelegenheit ergreifen und diesem vorbestimmten Schicksal einen Sinn geben."

"Ich wusste nicht, dass du so denkst."

"Ihr hattest es einfacher. Kenya und du. Ihr konntet euch gegenseitig stützen." Oliver kramte einen weiteren Gegenstand aus seiner Tasche.

"Das habe ich für dich erstellt. Für den Fall, dass dich deine Zuversicht verlässt." Er überreichte Coen ein Bild.

"Sie ist tot. Geopfert von den Cree."

"Das ist mir bewusst, aber die Brücke, die sie versucht hat zwischen Cree und den Menschen zu bauen, muss vollendet werden." Eine Hand legte sich auf Olivers Schulter und zog ihn Richtung Luftschleuse.

"Bringt Frieden in die Galaxie", rief er noch, dann schloss sich die Tür hinter ihm. Die Gewissheit, Oliver nie wieder zu sehen, machte ihn traurig. Sein Blick fiel auf das Bild in seinen Händen. Zu viel hatte er bereits verloren. Noch war er nicht allein, aber wesentliche Stützen brachen nach und nach weg.        

Er brauchte Ablenkung und so begann er sich mit der Bedienungen der Kryonikkammern vertraut zu machen. Er prüfte die jahrhunderte alte Technik und musste feststellen, dass sie genau eine funktionsfähige Kammer zu wenig besaßen. Obwohl die Technik für einen theoretisch unbegrenzten Zeitraum ausgelegt worden war, hatte die fehlende Wartung für den Ausfall von drei Kammern gesorgt. Der Mangel an Ersatzteilen zwang die Gruppe aus diesen drei Ausfällen eine funktionierende Einheit zu basteln, die in ihrer Zuverlässigkeit sehr unbestimmt war. Coens potentieller Aufenthalt, sollten die Dinge den schlecht möglichsten Verlauf nehmen. Hoffentlich war es nicht notwendig die zweifelhafte Haltbarkeit zu testen. Die Vorstellung dieses sargähnliche Gebilde würde bei technischen Problemen zu seiner buchstäblichen Ruhestätte werden, nötigte ihn die Entsperrungscodes seiner Gruppe mit Nathan zu teilen. Es war ohnehin besser die Verantwortung nicht allein ihm zu überlassen.

Es war unheimlich mit anzusehen, wie das Gedächtnis seiner Kameraden mit dem Aussprechen des Aktivierungswortes Stück für Stück abgeriegelt wurde. Am Ende blieb ein kindlich naiver Gesichtsausdruck übrig, der willig die letzte Anweisung zum Benutzen der Kryonikkammer umsetzte. Einer nach dem Anderen verschluckte die Technik, bis am Ende Coen allein übrig blieb.

Er startete einen Zähler, um die Zeit greifbar zu machen. Die Einsamkeit und das Fehlen von Tag und Nachtzyklen machte es schwer Tage oder Wochen einzuordnen. Er vertrieb sich die Zeit mit dem Ergründen des Zweckes dieser Einrichtung und wie bereits vermutet, diente dieses Labor als mögliche Alternative der aufkommende Katastrophe der Cree. Sie wurde verworfen, als entschieden wurde den tödlichen Virus einzusetzen, aber offenbar hielten es die Vorfahren nicht für notwendig diese Anlage zu zerstören. Irgendwann wurde sie vergessen und in den Wirren der Katastrophe erinnerte sich niemand mehr an sie. Wie ausgerechnet Dom darüber stolperte war selbst mit bester Kombinationsgabe nicht zu ergründen. Eine dieser Verkettungen von Zufällen, die kein noch so analytischer Cree hätte herausfinden können.

Auch das Geheimnis der glatten Wand konnte Coen lösen. Die Anlage war erweiterbar um ein Forschungsmodul, das an die Luftschleuse gekoppelt etwa zwanzig Meter hoch war und genau die Konturen der geschliffenen Form besaß. Der Wärmestrahlung des Fels diente als natürliche Energiequelle und ermöglichte damit eine autarke Versorgung. In diesem Modul musste auch die Kommunikation zur Außenwelt stattgefunden haben, denn hier im Inneren der Labor-Höhle gab es keinerlei Möglichkeit dazu. Im Gegensatz zu dem in den Stein getriebenen Teil, wurde mit der Aufgabe des Projekts dieses Modul von den Vorfahren entfernt.

Zwei Wochen waren vorüber und Coens Langeweile wurde durch die Aufregung über das potentielle Öffnen der Luftschleuse unterbrochen. Fanatisch konzentrierte er seine Sinne auf Geräusche, die einen Ankömmling ankündigten und das vertraute Gemisch aus Lüftern und Rechnerlauten mit der eigenen Tonlage durchbrechen würden. Doch Doms versprochene Lieferung der Kaloriengetränke blieb aus.

Trauer überkam Coen. Das Ausbleiben der Lieferung war ein Beweis für Olivers geglückten Plan die "Rebelde glorioso" in einem selbstmörderischen Akt zu zerstören. Ihre Unternehmung hatte das erste Opfer zu beklagen und obwohl es damit hoffentlich das Überleben der Übrigen sicherte, fiel der Preis eindeutig zu hoch aus.

Olivers Akt der Verzweiflung hätte er nie ohne eine geglückte Absendung der Nachricht an Omar durchgeführt und so erwartete er Davids Ankunft innerhalb der nächsten sechs Wochen. Reumütig würde er seinen Abschied von Cree bedauern und die gesellschaftlichen Strukturen müssten bei ihrer Rückkehr eine weitere Belastung aushalten. Das ganze Dilemma stand vor einer Neuauflage, aber auch David erschien nicht.

Nach Acht Wochen überkam ihm die Gewissheit, dass sie hier gestrandet waren. In drei Tagen waren die rationierten Kaloriengetränke aufgebraucht und Coen war gezwungen das Schicksal seiner Kameraden zu teilen. Olivers letzte Anweisung wollte Coen nicht ignorieren. Er war bereit die Nanobots zu aktivieren.  

Im Grunde beschränkten sich ihr Schicksal auf drei Varianten. Im schlimmsten Fall würden sie nie gefunden werden und der Ausfall der Technik besiegelte irgendwann ihr Ende. Entweder schnell und direkt in der Kammer oder wenn ihnen die Gnade des Rückholprozesses gewährt wurde, mit dem Verhungern einige Tage später. Der Verlust des Gedächtnisses wäre bei dieser Form des Ablebens ein Extra an Panik.

Dem gegenüber stand ein Auffinden, wobei ihr weiteres Schicksal eng mit dem Finder verbunden wäre. Die Cree könnten problemlos ihre Sperren entriegeln und sie missmutig nach Hause bringen. Der wahrscheinlichste Fall war, dass sie nicht von den Cree gefunden wurden und damit als potentieller Profit eines anderen gierigen Doms endeten. Die Gedächtnissperren würde ihnen unter Umständen die Science ersparen, aber die Alternative wäre selbst mit funktionierendem Verstand wenig verheißungsvoll.

Er schaute auf das Amulett, dass ihm Oliver gegeben hatte. Zwei Zahlen musste er sich merken. Der Rest bestand aus dem Erkenntnisgewinn, wie diese einzusetzen waren. Er wusste nicht, wie lange er die Sperre nach seinem Erwachen aufrecht erhalten konnte, ohne geistigen Schaden zu nehmen, aber er wollte dem jetzigen Coen die Rückkehr ermöglichen, sobald es die Umstände zuließen.

"402. 32,4", murmelte er vor sich hin, in der Hoffnung, dass ausgerechnet dieser wichtige Teil nach der Aktivierung in seinem Verstand vorhanden blieb.

Er begab sich in seine Kammer und der Computer begann einen Abfolge von Zahlen rückwärts zu zählen.

"30", verkündete die mechanische Stimme. Noch eine halbe Minute, dann wäre sein Wesen vorübergehend weggesperrt. Kenya erschien als trügerische Erinnerung und brachte ihn zum Lächeln. Gab es einen schöneren letzten Gedanken. Er rief sich die gemeinsamen Stunden in Erinnerung, die so ewig lange her schienen.

"20". Die geteilte Intimität war eigentlich unvergesslich, aber die Nanotechnologie machte das Unmögliche möglich. Ein letzter Gedanke an ihr Gesicht, dann wurde es Zeit.

"10", verkündete der Computer unaufgeregt.

"Rosebud", flüsterte er und eine unbekannte Kraft begann an seinem Verstand zu zerren. Chaos entstand in seinem Kopf, so als hätte jemand einen riesigen Aktenschrank umgeworfen. All die Erinnerungen wirbelten wild durcheinander und erzeugten einen gigantischen Haufen Papier, der vom Wind an einen unbekannten Ort davon getragen wurde.

"1", vernahm er noch, dann schloss sich die Kammer und die Dunkelheit breitete sich aus.

 

 

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 08.06.2021

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
vorläufige Version.

Nächste Seite
Seite 1 /