Die Enttäuschung saß tief bei Azul. War es überhaupt noch Enttäuschung oder ergab er sich bereits der Gnade der Resignation? Die letzten Wochen waren voller Erniedrigungen, die sein Selbstvertrauen in Tiefen abgleiten ließ, die er sich bis dahin nicht hatte vorstellen können. Dabei fing alles so vielversprechend an. Der Sohn eines Bauern, zog in die Welt, um große Abenteuer zu erleben. Auch wenn diese Welt vorerst nur aus dem Hof des Königs bestand, sollte er sich damit weiter von heimischen Gefilden entfernen, als es einer seiner Vorfahren zuvor geschafft hatte.
Mit einem Übermaß an Stolz verließ er den Bauernhof, der eigentlich sein Lebensinhalt werden sollte. Nur wenigen seines Standes war es vergönnt, sein Dasein nicht ausschließlich mit dem Anbau von Getreide oder dem Züchten von Vieh zu verbringen. Die einmalige Chance, dem vorbestimmten Schicksal zu entkommen und als Knappe im königlichen Heer Heldentaten zu vollbringen, weckte in ihm das Gefühl etwas Besonderes zu sein. Die zuversichtlichen Blicke seines Vaters und die Tränen seiner Mutter bei seinem Aufbruch in eine scheinbar bessere Zukunft, bestärkten ihn in seinem Streben, das Erbe des Bauersohns endgültig hinter sich zu lassen.
Keinerlei Reue gab es den landwirtschaftlichen Traditionen zu entkommen. Mit der Naivität eines 16-Jährigen Burschen überschlugen sich seine Fantasien, als er vor dem großen Tor der Hauptstadt stand. In ruhmreiche Schlachten gegen feindliche Heere würde er ziehen und die höchsten Auszeichnungen der Garde bekommen. Dieser weitgeschwungene Torbogen aus Marmor, sollte sein Portal für triumphale Empfänge werden und wenn es gut liefe, würde er eines Tages vielleicht sogar als Kämpfer in den Stand eines Ritters aufsteigen.
Die Realität holte ihn schneller ein als ihm lieb war. Auch wenn er den Bauern mit dem durchschreiten der Pforte am liebsten für immer abgelegt hätte, seine Umgebung sorgte dafür, dass er seine Herkunft nicht so schnell vergessen würde. Die zementierten Standesunterschiede schienen am Hofe von Galatien unumstößlich und allein die Kürze seines Namens degradierte ihn auf eine Stufe mit dem örtlichen Viehbestand.
Das er überhaupt die Möglichkeit zur Ausbildung in der Garde bekam, hatte er dem reformistischen Eifer des Königs zu verdanken, der die Beschränkungen der einzelnen Stände in seinem Reich erkannte und mit unkonventionellen Ideen versuchte, dagegen zu steuern.
Eine dieser progressiven Maßnahmen brachte Azul an diesen Ort und das sorgte für viel Unfrieden. Besonders die höfische Elite versuchte, die jahrhundertlang geprägten Strukturen zu erhalten und jegliche Änderungen zu bekämpfen. Seine Berufung zum Knappen, war eine neue Würze im üblichen Spiel der Intrigen, die normalerweise nicht in die Mauern einer Kaserne gehörten.
Der Sohn eines Bauern im königlichen Heer, war für den privilegierten Stand der königlichen Armee unannehmbar. Azuls notwendige Anwesenheit diente den Rittern zur Belustigung und degradierte ihn auf den Status eine militärischen Hofnarrs. Ihm kam es zu, die geballte Herablassung seiner Herren zu ertragen, was zu seinem Leidwesen von den anderen Knappen unterstützt wurde.
Der einsame Alltag von Azul spielte sich ausschließlich in den Mauern der Kaserne ab. Für einen Jungen, der mit weiten Feldern und in dichten Wäldern aufwuchs, war das die eigentliche Qual. Der braune Sandstein der Kasernenmauern schien sämtliche anderen Farben zu verschlucken und verstärkte mit seiner Eintönigkeit seinen tristen Gemütszustand.
Azul fehlte das satte Grün von Bäumen und Sträuchern. Die Erinnerung an Kornblumen, die ganze Hügel in ein leuchtendes Meer aus Farben tauchten, befeuerten sein Heimweh. Hier gab es keine lieblichen Gerüche oder Vogellaute, die die Vielfalt der Natur ausmachten. Das Klappern von Schwertern und die stinkenden Latrinen waren jetzt seine Welt. Nie hätte er gedacht, dass solche selbstverständlichen Kleinigkeiten seines früheren Lebens eine Lücke in ihm hinterlassen würden.
Aus einem Traum wurde ein Albtraum, der gespeist wurde aus Demütigungen und der Sehnsucht auf bessere Tage. Es gab kein Entrinnen aus dieser geplatzten Hoffnung, selbst wenn er seine Lederrüstung in die Ecke schmeißen würde und zu Fuß in sein bäuerliches Dasein zurückginge. Niemand daheim würde ihm diese Schande verzeihen und so blieb ihm nichts weiter übrig, als sein Schicksal zu akzeptieren.
Das frühzeitige Aufstehen war nichts Ungewöhnliches für ihn und erinnerte ihn an sein Zuhause. Beim kläglichen Frühstück, überrollten ihn Wellen der Wehmut an die Zeit vor seinem Militärdienst. Ein Tag daheim begann mit einem reichhaltigen Mahl am Morgen und selbst in kritischen Zeiten, die auf Grund schlechter Ernten nicht immer leicht waren, hatte es nie etwas ähnlich Furchtbares wie diesen klebrigen Brei gegeben. Selbst nach mehreren Wochen kostete ihn es immer noch Überwindung, sich diese an die Mauern farblich abgestimmte braune Masse in den Mund zu schieben. Das wirklich Schreckliche an diesem Frühstück war die Tatsache, dass sich auch Mittag- und Abendbrot in keinerlei Weise voneinander unterschieden. Widerwillig stellte er sich dem allmorgendlichen Ritual, wohl wissend, dass selbst eine dreifache Portion von dieser Mischung aus Küchenabfällen, seinen Hunger nicht vollständig tilgen würde.
Die eigentliche Ausbildung begann etwa eine halbe Stunde nach Sonnenaufgang. Das Training mit dem Kurzschwert, stellte sich als größere Herausforderung dar, als ihm anfangs bewusst war. Trotz intensiver Übung der letzten Wochen, fiel es Azul nicht leicht, die einstudierten Attacken und Paraden mit der nötigen Präzision umzusetzen. Richtig schwierig wurde es, wenn der Schild mit in die Lehrstunde einbezogen wurde.
Die Koordination der Waffen war für ihn ein kaum zu bewältigendes Unterfangen. Selbst wenn er die einzelnen Manöver halbwegs praktisch in die Tat umsetzen konnte, war sein Geist zu langsam für das Umschalten zwischen Angriff und Abwehr. Die Zeit, die er zur Abwägung brauchte, ob nun Schwert oder Schild das geeignete Mittel wäre, machte ihn anfällig für Gegenangriffe und da seine Mitstreiter nicht zimperlich im Umgang mit den Übungswaffen waren, handelte er sich regelmäßig Blessuren und blaue Flecken ein.
Viel schlimmer wirkte die verbale Niederlage, die mit Spott und Hohn am Ende eines verlorenen Kampfes auf ihn niedergingen. Er musste sich eingestehen, dass er der schwächste Kämpfer der Gruppe war und mit seinen spärlichen Talenten würde er längst wieder Rüben auf den heimischen Äckern stecken, wenn es nicht die Unfehlbarkeit einer königlichen Anweisung gäbe. Bauer zu Soldat war der progressive Befehl des Herrschers und von daher war er zum Kämpfen verdammt, was in seinem Fall mit einem schnellen Tode auf dem Schlachtfeld gleichgesetzt werden konnte.
Der Nachmittag wurde der Waffenkunde gewidmet. Ein wesentlicher Bestandteil der Aufgaben eines Knappen bestand in der Pflege und Bereitstellung von Waffen für den ritterlichen Herrn. Das beinhaltete auch die Versorgung der Pferde und das war der einzige Punkt, dem Azul etwas Angenehmes abringen konnte. Die Tiere verhöhnten ihn nicht, sie fügten ihm keine schmerzhaften Kampfverletzungen zu und seine Herkunft vom Lande war ihnen egal. Pferde waren die besseren Menschen und von daher bekamen sie von ihm mehr als die erwarteten Verpflichtungen. Der einzig angenehme Teil seiner Ausbildung lag auch an diesem Nachmittag vor ihm, als unverhofft eine Änderung des alltäglichen Ablaufes eintrat.
Ihre Gruppe bestand aus zwanzig Knappen, die sich an jenem schicksalhaften Nachmittag in zwei Reihen auf dem staubigen Übungsplatz einander gegenüberstellten. Die Unruhe über die Abweichung im Ablauf verleitete zu verbalen Spekulationen, was ihr Ausbilder mit harten Worten umgehend unterband.
Sie standen einfach nur da und schienen zu warten, aber niemand erklärte ihnen den Grund für das scheinbar sinnlose Herumstehen. Mit angelegter Rüstung, dem Schwert im Halfter und dem Schild vor der Brust verharrten sie regungslos in der prallen Mittagsonne. Azuls Blick ging geradeaus und war krampfhaft ausdruckslos.
Er versuchte den Knappen gegenüber zu ignorieren, aber dieser selbstbewussten Ausstrahlung konnte er sich nicht entziehen. Seine Haltung allein verlieh ihm mehr Mut, als je in Azul stecken würde. Das lockige blonde Haar, was unter dem Helm hervorquoll, ließ auf eine edle Abstammung schließen. Gepaart mit der hellen Haut und den blauen Augen, besaß er ein natürliches Statussymbol. In Galatien öffneten sich durch diesen optischen Vorteil wichtige Türen und manche Schenkel schöner Frauen.
Vor ihm manifestierte sich alles, was er nie seien würde und das bezog sich nicht ausschließlich auf die rein äußerlichen Aspekte. Wilde schwarze Haarpracht gegen blonde gepflegte Locken. Azuls Hautteint war mindestens zwei Stufen dunkler. Wenigstens bei der Größe konnte er mithalten, aber schon der muskulöse Körperbau des blonden Hünen ließ ihn erneut ins Hintertreffen geraten. Die Kampfkunst unterschied sich in fast allen Fähigkeiten, was Azul in schmerzhaften Niederlagen erfahren musste, aber das wirklich Beeindruckende war die Entschlossenheit, mit der er sein Handwerk umsetzte. Geboren in einer Dynastie von Kämpfern, gab es für den Lockenkopf nur eine Priorität. Das Töten seiner Feinde und zu Azuls Unglück war er nah dran, genau zu diesem zu werden.
Bisher ging er als kampfuntauglicher Bauerntölpel durch und verspottete im Grunde genommen das, wofür die Knappschaft eigentlich stand. Die Ausbildung einer militärischen Königsgarde, welche sich aus dem Adel großer Namen speiste. Die Vorauswahl erfolgte elitär und Azul sprengte aufgrund seiner Herkunft die Traditionen, was den Unwillen seiner Kameraden nach sich zog. Azul schluckte, als der Blick des Blonden auf ihm ruhte und eine gewisse Heimtücke ihm genau das klarmachte. Feinde waren nicht ausschließlich im gegnerischen Heer zu finden.
Die Hitze drückte unter seinem Helm und trieb ihm den Schweiß in die Augen. Das Brennen musste er ignorieren, denn eine weitere Schwäche wollte er sich nicht erlauben. Zu groß war schon sein Rückstand gegenüber diesem blonden Prachtkerl gleich gegenüber.
In dem Moment, als er beschloss, sich doch den Schweiß aus den Augen zu reiben, betraten fremde Personen den Platz. Obwohl keiner der Knappen es sich anmerken ließ, richtete sich die Aufmerksamkeit komplett auf die Neuankömmlinge.
Die Unmenge an violett in ihren langen Roben verriet sie als Mitglieder der herrschenden Klasse. Die Farbe wirkte als lebendiger Kontrast zum staubigen Braun der Kasernenmauern. Drei hochrangige Politiker, die sich herabließen in die Untiefen der Rekruten abzusteigen. Das war mehr als ungewöhnlich.
Ihr Ausbilder näherte sich dem Trio und nach einem kurzen demütigen Willkommen, wurde er mit einer schnellen Handbewegung zum Schweigen gebracht. Ein unverständliches Gemurmel folgte und als sich acht Augen unvermittelt auf Azul richteten, schluckte der zum zweiten Mal in kurzer Zeit. Sie waren wegen ihm hier. Der Bauer sollte zeigen, ob er das Handwerk des Tötens erlernt hatte. Was immer auch von ihm erwarteten, er würde sie enttäuschen. Mächtig enttäuschen.
Der Tag entwickelte sich für Azul endgültig zum Albtraum. Dieser Nachmittag würde nicht den üblichen Verlauf nehmen. Der demütigende Horror, aus schmerzhaften Lektionen im Schwertkampf würde sich vorsetzten und um die ganze Sache zu verschärfen, gab es zusätzlich einflussreiches Publikum. Erneut schluckte Azul, als er aufgefordert wurde, auf dem Turnierplatz sein erlerntes Können zu zeigen.
Als Gegner wurde ihm ausgerechnet jener blonde Hüne vorgesetzt, der mit seiner Mischung aus unerschütterlichem Selbstvertrauen und unbedingtem Siegeswillen mutigere Gegner als ihn einschüchterte. Der Ausgang dieses Kampfes war allein durch die Körpersprache der Duellanten vorherbestimmt, aber ganz so vernichtend, wie es im ersten Augenblick aussah, wurde Azul am Ende doch nicht geschlagen. Irgendwo in seinem Inneren kratze er etwas Mut zusammen, der durch eine ordentliche Dosis Adrenalin erweckt wurde. Trotz mangelndem Talent besann er sich auf erlernte Abwehrparaden und erschwerte seinem Gegner den schnell eingeplanten Triumph. Erst der Übermut in die Offensive zu gehen, zeigte ihm die Grenzen seiner Fähigkeiten am Kurzschwert auf und nach ein paar schmerzhaften Wirkungstreffern, lag er vor seinem Kontrahenten blutend im Staub.
Scham war das vorherrschende Gefühl, als er sich mühsam wieder hochquälte. Sein Gegner war bereits in die Reihe der anderen Knappen zurückgetreten und der Stolz über die gelungene Vorstellung vor den Obrigkeiten, war diesem deutlich anzusehen. Gebeugt wollte auch Azul sich wieder einordnen, als er lautstark daran gehindert wurde.
„Bursche. Komm zu mir“, wurde er aufgefordert.
Der Mann mit der klaren militärischen Anweisung unterschied sich in der modischen Aufmachung von seinen politischen Gefährten. Der Saum seiner violetten Robe hatte eine rötliche Färbung und obwohl Azul nur wenig Wissen über die Unterschiede zwischen den einzelnen Ständen besaß, konnte er sich die Abweichung erklären. Seinen Ursprung hatte dieser Mann in der Kriegergilde, was sein durchtrainierter Körperbau zu bestätigen schien. Im Gegensatz zu den wohlgenährten Bäuchen seiner Begleiter, hatte er nach dem Wechsel in den Politikerstand die Bewegung nicht vernachlässigt.
„Weißt du, warum du bezwungen wurdest?“, wurde Azul gefragt, als er vor dem Trio mit gesenktem Haupt stand. Schüchtern schüttelte er den Kopf.
„Was dir fehlt ist nicht Mut oder Wille. Was dir fehlt ist Herz. Du kämpfst allein mit dem Verstand.“ wurde Azul belehrt, ohne zu begreifen, was wirklich das Problem war.
„Ein Künstler kann Noten oder Worte aneinanderreihen, aber ohne Herz sind es nur Hüllen ohne Wert. Ein Gedicht führt keine Jungfer in deinen Schoß, ohne einen persönlichen Abdruck deiner selbst. Kämpfen ist wie Poesie. Waffen statt Wörter. Tot statt Liebe. Lass deinen Gegner wissen, dass es dir ein persönliches Anliegen ist, ihm vom Ableben zu überzeugen.“ Für einen Moment wandte sich der Fremde von ihm ab und verschwand durch den schäbigen Ausgang der Kaserne. Vollkommen irritiert, blieb Azul mit gesenktem Blick vor den restlichen Obrigkeiten stehen.
„Ein Bauernpöbel als Poet des Tötens. Was kommt als Nächstes. Sensen statt Schwerter.“, verspottete ihn der Ältere der beiden hochnäsig. Ein pflichtbewusstes Lachen ertönte von seinem jüngeren Begleiter.
„Wunderbar. Wunderbar.“, versuchte dieser sich überschwänglich anzubiedern. Bevor weitere Häme auf Azul niedergehen konnte, erschien der Philosoph wieder im Torbogen. In seiner Hand hatte er einen langen Kampfstab, der in seiner Länge Azuls Größe um einen Kopf überragte.
„Vielleicht ist das Schwert nicht das richtige Instrument für dich. Dieser Stab ist aus Arcadenholz. Seine Härte hält jedem Schwerthieb stand.“, erklärte er, während seine Begleiter einen Schritt weg von der Waffe gingen, als würde sie jeden Moment auf sie niedergehen.
„Arcaden wachsen doch nur auf …“ Die Stimme des Alten wurde brüchig.
„Was hat dieses Ding hier in der Hauptstadt zu suchen? Was hat es überhaupt in unserem Land zu suchen? So etwas gehört nicht hier her.“ Die einsetzende Wut konnte über seine Angst nicht hinwegtäuschen.
„Konsul Harkanen. Ihre Furcht vor einem Stück exotischem Holz ist vollkommen unbegründet.“ Ein gewisser Spott war in der Stimme des Fremden zu erkennen.
„von Harkanen. Der Titel ist Konsul von Harkanen.“, warf der Jüngere ein und unterbrach die Rechtfertigungsversuche seines Vorgesetzten.
„Furcht? Was glaubt Ihr Euch heraus nehmen zu dürfen. Ich habe keine Furcht. Es ist nun mal so, dass Dinge von Askalan in unseren Breiten weder erlaubt, noch in irgendeiner Form angewendet werden dürfen. Dies ist eine offizielle Anweisung des Königs.“, empörte sich Harkanen.
Azul verkrampfte bei den Worten des Konsuls. Die Geschichten um den mysteriösen Kontinent Askalan waren so vielseitig wie absurd. Eine andere Welt, weit jenseits des westlichen Meeres, deren Existenz nicht wirklich erwiesen war. Mit Märchen über wilde Kreaturen, die in exotischen Landschaften ihr Unwesen trieben, war jedes Kind in Galatien aufgewachsen. Magier, Feen und sogar Drachen bevölkerten diese Welt und dienten als perfekte Nahrung für kindliche Fantasien.
„Eine Anweisung, die mir vollkommen Sinn frei erscheint, denn nur Narren glauben an Askalan. Gute-Nacht-Geschichten für Kinder. Ein Mythos, der über die Jahre zum Zeitvertreib gepflegt wurde. Nimm diesen Stab, Bursche. Ich bin mir sicher, dein Kampf wird sich verbessern.“, forderte der Fremde ihn auf.
Azul zögerte. Angesteckt durch die offensichtliche Angst des Konsuls, traute er sich nicht den Stab zu berühren. Erst als ihm die Naivität seiner Furcht ersichtlich wurde, griff er ohne große Scheu zu. Ein erneuter Kampf auf dem Übungsplatz war das Letzte, was er im Sinn hatte, aber die neue Waffe machte ihn neugierig. Der Moment, in dem er sie mit beiden Händen packte, versetzte ihn in ungeahnte Euphorie. Noch nie hatte er so glattes Holz gespürt. Es schimmerte schwarz in der Sonne und obwohl er im Begriff war erneut Prügel zu beziehen, wollte er diese ungewöhnliche Waffe unbedingt testen.
Dieses Mal machte ihm die selbstsichere Ausstrahlung des Blonden nichts aus. Hätten die Anwesenden nicht den ersten Kampf gesehen, wäre die Illusion perfekt, es handele sich um zwei Gegner auf Augenhöhe. Keine ängstliche Ausstrahlung seitens Azul. Er hatte das Gefühl sein Selbstvertrauen aus der Energie des Stabes zu ziehen. Dieser war kein nützliches Werkzeug mehr, das anderen Schaden zufügen sollte. Nein, hier handelte es sich eher um ein lang vermisstes Eigentum, dass nun endlich zu seinem ursprünglichen Besitzer zurückgekehrt war und ihm die notwendige Sicherheit verlieh.
Wie selbstverständlich ließ er den Stab in den Händen rotieren und während es seine Kreise zog, hatte er nie Angst, es würde ihm entgleiten. Er und die Waffe waren für einander bestimmt und als der erste Schwerthieb auf ihn niederging, war er sich nicht mehr sicher, ob der Abwehrreflex allein von seinem Geist ausging.
Führte er den Stab oder der Stab ihn? Es spielte keine Rolle, denn diese Waffe machte aus ihm endlich den Kämpfer, den er mit Schwert und Schild und aller Übung nicht hinbekommen hätte. Auch der zweite und der dritte Schlag wurde mit einer Leichtigkeit pariert, die ihn übermütig werden ließ. Von links oben sauste das Schwert seines Gegners erneut auf ihn zu und während er mit der einen Hälfte des Stabes den Angriff parierte, versuchte er mit der anderen Hälfte den Gegenschlag. Zu seiner Überraschung traf er nur den feindlichen Schild. Mit einer unglaublichen Reaktion hatte der Blonde diesen in Stellung gebracht und den Treffer verhindert.
Jetzt begriff Azul, was ein Kampf mit Herz bedeutete. Sein Manöver war zwar richtig, aber zu durchschaubar und wurde in dieser Form von jedem guten Kämpfer durchgeführt und damit auch von jedem guten Kämpfer pariert. Er brauchte eine eigene Art des Kampfes, die ihn unberechenbar machte und so täuschte er den nächsten offensichtlichen Angriff von unten nur an und während sein Gegner den Schild in die entsprechende Richtung verlagerte, schlug er mit der oberen Hälfte seines Stabes gnadenlos zu.
Er traf nicht voll, weil sein Gegner die wahre Absicht des Angriffes noch rechtzeitig erkannte. Dem blieb nur die Möglichkeit den Schaden des unausweichlichen Treffers wenigstens einzugrenzen. Die blonden Locken wirbelten nach hinten und damit entkam er dem Einschlag in der linken Gesichtshälfte. Die Reaktionszeit reichte dieses Mal nicht aus alle Körperteile aus der Schlagdistanz zu bringen. Sturzbäche aus Blut quollen aus den Nasenlöchern hervor und während Azul das Gefühl des Triumphes über seinen Peiniger voll auskostete, kam ihm seine unvorsichtige Einstellung teuer zu stehen.
In der Annahme, dass sein Gegner sich wenigstens ein paar Sekunden der zugefügten Verwundung widmen würde, vergaß er für einen Moment das Kampfgeschehen und bewunderte die Effizienz seiner neuen Waffe. Als er die Faust auf sich zufliegen sah, war es bereits zu spät für eine angemessene Gegenreaktion. Schmerzhaft ging er zu Boden und obwohl überhaupt kein Blut in seinem Gesicht floss, hatte der Einschlag an seiner Schläfe eine verheerende Wirkung, als sein Nasenstüber zuvor. Der Ohnmacht nahe lag er im Staub, aber dieses Mal wenigstens nicht blutend.
„Eine gute Lektion in Sachen Demut. Für beide Kämpfer.“, kommentierte der Unbekannte den Ausgang des Kampfes und wandte sich an Azul. Dieser war im Begriff, den Stab an seinen Besitzer zurückzugeben.
„Es wäre ein Frevel euch beide wieder zu trennen. Dieser Stab ist sehr eigenwillig in der Auswahl seiner Besitzer. Passe gut auf ihn auf. Er ist jetzt ein Teil deines Lebens.“ Mit einer gewissen Verwirrung, aber auch mit Erleichterung, versuchte Azul die Worte zu verstehen. Es grenzte an Wahnsinn, dass dieser Herr, der mit Sicherheit den Stand eines großen Ritters besaß, sich überhaupt herabließ ihn mit Aufmerksamkeit zu bedenken. Das Geschenk einer Waffe aus seltenem Holz war an Aberwitz nicht mehr zu übertreffen und so konnte Azul nicht glauben, was ihm gerade passierte.
„Dies ist kein Geschenk. Dies ist eine Berufung. Komm morgen zu mir in den königlichen Palast. Frage nach dem Herrn Zoran von Tranje. Bringe auch deinen Bezwinger mit. Mit seinem Kampfgeist wird sich auch sein Platz finden.“, erklärte von Tranje und verwunderte seine Begleiter erneut.
„Ihr wollt diesen Bauerntölpel, dessen Ausbildung noch nicht einmal beendet ist. Ihr macht Euch ja lächerlich am Hofe.“ Harkanen machte aus seiner Herablassung keinen Hehl. Die Ignoranz mit der von Tranje ihn bedachte, zeugte von keiner guten Beziehung zwischen den Beiden. Sie verließen den Übungsplatz und für Azul waren die Tage hinter den braunen Mauern der Kaserne offensichtlich vorbei. Schneller als erwartet, wurde er zum Knappen am Hofe des Königs berufen. Mit einem unguten Gefühl erreichten er und sein Kampfrivale am nächsten Morgen den Palast im Zentrum der Hauptstadt.
Dieser kleine übergewichtige Politiker hatte Recht. Azul musste sich eingestehen, dass er vollkommen untauglich war, für den königlichen Dienst in der Garde. Auch mit weiteren Wochen Ausbildung, würde er die Kriterien nicht erfüllen. Warum sollte jemand wie von Tranje gerade ihn als Knappen haben wollen?
Die Antwort war einfach und setzte ihn noch mehr unter Druck. Der Stab aus Arcadenholz war keine gewöhnliche Waffe. Das war Azul bewusst, seitdem er ihn das erste Mal berührt hatte. Etwas Magisches ging von ihm aus. Eine Verbindung, die allein auf ihn zugeschnitten war und die nicht in Worten zu erklären war. Azul spürte die Macht, die von ihm ausging, aber er war unfähig diese unheimliche Kraft anzuwenden. Es fühlte sich an, als hätte man ihm das beste Ross des Königreiches zur Verfügung gestellt, von dem er zwar nicht runterfiel, aber wirklich reiten konnte er es nicht. Niemand zeigte ihm, wie er die Zügel zu gebrauchen hatte. Was immer auch von Tranje von ihm erwartete, es würde eine zu große Verantwortung für den Bauernsohn werden. Eine Verantwortung, die ihn zu erdrücken drohte.
Obwohl Azul seit Wochen in der Hauptstadt weilte, kannte er ausschließlich die Mauern der Kasernen. Die braune Farbe war so zur Selbstverständlichkeit geworden, dass er automatisch annahm, der Rest der Stadt würde im gleichen trostlosen Ton daherkommen. Auf dem Weg in den Palast durchquerten sie die Vororte und zu seiner Überraschung legten die Baumeister dort mehr Wert auf Ästhetik, denn die aus hellem Fels gehauenen Steine der einzelnen Häuser, verbreiteten eine beruhigende Grundstimmung und das trotz des Trubels in den engen Gassen. In dem Licht der aufgehenden Sonne funkelten die einzelnen Bauwerke, wie kleine goldene Kunstwerke, die ihren individuellen Charme zu einem großen Monument vereinten.
Die Luft war geschwängert vom Geruch verschiedener Gewürze und trug ihren Teil zur überwältigenden Sinfonie der Sinne bei. Über die gepflasterten Straßen rollten Wagen, beladen mit den unterschiedlichsten Waren des Reiches, meist gezogen von alten Bewohnern, denen man die Lebensjahre der Entbehrung förmlich ansah. Das Klappern der Räder, welche gegen die grobgehauenen Pflastersteine der Straßen ankämpften, ging unter im allgemeinen Treiben der örtlichen Händler. Gemüse, Wein, aber auch Stoffe von edelster Qualität wurden lautstark in den kleinen Läden angeboten. Ein Überfluss an Lebensmitteln und Menschen, den Azul geprägt durch seine ländliche Herkunft in dieser extremen Form noch nie erlebt hatte. Die Vielzahl der Eindrücke überforderte den Geist des einfachen Bauernjungen und als er glaubte, eine Steigerung wäre nicht mehr möglich, taten sich die Umrisse der königlichen Burg vor ihm auf.
Noch nie hatte er so hohe Mauern gesehen. Ehrfurchtsvoll stand er davor und konnte nicht glauben, dass jemand zu solch großen Bauwerken fähig war. Der graue Stein der Burgmauern erhob sich wie ein Riese gegenüber den Zwergenhäusern der vorliegenden Stadt. Welch großartiges Gefühl musste es sein, von den Zinnen seinen Blick bis ins Flussland schweifen zu lassen. Dort oben wäre man den Göttern näher, als in den zahlreichen Tempeln der Umgebung. Demütig näherte sich Azul der Brücke, die den Burggraben überspannte und als Bindeglied zweier Welten diente. Er war im Begriff einen neuen Abschnitt seines Lebens zu starten.
Die Burgwache begutachtete sie argwöhnisch, als sie am eisernen Tor um Einlass baten. Erst der Name von Tranje änderte die herablassende Einstellung in Ehrfurcht. Ein Vorgeschmack des Respekts, den sein neuer Herr am Hofe offensichtlich genoss. Für Azul nur ein weiterer unwirklicher Teil des Märchens, dessen Hauptfigur er gerade wurde. Vor Tagen hatte er noch gezweifelt, ob er mit seinen beschränkten Fähigkeiten jemals in die Nähe der königlichen Burg gelangen würde und nun war er sogar vor seinen Kameraden hier. Persönlich ausgewählt, von einem der einflussreichsten Ehrenmänner am Hofe.
Unsicher stand er auf dem kleinen Vorhof zwischen Tor und Palast. Die riesigen Burgwände waren hier aus allen Richtungen so nah, dass sie ihn zu erdrücken drohten. Es drängte ihn weiter zu gehen und als er endlich die Mauern hinter sich ließ, tat sich ein fantastischer grüner Garten vor ihm auf.
Erinnerungen aus seiner Heimat überkamen ihn, als er das satte Grün des Parks erblickte. Bilder von Wiesen und Wäldern tauchten aus den Tiefen seines Gedächtnisses auf und versetzten ihn in Wehmut an eine Zeit, die so unendlich lange her schien. Ein falscher Reflex, denn was er hier sah, hatte außer der Farbe nichts gemein mit dem verklärten Rückblick einer unbeschwerten Jugend.
Die Symmetrie, in die Rasen, Büsche und auch Bäume gezwängt wurden, war ein Affront an die wilde ungezügelte Natur außerhalb dieser künstlich geschaffenen Welt. Eine Regulierung, die nicht nur auf Pflanzen beschränkt blieb. Vorschriften und Etikette erdrückten jede Natürlichkeit und pressten auch Menschen in die passende Form. Ein Schicksal, das auch Azul drohte, denn hier gab es keinen Platz für Gedanken außerhalb der gesellschaftlichen Norm. Es würde schwer werden, für den Bauern Azul in solch erlesener Umgebung.
Der eigentliche Palast schimmerte in unschuldigem Weiß und bildete das Zentrum dieses perfekt gestutzten Grüns. Ein paar braune Nebengebäude markierten farblich den Standesunterschied zwischen der eigentlichen Elite und den zum Dienen verdammten gemeinen Volk.
Ein Heer an Hausknechten, Dienstmägden und sonstigem Personal lebte hinter den perfekten Fassaden dieser Gebäude, in die Azul geführt wurde. Ein kleiner Raum, in dem nicht mehr als ein Bett und eine Waschgelegenheit passte, war sein neues Zuhause. Diese beengte Unterkunft würde seine kleine private Welt werden. Hier konnte er sich zurückziehen, sollte er sich an der Welt dort draußen verschlucken und wie er die Sache einschätzte, würde das in naher Zukunft sehr oft passieren. Vermutlich gab es niemanden, der weniger in diese Umgebung passte als er und da er diesen Umstand innerhalb der Kasernenmauern bereits durchlebt hatte, wusste er was ihm bevorstand. Seine unmittelbare Zukunft würde um einiges heftiger werden, als die vergangenen Wochen.
Ihm blieb keine Zeit sich an sein neues Zuhause zu gewöhnen, da von Tranje ihn sofort sehen wollte. Ein Dienstbote brachte ihn zu einem Hintereingang des weißen Palastes. Während er darauf wartete vorgelassen zu werden, eilten verschiedene Bedienstete an ihm vorbei. Küchenpersonal, das aufgeregte Diskussionen über das Mittagsmahl führte, ignorierte ihn genauso, wie Waschfrauen, die bergeweise Wäsche zum Trocknen außer Sichtweite der Adligen an ihm vorbeibrachten. Ein hektisches Treiben, in dem sich Azul wie ein Fels in einem reißenden Fluss fühlte. Bald würde er mitgespült werden und Teil dieses menschlichen Flusses werden.
Nachdem er endlich die Erlaubnis besaß den Palast zu betreten, führte ihn der Bote durch ein Labyrinth, das im Kellergewölbe extra für das Personal angelegt worden war. Der ganze Bau war untertunnelt, so dass die Diener ein Minimum an Sichtbarkeit aufwiesen, um in den wirklichen wichtigen Ebenen durch ihre notwendigen Wege nicht zu stören. An unzähligen Stellen führten Treppen hinauf und unter Androhung von Strafe war es den Bediensteten verboten, überirdisch die prunkvollen Gänge zu nutzen. Die höfische Gesellschaft wollte keinen Trubel, der an den städtischen Markt erinnerte. Die stattliche Anzahl der Untergebenen war daher gezwungen, möglichst unsichtbar zu bleiben und so lief die eigentliche Verwaltung unbemerkt von den Nutznießern in den verborgenen Tiefen des Palastes ab.
Nach gefühlten tausend Windungen und Kehren entschloss sich Azuls Führer die bevorstehende Treppe zum Aufstieg zu nutzen. Es war unmöglich zu schätzen, wie weit sie sich im Inneren befanden, aber nach dem Prunk der Ausstattung zu urteilen, waren sie dem König sehr nahe.
Ein schmaler Gang hatte sie in einen großen Raum geführt, dessen hohe Decke imposant wirkte. Die Verzierungen waren mit Sicherheit das Werk der besten Stuckateure des Reiches und verliehen dem Raum ein prunkvolles Antlitz. Ein roter Teppich am Boden und die Gemälde an den Wänden, deren Gold verzierte Rahmen auf erheblichen Wert schließen ließen, verstärkten die edle Ausstrahlung, die jeden Besucher in ehrfürchtige Bewunderung versetzte. Azul staunte über die Farbenpracht verschiedener Dekorationsgegenstände, wie Vasen oder Krüge. In seiner Vorstellung hatten Dinge immer einen bestimmten Zweck zu erfüllen. Einfach nur in der Ecke zu stehen und schön auszusehen, widersprach dem eigentlichen Sinn ihres Daseins. Ästhetik hatte keinen Platz in Azuls bisherigem Leben und umso schwerer tat er sich mit der ungewohnten Neuheit.
Die Doppeltür am Ende des Raumes kam in Bewegung und ließ den Boten verkrampfen. Von Tranje trat ein und mit einem kurzen Nicken veranlasste er Azuls Begleiter dazu, in den Gang zu verschwinden, den sie gekommen waren. Sie waren jetzt zu zweit und eine gewisse Furcht vor der selbstsicheren Ausstrahlung seines neuen Herrn konnte Azul nicht verbergen.
„Wie ist dein Name, Bursche?“, fragte von Tranje ihn streng.
„Azul, mein Herr.“, antwortete er demütig und mit gesenktem Blick.
„In seiner Kürze kaum zu unterbieten. Ich bin Zoran von Tranje. Erlauchter Ritter seiner Majestät. Erster der königlichen Garde. Ich könnte noch Dutzend weitere Titel aufführen, aber um einen Knappen zum Zittern zu bringen, reicht schon dieses Gewand. Kennst du die Bedeutung?“
„Nein mein Herr.“
„Diese violette Farbe verkündet, dass ich Mitglied des königlichen Dutzend bin. Die Ratgeber seiner Majestät.“ Von Tranje legte eine Pause ein und musterte Azul. Dieser wusste nicht, was er sagen sollte. Da keine Frage gestellt wurde, zog er es vor zu schweigen.
„Glaubst du an Zufälle, Bursche?“, fragte er plötzlich. Azul war überfordert. Zum Glück wartete von Tranje keine Antwort ab.
„Wenn deine Antwort ja wäre, würde das erklären, warum du hier bist. Ich muss dich aber enttäuschen. Es gibt einen Grund für deine Anwesenheit“, erklärte von Tranje bedeutungsschwanger.
„Die Waffe, die ich dir gab. Was spürst du, wenn du diesen Stab berührst?“, forderte er Azul auf sich zu erklären.
„Ich … Ich … Ich kann es nicht erklären. Vielleicht Kraft?“, stotterte er.
„Interessant. Ich habe diese Frage dem Vorbesitzer gestellt. Seine Antwort war Ausgeglichenheit“, erklärte sein Herr ruhig.
„Gerechter Weise muss ich sagen, dass die Umgebung damals passender war. Dieser Stab ist eins der mächtigsten Artefakte, die je geschaffen wurden. Er wurde geweiht vom Hohepriester Werekas in den ewigen Feuern der lodernden Schlucht. Das geschah vor über zweitausend Jahren. Diese Waffe ist aber nicht viel wert, wenn nicht zwei Voraussetzungen erfüllt sind.“ Von Tranje wirkte nüchtern in seinen Erklärungen, obwohl Azul die Spannung förmlich anzusehen war. Dass dieser Stab einen gewissen Einfluss auf ihn hatte, war unbestreitbar. Nun wollte er mehr wissen über das Geheimnis.
„Da wäre zum einen sein Träger. Seit mehr als hundert Jahren befrage ich das weise Orakel, ob ein Knabe geboren wurde, der würdig ist, diesen Stab zu führen. Vor sechzehn Jahren passierte das lang ersehnte Ereignis.“, erklärte von Tranje etwas enthusiastischer.
„Ich bin dieser … ?“, stotterte Azul fragend.
„Eine unangenehme Eigenschaft von Orakeln ist, dass sie nie in klaren Worten sprechen. Es gibt immer einen gewissen Interpretationsspielraum. Unbestreitbar ist, dass eine gewisse Anziehung zwischen dem Stab und dir besteht. Ähnlich wie bei der holden Weiblichkeit ist dabei unklar, ob die Liaison nur von vorübergehender Natur ist oder ob ihr euch ewig bindet. Gewissheit haben wir erst, wenn die zweite Notwendigkeit eintritt. Eine Zumutung, die ich dir eigentlich erst mit der Vollmündigkeit antun wollte, aber es ist etwas eingetreten, dass ein vorzeitiges Handeln erforderlich macht.“ Von Tranje lauerte auf eine Reaktion von Azul.
„Mein Herr?“, drängte Azul nach einer viel zu langen Pause mit nachvollziehbarer Ungeduld auf die Antwort.
„Magie. Was wir brauchen ist Magie. Dieser Ort, diese Stadt, eigentlich das ganze Land ist eine so bedauernswert rationale Welt, dass wir sie hier nicht finden werden. Wir müssen dahin, wo Magie so selbstverständlich ist, wie die Luft zum Atmen.“
„Askalan.“, hauchte Azul ehrfurchtsvoll.
„Die Welt, die es eigentlich nicht geben soll. Ich war da. Vor über hundert Jahren. Ich versichere dir, sie ist lebendiger, als in all unseren Vorstellungen.“
Es war Abend und die untergehende Sonne tauchte die Stadt vor den Toren in dieses spezielle Gelb, welches das unwiderrufliche Ende des Tages einleitete. Der Trubel in den Straßen ebbte langsam ab und die Glocken des Tempels der Nacht ermahnten die Jünger des Gottes der Dunkelheit sich zum Begrüßungsgebet einzufinden. Quietschend wurde die Zugbrücke hochgezogen und der Lärm der tausend Stimmen reduzierte sich auf ein Minimum an einzelnen Lauten, um mit einsetzen der Finsternis in Stille abzugleiten.
Die ersten Lichter waren in den Fenstern der Häuser zu sehen und die Schornsteine stießen dunkle Rauchwolken in die Luft. Der Abend endete wie tausende Abende zuvor und Jessica stand wie fast immer um die Zeit auf den Burgmauern und beobachtete das täglich wiederkehrende Ritual.
Es gab ihr ein gutes Gefühl, all die Menschen dort unten nach einem harten Tag voller Arbeit friedlich zur Ruhe kommen zu sehen. Als älteste Tochter des Königs hatte ein zufriedenes Volk für sie oberste Priorität. Die Haltbarkeit von Königreichen, die ihr eigenes Volk hungern und ausbluten ließ, war begrenzt und es mangelte nicht an gescheiterten Beispielen in der Historie von Osos. Die Hetieten hatten im düsteren Zeitalter fast den ganzen Kontinent erobert, aber ihre Herrschaft mit den Mitteln der Angst und des Terrors machten sie am Ende zur Randnotiz der Geschichte. Die unterjochte Bevölkerung erhob sich, und tilgte die Besatzer vom Angesicht der Welt. Der Anfang des goldenen Zeitalters und die daraus entstehende Neuordnung brachte eine andere Gesellschaftsform hervor. Galatien war eins der neu gegründeten Reiche und Jessica würde eines Tages als Herrscherin den königlichen Eid schwören. Eine Zukunft, die zu ihrem Bedauern viel zu schnell von der Gegenwart eingeholt wurde.
Die strengen Regeln des Hofes erlaubten normalerweise keinem weiblichen Nachfahren die Thronfolge, aber trotz aller Versuche blieb dem König ein Sohn verwehrt. Nach fünf Töchtern wurde das Gesetz dahingehend abgeändert und damit kam Jessica die Aufgabe zu, die Erbfolge anzutreten. Sie würde die erste Königin in der Historie von Galatien werden und allein ihr Geschlecht würde sich als permanenter Nachteil in Regierungsangelegenheiten herausstellen. Das Schicksal hatte ihr diese Bürde zugelost und mit einer gewissen Wehmut schaute sie auf die einfachen Leben herab, die außerhalb dieser Burgmauern gelebt wurden und für die sie irgendwann verantwortlich sein würde.
Noch lag der Tag in ungewisser Zukunft, aber ein heimtückischer Anschlag hatte den König vergiftet und damit seine Lebensspanne erheblich verkürzt. Der königliche Heiler war ein Meister seines Faches, aber was immer auch dem Herrscher zu schaffen machte, es war nicht heilbar. Kein Kraut auf Osos war dem Gift gewachsen und obwohl Jessica ein rational und praktisch denkendes Mädchen war, konnte sie die Theorie von Zoran von Tranje nicht vollkommen abtun. Es musste Magie vorliegen, aber wer hätte die Macht so ein kräftiges Gift zu brauen.
Es widerstrebte ihr, einfach dazusitzen und den Tod ihres Vaters als unvermeidliches Übel der Geschichte hinzunehmen. In ihrem jungen Leben gab es schon zu viele dieser vermeintlich aussichtslosen Situationen und sie kannte die Dämonen, die einen befielen und sie praktisch handlungsunfähig machten. Die Verzweiflung lähmte das klare Denken und verschleierte Möglichkeiten die drohende Katastrophe doch noch abzuwenden. Auch wenn es schwierig war. Ein disziplinierter Verstand war von unschätzbarem Wert und so verdrängte sie die scheinbar vorgeschriebene Zukunft des Reiches und ergründete Alternativen, die außerhalb jeglicher Vernunft schienen. Sollte wirklich Magie der Auslöser für die rätselhafte Erkrankung des Königs sein, konnte das Schicksal nicht mit herkömmlichen Mitteln beeinflusst werden.
Ihre Erziehung schloss die Existenz von Zauberkünsten oder magischen Wesen von vorne herein aus. Die besten Lehrer des Hofes hatten sie Gesetzmäßigkeiten gelehrt, die unumstößlich schienen. Ein geworfener Stein von dieser Burgmauer würde immer nach unten fallen. Sie konnte Flugbahn und Weite beeinflussen, aber der Aufschlag war unmöglich zu verhindern.
Dass es etwas geben sollte, das unwiderrufliche Naturgesetze außer Kraft setzen konnte, wollte ihr von Vernunft geprägter Verstand nicht akzeptieren. Hätte ihr jemand anderes als von Tranje erklärt, dass die Märchen und Sagen um Askalan einen gewissen Wahrheitsgehalt besitzen, sie hätte keinen Gedanken an diesen Humbug vergeudet. Er war der Einzige im königlichen Dutzend, dem sie uneingeschränkt vertraute. Sein Streben galt nicht der Erweiterung von Macht oder dem Vermehren von Reichtum. Von Tranje hatte ausschließlich die Stabilität des Reiches im Blick. Seine Ratschläge waren geschätzt, selbst bei den politischen Gegnern und Jessica konnte sich nicht erinnern, dass er jemals falsch gelegen hatte. Seine Weisheit beinhaltete die Erfahrung mehrerer Menschenleben und jegliche Nachfragen zu seinem Alter wiesen darauf hin, dass er tatsächlich längst vergangene Zeiten miterlebt hatte. Dieser Mann besaß eine beeindruckende Aura und selbst als Königstochter fühlte sie sich des Öfteren eingeschüchtert in seiner Gegenwart.
Jessica fröstelte. Die Sonne war vollkommen verschwunden und die Dunkelheit wurde nur durch gelegentliche Lichter in den Fenstern durchbrochen. Sie eilte durch den Park, vorbei an den Fackeln, die die akribisch angelegten Wege beleuchteten. Es war Zeit für das königliche Abendmahl im Speisesaal des königlichen Palastes. Obwohl ihr Vater alles dafür tat die königliche Routine weiterhin ohne große Anzeichen seiner Schwäche jeden Tag aufs Neue abzuarbeiten, zeigte sich sein körperlicher Verfall am deutlichsten beim gemeinsamen Essen. Die lieb gewonnene Familientradition sorgloser Plaudereien, wich in letzter Zeit mehr und mehr der Sorge über die ungewisse Zukunft des Reiches. Unangenehmes Schweigen machte sich breit, als Jessica an der lang gezogenen Tafel Platz nahm. Neben ihren vier Schwestern und dem König selbst, der am Kopf des reichlich mit Essen bedeckten Tisches saß, besaßen zwei Tanten und fünf Cousins das Privileg am königlichen Abendmahl teilnehmen zu dürfen.
„Wir gedenken der Götter, die uns reichlich mit Nahrung gesegnet haben.“, begann der König das Tischgebet. Er hatte sichtlich Mühe seine Anstrengung zu verbergen.
„Wir gedenken der Bedürftigen und empfangen die Speisen mit Demut.“ Eine unnatürliche Ruhe herrschte in dem riesigen Speisesaal.
„Wir gedenken der Toten, mit denen wir dieses reichhaltige Mahl nicht mehr teilen können.“ Eine abendlich wiederkehrende Erinnerung an Jessicas Mutter, die bei der Geburt ihrer jüngsten Tochter verstarb. Einige Momente absolute Stille, dann setzte sich die ansehnliche Anzahl an Bediensteten in Bewegung, um die königliche Gesellschaft mit Wein, Bier und Wasser zu versorgen.
„Greif zu mein Kind. Du wirst jede Stärkung für die bevorstehende Prüfung benötigen.“, forderte der König Jessica auf. Ihr Appetit war nie besonders groß, aber in letzter Zeit reduzierte sie das Essen auf das Notwendigste.
„Ein guter Zeitpunkt, um das Ziel eurer Reise zu verraten. Immerhin ist das unser vorerst letztes gemeinsames Mahl.“ Ihr Cousin Padraig hatte eine vorlaute Art, die selten in die Etikette des Hofes passte. Zu seinem Glück war das Abendmahl von gewissen Zwängen befreit.
„Wir segeln zu den westlichen Inseln, um die Handelbeziehungen mit den Meeresstädten zu erneuern.“, log Jessica vereinbarungsgemäß.
„Eine weite Reise für ein wenig Tran. Glaubt Ihr nicht, dass in der derzeitigen Situation eure Anwesenheit bei Hofe angebrachter wäre.“, überschritt Padraig jetzt doch die Grenze.
„Hütet eure Zunge, werter Neffe.“ fiel der König in die Unterhaltung ein.
„Natürlich, eure Majestät. Mein Benehmen war etwas unbeholfen.“, entschuldigte sich Padraig demütig.
„Unbeholfen.“, wiederholte Crahild grienend. Die drittälteste Tochter wurde aus Jessicas Sicht weder mit umwerfender Schönheit noch mit ausreichendem Verstand gesegnet. Ihre Interessen beschränkten sich im Allgemeinen auf die höfische Mode und das andere Geschlecht. Letzteres engte die Auswahl auf eine Hand voll Kandidaten ein, da ein gewisser Stand als Voraussetzung notwendig war.
Padraig war mit seiner verzogenen Art einer der wenigen geeigneten Anwärter auf einen standesgemäßen Ehemann. Sein schneidiges Erscheinungsbild und das leicht rebellische Auftreten machten ihn zum Traum eines einfältigen Mädchens. Ein zartes Band entwickelte sich zwischen den beiden, was am Hofe mit Wohlwollen betrachtet wurde. Seit Jahrhunderten erfolgte diese Art der Eheschließung, die im Stammbaum so manch seltsame Verzweigungen hervorgerufen hatte.
Eine Verplichtung, die Jessica eines Tages in ähnlicher Form durchlaufen würde. Doch vorerst stand ihre Reise im Mittelpunkt und die würde langwierig und mühsam werden. Das eigentliche Ziel lag hinter den westlichen Inseln und obwohl bei ihr erhebliche Zweifel bestanden, überhaupt auf irgendwas jenseits des Ozeans zu treffen, war sie froh etwas gegen den schleichenden Tod ihres Vaters unternehmen zu können.
Zeit war der offensichtlichste Gegner, denn niemand konnte voraussagen, wann die Vergiftung ihr tödliches Ende vollstrecken würde. Wer immer auch hinter dem Anschlag steckte, hatte eine perfide Art der Hinrichtung gewählt. Gift war kein Garant für eine ruhmvolle Erwähnung in der Historie von Galatien. Ein großer König starb entweder als greiser Herrscher einer friedlichen Epoche voller Wohlstand oder sollte ihm das nicht vergönnt sein durch einen tödlichen Streich eines Schwertes bei der Verteidigung des Reiches. In Zeiten des Friedens ein eher unwahrscheinliches Ende.
Jessica hatte weiterhin keinen Appetit und so genoss sie einfach ein letztes Mal die Gesellschaft ihrer Familie. Nicht jeden hatte sie ins Herz geschlossen. Die Vielfalt an Charakteren ihrer Schwestern hatte die unterschiedlichsten Beziehungen hervorgebracht.
Lana, die in der Thronfolge direkt hinter ihr stand, war die Schüchterne, aber durchaus intelligente Zweitgeborene. Ihr Verstand war vergleichbar mit dem von Jessica, aber ihr mangelndes Durchsetzungsvermögen machte sie ungeeignet für die königliche Befehlsgewalt. Als einzige Tochter mit dunklen Haaren, hatte sie nie das Selbstbewusstsein entwickelt, dass Jessica als notwendige Ergänzung zu ihrem Intellekt sah. Es war keine Liebe zwischen den beiden, aber sie mochte Lana auf eine zurückhaltende Weise. Eine Zuneigung, welche in der Form erwidert wurde, aber die vorherrschende gefühlskalte Haltung am Hofe erlaubte keine Vertiefung solch familiärer Bindungen.
Crahild, in der Reihe der Thronfolgerinnen hinter Lana, war allein durch ihr allgemeines Desinteresse an der hiesigen Politik so gut wie nicht existent für Jessica. Eines der tausend Gesichter, die täglich den Palast durchstreiften, um ihren privilegierten Stand zur Schau zu tragen. Ein Leben für den Status und ohne eigentlichen Sinn. Crahild war einzig und allein darauf bedacht, den geltenden Ansprüchen zu genügen.
Ein Ziel, was für die Viertgeborene eindeutig zu wenig war. Mit ihren fünfzehn Jahren hatte sich Vara leidenschaftlich der Kunst verschrieben. Es war ihr Wegweiser durch die Wirrungen der höflichen Etikette. Zum Leidwesen des Königs nutzte sie Malerei, Bildhauerei, aber auch Musik, um gegen die verkrusteten Strukturen aufzubegehren. In Varas Augen kannte Kunst keine Grenzen und damit war es der Ablass für Regelbrüche aller Art. Jessica bewunderte die Inbrunst, mit der Vara ihrem eigenen Weg folgte und wie ein Orkan über die steife Elite fegte. Ihre Jugend schützte sie bisher vor der strafenden Mehrheit und Jessica hoffte, dass mit zunehmendem Alter keine Anpassung an die trostlosen Bedingungen stattfinden würde. Vara war eine der wenigen Farbkleckse in einem Meer von grau.
Als kleines Kind hasste Jessica Adria. In ihren Augen war sie schuld am Tod ihrer Mutter. Eine Vorbelastung, die Jessica erst mit den Jahren abgelegt hatte. Ihr Verstand zwang sie zu der Richtigstellung ihrer Schuld, aber tief in ihrem Inneren brauchte die heranwachsende Jessica jemanden, auf dem sie all das Leid und die Trauer abladen konnte. Es war einfach dem Schmerz ein Ziel zu geben, aber mit dem Anwachsen ihrer geistigen Reife wurde ihr der Irrweg bewusst und ihre moralische Stimme hielt ihr diesen Fehler irgendwann vor. Noch heute plagt sie das schlechte Gewissen, ihrer Schwester ein Leben lang Unrecht getan zu haben. Ein Dilemma, was nur einen Ausweg kannte, aber trotz all der Stärke, die sie sich selber zugestand, schaffte sie es nicht diesen Konflikt aufzulösen. Wenn sie morgen ins Unbekannte aufbrach, hatte sie diesen unnötigen Ballast mit im Gepäck.
Nach dem Essen gab es das letzte Treffen vor dem geplanten Aufbruch am nächsten Morgen. In dem riesigen Thronsaal, in dem normalerweise das königliche Dutzend oder der Stab der Leibgarde ihre Beratungen abhielten, wirkten der König, Jessica und von Tranje verloren in den Unmengen an Platz. Einzig ein riesiger Tisch stand in der Mitte, auf dem das Reich, mit all seinen Bergen, Seen und Ländereien in Form eines Reliefs dargestellt wurde.
„Die Reise nach Dreiwasser wird drei Tage dauern. Für die Überfahrt zur Rotinsel benötigen wir weitere drei Tage. Es ist unsere letzte Gelegenheit Proviant an Bord zu nehmen. Danach gibt es nur noch das offene Meer.“, erklärte von Tranje kurz ihren Plan und verdeutlichte ihre Reise anhand der Karte. Dreiwasser war ihr erstes Ziel. Eine Hafenstadt, an der sich gleich zwei Flüsse ins Meer ergossen und dem Ort damit ihren Namen verliehen.
„Wie lange bis nach Askalan?“ fragte der König.
„Ich weiß es nicht. Drei Tage, drei Wochen, drei Monate. Die Überfahrt ist tückisch und nicht jeder ist willkommen.“, erklärte von Tranje geheimnisvoll.
„Ihr sprecht in Rätseln.“ Jessica war verwirrt.
„Askalan ist keine Welt, wie wir sie kennen. Geheimnisse umgeben den Kontinent und sonderbare Dinge passieren dort. Kompasse funktionieren nicht oder Winde bringen Schiffe in Richtungen, weit weg von jeglicher Küste. Ein Schutz vor Schatzsuchern, Piraten, aber auch Endeckern. Ungebetene Besucher, die keiner gerne bei sich hat. Die Legende von Askalan ist nicht umsonst so Sagen umworben.“
„Was gibt uns die Garantie, dass eine königliche Gesandte empfangen wird. Wer immer auch die Winde leitet, scheint doch recht wählerisch in seiner Auswahl. Außer euch kenne ich niemand, der diesen Ort jemals betreten hat.“ Der König klang zweifelnd.
„Eure Majestät dürfen Askalan nicht als Herrscher oder Person verstehen, dem mit Geschenken Wohlwollen erkauft werden kann. Askalan ist Energie. Magische Energie. Sie steckt in ihren Bewohnern, in den Tieren, sogar in jedem einzelnen Grashalm. Das alles ist mit einander verbunden, wie euer Arm mit eurem Gehirn. Ich bin im Besitz eines Teils dieser magischen Energie und daher wird unser Weg von guten Winden begleitet werden“, erklärte van Tranje.
„Ich vertraue euch. Noch nie habt Ihr mich enttäuscht.“ Der König wurde für einen Moment schweigsam.
„Gibt es neue Kunde über das Leid meines Vaters?“, unterbrach Jessica die unerträgliche Stille.
„Wie ihr wisst, sind die Vorkoster von keinerlei Krankheit befallen. Der unheilvolle Trank wurde speziell für den König gebraut. Ein Gift, das nicht auf Osos entwickelt wurde. Nur die Hexen in den Dämmerwäldern sind zu so etwas fähig“, erklärte von Tranje.
„Hexen? Welchen Grund mögen diese alten Weiber haben, den Herrscher eines weit entfernten Reiches auf diese heimtückische Art und Weise zu ermorden?“ Der König schüttelte den Kopf.
„Es gibt noch eine weitere Frage, die einer Antwort bedarf. Verzeiht meine Ehrlichkeit, aber wenn ich jemanden nach dem Leben trachte, tue ich das schnell und lasse ihm keine Möglichkeit etwaige Gegenmaßnahmen zu ergreifen, wie wir das planen zu tun. Der schleichende Tod hat einen Grund, der mir bisher nicht ersichtlich ist.“ Von Tranje wirkte ratlos und dass er seine ruhige und selbstsichere Art für einen Moment hintenanstellte und den Zweifel vorzog, verunsicherte Jessica. Welche Intrige hier gesponnen wurde, sie war größer, als die üblichen höfischen Ränkespiele.
„Ein weiterer Grund Askalan einen Besuch abzustatten. Solltet ihr auf eine der Hexen treffen, wäret Ihr so freundlich sie nach dem Grund ihres Grolles zu fragen.“ Der König hustete kurz.
„Sollten wir tatsächlich auf eine der Hexen treffen, wäre es ratsamer das Weite zu suchen. Wir sollten uns auf das eigentliche Heilmittel konzentrieren. Die Quelle der Jugend.“
„Erklärt es mir noch mal. Sein Wasser macht mich immun gegen jede mögliche Krankheit und verhindert sogar das Altern. Was für eine Legende.“ Der König schüttelte zum wiederholten Male ungläubig den Kopf. Sein Überleben war an den Wahrheitsgehalt aus Märchen seiner Kindheit geknüpft.
„Ihr müsst mir Vertrauen. Diese Quelle ist der mächtigste Ort, den ich kenne und glaubt mir ich habe viel gesehen. Es ist wahr, was man spricht. Euch erwartet ewiges Leben, solltet Ihr das Wasser trinken. Doch ist es nicht ganz so einfach, wie Ihr glaubt. Der Preis ist hoch.“
„Schön. Ich kann Euch nicht begleiten. Also wie wollt Ihr das Wasser hier herbekommen? Wie Ihr bereits erwähnt hattet: Magie funktioniert auf Osos nicht, selbst wenn sie so mächtig ist, wie Ihr behauptet.“
„Das ist in der Tat ein Problem. Ich bin mir sicher, wir werden auch dafür eine Lösung finden“, kommentierte von Tranje den berechtigten Einwand.
„Habt Ihr von diesem Wasser getrunken?“, fragte Jessica neugierig.
„Ja das habe ich und ich bereue es bis zum heutigen Tage.“ Sie hatte ihn noch nie so verletzlich gesehen. Was immer auch sein Opfer war. Er hatte die Unsterblichkeit mit einem teuren Preis bezahlt.
Jessica schlief schlecht die Nacht. Eigentlich hatte sie vor die bequemen Federn ein letztes Mal ausgiebig zu genießen, aber die Unruhe über die geplante Reise raubte ihr den Schlaf. Ihr fiel es schwer an die magischen Dinge zu glauben, die sie bisher nur aus Erzählungen kannte. Was war Legende und was war Wirklichkeit auf Askalan? Offensichtlich waren Hexen real und das Bild von hässlichen alten Vetteln, die in furchtbar schrecklicher Mode auf ihren Besen ritten, hatte sich in ihrem Inneren festgesetzt.
Sie musste sich eingestehen, dass sie in ein unbekanntes Abenteuer aufbrach, wo herkömmliche Regeln keine Gültigkeit besaßen. Würde ihr mühsam erlerntes Kriegshandwerk dort drüben überhaupt was nützen? Als klar war, dass es keinen männlichen Thronerben geben würde, beschloss der König, dass Jessica wenigstens die Grundlagen einer militärischen Ausbildung erfuhr. Ein Minimum an Schwertkunst, das ihr selbst auf Osos nur wenig half. Sie hatte Angst nicht wieder zurückzukehren.
Zu ihrem Leidwesen musste sie am nächsten Morgen Stärke zeigen. Ein Vorhaben, was ihr nur unzureichend gelang. Sie hasste das Gold ihrer Rüstung. Es erhob sie über die anderen Ritter und Knappen, die ihr in der Kriegskunst weit überlegen waren. Das Wappen des Königshauses wurde von den besten Goldschmieden des Landes kunstvoll eingemeißelt und als sie auf den Stufen der Palasttreppe stand, überblendete das Funkeln ihres Harnisches ihre offensichtliche Unsicherheit. Noch nie hatte sie eine militärische Unternehmung angeführt und als sie die Menge der versammelten Ritter auf dem Platz vor dem Palast erblickte, schluckte sie kurz anhand der großen Anzahl.
„Meine Prinzessin. Ich bin eurer Ratgeber und ich hoffe, dass Ihr auf meine bescheidene Weisheit oft zurückgreift, aber die endgültige Entscheidung liegt immer bei Euch als Herrführerin. Jede eurer Befehle darf keinerlei Zweifel aufkommen lassen, egal ob sie falsch oder richtig erscheinen mögen.“ Von Tranje stand an ihrer Seite und versuchte ihr ein wenig Unsicherheit zu nehmen.
„Wichtig ist nur die Entschlossenheit. Die Ritter folgen Euch überall hin, weil ihr von königlicher Abstammung seid. Wollte ihr aber, dass auch ihre Herzen Euch folgen, müsst ihr Stärke zeigen, auch wenn ihr glaubt keine zu besitzen.“
Jessica erwiderte nichts, denn sie wusste sie in diesem Moment zu tun hatte. Sie atmete tief durch und ging mit festem Schritt die Treppe hinab. Die in militärischer Formation angetretenen Ritter wagten keine Bewegung. Nur das Banner flatterte geräuschvoll im trockenen Wind. Ihre Knappen warteten mit den Waffen und den Pferden in gebührlichem Abstand weit dahinter.
„Ritter von Galatien. Euer Schwur gilt dem König und dem Reich. Ihr habt euch verpflichtet, jeglichen Schaden abzuwenden und zum Wohle des Königs zu handeln. Ich bin nicht der König, aber trotzdem hat dieser Schwur mehr Bedeutung denn je. Unser Herrscher braucht uns und wir alle sind ihm mehr verpflichtet als je zuvor.“ Jessica machte eine Pause. Offiziell waren sie auf Handelsmission zu den westlichen Inseln, aber ihr Auftrag war weit schwieriger und sie wollte ihre Begleiter nicht im Dunklen über die wahren Gründe lassen. Von Tranje war jetzt wieder an ihrer Seite und ihre Blicke trafen sich.
„Meine Entscheidung.“ raunte sie ihm zu.
„Unsere Aufgabe ist nicht die Erschließung neuer Handelsrouten. Es geht um nichts Geringeres, als das Leben des Königs. Ich brauche eure Unterstützung, eure Loyalität und eurer Vertrauen. Letzteres will ich nicht mit einer Lüge enttäuschen. Ein schwieriger Weg liegt vor uns und wir werden uns Gefahren aussetzen, die jenseits unserer Vorstellungskraft sind. Ob Knappe, Ritter oder Königstochter. Wir sind eine Gemeinschaft, die sich einzig und allein einem Ziel unterordnet. Das Überleben des Königs und des Reiches.“ Sie zog ihr Schwert und hielt es in die Luft.
„Mein Schwert für den König. Mein Leben für den König“, rief sie selbstsicher. Van Tranje an ihrer Seite wiederholte die Prozedur mit doppelter Energie. Jetzt erschallte der Vorplatz vom Zücken dutzender Schwerter, dem kurze Zeit später die bekannten Worte folgten. Jessica sog die Energie förmlich in sich auf, aber noch war sie nicht zufrieden. Sie passierte die Reihen der Ritter und steuerte auf die abseits stehenden Knappen zu.
„Auch euch brauche ich. Eure Schwerter, eure Talente, euren Mut. Das Alles wird nicht funktionieren, ohne eure Hilfe. Ich sehe dieselbe Angst, die auch mich zögern lässt. Stellen wir uns den Widrigkeiten, die das Schicksal für uns bereithält. Gefahr liegt vor uns, aber auch Ruhm und Ehre. Ihr brecht auf als Knaben und ihr kommt wieder als Männer.“
Jessica war sich bewusst, dass sie mehr Worte an das gemeine Fußvolk richtete, als je einer ihrer Vorfahren zuvor. Ein gewollter Tabubruch, denn diese Reise unternahm sie nicht als privilegierte Königstochter, sondern als Anführerin einer Unternehmung, deren Ausgang über die Zukunft jedes Einzelnen im Reich entscheiden würde. Ob Knappe oder Ritter. Sie brauchte bedingungslose Treue. Eine elitäre Haltung schien ihr taktisch falsch zu sein. Jeder, der für das Wohl des Reiches bereit war sein Leben zu geben, hatte den Respekt der königlichen Familie verdient. Sie schritt an den Knappen vorbei und bestieg ihr Pferd. Das war das Zeichen für den Aufbruch nach Dreiwasser und kurze Zeit später setzte sich der Trupp in Bewegung.
Westlich der Hauptstadt Saetung befanden sich die großen Äcker, deren Getreide und Gemüse das gesamte Reich mit Lebensmitteln versorgten. Der größte Anteil der angebauten Früchte landete auf den Märkten, der den Palast umschließenden Stadt und damit zwangsläufig auch auf den königlichen Tafeln. Jessica hatte nie großartig Gedanken an die immer reichhaltig gefüllten Teller verschwendet, aber jetzt, wo sie die Bauern in der brennenden Sonne bei der mühsamen Arbeit beobachten konnte, würde sie jede Mahlzeit bei Hofe mit anderen Augen sehen. Nicht zum ersten Mal nutzte sie diesen Weg nach Dreiwasser, aber auf früheren Reisen in einer abgeschirmten Kutsche, wurde ihr durch aufwendige Organisation der Anblick der Bauern erspart. Eine lange Zeit hatte man sie wie einen Vogel im Käfig vor der Außenwelt bewahrt und ihr damit die Möglichkeit genommen unvoreingenommene Erfahrungen zu sammeln.
Die Landschaft änderte sich je weiter sie nach Westen kamen. Die Steinebene lag vor ihnen und löste die satten Felder und Wälder nach und nach ab. Sie folgten dem Verlauf des Grünflusses, der hier in der Steppe seinem Namen nicht mehr gerecht wurde. Pflanzen und Schilf verschwanden zunehmend, dafür zierten jetzt Felsen den Boden des Flussbettes und färbten das Wasser in ein nichtssagendes grau. Eine triste Einöde voller Geröll, die gerade im Sommer durch die hohen Temperaturen schnell zur Todesfalle werden konnte.
Durch das Fehlen von Erhebungen gaukelte die Ebene ihnen die Unendlichkeit dieser Steinwüste vor, aber Jessica wusste, dass es einen kleinen See in der Mitte dieser nutzlosen Landschaft gab. Genau dort planten sie das Nachtlager zu errichten und die Wasservorräte aufzufüllen. Kurz vor Sonnenuntergang erreichten sie ihr Ziel und errichteten die einfachen Zelte für die Übernachtung.
Jessica konnte keinen Schlaf finden, obwohl sie total erschöpft war. Bereits am ersten Tag gab es Probleme, die sie zwar nicht großartig aufhielten, die aber in einer Umgebung wie Askalan zu ernsthaften Schwierigkeiten führen könnten. Eines der Lasttiere lahmte und würde vermutlich am kommenden Morgen den Gnadenschuss erhalten. Das zwang sie Ausrüstung zurückzulassen, die sie in Dreiwasser ersetzen mussten. Weiterhin hatten zwei der Knappen auf Grund der Hitze mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen und einer der Ritter verletzte sich beim Abstieg vom Pferd.
Alles Herausforderungen, die in der gewohnten Umgebung von Galatien mit geeigneten Mitteln problemlos gemeistert werden konnten. In Askalan allerdings gab es keine neue Ausrüstung oder Medizin und soweit bekannt existierte nichts, was die Bezeichnung Zivilisation rechtfertigte. Wohnten überhaupt Menschen auf Askalan? Jessica wusste nichts über die unbekannte Welt. Wie sollte sie sich dort zurechtfinden, wenn nicht mal klar war, was sie erwartete?
Sie verdrängte die zweifelnden Gedanken und konzentrierte sich auf den neuen Tag. Die Steinebene zog sich bis zur Küste und fiel dann steil ins Meer. Der Nebelberg war die einzige Abwechslung zur typischen flachen Landschaft. Ein Wolken verhangener Vulkan, der seit Jahren erloschen war und als natürliche Barriere den Zugang nach Dreiwasser verhinderte. Der Grünfluss hatte sich über die Jahrtausende einen Weg durch den Felsen gefressen und teilte den einsamen Berg in zwei Teile.
Fährmänner hatten ein einträgliches Einkommen die Reisenden auf kleinen Booten direkt in die Stadt zu bringen, aber für große Transporte war der Fluss zu gefährlich. Jessica und ihre doch erhebliche Anzahl an Reisebegleitern blieb nur die Umgehung. Ihr Plan war es am Abend die Küste zu erreichen und am folgenden Morgen über einen schmalen Bergpfad den Nebelberg zu passieren. Sie freute sich auf die Stadt, denn ihre wenigen Aufenthalte in der Vergangenheit waren in der Regel voller Freude gewesen. Meist dienten ihre Besuche zu Lehrzwecken, um die vielfältigen Geheimnisse des Meeres zu ergründen. Nur ein einziges Mal, als sie dem Orakel des Meeresgottes vorgeführt wurde, kehrte sie voller Furcht nach Saetung zurück.
Am nächsten Tag erreichten sie planmäßig die Küste und da Mensch und Tier diesen Tag weites gehend unbeschadet überstanden hatten, war Jessicas Schlaf weitaus angenehmer als die Nacht zuvor. Voller Tatendrang machten sie sich am nächsten Morgen auf die letzte Etappe nach Dreiwasser und wie gewohnt, ritt sie an der Spitze des Trupps. Von Tranje an ihrer Seite, dahinter die Anführer der einzelnen Einheiten, die von den Bannerträgern flankiert wurden. Weitere Ritter folgten, ehe die Knappen und der Tross mit den Versorgungsgütern das Ende des Zuges markierten.
Bei vergangenen Reisen hatte sie immer die Fähre auf dem Grünfluss genutzt, um nach Dreiwasser zu gelangen. Heute würde sie das erste Mal über den Landweg die Stadt erreichen. Links von ihr lag das in seiner Ausdehnung unendlich erscheinende westliche Meer und vor ihr erhob sich der Wolken verhangene Gipfel des Nebelberges. Zwei Naturschauspiele, die unterschiedlicher nicht hätten seien können.
Ihr Weg führte sie stetig bergauf und die Küste entzog sich langsam ihrem Blickfeld. Der Berg vor ihnen gewann an Größe und die eingeschlagene Richtung führte sie nach Norden. Gegen Mittag erreichten sie die schmale Schlucht, an der sich rechts und links die steilen Wände des Berges erhoben und jeden zu erdrücken drohten, der es wagte den Pfad zu betreten. Jessica hielt inne und begutachtete die enge Passage. Diese war gerade mal breit genug, dass die Karren des Versorgungstrosses hindurch passten.
„Ich werde voranreiten“, beschloss von Tranje. Er wollte gerade sein Pferd in die passende Richtung führen, als ihm etwas in seinem Rücken davon abhielt.
„Was ist los Bursche?“, fragte er seinen Knappen, der mit großer Eile an die Spitze des Trupps gerannt kam. Ein Junge, der in seinem Auftreten jegliche Anmut vermissen ließ. Für Jessica vermittelte er den Eindruck, dass er in einem Stall besser aufgehoben wäre, als auf dieser Reise.
„Der Stab. Er …“ Der Junge brach ab, weil er sich bewusstwurde, dass er die königliche Etikette verletzte.
„Eure Majestät.“ Eine lächerliche Verbeugung folgte der demütigen Ehrenbezeugung. Er zögerte, weil ihm offenbar nicht bewusst war, was als nächstes von ihm erwartet wurde. Als er zu einer weiteren Verbeugung ansetzen wollte, wurde er unterbrochen.
„Bursche. Wenn du nicht sofort zur Sache kommst, wirst du auf der ganzen Reise Latrinendienst haben.“ Von Tranje war ungeduldig.
„Verzeiht mein Herr. Der Stab. Er .. Er zittert“, stotterte der Junge scheinbar geistlos vor sich hin. Die Anwesenheit der Prinzessin verunsicherte ihn gewaltig. Von Tranje drehte sein Pferd nun doch Richtung Schlucht und ließ seinen Blick schweifen, so als ob er dem vor ihm liegenden Areal nicht traute.
„Jetzt spür ich es auch. Irgendwas stimmt nicht“, wandte er sich an Jessica.
„Was meint Ihr?“, fragte die Prinzessin.
„Ich weiß es nicht, aber wir sollten hier nicht durch.“ Sein Pferd teilte das Misstrauen seines Herrn und wurde sichtlich unruhiger.
„Wir haben keine Wahl.“
„Da haben eure Hoheit Recht. Wir werden aber nicht naiv durch diese enge Schlucht reiten. Was uns dort drinnen auch erwartet, wir sollten vorbereitet sein. Weißt die Ritter zur Vorsicht an. Mein Knappe und ich werden uns das Ganze aus der Nähe anschauen. Komm schon.“ Von Tranje hielt diesem bedauernswerten Knaben den Arm hin und nachdem dieser ihn ergriffen hatte, hievte er ihn mit einem gekonnten Schwung in den Sattel hinter ihm. Gemeinsam trabten sie voraus in die schmale Passage.
Jessica gab kurze knappe Anweisungen. Die Bogenschützen suchten sich erhöhte Stellungen und die Ritter formierten sich vor dem Zugang in erlernter militärischer Aufstellung. Eine Ewigkeit standen sie vor dem Zugang und warteten auf Geräusche aus den Windungen des Durchganges. Sie schaffte es nicht einfach ruhig dazustehen und so lenkte sie ihr Pferd ungeduldig auf und ab. Sie war die Einzige, die noch beritten war und als endlich Lärm aus der Öffnung ertönte, stieg sie ab, gab ihrem Pferd einen leichten Schlag auf das Hinterteil und zog ihr Schwert.
Da kam ein Reiter auf sie zu, soviel war sicher, aber da war noch mehr und überlagerte die schnellen Hufe des Pferdes. Im ersten Moment war es schwierig das vorherrschende Geräusch richtig zuzuordnen, aber irgendwann entschied sie sich für Angriffsgebrüll.
Kein menschliches, aber was brachte solch unnatürlichen Laute hervor? Die hiesige Tierwelt beschränkte sich auf ein paar Wildkatzen, die nie und nimmer solche Töne von sich gaben. Von Tranje mit dem Burschen im Rücken tauchte im Zugang auf und stürmte auf sie zu. Er riss an den Zügeln und brachte sein Pferd auf ihrer Höhe zum Halten. Geschmeidig sprang er aus dem Sattel während sein Knappe wenig elegant in den Staub stürzte. Er zog sein Schwert und positionierte sich an Jessicas Seite.
„Tötet alles, was da rauskommt“, brüllte er noch. Dann ging der Kampf los.
Azul hatte Mühe die Vielzahl der neuen Eindrücke zu verarbeiten. Überforderte ihn am Anfang allein die prachtvolle Ausstattung im inneren des Palastes und die Tatsache, dass er als einfacher Sohn eines Bauern überhaupt in die Nähe solch edler Ausstattung kam, strapazierte von Tranje mit jedem seiner Worte die Stabilität seines geistigen Zustandes aufs Neue.
Die Überforderung war am größten, nachdem er erfuhr, dass ausgerechnet er als Auserwählter dieses magischen Artefaktes vor größerer Berufung stand. Eine Verantwortung, die normalerweise höherem Blut zustand. Mit dieser Offenbarung war sein Schicksal endgültig unberechenbar geworden und die Angst vor dem Unbekannten mit dem Namen Askalan, ließ ihn am Abend in unruhigen Schlaf verfallen.
Am nächsten Morgen startete bereits ihre Unternehmung und somit blieb kaum Zeit sich an die Gewohnheiten am Hofe anzupassen. Wieder wusste er nicht, was eigentlich von ihm genau erwartet wurde. Das alles war sichtlich zu viel für den Jungen vom Lande und es bestand die Gefahr aufgrund von Schlafmangel, fehlendem Wissen und bäuerlicher Naivität grundlegend zu versagen, bevor sie überhaupt die Hauptstadt verlassen hatten.
Der Tag hätte nicht schlimmer beginnen können. Unsanft wurde er mit einem Fußtritt geweckt. Er kannte diesen Mann nicht, der an diesem Morgen an seinem Bett stand und bereit war ein zweites Mal in seine Richtung zu treten. Begleitet wurde die körperliche Tortur durch Gebrüll, welches ihn wahlweise als schlafende Made oder faules Ungeziefer betitelte. Mit einer selbst nicht für möglich gehaltenen Reaktion entging Azul dem zweiten Tritt, indem er hochschnellte und damit seinen Peiniger überraschte.
Zwei Sekunden lang herrschte erlösende Stille, bevor erneut wüste Beschimpfungen auf ihn niedergingen und ihn antrieben seine Sachen anzuziehen. Nur wenige Momente blieben ihm, dann wurde er gezwungen sein Zimmer zu verlassen. Im Laufen schaffte er es irgendwie seine Lederrüstung anzulegen und seinen Stab zu ergreifen. Unerbittlich wurde er von dem Fremden vorangetrieben und landete schließlich auf dem Vorplatz des königlichen Palastes.
Dort stellte er sich in die Reihe der anderen Knappen, die schon längere Zeit in der morgendlichen Sonne standen und auf die Ankunft ihrer Anführer warteten. Ein sichtlich misslungener Start in das Abenteuer, dessen Beginn er offensichtlich verschlafen hatte. Während sein Puls vor Aufregung raste, ließen sich seine Augenlider nur mit Mühe offenhalten. Er konzentrierte sich, diese Unausgewogenheit an Energie in das richtige Verhältnis zu bringen, als etwas Goldenes ihn auf der Palasttreppe blendete.
Er war zu weit weg, um die Worte zu verstehen, die die Prinzessin an die in militärischer Formation aufgestellten Ritter verkündete, aber als das Gebrüll den Vorplatz erschallte, ahnte er um die Motivation, die dahinterstand. Eigentlich das endgültige Signal für den Aufbruch, aber das Gold der Rüstung bewegte sich in Richtung der Knappen und ließ jeden Einzelnen von ihnen verkrampfen.
Noch niemand von ihnen war einem königlichen Geblüt so nahe gewesen, als die Prinzessin ihre Reihen abschritt. Demütig senkte er den Kopf, als sie auf seiner Höhe vorbeilief und nachdem er sich sicher war, dass sie ihn passiert hatte und er sich damit außerhalb ihrer Wahrnehmung befand, riskierte er einen kurzen Blick.
Ihr langes blondes Haar war so elegant zu einem großen Zopf zusammengefasst worden, das es für Azul nicht nur aufgrund der exotischen Farbe zum Blickfang wurde. Ihre Frisur befand sich in einem Zustand aus perfektem Glanz und dichter Fülle, was bei jeder Frau in Galatien für neidische Blicke sorgen würde. Die Bewegungen ihres Kopfes im Lichte der aufgehenden Sonne, machten ihren Schopf zu einem Wasserfall aus flüssiger Seide.
Azul konnte sich diesem Naturwunder nur schwer entziehen. Er wollte weitere Geheimnisse ihrer Perfektion erkunden. Schnell wanderten seine Augen über ihren Hals zu ihrem Gesicht und die Fantasien darüber, wie weich ihre makellose Haut sich wohl anfühlen würde, wichen der Erkenntnis, dass ihre Augen in diesem tiefen blau dem Himmel an einem wolkenlosen Tag mühelos Konkurrenz machen könnten. Dabei waren sie nur ein kleiner Teil, der die Vollkommenheit ihres Antlitzes ausmachte. Nase, Wangen, Stirn, aber vor allen Dingen ihr Mund, waren eine perfekte Sinfonie der optischen Sinne. Azul konnte sich diesem schönsten Werk aller Götter nicht entziehen und erst als sie seine Neugierde spürte, senkte er verschämt den Kopf und wünschte sich im Boden zu versinken, da er ihre Aufmerksamkeit erregt hatte.
Er vernahm zwar ihre Stimme, konnte aber den eigentlichen Sinn der Worte nicht erschließen. Zu sehr wirkte die Peinlichkeit nach ertappt worden zu sein. Keine Bewegung wagte er mehr, könnte man sie doch als erneuten Versuch einer Begutachtung der Prinzessin auslegen. Die selbst auferlegte Lahmlegung seiner meisten Sinne, zwang ihn dazu der einzig verbliebenen Wahrnehmung zu folgen. Den Klang ihrer Stimme. Als hätte man ihm sämtlicher anderer Rauschmittel beraubt, ergab er sich der Faszination ihrer Worte, auch wenn ihm der Sinn weiterhin entging. Der Entzug war hart, als sie sich zu von Tranje zurückbegab und die Erkenntnis nie wieder auch nur ansatzweise in ihre Nähe zu gelangen, deprimierte ihn.
Sie brachen auf und ihr Weg führte sie Richtung Westen ans Meer. Eine Anhäufung von soviel Wasser, dass keinerlei Land ersichtlich war, konnte sich Azul schwer vorstellen. Unweigerlich drang sich der Vergleich zum Itaka-See auf. Seine einzige Berührung mit größeren Gewässern. Als kleiner Junge reiste er mit seinem Vater nach Fischgrund, da die Missernte in diesem Jahr die Familie zwang die wenigen Erbstücke zu verkaufen. Er erinnerte sich an die Schönheit und Ruhe des Sees. Aus Mangel an Erfahrungen war in seiner Fantasie das Meer wie dieser See, nur etwas größer. Eine naive Annahme, denn als er an den Klippen der Steinebene stand und die Wellen unter ihm an die Felsen prallten, begriff er die Unendlichkeit des Ozeans.
Sie planten die Nacht hier zu verbringen und am nächsten Morgen den finalen Abschnitt über eine enge Passage des Nebelbergs anzugehen. Azul zweifelte, ob er durch den Lärm der tosenden See auch nur ein Auge zu machen würde. Als er alle Tätigkeiten des Knappen erledigt hatte, schlich er sich erneut rüber zu den Klippen. Er schaffte es nicht sich der Anziehung des Ozeans zu entziehen. Das Rauschen, das er fälschlicherweise als nervtötende Ruhestörung empfand, wirkte mehr und mehr wie ein beruhigender Trank. Sein Geist ordnete sich und wie ein Bibliothekar, der vor einem Stapel wild hingeworfener Bücher stand, fing er an die einzelnen Erlebnisse der letzten Wochen in die passenden Regale seines Verstandes einzuordnen.
Er hatte einiges aufzuarbeiten. Da war die Königstochter. Schön, elegant und mit einer Ausstrahlung, die nicht nur Hochwohlgeborenen den Atem verschlug. Ein Wesen von so ungeahnter Schönheit hatte er sein Lebtag nicht gesehen. Für ihn war sie so unerreichbar, wie das Ende dieses Meeres. Dieser Gedanke führte ihn unweigerlich zu Askalan, das ja inmitten all diesen Wassers existieren sollte.
Er hatte ordentlich Angst. Vor der Überfahrt, vor Askalan selbst, eigentlich vor allem Unbekannten jenseits dieser Küste. Diese scheinbar unüberwindbare Furcht drohte sein Handeln zu lähmen und seine Gedanken zu beeinträchtigen. Vielleicht stand am Ende womöglich sein Tod. Das Bild der Königstochter schob sich wieder in sein Bewusstsein und verdrängte die trüben Empfindungen mit der schönsten aller Erinnerungen. Wenn er nie mit ihr leben könnte, vielleicht wäre es wert für sie zu sterben.
Sein Blick fiel auf den Stab, der ihn bis zu diesem Tode begleiten würde. Keine Prinzessin. Dafür eine Beziehung zu einem Stück Holz. Das klang so absurd, dass er kurz vor sich hinlächeln musste, aber die Angelegenheit beunruhigte ihn nicht minder. Welcher Zauber von dieser Waffe auch ausging, es beeinflusste ihn in ungeahnter Weise. Selbst hier auf Osos, wo keine Magie ihn umgab, war sein Wirken deutlich spürbar. Was würde wohl erst auf Askalan passieren?
Azul schlich zurück ins Lager und verbrachte die Nacht unter freiem Sternenhimmel unerwartet ruhig. Die Brandung gab ihm die Ausgeglichenheit, die er die letzten Nächte vermisst hatte. Er tankte Kraft für die bevorstehenden Ereignisse, die ihn schneller überrollen sollten, als ihm lieb war.
Als sie am nächsten Morgen aufbrachen, lief Azul mit den anderen Knappen zu Fuß am Ende des Trupps und obwohl ihm das flotte Tempo nichts ausmachte, beneidete er die Ritter für ihre Pferde. Ein Statussymbol, das ihm irgendwann nicht nur in seinen Träumen gehören würde. Auch wenn die Anzeichen für einen schnellen Tod als Knappe auf dem Schlachtfeld sich verdichteten, blieb es eines seiner vorrangigen Ziele. Erst Recht, seit seiner Begegnung mit der Tochter des Königs. Dieser kurze Moment hatte ihn verändert und mit Wehmut schaute er auf die hochgereckten Banner am Anfang des Zuges, der nun unvermittelt zum Stehen kam und ihn aus seinen Traumwelten riss.
Eine plötzliche Anspannung überkam ihn, die er sich nicht erklären konnte. Sein Geist fokussierte sich, nur allein das Ziel fehlte ihm. Was bei den Göttern war hier los? Was versetzte ihn so in Unruhe? Instinktiv griff er nach seinem Stab, den er quer über seinem Rücken trug. Während seine Umgebung froh war über die Unterbrechung des Fußmarsches und sich einige Knappen bereits teilweise niedergelassen hatten, um ihre wunden Füße zu kühlen, stand Azul in Angriffstellung angespannt in einem Umfeld voller Entspannung.
Machte ihm die heiße Sonne zu schaffen, so dass sein Verstand auf eine spezielle Art auf die Vernachlässigung seines Wasserhaushaltes reagierte? Er wollte sich gerade etwas beruhigen, als der Stab in seiner Hand leicht zu vibrieren begann. Jetzt war seine Verwirrung perfekt und es gab nur eine Möglichkeit für die Auflösung seines Dilemmas, aber das ging nur entgegen der militärischen Anordnung. Er musste unaufgefordert seinen Herren aufsuchen und der befand sich zu seinem Bedauern an der Spitze des Trupps. Ein Spießrutenlauf lag vor ihm, vorbei an mindestens zwei Dutzend Rittern. Es half nichts, also machte er sich auf den Weg.
„Hey“, kam es ausgerechnet von einem der Knappen hinter ihm. Das war leicht zu ignorieren. Sollte ein Ritter ihn auf seinen unerlaubten Vormarsch ansprechen, benötigte er eine andere Taktik als Ignoranz. Zu seinem Glück waren die meisten Adligen mit ihren Tieren beschäftigt und erst auf Höhe des königlichen Banners wurde er aufgehalten.
„Was machst du hier vorn?“, wurde er rüde angefahren. Finley aus dem Hause der Dormat stellte sich ihm in den Weg. Ein Ritter von sehr hohem Stand, dem der Ärger sich mit einem fremden Knappen abgeben zu müssen, deutlich anzuerkennen war.
„Ich muss zu meinem Herrn. Zoran von Tranje“, erklärte Azul viel zu demütig.
„Ich weiß, wer dein Herr ist. Hat er nach dir verlangt, Bauerntölpel?“, fragte Finley gereizt. Als Antwort bekam er den vibrierenden Stab hingehalten.
„Soll ich dich damit zurückprügeln in die Reihen, in die deinesgleichen hingehören?“ Er ergriff den Stab und zuckte umgehend zusammen, als hätte ihm jemand auf die Finger gehauen.
„Bei den Göttern“, fluchte Finley und nach fünf Sekunden Abschätzung seiner Lage, wies er Azul mit einem Kopfnicken an, dass er passieren durfte.
Vollkommen verwirrt, fing dieser an zu stottern, als er vor von Tranje stand. Er setzte neu an, als er begriff, dass er die Göttin, die vor kurzem noch jeden seiner Gedanken beherrschte, sträflich ignoriert hatte. Ein weiterer Fauxpas, der sein zerbrechliches Selbstbewusstsein weiter herabsetzte. Es blieb ihm keine Zeit für erneute Scham, denn von Tranje wies ihn an aufzusatteln, um gemeinsam in die schmale Schlucht vor ihnen zu reiten. Die Quelle seiner vermeintlichen Unruhe, die Azul nicht erklären konnte.
Ihr Weg war steinig und die hohen Wände rechts und links ließen nicht viel Entfaltungsmöglichkeiten für das eigentlich reichlich vorhandene Sonnenlicht. Wer immer auch diese Passage durch den Felsen getrieben hatte, musste Unmengen an menschlicher Lebenszeit dafür geopfert haben, damit Dreiwasser auch vom südlichen Ende her erreichbar war. Azul konnte sich gut vorstellen, wie Heerscharen von Sklaven, die mühsam aus dem Berg gebrochene Steinbrocken davon schleppten. In den vergangenen Zeitaltern entstanden viele meisterliche Bauwerke wie diese, die oft auf den Rücken gequälter Seelen errichtet wurden. Statussymbole längst vergessener Herrscher, die sich unsterblich machen wollten und deren Namen in den Fluten der Zeit trotzdem untergegangen waren.
Die kühle Luft und das beschauliche Schaukeln des Pferderückens täuschten nicht über die Tatsache hinweg, dass Gefahr vor ihnen lag. Die steilen Wände entlang des Weges wirkten beklemmend und mehrmals erwischte sich Azul dabei, wie er an ihnen hinaufschaute, um möglichen Steinschlägen zuvor zu kommen. Es gab nicht viele Möglichkeiten für einen Angriff in dieser Enge, von daher hatte sich seine beschränkte Vorstellungskraft an einer Attacke von oben festgebissen.
Die Anspannung stieg mit jedem Meter, den ihr Pferd zurücklegte und je tiefer sie in den Berg eindrangen, umso unruhiger wurde er. Diese innere Unruhe wurde unerträglich und mittlerweile war es ihm egal, auf welche Art das Unheil ihn ereilen würde. Hauptsache diese unnatürliche Anspannung hätte ein Ende. Zu seinem Leidwesen wurde er von dieser Plage vorerst nicht erlöst, denn am Ende der Passage erwartete ihn nur gleißendes Sonnenlicht, welches die karge Landschaft in ein unheilvolles hellbraun tauchte.
War die Luft bisher erfüllt von einer Vielzahl an Vogellauten, dem Summen von Bienen und dem gelegentlichen Kreischen eines Raubvogels, schien dieses Plateau am Ende des Weges frei von natürlichen Einflüssen. Nichts durchbrach mehr die Stille. Es fühlte sich an, als hätte die Welt um sie herum aufgehört zu existieren. Selbst der Wind schien seines Antriebes beraubt worden zu sein, denn kein Lüftchen regte sich mehr.
In dieser unnatürlichen Umgebung hatte von Tranje Mühe sein Pferd zu beruhigen. Die Instinkte des Tieres waren der untrügliche Beweis dafür, dass die Bedrohung im Begriff war sie einzukreisen. Diese Gefahr, die ihren Schrecken aus ihrer Unbestimmtheit nährte, hatte die Umgebung für sich gewonnen, um durch das Fehlen jeglicher Laute ein Maximum an Angst zu erzeugen. Bei Azul wurde dieses Ziel mehr als erfüllt, denn das Zittern kam jetzt nicht ausschließlich von seinem Stab.
„Ruhig, Bursche. Ruhig.“ Von Tranjes Ruhe schien das genaue Gegenteil zu seiner Aufregung zu sein. Eine unpassende Gelassenheit für diese Situation. Trotzdem schien er hoch konzentriert der unbekannten Bedrohung entgegen zu sehen.
Azul brauchte ein paar Sekunden, um seine Augen an die neuen Lichtverhältnisse anzupassen. Wenn schon seine Ohren durch das Fehlen vertrauter Geräusche nicht zu seiner Beruhigung beitragen konnten, sollten seine anderen Sinne nach bekannten Reizen Ausschau halten. Er erwartete keine Bäume, Sträucher oder andere Formen von grüner Natur in dieser trostlosen Landschaft, aber irgendwas Vertrautes erhoffte er sich, als er seinen Blick schweifen ließ.
In dem Meer von ockerfarbenen Steinen wurde er fündig, aber dass, was er sah, trug nicht zu seiner Beruhigung bei. Die Gestalt, die sich in ihrer schwarzen Robe farblich aus der braunen Steppe abhob, wirkte bedrohlich. Mit hochgeschlagener Kapuze stand sie regungslos da und fügte sich nahtlos in die unheilvolle Atmosphäre ein.
„Hey“, rief von Tranje in die Richtung, ohne sich einen Schritt zu nähern.
„Sterbt ehrenvoll“, erklang ein hauchdünnes Flüstern, als würde der Fremde direkt neben ihnen stehen. Für Azul entwickelte sich das Plateau mehr und mehr in eine Welt, mit eigenen Regeln in der alles Natürliche keine Berechtigung zu haben schien. Während er gelähmt vor Angst keinen Finger rühren konnte, scheute ihr Pferd vor dem unnatürlichen Worthall. Diese Ungleichheit der Gemütszustände schleuderte Azul aus dem Sattel. Zu seinem Glück befreite er sich aus seiner Erstarrung, bevor er den Boden erreichte. Mit einer geschickten Rolle entging er schwerwiegenden Verletzungen und als er im Staub lag und angstvoll Richtung Gestalt schaute, war diese einfach verschwunden.
„Wer war das denn?“, fragte er panisch.
„Der Vorbote schlimmeren Unheils.“ Von Tranje horchte in die Stille, die jetzt nach und nach von einem sich wiederholenden Geräusch durchbrochen wurde, das stetig lauter wurde.
„Was ist das?“, fragte Azul. Von Tranjes Konzentration galt den anschwellenden Lauten.
„Pfoten. Viele Pfoten“, entschied er nach ein paar Sekunden und versetzte Azul in ungläubiges Staunen.
„Spring auf Bursche. Wir müssen hier weg“, wies er den knienden Azul an. Der raffte sich hoch. Eine sich nähernde Staubwolke lenkte seine Aufmerksamkeit vom Aufsatteln ab. Außer aufgewirbeltem Dreck war nichts zu erkennen.
„Los“, schrie ihn von Tranje an. Ohne den Blick von dem Phänomen abzuwenden, folgte Azul dem Befehl blind. Waren das Zähne, die da aufblitzten? Unmöglich. Kein Tier hatte ein so riesiges Gebiss. Von Tranje gab dem Pferd die Sporen, bevor Azul richtig im Sattel saß. Er hatte Mühe nicht wieder abzustürzen und dieser Ansammlung von hoch gewirbeltem Dreck förmlich vor die Füße zu fallen. In einem halsbrecherischen Tempo stürzten sie auf die Schlucht zu, die sie gerade erst durchquert hatten. Es stellte sich Herausforderung da nicht runterzufallen, zumal er den Stab in der rechten Hand trug, der als zusätzliches Hindernis seinen Halt erschwerte.
Es würde nicht reichen. Welche Kreaturen sie auch verfolgten, sie waren schneller als sie. Der rettende Ausgang mit der wartenden Königsgarde befand sich in unerreichbarer Entfernung. Eine Erkenntnis, die auch von Tranje irgendwann ereilte und so stoppte er die wilde Flucht, sprang von seinem Pferd, zog sein Schwert und bereitete sich auf den unvermeidbaren Kampf vor.
„Bursche, es ist jetzt an dir, was folgt. Im Kampfe mit mir untergehen oder als ängstlicher Zuschauer meinen Untergang bewundern. Das Ergebnis ist in beiden Fällen ohnehin der Tod“, kommentierte von Tranje Azuls Zögern. Dieser stellte sich kampfbereit neben ihn und obwohl der Mut fehlte auch nur einen Schlag auszuführen, fühlte es sich richtig an neben von Tranje den vorhergesagten Tod zu verzögern.
„Gute Entscheidung.“ Von Tranje hob das Schwert über den Kopf und lauschte in die Schlucht vor ihnen.
Es war kein Hufschlag, der da auf sie zukam, aber es war ein Tier auf vier Beinen. Soviel konnte Azul ausmachen und es war allein. Durch die Enge der Passage wurden die Verfolger gezwungen sich aufzuteilen. Ob die Anderen einen anderen Weg suchten oder einfach nur zurückblieben, war für den Moment unerheblich. In wenigen Sekunden würde eine Kreatur mit riesigen Zähnen vor ihnen stehen. Azuls Fantasie überschlug sich im Erfinden von riesigen und gemeinen Monstern. Die Wirklichkeit übertraf dann seine schlimmsten Entwürfe um ein Vielfaches, denn was da vor ihnen abbremste, beeindruckte allein durch seine Größe.
Knurrend und lauernd blieb das Ungetüm vor ihnen stehen. Sofort drängte sich der Vergleich zu einem Wolf auf, aber irgendwas passte nicht. Abgesehen von der unnatürlichen Größe, waren Aussehen, Verhaltensweise und das typische Knurren charakteristisch für das Wesen eines Wolfes, aber der Blick, mit dem die vermeintliche Beute begutachtet wurde, glich einem mordlüsternen Monster. Wölfe jagten, um zu überleben, nicht um des reinen Töten willens. Dieser Blick war nicht getrieben von Hunger oder Angst. Dieses Tier war von Grund auf böse und hasserfüllt.
„Ein Schattenwolf“, entfuhr es von Tranje ehrfurchtsvoll. Ein zusätzliches Knurren wirkte wie ein Applaus für die richtige Erkenntnis. Das Biest wandte sein riesiges Maul Azul zu und als es den Stab erblickte, wich es einen Schritt zurück und änderte sein Knurren von angriffslustig auf abwartend.
„Er hat wohl mehr Angst vor dir, als du vor ihm“, kommentierte von Tranje das Manöver. Azul streckte den Stab in voller Länge dem Wolf entgegen. Dieser wich einen weiteren Schritt zurück und änderte erneut seine Tonlage. Vielleicht war es nur Wunschdenken, aber Azul hörte Angst aus dem eindeutig leiser gewordenen Knurren.
„Das erklärt Einiges.“ Von Tranje ging einen Schritt auf den Wolf zu, der zu seinem alten Mut zurückzufinden schien und nach ihm schnappte. Vergeblich, da Azul ihn mit theatralischem Wedeln seines Stockes daran hinderte über von Tranje herzufallen.
„Hoho. Offenbar unterschätzt du hier den wahren Feind“, entfuhr es von Tranje.
„Er hat Angst vor dem Stock“, schlussfolgerte Azul.
„Er spürt die Magie und ist verunsichert. Ein Zustand der nicht ewig anhalten wird. Einst wanderten tausende Schattenwölfe durch Osos, aber in den frühen Zeitaltern wurden sie gnadenlos gejagt und ausgerottet. Keine der Geschichten aus dieser Zeit spricht von mannshohen Kreaturen, die mordlüstern Jagd auf Menschen machten. Dieser Wolf ist verändert worden. Ein perfektes Werkzeug fürs Töten“, erklärte von Tranje und verunsicherte Azul weiter.
„Und er ist nicht allein“, vervollständigte Azul, nachdem wildes Geheul von den Wänden scheinbar tausendfach widerhallte.
„Ein guter Zeitpunkt zu verschwinden.“ Von Tranje war wieder auf dem Pferd und hielt Azul die Hand hin. Gemeinsam hetzten sie durch die Schlucht, ohne das der Wolf sie weiterverfolgte. Dieser hatte offenbar beschlossen im Rudel weiter zu jagen und während Azul grübelte wie groß dieses Rudel aus überzüchteten Biestern einer längst vergessenen Zeit wohl sein mochte, erreichten sie endlich das Ende der Passage und damit die scheinbar sichere Zuflucht.
Es war ein erleichternder Anblick, als die ganzen Rüstungen vor ihnen auftauchten. Neuer Mut überkam Azul und trotz seiner wenig eleganten Rückkehr, er fiel förmlich vom Pferd, war er froh diesen neu erworbenen Mut direkt neben der Prinzessin beweisen zu dürfen. Selbst die kreischenden Geräusche, die aus der Schlucht auf sie zukamen, minderten seinen Willen nicht die königliche Hoheit mit seinem Leben zu beschützen. Diese Frau war es wert dafür zu sterben, auch wenn sie keinem königlichen Adel angehören würde.
Ein Wolf mit hellgrauem Fell erschien am Ausgang der Schlucht und Azul rechnete mit einem Pfeilhagel der gut positionierten Bogenschützen. Er wurde dahingehend enttäuscht. Offenbar war die Überraschung über den Feind so groß, dass die Furcht die Verteidiger vorerst lähmte. Der Angreifer dagegen machte sich gar nicht erst die Mühe die Lage zu sondieren, sondern stürzte sofort auf die nicht minder überraschten Ritter zu.
„Bogenschützen“, brüllte von Tranje und endlich zischten die Pfeile durch die Luft. Das enorme Tempo, mit dem der Wolf auf die Formation zustürzte, minderte den Erfolg. Selbst die wenigen Treffer prallten ab, wie an einem gut staffierten Rüstungspanzer. Bevor auch nur einer realisierte, dass der erste Teil ihrer Abwehr gründlich schiefgegangen war, brach der Wolf durch die Reihen der Verteidiger.
Drei Lanzen sollten den Angriff stoppen, aber ähnlich wie die Pfeile zuvor, zerbarst das Holz krachend an der Brust des Angreifers und richtete keinerlei Schaden an. Die Wucht des Aufpralls schleuderte Wallhall aus dem Hause der Farfat und seinen Cousin Gabriel mit samt ihren schweren Rüstungen gute drei Meter nach hinten. Der Sturz gegen eine Felswand brachte ihnen einen schnellen Tod ein. Karim von Zuertel hatte weniger Glück. Er hing in dem riesigen Maul und wurde solange herumgeschleudert bis das Genick geräuschvoll brach. Obwohl ein dutzend Männer auf den Wolf einstachen, waren keinerlei Verletzungen in dem dichten Fell auszumachen. Angst machte sich unter den Rittern breit und nachdem der Wolf einen zweiten Verteidiger auf dieselbe Art und Weise wie von Zuertel tötete, begann die Panik auszubrechen.
„Stecht auf die Augen. Blendet ihn“, brüllte von Tranje und wurde von einem anderen Angreifer aus der Passage attackiert. Ein weißer Wolf setzte zum Sprung an, um ihn ähnlich reißerisch zu zerfleischen. Von Tranje tat in diesem Moment das einzig Richtige, um dem drohenden Schicksal eines Appetitanregers zu entkommen. Mit einem großen Satz sprang er dem Angreifer entgegen und als der Zusammenprall unausweichlich schien, duckte er sich ab und rollte sich unter dem massigen Körper geschickt ab. Der Wolf versuchte noch in der Luft nach ihm zu schnappen, aber die Zähne griffen ins Leere und verursachten ein schallendes Geräusch, als sie aufeinander knallten.
Azul war so verblüfft über von Tranjes Manöver, dass er die drohende Gefahr, die keine drei Meter entfernt von ihm landete für einen Moment vergaß. Erst als der Wolf ihn als alternatives Angriffsziel auserkoren hatte, rührte er sich wieder. Der riesige Kopf schwenkte in seine Richtung und instinktiv hob Azul den Stab.
„Braves Hündchen“, entfuhr es ihm mit zittriger Stimme. Ängstlich hielt er seine Waffe am äußersten Ende, um möglichst die volle Länge zwischen sich und dem Angreifer zu bekommen. Eine absurde Szenerie und da der Wolf sich tatsächlich eingeschüchtert von ihm abwandte, entbehrte die ganze Situation nicht einer gewissen Komik.
„Bursche! Was erwartest du? Soll er apportieren?“, brüllte von Tranje in seinem Rücken und der Hohn in der Stimme veranlasste Azul seine Waffe endlich so zu ergreifen, dass er damit Angriffsmanöver ausführen konnte. Mit neuem Mut trat er seinem Gegner entgegen, aber dieser hatte sich mittlerweile ein neues Opfer gesucht.
Die Prinzessin wich dem Angriff geschickt aus und nachdem sie ein zweites Mal den scharfen Zähnen entkommen war, startete sie den Gegenangriff. Ein Stich mitten in den Hals, aber anstatt eine blutige Wunde in den Pelz zu reißen, glitt das Schwert ab, als würde es auf Stein treffen. Funken sprühten und nur mit großer Anstrengung konnte sie ein Entgleiten ihrer Waffe verhindern. Überrascht über den Misserfolg, wich sie einen Schritt zurück und so sah sie das Unheil zu spät kommen.
Eine riesige Pranke traf ihre Rüstung und schleuderte sie in den Staub. Sie verlor ihr Schwert und als sie sich vor Schmerzen auf den Rücken drehte, verdunkelte das zähnefletschende Maul den Himmel. Den Versuch kriechend zu entkommen, verhinderte der Wolf, indem er seine rechte Vorderpfote auf ihre Brust drückte. Raubtier und Beute befanden sich jetzt von Angesicht zu Angesicht. Alles war bereit für den finalen Biss und als er seinen Kopf nach hinten schmiss, um seine Zähne genüsslich in ihrem Gesicht zu versenken, durchbohrte Azul sein Gehirn mit dem Stab. Ein kurzes Jaulen begleitete seine letzten Sekunden auf Erden, dann brach das Tier zusammen.
Azul hatte mit mehr Widerstand gerechnet, als er mit voller Kraft auf den Kopf des Untieres einstach. Schwerter hatten keinen Schaden anrichten können und dementsprechend groß waren seine Zweifel, überhaupt irgendeinen positiven Effekt zu erreichen. Im besten Fall hätte die allergische Wirkung des Stabs das Untier von seinem Vorhaben abhalten können, aber dass seine Waffe keinen Unterschied machte zwischen einem magisch gepanzerten Wolfskopf und einem Stück Butter überraschte ihn dann doch. Staunend betrachtete er den blutverschmierten Stab und vergaß darüber seine Umgebung.
„Bursche. Wir brauchen dich“, holte ihn von Tranje aus der Starre. Dieser zog gerade sein Schwert aus einem weiteren Wolfskadaver. Offensichtlich waren sie beide die Einzigen mit brauchbaren Waffen gegen die Angreifer, denn der hellgraue Wolf wütete weiter unbehelligt unter den Rittern.
„Kümmere dich um ihn“, befahl von Tranje und widmete sich zwei weiteren Tieren, die die Schlucht vor ihnen ausspuckte. Zögerlich wandte sich Azul dem Rittergemetzel zu und während er noch überlegte, wie er die Sache am Besten anging, hatte sein potentielles Opfer einen weiteren Mitstreiter erwischt. Der Wolf schüttelte ihn spektakulär zwischen seinen Zähnen hin und her, während ein halbes Dutzend Ritter versuchte seine Augen zu treffen. Olher vom Hause der Zadars flog durch die Luft und trotz dem Scheppern seiner Rüstung, konnte Azul das Brechen jedes einzelnen Knochens förmlich hören. Es wurde Zeit diesem Blutrausch ein Ende zu setzen. Bevor sich der Wolf ein neues Opfer schnappen konnte, ließ Azul seinen Stab auf das linke Hinterbein niedergehen. Jedes andere Holz hätte höchstens eine schmerzende Prellung verursacht, aber diese geweihte Waffe aus dem Arcadenbaum zog eine blutige Riefe durch das Wolfsfleisch. Unter schrecklichem Gejaule kippte der Wolf nach links und während er sich vor Schmerzen wand, entledigte sich Azul dieses Tieres auf dieselbe Art und Weise, wie wenige Sekunden zuvor bei seinem weißem Artgenossen.
Der Trubel um ihn herum kam von einem Moment zum andern zum Erliegen. Die Ritter senkten ihre Schwerter und schienen erleichtert, das Schicksal von Olher und den Anderen nicht teilen zu müssen. Einzig von Tranje erwehrte sich weiteren Angreifern, die nach den unerwarteten Verlusten ihrem Willen zum unerbittlichen Töten nicht mehr ganz so bedingungslos folgten. Zwei etwas kleinere Exemplare ihrer Gattung saßen knurrend vor den von von Tranje erlegten Kadavern und wirkten unentschlossen in ihrem Handeln. Azuls Stab ließ sie endgültig einknicken und nach ein paar Sekunden wilden Geheules verschwanden sie in der Schlucht, aus der sie so todesmutig angegriffen hatten.
Azuls Körper ging unmittelbar auf Entzug. Der Blutrausch verließ ihn genauso schnell wie er eingesetzt hatte. Seine Knie wurden weich und sein Magen rebellierte. Er stand kurz davor sich zu übergeben, aber diese weitere Peinlichkeit blieb ihm zum Glück erspart. Er brauchte einen Moment, um die Erlebnisse im Normalzustand seines Geistes zu verarbeiten. Noch nie in seinem Leben hatte er sich in so einer extremen Situation befunden und dementsprechend schwer tat er sich mit der Aufarbeitung der Geschehnisse.
„Gut gemacht Bursche“, munterte ihn von Tranje auf, aber Azul wusste, dass seine Reaktionen auf dem Felde keines Kriegers würdig waren. Der Stab und seine abweisende Wirkung auf magisch verbesserte Wölfe hatte sein zögerliches Verhalten im Kampf ausgeglichen. Mit jeder anderen Waffe hätte er das Zeitliche gesegnet, bevor er überhaupt zur Gegenwehr hätte ansetzen können. Er agierte zu zögerlich in dieser Schlacht und derzeit überwogen die Zweifel in der nächsten Krise dieses Manko in den Griff zu bekommen.
„Ich war schlecht“, presste er hervor.
„Sagen wir mal, es besteht noch jede Menge Verbesserungsbedarf“, verschönerte von Tranje Azuls Worte.
„Das mit den Hundebefehlen war ein wenig unpassend“, ergänzte er amüsiert.
„Ich …“ stotterte Azul. Er fand keine Erklärung für den Ausruf.
„Immerhin hast du dich gesteigert, indem du das Leben der Königstochter gerettet hast.“
„Die Prinzessin. Wie geht es ihr?“ Erst jetzt kam ihm der unbekannte Gesundheitszustand wieder in den Sinn. Eilig drehte er sich in ihre Richtung. Eine Vielzahl an Rittern verdeckte seine Sicht, aber als er das Gold ihrer Rüstung durchschimmern sah, beruhigte er sich.
„Ihr geht es gut. Sie hat sehr viel Mut bewiesen. Eigentlich untypisch für eine Adlige ihres Standes“, erklärte von Tranje und begab sich in ihre Richtung. Azul zögerte ihm zu folgen. Es galten wieder die vorherrschenden Standesregeln.
„Komm schon Bursche. Du hast es dir verdient“, forderte von Tranje ihn auf zu folgen.
„Wie geht es euer Hoheit?“, fragte von Tranje respektvoll. Ihre Rüstung hatte einige Beulen aufzuweisen und ihre Haare wirkten zersaust. Nichts, was ihre makellose Schönheit zerstören würde. Ganz im Gegenteil. Azul hatte einen Blick auf eine andere Seite ihres Wesens erhaschen können und die Kämpferin schien nicht minder perfekt, als die Prinzessin der höfischen Etikette.
„Nichts, was die Salben von Dreiwasser nicht wieder richten könnten. Erklärt mir lieber diese Kreaturen.“ Sie versuchte Haltung zu bewahren, aber die Schmerzen machten ihr dieses Unterfangen sichtlich schwer.
„Ich kann es leider nicht. Schattenwölfe stammen aus den Zeiten weit vor der Zivilisation, wie wir sie kennen. Sie wurden offenbar wiederbelebt, als Werkzeug königlicher Intrigen. Wir trafen auf jemanden am Ende dieser Schlucht, der uns Antworten hätte geben können. Leider kamen wir nicht dazu ihn zu befragen.“
„Wer war er?“
„Ich vermute ein Magier, der diese Kreaturen kontrollierte.“
„Ihr sagtet doch, dass Magie auf Osos nicht wirke.“
„Ein weiteres Geheimnis, dass es zu lösen gilt. Viel mehr Sorgen macht mir, dass eure Reise unseren unbekannten Widersachern offenbar bekannt ist.“
„Das lässt vermuten, dass es Abtrünnige am königlichen Hof gibt“, schlussfolgerte die Prinzessin. Ihr Blick lag jetzt auf Azul.
„Sagt mir euren Namen Knappe!“, forderte sie Azul auf.
„Azul. Eure Hoheit“, erwiderte er schüchtern.
„Von heute an bist du Azul „Bezwinger der Schattenwölfe“. Mögen weitere Titel deinen Ruhm erweitern.“ Ohne eine Erwiderung abzuwarten, wandte sie sich ab und hinterließ einen von Stolz überfluteten Azul.
„Ich befürchte dieser Tag wird dir zu Kopf steigen. Töten von riesigen Wölfen. Retten einer Königstochter. Titelverleihung nach der ersten Schlacht. Wenn du abhebst, prügele ich dich höchst persönlich aus den Wolken“, drohte von Tranje.
„Ja mein Herr“, erwiderte Azul, zum ersten Mal mit Selbstvertrauen in der Stimme.
Jessica musste Stärke zeigen und das obwohl ihre Schmerzen schier unerträglich waren. Der Verlust von sieben guten Rittern stand am Ende des Tages. Die paar Blessuren, die sie sich bei ihrer wenig ruhmreichen Verteidigung zugezogen hatte, wirkten gegen die Verluste, wie die aufgeschlagenen Knie eines Kindes. In Dreiwasser erhoffte sie sich Linderung und bis dahin war es ihre königliche Pflicht ihren Gefolgsleuten ein gutes Vorbild zu sein. Der Angriff auf galatischem Boden war ein Frevel an der königlichen Macht, dem sie mit einem Mindesmaß an Souveränität begegnen musste.
Sie war sich sicher, dass die Vergiftung des Königs und der Missbrauch einer längst ausgerotteten Tierart denselben Ursprung hatten. Einen Ursprung, der mit Sicherheit auf Askalan zu finden war, dessen Auswüchse offensichtlich bis an den königlichen Hof reichten. Zusammenhänge, die einer Erklärung bedurften, aber aus Mangel an Informationen bisher vollkommen unklar waren. Intrigen gehörten zum höfischen Leben, aber sie trafen nur in den seltensten Fällen die königliche Familie persönlich und erst recht nicht in diesem Ausmaß. Ihr Leben und das ihrer Angehörigen war in großer Gefahr. Auch wenn sie mit dem Wasser aus der Quelle der Jugend Erfolg haben sollten, war die Angelegenheit damit nicht ausgestanden. Sie mussten herausfinden, welche Kräfte im Hintergrund wirkten. Galatien hatte einen neuen Feind und der schien aufgrund der Magie mächtiger als die Armeen von Osos.
Mit ungutem Gefühl passierten sie die Passage, die vor Jahrhunderten durch den Nebelberg getrieben wurde. Die Anspannung über einen erneuten Angriff war in jedem ihrer Begleiter zu spüren. Die Furchtlosigkeit, mit der die Ritter üblicherweise in die Schlacht gingen, war verschwunden. Die edel verzierten Schwerter, die prunkvollen Rüstungen und ihr unerschütterlicher Glaube jede Schlacht siegreich zu beenden, waren nutzlos gegen diese Art von Gegnern. Zu ihrem Unglück hatten sie es dem Mut eines Bauern zu verdanken, dass ihre Gebeine nicht in der gleißenden Sonne der Steinebene verrotteten.
Für die meisten der Adligen war diese Tatsache schlimmer als unbesiegbare Kreaturen. Daher gab es keine Dankbarkeit für den Knappen. Im Gegenteil. Das Misstrauen auf Seiten der Ritter war nie größer. Für sie war es unmöglich, dass dem Bauern das gelang, was ihnen versagt blieb und daher verwehrten sie ihm den notwendigen Respekt. Azul „Bezwinger der Schattenwölfe“ war zum Rivalen in den eigenen Reihen avanciert und Jessica befürchtete, dass der Zusammenhalt ihrer kleinen Truppe unter den üblichen Ränkespielchen leiden würde.
Der Angriff hatte bewiesen, dass die feindlichen Mächte, die vollständige Konzentration jedes Einzelnen bedurfte. Die Bürde einer Anführerin lastete schwer auf ihr und sie war sich nicht sicher, ob die Titelverleihung die richtige Entscheidung gewesen war und nur für unnötige Spannungen sorgte. Sie gesellte sich an von Tranjes Seite, als sie die Schlucht hinter sich gebracht hatten und die anschließende weite Ebene für etwas Entspannung sorgte.
„Ich werde keine gute Königin sein“, fing sie die Unterhaltung an.
„Ein Urteil, das die Geschichtsschreiber fällen werden“, erwiderte von Tranje leicht amüsiert.
„Die Titelverleihung war ein Fehler“, fuhr sie fort.
„Das war es in der Tat, aber die Erkenntnis darüber, zeugt von einer gewissen Weisheit“, erklärte von Tranje trocken.
„Ich habe unnötig Zwist in die Gemeinschaft gebracht.“
„Den gäbe es ohnehin. Ihr habt Euch nur frühzeitig positioniert. Die Adligen wissen nun, woran sie bei Euch sind.“
„Die Sache droht mir zu entgleiteten. Ich habe die Adligen brüskiert.“
„Soweit würde ich nicht gehen, aber sie fühlen sich derzeit ein wenig zurückgestellt. Zeugt ihnen euren Respekt. Veranstaltet eine Totenwache in Dreiwasser. Ihr seid eloquent. Worte haben schon oft Zweifel zerstreut.“
„Ich weiß nicht, ob ich die Richtigen finden werde.“
„Vielleicht ist der Inhalt ja unerheblich. Niemand erwartet von einer Prinzessin in jungen Jahren weisen Anspruch. Zeigt ihnen, dass ihr voller Selbstvertrauen steckt, voller Zuversicht. Der Körper vermittelt die Botschaft, nicht euer Mund.“
Von Tranjes Blick wanderte zum Horizont. Die ersten Häuser waren erkennbar und obwohl ihre Umrisse im Vergleich zu der scheinbar unendlichen Größe von Nebelberg und westlichem Meer winzig wirkten, vermittelten sie das Gefühl von Sicherheit. Keine magisch gezüchteten Wölfe würden sie dort attackieren. Nur weiche Betten und ausreichend Essen erwarteten sie. Wenn Jessica Glück hatte, würde sie sogar etwas Entspannung in einem der zahlreichen Tempel der Stadt finden. Viel war für die bevorstehende Reise zu den westlichen Inseln vorzubereiten. Trotzdem blieb die Hoffnung auf ein wenig Entspannung im Gebet.
Die Stadt rückte näher und verschollene Erinnerungen an die wenigen Besuche drängten sich in Jessicas Gedächtnis. Die riesige Mauer im Norden war ein beeindruckendes Bauwerk von Osos. Zehn ausgewachsene Männer mit Gardemaßen könnten sie nicht überwinden, selbst wenn man sie wie Artisten übereinander stapeln würde. Dazu besaß sie eine Dicke, die jegliches Bombardement der größten Katapulte standhielt. Der Grünfluss diente als natürlicher Burggraben und machte jeden Angriff zu einer taktischen Herausforderung. Keine Armee hatte es je geschafft dieses Bollwerk zu überwinden und mit dem Berg im Osten und dessen Ausläufern im Süden war die Stadt vom Landweg her uneinnehmbar.
Auf Grund dieser Mauer war Dreiwasser die einzige bedeutende Stadt in Osos, die keinerlei Burg, Palast oder ähnliche Befestigungsmaßnahmen im Zentrum besaß. Das Vertrauen über die Unüberwindbarkeit war so hoch, dass Niemand solche Gebäude innerhalb der Stadt für notwendig hielt. Der gehobenen Schicht, die aus Adligen und hochrangigen Beamten bestand, fehlte damit ein elitärer Rückzugsort, wie es der Palast in Saetung darstellte.
Dieser Umstand verlieh Dreiwasser ein außergewöhnliches Stadtbild. Kleidungsstil und die Dicke des Geldbeutels waren das einzige Merkmal, um den Regierungsbeamten vom Fischer oder Handwerker in den frei zugänglichen Straßen der Stadt zu unterscheiden. Adel, Bürgertum und Tagelöhner konnten jederzeit aufeinander treffen. Das machte es für auswärtige Eliten schwer sich den hiesigen Gegebenheiten anzupassen.
Dreiwasser besaß am Hofe den Ruf eines gefährlichen und ruppigen Fischmolochs, aber Jessica wusste, dass genau dieses erzwungene Zusammenleben eine moderne Gesellschaft hervorbrachte. Oberflächlich betrachtet stand die Stadt für den Handel mit den westlichen Inseln und für seine Tradition in der Fischerei. Doch die ungewohnte Freiheit, welche regelmäßig die Standesgrenzen überschritt, zog Künstler und Freigeister an. Die Stadt bot eine kulturelle Vielfalt, die einzigartig auf Osos war und die Mentalität ihrer Einwohner im Laufe der Zeit mehr und mehr veränderte. Unweigerlich musste Jessica an ihre Schwester Vara denken, die hier mit Sicherheit ihre Erfüllung finden würde.
Der Trupp näherte sich dem Stadtrand und als die ersten Menschen erkennbar wurden, bemerkten sie das Empfangskomitee, das für sie bereitstand. Etwa zwanzig Leute warteten in der gleißenden Hitze, um der königlichen Tochter ihre Aufwartung zu machen. Verschiedene Farbtöne in ihrem Kleidungsstil symbolisierten die unterschiedlichen Stände. Vorherrschend war wie immer violett, was auf adligen Ursprung oder hohen Beamtenstatus schließen ließ. Das Rot der Garnison war ebenfalls reichlich vertreten und zu ihrer Überraschung gesellten sich, hellblau, was für die Kaufleute und damit fürs Bürgertum stand und weiß dazu, welche die künstlerische Seite von Dreiwasser repräsentierte. Fehlte eigentlich nur noch die Unterschicht von Handwerkern, Fischern oder Bauern, denen aber keinerlei Farbe zugestanden wurde.
„Willkommen königliche Hoheit. Ich bin oberster Bürgermeister von Dreiwasser. Mein Name ist Gernot von Flake, erster Nachfahre des Hauses Flake, Hüter der Chroniken von Garamut, Führer der...“ Jessica unterbrach ihn höflich aber entschlossen.
„Ich kenne eure Titel. Viele davon wurden von meinem Vater verliehen. Uns fehlt leider die Zeit sie alle aufzuzählen. Bitte seid so freundlich und stellt mich den anderen Herrschaften vor“, verlangte sie. Sie wusste, dass sie damit einen Affront beging, aber ihre Schmerzen drängten sie zur Eile.
„Natürlich, eure königliche Gnaden.“ Einer nach dem Anderen wurde von Gernot vorgestellt und da er seine eigenen Titel nicht verlautbaren durfte, verzichtete er auch bei seiner Begleitung auf langwierige Ausführungen, was nicht nur von Jessica dankbar angenommen wurde. Es war ihr unmöglich all die Namen zu behalten, aber anhand der Wappen konnte sie die einzelnen Personen den Häusern zuordnen. 147 Häuser gab es in Galatien und in ihrer Kindheit war es Teil ihrer schulischen Bildung jedes einzelne Symbol dem jeweiligen Haus zuzuordnen. Eine Übung, die sie auch heute ohne Fehler hinbekam.
„Kaufmann Naran. Oberster Gildenmeister der Stadt“, kam Gernot nun zu den Begleitern ohne Adelstitel. Ein Mann gehobenen Alters und mit einer souveränen Ausstrahlung, die jene der anderen Politiker überstrahlte.
„Ich bin erfreut Euch kennenzulernen, obwohl es ungewöhnlich ist, Euch bei einem derartigen Treffen empfangen zu dürfen“, begrüßte Jessica den Gildenmeister diplomatisch unkorrekt.
„Es ist auch mir eine Ehre, eure Hoheit. Wir in Dreiwasser sehen die wirtschaftlichen Belange auf einer Ebene mit denen der Politik. Ich hoffe es ist keine Beleidigung in euren Augen“, erwiderte er selbstsicher.
„Das ist es nicht. Mir ist bekannt, dass in Dreiwasser die Dinge etwas freigiebiger gehandhabt werden. Stehen die kulturellen Belange ebenfalls auf einer Ebene mit der Politik?“, wandte sich Jessica an den Künstler, den der Bürgermeister bisher nicht vorgestellt hatte.
„Sie stehen sogar weit darüber. Quatar. Vertreter der Musen und der schönen Künste“, stellte er sich enthusiastisch vor, bevor Gernot ein Wort hervorbringen konnte. Die Unverfrorenheit von Quatar ließ ihn verkrampfen.
„Meiner Schwester würdet Ihr mit Sicherheit gefallen“, erwiderte Jessica leicht verärgert. Sie tat sich schwer, die fehlende korrekte Ansprache zu ignorieren. In der Tat würde diese Respektlosigkeit das Interesse von Vara wecken, die sich in ihrem Freigeist mit solch unkonventionellen Gleichgesinnten umgab.
„Und Euch gefalle ich nicht?“, fragte er keck und brachte damit den Bürgermeister endgültig in Erklärungsnot. Jessica brauchte einen Moment. Noch nie in ihrem Leben wurde sie auf diese Art und Weise angesprochen.
„Nein tut Ihr nicht, da Ihr jede Form der passenden Ansprache verweigert“, antwortete sie und bekam ein leichtes Lächeln aufgrund ihrer schlagfertigen Antwort. Gernot sah sich gezwungen einzugreifen.
„Verzeiht eure Hoheit. Der gesellschaftliche Anstand wurde vernachlässigt. Für Quatar ist Provokation eine legitime Art der künstlerischen Freiheit. Er verkörpert damit nicht die Ansicht der übrigen Beteiligten“, entschuldigte er halbherzig das Benehmen seines Begleiters.
„Ihr seid sicherlich müde von der anstrengenden Reise. Wir haben das prächtigste Gasthaus der Stadt für Euch als Unterkunft vorgesehen.“ Die Gruppe setzte sich in Bewegung.
„Ihr kommt spät. Darf ich fragen, was eure Hoheit aufgehalten hat?“, versuchte sich der Bürgermeister in allgemeinen Palaver, während sie auf die ersten Häuser der Stadt zugingen.
„Wölfe“, erwiderte Jessica kurz angebunden. Das ungebührliche Verhalten von Quatar machte ihr weiterhin zu schaffen.
„In dieser Gegend?“, fragte Gernot skeptisch, wagte es aber nicht nachzuhaken.
„Sagt Bürgermeister. Sind in letzter Zeit ungewöhnliche Dinge im Umfeld der Stadt aufgetreten?“, fragte von Tranje.
„Da Ihr schon danach fragt. Da gibt es tatsächlich etwas. Vermutlich nur dummes Gewäsch, aber im Süden sind angeblich größere Tiere gesichtet worden, die sich in den Höhlen des Berges versteckt halten sollen. Geschwafel von betrunkenen Bauern. Nichts kann in dieser Einöde überleben“, erklärte Gernot.
„An eurer Stelle würde ich diesem Gewäsch in Zukunft mehr Aufmerksamkeit schenken“, erwiderte von Tranje mystisch.
Sie erreichten den Stadtrand und die einfachen Häuser, erbaut aus den Steinen des Berges, ließen auf keinen großen Reichtum der Besitzer schließen. Bis zum Rand der Klippen standen die wackligen Hütten. Ein paar Kinder spielten davor mit abgenutztem Holzspielzeug, bis sie die Vielzahl an Fremden mit der goldenen Rüstung in ihrer Mitte erblickten. Ungeniert musterten sie die Königstochter und als diese mit einem Lächeln ihre Neugier erwiderte, verfielen die Kinder endgültig dem Bann des Goldes. Sie rannten neben der Gruppe her und jeglicher Versuch sie zu verscheuchen, endete erfolglos.
Mit der Annäherung zum Zentrum wurden die Häuser größer und stabiler. Hier dienten sie nicht ausschließlich als Behausung, sondern fungierten mehr und mehr als Statussymbol des gehobenen Standes welcher durch individuellen Fassaden die Stellung ihrer Bewohner in der Gesellschaft wiederspiegelten. Je nach Dicke des Geldbeutels wurden verschiedene Gesteine zur Verzierung verwendet. Überwiegend Kaufleute mit ihren Familien wohnten hier, aber auch Handwerker, die ein einträgliches Geschäft mit Schuhen, Kleidern oder sonstigen Waren des täglichen Bedarfes machten. Den Bewohnern ging es überwiegend gut und die einzelnen Gesichter, die gelegentlich an den Fenstern erschienen als sie vorbeizogen, waren nicht von Sorge geprägt.
Sie überquerten den südlichen Fluss über eine stattliche Brücke und näherten sich dem Zentrum, das ausschließlich durch öffentliche Gebäude geprägt war. Auf dieser Seite des Ufers waren die Straßen schmaler, da Gasthäuser, Tempel, Schulen, aber auch Kasernen imposante Ausmaße annahmen. Die Stände vor den kunstvoll verzierten Gebäuden schränkten die ohnehin nicht breiten Wege noch weiter ein und machten sie zu engen Gassen, die überquollen von Menschen und Waren verschiedenster Art.
Die Vielzahl an Kaufwilligen, die bereit waren gutes Geld für die exotischsten Dinge von ganz Osos zu bezahlen, verliehen der Stadt ihre Charakteristik. Seit Jahrhunderten feilschten Kunden und Verkäufer um jede einzelne Münze und das rege Handlungstreiben gehörte zur Stadt, wie das Meer oder die Flüsse oder der Nebelberg. Der Trubel auf den Straßen war ein lautstarker Zyklus aus Kaufen und Verkaufen, der sich jeden Tag wiederholte.
Heute war es anders. Die Anwesenheit von königlichem Blut verursachte ehrfürchtige Stille und als sich die Pferde ihren Weg durch die schweigende Menge suchten, genoss Jessica den Respekt der Untertanen. Das öffentliche Leben kam auf dem Weg zum Hafen für einen Moment zum Erliegen. Sanfte Verbeugungen begleiteten die Prinzessin, während sie den Pflasterweg abwärts zum Meer hinab trabten. Eine perfekt inszenierte Vorstellung aus Demut und Anerkennung verhüllte die eigentliche Realität aus lebhaftem Handel und im Licht der letzten Sonnenstrahlen des Tages wirkten sie wie Götter, die persönlich herabgestiegen waren, um die Einwohner von Dreiwasser zu verblüffen. Am Hafen angekommen überlagerte das Aroma der feinsten Gewürze den allgegenwärtigen Geruch von Fisch und steuerte seinen Teil zum perfekten Empfang der Königsgarde bei. Unter den Ästen des Wahrzeichens der Stadt, wurden sie von einflussreichen Bürgern begrüßt.
„Euer Hoheit“, begrüßte sie der Wirt am Eingang zur „Unsterblichen Eiche“. Ein Gasthaus, dessen Name dem riesigen Baum vor der Tür entsprang, der majestätisch die Dächer der Stadt überragte. Alt und geheimnisvoll war er Bestandteil vieler Legenden, denn dieser Baum existierte bereits weit vor den Zeiten Galatiens. Die wildesten Geschichten rankten sich um ihn, die mehr kindlichen Fantasien glichen als historischen Tatsachen. Im Umkreis von einem Tagesmarsch gab es nichts Vergleichbares an Natur und so spendete er einsam seinen wohltuenden Schatten, den ausgelaugten Bewohnern von Dreiwasser.
Mit übermäßig vielen Verbeugungen bezeugte der Wirt seinen königlichen Gästen den nötigen Respekt.
„Schon gut. Ihr bekommt nur unnötige Rückenschmerzen mein Freund. Wer soll uns dann das Abendmahl zubereiten?“ Von Tranjes Worte beendeten das gesundheitsschädliche Ritual fürs erste.
„Jawohl mein Herr“, bekam er als Antwort. Jessica wurde mit einer dezent aufordernden Geste ins Innere gebeten. Aus Gewohnheit erwartete sie den üblichen Prunk aus edlem Holz, feinen Webteppichen und goldverziertem Dekor, aber der große Speisesaal war rustikal und überwiegend in einfachem Holz gehalten. Er strahlte eine wohlige Geselligkeit aus, die sie als wohltuende Abwechslung empfand. Über eine knarrende Holztreppe gelangte sie auf die obere Etage, wo sich ihr Zimmer befand, das die gleiche urige Zufriedenheit verströmte.
Nachdem sie allein war, atmete Jessica tief durch. Jetzt konnte sie ihren Schmerzen freien Lauf lassen. Sie quälte sich aus der Rüstung und wusch ihren geschundenen Körper mit dem bereitgestellten Wasser. Nur in Unterwäsche bekleidet, warf sie sich auf das Bett und starrte an die holzvertäfelte Decke. Nie wieder wollte sie dieses Zimmer verlassen. Hier war sie sicher vor Wölfen, Magie oder den Verpflichtungen einer Königstochter. Das Paradies bestand aus diesem kleinen Raum, in dem es nur einen kunstvoll verzierten Tisch, einen Stuhl und dieses unheimlich weiche Bett gab. Die böse Welt blieb draußen.
Die traurige Wahrheit holte sie schneller ein als ihr lieb war. Sie konnte sich nicht verkriechen, selbst wenn sie es wollte. Es war ihre Pflicht zum gegebenen Zeitpunkt durch diese Tür zu gehen und Stärke zu zeigen. Doch für den Augenblick genoss sie die Ruhe, in der niemand die perfekte Prinzessin brauchte.
Jetzt wurden ihr die vergangenen Ereignisse erst so richtig bewusst. Sie war dem Tode nur knapp entkommen und das riesige Maul, das bereit war ihr den Kopf abzureißen, drängte sich wieder in ihr Bewusstsein. Zu ihrer Überraschung hatte sie keine Angst verspürt, als es scheinbar zu Ende ging. Sie versuchte sich an das vorherrschende Gefühl zu erinnern, aber da war nichts. Kein Entsetzen, kein Bedauern, auch keine Erleichterung. Im Angesicht der letzten Sekunden auf Erden herrschte emotionale Leere in ihrem Geist.
Übelkeit überkam sie, als sie ein alternatives Schicksal vor ihrem Auge geistig durchging. Sie sah sich selber zerfleischt in der Wüste liegen, umringt von riesigen Wölfen, die mit scharfen Zähnen ihren Kadaver bearbeiteten. Das Gesicht von Schmerz verzerrt in einer von Blut getränkten Rüstung offenbarte ihr das Unterbewusstsein eine perfide Variante ihres Ablebens. Mit diesem Bild vor Augen sprang sie auf und übergab sich in den Wassereimer. Endlich stellte sich Erleichterung ein, als hätte das Erbrochene alle seelische Pein aus ihrem Körper befördert.
Jessica ruhte für eine Stunde und dann trug sie die bereitgestellten Salben auf. Unter Schmerzen zwang sie sich in die Abendgarderobe und als der Wirt zum Essen läutete, schien sie wieder die Königstochter, die den gesellschaftlichen Normen gewachsen war. Ein letzter Blick aus dem Fenster verlieh ihr neue Kraft. Von ihrem Zimmer aus hatte sie einen wunderbaren Blick über den Hafen. Das Meer war ruhig und in der einsetzenden Dunkelheit wippten die Fischerboote über die seichten Wellen. Ein einzelner Lichtpunkt leuchtete verloren in der Dämmerung. Das Schwarz der Nacht breitete sich unaufhaltsam aus, aber der Leuchtturm trotzte dem Unausweichlichem mit seinem Licht und verbreitete eine Orientierung, die ihr offenbar abhanden gekommen war.
Sie zwang sich in die Realität zurück und stieg die Treppe hinab. Standesgemäß betrat sie als Letztes den Speisesaal und alle erhoben sich, als sie im Sichtfeld der Gesellschaft erschien. Anmutig bewegte sie sich zum Kopf der reichlich gedeckten Tafel und als sie Platz nahm, setzten sich auch die übrigen Herren. Mit Bedauern stellte sie fest, dass sie die einzige Frau bei diesem gemeinsamen Mahl war.
Sie sprach das Tischgebet, wobei sie die Gefallenen an diesem Tag namentlich mit einbezog. Nach einer Minute der Andacht brach sie das Brot und gab damit das Essen frei.
Umgehend setzten die Tischgespräche ein, welche hauptsächlich von den Ereignissen des Tages handelten. Jessica schnappte Gesprächsfetzen über Schattenwölfe und untaugliche Waffen auf. Bürgermeister Gernot versprach am nächsten Morgen eine Einheit seiner besten Kämpfer in die Umgebung des Nebelberges zu schicken, um das Übel mit aller Entschlossenheit aus der Welt zu schaffen.
„Ihr könnt nichts ausrichten“, versuchte ihn von Tranje davon abzubringen.
„Ihr habt einige Wölfe getötet. Warum sollten das meine Gefolgsleute nicht auch zu Stande bringen?“, erwiderte Gernot trotzig.
„Weil Ihnen die passenden Waffen fehlen.“
„Ach ja. Was benötigen sie denn für Waffen?“
„Diese Wölfe können nur mit geweihten Schwertern besiegt werden.“ Von Tranje erntete nur Skepsis.
„Ein Mann des Kampfes wie Ihr, glaubt doch nicht an solche aberwitzigen Überzeugungen.“
„Bürgermeister Gernot“, unterbrach Jessica die Diskussion.
„Da ihr einer Bitte nicht Folge leistet, befehle ich Euch hiermit keinen eurer Männer sinnlos zu opfern. Wir werden diesen Bestien den Garaus machen, aber nicht heute und auch nicht morgen. Der Tag wird kommen, an dem wir kühl und überlegt dem Ganzen ein Ende setzen.“
„Jawohl eure Hoheit“, bestätigte Gernot die Anweisung.
Damit war die Diskussion beendet und Jessica widmete sich wieder dem üblichen Palaver der hiesigen Elite. Es handelte sich dabei meist um Politiker oder Kaufleute, die sich verschiedenste Vorteile aus Gesprächen mit den königlichen Gesandten erhofften. Langweilige Themen, wie den Abbau von Handelshindernissen oder die Verbesserung der Beziehungen zu anderen Königreichen waren Schwerpunkte ihrer Bemühungen. Erst als Quatar sie ansprach, änderten sich die Prioritäten.
„Eure Hoheit“, begrüßte er Jessica respektvoll.
„Offenbar ist Euch doch die höfliche Etikette geläufig“, erwiderte sie streng.
„Natürlich. Verzeiht mir die kleine Unhöflichkeit vor den Toren der Stadt, aber es erschien mir mehr als eine passende Gelegenheit nachhaltigen Eindruck bei Euch zu hinterlassen. Bei dieser ganzen Anhäufung von Prominenz und Titeln, gab es keinen anderen Weg eure Aufmerksamkeit zu erhalten“, erklärte sich Quatar und versetzte Jessica erneut in Verblüffung.
„Es bedarf keines Orakel, um vorherzusehen, dass es euch eines Tages den Kopf kosten könnte, bei einer solch unangebrachten Äußerung. Es gibt Hochwohlgeborene, bei denen würdet Ihr wegen solcher Frevel bereits in dunklen Kerkern auf eure Hinrichtung warten“, erwiderte Jessica selbstsicher.
„Da habt ihr wohl Recht. Für gewöhnlich meide ich diese hochwohlgeborenen Kreise und bin daher in vermeintlicher Sicherheit.“
„Das heißt in den Genuss eures losen Mundwerks kommt nur die königliche Familie. Ein zweifelhaftes Privileg.“ Jessica musste sich eingestehen, dass ihr diese Art der Unterhaltung gefiel.
„Und doch befinde ich mich in keinem Kerker und warte auf meine Hinrichtung. Es ist ein Leichtes für Euch, mich von dieser Gesellschaft entfernen zu lassen. Ihr bräuchtet bloß eure Hand erheben und sofort würde sich jeder mit Freuden auf mich stürzen.“
Für einen Moment konnte Jessica dieser Versuchung nicht widerstehen. Die Aussicht bei ihrem nächsten Gesprächspartner wieder nur über Handelserleichterungen zu diskutieren, veranlasste sie dem Drang nicht nachzugeben.
„Der Abend ist noch lang und vielleicht überkommt mich später das Verlangen nach etwas Erheiterung. Betrachtet Euch auf Bewährung“, erwiderte sie streng und bekam ein aufrichtiges Lächeln als Antwort.
„Ein paar Tage Kerker sind ein geringer Preis, um eine Dame wie Euch zu erheitern.“ Jessica war keiner Antwort mehr fähig, denn das Umwerbende in seiner Stimme war deutlich zu erkennen.
„Werdet Ihr das Orakel aufsuchen?“, wechselte Quatar das Thema.
„Das ist meine Absicht“, antwortete sie kurz, um die entstandene Unsicherheit zu vertuschen.
„Das hiesige Orakel ist etwas launisch. Fragen zu Macht, Liebe oder Reichtum begegnet es mit Verachtung. Ihr braucht einen triftigen Anlass für eine Befragung.“
„Und Ihr glaubt, dass eine Königstochter diesen nicht anbringen könnte?“
„Den gibt es mit Sicherheit, aber was für den Adligen wichtig ist, könnte sich für das Orakel als trivial darstellen. Überlegt Euch eure Fragen gut.“
„Habt Ihr es je aufgesucht?“, fragte Jessica.
„Kürzlich erst. Es prophezeite mir eine lange Reise. Leider war es etwas unbestimmt, was das Ziel betraf. Wo sollte ich auch hin? Ich kann mir keinen besseren Ort als hier vorstellen.“
„Die Aussage über eine lange Reise macht das Orakel etwas trivial. Findet Ihr nicht? Erzählte es auch etwas von der großen Liebe und viel Reichtum?“
„Ich vernehme eine gewisse Skepsis aus euren Worten. Und doch werdet Ihr es aufsuchen.“
„Unsere Reise ist nicht ganz ungefährlich. Ein paar beruhigende Worte sind nach den heutigen Ereignissen nötiger denn je.“
„Ich hoffe Ihr bekommt eure erhoffte Beruhigung für die gefährliche Handelsmission mit den westlichen Inseln.“
Damit verabschiedete sich Quatar und Jessica wurde bewusst, dass sie mehr verraten hatte, als ihr lieb war. Die Gerüchte würden sowieso im Laufe der Zeit durch Dreiwasser schwappen, wie Wellen über einen bisher ruhigen See, aber das ausgerechnet sie mit ihren Andeutungen über mögliche Gefahren den ersten Stein werfen würde, ärgerte sie gewaltig. Quatar hatte sie mit seiner offenen Art unvorsichtig werden lassen. Dieser Mann faszinierte und beunruhigte sie zugleich. Sie war einfach zu jung für diese Mission und wieder fühlte sie sich dem Kommenden nicht gewachsen.
Trotz ihrer Verunsicherung meisterte sie die gesellschaftlichen Verpflichtungen an diesem Abend mit gewohnter Souveränität. Quatar ging ihr nie vollends aus dem Kopf. Abgesehen von vertraulichen Gesprächen mit ihren Familienmitgliedern, bestanden ihre Konversationen aus Dominanz und Unterwürfigkeit. Der erdrückende Respekt ihrer Gesprächspartner war so zur Selbstverständlichkeit geworden, dass Quatar mit seiner lockeren Art sie in Verlegenheit gebracht hatte.
Sie hätte die devoten Anbiederungen der örtlichen Elite, welche in der Regel mit dezenten Forderung garniert wurden, schnell beenden können, aber diese Unterhaltungen eröffneten ihr ein Gefühl von Normalität und trotz der eben vernachlässigten Vorsicht vermisste sie in der nachfolgenden Überflutung von Ehre und Hochschätzungen Quatars provokative Art. Sie hatte den verbalen Schlagabtausch genossen, der mehr Respekt beinhaltete, als in den meisten Konversationen zuvor.
Am späten Abend erlaubte es die Etikette sich zurückzuziehen. Jessicas Schmerzen waren auf ein erträgliches Maß zurückgegangen, trotzdem würde die Nacht eine Herausforderung werden. Die weichen Kissen stellten sich gegenüber dem Feldbett der letzten Nächte als eine willkommene Abwechslung dar und so rekelte sie sich genüsslich in die flauschigen Laken. Für den Moment waren die Ereignisse des Tages aus ihren Erinnerungen verschwunden, aber dieser Zustand hielt zu ihrem Bedauern nicht lange an.
Im Dunste des Halbschlafes belästigten sie abwechselnd Orakel, Wölfe oder Quatar, wobei Letzterer durch seine frechen Auftritte ihr Unterbewusstsein zur Verzweiflung trieb. Wir auch sein reales Vorbild erweiterte die von ihrer Fantasie erzeugte Version das ohnehin ungebührliche Verhalten. Ihre ganze Verunsicherung kanalisierte ihr traumvernebelter Verstand in eine Art königlicher Gerichtssaal, indem sie als ehrenwerte Richterin zu einem Urteil über ihn gezwungen wurde. Von Hinrichtung bis Kuss wurden ihr mögliche Strafen angeboten, aber am Ende kapitulierte ihr Unterbewusstsein.
Unausgeschlafen startete sie in den neuen Tag und obwohl ihr die Müdigkeit deutlich anzuerkennen war, wagte es niemand sie darauf anzusprechen. Die perfekte Fassade der Prinzessin war für alle Untergebenen eine unumstößliche Tatsache. Für alle, bis auf vielleicht Quatar. Ihre Gedanken drehten sich im Kreise und so war sie froh ihren Geist mit praktischen Dingen ablenken zu können.
Die Organisation ihrer Weiterreise, das Abhalten der Trauerfeier und gesellschaftliche Verpflichtungen gegenüber den Bürgern von Dreiwasser ließen ihr keine Minute der Ruhe. Mehrere Tage benötigten sie, dann waren die Vorbereitungen abgeschlossen, so dass der Aufbruch auf die Rotinsel starten konnte. Zwei stolze Galeonen wurden ihr zur Verfügung gestellt. Bewaffnet mit Katapulten sollten sie jeder Bedrohung trotzen, doch die Erfahrungen in der Wolfsschlacht zeigten, dass die königliche Garde nur bedingt auf das Unbekannte vorbereitet war. Jenseits der westlichen Inseln erwartete sie eine Gefahr, die schwer einzuschätzen war. Jessica brauchte mehr Informationen und obwohl sie das Orakel als abergläubische Zeitverschwendung ansah, erhoffte sie die Anspannung etwas lösen zu können.
Von Tranje begleitete sie am Abend vor der Abfahrt. Sie traten vor die Tür der „unsterblichen Eiche“ und atmeten die kühle Meeresluft tief ein. Die Sonne war bereits untergegangen und der Markplatz lag spärlich erleuchtet vor ihnen. Nur vereinzelt waren Personen zu erkennen, welche mit kleinen Laternen in der Hand wie spukende Geister über den leeren Platz huschten. Ihr Ausflug war keine königliche Pflicht und niemand in ihrem Stab wusste von dem geplanten Besuch beim Orakel. Im Schutze der Dunkelheit hofften sie unerkannt zu bleiben und für Jessica ergab sich die einmalige Gelegenheit, das wahre Dreiwasser mit seinen ursprünglichen Bewohnern kennenzulernen.
Von Tranje steuerte zielsicher zum Kai, immer die Königstochter im Blick, die ihm bereitwillig folgte. Unerwartet hell erleuchtet war die Mauer, an der ein dutzend Stege wie Finger an einer Hand ins Meer ragten. Unzählige Fischerboote wippten auf den leichten Wellen und erzeugten ein vielseitiges Stakkato von Holz auf Holz.
Sie folgten dem Kai Richtung Norden. War die Stadt oberhalb des Hafens in einen tiefen Schlaf verfallen, fanden sich entlang der Kaimauer jene Einwohner wieder, die trotz der Entbehrungen ihres Tagewerks nicht bereit waren sich dem Schlaf hinzugeben. Mehrere Tavernen erstreckten sich parallel zur Meereskante und aus dem alkoholgeschwängerte Trubel in ihrem Inneren ließen sich einzelne Worte vernehmen, die nicht nur Mitgliedern der königlichen Familie die Schamesröte ins Gesicht trieb. Mit jedem Schritt Richtung Norden drangen sie tiefer in eine Welt vor, die sich speiste aus vulgären Gesprächsfetzen, nach Urin stinkenden Hauswänden und einem Übermaß an Rum.
Jessica konnte nicht glauben, was sich ihr hier offenbarte. Für sie waren die Bewohner von Dreiwasser fleißige und rechtschaffene Leute, die ihren Unterhalt mit Handwerk, Fischen oder Handel verdienten und sich abends nach vollbrachter Arbeit zufrieden ins Bett legten. Hier bevölkerten primitive Taugenichtse die Straßen, welche sich sinnlos betranken und öffentlich übergaben. Prügelndes Volk, das sich Alkohol, käuflichen Frauen und betäubenden Kräutern hingab. Abgründe einer Gesellschaft, die ihr bisher verborgen blieben. Die wahren Bewohner Dreiwassers waren nicht das, was sie erwartet hatte und dementsprechend angewidert begrub sie ihre naive Vorstellung vom einfachen und glücklichen Leben eines gewöhnlichen Getreuen.
„Was ist das hier für ein Ort?“, fragte Jessica. Nach etwa zehn Minuten Fußweg waren sie am Ende der Hafenmauer angekommen. Sie konnte eine Vielzahl an Menschen ausmachen, die im Schein runtergebrannter Fackeln zwischen den einzelnen Gebäuden hin und her schwankten. Aggressive Stimmen ließen auf eine aufgeheizte Stimmung schließen. Das konnte unmöglich der Ort ihres geplanten Treffens sein.
„Tut mir leid für die erschwerten Umstände, aber das Orakel ist etwas eigen in der Wahl. Wir haben es gleich geschafft“, antwortete von Tranje entschuldigend. Jessicas Blick blieb an einem Seemann hängen, der ungeniert von der Mauer urinierte. Sein Stand sah alles andere als stabil aus und wenn er sein Körper nicht umgehend wieder ins Gleichgewicht brachte, drohte ihm eine lebendige Seebestattung. Zu seinem Glück kippte er nach hinten weg und einmal in der liegenden Stellung bemühte er sich nicht um eine erneute Bewässerung des Meers in aufrechter Position. Er ließ es einfach laufen und schlief dabei friedlich ein. Angewidert wandte sich Jessica an von Tranje.
„Was sind das für Leute?“
„Seeleute, die mit der biederen Lebensweise der Einheimischen nichts anfangen können und nach Wochen auf dem Meer Zerstreuung suchen. Man ermöglicht ihnen diesen Ort, unter der Bedingung sich von der Stadt fernzuhalten.“
Von Tranje betonte das Wort Zerstreuung als wäre es etwas Unanständiges.
„Ein seltsamer Ort für ein Orakel“, stellte Jessica ungläubig fest.
„In der Tat. Ich traf sie bereits gestern mit meinem Knappen und trug euer Anliegen vor. Erstaunlicherweise wählte sie diesen ungewöhnlichen Ort. Ihr werdet sehen, dass Orakel ist ein eher schwieriger Charakter.“ Von Tranje steuerte auf ein Wirtshaus zu, dass so keinerlei Ähnlichkeit mit der „Unsterblichen Eiche“ besaß. Es stank fürchterlich und die marode Tür wirkte wenig einladend.
„Dort gehe ich nicht hinein“, wehrte sich Jessica.
„Vertraut mir. Dort drinnen seid Ihr besser aufgehoben als hier draußen.“ Jessica zögerte und so ergriff von Tranje ihre Hand.
„Ich erkenne eure Zweifel, aber dieses Orakel ist kein magischer Hokuspokus. Was es mir gestern offenbarte, ist so von enormer Tragweite, dass es sich lohnt dort hinein zu gehen und mehr über euer eigenes Schicksal zu erfahren.“ Er schaute ihr tief in die Augen. Sie tat sich schwer mit uneingeschränkten Vertrauen, aber von Tranje war einer der wenigen Personen in ihrem Leben, der sie es wenigstens in angemessenen Teilen entgegenbrachte. Sie fand den nötigen Mut und folgte ihm in das Wirthaus.
Lärm erfüllte den Gastraum und eine Mischung aus minderwertigen Essen und hochprozentigen Erbrochenem lag in der Luft. Unwillkürlich führte Jessica ihre Hand zur Nase, um dieser geruchlichen Zumutung wenigstens zeitweise zu entkommen. Fast jeder Tisch war belegt mit Männern, die sich lautstark dem Alkohol hingaben. Entweder hatten hier Frauen keinen Zutritt oder es war nicht sehr ratsam dieser männlich geprägten Umgebung als Frau beizuwohnen. Von Tranje ließ seinen Blick schweifen und nickte kurz in Richtung eines spärlich besetzten Tisches. Das alte Mütterchen wirkte so unpassend in dieser Atmosphäre aus Aggression und Volltrunkenheit, dass Jessica kurz glaubte einer optischen Täuschung auferlegen zu sein.
„Das ist das Orakel?“, fragte sie ungläubig. Nicht nur das Alter entsprach nicht ihrer Vorstellung, auch die Kleidung, die ausschließlich aus zerschlissenen Leinen bestand, wollte nicht in das erschaffene Bild einer pompös gekleideten und weisen Person passen.
„Glaubt mir. Euch stehen noch größere Überraschungen bevor“, erwiderte von Tranje und bahnte sich seinen Weg durch die Meute. Jessica folgte ihm, aber auf halbem Wege wurde sie am Arm festgehalten.
„Hey Süße. Ich habe noch ein paar Münzen übrig. Wie wärs mit uns beiden“, wurde sie lallend von einem übelriechenden Matrosen angesprochen, dessen kahler Schopf und sein zerschlissenes Äußeres auf wenig Glück bei herkömmlichen Werbungsversuchen schließen ließ.
„Ihr vergesst Euch.“ Jessica versuchte sich abzuschütteln, aber die Hand war trotz des vielen Alkohols ihres Besitzers unerbittlich.
„Oh. Wir haben hier eine Hochwohlgeborene. Ihr wollt wohl die Vorzüge des gemeinen Pöbels testen“, erklärte er zweideutig und jeder an seinem Tisch grölte voller Inbrunst los, über die vermeintlich schlagfertige Bemerkung. Jessica wollte etwas erwidern, als sich das Verhalten ihres Peinigers schlagartig änderte. Sein Blick fiel auf das Orakel, das durch ihr gebrechliches Äußeres wenig furchteinflößend wirkte. Zu Jessicas Überraschung änderte sich sein Zustand von gierig auf ängstlich.
„Es tut mir leid. Ich wusste ja nicht, dass ihr zu ihr gehört.“ Die Worte verkündete er kleinlaut aber klar. Er ließ Jessica los und wandte sich seinen Tischkameraden zu, die alle ängstlich in ihre Gläser starrten und jegliche Aufmerksamkeit durch Regungslosigkeit zu vermeiden versuchten.
„Selbst die imposanteste Rüstung und das größte Schwert von Osos, hätten nicht den Eindruck hinterlassen, wie eurer einschüchterner Blick.“ Von Tranjes Worte waren voller Respekt, als sie vor dem Tisch des Orakels standen.
„Eure Waffe ist das Schwert. Meine Waffe ist die Angst“, erwiderte die alte Frau. Jessica erwartete eine Aufwartung oder wenigstens eine Begrüßung, aber die Alte saß einfach nur da und schaute sie ausdruckslos an.
„Erwartet Ihr einen Hofknicks, damit jeder weiß, dass die Prinzessin sich herablässt diesen Ort mit ihrer Anwesenheit aufzuwerten. Wir haben bereits genug Aufmerksamkeit erregt. Setzt Euch verdammt noch mal“, wurde Jessica von der Alten angefahren. Noch nie hatte jemand in diesem Gewand in diesem Ton mit ihr gesprochen. Widerwillig folgte sie der Aufforderung und ließ sich auf einem gebrechlichen und ungemütlichen Holzstuhl nieder.
„Ein ungewöhnlicher Ort.“ Jessica war verunsichert und versuchte sich im allgemeinen Palaver.
„Dieser Ort ist so gut wie alle anderen auch. Stellt eure Fragen. Was wollt Ihr wissen?“ Wieder war der Ton fordernd.
„Ich habe mich Euch etwas anders vorgestellt.“ Jessicas Zweifel über die wahrhafte Übersinnlichkeit des Orakels war deutlich zu vernehmen.
„In einer würdevolleren Umgebung mit einem Altar oder einer Glaskugel“, fuhr sie fort und erzürnte mit den Worten die Alte.
„Verschwendet nicht meine Zeit mit kindlichen Träumereien. Wollt Ihr nun Antworten? Bedenkt es gut. Glaubt nicht, Ihr schiebt mir ein paar Münzen rüber und ich erzähle Euch von viel Reichtum und glücklichen Tagen als Königin. Da liegt Ihr falsch. Die Wahrheit kann schmerzhaft sein.“ Das Orakel wirkte gereizt.
„Gut. Dann sagt mir, was mich auf Askalan erwartet“, reagierte Jessica trotzig.
„Tod. Viel Tod. Ob es auch euer eigenes Schicksal ist, vermag ich nicht zu erkennen. Zu viele Zweige besitzt der Baum der Zukunft“, erklärte das Orakel gelangweilt.
„Eine sehr ungenaue Antwort, die Ihr...“ Jessica wurde zum ersten Mal in ihrem Leben unterbrochen.
„... auf eine sehr ungenaue Frage. Ihr wollt präzise Antworten. Dann stellt präzise Fragen.“ Die Reizbarkeit beim Orakel nahm zu.
„Können wir den König retten?“, fragte Jessica nach kurzer Pause.
„Nein“, antwortete die Alte kurz.
„Dann ist die ganze Unternehmung umsonst?“, fragte Jessica schockiert.
„Für den König besteht wenig Hoffnung. Was es zu retten gilt, ist das Königreich und am Ende ganz Osos.“
„Wer steckt hinter dem Anschlag?“ Obwohl sie an keinerlei übersinnliche Kräfte des Orakels glaubte, tat ihr die Aussage über den Tod ihres Vaters weh.
„Dieser Zweig der Zukunft wird vor mir verborgen gehalten. Er ist genauso existent wie der Zweig, der Euch als Herrscherin von Galatien sieht. Die Entscheidung über das Schicksal von Osos ist noch nicht gefallen. Eine mächtige Kraft trübt mir die Sinne.“ Die Alte klang resigniert.
„Wenn Askalan zu weit weg ist, vielleicht hilft es sich auf naheliegende Dinge zu konzentrieren. Wir wurden angegriffen von einem Magier, nicht unweit von Dreiwasser“, hakte von Tranje ein.
„Seine Anwesenheit spüre ich seit Wochen. Meine Gefühle waren widersprüchlich, bis ich mir in den Schriften von Xantes ein endgültiges Bild machen konnte“, erklärte das Orakel.
„Dieses Buch ist durch königlichen Erlass verboten worden. Sämtliche Abschriften wurden bereits durch meine Vorfahren vernichtet. Wie seid ihr in den Besitz eines Exemplars gelangt?“, übernahm Jessica das Reden.
„Ein gefährliches Buch für Jene, die damit nicht umzugehen wissen. Es weckt das Verlangen nach Tod, Vernichtung und Macht. Dinge, die für mich keine Bedeutung haben. Dieser Magier ist einer der Geister von Wehedim. Meine Künste des Sehens beschränken sich auf die Lebenden. Daher kann ich nicht viel zu dem Schicksal eines Untoten prophezeien.“
„Die Schlacht von Wehedim“, raunte von Tranje.
„Ich habe nie von dieser Schlacht gehört.“ Jessica war sich eigentlich sicher die geographischen Details von Osos genau zu kennen. Ein Ort mit dem Namen Wehedim existierte nicht.
„Vor hundert Jahren fiel die letzte freie Stadt auf Askalan an ein Heer von Untoten. Verraten von fünf Magiern, die am Ende das Schicksal ihrer neuen Herren teilten.“ Von Tranje wirkte Gedanken verloren.
„Ihr wart dort und habt diese Schlacht erlebt“, schlussfolgerte Jessica.
„Das geschah vor langer Zeit. Sollte das Übel, dass seiner Zeit Askalan überrollte seine Klauen nach Osos ausstrecken, dann wird es nicht mit Galatien enden. Es geht um das Schicksal aller Königreiche. Schlimmer noch. Um das Überleben aller Menschen.“ Von Tranje wandte sich wieder an das Orakel.
„Eine letzte Frage. Wie war es dem Magier möglich seine Magie auf Osos zu übertragen?“
„Ihr kennt die Antwort. Euer Teil der Lösung ist gleichzeitig ein Teil des Problems und zwingt Euch eventuell zu unangenehmen Entscheidungen“, erklärte das Orakel mystisch.
„Wovon spricht sie?“, fragte Jessica.
„Von den fünf Stäben des Werekas. Einer befindet sich im Besitz meines Knappen. Alle fünf zusammen ergeben ein mächtiges Werkzeug“, erklärte von Tranje.
„Ein Werkzeug wofür?“
„Für die Vernichtung.“
Der Tag würde schön werden. Keine einzige Wolke stand am Himmel und als Azul auf die Überfahrt zur Galeone wartete, verfiel er in ungeahnte Abschiedstrauer. Die Stadt war gut zu ihm gewesen und obwohl er nur wenig Zeit in Dreiwasser verbracht hatte, kam sie dem Gefühl einer Heimat näher, als es Saetung je vermochte.
Die hiesige Bevölkerung faszinierte ihn und dass nicht nur, weil sie in ihm mehr als den tollpatschigen Bauernsohn sahen. Eine eingeschworene Gesellschaft, die gegenüber Fremden aufgeschlossen und freundlich auftrat. Der Wohlstand hatte ein Paradies geschaffen, das zwar auch nicht frei von Sorgen war, aber in dieser Umgebung von viel Sonne und Meer deutlich mehr Zufriedenheit erzeugte. Mit Wehmut blickte er auf die vergangenen Tage zurück und holte tief Luft, so als würde er lange Zeit auf etwas verzichten, das ein Leben lang auf ihn gewartet hatte.
Er spürte das Salz in der Luft, die mit jeder Brise landeinwärts wehte und den Geruch der hiesigen Gewürze mit sich trug. Mit geschlossenen Augen lauschte er den Geräuschen der Umgebung, die ihm so vertraut geworden waren, dass er nicht wusste, wie er bisher ohne sie leben konnte. Die Möwen krächzten, die Wellen rauschten seicht Richtung Ufer und landeinwärts hörte er die Werftarbeiter, die im wiederkehrenden Takt das Holz für prachtvolle Schiffe bearbeiteten. Eine Symphonie aus zufriedenem Alltag. Es gab soviel Gründe diesen seligen Ort niemals zu verlassen, aber die Pflicht gegenüber seinem Herrn zwang ihn dieses Schiff zu besteigen und sich seinem Schicksal zu stellen.
Sein Aufenthalt in Dreiwasser war trotz der überwältigenden Eindrücke nicht frei von unangenehmen Begegnungen. Vor allen Dingen ein Abend beschäftigte ihn mehr, als er sich selber eingestand. Der Besuch bei dieser alten verknöcherten Vettel, die weit entfernt von einem Auftreten als weises Orakel war, bescherte ihm eine Nacht voller Grübeleien und wenig Schlaf. Sein Herr hatte darauf bestanden diesem aus Azuls Sicht abergläubischem Ritual beizuwohnen.
Ihre unglaubliche Arroganz passte mehr nach Saetung als nach Dreiwasser und ihre Vorhersagen waren genauso schwammig wie beunruhigend. Sie zerstörte schnell seine Illusionen auf eine glorreiche Zukunft als Held in der königlichen Garde. Stattdessen belästigte sie ihn mit Bestimmungen, die sein Leben und das vieler anderer Menschen maßgebend beeinflussen würden. Wage Aussagen, die viel Raum für Interpretationen zu ließen. Azul zwang sich diesen schwer zu verstehenden Wirrwarr an Worten als dummes Hirngespinst einer alten verbitterten Frau abzutun.
Eine Sache konnte er nicht so einfach ignorieren. Als ihm dieses alte Weib tief in die Augen schaute und zum ersten Mal jegliche Form von Arroganz vermissen ließ und sogar etwas Angst erkennbar war, sah er sich gezwungen genauer hinzuhören. Sie ergriff seine Hände und das vollkommene Weiß ihrer Augen ließ ihn erstarren. Dieses blinde Weib verkündete ihre Botschaft, die ebenso kurz wie prägnant war.
„Zerstörer der Welten“, hauchte sie. Azul riss sich los und gab ihr damit das Augenlicht zurück. Das Orakel wirkte wie eine geistige verwirrte Alte, die nicht mehr fähig war allein vor die Tür zu gehen. Zwei Minuten hielt dieser Zustand an, dann änderte sich erneut ihr Wesen. Ihr gemeiner Charakter wich zu Gunsten einer überraschtem alten Frau, der gerade klar wurde, was ihr widerfahren war.
„Eine Vision. Ich hatte eine Vision“, schwafelte sie mit einem Rest an Verwirrung.
„Ihr seid das Orakel. Sind Visionen nicht euer Geschäft?“, ließ sich Azul zu einer Frechheit hinreißen.
„Ich sehe die Zukunft, wie ihr Wege auf einer Karte deuten könnt. Visionen sind nicht mein Geschäft.“ Keinerlei Ärger oder Arroganz lag in ihrer Stimme, als sie Azuls Frechheit scheinbar gleichgültig ignorierte. Die Furcht war deutlich zu erkennen, ob nun über die Vision an sich oder den geheimnisvollen Inhalt konnte er nicht ausmachen. Sie stand einfach auf und war im Begriff Azul und von Tranje ohne Abschied ihrem Schicksal zu überlassen, als sie doch ein paar Worte an ihn richtete.
„Seit nicht zu feige um Hilfe zu bitten, wenn die Konflikte euch zu überfordern drohen.“ Ihr Blick blieb an von Tranje hängen, so als wäre sie sich unsicher über seine Fähigkeiten als Mentor. Danach verschwand sie in aufgewühlter Stimmung.
Die ganze Geschichte hätte Azul als gut gemachtes Theater abhaken können, aber der Titel „Zerstörer der Welten“ wurde so beeindruckend verliehen, dass eine gewisse Unruhe in ihm blieb. Obwohl von Tranje versuchte zu erklären, dass diese Worte alles Mögliche bedeuten konnten und nicht unbedingt ihm galten mussten, bahnten sich Fantasien über die Zerstörung von Welten seinen Weg in seinem Inneren. In jeder möglichen Variante nahm der Stab die Schlüsselrolle ein und Azul konnte eine gewisse Angst nicht leugnen. Askalan lag vor ihnen und die umgebene Magie würde die Waffe in seiner Hand mit neuer Energie beleben. Vermutlich würde sie auch ihn verändern und im schlimmsten Fall zu einem Zerstörer empor erheben.
Azul stand am Heck der „Stolz von Galatien“, als die Galeone ihre Segel hisste und die Häuser von Dreiwasser immer kleiner wurden. Nun konnte er die Ausmaße des Nebelberges richtig erfassen. Ein majestätischer Hintergrund, der die winzig wirkende Hafenstadt zu verschlucken drohte. Erneut stellte sich Wehmut ein, aber diesmal nicht auf Grund der Stadt und ihrer Bewohner, sondern dem Gefühl für lange Zeit vertraute Muster zu vermissen. Was immer ihn auch auf Askalan erwarten würde, es wäre eine grundsätzlich andere Welt. Von Tranje hielt sich bedeckt mit Informationen, aber es war sicher, dass nur wenig Zivilisation vorherrschte. Keine prachtvollen Städte oder Königreiche. Vielleicht ein paar Dörfer, deren Bewohner der wilden Natur trotzten, die nicht vergleichbar war mit der gebändigten Landschaft von Osos. Wenn auch nur ein Bruchteil der Sagen über Askalan der Wahrheit entsprachen, würden sie dort drüben auf Wesen treffen, die jenseits menschlicher Vorstellungskraft lagen.
Die See war ruhig und die Sonne brannte unerbittlich auf die Planken. Die Winde ermöglichten ein schnelles Vorankommen und jeder gestandene Matrose konnte nicht leugnen, dass die Bedingungen für die Überfahrt zur Rotinsel perfekt waren. An Backbord taten sich die Segel der „Kibeli“ auf, ein baugleiches Schiff der „Stolz von Galatien“. Gemeinsam hüpften sie über die kleinen Wellen und versetzten Azuls Magen trotz des geringen Seegangs in permanente Unruhe. Die Übelkeit nahm kein Ende, obwohl er glaubte bereits alles erbrochen zu haben. Jede Entleerung wurde von der Mannschaft der „Kibeli“ mit hämischen Beifall bedacht, so dass Azul irgendwann beschloss die Fische an Steuerbord mit seinem Mageninhalt zu beglücken. Erst am zweiten Tag ihrer Reise hatte er sich soweit unter Kontrolle, dass er wieder feste Nahrung zu sich nehmen konnte.
Die Pflichten eines Knappen an Bord waren überschaubar und dementsprechend stellte sich schnell ungewohnte Langeweile ein. Azul hatte weiterhin keinerlei Freunde oder wenigstens Bekannte, die ihm wohlwollend gesinnt waren. Die Begegnung mit den Schattenwölfen hatte ihm sogar zusätzliches Misstrauen eingebracht. Das ausgerechnet der Bauernlümmel die einzig wirksame Waffe besaß und somit den kompletten Ruhm für sich beanspruchen konnte, war ein Affront an sich. Die Titelverleihung tat ihr Übriges im Streben um Ehre und Privilegien in der königlichen Garde. Die Ritter hatten zuviel Respekt vor von Tranje, um persönlich irgendetwas dem Emporkömmling entgegen zu bringen, also überließen sie es ihren Knappen, die in guter alter Tradition die Sache unter sich regelten.
In der zweiten Nacht an Bord passierte das Unausweichliche. Die Koje unter Deck teilte sich Azul mit zehn weiteren Kameraden seines Standes, die wie er in viel zu kleinen Hängematten nächtigen mussten. Sie überwältigten ihn im Schlaf und als er sich benommen fragte, was da wohl im Inneren des Tuches sein möge, was da mit großem Schwung auf seine Rippen zuflog, durchflutete ihn bereits der Schmerz.
„Wie fühlt sich das an? Bezwinger der Schattenwölfe.“ Azul konnte nur schemenhaft erkennen, wer ihn da im Halbdunkel bearbeitete. Vermutlich handelte es sich um den blonden Jungen, der ihm schon in der Kaserne von Saetung das Leben schwermachte. Shane aus dem Hause der Goldbringer. Verarmter Adel aus dem Norden von Galatien, dem nichts weiter geblieben war, als der Name und die Hoffnung über die königliche Garde an alte Zeiten anknüpfen zu können.
„Du stinkst nach Kühen. Hier hast du etwas Seife.“ Das Tuch schlug erneut in seine Rippen ein. Azul wollte schreien, aber der Knebel in seinem Mund ließ nur ein leises Stöhnen zu.
„Wie wäre es mit einem weiteren Titel. Herr über die Schweinescheiße scheint mir passend.“ Dieses Mal schlug das Tuch auf seiner linken Seite ein. Azul wollte sich losreißen, aber sein Peiniger hatte Hilfe und die hielt seine Arme fest.
„Und was soll das eigentlich mit dieser albernen Stabwaffe. Bist du dir zu fein für ein ordentliches Schwert. Bringt mir diese Krücke!“, befahl Shane einem der Knappen. Diabolisch grinsend näherte er sich Azuls Gesicht.
„Schauen wir mal, ob wir dich zum tanzen bringen.“ Azuls Knebel hatte sich soweit gelockert, dass er sich der ungewünschten Mundsperre entledigen konnte.
„Fass ihn nicht an!“, brüllte er.
„Oho.“ Shane genoss die Demütigung von Azul mit einem Tritt. Etwas Hölzernes fiel auf den Boden und lenkte Shane soweit ab, dass er für den Moment inne hielt.
„Was ist los? Bringt das Ding endlich rüber!“, fauchte er ins Dunkel.
„Ich fass das Ding nicht mehr an“, kam es ängstlich zurück.
„Verdammter Feigling.“ Shane griff nach unten, zuckte aber sofort zurück.
„Bei den Göttern“, fluchte er und sah leicht verängstigt aus. Sein geplanter Tanz konnte in der Form nicht stattfinden und zwang ihn zu einer anderen Form der Demütigung.
„Bringt ihn an Deck!“, entschied Shane. Mühsam schleppten die Knappen Azul die schmale Holztreppe hinauf und als er die Kühle der Nacht auf seiner Haut spürte, belebte es seine betäubten Sinne. Er ignorierte den Schmerz und die schmale Treppe gab ihm die Gelegenheit sich seiner Lage zu entziehen. Die frei gewordene rechte Hand war bereit jemanden die Nase zu brechen. Mit neuer Energie holte er aus, aber sein erwähltes Opfer hatte mit einem möglichen Angriff gerechnet und wich dem Schlag gekonnt aus.
„Werd jetzt nicht übermütig“, kommentierte er den Angriff trocken und verschränkte Azuls Arm erneut hinter seinem Rücken, so dass dieser nun an Deck auf die bewährte Art und Weise festgehalten wurde.
„Wir schlafen nicht mit Schweinehirten zusammen in einer Koje. Zieht ihn aus!“, befahl Shane und nur kurze Zeit später stand Azul nackt unter dem sternenklaren Himmel.
„Ich wünsche eine geruhsame Nacht und lass dich ja nicht wieder da unten blicken.“ Zum Abschied landete Shanes Faust in Azuls Magen. Dieser ging auf die Knie und wurde endlich von seinen Peinigern erlöst.
Als der Schmerz nachließ, war das Deck verlassen. Er überlegte, ob er weinend zu seinem Herrn laufen und seine Hängematte über höhere Stellen einfordern sollte, aber das würde seine Demütigung nur verstärken. Die Tränen kamen und als die Scham nicht mehr steigerbar war, erkannte er die einzig akzeptable Lösung.
Er stürmte die Treppe hinab und als der Mob ihn erneut unter Schlägen und Tritten hinausbeförderte, zögerte er nicht lange und startete den nächsten Versuch. Wieder wurde er an Deck gebracht und das Spiel wiederholte sich weitere vier Mal.
„Offenbar bist du nicht bereit deinen Platz zu akzeptieren.“ Shane war verärgert, weil sie sich wiederholt in dieser Situation wiederfanden.
„Ihr müsst mich schon umbringen“, erwiderte Azul kraftlos und von Prügel gezeichnet.
„Offensichtlich müssen wir das tun. Bauern vertragen offensichtlich nicht viel Alkohol und stürzen schon mal betrunken über die Reling. Los schnappt ihn und dann über Bord mit ihm!“, befahl Shane in gewohntem Tonfall, aber niemand rührte sich.
„Feiglinge“, fluchte Shane und ging auf den geschwächten Azul zu, um seinen Befehl selbst in die Tat umzusetzen.
Azul schaute in das wild entschlossene Gesicht seines Peinigers. Der Versuch die letzten Reserven zu aktivieren, um dem tödlichen Schicksal zu entkommen, schlug fehl. Er war einfach zu schwach für eine effiziente Gegenwehr und selbst im Vollbesitz seiner Kräfte hätte er das Unausweichliche höchstens für ein paar Momente aufschieben können. Sein Blick wanderte zum Mond. Wenn er jämmerlich in den Fluten des westlichen Meers ertrinken würde, sollte dieses von Hass zerfressende Gesicht nicht das Letzte sein, was er in seinem Leben erblickte.
Alle hatten sich getäuscht. Da war von Tranje, der ihm eine verbindende und glorreiche Zukunft mit diesem Stab vorausgesagt hatte. Was für eine Fehleinschätzung, die nur übertroffen wurde von einer alten Vettel, die sich Orakel schimpfte. Dieses arrogante Weib sah in ihm sogar den Zerstörer der Welten. Pah. Ihre Reputation war für alle Zeit dahin. Aber wirklich enttäuscht war er von sich selbst. Seine Vorstellungen von ruhmreichen Schlachten, die mit einem ehrenvollen Tod endeten, entpuppten sich als naive Hirngespinste eines Bauern. Nichts von alledem war eingetroffen. Hier und jetzt würde es enden und zwar durch simples Ertrinken. Auf Knien erwartete er seinen Vollstrecker, doch dieser wurde zu seiner Überraschung aufgehalten.
„Eines Tages will ich als Ritter den Ehrenschwur auf den König leisten. Wie kann ich das tun, wenn ich hier und heute einen heimtückischen Mord begehe.“ Die Worte kamen von einem stämmigen Knappen, der seine Dienste dem Ritter Bennet von Burmund anbot. Azul fiel der Name nicht sofort ein, aber es war genau jener gelassene Zeitgenosse, der seinem Angriff vor nicht mal einer halben Stunde so problemlos parierte. Er überragte Shane um einen Kopf und auch bei seiner Schulterbreite gab es keinen zweiten an Bord, der mit ihm mithalten konnte.
„Thore. Das ist ein Bauer. Niemand wird es uns übelnehmen“, rechtfertigte Shane den geplanten Mord.
„Lass es gut sein. Er hat seine Lektion gelernt. Es bringt uns keinerlei Ruhm ihn zu ertränken.“ Die ruhige, aber bestimmte Art hatte keinerlei Wirkung auf Shane. Erst als weitere Knappen sich der Meinung von Thore anschlossen, ließ er von Azul ab.
„Du bist tot, Bauer. Du bist tot“, raunte er mit unterdrückter Wut. Das Deck leerte sich erneut und ein geschwächter Azul blieb allein zurück. Gerade in dem Moment, in dem er sich zum hoffentlich letzten Mal in Richtung Koje aufmachen wollte, schritt eine Gestalt die Treppe vom Oberdeck hinab.
„Respekt Bursche. Respekt“, lobte ihn von Tranje.
„Ihr habt das Alles mit angesehen und seid nicht eingeschritten?“ Azul klang wütender, als er beabsichtigt hatte.
„Wie willst du in dieser Welt Selbstständigkeit lernen, wenn ich permanent Händchen halte. Das Schicksal hat dir diese Karten zugelost und nun musst du lernen damit umzugehen. Die Lektionen sind bitter, aber notwendig.“
„Ihr habt Shane absichtlich mit auf diese Reise genommen. Habe ich Recht mein Herr?“, fragte Azul in gewohnter Demut.
„Sein einziger Daseinszweck ist dich etwas anzuspornen. Das er es gleich so übertreiben musste tut mir leid. In einem hat er Recht. Du bist immer noch ein Bauer, aber heute hast du einen weiteren Schritt zum Kämpfer gemacht. Es gehört mehr zum kämpfen, als nur eine Waffe zu führen. Mut, Ehre, Respekt aber auch Kameradschaft. Von allem hast du heute etwas bekommen. Ich fürchte bloß, es wird noch nicht reichen für das, was vor uns liegt.“
„Was erwartet uns auf Askalan?“, fragte Azul vorsichtig.
„Ich weiß es nicht. Seit zwei Menschenleben meide ich diesen Ort, weil ich dachte, dass es dort nichts geben würde, was eine Rückkehr rechtfertigten würde. Wie es aussieht, habe ich mich geirrt. Ein besiegt geglaubter Feind erstarkt von neuem. Wir müssen ihm Einhalt gebieten, sonst droht den Menschen von Osos eine Katastrophe.“ Von Tranje schaute auf den nackten Azul herab.
„Auch wenn es gerade nicht so aussieht, offenbar kommt dir eine Schlüsselrolle bei der ganzen Geschichte zu. Du solltest dir was anziehen, denn die Prinzessin wurde schon zu lange von deinem Anblick belästigt.“ Azuls Blick wanderte zur Reling des Oberdecks. Offenbar hatte sie die komplette Demütigung mit angesehen. Voller Scham floh er in die Koje.
Am nächsten Morgen quälte sich Azul unter Schmerzen aus der Hängematte, was ihm ein paar gemeine Sprüche der anderen Knappen einbrachte. Das alles konnte ihn nicht weiter verletzen, denn die schamhafte Gewissheit, dass jede demütigende Minute der letzten Nacht unter königlicher Beobachtung stand, war ohnehin unerreichbar geworden.
Mit Stolz hatte er seinen ersten Titel empfangen und das Gefühl durch die Schande der gestrigen Ereignisse die Prinzessin enttäuscht zu haben und damit dieser Ehre eigentlich nicht gerecht zu werden, überlagerte alle neuen Widrigkeiten, die für ihn geplant waren. Es drängte ihn dieses verdammte Schiff endlich verlassen zu können und mit dem Betreten der Rotinsel ein neues Kapitel ihrer Reise zu schreiben, das in seiner Vorstellung ähnlich angenehm verlaufen würde, wie in Dreiwasser. Obwohl das Meer für ihn ein Ort der Sehnsucht und der Freiheit war, hielt die Überfahrt außer Unwohlsein, Langeweile und jede Menge Schmach bisher nichts Gutes für ihn bereit.
„Unglaublich diese Weite. Habe ich Recht?“
Azul hatte sich in den äußersten Winkel auf der Steuerbordseite zurückgezogen, um die letzten Stunden vor der Ankunft in Einsamkeit zu verbringen. Als er die Worte der Prinzessin an seiner Seite vernahm, verkrampften sich seine Eingeweide, sein Puls fing an zu rasen und sein Magen nutzte die Gelegenheit, um den Inhalt in gewohnter Weise wieder aufzukochen.
„Ich... Ich weiß nicht“, stammelte Azul unbeholfen und bereute die Worte umgehend. Sie lächelte sanft über das tölpelhafte Auftreten, aber es war keinerlei Arroganz oder Abscheu in ihren Zügen. Leicht amüsiert fuhr sie fort.
„Ihr seid so herzerfrischend fehl an diesem Ort“, versuchte sie ihn über die mangelnden Umgangsformen gegenüber königlicher Herkunft zu beruhigen. Ihr sanfter Tonfall und die Tatsache, dass sie ihn in adliger Form ansprach, steigerte die Verwirrung weiter.
„Ich habe Euch nie persönlich gedankt, für Euren Mut im Kampf am Nebelberg.“ Sie zögerte fortzufahren. Jetzt war sie es, die keine passenden Worte fand.
„Ihr habt einen Schwur geleistet. Euer Leben, um meins zu schützen. Ich sehe diesen Schwur nicht als reine Selbstverständlichkeit an. Er entbindet mich nicht von Dankbarkeit. Ganz im Gegenteil. Er verpflichtet mich dazu. Ihr habt mir das Leben gerettet und es ist mir mehr ein persönliches Anliegen, als königliche Verpflichtung.“ Sie zögerte kurz und das folgende Wort fiel ihr deutlich schwer.
„Danke“, brachte sie nach kurzer Pause hervor. Ihr Blick wanderte Richtung Horizont.
„Da atmen wir die selbe Luft, trinken das gleiche Wasser und am Ende steht für uns alle unweigerlich der Tod. Erst die Gesellschaft entfremdet uns so sehr, dass wir kaum miteinander reden können. Meine Geburt erhebt mich gesetzmäßig über alle anderen Menschen in dieser Welt. Eure Geburt zwingt euch zu einem ergebenen Untertanen, der meinesgleichen zur Treue verpflichtet ist. Wer hat sich das nur ausgedacht? Unser aller Zukunft ist abhängig vom Glücksspiel unserer Herkunft. Hoffentlich führen uns unsere eigenen Regeln nicht in den Untergang.“
Die Prinzessin hatte jegliche Selbstsicherheit verloren und wirkte auf Azul verletzlich. Eine Schwäche, die in ihren Kreisen gerade vor dem Pöbel unverzeihlich war. Nach wenigen Sekunden hatte sie ihre angelernte Souveränität zurückerlangt. Zeit genug für Azul, um endlich ein paar Worte zu erwidern.
„Regeln wurden durch die Herrschenden erschaffen, also können sie auch durch Herrschende geändert werden“, sagte er scheu aber bestimmt.
„Weise Worte, die trotz ihrer Einfachheit schwer umzusetzen sind.“ Eine gewisse Verlegenheit war unübersehbar. Eigentlich war jegliche Konversation dieser Art ein gesellschaftliches Tabu und sie hatte sich ihm zu allem Überfluss auch viel zu sehr geöffnet. Es wurde Zeit für sie das Gespräch zu beenden.
Sie nutzte das Privileg der königlichen Familie und ließ ihn ohne große Erklärungen einfach an der Reling stehen. Die ungewollt abweisende Geste, die ein Selbstschutz vor weiteren unangenehmen Worten war, wirkte bei der reichlichen Anzahl an Beobachtern abschließend standesgemäß. Für Azul schwebte sie einfach davon und jegliche Abweisung ging in dem selbstgeschaffenen Bild von ihr unter. Diese Frau hatte nicht nur optische Vorzüge. Für ihn war sie die perfekte kommende Herrscherin, die mit ihrer Schönheit und mit Weisheit Galatien in ein ruhmreiches Zeitalter führen würde. Er unterdrückte seine persönlichen Gefühle für sie, da er unwürdiger den je war diesen Schiffsboden mit ihr zu teilen. Der Wille, sein Leben für ihre Zukunft zu opfern, war stärker als je zuvor. Es war sein Ansporn sich den zukünftigen Widrigkeiten zu stellen.
Am späten Nachmittag zeichneten sich die Umrisse der westlichen Inseln am Horizont ab. Sie passierten einen unbewohnten Felsen, segelten vorbei an einer kleinen Insel, in deren Bucht kleine Fischerboote in verschiedenen Farben lagen und erreichten schließlich die Rotinsel, die ihren Namen dem einzigen Berg verdankte, dessen Vulkangestein eine auffällig braunrote Färbung aufwies.
Da auch die Häuser der einzigen Siedlung aus diesem Gestein erbaut wurden und Pflanzen durch die unwirtliche Umgebung keinerlei Möglichkeiten hatten mit ihrem Grün den vorherrschenden Farbton zu durchbrechen, mussten Besucher gerade im Licht der untergehenden Sonne beim erstmaligen Anblick unweigerlich an eine von Dämonen geschaffene Welt denken. Je näher der Hafen kam, umso aufdringlicher wirkte das Rot und Azul war sich für einen Moment sicher, dass die Bevölkerung ausschließlich rote Sachen tragen würde, um den vorherrschenden Eindruck nicht zu trüben.
Die Siedlung war kleiner, als Azul erwartet hatte und von dem Zauber eines Dreiwassers, das durch pittoreske Bauten den typischen Charme einer Hafenstadt versprühte, war schon auf Grund der dominanten Farbe keine Spur. Die Meereswinde wirbelten den roten Staub vom erloschenen Vulkan herab und überzogen die ohnehin schon eintönige Gegend mit zusätzlichem Material. Alles wirkte dreckig und verfallen und das Fehlen von jeglicher Flora machte den Ort nicht mehr als zu einem bewohnten Felsen.
Die Rotinsel war die Nördlichste, der etwa zwei Dutzend Inseln, die rein rechtlich unabhängig von den Reichen des Kontinents waren. Dennoch bestand eine Abhängigkeit, da fast alle Güter zugeführt werden mussten. Im Gegenzug lieferte die Inselkette seltene Erze, Tran und ein wenig roten Stein, der in einigen Gegenden von Osos sich großer Beliebtheit erfreute. Ausgerechnet die unwirtlichste Insel wurde auf Grund ihrer Lage zum Knotenpunkt im Handel mit dem Kontinent auserkoren. Stellvertretend für alle anderen Inseln prägte sie den Eindruck vom westlichsten Punkt der bekannten Welt und verfälschte somit das Bild der südlichen Perlen, die laut Aussage von von Tranje wahre Paradiese waren.
Trotz der enttäuschten Erwartungen, freute sich Azul auf den Landgang und das Gefühl wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Zu seiner Überraschung lagen die beiden Galeonen keine volle Stunde vor Anker weit außerhalb der eigentlichen Stadt. Kleine Versorgungsboote füllten die Vorräte auf und bevor die Sonne vollends untergegangen war, lief die Flotte Richtung Westen wieder aus, so dass es für Azul keine Abwechslung zu den wankenden Planken gegeben hatte.
Lästige Fragen über den Kurs konnten durch das schnelle Auslaufen vermieden werden und außer einer kurzen Nachricht an den königlichen Hof (das nächste Versorgungsboot würde den versiegelten Brief auf den Kontinent bringen) gab es nur wenige Hinweise auf die kurze Anwesenheit der königlichen Flotte.
Am nächsten Morgen zeigte sich das gewohnte Bild. In alle Richtungen erstreckte sich der scheinbar unendliche Ozean und setzte die Galeonen den Launen des Wettergottes aus. Dieser hatte sich bisher von seiner besten Seite gezeigt und neben günstigen Winden auch jede Menge Sonne zur Verfügung gestellt. Das Wetter war mittlerweile so beständig schön, dass es Azul sich gar nicht vorstellen konnte, nicht unter blauem Himmel zu segeln. Erst am sechsten Tag auf See änderte sich dieser trügerisch wirkende Zusammenhang.
Wie immer war Azuls Tagewerk schnell erledigt und wie die Tage zuvor, zog er sich in die einsame Ecke an Steuerbord zurück, die offensichtlich nur für ihn erbaut worden war. Er langweilte sich und versuchte ein wenig zu ruhen, als hektisches Treiben vom Hauptdeck vernehmbar war. Die Befehle des Kapitäns knallten wie Peitschenhiebe durch die Luft. Dieser ungewohnte Trubel beunruhigte Azul und angesteckt von der Hektik, begab er sich zu den Anderen auf das Hauptdeck.
„Was ist los?“, fragte er den erstbesten Matrosen, den er erwischen konnte. Dieser zeigte mit dem Finger nach oben, so als ob es ihn ermüden würde Azul auch nur ein Wort zu antworten. Dessen Blick folgte dem Finger, aber außer ein paar Wolkenfetzen war am Himmel nichts erkennbar.
„Die Vorboten für schlechtes Wetter. Spürst du es nicht? Die Luft?“, ließ sich der Matrose herab mit ihm zu sprechen. Azul atmete tief ein, konnte aber keinen Unterschied feststellen.
„Verdammte Landratte. Spürst du denn nicht, wie die Umgebung sich verändert hat. Außerdem kreiselt der Wind. Ganz leicht nur, aber deutlich zu spüren. Da kommt was Großes auf uns zu.“
Der Matrose drehte seinen Finger nach oben und grinste über die fehlende Wetterfühligkeit von Azul. Dieser schloss die Augen und konzentrierte sich und tatsächlich nahm er die Veränderung war. Er konnte es nicht erklären, aber es fühlte sich an, als wäre weniger Luft um ihn herum. Erfreut über diese neue Lektion in Sachen Seefahrt, öffnete er die Augen, aber der Matrose war bereits verschwunden.
Die ganze Mannschaft war dabei die Ladung umzustapeln, um den Schwerpunkt des Schiffes den kommenden Gegebenheiten anzupassen. Dann wurden die Segel eingeholt und lose Dinge wie Rollwagen, Putzeimer oder Waffen verzurrt oder unter Deck gebracht. Routiniert wurde sich auf das kommende Unwetter vorbereitet und als die Wolken dichter und dunkler wurden, bekam es Azul mit der Angst zu tun.
Erste Regentropfen fielen auf das Deck und nur kurze Zeit später prasselte Dauerregen auf sie herab. Der Wind nahm zu und peitschte das Wasser von Steuerbord nach Backbord. Große Wellen prallten gegen den Bug und machten das Schiff zum Spielball des Sturmes. Furchteinflößend bäumte es sich auf, um unter dem Ächzen des Holzes über die erste große Welle nach unten zu stürzen. Azul hatte Mühe nicht kopfüber über Bord zu fallen.
Es war höchste Zeit in die Koje zu verschwinden. Für ihn war es jetzt an Deck lebensgefährlich und so verkroch er sich in seine Hängematte. Das Toben des Windes wurde lauter und lauter und immer öfter stürzte die "Stolz von Galatien" über die Wellen in einen Abgrund. Mehr als ein Mal hatte er das Gefühl von Schwerelosigkeit, weil das Schiff unter ihm schneller fiel als er selbst. Sein Magen rebellierte erneut, aber die Angst war zu groß, als dass er sich mit solchen Nebensächlichkeiten abgeben konnte. Azul huldigte keinem Gott, aber in dieser Situation schickte er jedem Einzelnen von ihnen ein Gebet.
Er klammerte sich an seinen Stab und auf dem Höhepunkt des Orkans fing dieser an zu vibrieren. Die Erinnerung an den Kampf am Nebelberg mit seinen riesigen Wölfen steigerte seine Angst. Auch wenn es unwahrscheinlich war hier draußen auf zähnefletschende Bestien zu treffen, bedeutete die Botschaft seiner Waffe nichts Gutes. Askalan kam näher und damit jede Menge neue Gefahren. Plötzlich hoffte er, dass der Kontinent ihnen den Zutritt verwehren würde und der Orkan sie irgendwo vor Dreiwasser wieder ausspuckte. Doch das war unrealistisch. Der Stab war bereit in seine Heimat zurückzukehren.
Jessica mochte es allein an der Reling zu stehen und im tiefen schwarz der umgebenen Nacht zu versinken. Ein sanfter Wind strich ihr um die Nase und außer dem leisen Ächzen von Holz umgab sie nur angenehme Stille. Zu so später Stunde lag der Großteil ihrer Gefolgschaft schlafend in den Kojen. Für sie der ideale Zeitpunkt um Kraft zu sammeln. Obwohl sich die gesellschaftlichen Verpflichtungen einer Prinzessin auf dem Schiff naturgemäß im Rahmen hielten, brauchte sie diese Momente des Alleinseins als Gegengewicht zu den Bürden einer Anführerin. Alle Zweifel dieser Aufgabe nicht mal ansatzweise gewachsen zu sein, schienen in der unendlichen Dunkelheit der Nacht zu ertrinken. Eine ungeahnte Freiheit umgab sie und so atmete sie tief ein, als könnte sie dieses Gefühl in ihren Lungen für die Ewigkeit bewahren.
Knarrendes Holz beendete diese Illusion und die Schritte auf der Treppe bewegten sich in ihre Richtung. Das spärliche Licht der Tranlampe beleuchtete von Tranjes Gesicht und Jessica war erleichtert nicht sofort in königliche Souveränität zurückfallen zu müssen. Obwohl ihr wahre Freundschaft vermutlich ein Leben lang verwährt bleiben würde, kam von Tranje dieser Vorstellung noch am nächsten. Mit ihm konnte sie gewisse Grenzen überschreiten und auch gelegentlich Schwäche zeigen. Eine Art Intimität, die ihr sichtlich gut tat.
„Verzeiht die Störung, aber ich hoffte etwas Ruhe und Entspannung in der Einsamkeit der Nacht zu finden. Offensichtlich hattet Ihr denselben Gedanken.“ Von Tranje war im Begriff umzudrehen, aber die Prinzessin hinderte ihn daran.
„Eure Gesellschaft ist mir eine der angenehmsten an Bord. Bitte bleibt“, erwiderte sie. Die belebende Kühle der Nacht wirkte erfrischend.
„Ihr hadert der Dinge, die vor Euch liegen.“ Nach ein paar Minuten angenehmen Schweigens durchbrach von Tranje die Stille.
„Ich brach auf, um das Leben meines Vaters zu retten. Nun sagt man mir, es ginge um viel mehr. Würdet Ihr an meiner Stelle nicht mit dem Schicksal hadern?“
„Leider hat sich die Angelegenheit zu einer ungeahnten Herausforderung entwickelt. Was wir brauchen sind Verstand, Mut und Herz. Vorraussetzungen, die Ihr ohne Weiteres mitbringt. Was Euch fehlt sind Erfahrungen, aber die kann ich reichlich beisteuern. Noch ist mir nicht bange um das Schicksal eures Vaters oder von Galatien“, erwiderte er aufmunternd.
„Vielleicht kehren wir triumphierend heim, aber zu welchem Preis. Wie viel Tod werde ich am Ende zu verantworten haben? Wie erkläre ich den Häusern Farfat oder Zuertel den Verlust ihrer besten Kämpfer? Nieder gemetzelt von Kreaturen, die es eigentlich nicht geben sollte.“
„Es ehrt Euch, dass Ihr den Verlust eurer Gefolgschaft nicht als reine Notwendigkeit anseht, aber Ihr müsst in dieser und in vielen anderen Angelegenheiten euren Weg finden. Tod ist ein ständiger Begleiter aller Herrschenden. Ihr seid nicht die Erste, die vor diesem Dilemma steht.“
„Ihr habt auch viel Leid gesehen. Was ist passiert in Wehedim?“
„Wehedim war eine Steigerung zum Tod. Die Toten blieben nicht tot. Sie erhoben sich und folgten ihrem neuen Herrn. Sie kämpften gegen Jene, die sie gerade noch verteidigt hatten.“
„Wer besitzt so viel Macht?“, fragte Jessica in der Hoffnung der Bedrohung endlich ein Antlitz geben zu können.
„Ein Name muss für den Anfang genügen. Waskur. Eine Erklärung für die schlimmste aller Heimsuchungen, die Askalan je widerfahren ist, wäre zu früh. Es gibt keine Worte von Osos, die diese Plage beschreiben könnten.“
„Ist dieser Waskur die Ursache für die Bedrohung von Galatien?“, fragte Jessica sichtlich nervös.
„Waskur ist kein Herrscher im eigentlichen Sinne. Solange Ihr Askalan nicht erlebt habt, ist für mich eine Erklärung unmöglich. Waskur ist mit Sicherheit die Wurzel, aber welche Triebe nun für Ärger sorgen, müssen wir herausfinden.“ Von Tranje setzte zu weiteren Worten an, aber Geräusche vom Hauptdeck unter ihnen unterbrachen ihn. Sie spähten nach unten und erblickten eine Vielzahl an Knappen, die um einen einzelnen nackten Körper standen.
„Es ist euer Knappe. Wollt ihr das Treiben nicht unterbinden?“, flüsterte Jessica leise, um nicht bemerkt zu werden.
„Die Lektionen eines Kämpfers bestehen nicht nur im Halten eines Schwertes“, erwiderte er freundlich und blickte weiter Richtung Hauptdeck, das mittlerweile fast wieder leer war. Den Tränen nahe wirkte die einzig verbliebene Gestalt wie ein nacktes Häufchen Elend, dass mit seinem Schicksal haderte. Der innere Konflikt war ihm deutlich anzusehen doch offenbar gewann die trotzige Seite in ihm, denn wieder und wieder verschwand er im Unterdeck und wurde ebenso oft wieder nach oben geschleppt. Von Tranje lächelte zufrieden vor sich hin.
„Entschuldigt mich eure Hoheit. Ich muss ein weiteres angekratztes Selbstbewusstsein aufrichten.“ Damit begab er sich die Treppe hinunter. Jessica konnte den Blick nicht von dem Knappen lassen. Noch nie hatte sie jemanden in dieser Verletzlichkeit erblickt. Auf einem riesigen Meer, in einer unbekannten Umgebung, ohne Kleidung und ohne Freunde muss das Gefühl der Verlorenheit unendlich sein. Sie wollte nicht, dass jemand, dem sie ihr Leben verdankte, auf diese Weise leidet und so beschloss sie, ihm zeitnah ein wenig königlichen Zuspruch zukommen zu lassen.
Die persönliche Danksagung am nächsten Morgen, zu der zwar keine Verpflichtung bestand, aber die durch ihr schlechtes Gewissen als längst überfällig eingestuft worden war, nahm sie zum Anlass, um die königliche Etikette zu strapazieren. Kontakte zur unteren Schicht waren nicht verboten, aber riefen doch einiges an Aufsehen hervor und so war ihr die Unsicherheit deutlich anzusehen. Mit zwiespältigen Gefühlen kehrte sie nach der tollpatschigen Erfahrung in ihre Kabine zurück und fühlte sich zwiespältiger den je.
Der kurze Halt auf der Rotinsel durchbrach die eingeschliffene Routine für ein paar Stunden, aber bereits am nächsten Tag drohte durch die Unendlichkeit des Meeres erneut Langeweile. Die ersten Spannungen auf Grund der beengten Verhältnisse hatten bereits zu Unstimmigkeiten innerhalb ihres Gefolges geführt. Kämpfer, die zum Warten verdammt waren und in Ermangelung einer Herausforderung ihre Energie gegen Verbündete umleiteten, stellten eine Gefahr für den inneren Zusammenhalt da. In dem Moment, in dem der Rückfall in die lethargische Unzufriedenheit unvermeidlich schien, änderte sich ihre Situation.
Es war Kapitän Polpers Stimme, die in ungewohnt hektischer Art und Weise Anweisungen über das Hauptdeck brüllte. Unwetter zog auf und als die erste Welle gegen den Bug der "Stolz von Galatien" prallte, zog sich Jessica in ihre Kabine zurück. Angst überkam sie, als sie allein auf ihrem viel zu großen Bett saß und den Launen des Sturmes ausgesetzt war. Sie überlegte, sich wie ein kleines Kind unter die Bettdecke zu verkriechen, aber ihr Stolz unterband diese Möglichkeit. Tosend knallte der Wind gegen die geschlossenen Fensterladen, die ihr den Ausblick aufs Meer versperrten. Der Wellengang zwang sie sich am Bettpfosten festzuhalten und plötzlich wirkte die Kabine, wie eine große geschlossene Kiste, die dem tobenden Meer überlassen wurde. Das bedrückende Gefühl ihr Schicksal nicht mehr in der eigenen Hand zu haben, entmutigte sie für den Moment.
Zur Ablenkung suchte sie nach Erinnerungen, die mit ihrer Wärme der Angst trotzen konnten. Doch da existierte nicht viel. Ihr Leben in Saetung wurde seit ihrer frühsten Kindheit durch gesellschaftliche Normen geprägt. Das Verhältnis zu ihrem Vater war distanziert, also kramte sie die wenigen Erinnerungen an ihre Mutter hervor. Der Schmerz des Verlustes durchflutete sie sofort und stellte den Orkan außerhalb ihres brüchigen Holzgefängnis für einen Moment in den Hintergrund. Der verklärte Rückblick zeigte eine gutmütige, aber auch starke Frau, die sich den Konventionen des Hofes entgegenstellte und dem Reich ihren eigenen Zauber verlieh. Es war Jessica unmöglich Beweise für dieses selbst geschaffene Bild zu finden, da sie aber auch keinerlei Erinnerung besaß, die diese Illusion widerlegten, hielt sie an der Perfektion ihrer Mutter fest. Nie hatte sie es gewagt bei ihrem Vater nach ihr zu fragen, auch weil sie befürchtete, dass sie das Denkmal dadurch beschädigen könnte. Es war ihr Halt, den sie in Situationen wie dieser nutzen konnte.
Der Sturm dauerte an. Nach etwa einer Stunde hatte sie ihren Frieden mit den widrigen Bedingungen geschlossen. Der Glaube an die Unzerstörbarkeit dieses Schiffes hatte die Oberhand gewonnen und so entspannte sich Jessica ein wenig. Die "Stolz von Galatien" machte ihrem Namen alle Ehre und widerstand den Launen des Meeresgottes. Das Gefühl für Zeit war ihr mittlerweile abhandengekommen und so fiel es ihr schwer die Dauer des gesamten Unwetters einzuordnen. Tapfer ertrug sie die Prüfung, die ihr auferlegt wurde und als die tosenden Winde langsam abflauten, arbeitete Jessicas Verstand bereits daran, die Ereignisse nach dem Sturm zu koordinieren. Entschlossenes Auftreten war notwendig und auch wenn sie nicht wusste, welche Schäden sie erwartete, musste sie die angelernte Souveränität von der ersten Sekunde an verbreiten. Kein Anzeichen von Zögern durfte erkennbar seien. Immerhin erlaubte man ihr noch die eine oder andere Fehlentscheidung. Ein Zugeständnis an ihre Jugend. Was sie nicht durfte, war Schwäche zeigen. Diese Eigenschaft war selbst einer Prinzessin nicht würdig.
Es war bereits Nacht, als sie sich wieder auf das Hauptdeck wagte. Der Wind fauchte unangenehm von Steuerbord und verbreitete ungewohnte Kälte. Auf den ersten Blick konnte Jessica im spärlichen Schein der Lampen keine Schäden erkennen. Erst als Kapitän Polpers, seinen Bericht ablieferte, begriff sie, dass der Sturm verheerende Zerstörungen angerichtet hatte. Sie folgte den Ausführungen, ohne im Detail zu begreifen, was alles nicht mehr funktionierte. Die Gewissheit, dass sie vollkommen unfähig waren zu manövrieren, begriff auch sie. Sie unterbrach die viel zu ausführliche Beschreibung der Probleme und verlangte einen Plan für das weitere Vorgehen.
„Was wir brauchen ist Tran, Tuch und Holz. Letzteres haben wir nicht ausreichend an Bord. Das ist unser größtes Problem. Ich kenne die Schäden auf der „Kibely“ noch nicht, aber sie werden ähnlich sein.“ Die ruhige Art mit der der Mangel vorgetragen wurde, überraschte Jessica. Sie musterte den Kapitän, ob er die ihrer Ansicht nach vorherrschende Ausweglosigkeit nur überspielte. Die Erfahrung auf See hatte ihn eine gewisse Gelassenheit in kritischen Situationen gelehrt.
„Das sind Probleme, die wir lösen können. Wir machen aus zwei beschädigten Schiffen ein funktionierendes und nehmen das andere in Schlepptau, bis wir auf Land treffen und damit auch auf Holz. Viel mehr Sorgen macht mir der Himmel.“ Polpers zeigte mit dem Finger nach oben. Zwischen den Wolken funkelten die ersten Sterne.
„Droht uns ein weiteres Unwetter?“, fragte Jessica verwirrt.
„Das nicht, aber ich kenne nicht einen einzigen von denen da oben“, erklärte er mystisch.
„Der Sternenhimmel hat seine vertraute Form verloren“, erklärte von Tranje, der mittlerweile an Jessicas Seite stand.
„Wie können sich in so kurzer Zeit die Gestirne komplett verändern?“, fragte Polpers beunruhigt.
„Wir sind angekommen in Askalan und glauben Sie mir werter Kapitän, dass die fremden Sterne noch die kleinste Überraschung seien werden.“ Von Tranjes Blick wanderte vom Gesicht des Kapitäns zum Horizont.
„Wir sind der Lösung unserer unmittelbaren Probleme näher als wir dachten.“ Von Tranje lenkte mit einem Nicken die Aufmerksamkeit alle Anwesenden auf den unscheinbar wirkenden winzigen Lichtpunkt in der umgebenden Finsternis. Sämtliche Blicke saugten sich an dem kaum zu erkennenden Licht fest.
„Askalan?“, fragte Jessica.
„Vermutlich“, sagte von Tranje.
„Auf alle Fälle Land und damit Holz. Ein paar Tage benötigen wir, um die Schiffe wieder seetauglich zu machen. Dann segeln wir soweit Richtung Osten, bis wir die Sterne wiedererkennen.“ In Aussicht einer lösbaren Aufgabe verfiel Polpers in neuen Tatendrang.
„Hoffen wir, dass diejenigen, die das Licht entfacht haben uns auch freundlich gesinnt sind.“ Jessicas Gedanken kreisten bereits um das unausweichliche Zusammentreffen am nächsten Morgen.
„Diese Zweifel sind dort drüben wohl ähnlich groß wie bei uns.“ Von Tranjes Blick blieb am jetzt dunklen Horizont hängen. Der winzige Lichtpunkt war verschwunden.
„Sie haben uns entdeckt. Sei es drum. Im Morgengrauen brechen wir mit den Beibooten auf.“ Jessica wirkte entschlossen, aber Polpers schien mit einem verlegenen Räuspern etwas dagegen zu haben.
„Verzeihung euer Hoheit. Ich benötige die Boote, um die Schiffe Richtung Land zu schleppen.“ Er wirkte verlegen aber fordernd. Eine seltsame Mischung wie Jessica fand.
„Tut mir leid, aber Euer Plan muss mit einem Boot weniger auskommen. Wer immer dort drüben auch ist? Wir brauchen deren Hilfe.“ Damit begab sie sich in ihre Kabine zurück. Es blieben nur fünf Stunden, bis die Sonne aufging und übermüdet wollte sie sich dem neuen Abenteuer nicht stellen. Sie warf sich in das einzige Bett an Bord der "Stolz von Galatien" und genoss eine der Vorzüge ihrer königlichen Herkunft. Trotz der Aufregung die Mythen von Askalan endlich auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen zu können, überkam sie der Schlaf sofort. Am nächsten Morgen würde ihre Reise endgültig beginnen.
Jessica verzichtete am nächsten Morgen auf das bereitgestellte Frühstück und begab sich direkt auf das Oberdeck. Die Morgendämmerung erhellte Stück für Stück die Umgebung und der Wind, der noch vor wenigen Stunden orkanartig die Schiffe in diesen erbärmlichen Zustand versetzt hatte, war zu einem lauen Lüftchen verkommen. Der Osten färbte sich rot vom Licht der aufgehenden Sonne und im Westen zeichneten sich die ersten Konturen von Askalan ab. Gab es am Vorabend noch Befürchtungen, dass das Land nur ein karger Felsbrocken ohne Vegetation seien könnte, wurden diese spätestens mit dem Auftauchen eines Dschungels zerstreut. Weiße Sandstrände gingen über in das Grün exotischer Bäume und die wurden wiederum durch einen wolkenlosen blauen Himmel überragt. Das Meer und die gleißende Sonne komplettierten die Mischung aus fremdartiger Natur und vertrauten Formen. Mit Ausnahme von von Tranje hatte keiner der Anwesenden einen solch paradiesischen Anblick zuvor gesehen.
„Die Sonne ist noch keine halbe Stunde am Himmel und es ist wärmer als zur besten Sommerzeit auf Osos“, bemerkte Jessica.
„Die feuchte Luft ist das eigentliche Übel. Ihr werdet eine gewisse Zeit brauchen Euch daran zu gewöhnen“, erwiderte von Tranje.
„Ihr wart bereits auf Askalan. Erkennt Ihr diesen Ort?“
„Hundert Jahre sind eine lange Zeit. Trotzdem bin ich mir relativ sicher, dass der Ursprung des Lichtes in der alten Hafenstadt Spuuun zu finden ist.“
„Ein recht seltsamer Name für eine Stadt.“
„Ihre Bewohner waren auch ein recht seltsames Volk. Die Askeleten benannten ihr Eigentum mit dem übermäßigen Gebrauch an Vokalen.“
„Diese Askeleten sind hoffentlich trotz ihrer Eigenart ein friedliebendes Volk?“, fragte Jessica.
„Ich bezweifle, dass die jetzigen Bewohner Askeleten sind. Wie alles andere sind sie damals Waskur zum Opfer gefallen.“ Von Tranje klang traurig.
„Wen haben wir dann letzte Nacht gesehen?“
„Das gilt es herauszufinden. Wir haben nur ein Boot. Mein Knappe und ich werden die Erkundung anführen. Ihr entscheidet, welche drei Ritter uns begleiten werden.“
„Ihr irrt Euch werter von Tranje. Ich werde die Erkundung anführen. Neben Euch und eurem Knappen werde ich Bennet von Burmunt einschließlich Knappen mit auf das Boot nehmen.“
„Wir wissen nicht, was uns dort drüben erwartet. Es ist nicht sehr ratsam die Königstochter auf eine Aufklärung vorweg zu schicken.“
„Wir haben keine Zeit zu verschwenden. Die Aufgaben sind so vielseitig, dass wir nicht zaudern dürfen“, erwiderte Jessica.
„Ungeduld ist der Jugend tot. Anderseits. Wie solltet Ihr aus euren Fehlern lernen, wenn Ihr Euch nie die Finger verbrennt.“
Jessica verschwand in ihrer Kabine. Es behagte ihr nicht gegen den Willen von von Tranje zu handeln, aber einerseits war ihre Neugier so groß, dass nur schwer dagegen anzugehen war und anderseits hatten sie wirklich keine Zeit zu verlieren, so dass übermäßige Vorsicht sie nur bremsen würde.
Sie zog ihre goldene Rüstung an. Eine Sonderanfertigung, die ohne fremde Hilfe angelegt werden konnte. Eine Tatsache, die ihrem Geschlecht geschuldet war, denn weibliche Knappen gab es keine. Ein Punkt auf der Liste, den sie ändern wollte, sobald sie Königin war.
Sie trat auf das Hauptdeck und fand die Gruppe vor, die sie begleiten würde. Scham machte sich breit, als sie von Tranjes Knappen erblickte. In einem schwachen Moment hatte sie die Kontrolle über ihre Emotionen verloren und sich viel zu sehr geöffnet. Ein eigentlich gutes Gefühl, aber einer angehenden Königin unwürdig.
Zu ihrer Überraschung war auch bei ihm Scham das vorherrschende Gefühl. Eine Nachwirkung der unwürdigen Erniedrigung, die er durch seine Kameraden erfuhr und dass ausgerechnet vor den Augen seiner Anführerin. Während sie mit angelernter Souveränität den vorherrschenden Gefühlszustand überdecken konnte, leuchtete seine Unsicherheit, wie ein Leuchtturm in finsterster Nacht. Sie lächelte unbewusst über seine Unfähigkeit zur Täuschung. Das tat sie nicht aus Schadenfreude. Seine naive Art besaß mehr Ehrlichkeit, als der gesamte Hofstaat zusammen und damit war er etwas außergewöhnliches in einer Welt voller Intrigen.
Sie verließen das Schiff über eine Strickleiter und der Abstieg auf das wartende Boot verursachte einen Schweißausbruch bei Jessica. Sie beneidete die beiden Knappen für ihre luftige Kleidung, die zwar im Falle eines Kampfes zu einem schnellen Tod führen könnte, aber bei diesen klimatischen Bedingungen die bessere Wahl war.
Ihre Rüstung verhinderte jegliche Luftzirkulation an ihrem Körper und das reflektierende Sonnenlicht ließ sie funkeln wie die Hauptattraktion auf einem Jahrmarkt. Sie schaute rüber zu Burmunt, der mit ähnlichen Nebenwirkungen zu kämpfen hatte.
„Wie ich sehe verzichtet Ihr auf jeglichen Schutz“, bemerkte Burmunt von Tranjes ungewöhnliche Kleidung. Tatsächlich wirkte er wie ein bewaffneter Pilger in einfachem Gewand.
„Ich passe mich dem Offensichtlichen an und das ist nun mal diese gnadenlose Hitze“, antwortete von Tranje amüsiert. Die Knappen legten sich in die Riemen und ruderten auf die Küste zu. Von einer Hafenstadt war weit und breit nichts zu sehen, so dass sie sich mit der Navigation schwertaten.
„Ich glaube Ihr habt Euch geirrt mit der Stadt Spuuun“, zweifelte Jessica.
„Jetzt, da wir näher an der Küste sind, bin ich mir umso sicherer. Seht Ihr die kleine Bucht dort drüben? Sie wurde künstlich angelegt und diente als öffentliches Bad. Dieser überwucherte Stein dort drüben, war ein Denkmal. Für was, weiß ich nicht mehr. Sobald wir diesen Felsen passiert haben, sollte sich das Wahrzeichen der Stadt offenbaren“, erklärte von Tranje euphorisch.
Die Knappen ruderten weiter schwitzend in die angegebene Richtung und als die Sicht frei war, eröffnete sich ihnen das angekündigte Wunder. Zwei riesige steinerne Statuen standen sich links und rechts der Hafenbucht gegenüber. Ihre steinernen Gewänder waren schwer einer Zunft zuzuordnen, aber sie wirkten trotz ihrer gekreuzten Äxte nicht kriegerisch. Die Waffen bildeten eine Art Bogen, welcher die gesamte Bucht überragte. Jedes Schiff, das gewillt war an den Kaimauern von Spuuun anzulegen, musste unter diesem Bauwerk hindurch segeln. Obwohl die beiden mehr als hundert Jahre gemeinsam das Eingangsportal der Stadt darstellten, war keinerlei Verfall ersichtlich. Der Zustand schien tadellos im Gegensatz zum Rest der Stadt. Die verwahrlosten und überwucherten Ruinen waren nur bei genauer Betrachtung zu erkennen.
„Ribus und Zekerus. Die Gründerväter der Stadt“, setzte von Tranje zur Erklärung an.
„Es heißt, die Askeleten wären die ersten Menschen auf Askalan gewesen. Es gibt keinerlei Aufzeichnungen darüber, daher ist es mehr Legende als Tatsache.“
„Es macht nicht den Eindruck, als ob hier jemand leben würde.“ Burmunt klang skeptisch.
„Und doch haben wir gestern das Feuer gesehen. Wir sollten dort drüben anlegen“, wies von Tranje die Knappen an.
Das Boot steuerte auf einen Felsvorsprung zu, der außerhalb der eigentlichen Hafenbucht lag. Spuuun war eingerahmt von hohen Felsklippen, die in Kontrast zu den flachen Sandstränden der Umgebung standen. Als hätte ein launischer Gott in seiner Schaffenskraft riesige Steinbrocken um die Bucht errichtet, damit kein Fremder neugierige Blicke hineinwerfen konnte. Ein seltsamer Standort für eine Stadt, von einem seltsamen Volk, auf einem seltsamen Kontinent. Jessicas logisches Denken listete sofort die Nachteile für die Verwaltung einer solch eingekesselten Stadt auf. Warum nicht einer der Sandstrände als Ursprung gewählt wurde, erschloss sich ihr nicht. Sie schaute in die steinernen Gesichter ihrer Gründer, als könnte sie die Gedanken und damit die Gründe für die eigentümliche Wahl finden.
Sie verließen das Boot am Ende des nördlichen Felsens, der sanft abfiel und in die übliche Landschaft von Strand und Dschungel überging. Die Sonne stand jetzt höher und die morgendliche Wärme verwandelte sich mehr und mehr in unerträgliche Hitze. Der sanfte Wind schickte das verdunstete Wasser Richtung Festland und trug seinen Teil zur Qual bei. Die mit Algen überzogenen Steine machten jeden Schritt der Neuankömmlinge zur glitschigen Herausforderung. Mühsam passierten sie das feuchte Geröll, bis sie endlich festen Boden unter den Füßen hatten.
„Ein Pfad. Wir stehen auf einem Pfad.“ Burmunts Knappe hatte etwas erkannt, was Jessica auf den ersten Blick verwehrt blieb. Erst bei genauerer Betrachtung konnte sie die grüne Vegetation im Zentrum als weniger ausgeprägt einordnen.
„Gutes Auge“, lobte ihn von Tranje. Dieser unscheinbare Weg war vor kurzem benutzt worden. Ein paar niedergetretene Grasshalme waren zu erkennen.
„Er geht vermutlich die komplette Küstenlinie entlang. Vom Strand im Norden bis zur Bucht von Spuuun“, schlussfolgerte Jessica.
„Hier verläuft eine Spur. Sie führt Richtung Strand“, steuerte Burmunt seinen Teil bei.
„Bursche. Was sagst du? Du bist in der Natur aufgewachsen“, forderte von Tranje seinen Knappen auf Schlussfolgerung über den viel zu deutlichen Abdruck zu schließen.
„Ich denke es sind zwei Personen“, wagte dieser eine Einschätzung.
„Sehr gut. Und warum?“, forderte ihn von Tranje erneut auf.
„Die Ferse ist tiefer als der Rest.“
„Wunderbar. Wir machen noch einen Fährtenleser aus dir“, lobte von Tranje seinen Knappen euphorisch.
„Was bedeutet das?“, fragte Jessica.
„Jemand trägt eine weitere Person und versucht uns damit zu täuschen, in dem dieser jemand rückwärts läuft. Ich würde sogar soweit gehen, dass es sich hier um eine weibliche Person handelt“, erklärte von Tranje.
„Warum nicht ein Knabe mit kleinem Fuß?“, fragte ein sichtlich verschwitzter Burmunt.
„Zu große Schrittlänge. Es handelt sich hier offensichtlich um eine Frau mit langen Beinen und zierlichem Fuß. Wir sollten zur Stadt.“ Ein kurzes Nicken von Jessica und von Tranje bewegte sich in die angegebene Richtung.
Der Pfad war karg und übersäht mit Steinen, die sich im Laufe der Zeit von der Felswand gelöst hatten. Mit jedem Schritt Richtung Stadt wuchs das Massiv im Westen Meter um Meter. Die Sonne im Osten enthielt ihnen jegliche Form von Schatten vor und das Meer schickte seine Wellen sanft gegen die steinigen Strände. Ein beruhigendes Rauschen, dass gelegentlich durch das wilde Gekreische der Möwen durchbrochen wurde. Die Hitze wurde unerträglich und gerade als Jessica eine Pause erwog, stoppte von Tranje.
„Was habt ihr?“, fragte Burmunt.
„Seht nach vorn“, wies ihn von Tranje an. Tatsächlich änderte sich das Gelände zu ihrem Nachteil. War bisher alles karg, schmal und gut einsehbar, fächerte sich vor ihnen alles auf. Die Felswand bog nach Westen ab, während sich die Küste Richtung Süden verlagerte und der Pfad sich zu einem Weg verbreiterte. Das wirkliche Problem bestand in den ersten Ruinen rechts und links, die sich für einen Hinterhalt förmlich anboten.
„Die Spur endet hier“, zischte von Tranje leise und musterte die Umgebung. Er zog sein Schwert und steckte es mit der Klinge voraus in den sandigen Boden des Pfades. Danach hob er seine Hände auf die Höhe seines Kopfes und machte ein paar Schritte vorwärts.
„Wir haben keinen Argwohn im Sinn“, rief er laut ohne jegliche Feindseeligkeit in der Stimme. Er wagte ein paar weitere Schritte, als die Luft durch ein zischendes Geräusch durchschnitten wurde. Ein Pfeil schlug keine drei Fuß vor ihm in den Boden ein. Burmund und Jessica griffen im Einklang zu ihren Schwertern, aber von Tranje beruhigte sie mit einer abwehrenden Handgeste.
„Wir sind keine Feinde. Wir bieten Hilfe.“ Vorsichtig näherte er sich der Abschussstelle des Pfeils, immer noch die Hände auf Höhe seiner Schultern.
„Was tut er da? Ein Wort von Euch und ich lege diese Ruinen endgültig in Asche“, bot sich Burmunt der Prinzessin an. Jessica schwankte in ihrer Entscheidung. Es war Wahnsinn, was von Tranje dort versuchte, aber das Vertrauen in ihn war groß.
„Ich hoffe, er weiß, was er da tut. Haltet Euch vorerst zurück mit der Klinge“, befahl sie und sah von Tranje in einem mit Wildwuchs zu gedecktem Gebäude verschwinden. Ewige Zeit verging und das Fehlen jeglicher Lebenszeichen zwang Jessica zu einer Entscheidung.
„Gut wir gehen gemeinsam rein“, entschied sie und zog ihr Schwert.
Ihr Puls raste, als sie an den Resten einer Mauer Deckung suchte. Der Mangel an Erfahrungen im Häuserkampf und die Tatsache, dass ihr Gegner über Pfeil und Bogen verfügte, ließ sie verkrampfen. Die Gefahr einfach nieder gestreckt zu werden und ihrem Scharfrichter nicht mal erblickt zu haben, drohte ihr Handeln zu lähmen. Sie zwang sich vorwärts und gemeinsam mit Burmunt erreichten sie den Eingang ohne angegriffen zu werden. Die Erleichterung über diesen Erfolg währte nur kurz und konnte ihre Anspannung nicht lösen.
Burmunt positionierte sich ihr gegenüber und auf Absprache stürmten sie gemeinsam mit erhobenem Schwert in die Ruine. Sie sprangen über verstreut liegende Steine in einen Raum, dessen Decke zur Hälfte eingestürzt war. Das einfallende Sonnenlicht beleuchtete eine absurde Szenerie. Während von Tranje in der hinteren Ecke mit erhobenen Händen relativ gelassen das Treiben beobachtete, stand vor ihm eine Frau mit gespanntem Bogen und bedrohte ihn.
„Heg wei“, schrie sie verwirrt durch Jessicas goldene Rüstung.
„Das bedeutet „stehen bleiben“. Ein guter Rat, denn die Situation ist bereits unter Kontrolle“, übersetzte von Tranje.
„Ist dem wirklich so?“, fragte Burmunt skeptisch. Erst jetzt bemerkte Jessica eine weitere Person im Raum, die blutend in der gegenüber liegenden Ecke lag.
„Das ist Sasha“, stellte von Tranje die Bogenschützin vor, als würden sie sich auf einem offiziellen Empfang befinden. Sasha war auf Grund der höflichen und gelassenen Art ihrer vermeintlichen Geisel sichtlich irritiert.
„Sasha, das ist Jessica, Thronerbin von Galatien. Auch wenn Ihr mit dem Ort nichts anfangen könnt, sie ist von königlicher Abstammung. Eine sehr höfliche und wohlerzogene Prinzessin, die weiß, wann es Zeit ist die Waffen zu strecken.“ Von Tranje bedachte Jessica mit dem gleichen ruhigen Tonfall, den er zuvor bei Sasha anwandte. Die Entspannung aller Beteiligten im Raum war deutlich zu spüren, als Jessica ihr Schwert senkte.
„Fur dek Cem?“, fragte Sasha weiterhin den Bogen auf von Tranje gerichtet.
„Wir sind hier, um zu helfen. Euer Gefährte benötigt Arznei. Burmunt. Seid Ihr so freundlich und holt die Arzneitasche.“ Der Angesprochene zögerte, setzte sich aber in Bewegung, als Jessica die Anweisung mit einem kurzen Kopfnicken bestätigte. Zeit verging, in der Jessica einen genaueren Blick auf die Bogenschützin wagte.
Sie besaß ein markantes Merkmal, das sie offensichtlich mit ihrem Gefährten teilte. In Galatien kam es gelegentlich vor, dass Kinder mit grünen Augen geboren wurden und für gewöhnlich wurde dieser Tatsache wenig Aufmerksamkeit beigemessen, aber ein Kind, dass die Augen von Sasha hätte, würde dem Zorn der Götter zugesprochen werden. Sie strahlten regelrecht in ihrer Intensität von grün und es fiel Jessica schwer sich diesem außergewöhnlichen Anblick zu entziehen.
Diese Tatsache erschwerte einen Gesamteindruck über Sasha, aber sie konnte nicht älter als zwanzig Jahre sein. Auf Askalan konnte das Äußere trügerisch sein. Immerhin war von Tranje über hundert Jahre alt und die waren ihm nun wirklich nicht anzusehen. Ihre Haut war ungewöhnlich bleich, was bei der Sonne dort draußen sicherlich kein Vorteil war. Ihr langes schwarzes Haar war verfilzt und untermauerte das rebellische Gesicht, aus dem ihre Augen angriffslustig funkelten. Für Jessica war Sasha durch ihre Kombination aus Augenfarbe, Hautteint und Haare trotz ihres menschlichen Aussehens ein Wesen einer fremden Welt. Auch ohne das grün ihrer Augen wirkte Sasha exotisch. Ihre Kleidung bestätigte den vorherrschenden Eindruck eines Mädchens, was in einer fremdartigen Natur zu Hause war und nie in eine Zivilisation wie Galatien passen würde. Das einfache dunkle Leinen war abgetragen und zerschlissen und an der Stelle wo eigentlich Schuhe seien sollten, umhüllten mehrere Bahnen Stoff ihre Füße.
„Rashta zek Falut goran“, versuchte sich von Tranje in der Sprache der Fremden, erntete aber nur ein fragendes Gesicht.
„Ich fürchte die alte Sprache ist mir nicht mehr geläufig. Bitte nehmt den Bogen runter“, bat er freundlich. Sasha zögerte, obwohl sie diesmal die Bitte zweifelsohne verstanden hatte. Burmunt tauchte in der Tür auf und sorgte einen Moment für erneute Spannungen.
„Ganz ruhig. Die Arznei für euren Gefährten“, beruhigte von Tranje erneut und griff nach der Tasche. Er ignorierte Sashas Bogen und begab sich direkt zu dem Verwundeten am Boden.
„Er hat viel Blut verloren“, zeigte sich von Tranje besorgt.
„Ich habe versucht Illmen-Kraut zu finden, aber es wächst so selten an der Küste“, verfiel Sasha in die gleiche Sprache.
„Wir haben es in unseren Vorräten.“ Von Tranje kramte eine getrocknete lila Blüte aus der Tasche.
„Wir brauchen Wasser, um sie aufzulösen“, forderte er.
„Nein kein Wasser. Das schwächt die Wirkung. Ich zerreibe es und gebe es direkt auf die Wunde“, widersprach Sasha und entriss ihm die Blüte.
„Das kann zu Blutvergiftung führen“, protestierte von Tranje.
„Alvor ist stark. Seine Zeit ist noch nicht gekommen.“
„Ich bewundere eure Zuversicht, aber ... “ weiter kam er nicht, denn Sasha verstreute das zerriebene Pulver bereits in der Wunde.
„Noch mehr jugendliche Unvernunft“, resignierte von Tranje. Sasha wollte nach ihrem Bogen greifen, aber Burmunt hatte sich dessen bemächtigt, während sie ihren Gefährten versorgte.
„Gebt ihr den Bogen zurück“, forderte von Tranje gelangweilt, aber Burmunt verweigerte die Herausgabe. Eine Entscheidung, mit der Sasha nicht einverstanden war. Sie attackierte ihn und obwohl Burmunt dem ersten Schlag ausweichen konnte, wurde er bei seinem eigenen Konter von den Beinen geholt. In fließender Bewegung entkam sie seiner Faust, um ihn anschließend mit einem Tritt in die rechte Kniekehle zu überraschen. Diese Eleganz in ihren Bewegungen beeindruckte Jessica.
„So viel glänzendes Metall. Da ist es einfach die Schwachstelle zu finden“, verspottete Sasha den knienden Burmunt und ergriff ihren Bogen. Der versuchte die schmerzhaften Folgen ihres Trittes mit Souveränität zu überspielen, aber er hatte Mühe auf die Beine zu kommen. Er gönnte sich einen Moment Pause und plante einen erneuten Angriff.
„Lasst es gut sein“, befahl Jessica und widerwillig brach Burmunt ab.
„Es ist zu deinem eigenen Wohl“, schob Sasha spöttisch nach und provozierte Burmunt gleich doppelt. Die angedeutete Überlegenheit war eine Sache, aber der mangelnde Respekt vor seinem erhobenen Stand empörte ihn.
„Was ist passiert?“, fragte Jessica und deutete auf den Verwundeten. Mit ihrer Frage versuchte sie etwas Vertrauen aufzubauen.
„Das geht dich nichts an.“ Offenbar vergeblich.
„Ihr habt der Königstochter gefälligst Respekt entgegenzubringen“, fauchte Burmunt.
„Ihr Vater ist nicht mein König“, zischte Sasha.
„Eine sehr ungewöhnliche Wunde. Kein Pfeil und auch kein Schwert waren die Ursache“, schlussfolgerte von Tranje.
„Eine Utcha-Kralle“, erklärte Sasha.
„Ihr hattet Streit mit einem Utcha und habt es überlebt?“, zeigte von Tranje seine Anerkennung.
„Bösartige Kreaturen. Überragen in der Regel einen Mann um zwei Kopfgrößen. Ziemlich behaart und stinken fürchterlich“, erklärte er weiter, als er in das fragende Gesicht von Jessica schaute.
„Ich habe ihn erlöst von diesem grausigen Schicksal“, sagte Sasha voller Befriedigung.
„Respekt. Eine Plage weniger, aber das Unangenehme an Utchas ist, sie treten immer in Gruppen auf. Sagt mir, dass Ihr ein dutzend Weitere getötet habt.“
„Zu meinem Bedauern nein.“
„Dann sind sie hinter Euch her. Sie werden sich nicht mit dem Geringeren als euren Tod zufrieden geben.“ Mit von Tranjes Ruhe war es schlagartig vorbei.
„Eure Hoheit. Wir sollten sofort zurück aufs Schiff und dringend mit Verstärkung zurückkehren.“
„Alvor ist zu schwach für eine weitere Flucht und einfach zurücklassen können wir die beiden nicht“, erklärte Jessica.
„Es ist zu spät. Sie waren keinen halben Tagesmarsch hinter uns. Ihr würdet ihnen unweigerlich begegnen“, erklärte Sasha.
„Dann bleibt nur der Kampf. Verratet Ihr mir wenigstens den Grund für den Groll gegen Euch?“, fragte von Tranje Richtung Alvor.
„Das sind Utchas. Die brauchen keinen Grund zum Töten.“
„So primitiv und einfältig diese Kreaturen auch sind, sie haben immer einen Herrn, der sie führt und in Zaum hält. Offenbar habt Ihr diesen Herren verärgert. Welche Anzahl erwartet uns?“
„Ein Aufklärungstrupp besteht meistens aus sechs oder sieben. Mein Bruder hat ihren Späher getötet.“ Jessica ahnte bereits, dass die beiden verwandt waren.
„Womöglich ein Vorteil. Sie stürzen sich hoffentlich ohne Aufklärung in den Kampf. Wir sollten Vorbereitungen treffen. Ich bin mir nicht sicher, ob eure Waffen funktionieren.“ Von Tranje zeigte auf das Schwert der Königstochter.
„Eine solch wunderschöne Waffe. Warum sollte sie keine Utchas töten können?“ fragte Sasha.
„Dinge von Osos versagen ihre Dienste auf Askalan.“
„Ihr seid von jenseits des großen Meeres?“ Sasha war erstaunt.
„Wir erklären es später. Habt ihr Waffen, die ihr uns überlassen könnt?“ Sasha zückte ihr Kurzschwert.
„Der Bogen liegt mir sowieso mehr.“ Sie reichte das arg lädierte Schwert der Königstochter.
„Nutzt eure eigene Waffe zur Abwehr und das Kurzschwert zum Angriff. Wir ziehen schneller in den Kampf, als uns lieb ist.“ Von Tranje war in seinem Element als Heerführer, auch wenn sein Heer aus nur sechs Kämpfern bestand.
Azul schwitzte, als er gemeinsam mit Thore das Boot Richtung Ufer steuerte. Die Anstrengung trat in den Hintergrund, denn die Fantasien über die Reaktion des Stabes beim Betreten des Festlandes überschlugen sich. Entweder erfuhr er eine neue Stärke, die ihn gemeinsam mit dem Stab zu furchtlosen Heldentaten führen würde oder der Stab würde eine unheilvolle Wirkung auf ihn ausüben, was ihn zu nicht weniger unheilvollen Taten zwingen würde. Der Zerstörer der Welten geisterte durch seinen Kopf, aber als er dann die glitschigen Steine von Askalan betrat, passierte weder das eine noch das andere. Der Stab verweigerte ihm jegliche Reaktion auf die wieder gewonnene Heimat und bestrafte ihn stattdessen mit Nichtachtung. Enttäuschung machte sich in Azul breit, denn wenigstens das gewohnte Zittern, das schon des Öfteren als Vorbote ungewöhnlicher Ereignisse diente, hatte er erwartet.
Sie folgten einer Fährte Richtung Westen, die offensichtlich als Täuschung angelegt wurde, um sie in die Irre zu führen, aber selbst Azul mit seinen beschränkten Fähigkeiten, konnte die Finte erkennen. In der kleinen Gruppe war es für ihn unmöglich in die gewohnte Anonymität zu flüchten. Er stand jetzt unter ständiger Beobachtung der Prinzessin und jegliche Nähe hatte in der Vergangenheit zu überwiegend peinlichen Ereignissen geführt. Das Selbstvertrauen, das er kurzfristig aus dem "Bezwinger der Schattenwölfe" gezogen hatte, war spätestens mit der entwürdigenden Lektion seiner Kameraden an Bord der "Stolz von Galatien" dahin. Den ganzen Weg über hielt er sich am Ende des Erkundungstrupps auf und versuchte so viel wie möglich Abstand zwischen sich und der königlichen Hoheit zu bekommen. So kam es ihm ganz gelegen, das er am Rand der Ruinenstadt mit Thore allein zurückgelassen wurde.
Eine halbe Stunde saßen sie nun bereits auf diesem Felsen, ohne dass sie wussten, was im Inneren des verfallenen Gebäudes passierte. Burmunt war wortkarg, als er die Medizintasche von ihnen verlangte und wieder verschwand, als wären sie nur niedere Wesen, die keinerlei Aufklärung bedurften.
"Was meinst du? Feiern die eine Orgie da drinnen?" fragte Thore ohne wirklich eine Antwort zu erwarten.
"Vielleicht hat sich die Prinzessin ja wund gescheuert und sie brauchen etwas Salbe." grinste er. Azul war es nicht gewohnt, dass Knappen so vertraut mit ihm sprachen, aber offenbar hatte die Langeweile bei Thore die Abneigung vor ihm übertroffen.
"Hör zu. Das auf dem Schiff war großer Mist." Es kostete Thore ordentlich Überwindung sich zu entschuldigen.
"Wir wären alle längst Wolfsfutter, wenn du nicht gewesen wärst." fuhr er fort. Azul fand immer noch keine Worte um zu antworten.
"Shane will dich tot sehen. Was immer auch euer Problem ist, du solltest dich vorsehen. Ich kenne diesen Menschenschlag. Die haben keinerlei Skrupel."
"Danke. Deine Worte tun mir wirklich gut." rutschte es Azul viel zu demütig raus.
"Tu mir nur einen Gefallen. Rede nie wieder so abwertend über die Prinzessin." schob er nach, um wenigstens ein bisschen Biss zu zeigen.
"Abgemacht. Du musst zugeben, sie ist ein leckeres Mädel und offenbar hat sie dir mit der Titelverleihung ordentlich den Kopf verdreht." stichelte Thore trotzdem weiter.
"Sie ist mehr als "lecker". Sie ist wirklich was Besonderes." ließ sich Azul zu einer Verteidigung hinreißen.
"Vergiss nicht. Sohn eines Bauern." Thore zeigte auf ihn.
"Tochter eines Königs." Jetzt zeigte er auf das verfallene Gebäude.
"Das passt nicht." schob Thore hinterher. Azul wurde rot.
"Wir finden schon ein Mädchen für dich. Ich habe eine große Verwandtschaft. Wenn wir auf Osos zurück sind, dann..." weiter kam er nicht, denn von Tranje kam aus dem Gebäude und winkte die beiden heran.
"Wir haben ein großes Problem." warf er ihnen entgegen.
"Ein Trupp mies gelaunter Barbaren kommt auf uns zu und leider haben wir vermutlich kaum wirksame Waffen." fuhr er fort, ohne eine Reaktion abzuwarten. Eine unbekannte Frau tauchte hinter ihm auf und fesselte die Aufmerksamkeit der beiden Knappen.
"Ach ja. Das ist Sasha. Ursache unseres Problems." Azul musterte sie und blieb an ihren übermäßig grünen Augen hängen.
"Thore. Du hast eine Ausbildung zum Bogenschützen. Du wirst dich mit ihr verschanzen und unsere Gegner mit einem Pfeilhagel beglücken." erklärte von Tranje seinen Plan.
"Bursche. Du stehst mit mir in erster Reihe und gemeinsam beschäftigen wir sie, bis sie hoffentlich einem Pfeil erliegen."
"Ein sehr einfacher Plan mein Herr." wagte Azul vorsichtig Kritik.
"Das Überraschungsmoment und die mangelnde Intelligenz unserer Gegner sind unsere Trümpfe. Die Königstochter und Burmunt sind unser Rückhalt, falls was schiefgehen sollte." von Tranje verschwand wieder im Gebäude und ließ die beiden Knappen mit der Fremden allein.
"Der Bogen meines Bruders. Er liegt etwas leichter in der Hand als gewöhnlich. Vermutlich genau das Richtige für einen schwerfälligen Kerl wie dich." verspottete Sasha Thores Figur.
"Ich habe nur eine einfache Ausbildung. Ich weiß nicht, ob ich damit klarkomme." Thore fühlte sich überrumpelt. Das ein Mädchen so verächtlich über ihn sprach, war er nicht gewohnt.
"Versuch keinen von deinen eigenen Leuten zu verletzen. Um den Rest kümmere ich mich." sagte sie abwertend. Sie wandte sich Azul zu und wollte auch ihn mit einer ordentlichen Portion Herablassung beglücken. Dieser wurde erneut von den viel zu grünen Augen gebannt. Ein Moment peinlichen Schweigens erfüllte die warme Luft.
"Überleb einfach." presste Sasha hervor und stürmte davon.
"Hey. Die steht auf dich." Thore grinste und rannte dann Sasha hinterher. Von Tranje erschien erneut.
"Jetzt beginnt das Schlimmste an einem Kampf. Das Warten auf den Gegner." Von Tranje ging ein paar Schritte den Weg hinauf, den sie gekommen waren.
"Hier werden wir ihnen entgegentreten." sagte er entschlossen und Azul gesellte sich an seine Seite.
"Mit Verlaub. Habt Ihr nicht Angst vor Bogenschützen." fragte Azul.
"Erstens ist das Gelände vor uns so eng und übersichtlich, dass wir jeden Bogenschützen sofort erblicken würden und uns genug Zeit bliebe um Deckung zu suchen. Zweitens sind Utcha Nahkämpfer. Ihr Sehvermögen reicht nicht für entfernte Angriffe."
"Utcha?"
"Riesige Bastarde. Äußerst brutal, aber wenig clever. Und nun schweig. Sie müssen uns nicht schon aus großer Entfernung wahrnehmen."
Von Tranje hatte Recht. Das Warten auf den Beginn des Kampfes war furchtbar. Konzentriert musterte Azul das karge Gelände vor ihnen, um weit entfernte verdächtige Bewegungen wahrzunehmen. Es gelang ihm nicht die Konzentration lange aufrecht zu erhalten und so versuchte er sich zu entspannen und die Ungeduld mit Gelassenheit zu ersticken. Ein Vorhaben was ihm nicht mal ansatzweise gelang und so tippelte er unruhig vor sich hin, was den Unmut seines Herren hervorrief.
Die Zeit zog sich wie Honig dahin und in jenem Moment, in dem Azul glaubte ihr Feind hätte womöglich das Interesse an ihnen verloren und würde sich wichtigeren Dingen als ihnen widmen, erfasste ihn neue Unruhe. Sie bestand nicht aus den gewohnten Unsicherheiten wie mangelnder Kampferfahrung oder unzureichendem Mut. Geprägt wurde diese Welle aus jeder Menge Vorsicht und Warnungen. Ein fremd gesteuertes Gefühl, das unmöglich seinen derzeitigen inneren Gemütszustand widerspiegelte. Er schaute auf seinen Stab und obwohl dieser weiterhin keinerlei Regung von sich gab, wusste Azul, dass dieses fremde Warnsignal, seinen Ursprung in diesem Stück Holz hatte. Er wandte seinen Blick nach vorn die Küstenlinie entlang und obwohl er sich anstrengen musste, erkannte er die schnellen Bewegungen am Horizont.
"Sie kommen." flüsterte er, aber von Tranje befand sich bereits in Kampfstellung.
"Halte dich links vom Gegner, damit unsere Bogenschützen freie Schussbahn haben." zischte von Tranje.
Azul konzentrierte sich auf den Punkt, der in ständiger Bewegung immer größer wurde. Er fixierte ihn förmlich, als könnte der sich bei mangelnder Aufmerksamkeit einfach seiner Beobachtung entziehen. Er versuchte auf Grund der Entfernung auf die Größe seiner Gegner zu schließen, aber als sich der Punkt teilte, gab er dieses Unterfangen auf. Schneller als ihm lieb sein mochte, entpuppten sich die Gestalten als hünenhafte Berserker mit fürchterlich entstellten Gesichtern. Augen, Lippen und Ohren waren nicht nur in ihren Proportionen zum Gesicht unpassend groß, auch die Anordnung ließ jede Symmetrie vermissen. Als hätte ein Gott in mühevoller Kleinarbeit die Gesichter so entworfen, dass sie ein Höchstmaß an Angst verbreiteten. Eine Wirkung, der sich auch Azul nicht entziehen konnte und ihn förmlich lähmte. Schreiend stürmten zwei dieser Albtraumgestalten auf sie zu.
"Bursche. Stell sie dir nackt vor." brüllte von Tranje einen wirklich absurden Satz. Allein die Vorstellung einer verzehrten Wirklichkeit holte Azul aus seiner katatonischen Starre. Gerade noch rechtzeitig reckte er dem Angreifer mit beiden Händen seinen Stab entgegen. Krachend prallte eine stattliche Keule auf das Holz und ließ Azul einen Schritt zurückwanken. Ein Brüllen schmerzte in seinen Ohren und trotz dieser Ablenkung erkannte er den Angriff mit der rechten Hand, die mit einer Art Kralle bestückt war. Die einzige Ausweichmöglichkeit war ein Schritt nach rechts. Genau die Richtung, in die er eigentlich nicht wollte. Zu seinem Unglück trat er auch noch auf einen Stein und verlor dadurch seinen festen Stand. Erneut schwang die Keule auf ihn zu und durch sein Taumeln konnte er dieses Mal keine wirksamen Gegenmaßnahmen ergreifen. Es gab nur eine Möglichkeit dem tödlichen Schlag noch zu entkommen. Er gab sich der Schwerkraft hin und fiel rücklings nach hinten.
Der Schlag ging ins Leere, aber sein unvermeidliches Schicksal wurde dadurch nur um wenige Momente aufgeschoben. Wieder rückte die Keule in sein Sichtfeld. Er wollte die Augen schließen in seinem letzten Moment in dieser Welt, aber die Befehle wurden auf Grund vorherrschender Angststarre nicht mehr umgesetzt. Dieses widerliche Wesen holte aus und in dem Moment, in dem dieses harte Stück Holz auf ihn niedersausen sollte, durchbohrte ein Pfeil den Kopf seines Henkers. Genau zwischen die Augen, was bei diesem Gesicht erstaunlicherweise in der linken Gesichtshälfte lag. Fassungslosigkeit war die letzte Regung dieser Missgeburt und damit auch der Gesichtsausdruck für die Ewigkeit. Die Gestalt vor ihm sank auf die Knie und fiel mit seinem letzten Atemzug rechts über.
Azul wurde weiter mit Adrenalin überschwemmt, was ihn daran hinderte einen klaren Gedanken zu fassen. Sein Verstand war ein Saal in dem tausend Stimmen um seine Aufmerksamkeit rangen, jede so laut, wie das Kampfgebrüll seines Angreifers. Es war für ihn unmöglich einen wirklich brauchbaren Gedankengang herauszufiltern, also ignorierte er einfach alles, bis wieder Ruhe in seinem Geist herrschte. Die Vernunft zwang ihn aufzustehen und nach einigen Momenten hatte er sein Handeln wieder soweit unter Kontrolle, dass er bereit war für schwerwiegende Entscheidungen.
Von Tranje hatte es bisher nicht geschafft sich seines Angreifers zu entledigen. Obwohl dunkles Blut auf einige Wirkungstreffer hinwiesen, machte der Utcha nicht den Eindruck wirklich geschwächt zu sein. Ein Pfeil zischte durch die Luft, verfehlte aber Freund und Feind um einige Entfernung. Von Tranje nutzte eine Unachtsamkeit seines Angreifers und bohrte seinen Dolch in den Oberschenkel. Ein Schrei, wie von einem Raubtier durchbrach den Kampflärm und während von Tranje einen Schritt zurückwich um genug Raum für einen gezielten Schwerthieb zu bekommen, senkte sich ein Pfeil in die Brust des Utchas. Im Gegensatz zum Dolchstich wurde dieser komplett ignoriert. Der Utcha zögerte nicht lange und startete einen erneuten Angriff, aber von Tranje hatte bereits zum tödlichen Streich ausgeholt und trennte den Kopf von den Schultern des Utchas.
Wie ein Spielball blieb der vor Azuls Füßen liegen und obwohl der Anblick an Widerlichkeit kaum zu überbieten war, schaffte er es nicht seinen Blick von ihm zu nehmen. Welche Laune der Natur auch immer diese Kreatur erschaffen hatte, es gab keine Rechtfertigung für ein Weiterleben von solchen Missgeburten. Raubtiere töteten auf Grund von Nahrung. Menschen auf Grund von Machtansprüchen. Hier war das einzige Motiv Hass, der nicht einmal eine persönliche Ausrichtung auf ihn besaß. Das personifizierte Böse lag vor ihnen im Staub und war bereit alles grundlos zu vernichten.
"Wir haben es noch nicht hinter uns." unterbrach ihn von Tranje in seinen Gedanken und spähte in Richtung ihres Angriffs.
"Hast du das gesehen? Der Pfeil ging mitten in die Brust." kam Thore euphorisch auf Azul zu, bereit für etwas Anerkennung. Sasha folgte ihm mit gemächlichem Schritt und begutachtete den Utcha, der so überraschend einem Kopfschuss erlag.
"Einen Utcha in die Brust zu schießen, ist wie einen Stein mit einem Stück Holz zu bearbeiten. Nur wenig durchdringt den Brustkorb. Sie sind gezüchtet für den Nahkampf. Der Kopf ist nicht nur auf Grund ihrer Intelligenz die Schwachstelle." erdete sie Thore.
"Vielleicht irrt Ihr euch, was ihre Intelligenz angeht. Gibt es einen Pass über die Klippe, um uns auch von hinten zu attackieren?" fragte von Tranje.
"Sehr wahrscheinlich, aber ich kenne das Gebiet nicht." Sasha spannte ihren Bogen und brachte sich sofort wieder in Angriffsstellung. Die vor ihr liegenden verfallenden Hütten wurden von ihr gründlich gemustert.
"Da ist jemand." zischte sie leise, aber angespannt. Vorsichtig bewegte sie sich ein paar Schritte auf die erste Hütte zu. Von Tranje folgte ihr und Azul musste mehr Kraft aufbringen, als ihm lieb war um seine Beine, die nur noch aus Blei zu bestehen schienen, zu bewegen. Bisher kam das Unheil immer auf ihn zu. Jetzt mussten sie ihrem Gegner entgegenkommen. Ein Gegner, bei dem sie nicht wussten, wo er war oder ob er überhaupt existierte.
Ihr Plan war es ursprünglich, bei eventueller Überlegenheit des Feindes sich auf Höhe der ersten Hütte zurückzuziehen, um dann einen zweiten Überraschungsangriff durch die Königstochter und Burmunt zu starten. Nun hatten sich die Angreifer aber aufgeteilt und es war unklar, welche Pläne sie verfolgten. Von Tranje spähte in das halb verfallene Gebäude, indem eigentlich ihre Verstärkung warten sollte.
"Verdammt." fluchte er, als er niemanden vorfand. Sasha war jetzt extrem konzentriert und schien jeden Kiesel auf Bewegung zu mustern.
"Die dritte Ruine auf der linken Seite." brachte sie gepresst vor und fixierte ihren Blick auf das verfallene Gebäude. Dies bestand nur noch aus den Grundmauern und der Schutt war aufgetürmt zu einem großen Haufen. Ideal für einen Hinterhalt. Ein leises Wimmern war zu vernehmen und bestätigte das Gefühl in eine vorgefertigte Falle zu tappen.
"Ich habe Utchas eigentlich als primitive Frontkämpfer in Erinnerung. Seit wann haben sie ein Gespür für taktische Hinterhalte?" fragte ein sichtlich überraschter von Tranje leise, als sie sich vorsichtig näherten.
"Psst." fuhr Sasha ihm über den Mund und lauschte in das Gemisch aus Meeresrauschen und Möwengeschrei. Sie schloss für einen Moment die Augen und atmete tief ein.
"Einer hinter dem Schutthaufen und zwei bereits in unserem Rücken." flüsterte sie. Ein kurzer zweifelnder Blick von von Tranje, dass so barbarische Kreaturen wie Utchas sich fast lautlos an ihnen vorbei schleichen konnten, aber dann glaubte er der Einschätzung von Sasha. Er zeigte auf ihren Bogen und dann auf den Schutthaufen. Ein einzelner Schuss blieb ihr, um den Angreifer zu erledigen. Azul und seinem Herrn oblag die Abwehr der restlichen Beiden und Thore musste sich in sein Schicksal fügen und die Falle auszulösen, indem er sich der Quelle des Wimmerns näherte, das mit Sicherheit von Burmunt stammte. Damit würde ihn mit hoher Wahrscheinlichkeit der Tod ereilen, sollte Sasha ihr Ziel verfehlen.
Zögerlich näherte sich Thore einer kleineren Anhäufung von Geröll, die mannshoch sich vor dem größeren Abbild auftürmte. Er spähte linksseitig um die Ecke, konnte aber nichts erkennen, so dass er gezwungen war sich weiter zu nähern. Ungläubig schaute er zurück und von Tranje trieb ihn mit einem bösen Blick an endlich weiter zu gehen. Azul verlor Thore aus dem Blickfeld und von nun an drohte ihn die Anspannung zu zerreißen. Der letzte Angriff drängte sich in sein Gedächtnis zurück und damit die böse Erinnerung an die Starre, die ihn befiel, als dieses Monster schreiend auf ihn zustürmte. Ein Fehler, der ihm fast das Leben gekostet hatte und der unbedingt dieses Mal vermieden werden musste. Krampfhaft umklammerte er seinen Stab und war bereit sich den Angreifern zu stellen.
Es begann mit einem wilden Schrei der seinen Ursprung irgendwo in den Grundmauern der Ruine hatte. Azul konnte nicht anders und richtete seine Aufmerksamkeit in die Richtung, aus der er das Kampfgebrüll vermutete.
"Bursche. Nicht ablenken lassen." brüllte ihn von Tranje gerade noch rechtzeitig an, denn fast geräuschlos näherte sich von links einer dieser Albtraumkreaturen mit einer Geschwindigkeit, die er diesen ungelenken Bastarden nicht zugetraut hatte. Dieser Utcha sprang förmlich auf ihn zu und da der Satz nicht reichte, um ihn direkt zu attackieren, nutzte sein Feind den Umweg einer Mauer, die Azul eigentlich als Deckung dienen sollte. Für den Bruchteil einer Sekunde klebte er waagerecht an der Wand und stieß sich dann ab, um sich von rechts oben auf Azul zu stürzen. Der Reflex, mit dem dieser seinen Stab nach oben zog, war legendär und vermutlich nicht allein seinem Können zuzuordnen. Wieder offenbarte seine Waffe einen Teil dieses mysteriösen Eigenlebens, dass ihn vor größerem Ärger bewahrte. Es war eine Mischung aus Hebelwirkung des Stabes und Schwung des Angriffes, die ihm half, die Richtung seines anfliegenden Gegners soweit zu ändern, dass dieser über seinen Kopf hinweg segelte. Erneut kam Azul ins Straucheln, aber dieses Mal blieb ihm genug Zeit, um seinen festen Stand wieder zu erlangen.
"Konzentration hochhalten." hörte er von Tranje brüllen, der trotz der Abwehr seines eigenen Gegners sich die Zeit nahm, um Azul wenigstens verbal beizustehen.
Der Kopf. Die Schwachstelle ist der Kopf und damit hatte seine Konzentration ein Ziel. Nur dieser eine Gedanke schwirrte jetzt durch seinen Geist und degradierte alles andere zu Nichtigkeiten. Sein Gegner war bereits wieder auf den Füßen, zögerte aber noch mit einem erneuten Angriff. Wieder etwas, was sogar nicht zu dem geschaffenen Bild eines rohen Tötungsinstruments passte.
Azul musterte das Gesicht seines Gegenübers und entdeckte erneut den Hass, der schon das hervorstechende Merkmal seines ersten Aggressors war. Hinterlist und Argwohn bereicherten den Ausdruck und gerade letzteres nahm Azul etwas die Angst. Eine Kreatur, die zu mehr fähig war als zu purem Tötungswillen und sich damit dem menschlichen Wesen annäherte, war in seiner Vorstellung berechenbarer geworden. Diese idealisierte Vorstellung interpretierte das Zögern als menschliche Angst vor seinem Stab. Provokativ hielt er ihm die Waffe entgegen und wie erwartet versuchte der Utcha das Ende wie ein lästiges Insekt mit seiner Keule zu verscheuchen. Jedes Mal war Azul den Bruchteil einer Sekunde schneller und wich dem Gefuchtel aus, so dass die Keule ins Leere schwank. Angespornt wie ein Kleinkind, das nicht glauben konnte, dass es jedes Mal verlor, verlagerte der Utcha seine Konzentration auf nur noch dieses eine Verlangen den Stab zu treffen. In Azuls Geist herrschte immer noch dieser Gedanke, der sich um den Kopf des Gegners drehte und das Ausweichen der feindlichen Keule war zu einem nebensächlichen Reflex wie Atmen geworden. Als der Utcha erneut mit seinem Schicksal haderte, weil der Stab dieses Mal leicht angehoben wurde, nutzte Azul die Unaufmerksamkeit und machte einen gewaltigen Schritt vorwärts. Seine Waffe bohrte sich dabei in den Mund des überraschten Utchas und erneut entsprach der Widerstand aus Haut, Knorpel und Gehirnmasse nicht den Erwartungen. Es war fast so, als würde er ein riesiges Stück Butter aufspießen. Was immer auch diesem Holz an magischen Erweiterungen verpasst wurde, es machte ihn gefährlicher als jedes Schwert.
Azul schaute sich um und bekam gerade noch mit wie von Tranje sein Schwert zwischen die Augen seines Angreifers versenkte. Er hatte dieses Mal eine weniger spektakuläre Art des Dahinscheidens gewählt, auch weil diese beiden Utchas nicht ganz so primitiv daherkamen, wie ihre Gefährten am Ende der Strasse. Blieb jetzt nur noch der Gegner, der mit seinem Kampfgeschrei den Angriff eingeleitet hatte. Wenn Sasha mit ihrem Bogen die übliche Treffsicherheit bewiesen hatte, sollte dieser ebenfalls erledigt sein. Wie erwartet lag der Utcha mit einem Loch im Kopf danieder als Azul sich dem Schutthaufen näherte, aber offenbar war sein Ableben nicht ganz so unkompliziert abgelaufen, wie erhofft. Thore hatte eine blutende Kopfwunde und sein Herr, der mit seinem Wimmern den Lockvogel mimte, hatte vermutlich schon bei ihrer Geiselnahme einiges einstecken müssen. Wenigstens die Königstochter schien wohlauf und versorgte die Wunden der Verletzten.
Von Tranje atmete tief durch, als er bemerkte, dass sie keinerlei Verluste hatten hinnehmen müssen und die Königstochter unversehrt blieb.
"Jetzt will ich verdammt noch mal wissen, warum diese Barbaren hinter euch her waren." fauchte er Sasha zornig an. Die ließ ihn ohne Antwort stehen und verschwand zu ihrem verwundeten Bruder, den sie vor den Angreifern versteckt hatten.
"Tausend Utchas sind mir lieber als ein pubertierendes Mädchen." seufzte von Tranje.
"Verzeiht euer Hoheit." schob er vorsichtshalber hinterher, da seine Bemerkung sehr verallgemeinernd wahrgenommen werden konnte.
"Bursche. Folge mir. Ich muss wissen, was hier läuft und du kannst vielleicht mit deinen Reizen ihre Zunge etwas lockern." befahl von Tranje und ließ Azuls Gesichtsfarbe rot anlaufen.
"Ich bin dein Mentor in Kriegsführung und gewisser Maßen schließt das den Umgang mit der holden Weiblichkeit mit ein. Mehr als hundert Jahre Leben sind auf diesem Gebiet zwar kein Garant für weise Ratschläge, aber ich werde mein Bestes tun, um dir zu helfen." erklärte von Tranje auf den Weg zu Sasha und amüsierte sich über Azuls Verlegenheit.
Sie betraten die Hütte und fanden die Geschwister in einen Disput vertieft, der in einer für Azul fremden Sprache stattfand.
"Er hat Recht. Die Vereinbarung lautete auf gegenseitige Hilfe und da wir schon unseren Teil übererfüllt haben, wird es Zeit, dass ihr euch revanchiert." unterbrach von Tranje das wilde Gemisch aus unbekannten Worten.
"Wir werden euch helfen, soweit es in unserer Macht steht." antwortete ein immer noch geschwächter Alvor.
"Gut. Dann sagt uns zuerst, womit ihr die Utcha verärgert habt."
"Sie haben die Natur geschändet." brach es aus Sasha verächtlich hervor.
"Wir hätten das gern etwas konkreter." beharrte von Tranje energisch.
"Der Listerwald. Er existiert nicht mehr. Jeder einzelne Baum wurde gefällt." erklärte Alvor traurig.
"Dieser Wald bedeckte den größten Teil des Nordens. Wer braucht soviel Holz?" von Tranje klang beunruhigt.
"Wir haben es versucht rauszufinden und stießen dabei auf diesen Trupp von Utchas. Wir flohen vor ihnen bis hier her, aber sie ließen sich nicht abhängen."
"Weil sie nicht mehr die primitiven Wilden sind, die nur zu Kampfzwecken gezüchtet werden. Jedenfalls nicht alle. Die letzten drei waren eine Erweiterung. Die Utchas sind nicht dafür bekannt, dass sie Geiseln nehmen, die sie dann als Lockvögel verwenden, um Hinterhalte zu planen." erklärte von Tranje.
"Ich vermute mal, dass sie normalerweise auch nicht waagerecht an Häuserwänden laufen." warf Azul ein.
"Sie wurden nicht nur cleverer, sondern auch körperlich verbessert." von Tranje wurde nachdenklich.
"Waskur?" wagte Azul das Unaussprechliche auszusprechen.
"Lasst uns keine voreiligen Schlüsse ziehen. Bedauerlicherweise haben wir auch keine Zeit die Dinge im Norden weiter zu erkunden. Wir müssen zur Quelle der Jugend und genau da benötigen wir eure Hilfe."
"Ein Mythos. Ich fürchte da bist du auf Kindergeschichten hereingefallen. Wir haben keine Zeit irgendwelchen Märchen hinterher zu jagen." spöttelte Sasha.
"Es ist das Wesen eines Mädchens in eurem Alter gegen alles und jeden zu rebellieren, aber glaubt mir, in diesem Fall verschwendet ihr eure Energie, denn ich war da. Vor über hundert Jahren." konterte von Tranje gelassen.
"Ach ja. Und wo soll sich diese Quelle befinden?"
"In den Höhen von Verdan."
"Unmöglich. Ich kenne das Gebiet und nichts Vergleichbares ist mir je unterkommen."
"Führt uns dahin und ich werde euch vom Gegenteil überzeugen."
"Es entsteht eine Bedrohung im Norden und unser Volk muss sich dem entgegenstellen."
"Ist dies das viel gerühmte Pflichtgefühl der Etraker?"
"Du kommst von der anderen Seite des Meeres und du kennst unser Volk?" Sasha war sichtlich überrascht.
"Ich habe mit euren Ahnen Seite an Seite gekämpft in der letzten Schlacht. Ich freue mich, dass die Etraker überlebt haben. Lebt ihr immer noch unter der Erde?"
"Einige von uns. Ein großer Teil bevorzugt die Freiheit der Natur."
"Das Sonnenlicht muss schmerzen in euren Augen."
"Schmerzen waren mir noch nie fremd."
"Ihr müsst helfen." Azul sah sich gezwungen einzugreifen.
"Ach ja. Was geht uns das Schicksal weit entfernter Königreiche an?"
"Die Bedrohung im Norden ist unser gemeinsamer Feind. Galatien benötigt einen starken König. Ein König, der dieser Bedrohung zu widerstehen vermag. Ich zweifle nicht an dem Mut der Etraker, aber ist euer Volk in der Lage Mächte zu bekämpfen, die ganze Wälder verschwinden lassen kann." Ein gutes Argument, dem Sasha nicht gleich was entgegensetzen konnte.
"Er hat Recht. Unsere Schicksale sind miteinander verbunden." redete jetzt auch Alvor auf seine Schwester ein.
"Es sind ein paar Tagesmärsche bis in die Höhen von Verdan und der direkte Weg ist nicht sicher." Sasha fiel es schwer nachzugeben, aber ihre Worte signalisierten endlich die Zustimmung, die von Tranje erhoffte.
"Ein kleiner Umweg ist leider von Nöten. Unsere Waffen sind größtenteils nutzlos. Das müssen wir ändern." erklärte von Tranje.
"Ihr wollt zum Tempel der Saphia?" fragte Alvor ängstlich.
"Es ist notwendig. Nur dort können wir unsere Waffen weihen lassen."
"Vorausgesetzt ihr erreicht diesen Tempel lebend." Sasha klang skeptisch und versetzte Azul in Unruhe.
Jessica fiel es schwer ihre vorgesehene Rolle in der bevorstehenden Konfrontation zu akzeptieren. In dieser Hütte zu warten und von Tranje und seinem Knappen die wesentliche Arbeit zu überlassen, passte sogar nicht in ihre Vorstellung einer Anführerin. Die vermutliche Nutzlosigkeit ihrer Schwerter und der taktische Vorteil eines möglichen zweiten Überraschungsmomentes überzeugte sie dann doch und so beobachtete sie den Angriff aus der verfallenen Ruine, immer dazu bereit einzugreifen, sollten die beiden in größere Schwierigkeiten geraten.
Die Angreifer entpuppten sich als wahr gewordene Albtraumfantasie eines Kleinkindes, das Angst vor dem bösen Monster im Schrank besaß. Obwohl durchaus menschliche Eigenschaften vorhanden waren, immerhin gab es zwei Arme, zwei Beine und ein Gesicht, war die Anordnung dieser vertrauten Strukturen dermaßen furchteinflößend, dass es von Tranjes Knappen beinahe das Leben gekostet hatte. Sichtlich verunsichert entkam er dem Tod nur durch einen gezielten Pfeil in den Kopf seines potentiellen Vollstreckers. Erleichtert über sein Überleben, bemerkte Jessica zu spät die nahende Bedrohung, die mittlerweile in ihre unmittelbare Umgebung vorgedrungen war.
"Der Kampf läuft gut." frohlockte sie und wandte sich an Burmunt, der ebenfalls das Treiben am Ende der Strasse beobachtete. In ihren Augenwinkeln nahm sie eine Bewegung wahr und das fehlen eines zugehörigen Geräusches irritierte sie für einen Augenblick. Es brauchte einen Moment, bis sie begriff, dass eine dieser Albtraummonster, die sie gerade noch in sicherer Entfernung wähnte, sich bereits im selben Raum befand. Wie hatte es diese grobschlächtige Kreatur geschafft sich so unbemerkt zu nähern?
"Achtung." rief sie, aber da war es bereits zu spät. Eine mit scharfen Klingen bestückte Handkralle sauste auf den vollkommen überrumpelten Burmunt nieder und obwohl er noch ausweichen konnte, zeugten die blutigen Striemen an seiner rechten Halsseite von einem verheerenden Treffer. Jessica schwang ihr Schwert und war wild entschlossen die Klinge in diese immer noch fast lautlos agierende Kreatur zu bohren. In unzähligen Kampfübungen wurde sie auf diese Momente vorbereitet. Es war unnötig sich die erlernten Manöver bewusst in Erinnerung zu rufen. Ihr Instinkt entschied über die passende Angriffstaktik und Geist, Körper und Waffe folgten als Einheit willig auf dem Fuße, bevor ihr Bewusstsein überhaupt begriff, was sie da beabsichtigte zu tun. Der Hieb verfehlte ihr Opfer nicht, aber die erhoffte Wirkung blieb aus. Die Klinge prallte ab, wie an einem Stück Fels und als der Frust über die Wirkungslosigkeit ihres Schwertes sie zu überwältigen drohte, erinnerte sie sich an Sashas Dolch, der trotz seiner winzigen Außenwirkung vermutlich mehr Schaden anrichten würde, als ihr prachtvolles Schwert.
Sie kam nicht dazu den Dolch nutzbringend einzusetzen. Schmerz machte sich an ihrem Hinterkopf breit und bevor sie in die Ohmacht abdriftete, ereilte sie die Erkenntnis, dass eine weitere dieser lautlosen Kreaturen sich in ihrem Rücken angeschlichen haben musste. Das Ziel war es offenbar nicht sie zu töten, dafür war der Schlag nicht hart genug. Was immer auch die weiteren Pläne mit ihr waren, vorerst blieb ihr das endgültige Schicksal des Sterbens erspart. Verschwommen sah sie, wie Burmunt einen Treffer mit einer riesigen Keule einsteckte und nach hintenüberkippte. Mit unmenschlicher Anstrengung versuchte sie sich der Ohnmacht entgegen zu stellen, aber es hatte keinen Sinn. Die Schwärze zog in die letzen Winkel ihres Körpers ein, bis auch als letztes ihr Bewusstsein den Widerstand aufgab.
Verwirrung und Schmerz waren die Gefühle, die Jessicas Widererwachen begleiteten. Sie versuchte sich auf letzteres zu konzentrieren, denn die tausend chaotischen Gedanken drohten ihr Hirn zu überlasten, zu mal jeder einzelne davon fast immer mit dem Scheitern ihrer Aufgabe verbunden war und damit mit dem Tod ihres Vaters. Schmerz war greifbar und im gewissen Maße kontrollierbar. Sie hoffte ihren Geist mit einer großen Portion davon zähmen zu können und tatsächlich stellte sich eine gewisse Ordnung ein, die es ihr ermöglichte die Augen zu öffnen. Sonnenlicht blendete sie und diente als neue Nahrung für ihre Verwirrung. Hier war nicht der Ort, an dem sie von diesen Keulen schwingenden Barbaren niedergeschlagen wurde. Angst stellte sich ein, als ein leichtes Wimmern an ihre Ohren drang. Sie drehte sich auf die Seite und sah Burmunt, der bis zur Hüfte in einem Schuttberg vergraben war. Sein Gesichtsausdruck schien auf keinen klaren Geisteszustand hinzuweisen. Er wirkte verloren in seinem eigenen Verstand.
"Burmunt." zischte sie leise und merkte erst jetzt, dass auch sie teilweise im Schutt vergraben war. Eine eigenartige Art, sie an der Flucht zu hindern. Die Versuche, die viel zu großen Brocken selbständig zu entfernen schlugen fehl. Es war ihr unmöglich sich ohne fremde Hilfe zu befreien. Schritte näherten sich, die ihren Ursprung irgendwo hinter diesem kleineren Schotterhaufen hatten. Sie hielt den Atem an, um die Umgebung akustisch besser wahrzunehmen.
"Hallo?" kam es leise aus der Richtung. Die Stimme klang vertraut und obwohl sie sie noch nicht eindeutig zuordnen konnte, entspannte sich Jessica etwas. Trügerische Sicherheit machte sich breit, die von ihren Warninstinkten sofort wieder verdrängt wurde.
"Bleib weg." wollte sie den Schritten entgegenrufen, aber ein Kampfschrei in ihrem Rücken ließ sie verstummen. Mit einer Agilität, die keiner ihrer Kämpfer auch nur ansatzweise vorzuweisen hatte, schwang sich der Utcha auf den verdutzten Knappen von Burmunt. Ein Pfeil zischte durch die Luft und senkte sich in die Schulter des schreienden Barbaren und ließ ihn für einen Moment verstummen. Die Überraschung war jetzt auf Seiten des Utchas, denn mit einem Gegenangriff bevor sein eigener Angriff beendet wurde, hatte dieser offenbar nicht gerechnet. Damit gab er seinem potentiellen Opfer die Zeit dem Schwung der Keule soweit auszuweichen, dass er nicht die volle Auswirkung zu spüren bekam. Trotzdem war es dem Knappen unmöglich auf den Beinen zu bleiben und so sank er um Luft ringend auf die Knie.
"Aufstehen Soldat." versuchte Jessica das scheinbar Unvermeidliche noch zu verhindern. Sie sah, wie der Utcha versuchte sein Werk zu vollenden und die Waffe zum tödlichen Schlag ausholte. Das Gesicht ihres Gefolgsmannes war jetzt so nahe, dass sie jede Regung deutlich sehen konnte. Sie erkannte die Resignation eines Jungen, der bereit war für seinen letzten Atemzug.
"Nein." flüsterte sie lautlos und als die Keule begann den eigentlichen Akt der Tötung zu vollziehen, änderte sich die wenig vielversprechende Zukunft des Knaben im letzten Augenblick doch noch. Der massige Körper des Utchas brach scheinbar grundlos in sich zusammen und erst als er neben dem Knappen auf die selbe Art und Weise auf die Knie ging, bemerkte Jessica den elfenhaften Körper von Sasha, der wie ein Rucksack an seinem Rücken hing. Sie hatte einen Pfeil kurzerhand als Dolch umfunktioniert und mit dem Schwung des Sprunges die Gehirnmasse des Utchas förmlich durchbohrt. Wie zwei gottesfürchtige Prediger knieten die beiden jetzt unmittelbar vor Jessica und während der Tod sich jetzt seinen Anteil bei dem sterbenden Utcha holte, kehrten die Lebensgeister in den Körper ihres Untertanen zurück. Er zitterte am ganzen Leibe und war sonst keiner weiteren Regung fähig. Erst als Sasha den Pfeil aus dem Hinterkopf ihres Opfers zog und dieses bäuchlings nach vorne kippte, fiel die Starre von ihm ab.
"Vielleicht solltest du zurück zu den sicheren Schlössern jenseits des Meeres. Hier gibt es weitaus schlimmere Kreaturen als diese." kommentierte Sasha den zu schnellen Wunsch des Sterbens leicht verächtlich. Bevor der Gescholtene über die Worte auch nur nachdenken konnte, holte ihn Jessica mit einem Befehl endgültig zurück.
"Knappe hilf mir hier raus." Die Beschränkung ihrer Bewegung steigerte das Gefühl der Hilflosigkeit. Immerhin war es möglich, dass weitere Utchas in der Umgebung waren. Die klare Ansage beflügelte den Jungen regelrecht und gemeinsam mit Sasha wurde sie endlich befreit.
Jessica folgte dem sichtlich nervösen Burschen zu seinem Herrn, der immer noch die Nachwirkungen des Schlages verarbeiten musste. Ein paar wirre Worte bewiesen, dass sein Geisteszustand noch nicht wieder vollständig hergestellt war, aber das war nicht sein einziges Problem. Die Blutung an seinem Hals war mittlerweile unter einer Anhäufung von Staub und Dreck kaum noch zu erkennen und bedurfte dringend einer Reinigung bevor sie sich zu einer ernsthaften Entzündung ausweiten konnte. Während die Ethrakerin die Umgebung vor weiteren Angriffen der Utchas sicherte, befreiten sie gemeinsam Burmunt aus seinen provisorischen Fesseln aus Stein und Geröll. Erst als von Tranje mit seinem Knappen auftauchte, entspannte sich Jessica, denn der Kampf war zu ihren Gunsten verlaufen.
"Wird Burmunt wieder vollständig genesen?" fragte Jessica einen vollkommen verunsicherten Knappen. So nah an der Königstochter kamen ihm die sonst so lockeren Worte nicht über die Lippen.
"Bursche. Wird euer Herr wieder genesen?" wiederholte sie jetzt die Frage energischer.
"Ich ... Ich weiß es nicht." stotterte dieser. Offenbar schien ihn die Situation vollkommen zu überfordern. Zu allem Überfluss war er jetzt der einzige ansprechbare Mensch in der Umgebung der Prinzessin, denn sowohl von Tranje, als auch sein Knappe und Sasha hatten sich anderen Dingen zu gewandt.
"Thore. Das ist doch Euer Name?" Der Angesprochene nickte schüchtern.
"Ihr habt einen mächtigen Schlag eingesteckt. Seid ihr in der Lage für eine wichtige Aufgabe?" Dieses Mal bekam Jessica ein heftigeres Nicken.
"Kehrt zurück an Bord der "Stolz von Galatien". Wir brauchen dringend den Heiler vor Ort. Beeilt euch. Die Nacht kommt schnell in diesem Land. " befahl sie und begutachtete Burmunts Knappen, denn sein gesundheitlicher Zustand machte ihr Sorgen. Trotz einer weiteren Zusicherung ließen sich ihre Zweifel nicht vollends zerstreuen, aber ihre Anweisung wurde bereits umgesetzt. Es schien fast so, als könnte es Thore nicht erwarten ihrer Gesellschaft zu entfliehen. Zu unangenehm fühlte er sich allein in ihrer Nähe.
Burmunt glitt zurück in die Ohnmacht und Jessica fühlte sich für einen Moment verloren. Für gewöhnlich genoss sie die seltenen Gelegenheiten für sich zu sein, aber in dieser fremden Umgebung, mit diesem entarteten Kadaver in ihrer Nähe, wollte sich keine Entspannung einstellen. Vorsichtig näherte sie sich dem toten Utcha, aus dessen Hinterkopf viel zu dunkles Blut floss. Erst jetzt bemerkte sie die dünnen Haare, die eher einem spärlichen Flaum glichen. Eine weitere entfernte Gemeinsamkeit. Hatte dieser Bastard vielleicht einen menschlichen Ursprung? Sie überlegte den Leichnam auf den Rücken zu drehen, aber selbst wenn sie die Kraft dazu aufgebracht hätte, würde ihr vermutlich der Mut fehlen den toten Körper zu berühren. Die Utchas waren im Leben schon abstoßende Kreaturen. Als Leiche wirkten sie regelrecht widerlich.
Jessica ließ sich auf einem größeren Stein nieder und zum ersten Mal spürte sie die Erschöpfung. Schmerz machte sich in ihrem Kopf breit und erinnerte sie an den Schlag, den auch sie hatte einstecken müssen. Ihre Hand wanderte in den zu einem Zopf zusammen gebundenen Haarschopf, der vermutlich das Schlimmste regelrecht abgefedert hatte. Kein Blut konnte sie ertasten, aber ihre mentalen Funktionen waren weiterhin beeinträchtigt. Sie hatte Probleme klare Gedanken zu formen und ein gewisses Unwohlsein überkam sie, dass sie an die raue See auf dem westlichen Meer erinnerte. Mit geschlossenen Augen versuchte sie das Chaos zu bändigen, erreichte aber das Gegenteil. Der Raub ihrer optischen Sinne ließ ihren Magen rebellieren und so übergab sie sich auf dem toten Utcha. Die Widerlichkeit seines Anblicks wurde damit durch eine persönliche Note bereichert, aber die Entleerung ihres Magens wirkte wie eine Erlösung, die alles Unwohlsein auf den Kadaver vor ihr entlud. Mit einem Schlag fühlte sie sich gut und auch wenn die Schmerzen an ihrem Hinterkopf auf das Gegenteil beharrten, hatte sie wieder einen halbwegs freien Geist.
Der zeigte es ihr als erstes auf, dass es ein Fehler war Burmunts Knappen allein auf den gefährlichen Weg zurück zum Schiff zu schicken. Für eine Korrektur war es bereits zu spät, also widmete sie sich dem offensichtlichsten Problem. Der Versorgung eines ihrer verwundeten Gefolgsleute. Sie besaß keinerlei Wissen über heilende Fähigkeiten, da es einer Tochter des Königs von Hause aus nicht gestattet war jegliche Form von Linderung zu praktizieren. Es benötigte großer Überwindung, die indoktrinierten Verhaltensregeln zu ignorieren, aber es war wichtig wenigstens einer Blutvergiftung vorzubeugen. Mit reichlich Wasser entfernte sie den Schmutz und als sie die blutigen Striemen an Burmunts Hals frei gelegt hatte, fiel ihr Blick auf die krallenförmige Waffe am Ende der linken Hand des toten Utchas.
Jessica verdrängte den furchtbaren Gedanken, wie sich in vierfacher Ausführung diese gebogenen Klingen in ihrem Hals versenkten. Es gab sicherlich grausamere Waffen, aber in Kombination mit dem Utcha verfehlte sie ihre einschüchternde Wirkung nicht. Ohne die tote Haut zu berühren, entfernte sie den Handschuh und begutachtete das blanke Metall. Sie kniete sich jetzt zu dem Leichnam und zog vier blutige Rillen in den Rücken. Ihr Schwert war eine elegantere und tödlichere Waffe, hatte aber nicht mal den kleinsten Schaden anrichten können. Sie befestigte den Handschuh an ihrem Gürtel, als von Tranje sich aus Richtung der Ruinen näherte.
"Kein schönes Andenken." kommentierte er die Aktion.
"Es dient mehr dem Überleben. Keine einzige unserer Waffen zeigt Wirkung." erwiderte Jessica.
"Ein Umstand, den wir dringend ändern müssen. Der Tempel der Saphia verschafft uns Abhilfe."
"Ich habe nie von einer solchen Gottheit gehört."
"Saphia war eine Hohepriesterin in den alten Tagen. Weise und dem Erhalt von Leben verpflichtet. Mit dem Machtstreben von Waskur verfiel sie der schwarzen Magie. Sie suchte in unheilvollen Schriften Rat. Es zeigte sich, dass sie nicht die mentale Stärke besaß, um den schädlichen Einflüssen zu widerstehen. Aus dem Erhalt von Leben wurde der Drang nach Zerstörung. Gut wurde zu böse. Leben wurde zu Tod. Sie erhob sich selber zur Gottheit. Alles in dem Glauben Waskur die Stirn bieten zu können. Dabei wurde sie sein tödlichstes Werkzeug." von Tranje wirkte wehmütig, als er in den vergangenen Zeiten schwelgte.
"Ihr kanntet sie?"
"Schmerzhafte Erinnerungen an eine gute Freundin." Er zögerte kurz, so als wollte er weitere Details über Saphia erläutern.
"Jedenfalls konzentrierte der Tempel die böse Energie, die so verhängnisvoll Besitz von ihr ergriff. Genau das richtige für Schwerter und Speere."
"Ihr wollt an einen Ort von konzentriertem Bösen?" fragte Jessica skeptisch.
"Es bleibt uns wohl keine Wahl. Was immer auch im Norden sein Unwesen treibt. Jetzt weiß es von unserer Anwesenheit." Von Tranje nickte zu dem toten Utcha.
"Wir sind zu Wenige, wir kennen das Land nicht und wir kennen den Feind nicht. Wie sollen wir hier bestehen?" Jessica war anhand der Aussichten Elend zu Mute.
"Mit neuen Verbündeten." von Tranje zeigte auf Sasha, die sich ihnen näherte.
"Zwei trotzige Kinder sind keine große Verstärkung."
"Habt Vertrauen." munterte sie von Tranje auf.
Es dämmerte bereits, als Thore mit dem Heiler und zwei weiteren Gefolgsleuten der königlichen Garde den Stadtrand erreichte. Wilmot von Zuertel erstattete ihr Bericht. Der jüngere Bruder des kürzlich gefallenen Karim weckte mit seinen unverwechselbaren Zuertel-Gesichtszügen schmerzhafte Erinnerungen in Jessica. Obwohl sie nie wirkliche Sympathie für Karim empfand, schätzte sie seine Loyalität gegenüber ihrem Vater. Ein erfahrener Kämpfer, der ihr bei den bevorstehenden Herausforderungen fehlen würde. Nun war es an Wilmot die Interessen seines Hauses zu vertreten und der Verlust seines Bruders unter ihrer Führerschaft erschwerte künftige Beziehungen.
"Der vollständige Trupp wird hoffentlich noch vor der Dunkelheit hier eintreffen. Die Reparaturen an den Schiffen dauern etwa zwei Wochen." Wilmot leierte in gelangweilten Ton die vorgefertigten Worthülsen herunter.
"Eure Hoheit." schickte er noch hinterher, um nicht vollends respektlos zu klingen.
"Gut. Verpflegung? Wasser? Pferde?" fragte Jessica streng.
"Alles in ausreichendem Maße vorhanden." hielt er sich so kurz wie möglich.
"Hat der König ein Problem mit der Gefolgschaft des Hauses Zuertel?" fragte Jessica in gleichem strengen Tonfall.
"Das Haus Zuertel ist dem König weiterhin vollends ergeben. Aber ihr seid nicht der König." erwiderte Wilmot leicht drohend.
"Hütet eure Zunge." drohte sie zurück.
"Wir sollten nicht hier sein. Wie hilft es dem König, wenn wir planlos durch diesen Dschungel irren, um Kindermärchen zu ergründen? Dort. Tief im Osten sollten wir sein und dem König unsere Treue beweisen." Wilmot zeigte Richtung Meer.
"Vertraut mir. Es gibt Nichts auf Osos, das unserem König helfen würde."
"Vertrauen? Wie die Handelsmission zu den westlichen Inseln. Ha. Tatsächlich entpuppte sich diese Mission zu einer Reise nach Askalan. Ein Ort, von dem man sagt, dass herkömmliche Regeln nicht gelten würden. Dann diese Wolfskreaturen, die selbst den besten Waffen strotzten. Welche Überraschung erwartet uns als Nächstes?" Wilmot redete sich in Rage. Jessica atmete tief durch, denn das, was sie gleich sagen würde, war nicht geeignet den anbahnenden Konflikt zu beseitigen. Sie würde vermutlich genau das Gegenteil bewirken, aber trotzdem gab es für sie keine Alternative. Es war ihr unmöglich ihre innere Einstellung mit ein paar schmeichelnden Worten zu ignorieren.
"Ich verstehe Euren Schmerz. Die Taten und die Loyalität Karim von Zuertels werden vom Königshaus nie vergessen werden. Ein großer Mann im Leben. Ein großer Mann im Tod. Umso erstaunlicher ist das fräuleinhafte Verhalten seines Bruders, der damit das Andenken eines Volkshelden beschmutzt. Verkriecht Euch ängstlich in den Bug der "Kibely" und wartet sicher weit draußen auf dem Meer auf unsere Rückkehr. Ihr bekommt meine königliche Erlaubnis dafür, denn wenn ich nicht eure vollständige Gefolgschaft besitze, seid Ihr mir bei den bevorstehenden Aufgaben nicht von Nutze. Was ich brauche sind Männer der Tat und nicht des Grübelns. Somit frage ich Euch hiermit ein letztes Mal. Kann der König auf die Gefolgschaft des Hauses Zuertel zählen?" Sie versuchte ihre Mine so nichtssagend wie möglich zu gestalten, aber ihr fehlte einfach die Erfahrung, um die mangelnde Souveränität zu verbergen. Vor allen Dingen ihre Lippen zitterten, als stände sie in den Eiswüsten des Nordens.
"Das Haus Zuertel wird sich nicht dem Vorwurf der Feigheit aussetzen. Ich folge Euch auch weiterhin, Eure Hoheit." gab sich Wilmot widerwillig geschlagen.
"Dann entfernt Euch und verrichtet eure Pflichten."
"Eine Sache wäre da noch, eure Hoheit." Er zog seinen Begleiter heran, der bisher schweigend abseitsstand und von Jessica keines Blickes gewürdigt wurde.
"Wir fanden diesen blinden Passagier an Bord der "Kibely"." erklärte Wilmot kurz.
"Eure Hoheit." wurde sie von Quatar begrüßt.
"Geht jetzt." befahl sie Wilmot, der sich darauf hin entfernte.
"Ihr spielt ein gefährliches Spiel mit der Loyalität Eurer Untertanen." kommentierte Quatar die Konfrontation mit Wilmot.
"Was tut Ihr hier?" fragte Jessica schroff.
"Ich folge einer Prophezeiung. Was ist eine Prophezeiung schon wert, wenn sie nicht in Erfüllung geht." erwiderte er keck.
"Eine Reise in die Eiswüste des Nordens hätte der Prophezeiung vermutlich ähnlich genüge getan." antwortete sie eiskalt, immer noch mit versteinerter Miene, die sie schon bei Wilmot als Emotionsschild anwendete.
"Dort oben ist die Gesellschaft aber nicht so angenehm." überhörte er die Beleidigung absichtlich.
"Vielleicht bereut Ihr es bald, Euch nicht mit ein paar Eisbären zu amüsieren. Dieser Ort hier ist gefährlich und Ihr macht mir nicht den Eindruck, als könntet Ihr Euch wirkungsvoll verteidigen."
"Was ich so vernahm, können das die Wenigsten. Ich hörte eure Waffen sind nutzlos." konterte Quatar.
"Ihr werdet gleich morgen früh auf die "Kibely" zurückgebracht, wo ihr eure erschlichene Überfahrt abarbeiten werdet."
"Dazu müsstet Ihr einige eurer Männer abstellen. Das kostet Euch viel Zeit. Lasst mich doch meine Schuld in eurer Nähe begleichen. Das wäre für alle Anwesenden gewinnbringender."
"Mit welchen Diensten könntet Ihr mir schon dienen?"
"Ich bin Meister der Künste. Müden Kriegern dürstet es nach Ablenkung vor einer entscheidenden Schlacht und die kann ich ihnen liefern."
"Ihr wollt Euch als Hofnarr verdingen?"
"Lyrik. Poesie. Meinetwegen auch eine gute Abenteuergeschichte sind eher mein Metier. Außerdem braucht es jemanden, der eure Heldentaten niederschreibt." kaschierte er die erneute Beleidigung mit Souveränität.
"Was wollt Ihr wirklich hier?" Die Neugier konnte sie jetzt schwer unter der Maske aus Gleichgültigkeit verbergen.
"Eure unversehrte Heimkehr liegt mir persönlich sehr am Herzen." gab er unumwunden zu.
"Ihr spielt mehr als auf eine Art und Weise mit dem Feuer. Passt auf, dass Ihr nicht darin umkommt." Wie auch bei Wilmot von Zuertel wenige Minuten zuvor, hatte sie jetzt eine unterschwellige Drohung in ihren Worten.
"Verzeiht meine aufrichtige Sorge um eure Unversehrtheit. Ich bin nur ein demütiger Bürger, der um die Gesundheit seiner Prinzessin bangt." Das Selbstvertrauen mit dem er diese Worte vorbrachte, zeugte von wenig der erwähnten Demut.
"Geht jetzt. Verfasst eure Gedichte oder schreibt das erste Kapitel eures Heldenepos. Nur behindert uns nicht in unserem Tun." Dieser Mann weckte die widersprüchlichsten Gefühle in ihr. Zum einen war da der Zorn über den grenzwertigen Umgang ihr gegenüber, der nur so vor Unverfrorenheit strotzte. Das ganze garniert mit einer unverholenden Zuneigung schmeichelte ihr auf eine gewisse Weise und offenbarte verwirrende Empfindungen. Das ungewohnte persönliche Interesse widersprach jeglicher Etikette und die königliche Herkunft verpflichtete sie diesem offensichtlichen Verstoß mit aller Härte entgegen zu steuern. Sie empfand eine irritierende Genugtuung seine forsche Art zu kontern und da er sich als erfrischendes Gegenteil zu den üblichen Ja-Sagern ihrer Gefolgschaft entpuppte, verzichtete sie vorerst auf übliche Maßnahmen das ungebührende Verhalten zu bestrafen. Quatar war eine willkommene Abwechslung zu den starren Regeln ihrer königlichen Vorgaben. Sie waren nicht am Hofe von Galatien, sondern in der Wildnis eines fremden Kontinents und damit hatte sie genug Rechtfertigung die Zügel etwas schleifen zu lassen. Vor ihr lagen weit wichtigere Aufgaben, als einem rebellischen Minnesänger höfische Verhaltensregeln einzubläuen.
Mit dem letzten Sonnenstrahl erreichte der Rest ihres Gefolges den Stadtrand. Ein provisorisches Nachtlager sollte einen schnellen Aufbruch am nächsten Morgen ermöglichen und so wurde auf das Aufstellen der Zelte verzichtet. Ein großes Feuer wurde entzündet und die Wachen in der Umgebung verteilt. Alles wirkte vertraut und in der Dunkelheit war kein Unterschied zu den Lagern auf Osos erkennbar. Trotzdem wollte sich bei Jessica keine Entspannung einstellen. Die Geschehnisse des Tages riefen ihr immer wieder in Erinnerung, dass sie sich nicht in vertrauten Gefilden befanden. Außerhalb dieses spärlichen Lichtes erstreckte sich eine fremde Umgebung, mit unbekannten Gefahren in einer Welt, dessen Regeln vermutlich jeder Logik trotzten. Die Zweifel an der Magie dieses Ortes waren immer noch groß, aber die toten Utchas und die vollkommene Wirkungslosigkeit ihrer Waffen waren erste Anzeichen dafür, dass sie mit unvorhersehbaren Ereignissen rechnen mussten. Ihre mangelnde Erfahrung war schon ein massiver Nachteil. Wie schlecht standen erst ihre Chancen, wenn sie selbst sicheren Strukturen wie Sternen nicht trauen konnten?
Die Nacht brach an und der Verlust der Sonnenwärme trocknete den dünnen Schweißfilm auf Jessicas Haut zu einer dreckigen Kruste. Ein kurzes Bad im tief schwarzen Meer belebte ihre Sinne und die ungewohnt frische Luft ließ sie das erste Mal an diesem Tag leicht frösteln. Das entfachte Feuer schrie förmlich nach wohliger Wärme. Ein leuchtender Punkt in einer Unendlichkeit von Nichts. Keinerlei Konturen waren in der Finsternis auszumachen und für einen Moment zweifelte sie, dass da wirklich etwas jenseits der Flammen existieren würde. Das Feuer bedeutete für sie ein Stück Normalität in der Fremde. Galatien hatte seinen ersten Außenposten errichtet und auch wenn am nächsten Morgen nur ein Häufen Asche davon übrigblieb, kam es an diesem Abend einem Stück Heimat am nächsten.
Natürlich war es unklug in dieser Finsternis diesen neuen Teil von Galatien so offensichtlich hell leuchten zu lassen, aber die geographischen Gegebenheiten waren auf ihrer Seite. Das Massiv im Norden war der perfekte Sichtschutz und wenn sie davon ausgingen, dass potentielle Feinde nicht über Boote verfügten, gab es keine Gefahr vom Meer aus. Der Rest wurde durch Wachen abgesichert, was aber im Falle eines Angriffes auf Grund ihrer Waffen vermutlich wenig hilfreich wäre. Von Tranje hatte sich trotzdem gegen den Ratschlag von Sasha ausgesprochen, da er es für wichtiger hielt den Zusammenhalt der Gruppe zu stärken und was wäre dafür geeigneter als ein gemütliches Lagerfeuer. Wie richtig er damit lag, bewies die ausgelassene Stimmung, die lautstark zu vernehmen war, als Jessica sich dem Feuer näherte. Mit ihrer Ankunft verstummten die Gelächter und eine gewisse Anspannung machte sich breit. Ihre pure Anwesenheit versetzte alle in die übliche königliche Unterwerfung.
"Eure Hoheit." murmelten einige der Gefolgsleute als Gruß ehrfurchtsvoll vor sich hin.
"Setzt Euch, eure Hoheit. Ich war gerade dabei die Geschichte des ehrenwerten Ritters Goflin und seinen Kampf gegen das Ungeheuer aus den Höhlen von Rabun zu erzählen." Quatar war neben von Tranje der einzige, der nicht krampfhaft damit beschäftigt war ins Feuer zu starren. Offensichtlich war er auch die Ursache der Heiterkeit, die sie so abrupt von ihr erdrückt wurde.
"Ein wahrer Meister der Erzählkunst, obwohl ich kaum glauben kann, dass ein Monster von beschriebener Größe jemals in eine Höhle passen würde." lobte von Tranje den ungeladenen Gast.
"Ich werde mich nur kurz aufwärmen und dann zu Bett gehen." versuchte Jessica der peinlichen Anspannung mit kontrollierter Flucht zu entgehen. Sie rieb sich ein paar mal die Hände über dem Feuer als säßen sie in der Eiswüste und verabschiedete sich wieder unter den bedauernden Worten von Quatar. Mit einer Fackel ging sie auf das Meeresrauschen zu und war überrascht Sasha allein im Dunkeln vorzufinden. Sie saß auf einem Stein und starrte auf das Meer.
"Erlaubt Ihr?" fragte Jessica kurz und setze sich neben sie, obwohl sie keine Antwort bekam.
"Wie geht es eurem Bruder?" fragte Jessica. Wieder bekam sie nur Schweigen als Antwort.
"Ihr seid sehr schweigsam." Offensichtlich hatte Quatar seine Geschichte fortgeführt, denn lautes Gelächter drang an ihr Ohr.
"Verdammte Narren." fluchte Sasha.
"Ihr seid nicht einverstanden mit dem Feuer?"
"Es ist gefährlich."
"In der Bucht sind wir doch ziemlich sicher. Oder nicht?"
"Ihr denkt nur in Dimensionen wie Norden oder Süden und vergesst das Offensichtliche." Sashas Blick ging nach oben.
"Welche Gefahr könnte uns denn von oben drohen?" Wieder war Sasha nicht gewillt die Frage zu beantworten.
"Redet ihr über Drachen?" spekulierte Jessica.
"Die gibt es selbst auf Askalan nicht." schnaubte Sasha verächtlich.
"Es gibt Geschichten über Askalan und Drachen."
"Ach ja. Wohl in deiner königlichen Bibliothek. Weißt du, ich habe mein Leben lang in der Natur gelebt und so was wie Drachen sind mir nie begegnet."
"Nur weil Ihr sie nicht gesehen habt, bedeutet das nicht, dass es sie nicht gibt."
"Sehen ist überbewertet. Du musst das Leben spüren."
"Spüren?"
"Komm mit mir." Sasha erhob sich und lief ein paar Meter landeinwärts. Jessica folgte ihr vorsichtig.
"Dort. Was siehst du dort?" Sasha packte Jessicas Arm und lenkte die Fackel Richtung Boden.
"Sind das Ameisen?" fragte sie.
"Du hast sie bemerkt, weil du sie siehst. Ich habe sie bemerkt, weil ich sie spüre." Sasha ließ eine der Ameisen über ihre Hand laufen.
"Sie hat nur einen Gedanken. Den Bau zu beschützen. Dieser Schutzinstinkt ist so mächtig, dass es ihr ganzes Leben beherrscht."
"Und Ihr spürt diesen Instinkt?"
"Eine einzelne Ameise ist nur ein Flüstern. In millionenfacher Ausführung wird es ein Schrei."
"Das ist schwer zu glauben."
"Ich spüre den Jagdtrieb einer Schlange genauso wie die Laichung der Fische in diesem Meer. Es ist um uns und nur wenige nehmen es wahr. Die wirkliche Kunst liegt in der Deutung. Alvor spürt es ebenfalls, aber er vermag eine Schlange nicht von einem Fisch zu unterscheiden. Für ihn ist es wie ein Gemälde. Er sieht rot, blau und grün, aber er kann die Konturen nicht erkennen."
"Ihr seid dem ständig ausgesetzt?"
"Ein Sinn wie jeder Andere. Es ist wie atmen oder hören. Erst wenn die Luft schlecht wird oder der Lärm zunimmt, nehme ich es bewusst war. Wie diese versteckten Utchas heute morgen. Fremdkörper in einer ansonsten intakten Umgebung."
"Drachen wären dann so etwas wie ein unbekannter Geruch. Selbst wenn Ihr sie wahrnehmen würdet, könntet ihr sie keinem bekannten Muster zuordnen." schlussfolgerte Jessica.
"Drachen wären vermutlich so mächtig, dass sie alle anderen Instinkte überlagern würden. Glaub mir. Drachen sind nicht real."
"Und was ist real?" fragte Jessica.
"Unsere Welt war bis vor kurzem im Einklang. Seit den Geschehnissen im Norden ist alles durcheinander. Die natürliche Ordnung ist gestört und jetzt kommt auch noch ihr von jenseits des Meeres."
"Vertraut mir. Wir haben keinerlei böse Absichten." versuchte Jessica das Misstrauen zu zerstreuen.
"Du hast ein reines Herz, aber nicht jeder in deinem Gefolge teilt diese Einstellung. Das vorherrschende Gefühl ist Angst, aber gleich darunter kocht die Gier. Vielleicht habt ihr das Tor nach Askalan in bester Absicht durchschritten. Nun da ihr hier seid, werden sich diese Absichten ändern. Die Natur des Menschen ist in dieser Hinsicht leider unverbesserlich." Mit diesen Worten ließ Sasha Jessica allein. Vielleicht hatte sie Recht. Bei ihrer Rückkehr nach Osos würde Askalan etwas von seinem Mythos verlieren. Eine perfekte Gelegenheit für Abenteurer, aber auch Halunken und Diebe. Ihr kamen die Umstände ihrer Ankunft wieder in den Sinn. Askalan könnte sich selbst schützen und sie vielleicht nie wieder gehen lassen.
Jessicas Nacht war unruhig. Zu sehr drängten sich die Ereignisse des Tages in ihre Gedanken. Erst weit nach Mitternacht kapitulierte ihr aufgebrachter Geist und gönnte ihr endlich die verdiente Erholung. Sie blieb verschont von Albträumen, obwohl allein das Aussehen der Utcha Stoff für jede Menge furchtbare Fantasien beinhaltete. Ein langer Schlaf blieb ihr trotzdem verwehrt, da sie noch vor Sonnenaufgang unsanft geweckt wurde.
"Eure Hoheit." Die Dunkelheit verwirrte ihren müden Geist zusätzlich und ließ die Worte unwirklich klingen. Eigentlich hatte sie ihren Gefolgsleuten aufgetragen erst nach Sonnenaufgang mit den üblichen Pflichten zu beginnen.
"Was ist denn los?" fragte sie sichtlich verschlafen.
"Tut mir leid für die frühe Störung, aber wir haben ein Problem." Von Tranje stand mit einer Fackel vor ihr und versuchte sie nicht unnötig mit dem Licht zu blenden.
"Quatar? Was hat er angestellt?" fragte sie und bereute sofort, dass ihr vernebelter Geist ausgerechnet ihn als erste mögliche Ursache hervorbrachte.
"Äh... Nein." erwiderte von Tranje überrascht.
"Die östliche Wache ist nicht zurückgekehrt. Wir müssen schauen, was da los ist." erklärte er kurz.
"Ich begleite Euch." Als hätte ein Windhauch ihren Geist vom Nebel befreit, war ihr Verstand mit einem Mal klar.
"Kein Protest dieses Mal?" fragte sie, als von Tranje ihre Entscheidung klaglos hinnahm.
"Ich habe die Sinnlosigkeit dieser Einwände eingesehen."
"Gut. Ich rechne es Euch hoch an, dass ihr mich nicht einfach weiter ruhen lassen habt." Jessica legte ihre Rüstung an und befestigte die Kralle an ihrem Harnisch. Sie liefen den Weg hinauf, den sie am vorhergehenden Morgen passiert hatten, bevor sie auf Sasha trafen. In der einsetzenden Morgendämmerung war die Entfernung schwer zu schätzen, aber sie brauchten eine Weile, bis sie am Felsvorsprung ankamen, der der Wache als Deckung diente. Rote Sonnenstrahlen lagen mittlerweile über den Ruinen von Spuuun und zeugten von dem Anbrechen des neuen Tages. Ein unheilvolles Licht, als Vorbote eines blutigen Morgens.
Azul "Bezwinger der Schattenwölfe" hatte seinen zweiten Kampf erfolgreich beendet und obwohl sein Gegner tot im Staub von Askalan lag, wollte sich kein wirkliches Triumphgefühl einstellen. Es gab nichts zu beschönigen. Sein Überleben war nur eine Verkettung von glücklichen Umständen, wobei sein größtes Pfund eindeutig der Stab war. Welchen Grund es auch immer gab, dass er zum Auserwählten gekürt wurde diese machtvolle Waffe zu führen, es konnte sich nur um ein Versehen handeln. Seine Künste in der Kampfesführung waren nicht nur auf Grund der mangelnden Ausbildung eher bescheiden. Die Wochen in der Kaserne von Saetung, aber vor allen Dingen die Lektionen von von Tranje während der Überfahrt zeigten das fehlende Talent in der Kriegsführung gnadenlos auf. Für alle Ewigkeit würde er der Bauer bleiben, der nur durch eine Laune des Königs auf den Schlachtfeldern dieser Welt gelandet war und durch einen namenlosen Gegner irgendwann niedergestreckt werden würde. Sein fehlendes Selbstvertrauen beschleunigte dieses Schicksal vermutlich und wenn er Pech hatte, würde der Stab ihn eines Tages schon allein deswegen für unwürdig halten und sich einen neuen Träger suchen. Er bewunderte Sasha, die das genaue Gegenteil von ihm darstellte. Elegant in ihren Bewegungen und mit einer Ausstrahlung, die jeden Feind ehrfürchtig innehalten lässt. Dazu ihre fehlende Scheu vor den königlichen Eliten, die Azul für beneidenswert hielt und auch wenn sie sich damit jede Menge Ärger einhandelte, schien sie gerade bei der Königstochter wesentlichen Eindruck hinterlassen zu haben. Diese Gedanken über Sasha raubten ihm den Schlaf und als er doch endlich selig hinüberglitt, holte ihn ein schmerzhafter Fußtritt zurück in die dunkle Nacht von Askalan.
"Du bist dran, Bauernlümmel." Shane setzte zu einem weiteren Tritt an und bevor Azul auch nur ansatzweise wach war um auszuweichen, bohrte sich der Stiefel erneut in seine Rippen.
"Wach werden." feixte Shane und holte zum dritten Mal aus.
"Ich bin wach." versicherte Azul, was ihn trotzdem nicht vor neuem Schmerz bewahrte.
"Sicher ist sicher." begründete Shane seinen letzten Tritt.
Wut stieg in Azul auf und zum ersten Mal hatte er das Verlangen die Demütigung nicht unerwidert über sich ergehen zu lassen. Dieser Hochmut im Gesicht seines gegenüber schrie förmlich nach einer Ohrfeige und mit einer gewissen Genugtuung rief er sich den Zweikampf in der Kaserne von Saetung in Erinnerung. Das Bild der blutigen Nase vor Augen reichte für den Moment, um das bisschen Zorn zu unterdrücken. Er ergriff seinen Stab und die Berührung des glatten Holzes katapultierte jegliche Selbstzweifel auf einen Schlag in den Hintergrund. Welche Form von Energie auch immer von seiner Waffe ausging. Offenbar waren Angst, Wut und Demütigung ihres Trägers genau die Nahrung, um ihre Verbindung zu vertiefen.
"Drei freie Tritte sind mehr als solchem Geschwür wie du es bist eigentlich zusteht. Wag es noch einmal und ich schiebe dir diesen Stab rücklings in den Hals." drohte Azul in einer Stimmlage und mit einer Selbstsicherheit, die Shane für einen Moment verstummen ließ.
"Du drohst mir?" erwiderte der nach einer Weile leicht verunsichert. Die offensichtliche Antwort blieb Azul ihm schuldig und die Ignoranz, mit der er Shane einfach stehen ließ, verfehlte ihre Wirkung nicht.
"Vergiss nicht wo du herkommst, Bauer." rief er Azul hinterher und weckte damit zwei seiner Kameraden, die zwar sichtlich verärgert waren, aber nicht wagten den Unruhestifter zurecht zu weisen. Azul ergriff eine der Fackeln und machte sich auf den Weg nach Osten. Das gute Gefühl trotz der Tritte als Sieger aus diesem Disput hervorgegangen zu sein, begleitete ihn dabei.
Er löschte das Licht, als er am Felsen angekommen war, der ihm geeignet für eine Wache erschien. In der Dunkelheit war es fast unmöglich etwas auf dem unter ihm liegenden Pfad zu erkennen. Sollten sich tatsächlich Feinde nähern, konnten sie sich nur durch unfreiwillige Geräusche verraten. Das Rauschen des Meeres erschwerte das Lauschen nach Auffälligkeiten ohnehin und nach den Erfahrungen des letzten Tages waren gerade Utchas eher auf leisen Sohlen unterwegs. Wenn schon bei solch grobschlächtigen Kreaturen die Wahrscheinlichkeit einer Entdeckung gering war, wie sollte er dann weitaus elegantere Gegner oder Tiere davon abhalten sich dem Lager unerkannt zu nähern. In diesem unbekannten Land, mit Gefahren, die jeglichen Regeln von Osos trotzten, schien es für einen Bauernsohn schier unmöglich diese Aufgabe zu erfüllen. Er starrte in die Finsternis vor sich, dort wo er den Weg vermutete und hoffte das seine Augen wenigstens Bewegungen erkennen würden. Eine Konzentration, die er schon auf Grund seiner Müdigkeit keine zwei Stunden aufrecht halten würde und trotzdem war es nicht die Erschöpfung, die ihn zwang seine Aufmerksamkeit zu verlagern.
Er konnte es nicht erklären, aber eine ungewohnte Form der Anspannung wuchs in seinem Inneren. Eine Art Warnung, die nach und nach die Vorherrschaft in seinem Geist übernahm. Wie ein Reh, das zwar nicht begriff, dass es sich im Visier eines Bogenschützen befand, dessen Instinkt aber die Gefahr durchaus witterte. Etwas Unbekanntes lauerte dort draußen, da war er sich sicher und als er seinen Stab ergriff, bestätigte dieser in seiner gewohnt unnachweislichen Art und Weise seine Ahnung. Es gab keine Zweifel mehr. Azul war als Beute eines unbekannten Raubtiers auserkoren worden.
Er kniete sich nieder, so dass er den brusthohen Felsen jetzt als komplette Deckung gegen Westen hatte. Die Wand im Norden war zu steil für einen potentiellen Angriff und so blieb nur noch der Pfad unter ihm, der zu seinem Bedauern weiterhin in tiefer Schwärze lag. Zitternd zog er seine Feuersteine hervor und prügelte sie gegeneinander, um ein Büschel getrocknetes Gras zu entzünden. Er war noch nie besonders geschickt im Entfachen von Feuer und unter diesem enormen Druck schien es fast unmöglich. Was er brauchte war ein Moment der Ruhe. Kühle Luft füllte seine Lungen, als er tief einatmete. Er schloss für einen Augenblick seine Augen und zwang sich regelrecht zur Gelassenheit. Nicht die Kraft war entscheidend, sondern die Technik und so rotierte er die Steine in seinen Händen solange, bis er die am besten geeigneten Stellen ertastete, um sie gegeneinander zu schlagen. Mit Erfolg. Endlich sprühten die Funken und es dauerte nicht lange, bis die ersten zarten Rauchwolken aus dem trockenen Gras in seine Nase stiegen. Vorsichtig wedelnd heizte er die Glut an, bis erste Flammen glimmten. Er entzündete die Fackel und sprang auf, in der Erwartung in dem neuen Licht ein zähnefletschendes Tier zu erblicken.
Nichts. Kein Geräusch, keine Bewegung. Warum in aller Götter Namen raste sein Puls, als würde sein Leben kurz vor dem Ende stehen? Hatte er sich zum ersten Mal getäuscht, was die Verbindung zu seiner magischen Waffe anging? Vorsichtig bewegte er sich hinab zum Pfad, immer auf der Suche nach Spuren eines unbekannten Jägers. Keinerlei Hinweise auf irgendjemanden oder irgendetwas. Sein Licht schien jetzt der Mittelpunkt der Welt zu sein und wenn es böse Gestalten dort draußen geben sollte, die ihm nach dem Leben trachteten, gäbe es keinen besseren Zeitpunkt als diesen. Seine Verwirrung war nie größer als jetzt und so mitten auf dem Pfad gab er ein leichtes Ziel ab, aber nichts passierte, obwohl ihm seine Instinkte immer noch eine große Gefahr aufzeigten. Verdammt noch mal. War er jetzt potentielle Beute oder nicht? Die Ungewissheit war schlimmer als die Angst an sich.
Eine Stunde blieb ihm bis zur Wachablösung und trotz der Anweisung keine Fackeln für unnötiges Licht zu verschwenden, wagte Azul es nicht sich wieder vollkommen blind der Finsternis auszusetzen. Er kehrte zurück zu seinem Felsen, rammte die Fackel in den Boden und hoffte, dass das Licht nicht bis zum Ende seiner Wachzeit erlosch. Gelegentlich leuchtete er die Umgebung aus, aber weder Mensch, Tier oder Utchas waren zu erkennen. Was immer ihn auch in Unruhe versetzte, er konnte es nicht sehen. Es blieb das ungute Gefühl beobachtet zu werden und in einem unachtsamen Moment als großer Bissen Fleisch im Maul eines riesigen Raubtiers zu enden. Kurz überlegte er zurück ins Lager zu rennen und Hilfe bei der Suche seines eingebildeten Jägers zu holen. Da ihm vermutlich eh niemand glauben würde, verwarf er diesen Plan und als seine Zeit rum war, beließ er es bei einer halbherzigen Warnung an seinen Nachfolger. Ein schwerwiegender Fehler, wie sich im Nachhinein herausstellen sollte.
Azul konnte nicht lange geschlafen haben, als ihn von Tranje zum zweiten Mal in dieser Nacht unsanft weckte. Zwar gab es dieses Mal keine Fußtritte, aber die fehlende Begründung für die erneute Störung war ebenso frustrierend. Erst als sein Herr mit der Königstochter erschien, erklärte ihm von Tranje, dass Craven, also genau jener Knappe der sein Nachfolger im Wachdienst war, vermisst wurde. Unbehagen machte sich in Azul breit und das beklemmende Angstgefühl, dass so scheinbar unbegründet war, kehrte augenblicklich zurück. Zu dritt liefen sie den Weg hinauf, während die Morgendämmerung, den neuen Tag ankündigte.
Sie erreichten den Felsen, als die ersten Sonnenstrahlen sich im Wasser des Meeres spiegelten. Eine trügerische Idylle, die jetzt bei Tageslicht betrachtet kaum Möglichkeiten für dunkle Gefahren bot. Azul wusste es besser. Die Gefahr der letzten Nacht war offensichtlich real und seine Instinkte hatten ihm im Glücksspiel bei der Auswahl des Opfers ein Freilos verschafft.
"Craven, der Knappe von Wilmot von Zuertel wachte hier. Offenbar ist er spurlos verschwunden." Von Tranjes Blick kontrollierte die unmittelbare Umgebung.
"Wieder das Haus Zuertel. Offenbar meint es das Schicksal nicht gut mit ihnen." Die Spannungen zwischen dem Haus Zuertel und der Königstochter waren selbst Azul nicht entgangen. Ein möglicher Verlust des Knappen würde diese Spannungen vermutlich weiter verstärken.
"Es gibt keinerlei Spuren. Bis auf ..." Von Tranje hielt eine Feder in die Luft, welche die Länge seines Unterarms besaß.
"Welches Tier hat solch riesige Federn?" staunte Azul. Unmöglich, dass er sie gestern übersehen hatte. Sie musste erst nach seinem Dienst dort hingekommen sein.
"Was immer auch hier war. Es ist vermutlich die Ursache des Verschwindens." Von Tranje ließ seinen Blick in der Umgebung schweifen, um weitere Spuren zu finden.
"Wir schauen in die falsche Richtung." Die Prinzessin neigte ihren Kopf nach hinten.
"Ein Luftangriff? Eine Erklärung, die als einziges passen würde. Allerdings kenne ich keinen einzigen Vogel, der einen ausgewachsenen Mann in die Höhe schleppen könnte."
"Wir sollten mehr auf Sasha hören. Immerhin haben wir sie genau deswegen in der Gruppe."
"Dann bin ich gespannt, wie sie uns die erklären kann." Von Tranje hielt die Feder vor sein Gesicht, so als ob er irgendetwas daraus lesen könnte.
"Wir müssen einen Suchtrupp organisieren." Die Königstochter begab sich zurück auf den Pfad, so dass Azul mit seinem Herrn allein am Felsen zurückblieb.
"Bursche. Du hattest vor ihm Wache. Ist dir was aufgefallen?" fragte von Tranje streng.
"Nichts Greifbares, mein Herr. Mehr eine Ahnung. Ein Gefühl. Wenn da etwas war, verschonte es mich stundenlang."
"Offenbar hat deine Wachsamkeit dir das Leben gerettet. Gut möglich, dass von Zuertels Knappe eingeschlafen ist."
"Ich hätte ihn dringlicher warnen müssen."
"Und hättest nur noch mehr Verachtung bekommen. Dem Sohn eines Bauern schenkt kein Knappe gern Gehör. Gräme dich nicht. Es hätte keinen Unterschied gemacht. Befragen wir die Waldläuferin. Vielleicht gibt es ja noch Hoffnung für den Burschen." Gemeinsam begaben sie sich zurück in das Lager. Auch Azul wollte wissen, was ihn da stundenlang belauert hatte und ihm am Ende doch verschont hatte.
"Das Feuer letzte Nacht. Ihr hattet es so groß, dass vermutlich sämtliche Greife der Umgebung auf euch aufmerksam wurden." Sasha lieferte eine Erklärung, bevor von Tranje sein einziges Beweisstück präsentieren konnte.
"Greife?"
"Ich konnte mindestens fünf ausmachen, aber nur ein Weibchen hatte wirklich Interesse."
"Interesse woran?" Die Prinzessin trat jetzt hinzu.
"Futter natürlich. Sie sind Raubvögel und manchmal landet der Mensch auf ihrem Speiseplan. Besonders wenn er so unvorsichtig ist und sich mit übergroßen Feuern förmlich anbietet."
"Ihr wusstet um die Gefahr und habt uns nicht gewarnt." von Tranje klang jetzt zornig.
"Selbst so ein aggressives Exemplar wie das Gestrige greift im Normalfall nur Alte oder Kranke an und dann auch nur, wenn sie allein sind. Jeder halbwegs gesunde Mensch wird gemieden."
"Es sei denn er ist eingeschlafen." führte von Tranje den Gedanken fort.
"Dann hat der Greif leichtes Spiel. Die schwächste Stelle eines jeden Beutetiers ist der Hals."
"Dann besteht keinerlei Hoffnung?" fragte die Prinzessin.
"Er ist vermutlich gar nicht mehr aufgewacht. Wenn ihr ihn trotzdem suchen wollt, haltet Ausschau nach einem nahegelegenen Hochplateau. Solch schwere Beute kann der Vogel nicht weit tragen."
Es war Azul und seinem Herrn vorbehalten die Suche nach dem vermissten Knappen zu starten. Begleitet von Wilmot von Zuertel begaben sie sich an den Ort seines Verschwindens und nachdem sie die nähere Umgebung in Augenschein genommen hatten, schlussfolgerten sie, dass nach den Einschätzungen von Sasha nur eine Höhle, etwa zwanzig Meter über ihren Köpfen, als Lager der vermeintlichen Beute in Frage kam. Sie begannen die steile Wand empor zu klettern und Azul stellte zu seiner Überraschung fest, dass er ein gewisses Talent für diese Art der Höhenbewältigung besaß. Sein geringes Gewicht, die leichte Kleidung und der Stab, dessen Holz nur ein Bruchteil der Schwerter seiner Begleiter wog, gaben ihm einen zusätzlichen Vorteil gegenüber den schwerfälligen Rittern. Als diese immer noch mit den Widrigkeiten der Wand kämpften, betrat Azul bereits das kleine Plateau und die dunkle Höhle, die sich dahinter auftat, wirkte nicht nur auf Grund ihres fauligen Geruchs bedrohlich. Erneut überkam ihm das Gefühl der Gefahr und als Bestätigung dieser Ahnung bemerkte er ein paar riesige weiße Federn, die hier zahlreich am Boden verstreut lagen. Er ging ein Paar Schritte auf die Höhle zu, schon allein um der bedrückenden Angst des Absturzes zu entgehen, die zwangsläufig in jemanden hochsteigt, der so nah an einem Abgrund steht. Angestrengt starrte er in das dunkle Loch vor ihm, aber er konnte nichts erkennen. Seine Augen hatten sich an das gleißende Licht der Sonne angepasst und wollte er dies ändern, musste er sich zwangsläufig in den Schatten der Höhle wagen. Mutig zog er seinen Stab aus der Halterung und trat in das Halbdunkel. Etwas Weiches unter seinen Füßen brachte ihn kurz ins Straucheln, doch bevor er das schmierige Hindernis in Augenschein nehmen konnte, wurde seine Aufmerksamkeit auf ein mahlendes Geräusch gelenkt. Unweigerlich musste Azul an einen Mühlstein denken, der gnadenlos das Korn zu Mehl verarbeitete. Was in der Götter Namen konnte denn noch genau diesen Ton erzeugen? Die Dunkelheit vor ihm gab immer noch nichts Preis und der Klang des vermeintlichen Mühlsteins lud nicht gerade zum Weitergehen ein. Er beschloss auf seinen Herren zu warten und nach ein paar Momenten des angespannten Spähens, verlor das dunkle Loch vor ihm langsam seine Schwärze. Erste Konturen konnte er ausmachen. Felsen, Sträucher und sogar schwach leuchtende Insekten nahmen jetzt mehr und mehr Gestalt an. Wie ein Kunstwerk, das langsam enthüllt wurde, breitete sich die Höhle vor ihm aus. Trotzdem war da nichts, was einem Müller bei der Arbeit gleichkommen würde. Es wurde Zeit sich dem glitschigen Etwas unter seinem Fuß zu widmen. Er ging in die Hocke und tastete vorsichtig mit einem Finger um seinen Schuh herum, bis er auf einen kleinen feuchten Beutel stieß. Der Trinkschlauch von Craven, schlussfolgerte Azul und als er beherzt zugriff, wurde ihm sein Irrtum bewusst. Das war kein Wasser. Was hier an seiner Hand klebte war Blut. Angewidert ließ er den vermeintlichen Trinkschlauch fallen und trat einen Schritt zurück. Das Mahlen hörte schlagartig auf und die plötzlich einsetzende Stille vor ihm ließ ihn erstarren. Der irrwitzige Gedanke, dass da etwas in dem Halbdunkel lauerte und sich bei der nächsten kleinen Bewegung schreiend auf ihn stürzen würde, ließ ihn für den Moment erstarren. Bisher konnte er keinerlei Aktivitäten ausmachen, aber er war sich nicht sicher, ob er die komplette Höhle einsehen konnte. Vorsichtig bewegte er seinen Kopf und schlagartig wurde ihm sein zweiter Fehler bewusst. Das waren keine Insekten, die da glimmend der Hitze des Tages zu entkommen versuchten. Die schwach leuchtenden Punkte waren Augen, die ihn hinter einem Felsvorsprung musterten.
Azul war nun wahrlich kein Naturbursche, aber eines wusste er über Raubtiere. Hunger und Bedrohung machten sie zu einem unkalkulierbaren Risiko. Den ersten Punkt konnte er weites gehend ausschließen, da Cravens Eingeweide an seiner Schuhsohle auf ein üppiges Mahl schließen ließen. Es galt nun diesen drohenden Augen zu vermitteln, dass von Azul keinerlei Ärger ausgehen würde. Die Warnung war ja unüberhörbar gewesen, aber erst jetzt konnte er das mahlende Geräusch richtig einordnen. Was immer da im Dunkeln lauerte, hatte ebenfalls kein Interesse an einer Eskalation der Situation und so bewegte er sich jeden Laut vermeidend dem sonnendurchfluteten Höhlenausgang zu. Von Zuertel erreichte gerade das Plateau und als er Azuls blutige Hand erblickte, ging sein Arm reflexartig zum Griff seiner Klinge.
"Was ist hier los? Erzähl schon. Ist mein Knappe dort drin?" fragte von Zuertel harsch.
"Äh... ja." stotterte Azul. Sein Geist schaffte es nicht den mentalen Hebel in angemessener Zeit von der Bedrohung im Inneren der Höhle auf den vermeintlichen Normalzustand umzulegen.
"Ihr solltet nicht da hinein, euer Herrschaft." schob Azul noch nach, als von Zuertel einen Schritt Richtung Höhle machte.
"Seit wann gibt ein Bauer einem Ritter Ratschläge. Viel zu lang habe ich den Frevel an meinem Haus tatenlos zugesehen. Es wird Zeit etwas zu unternehmen." von Zuertel wirkte wild entschlossen.
"Bändigt euren Zorn. Er blendet eure Urteilskraft." von Tranje kletterte gerade über den Rand und trotz seiner schnellen Atmung hielten die Worte Wilmot für den Moment zurück.
"Wir müssen dort hinein." von Zuertel hob sein Schwert.
"Er ist tot, euer Herrschaft." Azul hielt ihm die blutige Hand entgegen.
"Dann soll diese Greifenkreatur für seinen Tod bezahlen." von Zuertel näherte sich wieder der Höhle, aber von Tranje hinderte ihn an weiteren Schritten, indem er seinen Arm auf seine Schulter legte.
"Seit wann zieht das Haus von Zuertel für seine gefallenen Knappen in den Kampf? Eure Trauer für euren gefallenen Bruder dürstet nach Rache, aber dieser Vogel wird diesen Durst nicht stillen, selbst wenn ihr trotz stumpfer Klinge siegreich seien solltet. Bewahrt einen kühlen Kopf. Der Zeitpunkt für eure Rache wird kommen." versuchte von Tranje den heißgelaufenen von Zuertel zu bändigen. Vergebens. Wilmot von Zuertel warf sein edles Schwert auf den felsigen Untergrund und baute sich vor Azul auf.
"Es ist lächerlich, dass so ein Bauerndödel eine wirksamere Waffe besitzt, als die meisten seiner Herren." Bevor Azul begriff was ihm geschehen würde, riss ihm von Zuertel den Stab aus der Hand. Für einen Moment stand dieser einfach nur da und konzentrierte sich auf sein neues Beutestück. Diese Konzentration verstärkte sich zunehmend und wechselte zu einem inneren Kampf mit sich selbst. Ein Kampf, den er nicht gewinnen konnte und als er den Stab von sich warf, als wäre es ein heißes Stück Eisen, schien sein Zorn in Furcht umzuschlagen.
"Dieser Stab ist verflucht." presste er gedrückt hervor.
"Tod und Zerstörung sind das Ziel." ergänzte er zitternd und wandte sich wieder Richtung Höhle.
"Diese Kreatur dort drinnen ist dem Tode geweiht. Wir alle haben das selbe Schicksal." Sein Blick fiel auf den weg geworfenen Stab, so als wüsste er mehr als die Umstehenden. Als hätte er gerade in eine unveränderliche Zukunft gesehen. Von Zuertel ergriff sein Schwert, schob es in die Scheide und machte sich an den Abstieg.
"Das Orakel, mein Herr." flüsterte Azul leise und rief sich sein potentielles Schicksal als "Zerstörer der Welten" in Erinnerung.
"Nicht der Fluss auf dem wir reisen ist unser Bestimmung. Wir alle sitzen nur am Ruder unseres kleinen Bootes, dass auf den Namen Leben getauft wurde. Es liegt an uns den Kurs zu bestimmen und kein Orakel kann uns dabei reinreden. Wir haben es selbst in der Hand, ob wir in seichten Gewässern dahinplätschern oder in tosenden Wasserfällen untergehen. Es ist eine schwere Last, wenn das Schicksal Einzelner mit dem Schicksal der Mehrheit verbunden ist. Ich habe keine Zweifel, dass Azul nicht den Weg des "Zerstörer der Welten" wählt. Dieser Stab ist wie ein wilder Hengst. Lenke seine wilden Triebe in die richtige Bahn. Er braucht die strenge Hand seines Besitzers, dann wird er dir ein treuer Gefährte sein."
"Was, wenn der Stab genau mich ausgewählt hat, weil er weiß, dass ich das nicht hinbekomme?" fragte Azul vorsichtig.
"Dann mein Junge hat von Zuertel Recht. Dann sind wir alle verloren."
Diese schonungslose Wahrheit machte es Azul nicht leicht die Felswand wieder hinab zu klettern. Was immer auch von Zuertel in den Sekunden des Kontaktes mit dem Stab widerfahren war, es bestätigte die unheimliche Macht, die von dieser Waffe ausging. Eine bösartige Macht, die einem schüchternen Bauernjungen vorgesetzt wurde, dessen mangelnde Selbstsicherheit nur noch von seinen fehlenden Kampfqualitäten unterboten wurde. Es glich schon einem Witz, dass ausgerechnet er in den Besitz dieser ultimativen Waffe gelangte. Leider war die Angelegenheit nicht zum Lachen, denn jedes Leben auf Osos war davon abhängig, dass er diese Waffe beherrschen würde. Eine Bürde, die er durch einen einfachen Ausweg loswerden konnte. Die Gelegenheit war günstig. Er brauchte einfach nur loslassen und die Schwerkraft würde für ein blutiges Ende sorgen. Jemand Anderes hätte dann das Problem. Jemand, bei dem die Möglichkeiten womöglich besser standen.
Azul ließ nicht los und das gute Gefühl dem Drang erfolgreich widerstanden zu haben, wich die Erkenntnis einen neuen Todfeind zu haben. Wilmot von Zuertel hatte ihn bisher mit Nichtachtung bedacht, aber jetzt war Azul zu einer ernsthaften Bedrohung aufgestiegen. Für Leute des adligen Standes eines von Zuertel gab es verschiedene Möglichkeiten dieser Bedrohung Herr zu werden, da aber sein Problem nur ein einfacher Knappe war, drängte sich die einfachste Variante förmlich auf. Ein gezielter Hieb mit dem Breitschwert in einem Moment, der jede noch so einfältige Ausrede als Notwendigkeit darstellen würde und der "Bezwinger der Schattenwölfe" huldigte den Göttern im Himmelreich persönlich. Für Azul stieg die Möglichkeit eines frühzeitigen Ablebens mit jedem Tag. In der Welt von Askalan beschränkte sich die Auswahl seiner Feinde nicht ausschließlich auf die einheimische Bevölkerung.
Von Tranje erstattete der Prinzessin Bericht, die sie bereits am Fuße der Steilwand erwartete. Das provisorische Lager am Rande von Spuuun war aufgelöst worden und der Trupp hatte sämtliche Vorbreitungen für den langen Marsch auf die Höhen von Verdan bereits abgeschlossen. Die blank geputzten Rüstungen der Ritter spiegelten die Strahlen der Morgensonne wieder und wirkten wie leuchtende Fremdkörper auf dem felsigen Küstenpfad. Trotz der zu erwartenden Hitze verzichtete keiner der Adligen auf seinen Schutz, denn auch hier in der Wildnis galten die militärischen Regeln von Galatien. Der Einzige, der es wagte diese schweißtreibende Vormundschaft zu ignorieren, war von Tranje. Sein Schutzpanzer hatte nie die Planken der "Stolz von Galatien" verlassen und sein Vertrauen galt einzig und allein einem dünnen Hemd, dass aus einem seltsamen Stoff gewebt wurde, dessen Zusammensetzung eher an Spinnweben, als auf Wolle schließen lies.
Die Felswand im Norden verhinderte einen direkten Weg ins Landesinnere, so dass sie gezwungen waren den Küstenpfad Richtung Osten zu folgen. Mehrere Umstände behinderten bereits jetzt ein zügiges Vorankommen und zwangen die Prinzessin zu unangenehmen Maßnahmen. Der Versorgungstross, der hauptsächlich aus Pferdefuhrwerken bestand, war vollkommen ungeeignet für den steinigen und schmalen Pfad. Im zu erwartenden tropischen Dickicht würde es unmöglich werden die Karren voranzubringen, also wurden die Zugpferde nur mit dem nötigsten beladen. Das begrenzte die Nahrungsvorräte, die selbst bei größter Rationierung ihnen spätestens in drei Tagen ausgehen würden. Eine erfolgreiche Jagd war also lebensnotwendig geworden und nur Sasha und ihr Bruder besaßen die nötigen Kenntnisse. Letzterer war neben Burmunt durch die Nachwirkungen der Kämpfe stark angeschlagen und trug seinen Anteil an der Verzögerung bei. Der Start zur Quelle der Jugend stand unter keinem guten Stern und die zu erwartenden Entbehrungen würde den verwöhnten Adel mit Sicherheit an die Grenzen der Belastung bringen.
Sie folgten dem Pfad und gegen Mittag erreichten sie einen schmalen Pass, über den sie endlich die nördliche Klippe überwinden konnten. Azul kämpfte nicht nur mit der hohen Luftfeuchte und dem steilen Anstieg, auch das Tempo, das Sasha als ihre Führerin anschlug, überforderte seinen Körper. Vollkommen außer Atem erreichte er die Spitze und als er zurück schaute auf die kleine Bucht von Spuuun, überwältigte ihn der fantastische Ausblick. Er erkannte Ribus und Zekerus, die gigantischen Steinfiguren, die als Sinnbild für bessere Tage die Zeit überdauert hatten. Vor seinem geistigen Auge sah er Schiffe in eine prächtige Stadt einlaufen, deren Einwohner das gute Leben genossen und nicht ahnten, welche Katastrophen sie eines Tages ereilen sollten. Unweigerlich kam ihm der Vergleich zu Dreiwasser in den Sinn und Mitleid machte sich in ihm breit, als er an die vielen Kinder dachte, die sich vermutlich nicht unterschieden von den Kindern aus Spuuun. Dieses Drama durfte sich nicht wiederholen, also richtete er seinen Blick nach vorne und der grüne Teppich, der sich unter ihm ausbreitete schien kein Ende zu kennen. Ein riesiger tropischer Wald erwartete sie nach ihrem Abstieg und wie eine Schlange, die über eine Wiese kroch, wurde er durchzogen von einem Fluss, dessen Breite sämtliche Gewässer von Osos zu Rinnsalen verkommen ließ. Eine neue Welt lag vor ihm und als von Tranje ihn antrieb nicht zu verharren, machte er sich an den Abstieg in der Gewissheit neue Abenteuer zu erleben. Was immer ihn da unten erwartete, es würde ihn auf eine Art verändern, die er sich in diesem Moment nicht mal ansatzweise vorstellen konnte.
Jessicas schlimmste Befürchtungen hatten sich als wahr erwiesen. Sie hatten ein weiteres Opfer zu beklagen und die Tatsache, dass wiederum das Haus von Zuertel involviert war, würde ihr weiteres Unterfangen auf Askalan zwangsweise erschweren. Als Wilmot von Zuertel von der Klippe stieg, wirkte er nicht nur wütend und extrem feindselig, er hatte zusätzlich noch eine unangenehme Art von Verstörtheit an sich, die ihr von all den Empfindungen am meisten Sorge bereitete. Sie waren noch keinen Tag in dieser Welt und schon gab es Tod, Verletzung und Misstrauen innerhalb ihrer Gruppe. Als Anführerin war es ihre Aufgabe genau solche Einflüsse von ihrer Unternehmung fern zu halten, aber das Gefühl genau dahingehend versagt zu haben, ließ die Zweifel wachsen jemals eine fähige Königin zu werden. Sie verzichtete darauf von Zuertel nach den genauen Umständen zu befragen und widmete sich der Organisation des Aufbruches ins Landesinnere. Die Versorgungswagen stellten sich als großes Problem da und unter schwerem Protest entschied sie sich einen Großteil ihrer Ausrüstung zurückzulassen. Weiteres Futter für den Konflikt zwischen ihr und der Gefolgschaft, der zwar immer noch hinter vorgehaltener Hand schwellte, aber stetig anwuchs. Das Misstrauen in ihre Fähigkeiten als Anführerin war groß und in gewissem Maße konnte sie die Bedenken auch nachvollziehen, aber es gab keine Alternative. Ihre Herkunft zwang sie zu dieser Führerschaft und auch wenn sie nicht den Eindruck vermittelte, litt sie am meisten unter dieser Bürde. Schwäche durfte sie sich nicht leisten und die Härte, mit der sie versuchte genau diese Schwäche zu kaschieren, ging zu Lasten anderer Gefühle. Mitgefühl und Empathie waren die ersten Opfer. Die Veränderung ihres Wesens schritt unaufhörlich voran und obwohl Jessica klug genug war diesen Wandel zu bemerken, ergab sie sich ihrem Schicksal. Ihr Weg war unwiderruflich vorgezeichnet. Sie musste weg von einer emotional instabilen Prinzessin hin zu einer unfehlbaren Anführerin.
Sie passierten das Felsmassiv über einen kleinen Pass im Osten und als das allgegenwärtige Meeresrauschen endlich ersetzt wurde durch eine Geräuschkulisse verschiedener Tierlaute, hatte Jessica das erste Mal das Gefühl wirklich voranzukommen. Nie zuvor hatte sie einen Wald, wie den vor ihnen liegenden gesehen. Schon allein die Pflanzen waren von so exotischer Vielfalt, dass sie für einen ganzen Berg an unglaublichen Geschichten für Osos reichen würden. Bäume mit einem Stammumfang, der eine heimische Eiche mindestens um das dreifache übertraf, versetzten sie in Staunen. Noch nie hatte sie so riesige Baumwipfel gesehen. Ein Dach aus Blättern beschützte sie vor der prallen Sonne und tauchte die Umgebung in ein gedämpftes Tageslicht. Farne in verschiedenen Formen und Grüntönen bedeckten den Boden und ließen die Schritte federn. Blaue Pilze fungierten als Farbtupfer in einer ansonsten fast ausschließlich grünen Welt. Sie bedeckten die oberirdischen Wurzeln der Bäume und wirkten in Form und Farbe verführerisch. Die Geräuschkulisse an Vogellauten war allgegenwärtig und wurde gelegentlich nur durch einen schrillen Schrei durchbrochen, was Sasha einem Brüllaffen zuordnete. Dieser Dschungel war so voller Leben und in seinem Erscheinungsbild das komplette Gegenteil der ruhigen Mischwälder von Osos, die im Winter auch schon mal in weißer Stille erblühten.
Die Faszination über die exotische Vielfalt an Pflanzen und allerlei Kriechgetier täuschte nicht über die eigentliche Gefahr dieses Ortes hinweg. Sasha erklärte nur einmal, was unbedingt vermieden werden sollte, um nicht durch falsches Handeln dem Tode zu erliegen. So ziemlich alles war giftig in diesem Wald. Schlangen, Käfer, Beeren und sogar Wasser könnten durch die Ahnungslosigkeit der Fremden schnell zu unangenehmen Folgen führen. In ihrer unnachahmlichen Art erklärte sie, dass jedes Tier in dieser Wildnis keinerlei Bedrohung darstellte, solange es nicht in irgendeiner Art provoziert wurde. Der Einklang der Natur war ihr wichtig und als Fremdkörper in dieser neuen Welt hatten sich Jessica und die Anderen dieser Umgebung zu unterwerfen, wenn sie denn überleben wollten. Mehr als vier Tage würden sie durch diesen grünen Dschungel brauchen, um den Tempel der Saphia zu erreichen. Ein ehemals prachtvoller Bau am Pen-Fluss, der die Lebensader dieser Tropen darstellte.
Die Gruppe kam nur schleppend voran, was nicht ausschließlich dem unwegsamen Gelände geschuldet war. Sie hatten zwei Verletzte dabei und während Alvor sich in der natürlichen Umgebung wieder zu erholen schien, verschlechterte sich Burmunts gesundheitlicher Zustand rapide. Geplagt von Fieberschüben behinderte er das Vorankommen enorm und am zweiten Tag ihrer Wanderung durch die grüne Wildnis waren sie gezwungen den geplanten Tagesmarsch vorzeitig zu beenden. Sie schlugen ihr Lager auf und nach einer spärlichen Mahlzeit trafen sich von Tranje, Sasha, die Prinzessin und zwei weitere Adlige um das weitere Vorgehen zu beraten.
"Er wird es nicht schaffen." eröffnete Finley von Dormat die unangenehme Diskussion.
"Das ist nicht sicher." von Tranje klang allerdings ebenso wenig hoffnungsvoll.
"Was er braucht ist Wagum-Tee. Ein Gemisch aus Kräutern der Umgebung. Es wird das Fieber senken." erklärte Sasha.
"Sagtet Ihr nicht, hier ist alles giftig." fiel Jessica in die Diskussion ein.
"Dem ist so." erwiderte Sasha kurz.
"Dann kommt mir eure Heilungsmethode nicht sehr sinnvoll vor." warf von Tranje ein.
"Es wirkt. Glaub mir. Leider kenne ich die genaue Dosierung nicht." Sasha wirkte leicht angespannt.
"Die blauen Pilze sind leicht zu finden. Haltet zusätzlich Ausschau nach einer weißlichen Blume mit genau sieben Blättern am Stängel." erklärte sie.
"Perlmut-Kraut. Ein wahrlich giftiges Gewächs." von Tranje zweifelte an Sashas Vorhaben.
"In Verbindung mit den Pilzen setzt es einen heilenden Wirkstoff frei."
"Ihr seid kein Heiler. Warum sollten wir Euch vertrauen?" von Dormats herablassender Tonfall war typisch für seinen Umgang mit Leuten, die aus seiner Sicht nicht den passenden Stand besaßen. Sashas passende Antwort bestand aus Ignoranz.
"Auf ein Wort." Jessica nahm Sasha zur Seite.
"Seid Ihr sicher, dass Ihr das tun wollt? Man wird Euch dafür verantwortlich machen, für den Fall, dass der Tee ihn vergiftet." erklärte sie.
"Ich verstehe eure Welt nicht. Dieser Mann ist dem Tode nahe und trotzdem beherrschen Argwohn und Schuldzuweisung euer Handeln. Ist es bei euch Sitte dieses Verhalten über das Leben eines Mannes zu stellen. Ohne die Arznei wird er sterben. Gebt ihm wenigstens eine kleine Möglichkeit des Überlebens." Sasha klang ein wenig verärgert.
"Dann tut es." Jessica musste einsehen, dass Sasha mit ihren Ausführungen recht hatte. Burmunt würde den Tag nicht überstehen und da ihr eigener Heiler bereits die Möglichkeiten ausgeschöpft hatte, lag seine einzige Hoffnung nun in diesem Gebräu aus den vermutlich giftigsten Substanzen von Askalan. Sollte die Gruppe ein weiteres Opfer betrauern müssen, würde sich der Stau an angesammelten Frustrationen entfesseln und mit Sicherheit auf Sasha niedergehen. Zu gut kannte Jessica die Mechanismen der menschlichen Seele, welche in solchen Situationen den Weg des geringsten Widerstandes suchten. Was bot sich da besser an, als eine Fremde, die mit einer Mixtur aus den feinsten Giften des Kontinents, das Unausweichliche nur beschleunigte. Mögen die Götter dafür sorgen, dass die Sache für Burmunt einen guten Ausgang nahm, denn ansonsten drohte ihrer Unternehmung weiteres Ungemach.
Es dauerte nicht lange und alle Zutaten waren herbeigeschafft. Sashas Unkenntnis war offensichtlich, denn immer wieder veränderte sie die einzelnen Anteile, die ausgebreitet vor ihr auf einer Wolldecke lagen. Sie zögerte kurz, als sie die vermeintlich richtige Zusammensetzung vor sich liegen hatte. Dann raffte sie alles zusammen und warf das Gemisch aus Kräutern und Pilzen in einen Topf voller kochendem Wasser. Sofort machte sich ein fürchterlicher Gestank breit, der Sasha ein bestätigendes Lächeln ins Gesicht zauberte.
"Ein gutes Zeichen." beruhigte sie Jessica, die mit argwöhnischer Miene vor dem Feuer stand. Eine hölzerne Kelle diente als Rührwerkzeug und als Sasha es für angebracht hielt, füllte sie einen Becher mit dem stinkenden Getränk.
"Ich sehe immer noch Misstrauen in deinen Augen." kommentierte sie Jessicas zweifelndes Gesicht, als sie auf die Abkühlung warteten.
"Ich bin mir sicher, dass die Mischung passt. Wenn es nicht wirkt, war das Fieber bereits zu weit fortgeschritten." erklärte Sasha.
"Das ist ohne Bedeutung im Falle seines Todes. Ich fürchte, dann werdet ihr als alleinige Schuldige herhalten müssen." sagte die Königstochter traurig. Sasha schaute ihr tief in die Augen und das grelle Grün in ihrer Iris schien Jessica zu verspotten. Ein schelmisches Lächeln in ihren Mundwinkeln verstärkte diesen Eindruck und verlieh ihrem Gesicht ein leicht verrücktes Antlitz. Sie hob den Becher an ihre Lippen und nahm einen kräftigen Schluck. Keinerlei Zweifel waren zu erkennen, als sie wieder absetzte und Jessica hatte Mühe ihre Bewunderung hinter einer Fassade aus königlicher Souveränität zu verstecken. Besäße sie nur ein Bruchteil dieser Selbstsicherheit, die so nah an der Arroganz war, dass sie kaum noch zu unterscheiden waren und die angehende Königin würde einer glorreichen Herrschaft entgegenstreben. Sasha begab sich zu Burmunt und flößte ihm den Rest ein. Sollte sie sich geirrt haben, würde es gleich zwei weitere Gräber geben.
"Eine beeindruckende Person." von Tranje schien sichtlich beeindruckt.
"Ich hoffe wir haben noch eine Weile was von ihr." bestätigte Jessica.
"Wir sollten die Zeit nutzen, um zu jagen. Alvor hat uns verschiedene Ratschläge gegeben. Ich hoffe wir können das Abendmahl mit einem kräftigen Stück Fleisch aufwerten." von Tranje war bereits vorbereitet und wartete nur noch auf eine Bestätigung der Königstochter. Ein kurzes Nicken und schon war der größte Teil der Gruppe in den umliegenden Wäldern verschwunden.
Jessica organisierte den Aufbau des provisorischen Lagers. Es hatte sich als hilfreich erwiesen mit ein paar Feuern die hiesige Tierwelt auf Abstand zu halten, aber es war schwierig brennbares Holz zu finden. Die vielfältigen Pflanzen steckten so voller Wasser, dass keine Flamme ihnen was anhaben konnte. Einzig und allein abgestorbene Bäume dienten als brauchbares Material, aber genau die waren Mangelware in diesem Wald voller Leben. Während die eine Hälfte ihrer Gefolgschaft auf der Jagd war, suchte die andere Hälfte nach Brennmaterial. Für Jessica stellte es eine passende Gelegenheit dar, ihren Kopf bei einfachen Tätigkeiten frei zu bekommen, aber ausgerechnet Quatar bot sich als Begleitung an und damit war geistige Anspannung absehbar.
"Eine perfekte Gelegenheit, um an eurem Heldenepos zu schreiben." versuchte sie das Ganze doch noch abzuwenden.
"Eine noch bessere Gelegenheit, um in eurer Nähe zu verweilen." konterte er in gewohnter Manier, um ihr durchschaubares Manöver zu durchkreuzen. Jessica hatte bereits jetzt alle Mühe die Fassung zu wahren.
"Ihr solltet Euch einen respektvolleren Ton gegenüber der königlichen Familie angewöhnen." erwiderte sie streng.
"Und mich in das Heer kriecherischer Untertanen einordnen. Wie sollte ich dann eure Aufmerksamkeit erlangen." gab er schelmisch zurück.
"Ich weiß nicht welche Absichten ihr verfolgt, aber es wird nicht funktionieren." Jessica fiel es schwer ihr bisschen Selbstsicherheit zu erhalten.
"Spürt ihr es nicht?" Quatar atmete tief ein.
"Dieser Freigeist hier draußen. Saugt ihn in Euch auf eure Hoheit. Der ganze Mief von Saetung wird Euch schneller zurückbekommen, als Euch lieb ist. Nutzt die Zeit und wagt ein wirkliches Abenteuer. Spottet der königlichen Etikette. Tut etwas Verrücktes."
"Und was schlagt Ihr vor? Sollen wir unbekleidet durch den Wald laufen und Loblieder auf die Freiheit singen?" frotzelte Jessica.
"Mir liegt wirklich was an Euch, aber nicht ausschließlich in der Form, an die Ihr denkt." Quatars Stimmung war von Begeisterung in Bedrücktheit umgeschlagen.
"Ich sehe die traurige Zukunft einer Königin voraus. Das Leben wird Euch in eine Form pressen, in die Ihr nicht passt. Ihr werdet ein Abbild eures Vaters werden, wie er ein Abbild seines Vaters geworden ist. Logisch, berechnend und immer der neusten Intrige entgegenwirkend. Das bedaure ich, denn das nimmt uns die Möglichkeit der Erkenntnis, wie die Alternative aussehen könnte. Herz, Verstand und Anmut sind eure Stärken, aber das steht konträr zu der Verantwortung einer Königin. Der Liebe solltet ihr folgen, nicht der Macht." Quatar wirkte aufrichtig traurig.
"Es ist das Privileg eines Künstlers gewisse Freiheiten auszuleben. Zu meinem Bedauern ist es nicht das Privileg einer angehenden Königin. Mein Schicksal ist vorgezeichnet seit dem Tage meiner Geburt. Die Alternative von der Ihr sprecht, hat es nie gegeben. Ihr seid vernarrt in eine Person, die nicht existent ist und niemals existieren wird. Wenn ich mich mit diesem Schicksal abfinden konnte, werdet Ihr das auch können." Jessicas Stimme klang streng und geordnet, aber innerlich drohte sie die Wahrheit zu zerreißen, denn nichts Anderes wurde ihr gerade offenbart. Sie hatte nie die Wahl zwischen Verpflichtung oder Selbstbestimmung. Ihr Platz in der Geschichte war vorgezeichnet und nun lag es an ihr, ob die Historiker ihr Triumph oder Versagen bescheinigten. Keiner der großen Persönlichkeiten hatte es mit Anmut oder Herz in die Chroniken von Galatien geschafft. Die Bürde ihres Geschlechts verlangte umso mehr Stärke und Entschlossenheit.
"Erlaubt mir trotzdem den gelegentlichen Versuch Euch vom Gegenteil zu überzeugen." verfiel Quatar wieder in die kecke Art der Konversation.
"Ich wäre enttäuscht, wenn Ihr es nicht tätet." Zum ersten Mal schenkte sie ihm ein sanftes Lächeln, was in Quatar vermutlich ein Feuerwerk der Euphorie entzündete. Sie musste sich eingestehen, dass sie seine Gegenwart genoss, aber wie der Tabak der Belonier, führte zuviel Genuss zu einer Abhängigkeit. Sie musste aufpassen es nicht zu übertreiben. Gemeinsam kehrten sie zum Lager zurück, mit einer Hand voll Holz für die abendlichen Feuer.
Jessicas erster Weg führte sie zu Burmunt, aber außer der Tatsache, dass er noch am Leben war, konnte sie keine Besserung an seinem Zustand feststellen. In der Nacht würde sich sein Schicksal entscheiden und bis dahin waren Gebete die einzige Unterstützung für seinen Kampf gegen das Fieber. Da Sasha sich weiterhin bester Gesundheit erfreute, standen seine Chancen auf ein Überleben nicht schlecht. Jedenfalls würde ihn nicht der Tod durch eine falsche Zusammensetzung der giftigen Pflanzen von Askalan ereilen. Gerade in solch stolzen Familien war die Form des Ablebens ein wichtiger Bestandteil der Familienchronik und eine versehentliche Vergiftung brachte in der Hinsicht wenig Ruhm ein. Ein glorreiches Ende war in der friedlichen Epoche von Osos ohnehin selten, aber ihre Expedition bot eine perfekte Möglichkeit beim königlichen Haus mit Loyalität Ansehen und damit einhergehend Privilegien zu erhalten, auch wenn diese Loyalität bis in den Tod führt.
Die Nacht brach an und der typische Geräuschpegel der Umgebung klang ein wenig ab, so als würde das schwindende Sonnenlicht einen Schleier der Müdigkeit über all die Brüllaffen, Vögel und Raubtiere der Umgebung legen. Die Feuer wurden entzündet und die Jagdausbeute, welche sich auf ein paar kleine Nagetiere beschränkte von der Jessica hoffte, dass es sich nicht um einheimische Ratten handelte, wurde gehäutet und an provisorischen Spießen gebraten. Der Geruch von gebratenem Fleisch lag in der Luft und in Kombination mit dem Knistern des Lagerfeuers stellte sich eine ungeahnte Entspannung ein. Quatar begann eine seiner Geschichten, in dem die Helden scheinbar immer um die holde Jungfrau buhlten und dabei die merkwürdigsten Geschöpfe besiegten. Nicht ein einziges Mal scheiterten diese Unternehmungen, die in ihrer Durchführung so perfekt abliefen und in schöner Regelmäßigkeit mit einem innigen Kuss der schönen Maid endeten. Quatar hatte ein rhetorisches Talent mit Dramaturgie und Romantik seine Zuhörer zu fesseln. Für einen Moment glaubte Jessica mitten in einer dieser Geschichten zu stecken, aber der Tod war nie Begleiter solcher Übermenschen, die so leicht den Drachen niederstreckten und sich der unterwürfigen Weiblichkeit hingaben. Die Realität verursachte weit mehr Leid und hinterließ ein komplexes Meer an Emotionen. Jessicas Blick viel auf von Zuertel, der sich seit den Ereignissen auf der Klippe auffällig bedeckt hielt. Diese vermeintliche Ruhe beunruhigte sie mehr, als die offene Unzufriedenheit, die er ihr in Spuuun entgegenbrachte.
"Ich habe Neuigkeiten." Im flackernden Licht des Feuers kam das grün in Sashas Augen nur unzureichend zur Geltung, aber trotzdem verlor sie keinerlei Eleganz und Anmut in ihrer Erscheinung. Jessica folgte ihr zum Lager von Burmunt.
"Wie geht es Euch?" fragte sie, als sie merkte das Burmunt wieder halbwegs Herr seiner Sinne war.
"Etwas schwach, eure Hoheit." bekam sie eine gequälte Antwort. Lautes Lachen drang vom Feuer zu ihnen herüber. Ein eindeutiges Anzeichen dafür, dass die Abwesenheit der Königstochter die Stimmung weiter auflockerte.
"Ruht Euch aus." Die Worte kamen fürsorglicher rüber, als ihr lieb war.
"Er wird wieder vollkommen gesunden." erklärte ihr Sasha, als sie unter sich waren.
"Danke. Ich hätte nie an Euch zweifeln sollen." Jessica versuchte die Worte fest und entschlossen zu formulieren.
"Du zweifelst nicht an mir, sondern an dir selber. Du bist der ganzen Sache nicht gewachsen. Niemand von euch ist das. Geht nicht zu diesem Tempel. Kein Mensch mit Verstand sollte da hinein."
"Es ist notwendig." versicherte Jessica.
"Ihr habt bereits eine meiner Warnungen ignoriert. Wenn ihr euch da hinbegebt, wird es diesmal nicht bei einem toten Knappen bleiben."
"Ihr spürt wieder Gefahr?" fragte Jessica.
"Ich spüre dort gar nichts. Kein Leben. Nicht mal in der Umgebung. Selbst die Tiere meiden diesen Ort." Sashas Tonfall ließ Jessica frösteln.
"Wir haben keine Wahl. Wir können nicht wehrlos durch Askalan streifen. Nicht nachdem, was Ihr uns erzählt habt." verteidigte Jessica ihre Entscheidung.
"Ich werde euch dort hinbringen, aber betreten werde ich diesen Tempel nicht." Eine gewisse Trauer lag in ihrer Stimme. Sasha zögerte kurz, so als ob sie ihre Warnung ein weiteres Mal erneuern wollte. Sie verzichtete darauf und ließ Jessica allein. Die Bürde der Anführerin hatte in diesem Moment wieder massiv an Gewicht zugenommen. Egal wie ihre Entscheidung ausfallen würde, sie hatte nur die Wahl des geringsten Übels. Die Gefahr im Norden hatte bereits die Hände nach ihnen ausgestreckt und war damit greifbarer als irgendwelche Schauergeschichten über verfluchte Tempel. Sie benötigten dringend brauchbare Waffen und so ignorierte sie erneut Sashas Warnung. Das gute Gefühl, das sich einstellte, wenn endlich ein klarer Weg vor einem liegt, täuschte nur kurz über die Zweifel der getroffenen Entscheidung hinweg. Sasha hatte Recht. Sie war der Sache nicht mal ansatzweise gewachsen.
Am nächsten Morgen verdunkelten Regenwolken die Umgebung. Ein grauer Schleier legte sich über das gewohnte satte Grün der Pflanzen und schien ihnen damit ein Teil ihrer Lebensenergie zu rauben. Die zurückhaltenden Vogellaute untermauerten den Eindruck, dass ein trüber Tag vor ihnen lag. Bisher blieb es trocken und die gewohnte Wärme vermittelte wenigstens ein wenig die Illusion eines normalen Tages. Jessicas erster Weg nach dem Aufstehen führte zu Burmunt, der die Nacht sichtlich zur Erholung genutzt hatte. Keinerlei Fieberschübe erschüttern ihn mehr, aber die Schwäche war ihm noch deutlich anzusehen. Er musste weiterhin auf einer der Versorgungskarren transportiert werden, was die Reisegeschwindigkeit weiter verringerte. Gegen Mittag prasselten die ersten Regentropfen auf das Dach aus Blättern und mit zeitlicher Verzögerung ging das Wasser auf die Gruppe nieder und erschwerte das weitere Vorankommen zusätzlich. Der permanente Regen zwang sie ihr Nachtlager wasserdicht auszulegen, was trotz aller Mühe nur eingeschränkt gelang. Ohne die prasselnden Feuer am Abend und dem Dauerregen permanent ausgesetzt, verschlechterte sich die Stimmung innerhalb der Gruppe rapide. Erst am vierten Morgen zeigte sich die arg vermisste Sonne wieder und erwärmte nicht nur die durchgeweichten Gemüter der Reisenden. Sie waren nur noch einen Tagesmarsch entfernt von ihrem ersten Ziel. Die beschwerliche Reise stand vor ihrem nächsten Höhepunkt.
Die Bäume auf ihrem gesamten Weg standen so dicht, dass die vor ihnen liegende Lichtung, die erste landschaftliche Abwechslung seit Tagen war. Für Jessica war es unerklärlich, dass die Sonne verdunkelnden Riesen sich diese Wiese mit ihren Ablegern nicht einfach einverleibt hatten. Es schien fast so, als trauten sie sich nicht eine unsichtbare Grenze zu überschreiten. Der Waldrand war so an einer Linie gezogen, dass selbst der beste Gärtner von Galatien keine perfektere Abgrenzung hinbekommen hätte. Nicht eine Wurzel hatte sich auf die Farn überzogene Ebene verirrt. Regelrecht unheimlich wirkte das ungewohnt grelle Sonnenlicht auf die Besucher.
"Wir sind da. Ihr müsst nur noch durch diesen kleinen Wald dort drüben." verkündete Sasha trocken. Jessica spähte auf die Bäume am anderen Ende der Lichtung. Keine Giganten mit dickem Stammumfang. Dürres fast kränklich wirkendes Gestrüpp wucherte chaotisch und schlängelte sich um schmale abgestorbene Stämme, die jegliches Grün vermissen ließen. Obwohl keine großen Baumwipfel das Sonnenlicht zurückhielten, war es weitaus düsterer als im Dschungel hinter ihnen. Es schien fast so, als würde irgendwas das Tageslicht verschlucken.
"Wirkt nicht besonders einladend." stellte von Tranje fest.
"Wie sollen wir dort durchkommen? Alles scheint so verwildert." Jessica zweifelte bei dem trostlosen Anblick vor ihr an der Richtigkeit ihres Unterfangens.
"Darüber machen wir uns morgen Gedanken. Wir haben nur noch wenig Zeit bis zur Dämmerung. Wir sollten das Nachtlager vorbereiten." schlug von Tranje vor. Jessica wollte näher an diesen toten Wald, also ging sie voran, blieb aber auf halben Weg stehen. Einer ihrer Sinne zwang sie zum Halt, aber noch war sie sich unsicher, was sie genau davon abhielt weiter zu gehen. Sie fuhr sich über den nackten Unterarm und da wurde ihr die Unnatürlichkeit ihrer Empfindung bewusst. Getrockneten kalten Schweiß zerrieb sie zwischen ihren Fingern. Innerhalb weniger Schritte war es deutlich kühler geworden. Bei den Göttern. Das war mehr als nur eine Ansammlung von totem Holz. Dieser Ort schien sämtliche Lebensenergie in sich aufzusaugen. Sasha hatte Recht. Sie durften dort nicht hinein.
"Baut das Lager möglichst weit weg von diesem verfluchten Wald auf. Wir werden hier übernachten, aber morgen ziehen wir weiter Richtung Verdan. Es war ein Fehler hier her zu kommen." befahl Jessica. Die Verblüffung ihrer Getreuen zeigte sich, indem jegliche Tätigkeit mit einem Schlag eingestellt wurde. Sie hatte jetzt die Aufmerksamkeit jedes Einzelnen und die zwang sie zu einer Erklärung.
"Ich werde keine unnötigen Opfer riskieren. Diese Welt ist voll tödlicher Geheimnisse und ich sehe keinen Bedarf jedes Einzelne davon zu ergründen. Was immer auch dort drinnen ist, es soll weiter vor sich hinfaulen. Es interessiert uns nicht. Wir werden woanders Waffen finden, mit denen wir uns verteidigen können." Jessica schaffte es nicht die Verwirrung ansatzweise zu beseitigen.
"Ihr habt die Prinzessin gehört." von Tranje brachte endlich wieder Bewegung in das von Jessica verursachte Stillleben. Leises Gemurmel war zu vernehmen, was mit Sicherheit nicht als wohlwollend über den Geisteszustand der Königstochter zu verstehen war.
"Verurteilt Ihr jetzt meine Unentschlossenheit?" fragte Jessica leise.
"Nein. Ich bewundere Eure Entschlossenheit. Ihr habt eine Situation neu beurteilt und eure Entscheidung dementsprechend angepasst. Das klingt nach viel Weisheit. Auch wenn diese Anpassung ziemlich spontan geschah. Vielleicht solltet ihr in Zukunft eure Berater hinzuziehen, damit sie das Gefühl haben nicht vollkommen übergangen worden zu sein." von Tranje schenkte ihr ein leichtes Lächeln.
"Verzeiht meine spontane Reaktion, aber dieser Ort verbreitet soviel Ablehnung in mir."
"Wir werden es vermutlich nie herausfinden, ob es wirklich weise war dort nicht hineinzugehen. Sei es wie es sei. Diese Beunruhigung, die Ihr spürt, vernehme ich auch. Seit meinem letzten Besuch hat sich viel verändert. Es liegt in der Natur des Tempels, dass es nicht zu seinem Vorteil geschieht." Damit beschloss von Tranje die kurze Diskussion und Jessica war ihm unendlich dankbar, ihren Wankelmut nicht in umständlichen Debatten darzulegen. Sie schätzte seine Unterstützung, auch in Entscheidungen, die scheinbar einer Irren entsprangen.
Die Vorbereitungen für die Nacht wurden routiniert abgespult. Holz wurde gesammelt, wobei tunlichst vermieden wurde die reichhaltige Quelle auf der anderen Seite der Lichtung zu nutzen. Jagdtrupps versuchten ihr Glück und Wachen wurden eingeteilt, die dieses Mal nicht ausschließlich nur zur Tierabwehr vorgesehen waren. Die bedrohliche Außenwirkung der Umgebung erzeugte ungeahntes Misstrauen und die Warninstinkte hatten mittlerweile die ganze Gruppe ergriffen. Alle waren sich einig, dass diese Nacht so schnell wie möglich vorbeigehen sollte, um diesen Ort schleunigst verlassen zu können.
Diesen Abend herrschte eine gedrückte Stimmung am Feuer und auch Quatars Geschichten schafften es nicht den Knoten der Verspannung zu lösen, so dass er es irgendwann aufgab und eine beklemmende Stille einsetzte. Selbst die Geräusche des Dschungels schienen so fern, dass jeder einzelne Ast, der im Feuer brach, deutlich zu vernehmen war. Alle starrten in die Glut und hingen ihren eigenen Gedanken nach, als ein markerschütternder Schrei die Ritter aufspringen ließ.
"Was zum Teufel war das?" fragte jemand stellvertretend für alle anderen in der Runde. Es war nichts Menschliches, soviel war sicher. Die allgemeine Verstörung lag in der Tatsache, dass die Quelle unheimlich weit entfernt lag, aber die Intensität so stark war, dass es vermutlich noch tief im Dschungel für Erschrecken sorgte. Was immer auch diesen Schrei ausgestoßen hatte, war vermutlich riesig. Alle lauschten in die Finsternis, die jetzt aus absoluter Stille bestand, so als hätten sich auch die mutigsten Tiere vor Angst verkrochen. Kein Vogel, keine Grille wagten es auch nur zu atmen und keiner der Ritter rührte sich. Selbst das Knacken der Zweige hatte sich der Totenstille untergeordnet.
"Da." rief jemand, als der Schrei erneut einsetzte. Diesmal langgezogener und mit deutlich mehr Leid im Unterton.
"Das war viel näher." Die Griffe gingen reflexartig zu den Waffen.
"Ruhe bewahren." brüllte von Tranje, um die aufkommende Panik zu erdrücken. Vorerst hatte er damit Erfolg.
"Sasha. Was war das?" fragte Jessica und die Neugier über die Antwort machte die Befragte unfreiwillig zum Mittelpunkt des Geschehens.
"Es gibt auf Askalan nichts, was diese Laute verursacht." Die Verwirrung war Sasha deutlich anzusehen.
"Ach ja. Die Waldfee, die angeblich jeden Winkel dieser verwanzten Welt kennt, weiß nicht, welches riesige Vieh dahintersteckt. Vielleicht seid Ihr doch nicht soweit rumgekommen, wie Ihr immer behauptet habt."
"Haltet den Mund." wies von Tranje von Dormat zu Recht.
"Ihr verbietet mir nicht meine Meinung. Nur weil Ihr Mitglied im königlichen Dutzend seid, gibt es Euch nicht das Recht, so mit mir zu sprechen." von Dormat war jetzt sichtlich erregt.
"Wenn ich Interesse an Eurer Meinung habe, lasse ich Euch das wissen, aber derzeit habe ich einzig und allein Interesse, dass Ihr den Mund haltet." Jessica hatte von Tranje noch nie so aufgebracht erlebt.
"Schluss jetzt. Alle beide." fuhr sie dazwischen.
"Ich werde nicht dulden, dass..." ein erneuter Schrei unterbrach sie.
"Schmerz. Da ist soviel Schmerz." rief Sasha und fasste sich mit beiden Händen an den Kopf, so als ob sie ihn zerdrücken wollte und fiel auf die Knie.
"Die Lagerwache." entfuhr es von Tranje. Sein eigener Knappe stand gerade an vorderster Front. Er zog sein Schwert und stürmte Richtung Lichtung.
"Was ist los?" Jessica beugte sich zu Sasha hinab.
"Für einen kurzen Moment hatte ich Kontakt zu diesem Wesen. Ein einziger kurzer Hilfeschrei." Sasha hatte Mühe sich zu ordnen.
"Was war es?"
"Ich weiß es nicht. Die dunkle Macht des Tempels schottet es wieder ab."
"Seid Ihr in Ordnung. Ich muss meinen Leuten hinterher."
"Geh schon. Was immer auch passiert. Betritt nicht den Wald."
Jessica schnellte hoch, schnappte sich praktisch im vorbeilaufen eine Fackel und rannte den bewegten Lichtern ihrer Ritter hinterher. Sie traf auf einen fluchenden von Tranje, der umgeben war von ratlosen Begleitern, die ein paar Schritte entfernt vom Unterholz des toten Waldes panisch drein schauten.
"Das ist nicht normal." hörte sie einen verstörten von Dormat.
"Was ist passiert? Erstattet Bericht." forderte Jessica von Dormat auf, aber der war nicht in der Lage auch nur drei sinnvoll aneinander gereihte Worte von sich zu geben.
"Bei den Göttern. Verdammt. Bekomme ich endlich einen Bericht." fluchte Jessica nicht besonders damenhaft.
"Zwei riesige Augen. Sie starrten uns an. Dort zwischen den Bäumen." schaffte es endlich von Dormat ihrem Wunsch nachzukommen.
"Macht Euch nicht lächerlich. Die Bäume stehen so dicht, da passt keine Katze dazwischen."
"Ich schwöre es. Es war da und es hüllte die Umgebung in Nebel. Von einem Moment auf den Anderen war der Nebel verschwunden und mit ihm die Kreatur und der Knappe."
"Wir haben einen Vermissten?" fragte sie von Tranje.
"Es ist alles wahr, was er sagt." sagte er unter den Umständen viel zu gefasst. Er stand einfach nur bewegungslos da. Mit seinem Schwert in der einen Hand und der Fackel in der anderen Hand fixierte er einen Punkt im Wald.
"Was habt Ihr?" fragte Jessica vorsichtig. Von Tranje nickte kurz in die Richtung, die ihn so fesselte. Behutsam näherte sie sich mit ihrem Licht den Bäumen. Ein dunkler Pfad tat sich vor ihr auf, so breit, dass locker drei Leute nebeneinander herlaufen konnten. Unmöglich, dass sie ihn am Tage übersehen haben konnten. Dieser Weg wurde extra für sie angelegt und dass erst vor wenigen Augenblicken. Jessica atmete tief ein und wich ein paar Schritte zurück.
"Das ist nicht normal." wiederholte sie die wirren Worte von Dormats.
"Eine Einladung." zischte von Tranje.
"Wir dürfen dort nicht hinein." warnte Jessica.
"Leider habe ich keine andere Wahl. Mein Knappe ist da drin. Es war meine Idee den Tempel aufzusuchen. Ich bin für sein Schicksal verantwortlich."
"Was war es? Was habt Ihr hier gesehen?"
"Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube es war ein Drache."
Beim Betreten des Dschungels überkamen Azul zwangsläufig die Erinnerungen an die Ankunft in Saetung. Damals überforderte ihn der Übergang von der ländlichen Idylle in den Trubel der Hauptstadt und die neue unbekannte Umgebung versetzte ihn in einen mentalen Ausnahmezustand. Dieses grüne Dickicht vor ihm wirkte auf ihn so unnatürlich und stand in extremen Widerspruch zu seiner bisher unumstößlichen Vorstellung von Natur. Alles war größer, lauter und in seiner Vielfalt so exotisch, dass ihn die neuen Eindrücke förmlich überrollten. Eine gewisse Angst ergriff ihn dieser Mischung aus gigantischen Bäumen, bedrohlicher Geräuschkulisse und giftiger Umgebung nicht gewachsen zu sein. Schmerzlich wurde ihm bewusst, wie sehr er seinen kleinen Flecken Heimat auf Osos vermisste, an dem er den größten Teil seines Lebens zubrachte. Seine kleine Welt beschränkte sich damals auf die spärliche Hütte seiner Eltern, ein paar Feldern und gelegentliche Ausflüge in das nahgelegene Fischgrund. Ein gutes und einfaches Leben hätte ihn erwartet, mit Herausforderungen, die nie über den geistigen Horizont eines Bauern hinausgingen. Bis zu jenem Tag, als die Werber des Königs ihn für den Dienst in der Garde verpflichteten. Sein Schicksal bog vom vorgegebenen Weg ab und nahm eine Richtung, die er in seinen kühnsten Träumen nicht für möglich gehalten hätte. Nun schien er tausende Meilen von der Einfachheit seiner Vergangenheit entfernt und sah sich mit Kreaturen konfrontiert, dessen Aussehen er bis vor kurzem nicht mal in seiner schlimmsten Fantasie erschaffen konnte. Wieso hatte es ausgerechnet ihn getroffen?
Mit den Verletzten war es unmöglich das angeschlagene Tempo von Sasha auf Dauer zu halten. Die Verzögerung kam Azul gerade Recht, denn obwohl die riesigen Baumwipfel etwas Schatten spendeten, machte ihm die Luftfeuchte zunehmend zu schaffen. Gerade sein Rucksack kurbelte die Schweißproduktion auf seinem Rücken unentwegt an und selbst gegen Nachmittag, als die Sonne etwas tiefer stand, schien die Hitze nicht Willens endlich der erlösenden Abkühlung Platz zu machen. Das Schwitzen schien eine unumstößliche Konstante in diesem scheinbar unendlich grünen Gefilde zu sein und so war er froh, als die Prinzessin vorzeitig beschloss, das Nachtlager zu errichten.
Auch an diesem ersten Abend wurde er zum Wachdienst eingeteilt und ein gewisses Unbehagen befiel ihn, in dieser von Tierlauten erfüllten Umgebung allein am separaten Lagerfeuer zu verharren, bis die nicht weniger ängstliche Ablösung ihn endlich erlösen würde. Kurz nach Mitternacht, als alle Anderen bereits in ihren provisorischen Nachtlagern ruhten, übernahm er die Verantwortung und schon aus Ermangelung an produktiven Tätigkeiten überschlug sich seine Fantasie bei der Zuordnung der einzelnen Laute. Er versuchte sich mit seinen Pflichten gegenüber seinem Herrn abzulenken, aber von Tranje ließ ihm in seiner Ordentlichkeit nicht viele Möglichkeiten. Alles war für den nächsten Tag bereits vorbereitet und so blieb nur wieder das nutzlose Starren in das Feuer. Irgendwas brüllte in weiter Entfernung und während Azul überlegte, ob es sich dabei um einen Brunftruf oder ein Alarmsignal handelte, bemerkte er eine Gestalt, die sich leise dem Feuer näherte und sich ihm gegenüber niederließ.
"Eine Grünkatze. Sie ruft nach ihren Jungen." erklärte Sasha ruhig. Azul hatte nicht mit Gesellschaft gerechnet, umso erstaunter war er, dass nach diesem anstrengenden Tag überhaupt noch jemand wach war. Ihm fiel keine passende Erwiderung ein, also konzentrierte er sich darauf nicht vollkommen verkrampft zu wirken. Ein Vorhaben, das ihm sichtlich misslang. Nach einigen Minuten Schweigen durchbrach Sasha die Stille.
"Es gibt nicht viel, auf dass du hier aufpassen musst." Ihre Stimme klang ruhig und gelassen. Ein Zustand von dem Azul meilenweit entfernt war.
"Ein wiederkehrendes "Klick,Klick,Klick" deutet auf eine Grasnatter hin. Ihr Biss ist zwar nicht tödlich, aber es schickt dich auf eine Reise, die selbst das stärkste Tabakkraut nicht vermag." Azul brachte immer noch kein Wort hervor. Sasha machte es ihm auch nicht einfach, denn belangloses Palaver über die Fauna scheiterte bei ihm schon aus mehreren Gründen. Wenn sie wenigstens eine Frage stellen würde, dann wäre die Vielzahl der Möglichkeiten begrenzt.
"Wie ist das Leben jenseits des Meeres?" tat Sasha ihm den Gefallen.
"Schön." quälte er hervor und Azul sah ein, dass es selbst bei einer so allgemeinen Frage eine Unzahl an Antworten gab. Sasha rückte etwas näher und obwohl noch jede Menge Freiraum zwischen den Beiden herrschte, verkrampfte Azul weiter.
"Und die Frauen?" Azul lief jetzt noch zusätzlich rot an und er hoffte, dass wenigstens dieser Teil seiner Unsicherheit vom spärlichen Schein des Feuers geschluckt wurde.
"Was meinst du?" Im Notfall hilft immer eine Gegenfrage, verschafft meistens aber nur ein paar Sekunden Zeit.
"Eure Gemeinschaft wird zwar von einer Frau angeführt, aber ansonsten gibt es nur Männer in ihrem Gefolge. Dürfen Frauen bei euch nicht kämpfen?"
"Ich verstehe die Frage nicht. Frauen sind doch vollkommen ungeeignet für den Kampf. Auf Osos sind sie für die Kinder da und unterstützen den Mann. Keine Frau würde auf die Idee kommen und ein Schwert in die Hand nehmen." Endlich etwas, worauf es nur eine Antwort gab. Seine Selbstsicherheit stieg.
"Wobei unterstützen sie den Mann?" fragte Sasha und war in Sachen Selbstsicherheit immer noch weit voraus.
"Sie kochen, reinigen und führen den Haushalt."
"Suchst du auch eine solche Frau?" Eine Frage, die Azul in der Form nicht erwartet hatte. Aus der banalen Unterhaltung über das Leben auf Osos wurde schlagartig eine persönliche Angelegenheit. Was sollte er antworten? Ob nun "Zerstörer der Welten" oder glorreicher Bauer im Dienste des Königs. Beides ließ nicht viel Spielraum für eine weitreichende Familienplanung.
"Ich weiß es nicht." antwortete er mit einer Ehrlichkeit, die ihn selbst überraschte. Ihre grünen Augen musterten ihn.
"Eure Kameraden. Sie blicken mich an, als wäre ich nicht würdig mit ihnen den gleichen Wald zu teilen. Eine Frau von nieder Geburt, auf die sich leicht herabschauen lässt und höchstens zur Befriedigung der Wollust mit Aufmerksamkeit bedacht wird. Auch bei der Königstochter verstecken sie ihre Arroganz nur unzureichend. Dir jedoch fehlt dieser Hochmut. Du bist anders. Ich bemerke doch, welche Bewunderung du ihr entgegenbringst und das nicht nur weil sie irgendwann deine Königin sein wird. Ihre Stärke fasziniert dich. Ihr Wille, die Dinge zu entscheiden. Diese außergewöhnliche Intelligenz, die die meisten Männer ihres Gefolges in den Schatten stellt. Dich eingeschlossen und schon allein deswegen wird sie für dich immer unerreichbar bleiben, selbst wenn sie nicht königlicher Abstammung wäre. Trotzdem hat sie dir eine Alternative aufgezeigt zu all den Frauen, die bereit wären für dich klaglos den Kampfrock zu reinigen. Ich glaube der Standard wird dir nicht mehr reichen." Noch nie hatte eine Frau ihm so offen die Meinung dargelegt. Azul fiel zurück ins Schweigen, denn auf solche Situationen war sein männlicher Verstand nicht ausgelegt.
"Auch wir bei den Etrakern werden beherrscht von Männern, die trotz mangelnder Intelligenz es als ihr Geburtsrecht ansehen zu führen. Ich bin der Stachel in dem dicken Fell ihrer patriarchischen Ansichten. Noch hilft mir meine Jugend, um über die gesellschaftlichen Verfehlungen hinwegzusehen, aber die Form ist schon gegossen, in die ich hineingezwängt werden soll. Der Tag rückt näher, an dem ich mich entscheiden muss. Individualität oder Anpassung? Gemeinschaft oder Außenseiter? Freiheit oder dem Ehemann den Kampfrock reinigen?" Sasha rückte wiederum ein Stück näher, aber dieses Mal musterte Azul sie ohne Scheu.
"Ich war bereit den Weg des geringsten Widerstands zu gehen. Nun bin ich es nicht mehr." sagte sie und das grün ihrer Pupillen schluckte das flackernde Licht des Feuers. Der Moment schien unendlich und während sich Azul in ihren Augen verlor, presste sie ihre Lippen auf seine und katapultierte ihn in eine Sphäre nie dagewesener Emotionen. Eine unbekannte Mixtur aus Geborgenheit und Zuneigung überflutete ihn. Gefühle, die er bisher nur in Spuren höchstens von seiner Mutter her kannte. Der Vergleich hinkte, denn die Intensität nahm ungeahnte Ausmaße an und als er dann seinen Teil zum Kuss beitrug, sprengte sie jegliches Limit. Diese Frau kannte er erst seit zwei Tagen, aber ihre Worte machten sie zu einer Seelenverwandten und mit dem Kuss hatte er das Gefühl eine lebenslange Verbindung zu erneuern. Mit einem gewissen Bedauern trennten sich ihre Lippen und Sasha erhob sich um zu gehen. Sie schenkte ihm einen letzten Blick, der mehr Zweifel als Leidenschaft beinhaltete und damit Azul in ein Gefühlschaos versetzte. Hatte er nicht wie erwartet reagiert? Verdammt, dieses Mädchen hatte ihn innerhalb von Sekunden aus dem Himmel in die Hölle katapultiert. Azuls Welt war gerade um einen weiteren Aspekt komplizierter geworden.
Er brauchte lange um seine Gedankenwelt wieder halbwegs in Einklang zu bringen. Dieses Mädchen hatte ihn vollkommen durcheinandergebracht. Obwohl seine Kontakte zu den weiblichen Einwohnern von Osos eher sporadischer Natur waren, hatte er niemanden mit solch einer Selbstsicherheit kennengelernt. Es war eine dieser unausgesprochenen Regeln seiner Heimat, dass die Frau mit ihrer Hörigkeit gegenüber dem Ehemann den gesellschaftlichen Stand aufwertete. Ein über die Jahrhunderte verfestigte Tradition, die Menschen wie Sasha in Ketten legten. Ein Brauchtum erschaffen von Männern für Männer und obwohl er dieser bevorzugten Gattung angehörte, konnte er ihre Ohnmacht über eine solch willkürliche Benachteiligung nachvollziehen. Seine bäuerliche Herkunft war eine ähnliche Last und diente als Hürde, über die er ein Leben lang zu springen hatte. Die Spielregeln dieser Welt wurden durch von Zuertels oder Burmunds aufgestellt und Sasha und er waren nur Werkzeuge, dessen Opfertod willig in Kauf genommen wurde, um höhere Interessen durchzusetzen. Sie waren Bauern auf dem Schachbrett der Mächtigen und im Falle von Azul traf dies sogar wortwörtlich zu.
Die chaotischen Gedanken in seinem Kopf verhinderten seine eigentliche Aufgabe. Es war ihm unmöglich seine Konzentration auf den eigentlichen Wachdienst zu bündeln und von daher bemerkte er die einsetzende Stille erst, als sie in ihrer Vollkommenheit jegliches Geräusch erstickte. Keine entfernten Tierlaute mehr, kein Zirpen der Grillen und selbst die Zweige im Feuer trotzten den Flammen, um jegliches Knistern zu vermeiden. Nichts war mehr zu vernehmen und diese absolute Ruhe versetzte Azul in eine Angststarre. Es war fast so, als hätte selbst die Zeit aufgehört voranzuschreiten. Was immer gerade passierte, es war nicht normal. Er sollte schreien, die Anderen warnen, aber die irrationale Angst mit dem kleinsten Geräusch in den Mittelpunkt dieser Blase aus Nichts zu geraten und damit den mächtigen Verursacher zu erzürnen, lähmte seine Kehle. Seine Finger ertasteten seinen Stab und wie ein Kind, dass sich in seiner größten Angst an seine Puppe schmiegte, hoffte er auf eine trügerische Sicherheit oder sogar auf eine Erklärung, die ihm auf eine verrückte mentale Art und Weise übermittelt wurde. Nichts. Zwischen seinen Fingern war nur Holz, das jegliche magischen Kräfte vermissen ließ.
Wie lange er so da saß, krampfhaft bemüht die Stille nicht durch das kleinste Geräusch zu erschüttern, war unmöglich zu bestimmen. Erst als ihm auf Grund von Luftmangel bewusstwurde, dass er selbst das Atmen eingestellt hatte, ordneten sich seine Gedanken. Diese Situation war nicht neu für ihn. Damals, kurz vor Dreiwasser, hatte er mit von Tranje dieselbe furchterregende Stille durchlebt. Am Ende sahen sie sich mit Schattenwölfen konfrontiert und nur einer halsbrecherischen Flucht verdankten sie ihr Leben. Voran gegangen war diese seltsame Begegnung mit einem der toten Magier von Wehedim, dessen knappe aber präzise Botschaft Azul in Angst und Schrecken versetzt hatte. Sein Blick wanderte in das Halbdunkel, dass vom Licht des Feuers nur unzureichend erhellt wurde. Da stand sie, die Gestalt, die einst seine Furcht in ungeahnte Höhen trieb und sich anschickte das Level dieses Mal weiter zu erhöhen. Nur ein Umriss, der sein Blut in eiskaltes Wasser zu verwandeln schien. Er schloss die Augen und hoffte mit kindlicher Naivität damit dem drohenden Unheil irgendwie zu entgehen. Sein ganzer Körper zitterte vor Angst und zu allem Überfluss verlangte seine Lunge die viel zu lange vernachlässigte Luft. Er stand kurz vor dem Erstickungstod und als er endlich einen tiefen Atemzug nahm, öffnete er auch wieder die Augen.
Keine Entspannung machte sich breit, als er vernahm, dass dieser unheimliche Umriss einer Mönchskutte zwischen den Bäumen verschwunden war. Es war noch nicht vorbei, denn diese unnatürliche Stille erstickte selbst seine hektisch ausgeführten Atemzüge. Er hechelte, vermutlich mehr aus Angst als aus Atemnot und war unfähig sich zu bewegen. Wo immer auch dieser tote Magier gerade steckte, die Ungewissheit darüber schien Azul in den Wahnsinn zu treiben. Fantasien über sein Ende verselbstständigten sich und waren unmöglich auszublenden. Er starrte auf die Stelle, an der er diesen Umriss das erste Mal wahrgenommen hatte und er hoffte auf eine Regung in der unmittelbaren Umgebung. Nichts. Sein Herz schien zu zerspringen, als er den Schatten an seiner rechten Seite wahrnahm. Kein Geräusch begleitete die scheinbar schwebende Gestalt, die jetzt auf ihn zu steuerte. Er wagte es nicht den Kopf zu drehen. Keine einzige Bewegung traute er sich mehr zu und auch das Atmen beschränkte er wieder auf kurze Züge. Das einzige was er seiner Angst uneingeschränkt gönnte war dieses elendige Zittern. Ein fauliger Gestank drang in sein Bewusstsein. Ein Indiz dafür, dass dieser wahr gewordene Albtraum keine Armlänge mehr entfernt sein musste. Etwas tauchte über seiner rechten Schulter auf und bohrte tiefen Schmerz in sein Schlüsselbein. Seine Schreie wurden verschluckt von dieser Umgebung aus Stille. Welch wahnsinniger Tod ihm gerade auch bevor stand, es würde lautlos passieren. Niemand würde ihn sterben hören.
Irgendwann gab es keine Gegenwehr mehr. Azul akzeptierte diese ungewöhnliche Variante für sein Ableben, alles in dem Glauben in eine bessere Welt hinüber zu gleiten. Als der Schmerz endlich abflaute, flüchtete er sich in die heilen Erinnerungen seiner Kindheit. Auch wenn seine Eltern jegliche Liebe vermissen ließen und in ihm mehr ein nützliches Werkzeug zur Verrichtung bäuerlicher Pflichten sahen, gab es nur hier die wahren glücklichen Momente. Alles war so einfach. Keine unbekannten Welten, keine Schikanen, keine magischen Geister, die ihm das Leben aussaugten. Sein Schicksal schien vorbestimmt, bis zu jenem Moment, als er für die königliche Garde rekrutiert wurde. Er erinnerte sich an diesen Tag, an dem sein Lebensweg diesen ungewöhnlichen Abzweig nahm. Wieder stand er auf der heimischen Wiese und wieder sah er seinen Eltern zu, wie sie die Gesandten des Königs ehrfurchtsvoll empfingen. Nach den üblichen unterwürfigen Floskeln verschwanden sie erneut in der kargen Hütte, die für Azul bis dahin der Nabel der Welt bedeutete. Was immer auch sie im Inneren diskutierten, am Ende blieben ihm nur wenige Augenblicke für den Abschied. Diese Erinnerung, die so prägend für sein zukünftiges Leben war, nahm in diesem Moment ihren eigenen Verlauf. Er sah auf seine Füße herab und bemerkte, dass er die Bodenhaftung verloren hatte. Eine Schwebe knapp über den Grashalmen. Ein Sog zog ihn Richtung Hütte und als er befürchtete an der bröckelnden Fassade der Südmauer zu zerschellen, schloss er die Augen, in der naiven Hoffnung dem unausweichlichen Zerschmettern damit zu entgehen. Der Aufprall blieb aus und so fand er sich inmitten der spärlichen Möblierung des heimischen Wohnzimmers wieder. Wehmut machte sich in ihm breit, als er die vertrauten Konturen erblickte, die in scheinbar tausend Jahre alten Erinnerungen verschüttet waren. Da waren die klapprigen Stühle, auf denen die zwei Gesandten saßen und die Umgebung mit ihrer üblichen Herablassung bedachten. Vor ihnen stand der sperrige Tisch, der dringend einer Überarbeitung bedurfte, die aber auf Grund von Geldmangel schon ewig hinausgezögert wurde. Auf ihm zwei Becher voller Wein, den sein Vater nur für feierliche Anlässe entbehrte. Die Hausherren standen wie unwürdige Bedienstete am anderen Ende des Tisches und buckelten auch verbal bei dem unerwartet hohen Besuch. Viel zu oft vernahm Azul die Worte "Jawohl" oder "euer Exzellenz". Dieses Erlebnis war kein bewusster Teil seiner Erinnerung. Sein jüngeres Ich stand eigentlich draußen auf der Wiese und grübelte über den Anlass dieses überraschenden Besuches, während der sterbende Azul auf Askalan für alle Anwesenden unsichtbar dieser deprimierenden Unterhaltung beiwohnte.
"Aber er ist unser Sohn, eure Exzellenz." hörte er seine Mutter sagen, jegliche Kritik in der Tonlage vermeidend.
"Der die Ehre hat, für den König seinen Mut zu beweisen." erwiderte ein wahrhaft stattlicher Beamter, dessen Kleidungsstil auf untere Lakaienebene hinwies. Er machte keinen Hehl aus seiner Ablehnung an diesem Ort zu sein.
"Nicht doch etwas zu essen, eure Exzellenz?" fragte Azuls Vater, um die Bemerkung seiner Ehefrau etwas zu entschärfen. Er legte dabei ein Maximum an Unterwerfung in seine Stimme. Ein kurzes Abwinken bekam er als Antwort.
"Es soll dein Schaden ja nicht sein. Wir verstehen, dass wir dir mit deinem einzigen Sohn einen großen Teil der Bewirtschaftungsgrundlage entziehen. Aber das können wir doch regeln." Er nickte seinem Begleiter zu, einem eher hageren Mann mit eingefallenem Gesicht und spärlichem Haar. Er zog einen Beutel heraus, dessen klimpernder Inhalt auf jede Menge Gold schließen ließ.
"Dazu kommt eine regelmäßige Pauschale, die es dir erlaubt einen Gehilfen einzustellen." fuhr der korpulente Beamte fort. Zu der unterwürfigen Ausstrahlung seines Vaters kam eine neue Komponente hinzu. Gier. Eine widerliche Mischung.
"Danke euer Exzellenz. Danke. Vielen Dank." verkündete sein Vater mit leuchtenden Augen überschwänglich.
"Jaja." erwiderte der Beamte mehr als gelangweilt.
"Aber, er ist..." setzte seine Mutter erneut an.
"Schweig, Weib" fauchte sie ihr Ehemann an.
"Einen Moment bitte, eure Exzellenz." entschuldigte er sich und drängte seine Frau ins Schlafzimmer.
"Reiß dich zusammen. Das ist die Gelegenheit unseres Lebens." seine unterdrückte Wut war ihm deutlich anzuerkennen. Wären sie allein im Haus, käme Azuls Mutter vermutlich nicht so glimpflich davon.
"Wir verkaufen unseren Sohn. Wir werden ihn nie wiedersehen." schluchzte sie.
"Er ist ein Taugenichts, der weder mit Korn noch Tier umgehen kann. Es ist nicht schade um ihn. Für das Geld können wir uns eine fähige Kraft holen und eine bessere Ernte einfahren. Das ist unsere Gelegenheit auf ein besseres Leben." Er sprühte förmlich vor Begeisterung, während seine Frau immer noch schluchzte.
"Hör zu. Morgen fahren wir nach Fischgrund und kaufen dir schöne Kleider. Verstehst du das denn nicht. Wir sind jetzt wer. Mit dem Sohn in der Garde wird man uns die Sachen nur so hinterherwerfen." Damit beruhigte er seine Frau.
"Bekomme ich ein rotes Kleid?" fragte sie jetzt ruhiger in der Aussicht auf Wohlstand.
"Zwei, wenn du willst." lachte ihr Ehemann und damit betrat das Paar die Wohnstube.
"Es ist uns eine Ehre, dass unser Sohn dieses Privileg bekommt, eure Exzellenz." Der unsichtbare Azul konnte kaum glauben wie schnell sein Vater von herrisch und dominant auf unterwürfig und gierig zurückfiel.
"Gut. Beeil dich. Ich will hier nicht länger als nötig verweilen. Er soll nur das Notwendigste mitnehmen." Damit verließen die beiden Gesandten das Haus und hinterließen ein mehr als glückliches Ehepaar.
Azul kamen die Tränen. Was er gerade erlebte, hatte nichts mit den heroischen Vorstellungen zu tun, die seinem jüngeren Ich auf der Wiese in wenigen Momenten vorgegaukelt werden sollte. Die Aussicht auf Ehre, Ruhm und große Taten in der Garde waren nichts Anderes als Blendwerk. Eine Erkenntnis, die diesem naiven Azul spätestens in den Kasernenmauern von Saetung ereilen würde. Was ihm die Tränen in die Augen trieb, waren die leeren Worthülsen vom Stolz und Ansehen seiner Familie. Sie hatten ihn betrogen. Seine Eltern verkauften ihn, wie ein verkrüppeltes Weiderind, das eigentlich unverkäuflich schien und nun durch unvorhersehbare Umstände den besten Preis erzielte. Sein Schicksal war ihnen egal, wenn nur die Privilegien ihnen ein sorgloses Leben ermöglichte. Azul fühlte sich unsäglich einsam. All die Erinnerungen an eine unbeschwerte Zeit waren plötzlich ohne Wert. Wenn selbst seine Familie sein Dasein nur zur persönlichen Bereicherung missbrauchte, wem konnte er dann trauen? Von Tranje, der Königstochter oder Sasha? Die Welt schien ihn zu erdrücken, da kam ihm sein Ende an diesem Feuer sehr gelegen.
Hatte Azul geträumt? War er eingeschlafen und sein Unterbewusstsein spielte ihm diesen makaberen Streich vom Tod als Bestrafung für die Vernachlässigung seiner Wache? Sein Ausflug in die Vergangenheit war so mysteriös, dass er nicht wusste, ob er hier am Feuer einfach nur eingedöst war oder ob sich seine Fantasie mit dem geheimnisvollen Besuch einen grotesken Scherz erlaubte. Er hatte jedenfalls nicht das Zeitliche gesegnet und alles schien unverändert. Die Zweige knisterten im Feuer, die Insekten trugen auf vielfältige Weise zur permanenten Geräuschkulisse bei und die Grünkatze schrie erneut nach ihren Jungen. Die Vorstellung, dass dieses Orchester aus wild zusammen gewürfelten Lauten einer alles erdrückenden Stille weichen könnte war absurd. Es konnte nur ein Traum gewesen sein und gerade als sich die Scham über das ungewollte Einschlafen in ihm ausbreiten wollte, bemerkte er ein leichtes Brennen an seiner rechten Schulter. Er zog sein Hemd aus und begutachtete die gerötete Stelle. Es war weder ein Traum noch eine Ausgeburt seiner entarteten Vorstellungskraft. Der Sonnenbrand in Form eines Handabdrucks bewies eindeutig das Gegenteil. Der Besuch des toten Magiers war real gewesen und er hatte eine Art Siegel hinterlassen. Azul sollte nicht sterben, aber was war dann der wirkliche Zweck dieser Reise in die Vergangenheit? Angst machte sich in ihm breit. Was immer auch dahinter steckte, es würde sich mit rationalen Mitteln schwer erklären lassen. Er musste aufpassen nicht seinen Verstand zu verlieren.
Thore löste ihn ab und es fiel Azul schwer dem Drang zu widerstehen die Ereignisse der letzten Nacht ausführlich zu erörtern. Wie sollte er es auch glaubwürdig wiedergeben ohne dafür Spott und Unglauben zu ernten und am Ende als vermeintlicher Schläfer vielleicht sogar noch Ärger zu bekommen. Also hielt er sich zurück. Er glaubte nicht, dass der Magier irgendwas gegen die Gruppe unternehmen würde. Auch wenn er die Ziele nicht kannte, aber ein direkter Angriff schien ihm derzeit eher unwahrscheinlich und so gab es auch am nächsten Morgen gegenüber von Tranje keinen Bericht. Die Geschehnisse in seinem Traum hatten sein Vertrauen ohnehin ziemlich schrumpfen lassen und das Gefühl von Einsamkeit ließ ihn zurückfallen in die alten Muster von Isolation und Schweigsamkeit. Als ihm Sasha keines Blickes würdigte, fühlte er sich bestätigt auf dem einzigen wahren Weg, die Unannehmlichkeiten dieser Welt zu bekämpfen. So sprach er kein einziges Wort bis sie am frühen Nachmittag vorzeitig ihren Tagesmarsch beendeten.
"Huhh. Da hat es wohl jemanden erwischt." stand Thore grinsend vor ihm. Azul hatte sämtliche Aufgaben bereits erledigt und ruhte sich an einem Baumstamm sitzend aus. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass sein Blick förmlich an Sasha klebte. Beschämt senkte er den Kopf.
"Die ist zwar süß, bringt dir aber nichts als Ärger ein." fuhr Thore fort.
"Weißt du was los ist? Warum halten wir schon wieder?" versuchte Azul das Thema zu wechseln.
"Burmund. Ich fürchte er wird den Tag nicht überleben. Sie haben mich weggeschickt, um Kräuter zu suchen. Als ob ihm das helfen würde." Dafür, dass sein Herr gerade im Sterben lag, klang Thore überraschend emotionslos.
"Ich helfe dir beim suchen." bot sich Azul an und war froh durch eine Beschäftigung dem Grübeln zu entfliehen. Es dauerte nicht lange und sie wurden fündig und so machte er es sich erneut unter dem riesigen Baum bequem. Er zwang sich seine komplette Aufmerksamkeit nicht wieder auf Sasha zu verschwenden, aber da sie nun allein für das Wohl von Burmund zuständig war und somit zum Mittelpunkt des Geschehens avancierte, gab es für ihn die passende Ausrede jeden einzelnen ihrer Handgriffe ausgiebig zu beobachten. Eine Diskussion mit der Königstochter, die wohl die Konsequenzen ihres gerade gebrauten Tranks beinhaltete, endete mit einem großen Schluck, der Azul zusammenzucken ließ. Hatte sie wirklich gerade diese Mixtur aus den giftigsten Pflanzen der Umgebung getrunken? Burmund bekam den Rest und sollte sich Sasha geirrt haben, gab es am nächsten Morgen gleich zwei Tote.
Sie würden die Nacht also an diesem Ort verbringen und als Bestätigung dafür schloss sich Azul einer Gruppe von Holzsammlern an. Es gestaltete sich als schwierig geeignetes Brennmaterial zu finden, denn nur abgestorbene Äste besaßen die nötige Trockenheit, um im abendlichen Lagerfeuer zu enden. Es dämmerte bereits, als die ersten Flammen im Licht der untergehenden Sonne zündelten und kleinere Nager am Spieß den Geruch von gebratenem Fleisch verbreiteten. Nach einem eher spärlichen Mahl versammelten sich die Herren am großen Feuer und lauschten Geschichten über fiktive Heldentaten. Der Weinschlauch machte die Runde und enthemmte die Gemüter. Die Stimmung war gut und als die Kunde über die Verbesserung des gesundheitlichen Zustandes von Burmund das Feuer erreichte, wurden sogar Lieder angestimmt, die über das Wohl eines verwundeten Kameraden handelten. Abseits dieser Feier versuchte ein sichtlich angespannter Azul ein wenig Schlaf zu finden. Auch in dieser Nacht stand ihm eine ganze Stunde Wachdienst bevor, die er nach den Ereignissen des letzten Abends alles andere als sorglos angehen würde. Nicht nur der Gesang raubte ihm die notwendige Ruhe. Vollkommen übermüdet trat er seinen Dienst an und war auch in gewisser Weise froh sich dem Unausweichlichen endlich stellen zu können.
Im Gegensatz zum gestrigen Abend gab es noch einige Aktivitäten am herrschaftlichen Feuer. Gelegentlich drangen weingeschwängerte Wortfetzen an sein Ohr. Die Entfernung zu seinem Wachposten war zu groß, um exakt ergründen zu können, welche Unterhaltungen dort zu später Stunde noch geführt wurden. Azul kannte die Wirkung von zuviel Wein nicht am eigenen Leibe, aber es gab schon die ein oder andere Begegnung mit Trunkenbolden in Fischgrund und so wusste er, dass er die Herrschaften vermutlich selbst dann nicht verstanden hätte, wenn er direkt neben ihnen stehen würde. Vielleicht würde er eines Tages in den Genuss dieses viel geschätzten Getränks kommen und seine enthemmende Wirkung würde auch ihn befreien, aber dahingehend war er sich unsicher, ob der Verlust der Kontrolle wirklich ein erstrebenswerter Zustand war. Vor seinem geistigen Auge malte er sich die eine oder andere peinliche Situation aus, als ein unbekanntes Geräusch seinen Körper in unnatürliche Anspannung versetzte.
Azul lauschte in den Dschungel und mit Erleichterung stellte er fest, dass all die Brüllaffen, Grünkatzen und Grillen weiterhin ihr Konzert aus chaotischen Geräuschen vollführten. Keine Stille, die unheimliche Besucher ankündigte und ihn auf eine Reise schickten, die in ihm ein Gefühlschaos hinterließen und ihn an Dingen zweifeln ließ, die ihm bisher Halt gaben in dieser furchtbaren Welt. Er sah wie von Tranje aus der Dunkelheit an sein Feuer trat und ihn ohne ein Wort zu sagen musterte.
"Mein Herr." Azul sprang auf und neigte demütig seinen Kopf. Eine weitere Gestalt trat ins Licht. Shane, der zweite Knappe seines Herrn, stellte sich gegen die Regeln an die Seite von von Tranje. Normalerweise müsste er eine halbe Armlänge hinter seinem Gebieter stehen. Bevor Azul dem ganzen irregulären Auftritt mehr Aufmerksamkeit schenken konnte trat eine weitere Person ins Licht, die ihn verkrampfen ließ.
"Eure Majestät." Er kniete vor der Prinzessin nieder.
"Welch ein erbärmlicher Anblick." zischte Shane und verstieß damit gegen eine weitere Regel. Ohne Aufforderung war es ihm nicht gestattet irgendwelche Worte von sich zu geben, schon gar nicht solch unangebrachte. Azul wusste nicht wie er sich verhalten sollte und starrte schüchtern auf die Stiefel der Prinzessin.
"Leck sie doch endlich." forderte von Tranje ihn auf.
"Mein Herr?" fragte Azul ratlos.
"Die Stiefel. Wenn du schon mal da unten bist. Von all den Stiefeln, die du bisher geleckt hattest, gab es noch nie so edles Schuhwerk für deine Zunge. Also tu es." forderte von Tranje ihn auf. Als Bestätigung dieser Aufforderung, reckte die Prinzessin ihm den rechten Fuß entgegen. Bei den Göttern. Azul war in seinem Leben noch nie so verwirrt gewesen.
"Mein Herr. Ich habe noch nie in meinem Leben..."
"Bahh." unterbrach ihn Shane.
"Als Sohn eines Bauern hast du doch bestimmt jeden Morgen vor dem Frühstück ... Ach warte. Ihr hattet ja keine Schuhe. Da musste wohl der Huf eurer Kühe herhalten." Ein unnatürliches Lachen umspielte Shanes Lippen. Wie konnte er sich solche Worte in Gegenwart der Königstochter erlauben.
"Mein Herr. Was..." Azul traute sich nicht die Frage zu vollenden.
"Lässt du es zu, dass er so mit dir redet?" fragte von Tranje trocken. Shane legte ein herausforderndes Grinsen auf. Azul erhob sich von seinen Knien.
"Ihr verweigert mir die Speichelleckerei." Die Prinzessin schien pikiert.
"Ihr seid nicht real." entfuhr es Azul.
"Wir sind realer, als du es dir selbst bisher eingestanden hast." antwortete von Tranje listig.
"Wer seid ihr?" fragte Azul ängstlich.
"Die wahren Gesichter hinter den Masken. Für jemanden, der sich in der Garde beweisen will, ist er doch ziemlich einfältig. Glaubt er wirklich er würde eines Tages zum Ritter geschlagen? Pah." Spöttisch wandte sich von Tranje an Shane und sprach mit ihm als wäre er ein Vertrauter. Damit demütigte er Azul auf vielfältige Weise.
"Seine Kampftechnik ist schlampig, seine Feigheit stinkt zum Himmel und ich bezweifle, dass sein Wille zum Töten soweit ausgeprägt ist, dass er jemals einen menschlichen Gegner niederstrecken würde." fiel Shane in das Lästern mit ein.
"Warum ist er dann hier?" fragte die Prinzessin.
"Er amüsiert uns. Ich habe jedenfalls meinen Spaß mit ihm. Nackten Spaß." Shane holte damit die längst verdrängte Demütigung an Bord der "Stolz von Galatien" zurück.
"Wer hätte gedacht, dass es so klein sein kann." Die Prinzessin nickte kurz in Richtung Schoß von Azul.
"Nein. Wir haben ihn nicht dabei, weil er uns so gut unterhält. Das ist nur ein angenehmer Zusatz. Der wahre Grund ist das da." Von Tranje zeigte auf den Stab.
"Es ist ein Witz, dass ausgerechnet dieser Bauernlümmel die mächtigste Waffe besitzt. Nimm sie ihm weg und übrig bleibt nur ängstliches Elend." forderte Shane.
"Oh ja. Das werden wir tun. Meine Geduld ist fast erschöpft. Der Bursche hat sich als kein guter Träger erwiesen. Wir werden jemand besseres finden müssen. Jemand der wirklich weiß, was es bedeutet diese Waffe zu tragen." Von Tranje drehte seinen Kopf zu Shane.
"Mein Herr. Ich werde Euch nicht enttäuschen." antworte dieser demütig.
"Ihr könnt mir meinen Stab nicht wegnehmen." brüllte jetzt Azul wütend.
"So. Dann beweise dich als würdig. Zeige uns, ob mehr in dir steckt als ein Stiefel leckender Bauer. Vielleicht solltest du dich fragen, ob der Auserwählte wirklich dieser königlichen Schlampe hinterher trotten sollte, um ein Königreich zu retten, das ihn in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mit Missachtung strafen wird. Dieser Stab ist nicht für mitleidige Kleingeister gemacht. Dieser Stab ist dafür da, um zu herrschen. Also wähle dein Schicksal." Die letzten Worte hallten wieder als befänden sie sich in einer Halle mit gigantischen Ausmaßen.
"Wähle dein Schicksal." kam es jetzt aus drei Mündern gleichzeitig, widerhallend, als würden die Götter persönlich mit ihm sprechen. Sie zogen ihre Schwerter, so simultan, als hätten sie stundenlang geübt um den perfekten Einklang hinzubekommen.
"WÄHLE." brüllten sie ihn an und die Klingen gingen in Gleichmut auf Azul nieder. Er hob seinen Arm als kläglichen Versuch das Unausweichliche wenigstens abzumildern. Instinktiv schloss er die Augen für seinen vermeintlich letzten Moment, aber der Tod versetzte ihn auch diese Nacht.
"Wähle oder stirb." Von Tranje stand nun allein vor ihm, als er die Augen wieder öffnete. Leise aber eindringlich kamen die Worte über seine Lippen. Ängstlich schaute Azul ihn an.
"Ich kann dir helfen weg zu kommen von diesem elendigen Dasein als Lakai dieser bornierten Elite. Nie wieder Angst. Nie wieder Demütigungen und vor allen Dingen keine falsch verstandene Loyalität mehr. Nur noch Macht. Der einzig wahre Grund zu leben. Der Moment der Entscheidung ist nah. Wähle weise, denn die Alternative ist der Untergang." Von Tranje wandte sich ab und verschwand in der Dunkelheit des Waldes.
Zurück blieb ein vollkommen verängstigter Azul. Nicht nur dass er gerade drei tödlichen Schwerthieben entkommen war, er war auch einer perfiden Form der Täuschung ausgesetzt gewesen. Magie war die Ursache und diese unbegreifliche Form der Kampfführung überforderte seine rationale Denkweise von Osos. Konnte er die Rückkehr in sein Elternhaus noch als perfiden Traum abtun, gab es hier keine Erklärung mehr, die halbwegs in sein logisches Denken passte. Wo lagen die Grenzen? Gab es Zauber, die ihn in den Wahnsinn treiben konnten? Es war ein Fehler nach Askalan zu kommen. Wie sollten sie gegen solche Gegner bestehen? Sein Blick fiel auf den Stab neben ihn. Die Ursache allen Übels. Vorsichtig berührte er das glatte Holz. Er streichelte es, als wäre es ein bockiges Haustier, dass man sich mit ein wenig Zuneigung gefügig machen könnte. Was sagte noch der falsche von Tranje? Eine Waffe für Herrscher. Zuneigung war nun wahrlich die falsche Herangehensweise. Fest umklammerte er das Holz und schon durchflutete ihn Selbstvertrauen. Für Azul die Maus war der Stab sinnlos, aber für Azul den Bären wurde es zu einer mächtigen Waffe. Wie sollte er zum Bären werden, wenn sein Daseinszweck im Polieren von Rüstungen lag? Als unterwürfiger Knappe würde er nie das Potential dieses mächtigen Stabes ausreizen und die Erhebung zum Ritter gehörte schon auf Grund seiner Herkunft ins Reich der Märchen. Die Gestalten vom Feuer hatten Recht. Azul der Knappe war beschränkt in seinen Möglichkeiten. Vielleicht wurde es wirklich Zeit eine Alternative zu wählen.
Nach der Wachablösung fiel Azul in einen unruhigen Schlaf. Wie sollte er auch ruhen nach den Ereignissen dieses Abends und so quälte er sich am nächsten Morgen vollkommen übermüdet aus seinem provisorischen Nachtlager. Routiniert erledigte er seine morgendlichen Pflichten und als von Tranje ihn begrüßte, stellte sich für einen kurzen Moment dieselbe Verwirrung ein, die ihn auch schon am nächtlichen Feuer überkam.
"Bursche, du machst mir den Eindruck als hättest du den ganzen Abend in den schmuddligsten Lokalen von Saetung verbracht und musstest am Ende jedem einzelnen Gott persönlich Rechenschaft dafür ablegen. Soviel Müdigkeit und Reue auf einmal kenne ich eigentlich nur von den Matrosen aus Dreiwasser."
"Ich habe schlecht geruht mein Herr." Azuls Stimme zitterte.
"Wahrlich ist dieser Ort wenig geeignet für einen ordentlichen Schlaf. Vielleicht solltest du dir etwas Gesellschaft für die nächste Nacht zulegen." Von Tranjes Blick wanderte zu Sasha, die darauf wartete, dass der Rest des Trupps endlich die Habseligkeiten soweit verstaut hatte, dass sie abmarschieren konnten.
"Mut ist der Schlüssel zum Erfolg." ermunterte ihn von Tranje und in diesem Moment steigerte sich Azuls Verwirrung, denn die Worte konnten durchaus von jenem von Tranje stammen, der ihm am letzten Abend vorwarf mehr Lakai als Mann zu sein.
Sie marschierten los und trotz der Genesung durch Burmund hatte sich ihre Reisegeschwindigkeit nicht verändert. Das Vorankommen wurde noch zusätzlich durch den einsetzenden Regen erschwert. Die dicken Wolken verdunkelten nicht nur die Sonne, sondern auch die Gemüter jedes einzelnen Reisenden. Die Hoffnung auf ein trockenes Nachtlager erfüllte sich nicht und so gab es diesen Abend kein gebratenes Fleisch und selbst die allseits beliebten Heldengeschichten konnten gegen die miese Stimmung nichts ausrichten. Sobald die Dunkelheit sich über den Dschungel legte, versuchte jeder für sich alleine mit den widrigen Bedingungen klar zu kommen. Der Regen, dessen monotones Prasseln auf die Blätter jetzt das einzig vorherrschende Geräusch war, schien ein unendliches Arsenal an Tropfen auf sie herabzuschicken. Azul fühlte sich in all dem Wasser und der Finsternis unendlich einsam und erst die Worte der von Tranjes holten ihn aus dieser Lethargie. Er wagte etwas mehr Mut und stolperte durch die Dunkelheit auf jene Stelle zu, an der er Sasha vermutete.
"Bist du da?" Es war schwierig gegen den Regen die passende Lautstärke zu finden und dabei bei keinem anderen außer Sasha Aufmerksamkeit zu erregen. Es dauerte eine Weile, bis er eine Antwort bekam.
"Was willst du?" kam es von Sasha zurück. Eine gute Frage, denn Azul hatte sich ohne wirklichen Plan auf den Weg gemacht und von Tranjes Vorschlag anzubringen mit ihr einfach das Lager zu teilen, schien ihm auch nicht angebracht.
"Mit dir reden." erwiderte er in seiner Not. Sein Arm wurde ergriffen.
"Gehen wir da rüber. Da haben wir mehr Ruhe." Er wurde weggezogen und stolperte über ein paar Wurzeln, aber jedes Mal wenn er zu fallen drohte, stützte Sasha ihn. Er fühlte sich wie ein Blinder, der Hilfe bei den einfachsten Tätigkeiten benötigte.
"Also reden wir, obwohl wir beide nicht unbedingt zu Worten neigen." Azul konnte Sasha kaum sehen in all der Schwärze und zu allem Überfluss lief ihm das Regenwasser in die Augen.
"Ich..." fing er an, wusste aber nicht weiter.
"Ich... Ich... Ich mag dich." rutschte es ihm endlich heraus.
"Ach ja. Wegen eines Kusses?" erwiderte sie trocken. Nicht ganz die Reaktion, die er erhofft hatte.
"Ja. Ähh ... nein." Es gab offensichtlich keine passende Antwort auf die Frage und die Erkenntnis, dass Azul hätte besser schweigen sollen kam ihm zu spät.
"Ich habe dir bereits erklärt, warum ich mich zu dir hingezogen fühle. Also was magst du jetzt an mir?" Ihre Stimme klang jetzt fordernd. Azul bereute in diesem Moment seinen Mut gefunden zu haben. Es war ihm unmöglich irgendetwas zu erwidern.
"Du wolltest mit mir reden und nun fehlen dir die Worte. Warum bist du wirklich hier?" fragte Sasha. Die traurige Antwort war einfach. Weil er allein war und die Dunkelheit fürchtete mit all dem Regen, der so gnadenlos auf ihn niederging, als würde er ihn Stück für Stück abtragen wollen, bis es letztendlich keinen Azul mehr geben würde. Soweit entfernt von der Heimat, permanent der Gefahr ausgesetzt wieder Teil irgendwelcher magischer Exzesse zu werden und vielleicht am Ende sogar zu sterben, fühlte er sich einsamer denn je. Es war nicht neugewonnener Mut, der ihn in ihre Arme trieb. Es war Schlicht und ergreifend Furcht.
"Ich habe Angst." gab er unumwunden zu.
"Ich gehöre nicht hierher. Nichts gibt es, was meine Anwesenheit rechtfertigt. Ich sollte zu Hause sein und die Äcker bestellen. Ein einfaches anständiges Leben führen und meine Eltern ehren. Die Lüge leben und nicht nach der Wahrheit fragen. Diese Welt öffnet mir mehr die Augen, als ich es wahrhaben will. Ich weiß nicht, wo mein Weg mich hinführt. Wo stehe ich am Ende all dieses Chaos, dass ich bisher nicht begreifen kann. Ich stürze blind durch ein Labyrinth voll tödlicher Fallen. Das Schreckliche ist, ich bin vollkommen allein. Ich finde keinen Halt mehr. Verloren in der Unendlichkeit." Azul war überrascht, dass er sich soweit öffnete. Noch nie hatte er soviel über sich Preis gegeben.
"Vielleicht habe ich mich in dir getäuscht." erwiderte Sasha nach ein paar Momenten Schweigen. Eine Antwort die Azul so nicht erwartet hatte.
"Ich kann dir nicht geben wonach du suchst. Ich versuche aus meiner Welt auszubrechen. Du versuchst in deine zurückzukehren. Anstatt die Gelegenheit zu nutzen und den Bauern hinter dir zu lassen, tust du alles dafür zurück in deinen Käfig zu gelangen. Wer immer dich dazu gebracht hat auf diese Reise zu gehen, er lag damit falsch. Du hast Recht. Du gehörst nicht hierher." Damit ließ sie einen vollkommen verunsicherten Azul zurück. Allein in der Dunkelheit ließ er seinen Tränen freien Lauf. Er war auf dem Tiefpunkt seiner mentalen Stabilität angelangt. Vielleicht wäre die Suche nach etwas Halt besser verlaufen, hätte er von den nächtlichen Vorkommnissen am Feuer erzählt, aber seine Herkunft als Bauer wollte er nicht noch mit Spinnereien über magische Geister weiter abwerten. Er musste sich eingestehen, dass es niemanden gab mit dem er seine Bürde teilen konnte.
Diese Erkenntnis und das schlechte Wetter taten ihr übriges, um die Stabilität seines Gemütszustandes weiter auf niedrigem Niveau zu halten. Die trüben Gedanken schlugen um in Resignation und selbst als die Sonne nach Tagen endlich wieder ihr gedämpftes Licht durch die Baumkronen schickte, blieb diese Resignation fester Bestandteil seiner Verfassung. Es war ihm egal, ob magische Täuschungen, hinterlistige Ritter oder furchteinflößende Kreaturen ihm den Garaus machen wollten. Es kümmerte niemanden, wenn er dahinscheiden würde. Eine Art Schadenfreude gönnte er sich als einzige menschliche Regung, denn dann wären all die Pläne, in denen er als Mittel zum Zweck diente hinfällig. Der einzige Grund seinen Tod zu bedauern, war das Anpassen der Unternehmung hier auf Askalan. Weiteres Futter für seine Resignation, die scheinbar niemals satt wurde.
Nach einigen Tagen Fußmarsch erreichten sie eine Lichtung, die sich aus einem unerkennbaren Grund den Wurzeln der gigantischen Bäume erwehren konnte. Es wirkte schon fast unheimlich, wie präzise der Dschungel seine Grenze zog und das verlockende Land ignorierte. Der Grund für diese botanische Meisterleistung der Natur war zweifelsohne der kleine vertrocknete Wald auf der gegenüberliegenden Seite. Schon aus der Ferne betrachtet war die abschreckende Wirkung auf alles Lebende in der Umgebung unverkennbar. Ein Gefühl, dass auch die Prinzessin ergriff und sie dazu veranlasste ihre Pläne für einen Besuch des dahinterliegenden Tempels zu ändern. Auch wenn viele in der Gefolgschaft diese Entscheidung auf die weibliche Unberechenbarkeit eines unreifen Kindes schoben, konnte Azul die Zweifel nachvollziehen. Auf Askalan war Vernunft nicht immer der beste Ratgeber und die Instinkte konnten nicht so ohne weiteres ignoriert werden. Dieser Ort dort drüben schrie förmlich nach Tod und Zerstörung. Es war weise ihn zu meiden.
Die Sonne war noch nicht lange verschwunden, als Azul seine Wache antrat. Eine seltsame Stimmung herrschte im Lager, dass möglichst weit von diesem unheilvollen Ort aufgeschlagen wurde. Die Befürchtungen, dass Teile dieser nicht wirklich fassbaren Gefahr, die zweifelsohne von diesem verrottenden Wald ausging auf die Gruppe übergreifen könnte, äußerte sich in einer Anspannung, die selbst der edelste Wein nicht lösen konnte. Wortkarg schallten die wenigen Laute vom Feuer herüber und fügten sich in die ungewohnt ruhigen Umgebungslaute vereinzelter Vögel. Der Tod beanspruchte diesen Flecken Askalan und alles Lebende hielt gebührend Abstand. Trotz der vorherrschenden Resignation und der Gleichgültigkeit über die Art seines Todes, machte sich Angst in Azul breit.
Er zählte förmlich jede Sekunde seines Dienstes, denn all die schrecklichen Gerüchte und die furchtbaren Erfahrungen, die er bereits auf diesem Kontinent machen durfte, manifestierten ihre Bösartigkeit in der Landschaft vor ihm. Die erste Verteidigungslinie zwischen der Gruppe und dem was auch immer dieser Wald auszuspucken vermag, war genau er. Auch wenn ihm das Schicksal der Leute hinter ihm ziemlich gleichgültig war, konnte er eine gewisse Verantwortung nicht leugnen. Er starrte angespannt in die Dunkelheit vor ihm und bemerkte erst spät, dass Sasha sich in seinem Rücken näherte.
"Oh." brachte er nur heraus und zuckte kurz zusammen. Sie hatte sich vollkommen unbemerkt genähert. Er schaute ihr in die Augen und erkannte den seelenlosen und fast gleichgültigen Blick sofort, mit dem er vor einigen Tagen durch die Gruppe um den falschen von Tranje schon getäuscht wurde. Azul erstarrte, als sich ein leichtes Lächeln um ihre Mundwinkel legte.
"Es ist Zeit zu wählen." sagte sie und obwohl ihre Stimme der von Sasha ins kleinste Detail glich, war der Tonfall durch seine Monotonie vollkommen fremd.
"Was zu wählen?" fragte er zitternd. Die grünen Augen durchbohrten ihn.
"Beherrschung oder Unterwerfung. Loyalität oder Verrat. Macht oder Tod. Du kannst hierbleiben und sterben, mit der Reue der wahren Bestimmung entsagt zu haben. Oder du kommst mit mir und erkennst das wahre Potential eines Stabträgers." Die Stimme passte jetzt so gar nicht zu der wahren Sasha.
"Wer bist du?" fragte er leise.
"Der einzig wahre Gott. Der Herrscher über das Diesseits und das Jenseits. Ich bin die Vergangenheit und die Zukunft. Richter über Tod oder Leben. Folge mir und du wirst Teil dieser unendlichen Macht." Sasha hob ihren Arm und zeigte Richtung Himmel. Azul drehte sich um und erschrak, als die Fackel die riesige Kreatur über seinem Kopf erhellte. Der Windzug eines enormen Flügelschlags glitt über sein Gesicht und löschte fast das Licht. So gut wie kein Laut war zu vernehmen, trotz dieser Flügel, die größer waren als die Segel der "Stolz von Galatien" und mit ihrer schier unbändigen Kraft das Tier über seinen Kopf verharren ließ. Ein Drache schoss es ihm durch den Kopf und die Unmenge an Bewunderung, Ehrfurcht aber auch Angst überforderten ihn für den Moment. Fast senkrecht türmte sich das Tier vor ihm auf und verfehlte ihre einschüchterne Wirkung nicht. Azul wich zwei Schritte zurück und der Drache, der gerade noch punktgenau über der Lichtung zu schweben schien, verkürzte den Abstand auf das alte Maß mit gekonntem Flügelschlag. Mit offenem Mund und zum Denkmal erstarrt war Azul zu keinen logischen Gedanken fähig. Hier war er nicht Opfer einer Illusion. Dieses Tier war echt und überforderte seinen Verstand.
Die falsche Sasha wirbelte ihren rechten Arm durch die Luft und der Drache reagierte sofort und flog davon.
"Beherrsche ihn. Beherrsche das größte und mächtigste Wesen meiner Welt." befahl sie. Der Stab in seiner Hand vibrierte. Ein Schrei nach Aufmerksamkeit, der einen verdutzten Azul aus der Starre riss. Es bedurfte viel Mühe, um die Konzentration zu sammeln. Er verdichtete seinen Gedanken auf den Drachen in der naiven Hoffnung ihm irgendwie seinen Willen aufzuzwingen. Vergebens. Was immer auch Sasha von ihm verlangte. Er war unfähig auch nur ein Bruchteil davon umzusetzen.
"Der Stab." zischte ihn Sasha ungeduldig an. Azul schloss die Augen und befreite seinen Geist. Er spürte, wie der Stab die Kontrolle übernahm und den Besen in seinem Verstand schwank. Trotz all dem Chaos der letzten Tage schaffte er es von einem Moment auf den anderen seinen Kopf von Drachen, Askalan oder Sasha zu bereinigen. Nichts hatte jetzt eine Bedeutung. Ein Zustand perfekter Leere herrschte in seinem Inneren. Keine Reize, die ihn irgendwie ablenkten. Nur unendliches Nichts. Jede Menge Raum für das magische Artefakt in seiner Hand. Der Stab gewann nicht die Oberhand in seinem Geist. Nein. Er ergänzte ihn nur perfekt und beseitigte Zweifel und unnütze Gedanken aus seinem Bewusstsein. Ein Bündnis von gegenseitiger Abhängigkeit, um die Kontrolle über die Wesen außerhalb dieser Gemeinschaft zu beherrschen. Gemeinsam ertasteten sie den dunklen Himmel mit Fühlern, die keiner verbalen Beschreibung gerecht werden könnten. Sie irrten durch die leere Dunkelheit, wie unerfahrene Seeleute über einen Ozean auf der Suche nach Land. Orientierungslos und faktisch blind, aber mit unendlicher magischer Macht waren sie unfähig auch nur die kleinste Kreatur zu beherrschen. Was fehlte war Führung und die ermöglichte ihnen ausgerechnet die falsche Sasha. Zielgerichtet drangen sie gemeinsam in den Geist des Drachen ein und sein Schrei verkörperte den Widerwillen über den Verlust der Kontrolle.
Am Anfang ergriff ihn Angst, solch ein gefährliches Tier unter seiner Verantwortung zu haben, aber dieses Gefühl konnte nicht lange bestehen gegenüber dem Triumph der Macht. Der Rausch war unglaublich und in diesem Fahrwasser aus Stärke, Kontrolle aber auch Genugtuung das viel zu lang gelebte Dasein eines Lakaien mit einem Schlag hinter sich lassen zu können, geriet Azul in eine nie dagewesene Euphorie. Urplötzlich gab es eine Alternative zu dem in Stein gemeißelten Schicksal eines kämpfenden Bauern, dem selbst im Falle eines heroischen Todes jegliche Anerkennung versagt bliebe. Der Drache war nur der Anfang. Angestachelt durch die falsche Sasha in seinem Kopf überschlugen sich die Fantasien über die Möglichkeiten. Mit solch einer Macht waren sie fähig ganze Gesellschaften zu verändern. Nichts weniger war das Ziel dieser Gottheit und Azul konnte nicht begreifen wie blind er der Prinzessin und von Tranje bisher folgen konnte um genau das zu verhindern. Sie wollten ihn missbrauchen für die Erhaltung ihrer eigenen Privilegien. In diesem Moment, indem er das erste Mal vom Kuchen der Macht probierte, verstand er die wahren Zusammenhänge. Hier und jetzt wurden ihm die Augen geöffnet. Azul war nichts weiter als ein Hund, der brav den Stock apportierte und danach wieder in den Zwinger gesperrt wurde. Vielleicht warf man ihm zur Belohnung einen Knochen hin, aber der Zwinger würde immer seine Bestimmung bleiben. Es wurde Zeit diesen Anspruch zu erschüttern. Wenn er nicht Teil dieser privilegierten Gesellschaft werden konnte, dann musste diese Gesellschaft eben neu geordnet werden. Die Gelegenheit war günstig und so traf er seine Wahl und steuerte auf den kleinen verdorrten Wald zu.
Der Drache stellte sich als widerspenstiger dar, als Azul im ersten Moment der Übernahme erwartet hatte. Ein stolzes Tier, dass nur widerwillig seinen Befehlen gehorchte, aber wie ein wilder Mustang, der seinen Reiter versuchte mit bockigen Sprüngen abzuwerfen, war es nur eine Frage der Erziehung, bis er ihn unter Kontrolle brachte. Azul sah sich gezwungen den Drachen mit Schmerzen gefügig zu machen. Qualvolle Schreie durchzogen die Nacht und verjagten jedes andere Tier in der Umgebung, das halbwegs einen Überlebenstrieb besaß. Von Tranje und seine Begleiter würden in wenigen Momenten mit gezückten Schwertern vor ihm auftauchen. Der perfekte Zeitpunkt um seine neu gewonnene Macht zu demonstrieren. Er befahl dem Drachen zu landen und obwohl der Wald so dicht war, dass kaum ein Mann hindurch passte, verbog sich das Holz genau in die Form, um dem Tier eine sichere Landung zu ermöglichen. Azuls Blick fiel nach links. Da stand sie wieder, die Gestalt, die mit ihrem Auftreten regelmäßig für Angstschübe sorgte. Der untote Magier war mit Sicherheit verantwortlich für die Umstrukturierung der Fauna in seinem Rücken. Mehrere Ritter stürmten von der Lichtung auf Azul zu und verlangten seine Aufmerksamkeit.
"Bursche ist alles in ..." von Tranje verstummte und hielt abrupt inne in seiner Bewegung. Seine Begleiter taten es ihm gleich und wagten keinen weiteren Schritt mehr.
"Bei den Göttern. Was ist das?" fragte von Tranje ehrfürchtig. Der Drache kauerte in Azuls Rücken und in der Dunkelheit waren nur seine Augen erkennbar, die den Umfang einer reifen Melone hatten. Azul setzte zu einer Erklärung an, die voller Selbstbewusstsein sein sollte, aber bevor er nur ein Wort hervorbringen konnte, hüllte ihn dichter Nebel ein. Nichts war mehr zu erkennen und als dann endlich wieder klare Sicht herrschte, hatte sich sein Standort geändert. Wie aus dem Nichts erschienen die hellen Mauern eines uralten Tempels, dessen beste Tage weit in der Vergangenheit lagen. Die Zeit hatte sich in den Stein eingefressen, wie ein hungriges Raubtier und obwohl die Natur weiterhin unaufhörlich von jedem einzelnen Stein und jeder einzelnen Säule ihren Tribut verlangte, konnte Azul die ursprüngliche Pracht dieses Gebäudes erahnen. Die Erbauer waren Meister ihres Handwerkes, die ihr Talent und ihre Liebe zum Detail in kunstvollen Verzierungen verewigten. Ehrfürchtig betrat er die verwitterten Stufen, welche zum Eingang hinaufführten. Vereinzelte Fackeln wiesen ihm den Weg und die Fassade aus dem verdreckten weißen Gestein schien sämtliches Licht in sich aufzusaugen. Es war nicht vollkommen still, aber die Laute der Umgebung waren jetzt nur ein leises wispern im Hintergrund und jeder Schritt auf der steinernen Treppe durchbrach die gespenstische Atmosphäre, die in ihrer Perfektion ein Maximum an Angst erzeugte. Niemand mit klarem Verstand sollte an diesem Ort sein und trotzdem zog es Azul in das Zentrum dieser drohenden Gefahr.
Zögerlich durchschritt er das Portal und die große Halle vor ihm versetzte Azul trotz des maroden Zustandes in ehrfürchtiges Staunen. Allein die gigantische Kuppel war ein Meisterwerk architektonischen Könnens. Noch nie hatte er vergleichbares gesehen. Die rundliche Form war einzigartig in ihrer Beschaffenheit und das Gestein schien so glatt und gleichmäßig in seiner Struktur, dass selbst der feinste Marmor von Osos wie grober Granit dagegenwirkte. Verblasste Bilder zierten die Decke, die in der Blütezeit dieses Bauwerkes vermutlich den wahren Mittelpunkt darstellten. Ein großes Loch klaffte in der Mitte und obwohl kein einziger Brocken Gestein auf dem Boden lag, war ersichtlich, dass der Durchbruch von außen herbeigeführt wurde. Azul bewegte sich Richtung Altar und jeder Schritt auf dem glatten Boden ließ ihn demütiger werden. Dieses Gebäude diente zur Einschüchterung seiner Besucher und er konnte sich lebhaft vorstellen, dass die dreifach mannshohen Steinfiguren rechts und links vor den Wänden ihre furchteinflößende Wirkung in der Vergangenheit nicht minder stark verbreiteten. Der schier endlos lange Weg zum Altar ließ ihm genug Zeit für Fantasien über Begebenheiten in der Zeit, als dieser Tempel für göttliche Rituale im besten Glanz erschien. Wer hier nicht demütig vor seiner Gottheit kniete, dem konnte in Sachen Glauben niemand mehr helfen. Dieser ganze Ort war einzig und allein dafür entworfen worden möglichst viel Respekt bei seinen Jüngern zu erzeugen.
Der Altar befand sich auf einem Podest, dessen Ausmaße den Umfang eines Hauses hatten. Schmale Stufen führten hinauf und ermöglichten einen umfassenden Blick über den Saal. Wer hier stand konnte die Demut, den Respekt und die Unterwerfung der Anhänger dort unten perfekt auffangen. Das spirituelle Zentrum des Tempels konzentrierte sich auf diesen Punkt und all die göttliche Energie flutete die Person, die bereit war, diese Energie gewinnbringend einzusetzen.
Azul wurde aus seinen Gedanken gerissen, als er eine Bewegung in der Nähe des Deckenlochs ausmachte. Der Drache glitt majestätisch hindurch und landete mit einer Eleganz, die man so einem riesigen Tier nicht zugetraut hätte, keine zehn Schritte von ihm entfernt. Nichts Wildes war in seinem Verhalten zu erkennen und obwohl Azul keinerlei Kontrolle mehr besaß, wurde das Tier beherrscht. Jemand glitt von seinem schuppigen Rücken und als Azul in das Gesicht des Reiters schaute, traute er seinen Augen nicht. Der Wahnsinn von Askalan hatte ein neues Ausmaß angenommen.
"Das ist eine Falle." kommentierte von Dormat das Offensichtliche und obwohl diese Worte für von Tranje eine Steilvorlage boten, um eine seiner sarkastischen Bemerkungen anzubringen, hielt sich er sich diesmal zurück. Zu groß war die Sorge um seinen verschleppten Knappen.
"Wir dürfen dort nicht hinein." wiederholte Jessica ihre Bedenken. Auch ohne Sashas ausdrückliche Warnung rebellierte alles in ihr diesen verfaulten Wald zu betreten.
"Leider habe ich im Gegenteil zu Euch nicht die Wahl. Es geht hier nicht nur allein um meinen Knappen. Eine der mächtigsten Waffen droht in Feindeshand zu fallen. So habe ich mir das nicht vorgestellt. Bleibt hier und vollendet die Mission alleine, sollte ich nicht wiederkehren." von Tranje atmete einmal tief durch. Auch er schien eine zusätzliche Portion Mut zu brauchen, um den wie von Zauberhand entstandenen Pfad zu betreten.
"Mir nach." wies er seine Leute an und stürmte tapfer los. Etwas weniger entschlossen, folgten ihm ein gutes dutzend Ritter und Knappen in den dunklen Wald. Allein zurück blieb eine innerlich aufgewühlte Jessica. Die Ereignisse überforderten die junge Königstochter und das ausgerechnet in jenem Moment, in dem sie eine der wichtigsten Entscheidung ihrer Unternehmung treffen musste. Es gab keine offizielle Verpflichtung ihren Leuten in das vermeintliche Verderben zu folgen, zumal ihre primäre Aufgabe immer noch darin bestand die "Quelle der Jugend" zu finden, um das Leben des Königs zu retten. Ihre Erfolgsaussichten würden deutlich schwinden, wenn ein Großteil ihrer Truppe in diesem Wald verschollen blieb, aber die Fortführung der königlichen Aufgabe hatte Priorität. Das Wohl des Königreichs durfte keiner leichtfertigen Entscheidung geopfert werden. Sie fand weitere rationale Gründe für eine Rückkehr ins Lager, aber am Ende traf sie dann doch eine emotionale Wahl und die besaß nur ein unlogisches Argument. Es fühlte sich falsch an ihre Getreuen allein den unbekannten Gefahren dieses Waldes auszusetzen und sich hinter windigen Ausreden zurückzuziehen. Schon viel zu lang stand sie zögerlich hier und haderte mit ihrem Schicksal. Sie zog ihr Schwert und als sie mit einem Kampfschrei ihren Mut entfachen wollte, verkam dieser zu einem röchelnden Grunzen, das selbst der schäbigsten Dirne als ungebührend ausgelegt worden wäre. Im entscheidenden Augenblick fehlte ihr einfach der Mut.
"Ihr habt gerufen?" Quatar erschien an ihrer Seite und seine freche Begrüßung schwang sofort um in Sorge, als er in das Gesicht der Prinzessin schaute.
"Was..." Jessica war es unmöglich einen ganzen Satz hervorzubringen, denn seine Anwesenheit steigerte die Konfusion in ihrem Inneren. Sie wollte vor ihm nicht schwach wirken, aber die einsetzenden Tränen in ihrem Gesicht machten jede Maskierung unmöglich.
"Schon gut. Ihr seid ja vollkommen aufgelöst." Quatar fasste sie an beiden Schultern und obwohl solche Berührungen gegen sämtliche Regeln des königlichen Anstands verstießen, wehrte sich Jessica nicht. Das gab Quatar den Mut sie an seine Brust zu ziehen.
"Schon gut." tröstete er sie. Jessica genoss den Moment des fallen lassen, aber so verführerisch dieses Gefühl auch war, vermutlich würde sie in ihrem ganzen Leben nie wieder die Gelegenheit dazu bekommen, so falsch war der Augenblick. Sanft stieß sie ihn zurück und schaute ihm in die Augen.
"Ich bin so unsäglich feige." hauchte sie fast unhörbar. Ihr Blick wanderte zu dem Pfad, der jetzt nicht nur bedrohlich, sondern auch verhöhnend dalag. Quatar löste sich und ging zwei Schritte auf den Wald zu.
"Ich verstehe eure Angst." Seine Stimme zitterte leicht.
"Ich muss dort hinein, aber mir fehlt der Mut."
"Auch ich würde es nicht wagen dort allein hinein zu gehen." Er zögerte kurz und überlegte, so als hätte er die passende Lösung für ihr Dilemma gefunden.
"Es heißt: Glück verdoppelt sich, wenn es geteilt wird. Vielleicht halbiert sich ja Furcht, sobald wir sie zusammenlegen." Quatar streckte seinen Arm aus. Jessica zögerte kurz, ergriff dann aber seine Hand. Gemeinsam betraten sie den Pfad und mit jedem Schritt vorwärts kehrte ihr Selbstvertrauen zurück, auch wenn ihre Angst permanent versuchte die Vorherrschaft zu verteidigen. Gefüttert wurde diese Angst durch den sich schließenden Wald, der hinter ihnen sein Territorium zurückforderte. Die Geschwindigkeit, mit der sich das tote Holz auf dem gerade noch passierten Weg breitmachte, zeugte von der unbändigen magischen Kraft, die an diesem Ort vorherrschte. Es gab also nur eine Richtung und durch diese Alternativlosigkeit zwang Jessica ihren Blick in die vor ihr liegende Dunkelheit.
Gemeinsam erreichten sie den Tempel der Saphia, der in seinem verlotterten Gewand sich an die bedrohliche Umgebung anpasste. Brauchte es noch einen weiteren Beweis, dass Tod, Leid und Zerstörung die vorherrschenden Eindrücke an diesem Ort waren, lieferten ihn die zerbröselnden Säulen dieses abermals prächtigen Gebäudes. Von Tranje und seine Leute hatten gerade beschlossen die von der Zeit vergilbten Stufen zu betreten, als Jessica und Quatar aus dem Wald traten. Hinter ihnen verwilderte der gerade noch so breit angelegte Pfad und zeigte ihnen damit die Sinnlosigkeit für eine geplante Rückkehr auf.
"Ich bin wahrlich überrascht, aber auch verärgert." begrüßte sie von Tranje.
"Für euer junges Alter beweist ihr den Mut eines gestandenen Kämpfers. Dafür habt ihr den Verstand eines Kindes. Ich war naiv zu glauben, dass es genau anders herum wäre. Bei den Göttern. Welcher Narr hat Euch geraten uns zu folgen?" Von Tranjes Blick fiel auf Quatar.
"Ich verstehe. Kein guter Zeitpunkt, um Gefühle über Vernunft zu stellen." kommentierte von Tranje die Anwesenheit Quatars.
"Dieser Ort strahlt soviel Ablehnung aus." bestätigte Jessica das Gefühl aller Anwesenden. Sie hatte kein Interesse das Thema rund um Quatar weiter zu vertiefen.
"Und genau dort müssen wir hinein." von Tranje betrat die unterste Stufe.
"Mögen die Götter uns gewogen sein." Jetzt stürmte er förmlich die Treppe hinauf.
Eine riesige Halle tat sich vor ihnen auf, als sie das Portal durchschritten. Selbst für die verwöhnte Elite von Galatien war diese freie Fläche vor ihnen eine dekadente Platzeinnahme. Die Kuppel befand sich so weit oberhalb ihrer Köpfe, dass der Tempel auch in seiner Höhe verschwenderisch wirkte. Ein Loch klaffte in der Mitte und unterbrach ein prachtvolles Deckengemälde, welches durch den Zahn der Zeit mehr und mehr verblasste. Das einfallende Mondlicht tauchte den Ort in ein gespenstisches Grau und verstärkte nun auch optisch die vorherrschende Angst. In diesem düsteren Licht schien der Altar auf der Gegenseite so unheimlich fern. Die beiden Personen die davor standen, wirkten wie winzige Puppen, deren Bewegungen über die Entfernungen kaum auszumachen waren.
"Unglaublich." entfuhr es Quatar.
"Trotz all der Angst einflößenden Wirkung, gibt es diesen herrlichen Schatz an Kultur. Welches Volk hier auch immer gelebt hatte, sie besaßen ein Gespür für Kunst. Seht diese Figuren rechts und links an den Wänden. Furchteinflößend für Besucher, aber sie symbolisieren auch die Gleichheit, die innerhalb dieses Glaubens herrschte. Da ist der Bauer zwischen dem Ritter und dem Adligen. Dort drüben ist der Geistliche und gleich daneben der Handwerker. Was immer auch hier verehrt wurde, es kannte keine Unterschiede zwischen den Ständen. Alle hatten dieselbe Demut zu bezeugen. Ich hoffe wir finden die Zeit das Deckengemälde näher zu ergründen." Quatar redete sich in Anwesenheit dieses architektonischen Meisterwerkes in einen Rausch.
"Ihr seid von Sinnen." kam es von von Dormat verächtlich.
"Ganz im Gegenteil. Ich bin berauscht von soviel Eleganz, auch wenn der Zweck eher bösen Umtrieben diente." erwiderte Quatar gelassen.
Sie steuerten auf den Altar zu und obwohl das Ziel sichtbar vor ihnen lag, hatte niemand das Empfinden wirklich näher zu kommen. Diese Halle schluckte jede Entfernung und der eh schon spärliche Mut nahm mit jedem Schritt weiter ab. Eingeschüchtert erreichten sie nach schier unendlichen Laufens die Stufen zum Altar.
"Bursche. Geht es dir gut?" brüllte von Tranje hinauf. Eine zweite Person stand mit dem Rücken zu ihnen und schien sich angeregt mit dem Knappen zu unterhalten. Mit erhobenem Schwert nahm von Tranje Stufe um Stufe.
"Wer seid Ihr? Gebt Euch zu erkennen!" forderte von Tranje die unbekannte Gestalt auf. Mit einer Gelassenheit, die jeder Gefahr spottete, drehte sich der Fremde um.
"Bei den Göttern. Was geht hier vor?" entfuhr es von Tranje überrascht. Vor ihm stand ein zweiter Azul. Gleich in Gestalt und Gesichtszügen, nur die körperliche Präsenz konnte unterschiedlicher nicht sein. Während sein eigentlicher Knappe noch immer ängstlich und verwirrt wirkte, strotzte diese Kopie nur so vor Selbstvertrauen und mächtiger Ausstrahlung. Das vollkommen schwarze Gewand unterstrich den Eindruck, dass trotz der schmächtigen Gestalt eine ernsthafte Bedrohung vor ihm stand.
"Es wird Zeit der wahren Loyalität Zeugnis abzulegen. Streck den Gehilfen der alten Ordnung nieder und mach den ersten Schritt zur wahren Herrschaft. Nimm diesen Stab und beende dein Dasein als Lakai. Beweise deine Würdigkeit der neuen Welt als Anführer zu dienen." Die Stimme hallte unnatürlich wieder und obwohl die Worte an den wahren Azul gerichtet waren, ließ seine Kopie von Tranje keinen Augenblick aus den Augen.
"Nichts für ungut Bursche. Deine Chancen mich im Kampf nieder zu strecken, würde ich als eher gering einschätzen. Also komm jetzt hier rüber und wir rücken dir deinen Kopf wieder zurecht." von Tranje ließ seinerseits den Unbekannten nicht aus den Augen.
"Ich kann es nicht." winselte der Knappe.
"Treibe ihm die aristokratische Arroganz aus. Zeige ihm, wer hier wahre Macht besitzt." forderte der falsche Azul den wahren Azul auf.
"Offenbar stoßen eure Verlockungen auf keinen fruchtbaren Boden." Von Tranje versuchte den Unbekannten zu provozieren.
"Vor hundert Jahren verlort Ihr eure Geliebte an diesem Ort. Nun verliert Ihr viel mehr."
"Wer seid Ihr, dass Ihr solche Dinge wisst? Gebt Euch zu erkennen." brüllte von Tranje den Unbekannten an.
"Ich war euer Schicksal in der Vergangenheit. Nun bin ich euer Schicksal in der Gegenwart." flüsterte die Gestalt kaum vernehmbar. Dieser wandte erstmals den Blick ab und sah wie die Spitze von Azuls Kampfstab auf seine Brust zielte.
"Und ich werde euer Schicksal auch in der Zukunft sein. Wir sehen uns wieder Zoran von Tranje." flüsterte die mysteriöse Gestalt. Wenige Augenblicke später explodierte der Kampfstab und ein Geschoß flog in von Tranjes Richtung. Ein glühender Punkt, der seine verheerende Wirkung auf der Brust des Ritters entlud und ihn niederschmetterte. Rücklings stürzte von Tranje die Stufen hinunter.
Jessica hatte widerwillig zugestimmt von Tranje allein den Altar besteigen zu lassen. Immerhin gab es nur einen potentiellen Gegner auf dem Podest und die Strategie eine Eskalation zu vermeiden, indem gleich ein ganzer Trupp von Kämpfern dort oben aufschlägt war trotz alledem gründlich schiefgelaufen. Von Tranje stürzte die Treppe hinunter, getroffen von irgendeiner magischen Teufelei. Sie rannten die Stufen hinauf und stoppten den Fall auf halber Strecke. Weitere Geschoße schlugen vor ihnen ein und verhinderten einen gezielten Gegenangriff, sodass vorerst nur der Abstieg blieb. Sie konnte nicht feststellen, ob der Knappe einfach nicht zielsicher genug war oder ob er es absichtlich vermied jemanden zu treffen. Der Beschuss endete, als sie am unteren Ende der Treppe begannen sich um von Tranje zu sorgen.
"Er lebt." stellte Quatar überrascht fest. Er hatte von Tranjes Hemd geöffnet um die Wunde zu begutachten, aber da war nur ein seltsam gewebtes Unterhemd, das gerußt die Umrisse des Einschlages wieder spiegelte.
"Was ist das?" fragte Jessica und fuhr mit den Fingern über das seltsame Gewebe auf seiner Brust.
"Eine Rüstung aus Spinnweben. Genauer gesagt aus der Euterspinne." erklärte ein noch sichtlich verwirrter von Tranje und nutzte dabei die einfache Antwort als erste Gelegenheit, um seinen Geist zu ordnen.
"Igitt." entfuhr es Jessica und reflexartig zog sie ihre Hand zurück.
"Das klingt in mehrfacher Hinsicht eklig." sagte Quatar.
"Eine der besten Rüstungen der Welt und extrem leicht. Wie vieles leider nur wirksam auf Askalan, aber lassen wir die Waffenkunde. Wir müssen dort hoch und die Wahnsinnigen aufhalten."
Von Tranje stand auf und Schmerz machte sich in seinem Fuß breit.
"Keine guten Vorrausetzungen für einen schnellen Aufstieg. Ihr müsst mir..." von Tranje hielt inne und staunend schob er seinen Kopf in den Nacken.
"Von all den Wundern, die ich heute erleben durfte, ist das das Außergewöhnlichste." Aus dem Loch in der Decke schwebte eine Kreatur herab, die so anmutig und eindrucksvoll daherkam, dass sie fast hypnotisch auf alle Anwesenden wirkte. Die riesige Spannweite der Flügel, aber vor allen Dingen das langgezogene Maul wirkten so furchteinflößend, dass jeglicher Heldenmut den Altar zu erstürmen versiegte. Elegant ließ sich das Tier neben den beiden Azuls nieder, begleitet von erstaunten Blicken.
"Mein Heldenepos bekommt gerade die besondere Würze." Quatar starrte gebannt auf den Drachen.
"Unglaublich. Es ist wahr. Ich wünschte Sasha könnte das sehen." Auch Jessica rührte sich nicht.
"Die neue Zeitrechnung beginnt heute." hallte eine Stimme in tausendfacher Verstärkung durch den Tempel.
"Das Alte wird vernichtet, um dem Neuen Platz zu machen." Der falsche Azul am Ende der Treppe hob die Arme in die Luft. Blaue Blitze zuckten aus seinen Fingern, aber zu Jessicas Überraschung schlugen sie nicht in die Körper ihrer Getreuen ein. Das Ziel waren die Statuen an den Seitenwänden der riesigen Halle.
"Was soll das?" fragte Wilmot von Zuertel.
"Vermutlich neue Teufeleien." erwiderte Jessica.
"Wir müssen dem Spuk ein Ende machen." von Zuertel stürmte die Stufen hoch.
"Wartet. Wir sollten gemeinsam... Verdammt." Sie machte sich auf von Zuertel zu folgen, aber sofort schlugen wieder Geschoße vor ihren Füßen ein. Ihr Blick ging nach oben. Offenbar hatte von Zuertel mehr Glück, denn er kam unbehelligt Stufe für Stufe höher.
"Dieser Narr." von Tranje humpelte eine Stufe höher, aber auch er wurde durch Geschoße am weiteren Aufstieg gehindert. Von Zuertel würde in wenigen Augenblicken den Altar erreichen und sein Ziel war sicherlich der Knappe. Auf der Klippe nahe Spuuun wurde dem Ritter ein Blick in die Zukunft gewährt und von diesem Augenblick an, war Azul "Bezwinger der Schattenwölfe" für ihn die Wurzel allen Übels. Mit einem letzten Schrei stürmte der Angreifer auf genau dieses Übel zu, aber bevor er seinen tödlichen Streich ausführen konnte, durchbohrte ihn der Kampfstab. Röchelnd sank er auf die Knie und obwohl seinem Vollstrecker die Abscheu über die Tat deutlich ins Gesicht geschrieben stand, gab es kaum Reue über den Tod des ehemaligen Mitstreiters.
"Die Wahl ist getroffen." tönte der falsche Knappe, als würden zehntausend Stimmen überlagert. Der Widerhall ließ das Gebäude erbeben.
"Ich habe versagt." von Tranje wirkte niedergeschlagen.
"Der dunkle Pfad der Zukunft wurde damit eingeschlagen. Ich hätte ihn nie hierherbringen sollen."
"Ohne ihn hätten wir Askalan nie betreten können." versuchte ihn Jessica aufzubauen.
"Versteht doch. Wir sind Majornetten, die nach dem Lied dieses Magiers tanzen. Es ging nur um den Stab und seinen Besitzer. Meine Arroganz vernebelte mir den wahren Blick auf meinen Knappen, denn sonst hätte ich gesehen, dass er mir entgleitet. Ich habe ihn an den Feind verloren und es war mein Fehler. Die düsteren Prophezeiungen des Orakels werden wahr. Nun ist ganz Osos in Gefahr. Jetzt bin ich über hundert Jahre auf dieser Welt und bekomme immer noch schmerzhafte Lektionen in Demut." Jessica hatte von Tranje noch nie so verbittert gesehen.
"Es mag sein, dass wir bisher nur Statisten in einem gut gemachten Bühnenstück waren, aber noch hat der Schlussakt nicht begonnen. Jetzt, wo wir wissen, mit was wir es zu tun haben, schreiben wir die Texte neu. Osos ist noch nicht verloren." erwiderte Jessica kampfeslustig.
"Wahrlich nicht, aber wir liegen ordentlich zurück." Von Tranje blickte Richtung Altar und sah wie der Drache mit den beiden Azuls auf dem Rücken abhob.
"Vielleicht ist dein Weg ja nicht endgültig, Bursche." Reumütig sah er den Drachen in der Dunkelheit verschwinden.
"Wir müssen geschwind zurück." Einer seiner Gefolgsleute machte ihn auf die neue Gefahr aufmerksam.
"Dieser Tag überfordert meinen Glauben an die natürliche Ordnung." Quatar konnte zum wiederholten Male nicht begreifen was er sah. Die Steinfiguren, in die eben noch die Blitze des falschen Azuls einschlugen, lösten sich von den Wänden des Tempels.
"Golems." entfuhr es von Tranje.
"Raus hier." brüllte Jessica und holte damit ihre Gefolgsleute aus der Starre. Ziemlich ungeordnet begann der Rückzug, der mehr an eine panische Flucht, als an militärische Ordnung erinnerte. Der rettende Ausgang schien unendlich weit entfernt und diese steinernen Kämpfer bildeten eine gefährliche Gasse, die mit jedem Schritt schmaler wurde. Zwei Dutzend schätzte Jessica. Zu viel, um mit stumpfen Waffen der Magie zu trotzen. Sie hatten noch nicht mal ein Viertel des Weges zurückgelegt, als sie drohten eingekreist zu werden.
"Zurück." brüllte sie das Kommando und die Verwirrung über die Kehrtwende in ihrer Anweisung wehrte nicht lange, als den Flüchtenden bewusstwurde, dass deutlich mehr Golems vor ihnen waren. Bisher hatten es nur zwei steinerne Ritter und ein Lautenspieler in ihren Rücken geschafft. Die deutlich bessere Variante, um den immer enger werdenden Kreis noch zu durchbrechen. Jessica stoppte kurz auf dem Weg zurück zum Altar, als die drei Golems in Formation wie eine Wand auf sie zukamen.
"Aufteilen. Die eine Hälfte links herum, die andere Hälfte rechts." Es war aussichtslos sich auf einen Kampf einzulassen. Wie sollte man auch Stein mit dem Schwert bekämpfen? Bei diesen Gegnern gab es nur einen Schwachpunkt. Sie waren in ihren Bewegungen träger als der fülligste Beamte von Saetung. Solange ihre Anzahl überschaubar war, konnte ein halbwegs agiler Kämpfer geschickt ausweichen. Die Mehrheit ihrer Gefolgschaft versuchte ihr Glück bei dem Lautenspieler auf der linken Seite. In großem Bogen umliefen sie die Kreatur, die vergeblich ihr Instrument durch die Luft kreisen ließ, um irgendwelchen Schaden anzurichten. Selbst wenn er mal in die Nähe der Flüchtenden kam, reichte ein gezieltes Kopf einziehen, um der ungewöhnlichen Waffe auszuweichen. Schwieriger dagegen stellte sich die Situation auf der rechten Seite da. Die beiden Ritter bildeten eine Art Partnerschaft, die das Ausweichen erheblich erschwerte. Obwohl sie beide ähnlich träge in ihren Bewegungen waren, wie ihr musikalisches Ebenbild auf der linken Seite, koordinierten sie ihre Angriffe so gezielt, dass niemand hindurch kam.
"Schlaue Burschen." kommentierte Jessica das erfolgreiche Aufhalten. Sie entledigte sich ihrer Rüstung und obwohl das Hemd darunter keine Garderobe darstellte, um ihren Untergebenen unter die Augen zu treten, brauchte sie die volle Bewegungsfreiheit. Als Kind hatte sie Radschläge und andere sportliche Verrenkungen geliebt, bis sie in ein Alter kam, da die königliche Etikette mit voller Härte zuschlug und solche Bewegungen, die sich einem Mitglied der königlichen Familie nicht ziemte, untersagte. Nie hätte sie gedacht, dass sie eines Tages diese Agilität benötigte, um steinernen Schwertern auszuweichen.
Unerwartete Bewegungen waren die einzige Möglichkeit die effizienten Manöver der beiden Golem zu umgehen. Jessica hatte keine Zeit mehr für ausgeklügelte Pläne oder sich diese verrückte Aktion noch einmal zu überlegen, denn hinter ihr rückte bereits die steinerne Verstärkung an. Sie rannte auf den linken Golem frontal zu und als dieser sein riesiges Schwert auf sie niederstreckte, rollte sie sich rechtsseitig ab und landete damit direkt vor den harten Füßen des anderen Golems. Dieser schickte sich nun an sie einfach aufzuspießen, indem er sein Schwert vor seinen Körper hielt und zwischen seine Füße stach, als würde er Fallobst aufsammeln, um sich nicht bücken zu müssen. Für Jessica war es jetzt wichtig zwischen die beiden zu kommen, aber nach dem abrollen hatte sie keine gute Position. Einzig und allein eine Rolle rückwärts würde helfen, aber plötzlich kamen die Zweifel, ob die erwachsende Jessica, diese viel geliebte Bewegung ihrer Kindheit hinbekommen würde. Sie sah die steinerne Klinge senkrecht auf sich zu kommen und holte Schwung. Es klappte und das schrammende Geräusch von Stein auf Stein zeugte von ihrem Erfolg. Jetzt war der linke Golem wieder am Zug und genau darin bestand ihre Hoffnung. Sie richtete sich auf und bot sich förmlich für einen Schwertschlag an. Die Einladung wurde angenommen, aber ihr Angreifer würde nicht nur sie treffen, sondern auch seinen Partner. Sie erwischte den richtigen Zeitpunkt, um dem Hieb mit einem gezielten Sprung nach hinten zu entgehen. Eine Staubwolke hüllte sie ein, als der rechte Golem krachend zerbarst. Das wärmende Gefühl des Triumphs machte sich in ihr breit, obwohl sie genau wusste, dass sie nur von einer Falle in die nächste eilten.
Es war jetzt ein Leichtes dem verbliebenen Golem auszuweichen. Ohne Verluste erreichten sie die Stufen des Altars, an denen von Tranje sie bereits erwartete. Sein verstauchter Fuß war nur ein Grund, den überstürzten Fluchtversuch gar nicht erst mitzumachen. Die Ausweglosigkeit dieses Unterfangens war ihm von Anfang an bewusst und seine warnenden Worte gingen in der Panik des Aufbruchs einfach unter. Die gesparte Energie nutzte er für ein paar gekonnte Spitzen.
"Ich bin froh, dass es alle zurückgeschafft haben." meinte er wieder ernst.
"Ein sehr ungewöhnliches Manöver, mit dem ihr den Golem erlegt habt." zollte er seine Anerkennung.
"Danke, aber unsere Situation hat sich dadurch nicht verbessert." antwortete Jessica.
"In der Tat nicht. Wir sollten nach oben. Die schmalen Stufen sind für breite Golemfüße nicht gemacht." schlug von Tranje vor. Mit der Gewissheit in der Falle zu sitzen, machte sich die Gruppe Richtung Altar auf. Oben angekommen offenbarte sich im düsteren Mondschein das komplette Dilemma in dem sie steckten. Die breite Front an lebendigem Gestein war nicht willens auch nur eine Person unbeschadet in die vor ihnen liegende Halle zu lassen. Sie bezogen Kriegsrat.
"Vielleicht können wir sie an einer Stelle ablenken und an einer anderen Stelle durchbrechen." schlug Garan von Galwetter vor. Seine jugendliche Naivität wurde nur übertroffen durch ein Übermaß an Furcht.
"Ein nahe liegender Plan, mein junger Freund, aber diese Biester haben eine gewisse Intelligenz." erklärte von Tranje.
"Sie sind träge. Vielleicht schaffen wir es mit Geschick durchzukommen." Nicht nur von Galwetter wollte diesen Ort schnellst möglich verlassen.
"Wahrscheinlich unsere einzige Option, aber wir sollten nicht kopflos drauf losstürmen. Vorher sollten wir sie beobachten. Schwachstellen herausfinden, vielleicht sogar Lücken ausfindig machen. Wir beide gehen an den Fuß der Treppe. Schauen uns das aus der Nähe an und provozieren Aktionen. Von Dormat. Ihr beobachtet von hier oben. Jedes Detail ist wichtig. Diese Steinhirne müssen doch irgendwie zu überlisten sein." von Tranje humpelte die Stufen hinab, was Jessica die Gelegenheit gab einer traurigen Pflicht nachzukommen. Sie ging zu dem Leichnam von Zuertels. Auf den Knien gab sie ihm die letzten Worte.
"In Ehre seid Ihr gestorben. In treuer Pflichterfüllung für die Krone. Der König gelobt das Haus von Zuertel mit all seinen Mitgliedern in tiefer Dankbarkeit für die geleisteten Dienste bis zur Ernennung eines würdigen Nachfolgers zu unterstützen." Jessica drehte den Leichnam auf den Rücken und bahrte ihn zu einer würdigen Stellung auf.
"Wir können ihn nicht mal begraben." sprach sie zu sich selbst. Quatar erschien an ihrer Seite.
"Mein Beileid." sagte er kurz.
"Das Haus von Zuertel ist eins der mächtigsten Häuser in Galatien. Soweit ich weiß gibt es auf absehbare Zeit keinen männlichen Thronerben." sagte sie leise.
"Davon wird es nicht gleich dem Untergang geweiht sein."
"Doch das wird es. Ihr kennt die Regeln. Die einzig verbliebene von Zuertel wird verheiratet und all die Besitztümer und Titel gehen im Haus des Bräutigams auf. Nach der Kunde seines Todes werden die Freier sich überbieten mit Werbungen. In ein paar Jahren wird der Name von Zuertel nur noch eine Randnotiz in den Chroniken von Galatien sein und der Grund für das Aussterben mit mir untrennbar verbunden sein." Sie stand auf und die Last auf ihren Schultern schien unendlich groß.
"So muss es nicht kommen. Ihr seid bald die Königin. Ihr habt die Macht die Regeln zu ändern." versuchte sie Quatar zu ermutigen.
"Niemand hat diese Macht." Tumulte am unteren Teil der Treppe drangen an ihr Ohr. Irgendwas hatte die bisher so ruhig vor sich her trottenden Golems aufgescheucht.
"Was ist passiert?" fragte Jessica den heraufeilenden von Tranje.
"Seht selbst." antwortete er. Sie spähte in die Tiefe und obwohl das Mondlicht nicht sehr erhellend war, konnte sie erkennen, wie die Golems sich gegenseitig bekämpften.
"Was tun die da?" fragte sie.
"Ich habe keine Ahnung, aber das bedeutet nichts Gutes." von Tranje klang besorgt.
"Es soll unsere Sorge nicht sein. Ganz im Gegenteil. Es kommt uns gelegen." frohlockte von Galwetter.
"Die Freude ist vollkommen unangebracht." von Tranje duckte sich, als ein Gesteinsbrocken über seinem Kopf dahinflog.
"Hinter den Altar." befahl Jessica. Zu spät. Ihre vorgeschlagene Deckung wurde mit einem zweiten Geschoß um die Hälfte verkürzt. Krachend schlug der riesige Handballen eines steinernen Geistigen ein.
"Sie zerlegen sich gegenseitig, weil sie Material für Wurfgeschoße brauchen." schlussfolgerte Jessica.
"Offenbar ist ein Golem keine sehr geduldige Kreatur. Uns auszuhungern dauerte ihnen wohl zu lange." Weitere Steinbrocken flogen über ihre Köpfe hinweg.
"Das halten wir nicht mehr lange durch." rief Jessica, als die Reste ihres Altars durch den Kopf eines Bauern regelrecht pulverisiert wurde. Als sich der Staub gelegt hatte, tat sich ein kreisrundes Loch vor ihnen auf. Offenbar war das Podest unterkellert.
"Bei den Göttern. Sollten wir dem Tod vorerst doch noch unsere Seele schuldig bleiben." frohlockte von Tranje und zögerte nicht lange. Er verschwand in der Öffnung.
"Was..?" Jessica war verblüfft.
"Alle da rein." befahl sie und einer nach dem anderen ihrer Gefolgschaft verschwand in dem Loch, bis sie als Letzte übrigblieb. Sie stand auf und schaute hinab auf die Halle und ihre steinernen Besatzer. Weitere Brocken Gestein flogen in ihre Richtung und als eines dieser Geschoße genau an ihrer Position einzuschlagen drohte, wählte sie das geringere Übel des dunklen Loches. Vielleicht lagen ihre Ritter bereits mit gebrochenem Genick in tiefer Schwärze, aber nun war es zu spät darüber nachzudenken. Sie schloss die Augen und machte den entscheidenden Schritt.
Die Fallhöhe war zu ihrem Glück nicht besonders hoch, aber es bestand die Gefahr auf einen Mitstreiter zu fallen oder sich unglücklich diverse Knochen an einem herausragenden Stein zu brechen. Sie blieb von beidem verschont und obwohl sie hart auf dem Rücken landete, blieben ihr schwerwiegende Verletzungen erspart. Ein Gewirr an Stimmen war zu vernehmen und ein leises Wimmern drang von rechts an ihr Ohr. Die vorherrschende Dunkelheit machte eine Orientierung unmöglich und um wenigstens etwas Klarheit zu schaffen, übertönte sie die Vielzahl an Stimmen für konkrete Anweisungen.
"Wir sind alle unten. Ist jemand verletzt?" Als Antwort bekam sie ein paar vereinzelte "hier".
"Wir brauchen Licht." hörte sie von Tranje aus der Tiefe links von ihr. Das Klacken von Feuersteinen war zu hören und wenige Augenblicke später stieg der leichte Geruch von versengtem Heu in ihre Nase. Die ersten zarten Flammen waren zu erkennen und endlich erhellte das Licht der ersten Fackel die Dunkelheit. Mit dem Schein des Feuers wich ein großer Teil von Jessicas Anspannung.
"Wo sind wir?" flüsterte sie.
"An keinem guten Ort." antwortete von Tranje geheimnisvoll.
"Dieser Altar dort oben, diente als Sammelbecken bösartiger Strömungen. Er kanalisierte diese Energien offensichtlich auf diesen Raum." erklärte von Tranje.
"Zu welchem Zweck?"
"Zur Erschaffung grausamer Dinge." von Tranjes Stimme war jetzt leise und zurückhaltend. Er leuchtete die nähere Umgebung aus und erhellte ein Regal voller Schwerter, die mit einer dicken Staubschicht überzogen waren.
"Waffen. Endlich wirksame Waffen." kam es aus der Dunkelheit.
"Niemand fasst etwas an." befahl von Tranje.
"Wir müssen hier sofort raus. Wo ist der verfluchte Ausgang." Die Fackel erhellte weitere Dinge, die durch den Staub meist nicht eindeutig erkennbar waren. Die verschiedensten Formen lagerten in den Regalen. Krüge, Kugeln so groß wie Melonen, aber auch vollkommen abstrakte Konturen, die keinem Gegenstand zuzuordnen waren. Endlich fanden sie die Tür, die trotz ihrer Verriegelung auf Grund des Verfalls leicht zu öffnen war. Sie folgten dem dahinterliegenden Gang und erreichten einen Ausgang, der sich auf der anderen Seite des Tempels befand.
Alle atmeten tief durch, als sie ins Freie traten, so als wäre es ein Privileg überhaupt wieder frische Luft zu spüren. Jessica wusste, dass sie es noch nicht überstanden hatten, aber dieser verfluchte Tempel wurde zumindest nicht ihr Grab. Der Wald war auch auf dieser Seite so dicht und einschüchternd, dass ihre Aussichten auf Überleben weiterhin unbestimmt waren. Es drohte zwar keine unmittelbare Gefahr, aber sie waren der eigentlichen Falle immer noch nicht entkommen.
"Was nun?" fragte einer ihrer Ritter verunsichert. Jessica hatte keine passende Antwort parat, doch bevor ihre Unsicherheit auf ihre Gefolgschaft übergreifen konnte, übernahm von Tranje das Reden.
"Der Wald ist auch hier nicht passierbar." Sein Blick viel auf den Ausgang, den sie gerade passiert hatten.
"Mögen die Dinge dort drinnen auch noch so schrecklich sein. Sie sind bedauerlicherweise vielleicht unsere einzige Möglichkeit, diesen Wald zu verlassen. Besitzt Ihr den Mut mir zu folgen?" wandte er sich an Jessica.
"Die Gefahr dort drinnen, ist nicht geringer als hier draußen. Auch wenn sich alles in mir sträubt, werde ich Euch begleiten." antwortete sie mit zitternder Stimme.
"Ich tat Euch Unrecht mit meinen Worten über die kindliche Naivität. Es ist ein Privileg der Jugend töricht zu sein. Mein Alter ist soweit fortgeschritten, dass ich vergaß, welche Kämpfe Ihr in dieser Phase eures Lebens auszufechten habt. Verzeiht einem alten einfältigen Mann." von Tranje klang gedrückt und obwohl Jessica wusste, dass er diese Worte unter dem Eindruck des gerade verlorenen Knappen sprach, gaben sie ihr Mut. Für von Tranje war sie nicht nur die königliche Verpflichtung, die es galt wieder unbeschadet zurückzubringen. Die herzliche Zuneigung, die er ihr entgegenbrachte und die er bisher unter dem Deckmantel der höfischen Etikette gut verbarg, wurde in diesem Augenblick seiner größten Verwundbarkeit sichtbar. Jeder in ihrem Gefolge war verpflichtet die Prinzessin zu beschützen. Gut, dass es auch jemanden gab, dem das Mädchen wichtig war. Ein unglaubliches Gefühl von Geborgenheit durchflutete Jessica und gab ihr den Überlebenswillen, den sie brauchte um diesen verfluchten Ort endlich verlassen zu können.
Zu zweit betraten sie den Raum, der ihnen die Flucht vor den Golem ermöglichte. Von Tranje wiederholte seine Anweisung nichts zu berühren und so beleuchteten sie die verschiedenen Gegenstände, auf der Suche nach einem nützlichen Werkzeug.
"Wonach suchen wir?" fragte Jessica.
"Nach etwas, um diesen Wald zu bezwingen." antwortete von Tranje. Jessica fühlte sich zunehmend unruhiger und der Drang nicht allzu lange an diesem Ort zu verweilen, wurde größer und größer.
"Alles in diesem Raum ist magisch aufgeladen. Wir müssen vorsichtig sein, denn die Magie ist von grausamer Natur. Es war naiv von mir zu glauben, wir könnten unsere Waffen hier weihen lassen. Ich habe diese Bösartigkeit unterschätzt." erklärte von Tranje. Das Licht seiner Fackel fiel auf einen kleinen Gegenstand, der vollkommen staubfrei in einem der zahlreichen Regale lag.
"Ein goldener Ring." hauchte Jessica ehrfurchtsvoll. Seine glatte Oberfläche veränderte sich, als das Feuer ihrer Fackel nah genug war um ihn zu erwärmen. Seltsame Runen erschienen und veränderten die äußere Erscheinung des Ringes.
"Ich befürchte dieser Schatz wird uns leider nicht weiterhelfen." erklärte von Tranje und lenkte ihre Aufmerksamkeit auf ein anderes Regal. Vier verstaubte Dolche standen aufrecht in einer dafür vorgesehenen Fassung. Eine fünfte war leer, aber der verwirbelte Schmutz deutete darauf hin, dass erst vor kurzem die zugehörige Waffe entwendet wurde.
"Da konnte wohl jemand nicht widerstehen." von Tranje klang beunruhigt. Sie suchten weiter und erst jetzt entpuppte sich der Raum größer als bisher angenommen. Weitere Regale standen im bisher unbekannten Südteil und steigerten die Vielzahl an Optionen. Jessicas Licht fiel auf einen Köcher voller Pfeile. Unweigerlich kam ihr Sasha in den Sinn, die damit sicherlich umzugehen wüsste. Sie wollte gerade zum nächsten Regal weitergehen, als ein einzelner weißer Pfeil ihre Aufmerksamkeit beanspruchte. Der majestätische Anblick fesselte ihren Blick. Aufgebahrt wie ein Schwert über dem Kamin, wirkte das glatte weiße Holz so edel, dass sie es unbedingt berühren wollte. Langsam hob sie ihren Arm und näherte sich dem wohl vollkommensten aller Gegenstände in diesem Arsenal an tödlichen Waffen. Der Drang es an sich zu nehmen beherrschte ihren Geist. Der Besitz eines solch meisterlichen Kunstwerks des Tötens würde ihr majestätisches Ansehen in ihrer Gefolgschaft in alle Ewigkeit auf dem höchsten Level manifestieren. Ihre Finger umschlossen den Pfeil, aber noch berührten sie ihn nicht. Bei den Göttern, warum griff sie nicht einfach zu und vereinnahmte diese edle Waffe. Irgendwas in ihrem Inneren hinderte sie daran und ließ ihren kompletten Arm zittern. Es war die Vernunft, die jetzt, wo sie wahrgenommen wurde, ihr aufzeigte, dass sie unter keinem guten Einfluss stand. Eine wahrlich lausige Bogenschützin besaß ein so großes Verlangen nach einem Pfeil, den sie selbst mit größtem Enthusiasmus nicht gewinnbringend einsetzen konnte. Sie konnte nur unter einer magischen Verführung stehen und in dem Moment, indem sie sich dessen bewusst wurde erkannte sie ihren Kampf zwischen der Verlockung, die aufgepeitscht durch magische Reize selbst die größte Selbstbeherrschung auf die Probe stellte und der ins Unterbewusstsein verbannten Vernunft. Vorsichtig zog sie ihren Arm zurück.
"Ein weißer Pfeil des Thores." von Tranje hatte sich in ihrem Rücken genähert.
"Es heißt, diese Pfeile sind tödlich gegenüber jeglichem Feind. Die ultimative Waffe. Sie hat nur einen Nachteil. Sie verführt ihren Besitzer. Sie bestimmt, wer es Wert ist zu sterben. Ich weiß nicht, ob es überhaupt jemanden gibt, der sie beherrschen kann. Im besten Fall kann man ihr widerstehen."
"Wir müssen hier raus. Ich habe Angst den Verstand zu verlieren." Jessicas Geist war endlich wieder frei, aber bei der Vielzahl dieser verfluchten Gegenstände war es nur eine Frage der Zeit, bis sie erneut unter den Einfluss böser Magie geriete.
"Leider haben wir immer noch nichts, um diesen elendigen Wald zu bezwingen." erklärte von Tranje.
"Vielleicht haben wir die falsche Herangehensweise. Alle diese Gegenstände sind magischen Ursprungs?" fragte Jessica.
"Ja. Schwarze Magie. Der Tempel formte sie zu willigen Werkzeugen ihrer Anhänger. Sie sind verdorben für jeden rechtschaffenen Menschen."
"Und nicht magische Gegenstände? Besitzen sie nur die Energie des Tempels, ohne irgendwelche verheerende Auswirkungen?"
"Vermutlich. Aber alles hier ist magisch vorbelastet."
"Wirklich alles?" Jessica lenkte ihr Licht an eine Wand. Bis auf eine verkohlte alte Fackel war sie vollkommen kahl.
"Mir gefällt, wie Ihr denkt eure Hoheit. Es ist allemal die beste Idee, die wir haben." von Tranje Zuversicht war zurück. Er ergriff die Fackel und untersuchte sie.
"Viel wird sie nicht mehr hergeben. Wir sollten alle einsammeln, die wir finden können." Mit einem guten Dutzend halb verbrauchter Fackeln verließen sie den Tempel endlich. Als sie ins Freie schritten, erwartete sie eine aufgebrachte Gefolgschaft.
"Was ist passiert? Werden wir angegriffen?" forderte von Tranje Bericht.
"In der Tat, aber auf eine Weise, die wir nicht erwartet haben." antwortete ihm von Dormat mit blutender Halswunde. Nichts wirklich Besorgniserregendes, wie Jessica im ersten Moment der Begutachtung feststellte, aber irgendjemand war auf ihn losgegangen. Die Menge teilte sich und machte den Blick frei auf einen zornigen von Galwetter.
"Da haben wir ja unseren verschwundenen Dolch." stellte von Tranje fest, als er die Bewaffnung bemerkte.
"Er wollte ihn mir wegnehmen." brüllte von Galwetter los.
"Ich wollte ihn lediglich begutachten." verteidigte sich von Dormat.
"Stehlen wolltet Ihr."
"Von Galwetter. Legt den Dolch nieder." forderte ihn von Tranje auf.
"Nein. Endlich haben wir wirksame Waffen. Das wolltet Ihr doch."
"Aber nicht zu diesem Preis. Seht doch, was Ihr angerichtet habt. Versteht doch. Ihr seid nicht Herr eurer Sinne."
"Ich war noch nie so klar."
"Wir haben keine Zeit. Tut mir leid für die Schmerzen." von Tranje zog sein Schwert und ging auf ihn zu.
"Schmerzen? Bleibt weg." drohte von Galwetter und stach mehrfach grob in die Richtung seines Angreifers. Es half nichts. Der Kampf war unvermeidbar, aber am Ende hatte von Galwetter nicht den Hauch einer Chance auf den Sieg. Keine seiner Stiche kam auch nur in die Nähe seines Ziels und als er den Griff von von Tranjes Schwert an den Kopf bekam, verstand er von Tranjes vorauseilende Entschuldigung.
"Wir müssen schleunigst raus aus diesem Wald." von Tranje trat den verfluchten Dolch zur Seite und entfachte eine der mitgebrachten Fackeln. Als die Flamme endlich die Umgebung erhellte, richtete er sie in das scheinbar undurchdringbare Gestrüpp. Sofort wichen die Äste und Sträucher zur Seite.
"Eure Hoheit. Eure Schläue ist unübertroffen. Hoffentlich reichen die alten Fackeln bis zur Lichtung." Von Tranje wagte den ersten Schritt in den Wald.
Sie kamen gut voran. Die Fackeln des Tempels ermöglichten ihnen das eigentlich vorherbestimmte Schicksal doch noch zu ihren Gunsten zu steuern. Aufgeladen mit der Energie des Tempels, aber ohne jegliche schädliche Wirkung der Magie waren sie der ersehnte Ausweg diesem furchtbaren Ort zu entkommen. Zu Jessicas Leidwesen kamen sie nicht so schnell voran, wie ihr angstgetriebener Geist es gerne hätte. Verschiedene Verletzungen erschwerten den Marsch und gerade in dem Moment, in dem sie glaubte sie hätten sich verirrt und dieses tote Gestrüpp würde beim Verbrauch der letzten Fackel zu ihrem Grab werden, erreichten sie die Lichtung. Erleichtert sank sie auf die Knie und streichelte das Gras, in tiefer Freude endlich wieder etwas Lebendiges zu spüren. Ein Moment der Ruhe, der sämtliche Anspannung von ihr nahm und als sie die Feuer ihres Lagers erblickte, überkam sie der Drang ihr Überleben in die Dunkelheit hinaus zu schreien. Die angelernte Beherrschung verhinderte diesen Anflug von Barbarei und jetzt, wo sie sich nicht mehr in unmittelbarer Todesgefahr befand, erfasste sie in vollem Umfang die Bedrohung, die im Begriff war ihre Hände nach Osos auszustrecken.
"Bei den Göttern. Wer war das?" fragte sie von Tranje, der neben ihr stand und seltsam abwesend wirkte. Auch er versuchte das Erlebte in vernünftige Zusammenhänge zu bringen.
"Ich bin mir nicht sicher, aber es sind anscheinend dieselben Kräfte, die vor hundert Jahren diesen Kontinent verwüsteten."
"Was ist damals hier passiert?" fragte Jessica.
"Zu lang liegen die Geschehnisse in der Vergangenheit, dass ich alles wiedergeben könnte. Mit dem Verlust des Stabes des Werekas und seinem willigen Träger, drohen uns die Ereignisse zu überrollen. Sollten die restlichen Stäbe auch im Besitz dieser dunklen Macht sein, haben wir nicht mehr viel Zeit zum Handeln."
"Was schlagt Ihr vor?"
"Unseren Plan weiterverfolgen. Die Quelle der Jugend ist etwa fünfzehn Tagesmärsche entfernt. Wir kehren zurück, retten den König und bereiten uns auf das Schlimmste vor." erläuterte von Tranje seinen Vorschlag.
"Auf was vorbereiten? Was erwartet uns?"
"Etwas, was es lange nicht mehr auf Osos gegeben hat. Krieg."
Sie begaben sich zurück ins Lager und der Informationsaustausch war bereits in vollem Gange. Die Geschichten überschlugen sich und hätte Jessica sie nicht selbst erlebt, sie hätte es für eine jener Legenden gehalten, die Quatar jeden Abend am Lagerfeuer zum Besten gab. Jetzt, wo die permanente Anspannung von ihr abgefallen war, brach die Müdigkeit über sie herein. Eine Erschöpfung unglaublichen Ausmaßes erfasste sie, als sie sich auf ihrem Nachtlager niederließ. Zwei bis drei Stunden würden bis Sonnenaufgang bleiben. Viel zu wenig um ausreichend Schlaf zu bekommen. Die nächsten Tage würden hart werden, aber das Alles waren nur die Vorboten auf größeres Unheil. Sollte von Tranje nur annähernd Recht behalten, standen ihnen große Veränderungen bevor. Unruhiger Schlaf überkam sie und verweigerte ihr die erhoffte Erholung.
Es herrschte bereits geschäftiges Treiben im Lager, als Jessica erwachte. Schlecht gelaunt stritt sie mit von Tranje, der entschieden hatte, dass die Mitglieder der nächtlichen Unternehmung länger ruhen durften. Obwohl ihre Argumente fast ausschließlich der morgendlichen Übellaunigkeit entsprangen und von Tranje mit präziser Logik die richtigen Entscheidungen traf, fühlte sie sich mehr den je im Recht mit ihrer Kritik am vermeintlich zu langem Verweilen. Die Morgentoilette wusch den Dreck der nächtlichen Abenteuer ab und als sie den ersten Tee zu sich nahm, verflüchtigte sich der Schleier der morgendlichen Benommenheit, der einen erfasst, wenn der Schlaf jegliche Erholung vermissen ließ. Sie setzte sich zu Sasha ans Feuer, die Gedanken verloren in die Flamme starrte.
"Welche Macht schafft es, sich ein solch mächtiges Wesen zu unterwerfen?" Sashas Frage war an keinen bestimmten Empfänger gerichtet, aber Jessica wollte antworten.
"Eine Macht, die uns alle bedroht. Ich verstehe nicht die Ziele, die dahinterstecken, aber sämtliches Leben befindet sich in Gefahr."
"Der Drache. Er ist ein Opfer dieser zerstörenden Gewalt. Wenn er schon nicht der Unterwerfung entkommen kann, wie wollen wir es dann schaffen. Wie können wir diesen Feind abwehren?" Von Sashas üblicher Stärke war im Moment nichts zu erkennen. Sie wirkte niedergeschlagen.
"Indem wir alle unseren Teil beitragen. Nicht der Einzelne wird den Feind niederstrecken. Die Gemeinschaft wird den Sieg davontragen."
"Wir benötigten Tage, um auf diese Lichtung zu gelangen. Wir durchquerten einen Dschungel mit tausenden von Bäumen. Eine scheinbar unendliche Menge an Holz und doch reicht dieser Dschungel in seinen Ausmaßen nicht mal annähernd an den Listerwald heran. Dieser Wald wurde komplett vernichtet. Ich hoffe deine Gemeinschaft ist groß genug." Sashas rebellisches Gemüt war zurück, aber das war für Jessica unwichtig. Ihre Unternehmung war mit dem Finden der Quelle der Jugend nicht abgeschlossen. Sie mussten wissen, mit was sie es tun hatten.
Der Vormittag war schon weit vorangeschritten, als von Tranje das Signal zum Aufbruch gab. Zeit war ein entscheidender Faktor und in Jessicas Wahrnehmung vergeudeten sie zuviel davon. Der nächtliche Besuch im Tempel hatte neben den beiden menschlichen Verlusten, vier verstauchte Füße, zwei gebrochene Unterarme und ein gebrochenes Handgelenk zur Folge. Behinderungen, die die umfangreiche Logistik weiter verlangsamten und jeden Aufbruch und jedes Lagern am Abend zu zeitraubenden Unternehmungen verkommen ließ. Jessica beschloss dieses Prozedere auf ein Minimum zu beschränken, was zu Lasten des eh schon spärlichen Komforts ging und die verwöhnten Adligen zu formellen Protesten nötigte. Auch wenn die Spannungen innerhalb der Gruppe damit weiter anstiegen, brachten diese Einschränkungen einen enormen Gewinn an Zeit und damit einhergehend größere Distanzen, so dass am Ende ein kompletter Tag weniger benötigt wurde, um die Höhen von Verdan zu erreichen.
Ihr Weg führte sie zuerst in den Süden, um den Tempel und seinen Wald weitläufig zu umgehen. Die Westseite dieses verfluchten Gestrüpps grenzte an eine Steppe, die jegliche Vegetation vermissen ließ und Jessica entfernt an die Steinebene von Osos erinnerte. Sie durchquerten dieses trostlose Gelände in Richtung Nordwesten und trafen nach einigen Tagen auf den Uferlauf des gigantischen Flusses, dessen reißende Wassermassen als natürliche Barriere den Norden abspaltete. Hier im Landesinneren wich die verheerende Wärme einem angenehmen Klima aus erfrischender Kühle und das reichhaltige Wasser des Flusses ermöglichte vereinzelten dürren Sträuchern ein karges Dasein. Sie folgten dem Uferverlauf weiter flussaufwärts und allmählich eroberte sich die Pflanzenwelt die kahle Steppe Stück für Stück zurück. Braun wich immer mehr dem satten grün von Gräsern und nach einigen Tagen durchbrachen die ersten Baumwipfel die glatte Linie des Horizonts. Je mehr sie Fluss aufwärts kamen, verdichteten sie sich mehr und mehr zu einem Wald, der zwar immer noch spärlich wirkte im Vergleich zum Dschungel jenseits des Tempels der Saphia, dessen Natur aber mit ungewohnten Pflanzen und nicht weniger ungewöhnlichen Tieren beeindruckte. Die Jagd stellte sich in diesem Teil der Welt als weitaus einfacher da und die tägliche Ration Fleisch am Abend hob die Stimmung ihrer Gefolgschaft. Ein behäbiges Tier, dass in seinem Aussehen an ein übergewichtiges Reh erinnerte, machte es selbst ungeübten Jägern leicht. Die Anwesenheit solch träger Kreaturen zeugte von einem Mangel an Raubtieren und versetzte die Gruppe in eine trügerische Sicherheit. Vielleicht bot der Wald keine Gefahren durch die hiesige Tierwelt, aber am zehnten Tag ihrer Reise stießen sie auf Spuren menschlicher Anwesenheit, welche die satte Zufriedenheit in eine unbekannte Bedrohung verwandelte.
"Wer könnte hier verweilt haben?" fragte Jessica und begutachtete die kalte Asche am Flussufer.
"Drei, vielleicht vier Tage her." schlussfolgerte Sasha nachdem sie ein Teil der Überreste des Feuers in ihrer Hand zerrieb.
"Wir haben weitere Feuerstätten entlang des Flusses gefunden." sagte von Tranje, der Späher die Umgebung erkunden ließ.
"Dieser Wald beherbergt höchstens ein paar vereinzelte Waldläufer. Solch große Gruppen treiben sich normalerweise nicht hier herum. Dies ist bestimmt kein Zufall, dass sie ausgerechnet zu dieser Zeit, an diesem Ort, diese Gefilde aufsuchen." erklärte Sasha.
"Ihr meint sie sind unseretwegen hier?" fragte Jessica. Sasha verweigerte die Antwort und ließ ihren Blick in der Umgebung schweifen. Ein Baum fesselte ihre Aufmerksamkeit.
"Dort drüben. In den Baum wurde etwas eingeritzt." sagte sie. Jessica ging auf die Stelle zu und erkannte die grobschlächtige Botschaft.
"Soll das eine Streitaxt darstellen?"
"Vielleicht eine Warnung."
"Das wäre dann kein herzliches Willkommen." warf von Tranje ein.
"Das soll es auch nicht sein." mischte Alvor sich in die Diskussion ein.
"Wir sind mit Sicherheit der Grund für ihre Anwesenheit und das lassen sie uns offensichtlich wissen."
"Dann gehen sie taktisch nicht besonders klug vor." warf von Tranje ein.
"Es gibt Geschichten über diese Fremden. Dieses Symbol der Streitaxt steht für eine Art von Jägern, denen Taktik vollkommen egal ist. Sie haben nur einen Antrieb. Das Töten und das mit einem Höchstmaß an Qualen. Zuerst vergiften sie den Geist ihrer Opfer mit Angst. Dann folgt Einschüchterung und Zermürbung. Erst am Ende kommt der Tod, der mit Sicherheit nicht schnell erfolgen wird. Sie sind Geister, die keiner je zu Gesicht bekommen hat. Alle, die mit ihnen zu tun hatten sind tot. Nie gab es Überlebende." erklärte Alvor.
"Ihr frönt zuviel der Lagerfeuergeschichten unseres Eposschreibers. Erklärt mir woher Ihr das Alles wisst, wenn es nie Überlebende gab." von Tranje wirkte skeptisch.
"Du solltest die Bedrohung Ernst nehmen. Sie nennen sich Vikiner und sind die brutalsten Bestien südlich des Flusses." fuhr Sasha von Tranje an.
"Glaubt mir. Ich bin weit davon entfernt die Angelegenheit nicht mit notwendiger Aufmerksamkeit zu bedenken, aber diese übertriebene Art der Darstellung ist nicht gerade hilfreich für die eh schon angeschlagene Motivation meiner Leute. Wenn in diesem Wald ein Trupp mordlüsterner Bestien haust, werden wir Vorkehrungen dagegen treffen. Wenn sie mit uns spielen wollen, auch gut. Am Ende läuft es auf einen Kampf Mann gegen Mann hinaus." rechtfertigte sich von Tranje.
"Deine Arroganz wird euer Untergang sein." fauchte Sasha und ließ ihn einfach stehen.
"Ihre feurige Art ist herzerfrischend." von Tranje blieb gelassen hinsichtlich des Disputs.
"Vermutlich ist unser Tod jemanden ein paar Goldstücke wert."
"Ihr meint es wurde ein Preisgeld auf uns ausgesetzt?" fragte Jessica.
"Eine Rückkehr nach Osos ist wohl nicht erwünscht. Was gibt es Leichteres als unseren Tod, um das zu verhindern."
"Wir haben immer noch keinerlei wirksame Schwerter." resignierte Jessica.
"Das ist in der Tat immer noch unser größtes Problem, aber wenn in Alvors Geschichte nur ein Funken Wahrheit steckt, werden sie uns erst direkt an der Quelle angreifen. Bis dahin sollten wir die Unwirksamkeit unserer Waffen nicht weiter thematisieren, denn ich bin mir sicher, dass wir bereits beobachtet werden."
Jessica hatte Mühe dem spontanen Drang zu widerstehen, die umliegende Vegetation nach versteckten Spitzeln abzusuchen.
"Seid Ihr Euch sicher?" fragte sie jetzt etwas gedämmter.
"Wer weiß das schon mit Sicherheit, aber unsere größte Schwäche sollte vorerst unser Geheimnis bleiben."
Im Angesicht dieser neuen Gefahr, fielen der Gruppe die Schritte sichtlich schwerer. Ein drohender Hinterhalt in fremden Gelände war selbst für erfahrende Kämpfer ein unkalkulierbares Risiko und so forderte die erhöhte Aufmerksamkeit ihren Tribut bei der Marschgeschwindigkeit. Hinter jedem Baum konnte ein mordlüsterner Vikiner stecken und obwohl niemand wusste, wie die Bedrohung im Endeffekt aussah, gab es befeuert durch Quatars Geschichten am Lagerfeuer blühende Fantasien hinsichtlich des neuen Feindes. Noch hatte der Optimismus die Oberhand, aber schon am folgenden Tag sollte das Selbstbewusstsein der Gruppe aufs Tiefste erschüttert werden.
Sie errichteten ihr Lager direkt am Ufer des Flusses. Jessica verzichtete auf die übliche raumgreifende Ausweitung, die Knechte von ihren Herren trennte. Ein drohender Überfall würde sie zwar in die Enge treiben, aber diesen Nachteil nahm sie in Kauf für die schnelle Verfügbarkeit ihrer kompletten Streitmacht. Sie befahl eine Verdoppelung der Wachen und zum Unmut der Adligen mussten damit nicht nur Knechte den unliebsamen Nachtdienst verrichten. Mindestens ein Ritter begleitete die eingeteilten Dienste und obwohl die erhöhte Wachsamkeit eigentlich ein sicheres Gefühl innerhalb des Lagers vermitteln sollte, konnte Jessica ihre Unruhe nicht beschwichtigen. Askalan wurde mehr und mehr zum tödlichen Glücksspiel für ihre Unternehmung. Diese neue unbekannte Bedrohung zerrte an ihren Nerven, die in den letzten Wochen eigentlich schon überstrapaziert wurden. Waren die Vikiner nur eine grausame Legende, um sie zu verunsichern oder hatte Alvor nicht übertrieben mit seinen Warnungen vor dem Feind ohne Gesicht? Ihr Geist fand keine zufriedenstellende Antwort auf diese Frage und bevor ihr Verstand zu kollabieren drohte, schleuderte Quatar sie in die nächste Verwirrung, die sie die letzten Tage immer öfter ergriff.
Sie hatten viel Zeit zugebracht an den letzten Abenden. Quatar suchte sie regelmäßig auf, nachdem er mit seinen Geschichten die Ritter in einen Rausch aus Heldenmut und zu viel Wein versetzt hatte. Die anfänglich kurzen und einseitigen Unterhaltungen wurden mit jedem Treffen ausführlicher und obwohl Jessica ihre königliche Reserviertheit beibehielt und nur gelegentlich mit einer Spitze beitrug, genoss sie seine Anwesenheit von mal zu mal mehr. Die begeisternden Ausführungen über Bildhauerei, Literatur und anderen schönen Dingen von Osos, zerstreuten ihren geplagten Geist und gaben ihr eine gewisse Regeneration. Abzuschalten von den wirklich reichhaltigen Problemen einer Königstochter, war selbst bei ihrem vorhandenen Desinteresse an Kunst ein liebgewonnenes Ritual geworden und so war sie froh, dass er sich auch an diesem Abend an ihrer Seite niederließ. Sie freute sich ehrlich auf seine Geschichten, aber sie wusste auch um die verwirrenden Gedanken, die mit der Entspannung einsetzen und sich dann ausschließlich um seine Person ranken würden. Eine düstere Zukunft lag vor ihr, selbst wenn sie ihren Vater und das Königreich retten würde, der Verlust an menschlichem Leben war unausweichlich. Auf dieser Reise würden vermutlich nicht alle zurückkehren und zu ihrer Überraschung wäre das Bedauern beim Ableben von Quatar am größten. Hatte sie sich am Anfang noch eingeredet, dass der Einzige ohne Waffe am wenigstens den Tod auf dem Schlachtfeld verdienen würde, begriff sie schnell, dass sein Überleben ihr ein persönliches Anliegen war. Von all den stolzen und tapferen Menschen in ihrem Gefolge war ihr ausgerechnet der Entbehrlichste unabdingbar.
Sie schenkte ihm ein Lächeln, als er im Schein des kleinen Feuers erschien. Reue machte sich sofort in ihr breit, da sie die königliche Fassade aus Gleichmut für einen Moment fallen gelassen hatte. Eine willkommene Gelegenheit für Quatar einen seiner wohl gestreuten Flirts anzubringen.
"Ein wohlverdienter Lohn für die Strapazen des Tages."
"Keine Geschichten am Feuer heute?" fragte Jessica, um dem Geplänkel auszuweichen. Innerlich genoss sie diese Bemerkungen.
"Ich fürchte mein Publikum ist heute nicht bereit für fantastische Heldensagen. Die Realität meiner Geschichten wirkt wohl langsam erschreckend." erwiderte Quatar.
"Neue Gefahren bedrücken ihr Gemüt."
"Zwei Nächte noch. Dann haben wir die Quelle erreicht."
"Eine Konfrontation bleibt unausweichlich. Ich fürchte ein unbekannter Gegner auf unbekanntem Gelände wird keinen guten Ausgang für uns nehmen. Selbst wenn die Götter uns wohl gesonnen sind und wir siegreich das Schlachtfeld verlassen, werden wir einen hohen Preis zahlen." sinnierte Jessica. Sie musterte sein Gesicht, so als ob sie sich jeden Zug einprägen wollte.
"Ihr sorgt Euch um mich. Erst das Lächeln nun die Sorge. Dieser Abend stellt den Höhepunkt meiner bisherigen Reise da."
"Vielleicht hättet Ihr gut daran getan, nie auf diese Reise zu gehen." Jessica versuchte diese Worte so nüchtern wie möglich zu verkünden, aber die Sorge konnte sie nicht unterdrücken.
"Ich bereue nichts. Nicht einen einzigen Augenblick seitdem ich auf dieses Schiff in Dreiwasser ging."
"Was Ihr übrigens als blinder Passagier betreten habt. Ihr könnt froh sein, dass Euch der Kapitän nicht über Bord geworfen hat."
"Den Mutigen gehört die Welt und vielleicht werden sie darin umkommen. Die Ängstlichen sitzen zu Hause am Ofen und sterben jeden Tag ein bisschen. Der Tod ist nun mal unser aller Schicksal. Wir können ihm nicht entkommen. Das Leben dagegen ist die Geschichte, die wir selbst schreiben können und wer liest denn schon gern ein langweiliges Buch. Glück und Liebe, aber auch Leid und Trauer füllen die Kapitel. Also besteigen wir Schiffe, suchen mysteriöse Quellen und stellen uns übermächtigen Feinden, immer auf der Suche nach diesen Momenten, die uns einen Sinn im Hier und Jetzt geben. Im Angesicht des Todes will ich lächeln, weil ich weiß, dass ich mich allen Herausforderungen gestellt habe."
"Und? Ist eure Geschichte schon interessant genug, um lächelnd vor die Götter zu treten?" fragte Jessica.
"Ich muss zugeben, da gibt es noch einiges bei dem mir bisher der Mut fehlte." antwortete Quatar.
"Wie sagtet Ihr so treffend. Den Mutigen gehört die Welt." Obwohl Jessica vor Neugier platzte, wagte sie nicht direkt nach seiner Mutlosigkeit zu fragen. Ein kurzer Moment des Schweigens legte sich über das knisternde Feuer, dann näherte sich Quatar ihren Lippen und gab ihr einen leidenschaftlichen Kuss.
Überrascht über dieses Manöver, wusste Jessica für einen Moment nicht, wie sie reagieren sollte. Es war ihr erster Kuss und all die Geschichten über dieses Ritual hatten sich als unangenehmer Brauch der Zuneigung in ihrem Gedächtnis verfestigt. Ein Feuerwerk an Emotionen explodierte in ihrem Inneren und belehrte sie eines Besseren. Sie genoss den Augenblick, erwiderte den Kuss allerdings nicht und das nicht nur auf Grund mangelndem Wissens. Er ließ von ihr ab.
"Die Geschichten über mein Talent beim Küssen scheinen wohl etwas übertrieben." kommentierte er die Zurückhaltung der Königstochter. Jessica fand immer noch keine Worte, aber wie immer in Situationen, in denen Gefühle die Vernunft zu überwältigen drohten, sah sie ihre Lösung in der Anwendung des bestehenden Regelwerks.
"Ihr vergesst euren Stand. Solche Vertraulichkeiten sind nicht Eurer würdig." sagte sie streng. Hin und her gerissen zwischen der entfachten Glut der Leidenschaft und der Unumstößlichkeit der Traditionen, gab sie der kalten Besonnenheit den Vorzug.
"Verzeiht eure Hoheit. Ich habe die Situation falsch eingeschätzt."
"Versteht doch. Ich kann Euch nicht geben, wonach Ihr verlangt." Ihre Worte klangen wieder deutlich sanfter.
"Mit Verlaub. Mein Vorstoß war sicherlich unangebracht, aber nie irrte ich mich, hinsichtlich meiner Möglichkeiten bei der Werbung."
"Es sind nicht die Gefühle, die eure Möglichkeiten beschränken. Es sind die Stände. Und nun geht. Vergesst diesen Abend. Sammelt Kraft für die bevorstehenden Tage." Ihre letzten Worte waren die einer beherrschten Königstochter und ließen keinen Widerspruch zu. Mit Bedauern sah sie ihm hinterher und verfluchte ihr Schicksal. In einem anderen Leben würden sie sich dem einzig wahren Gefühl hingeben, aber als Mitglied der königlichen Familie hatte Liebe für sie keine Relevanz. Verpflichtung stand über allem und störende Einflüsse wie Emotionen galt es zu unterdrücken. Ihr Lebensweg war vorgegeben und so steinig der Pfad auch seien möge, es gab keine Alternative.
Die einsetzende Dunkelheit erstickte die im Vergleich zum Dschungel eh schon spärliche Geräuschkulisse des Waldes. Ein gelegentlicher Ruf der Eule erklang, so als ob es eines Beweises benötigte, dass es in der Finsternis mehr als Schwärze gab. Die Stille beruhigte Jessicas aufgebrachtes Gemüt, aber diese Stille sollte sich als trügerisch herausstellen. Sie glitt rüber in die Traumwelt, in der sie als königliche Magd ein einfaches Leben führte. Ihr Unterbewusstsein polierte diesen Lebenswandel mit einem treusorgenden Ehemann und einer Schar von glücklichen Kindern verführerisch auf, aber selbst die Traum-Jessica zweifelte diese Illusion an. Der innere Konflikt konnte nicht weiter ausgefochten werden, denn aufgeregte Stimmen holten sie in die Wirklichkeit einer Prinzessin zurück. Schlaftrunken begab sie sich zum Feuer.
"Was ist los? Werden wir angegriffen?" fragte sie von Tranje, als sie halbwegs wieder Herr ihrer Sinne war. Von Tranje war so angespannt, dass er vorerst auf eine Antwort verzichtete. Mit gezogenem Schwert standen er und ein halbes Dutzend seiner Leute um das Feuer und versuchten Bewegungen in der Dunkelheit auszumachen.
"Vielleicht nur ein nervöses Gemüt einer der Wachen." presste von Tranje hervor und lauschte weiter in die Dunkelheit. Niemand wagte es sich zu bewegen.
"Nichts." zischte von Dormat und schob sein Schwert in die Scheide. Nach und nach verschwanden die Waffen und Entspannung machte sich breit.
"Dieser verdammte Alvor mit seinen Schauergeschichten. Jedes Tier in der Nacht lässt die Wachen verschreckt Alarm schlagen." von Tranje wirkte verärgert. Er wollte sich gerade auf seinem Nachtlager niederlassen, als ein schauerlicher Laut die Stille durchbrach. Sofort waren alle wieder in Kampfstellung.
"Ein Wolf?" entfuhr es Garan von Galwetter, der krampfhaft versuchte das lang gezogene Geheule einzuordnen.
"Das war kein Tier." erklärte von Tranje, als der Laut endete. Nur wenige Augenblicke später setzte er aus der entgegen gesetzten Richtung wieder ein und wurde Zeit verzögert durch das ursprüngliche Geheule unterstützt. Jetzt waren es drei und wenig später sogar vier sicherlich nicht tierische Laute aus allen Richtungen, die vereint eine furchteinflößende Geräuschkulisse bildeten. Die Jagd hatte offenbar begonnen und die Beute scharte sich eingeschüchtert um ein spärliches Feuer.
"Was machen die?" versuchte Jessica das Geheule zu übertönen. Nummer fünf setzte just in dem Moment ein, indem der erste Ton abstarb. In kurzen Intervallen gab er dem Orchester aus Angst seine eigene Komponente.
"Wie Alvor schon sagte. Sie spielen mit uns." erklärte von Tranje. Urplötzlich herrschte Stille.
"Was jetzt?" flüsterte Jessica, die in ihrem leichten Hemd und unbewaffnet vollkommen deplatziert wirkte.
"Beten wäre eine gute Option." zischte von Tranje ohne seine Konzentration auf die Dunkelheit vor ihm auch nur einen Deut zu verringern. Er war bereit für den Kampf.
Jessica wagte es nicht ihre Waffe zu holen. Diese Anspannung war unglaublich und welche Kreaturen immer auch da draußen lauerten, in ihrem Geist hatten sich längst die Raubtiere manifestiert, die geschützt durch die Dunkelheit zum tödlichen Sprung auf ihre Opfer ansetzten. Gelähmt vor Angst den bevorstehenden Konflikt durch eine unbedachte Bewegung zu provozieren, verharrte sie im vermeintlichen Schutz ihrer Gefolgschaft. Wie hatte sie es nur versäumen können ohne ihre Waffe in diese Situation zu geraten. Sie schob es auf Quatar, auf die wilden Träume und die unsanfte Erweckung, aber am Ende musste sie einsehen, dass es einfach ihr Mangel an Erfahrung war. Beim kleinsten Anzeichen von Gefahr ging bei jedem dieser Kämpfer sofort der Griff zum Schwert. Ein Reflex, der ihr noch fehlte und sie jetzt alles andere als souverän wirken ließ.
"Wo bleiben die?" zischte von Dormat gepresst. Geraume Zeit war vergangen und nur das gelegentliche Knacken eines brennenden Astes im Feuer durchbrach die scheinbar absolute Stille. Von Tranje senkte langsam das Schwert.
"Sie warten darauf, dass wir uns vom Feuer entfernen." Er überlegte kurz.
"Wir bleiben in der Verteidigung. Legt mehr Holz in das Feuer. Erhellt das ganze Lager." befahl er.
"Sie provozieren uns. Testen unsere Reaktion." versuchte sich Jessica an einer Erklärung.
"Sie wägen Schwachstellen ab. Offenbar haben sie doch ein taktisches Verständnis. Sie lernen immer mehr über uns und wir wissen noch nicht mal wie sie aussehen. Das beunruhigt mich zutiefst." von Tranje brüllte weitere Anweisung in Richtung seiner Leute. Er wirkte unzufrieden mit dem Ablauf und besonders einer der Knappen bekam mächtig Ärger, weil er offenbar ähnlich wie Jessica jegliche militärische Souveränität vermissen ließ. Genau diese Unerfahrenheit sollte beiden im Laufe der Ereignisse noch zum Verhängnis werden.
"Wir sollten dem Gefolge Ruhe gönnen." Jessica kritisierte von Tranjes Anweisung, dass niemand mehr an diesem Abend in sein Nachtlager zurückkam.
"Eure Hoheit, Ihr könnt meine Anweisung widerrufen, aber ich halte es für gescheiter die volle Verfügbarkeit für einen Kampf zu haben. Ich bezweifle ohnehin, dass jemand Schlaf finden wird. " erklärte von Tranje.
"Militärische Anweisungen obliegen immer noch eurer Befehlsgewalt, aber müde Krieger schwächen unsere Kampfkraft."
"Das ist mir bewusst. Trotzdem sehe ich es als die bessere Alternative an."
"Dann tut es." Vielleicht hatte er Recht. Die permanente Bedrohung machte Schlaf unmöglich und so blieben die Nachtlager kalt bis der Morgen graute. Ihre Angreifer verweigerten eine Konfrontation in dieser Nacht, was viele ihrer Leute mit Missmut zur Kenntnis nahmen. Der unbekannte Gegner brauchte dringend ein Gesicht, um die Mystik des Schreckens zu entzaubern. Mit den ersten Sonnenstrahlen erkundete von Tranje mit einem kleinen Trupp die Umgebung und obwohl die Anzahl der Hinweise auf nächtliche Besucher zahlreich waren, konnten sie niemanden ausmachen. Die Geister der Nacht waren verschwunden und hinterließen nicht nur Müdigkeit im Lager. Die Leichtigkeit der letzten Tage gab es nicht mehr, dafür ebnete sich mehr und mehr die Furcht ihren Weg in die Seelen der Kämpfer. Die Schlacht war unausweichlich geworden, aber die mangelnde Bereitschaft ihres Feindes sich dem Ganzen zeitnah zu stellen, zermürbte die erfahrende Königsgarde. Alvor hatte es vorausgesehen, aber noch konnte die Geschichte geändert werden und so versammelte von Tranje die Gefolgschaft am nächsten Abend nach einem kräftezehrenden Marsch und bewies, dass er nicht nur auf Grund seiner Schwertkünste ein guter Anführer war.
"Ritter von Galatien. Wir stehen kurz vor dem Ziel unserer Unternehmung. Ein unbekannter Feind steht zwischen uns und der Rettung des Königreiches. Noch verweigern sie uns den Kampf, wie ängstliche Raubtiere, die nicht wissen, ob sie sich an ihrer Beute die Zähne ausbeißen. Zeigen wir ihnen, dass ihre Angst berechtigt ist. Ich kenne nichts, was an Kampfesmut und Schlagkraft an die Ritterschaft von Galatien heranreicht. Also verzaget nicht, weil ihr die Angesichter eurer Feinde nicht kennt. Mut war schon immer der Schlüssel zum Sieg und davon haben wir mehr als diese Bastarde in ihren Erdlöchern. Sie hocken da draußen im Wald und jaulen wie zahnlose Wölfe um uns dieser wichtigsten Waffe zu entziehen, aber das wird nicht funktionieren." von Tranje schickte einen inbrünstigen Kampfschrei in die einsetzende Dunkelheit. Es dauerte nur wenige Momente und sein Schrei wurde aus zwei dutzend Kehlen verstärkt. Selbst Jessica wurde in diesen Rausch aus Kampfeswillen mitgerissen und begann ihrerseits zu schreien. Die Gruppe peitschte sich hoch und in diesem Augenblick waren sie endlich eine Gemeinschaft. Im Angesicht der Bedrohung hatte von Tranje es geschafft die ganze Zwietracht und die vorherrschende Missgunst, welche nur durch das königliche Banner gebändigt werden konnte, zu beseitigen. Jedenfalls für den Moment fühlten sie sich als unbesiegbares Ganzes und schickten die Angst an ihren Absender zurück. Ein beeindruckendes Zeichen wurde dort in die Dunkelheit gebrüllt und wer immer dort draußen auch hocken mochte und seine perfiden Pläne ersonn, wusste nun, dass ihre Opfer es ihnen nicht leichtmachen würde.
Die Zuversicht war zurück und mit ihr fiel eine Menge Anspannung von den Rittern ab. Die Nacht brach an und da sie mittlerweile den Flusslauf verlassen hatten, waren sie gezwungen sich nun von allen vier Seiten zu schützen. Jessica halbierte ihre Gefolgschaft, wobei jede Hälfte fünf Stunden ruhen durfte, während die andere Hälfte einen ausgedehnten Wachdienst schieben musste. Sie nahm sich von dieser Regelung nicht aus und als sie sich müde nach ihrem ereignislosen Dienst ins Nachtlager fallen ließ, hoffte sie, dass auch der zweite Teil der Nacht ohne große Schwierigkeiten vorübergehen würde. Leider wurde diese Hoffnung enttäuscht.
Jessica fand keine Ruhe. Trotz all der Müdigkeit gab es keine Erlösung in Form von Schlaf. Es war ihr sogar unmöglich die Augen zu schließen, also lag sie einfach auf dem Rücken und starrte in den Sternenhimmel. Die hellen Punkte schienen so unheimlich friedlich und schoben wenigstens für wenige Momente die dunklen Gedanken in den Hintergrund. Wie lange war es her, dass sie auf den Zinnen der heimischen Burg das Leben in Saetung beobachtete. Tage, Wochen, Jahre. Es war unmöglich die Erinnerungen in zeitliche Kategorien zu unterteilen. Die Erlebnisse auf Askalan verzerrten alles ins Unendliche. Morgen würden sie endlich die "Quelle der Jugend" erreichen, aber vielleicht war es schon zu spät und ihr Vater war längst den tückischen Wirkungen dieses geheimnisvollen Giftes erlegen. Dann wären all die Opfer umsonst gewesen. Ein trüber Gedanke, der es durch den Schleier der Friedfertigkeit beim Anblick der Sterne geschafft hatte an die Oberfläche zu gelangen. Sie konzentrierte sich auf einen besonders hellen Punkt und während sie versuchte hinter das Rätsel seiner Strahlkraft zu kommen, brach das Inferno los.
Der Morgen graute bereits und dieses spärliche Licht schien den Vikinern als Angriffszeitpunkt ideal. Als der erste Kampfeslärm an Jessicas Ohren drang, war sie blitzschnell auf den Beinen. Sie ergriff ihr Schwert und wollte sich dem Zentrum des Angriffes nähern, als sie unsanft zu Fall gebracht wurde. Das Verhängnis war so trivial, dass sie fast schon wütend über diese Leichtigkeit sich ihrem Schicksal ergab und auf den Knien landete. Ein Stock zwischen ihren Füßen reichte, um sie von den Beinen zu holen. Eine dunkle Gestalt erschien über ihr, als sie sich auf den Rücken abdrehte. Auch wenn sie Einzelheiten nicht erkennen konnte, wirkte der Körperbau ihres Angreifers überdimensional muskulös. Ein Arm, dessen Umfang sogar den ihres eigenen Beines übertraf, ergriff ihren Hals und die Mühelosigkeit, mit der sie in die Luft gehoben wurde, schien die These der vielen Muskeln zu bestätigen. Jessica röchelte und aus einem Impuls heraus, stach sie mit ihrem Schwert auf die Hüfte ihres Angreifers ein. Ihre schlimmsten Befürchtungen über Sinnlosigkeit dieses Manövers bestätigten sich, als die Klinge abglitt. Der Griff um ihren Hals wurde verstärkt. Eine unmissverständliche Bestrafung für ihren Gegenangriff und als Bestätigung, dass Jessica diese Lektion gelernt hatte, ließ sie ihr ohnehin nutzloses Schwert fallen. Sofort wurde ihr wieder mehr Luft zugestanden. Offenbar war ihr Tod noch nicht augenblicklich geplant.
Vielleicht war es das spärliche Licht des fast erloschenen Feuers, welches das seelenloses Gesicht zu einer Fratze verkommen ließ oder vielleicht war es auch die Angst, die Jessica ergriff, als ihr Peiniger sie auf Armlänge vor sich von Angesicht zu Angesicht hielt, jedenfalls weigerte sich ihr Verstand ihren Gegner als menschlich anzusehen. Obwohl Mund, Nase und Augen vorhanden waren, schien das Antlitz einer übernatürlichen Kreatur zu gehören, die sie spielend in die Luft heben konnte und vermutlich sogar in der Lage war mit einer Hand ihre Kehle zu zerquetschen. Hass und Niedertracht waren deutlich zu erkennen und entstellten die typischen Eigenschaften eines Gesichtes auf Grausamste und machte ihren Angreifer zur Bestie. Verzierungen, die offenbar mit Tinte unter die blasse Gesichtshaut geritzt wurden, verstärkten den Eindruck, ein Raubtier in der Hülle eines Menschen vor sich zu haben. Als ob das alles nicht schon einschüchternd genug gewesen wäre, reichte ein Blick in das tiefe Schwarz seiner Pupillen. Die vollkommene Abwesenheit von Mitleid, Güte oder Mitgefühl war in diesen zwei dunklen Punkten zu erkennen und machten ihr unmissverständlich klar, dass sie nicht lange überleben würde in Anwesenheit dieser Kreatur in Menschengestalt.
Ein Schwerthieb erschütterte den Arm. Jessica konnte nicht erkennen, wer da versuchte sie zu befreien, aber der Misserfolg war auch hier auf die Unwirksamkeit ihrer Waffen zurückzuführen. Ihr Körper wurde herumgeschleudert und für einen Moment war sie sich nicht sicher, ob ihr Genick die Drehbewegung verkraften würde. Der Vikiner hatte jetzt eine bessere Angriffsposition und ihr Helfer bekam das mit einem Faustschlag zu spüren. Während ihr Gefolgsmann zu Boden ging, nutzte sie den kurzen Moment der Ablenkung und raffte ihr letztes bisschen Mut zusammen. Sie ergriff die Utcha-Kralle, die immer noch an ihrem Gürtel hing. Auch wenn der Handschuh um einiges zu groß war, fuhr sie hinein und versenkte mit einem gezielten Stich die Klingen in der Hand, die ihren Hals malträtierte. Der Würgegriff ließ augenblicklich nach und sie fiel förmlich auf ihre Füße. Ein tiefer Atemzug zeugte von ihrer neu gewonnenen Freiheit, aber die würgende Hand griff schon wieder nach ihr. Rot vor Blut drohte das Unheil sie erneut zu packen. Geschickt entzog sie sich dem Zugriff und fetzte mit ihrer Kralle den Unterarm des Vikiners auf. Wieder gab es keinerlei Schmerzensschreie, obwohl das Blut jetzt ordentlich spritzte und ihr weißes Hemd besudelte. Unbeeindruckt von seinen Verletzungen startete der Vikiner einen neuen Versuch sie zu erwischen.
Die Hartnäckigkeit ihres Gegners zwang Jessica zur einzigen Option, die ihr blieb. Die Flucht. Sie rannte Richtung Lärm, um mit Unterstützung ihrer Leute sich des aufdringlichen Angreifers zu entledigen. Zu ihrer Überraschung war dort der Kampf bereits vorüber und das Fehlen von Gefallenen zeugte von einem kurzen Intermezzo der Vikiner. Sie blickte in die zweifelnden Gesichter ihrer Ritter, die den Sinn des plötzlichen Angriffs und die schnelle anschließende Flucht, zu ergründen suchten. Erwartet hatte sie aussichtslose Schwertkämpfe, aber offenbar hatten die Vikiner andere Ziele und waren bereits wieder verschwunden.
"Hier rüber." brüllte von Tranje und veranlasste Jessica damit ihre Flucht noch ein paar Schritte fortzuführen. Nicht alle Vikiner hatten beschlossen, ihren Angriff abzubrechen. Ihr Verfolger blieb weiter hartnäckig. Er sah sich jetzt sechs Rittern gegenüber, die zwar überwiegend stumpfe Waffen besaßen, aber in ihrer Überzahl trotzdem eine ernsthafte Bedrohung für ihn darstellten.
"Du willst sie? Dann komm und hol sie dir." fauchte ihn von Tranje an. Seine Leute begannen den Vikiner einzukreisen. Der Getriebene machte keine Anstalten zu fliehen und sein Blick machte deutlich, dass er einzig und allein an Jessica interessiert war. Diese unterstützte die Einkreisung mit ihrer Kralle.
"Warum ausgerechnet sie?" zischte von Tranje den Vikiner an.
"Ich verstehe langsam. Euer Angriff war nur eine Ablenkung, um die Schwächsten aus dem Lager zu entführen. Da habt ihr wohl mit ihr die falsche Auswahl getroffen. Was hattet ihr vor?" Der Vikiner knurrte nur und ignorierte von Tranje komplett. Für ihn war einzig und allein Jessica wichtig. Er machte einen Schritt vorwärts und plante mit einem Angriff die immer enger werdende Reihe der Ritter zu durchbrechen, aber bevor er sich auch nur in Bewegung setzten konnte, durchbohrte ein Pfeil seine Kniekehle. Überrascht über die Verwundung brach er das Manöver ab. Seinen Versuch den Pfeil aus der Wunde zu ziehen nutzte von Tranje für einen Angriff auf das gesunde Knie. Er durchtrennte die Sehnen und auch wenn der Vikiner die Verletzungen mit störrischem Gleichmut betrachtete, hatte er nun keine Möglichkeit mehr für einen schnellen Vorstoß oder sogar zur Flucht.
"Empfinden diese Kreaturen überhaupt keinen Schmerz?" entfuhr es von Galwetter ehrfürchtig, als der Vikiner auf die Knie sank. Mit den stumpfen Schwertern prügelten sie auf den Gegner ein. Erst jetzt bemerkte Jessica, dass der Vikiner vollkommen unbewaffnet war. Von Tranje hatte Recht. Er war einzig und allein im Lager, um sie zu entführen und jegliche Bewaffnung hätte den Transport seiner Beute erschwert.
"Legt ihn in Ketten." befahl von Tranje. Dieses Unterfangen stellte sich als schwieriger raus als gedacht, aber nach erbitterter Gegenwehr, die einigen schmerzhafte Prellungen einbrachte, konnten sie den Vikiner dingfest machen.
"Warum ist er nicht geflohen, wie die anderen?" fragte Jessica.
"Weil er ohne dich nicht zurückkehren durfte." erklärte Sasha, die den Pfeil im Knie versenkt hatte.
"Euer Kult verbietet Versagen." zischte sie den Gefangenen an. Mittlerweile graute der Morgen, so dass sich jetzt der schreckliche Anblick des Vikiners voll entfalten konnte. Die kunstvoll verflochtenen langen Haare perfektionierten die furchteinflößende Gestalt, die eigentlich schon mit dem aus zahlreichen Kämpfen vernarbten Gesicht jeden gestandenen Ritter in Ehrfurcht versetzte. Der nackte Oberkörper offenbarte weitere mit Tinte eingeritzte Runen, die vermutlich nicht an der Gürtellinie endeten. Im Einklang mit den übergroßen Muskeln verliehen sie ihrem Träger ein barbarisches Aussehen und ließen keine Zweifel daran, dass der Vikiner zum Töten perfektioniert wurde. Dieses Wesen schien einzig und allein auf Konfrontation ausgelegt und ein Blick in das hasserfüllte Antlitz bestätigte diese These. Die Kreatur vor ihnen akzeptierte niemanden anderes als sich selbst.
"Was suchen solche Barbaren wie ihr, soweit östlich auf Askalan?" fragte Sasha den Gefangenen. Als Antwort bekam sie nur ein Knurren.
"Vermutlich seid ihr nicht mal fähig anständige Laute zu artikulieren." Sasha klang verächtlich.
"Tiere, die ihren Ursprung westlich des großen Gebirges haben." Alvor war zu ihnen gestoßen.
"Sie sind verantwortlich für Elend und Leid. Raubend und plündernd vernichten sie die letzten Menschen auf Askalan." Sasha spukte dem Vikiner vor die Füße.
"Diese hier dienen höheren Zielen. Wer hat euch angeheuert? Sprecht." von Tranje stieß zu dem zwecklosen Verhör, nachdem er vergeblich die Umgebung nach weiteren Vikinern durchsucht hatte.
"Ihr habt zwei unserer Knappen entführt. Warum?" Die Wut in von Tranje steigerte sich.
"Es ist zwecklos. Selbst wenn er uns versteht. Ihm fehlt der Verstand zu antworten." warf Alvor ein.
"Wenn ihr Bastarde meinen Leuten etwas antut, werde ich jeden einzelnen von euch wie räudige Hunde im Fluss ertränken. Verstehst du das? Mistkerl." von Tranje war dem Gefangenen jetzt so nah, dass er dessen verfaulten Atem riechen konnte. Alle Umstehenden hielten den Atem an, denn selbst gefesselt war es nicht ratsam dem Vikiner so nah zu kommen. Der nutzte seine Chance und schnappte nach der Nase, aber der Biss ging durch eine schnelle Reaktion von Tranjes ins Leere.
"Instinkte. Ihr könnt nicht gegen eure tierische Natur. Das macht euch im Kampf berechenbar. Schaut her." von Tranje wandte sich an seine Leute, die durch den Anblick des Gefangenen sichtlich verunsichert waren.
"Berge von Muskeln und ein gleißender Hass." von Tranje boxte dem Gefangenen auf die Schulter und wieder versuchte er nach seiner Hand zu schnappen. Er wiederholte das Boxen auf der anderen Schulter und bekam die gleiche Reaktion.
"Kein Verstand. Nur Instinkte. Raubtiere, die gefangen sind in ihren natürlichen Grenzen. Ihr Kampfstil ist beschränkt. Diese aufgeblasenen Muskeln und diese abschreckenden Verzierungen kaschieren nur ihre begrenzten Fähigkeiten. Mit kühlen Kopf und beherztem Mut sind wir ihnen weit überlegen. Also lasst euch nicht einschüchtern von einer Horde Hunde, die glaubt Wölfe zu sein. Zeigen wir ihnen, wo Hunde ihren Platz haben." Die letzten Worte brüllte er seinen Leuten entgegen und verjagte damit die Unsicherheit aus den Köpfen seiner Getreuen.
Jessica befahl den Aufbruch und obwohl ihr normalerweise die klaren Anweisungen eine gewisse Stabilität gaben, versetzte sie der Aufbruch in eine gedrückte Stimmung. Am liebsten würde sie von Tranje anweisen den ganzen Kontinent nach den verschwundenen Knappen zu durchsuchen, aber sie musste sich eingestehen, dass das Schicksal der Beiden nicht mehr in ihrer Hand lag. In der Nacht am Fluss, hatten die Vikiner mit ihrer lautstarken Einschüchterung die potentiell schwächsten Opfer auserkoren und nur die Götter wissen, was den Auserwählten jetzt drohte. Sie war ebenfalls auf diese Liste geraten, was zweifelsohne ihrem wenig souveränen Auftritt geschuldet war, aber sie hatten sie unterschätzt. Die von von Tranje angesprochenen tierischen Instinkte hatten ihnen dadurch einen Gefangenen verschafft, trotzdem fiel es Jessica schwer zu glauben, dass kein steuernder Verstand hinter den Aktionen der Vikiner steckte. Zu gezielt richteten sich die Aktionen genau gegen sie.
Gegen Mittag zogen schwarze Wolken auf, aber vorerst blieb die Gruppe verschont von Regen. Bodennebel bildete sich, als die Kälte spürbar zunahm und die Gruppe erstmals seit Wochen zum Frösteln brachte. Eine unbewaldete Hügelkette war am Horizont erkennbar. Die Höhen von Verdan waren das Ziel ihrer Reise und als sie den ersten Hügel erklommen hatten, verschlechterte sich die Sicht dermaßen, dass selbst von Tranje zweifelte auf dem richtigen Weg zu sein.
"Das ist ungewöhnlich. Bei meinem ersten Besuch herrschte hier Sonnenschein." kommentierte er das Wetterphänomen.
"Irgendwas Unnatürliches geht hier vor." bestätigte Alvor die vorherrschende Skepsis.
"Nach hundert Jahren ist das Erinnerungsvermögen schon bei gutem Wetter eingeschränkt. Ich muss zugeben, ich habe keine Ahnung wo wir uns befinden." sagte von Tranje. Selbst sein Atem verursachte jetzt Nebel.
"Dann sollten wir rasten und warten, bis sich die Sicht bessert." schlug Jessica vor.
"Mir gefällt die ganze Sache nicht." mit sichtlich Unbehagen versuchte von Tranje die trübe Umgebung zu erkunden.
"Rastet hier. Ich schau mich mal ein wenig um." Bevor Jessica etwas erwidern konnte, verschwand er schon im Nebel. In dieser erdrückenden Atmosphäre aus unklarer Umgebung und drohendem Feind wollte sich keine wirkliche Erholung einstellen. Die Hoffnung auf klare Sicht wurde nicht erfüllt. Ganz im Gegenteil. Der Nebel wurde immer dichter.
"Verdammt. Wir müssen hier weg." befahl Jessica und wollte grob in die Richtung in die von Tranje verschwand, als eine dunkle Gestalt aus dem Nebel trat.
"Wer da?" schrie Jessica dem Unbekannten entgegen.
"Folgt mir. Rasch." forderte von Tranje sie auf. Es war schwierig ihn nicht aus den Augen zu verlieren, aber nach geraumer Zeit erreichten sie eine Höhle und es glich schon fast einem Wunder, dass ihr Gefolge vollständig am Zufluchtsort ankam.
"Was geht dort draußen vor?" fragte Jessica.
"Ich weiß es nicht, aber irgendjemand versucht uns zu zerstreuen."
"Zum Glück habt Ihr diese Höhle gefunden."
"Das war kein Glück. Ich fand dies und wusste somit, wo wir waren. Wie konnte ich nur vergessen, welches Drama sich damals hier abspielte?" von Tranje klang, als würden schmerzhafte Erinnerungen sich ihren Weg in sein Gedächtnis bahnen. Er hielt einen alten verbeulten Helm in der Hand.
"Das Zeichen der Seth. Feige überfielen sie uns und töteten viele gute Männer. Ihre Gräber befinden sich in dieser Höhle. Hundert Jahre lassen zwar die Namen von guten Freunden verblassen, trotzdem empfinde ich noch tiefe Trauer über ihren Verlust." erklärte er wehmütig.
"Dann könnt Ihr das Warten auf besseres Wetter dafür nutzen, um den gefallenen Kameraden Eure Ehrerbietung zu entrichten." schlug Jessica vor.
"Ihr habt Recht, eure Hoheit. Gebt mir die Ehre und begleitet mich." antwortete von Tranje. Gemeinsam begaben sie sich tiefer in die Höhle und Jessica konnte die Wehmut ihres Begleiters förmlich spüren. Bedächtig folgten sie einem langen Gang, bis das Fackellicht eine größere Aushöhlung erleuchtete, in der gut zwei Dutzend Steinhaufen fein säuberlich angerichtet waren.
"Andion, mein Freund. Verzeiht meine Vergesslichkeit, aber die Unmenge an Lebenszeit verursacht seltsame Gedächtnislücken." von Tranje ging gezielt auf eines der Gräber zu und legte die Hand auf einen der Steine.
"Mag ich mich auch nicht mehr an eurer Gesicht erinnern, aber eure Lebensfreude wird mir ab heute für immer im Gedächtnis bleiben." von Tranjes Blick fiel auf die Reihe an Gräbern.
"Severin. Tilos." Mehr und mehr Namen kramte er aus dem Gedächtnis hervor.
"Sie alle waren jung an Jahren. Reich an Träumen mit einer Vielzahl an Plänen. Das alles endete hier. Welch Ungerechtigkeit geschah hier. Was ich an Lebensjahren zu viel bekam, wurde ihnen genommen." Bedauern war aus seiner Stimme zu vernehmen. Er ging an den Kopf von Andions Grab. Das Schwert seines ehemaligen Besitzers steckte mit der Klinge zwischen den Steinen. Am Griff baumelte ein Trinkschlauch aus Tierleder, der trotz seiner Verwitterung noch einen brauchbaren Eindruck erweckte. Von Tranje ergriff ihn.
"Erworben auf dem Markt von Wehedim, um das Wasser der ewigen Jugend für die zukünftige Ehefrau zu konservieren. Was ihm verwehrt blieb, könnte uns jetzt nützen." Er verstaute den Trinkschlauch und war bereit sich zu verabschieden.
"Die Schwerter zeigen keinerlei Verschleiß über die Jahre." stellte Jessica fest, nachdem sie etwas Staub von Andions Waffe entfernt hatte.
"Sie wurden aus dem Erz des unbezwingbaren Berges gefertigt. Sehr selten und sehr beständig." erklärte von Tranje.
"Meint Ihr, eure Kameraden hätten etwas dagegen sie mit Vikiner-Blut zu tränken?" fragte Jessica.
"Ganz im Gegenteil. Sie würden es sogar begrüßen." von Tranje zog Andions Schwert aus den Steinen und ließ es über dem Kopf kreisen.
"Ich vergaß wie leicht dieser Stahl ist." Er reichte Jessica die Waffe und tatsächlich war das Schwert um einiges leichter als ihr königliches Gegenstück. Sie sammelten die Waffen ein und machten sich zurück auf den Weg zum Höhleneingang. Von Tranje gönnte sich einen letzten wehmütigen Blick über die Gräber. Die Kameradschaft zu den Gefallenen schien die letzten hundert Jahre auf einen Tag geschrumpft zu haben und was immer auch hier passiert sein mochte, er durchlebte die Vergangenheit für den Moment erneut. Schmerzhafte Erinnerungen bahnten sich ihren Weg und versetzten sein Gefühlszustand in ein Gemisch aus Reue, Nostalgie und Trauer. Er riss sich los und war damit zurück in der Gegenwart und die erforderte sofort seine volle Aufmerksamkeit.
"Dort draußen ist was." empfing ihn von Dormat am Höhleneingang. Der Nebel war verflogen. Von Tranje lauschte in die unnatürliche Kälte, die jetzt jeden Stein im Freien in eisigem Griff hatte. Ein leises Winseln drang an sein Ohr.
"Genug der Spiele. Es wird Zeit für ein handfestes Finale." Er verteilte die Schwerter.
"Das Plateau vor uns wird unser Schlachtfeld. Disziplin wird über Sieg oder Niederlage entscheiden. Wir gehen im Schildwall dort raus. Formation aufbauen." brüllte von Tranje. Die Knappen ergriffen ihre Langschilde.
"Verlässt nur einer die Formation ist das der Tod für alle. In den Kasernen von Osos habt ihr das tausendmal geübt." Von Tranje ging das rechteckige Gebilde von aufgestellten Schilden entlang und befeuerte den Mut jedes einzelnen Trägers, indem er sein Schwert krachend auf das Metall schlug. Mit ein paar markigen Worten steigerte er den Blutdurst seines Gefolges, welches aufgeheizt den Kampf kaum noch erwarten konnte. Niemand von ihnen hatte großartig Erfahrungen im Felde, aber diese Formation war Teil der Ausbildung und wurde bis zum Erbrechen exerziert. Es wurde Zeit diese Kampftaktik in der Praxis zu testen.
"Ihr bleibt hier in der Höhle." befahl Jessica Quatar.
"Eure Hoheit müsste mich mittlerweile gut genug kennen, um zu wissen, dass ich mir die Geschehnisse nicht aus der Ferne anschaue. Auch wenn ich eher den geistlichen Annehmlichkeiten fröne, besitze ich eine rudimentäre Ausbildung in Kampfeskunst." erwiderte Quatar. Jessica zögerte für einen Moment.
"Es wird viele Opfer geben dort draußen. Keine Heldentaten. Nicht heute. Zieht den Kopf ein, wenn es hart auf hart kommt." Sie klang sorgenvoll und übergab ihm eines der Schwerter aus dem Inneren der Höhle.
"Ihr wisst ja. Keine Reue, auch wenn heute der Tag sein sollte, an dem alles endet." Seine Worte versetzten ihr einen Stich. Vielleicht war das wirklich das Ende, aber das Schicksal ließ ihr in diesem Augenblick keine Wahl. Es gab nur diesen einen Weg und ähnlich wie in den Erinnerungen von von Tranje würde sich dieser Ort mit seinen kommenden Ereignissen ein Leben lang in ihr Gedächtnis einbrennen. Das alles nur unter den Vorraussetzungen, dass ihr überhaupt eine Zukunft zugestanden wurde. Bevor die negativen Gedanken die Oberhand über ihr Handeln ergreifen konnten, begab sie sich in die Mitte des Schildwalls. Die Enge war einerseits erdrückend, aber anderseits kanalisierte sie den Mut jedes Einzelnen zu einer riesigen Masse, an der sich scheinbar jeder beliebig bedienen konnte. Sie nahm sich ihren Teil und hatte nicht das Gefühl auch nur annähernd genug zu haben, um dort raus zu gehen.
Der Panzer aus Schilden bewegte sich in das Licht. Perfekt abgestimmte Schritte zeugten von der guten Ausbildung und steigerten Jessicas Zuversicht, dass auch der bevorstehende Kampf ähnlich gut organisiert ablief. Die verschiedenen Wappen verliehen dem Gebilde aus Metall einen edlen Anstrich und das königliche Banner im Zentrum trotzte dem leichten Wind und verkündete seine volle Pracht. Das metallische Klirren von Schilden die aufeinandertrafen walzten sich ihren Weg, wie ein großes schwerfälliges Tier, dass ahnungslos seinem Verderben entgegensteuerte. Ein lang gezogenes "Halt" brachte unmittelbare Ruhe. Kein Geräusch vermochte diese eisige Kälte mehr zu erschüttern, bis auf dieses leise Wimmern, dass irgendwo in der Ferne fast unscheinbar erklang.
"Das ist Demitri, mein Knappe." Herald von Mathu´s Stimme war kaum zu vernehmen. Wie alle Anderen wagte er es nicht die unheimliche Stille mit lauten Worten zu verunreinigen.
"Wir werden uns zu gegebener Zeit um ihn kümmern." warf von Tranje ein.
"Bis dahin könnte er tot sein."
"Euer Knappe befindet sich jenseits des Engpasses. Dort laufen wir in eine offensichtliche Falle."
"Wir müssen etwas tun." von Mathus klang ungeduldig.
"Da habt ihr Recht. Offenbar wollen sie uns hier nicht angreifen, da sie sich ihres Nachteils bewusst sind. In die Falle können wir allerdings auch nicht. Es wird Zeit diesen Patt aufzulösen." von Tranje ging zu dem gefangenen Vikiner hinüber, den sie scheinbar unnötigerweise im Inneren des Schildwalls mitgenommen hatten.
"Zeit für deinen Auftritt." Er ergriff den vollkommen gefesselten Barbaren und schleuderte ihn außerhalb des Schildwalls in den eisigen Staub, was mit einem kurzen Knurren missmutig kommentiert wurde.
"Ich frage mich die ganze Zeit, was wohl euren zweifelhaften Kodex von Ehre in Wallung bringen könnte. Welche Demütigung bringt wohl deine Barbarenfreunde dazu durchzudrehen? Verstümmelung? Wohl eher nicht. Qualvoller Tod? Auch nicht. Vielleicht...? Shane. Zu mir." befahl von Tranje.
"Das einzige, was an dir halbwegs zivilisiert wirkt, ist dein Schopf. Für was immer diese Zöpfe auch stehen mögen, damit ist es jetzt vorbei. Halt seinen Kopf fest." von Tranje zog seinen Dolch. Die Gleichmütigkeit des Gefangenen war mit einem Schlag dahin. Shane hatte Mühe ihn ruhig zu halten. Das wütende Knurren ging in einen wilden langgezogenen Schrei über, als der Schnitt unterhalb des Haaransatzes zu bluten begann. Mit einem kurzen Ruck trennte von Tranje den Skalp von der Schädeldecke. Wie eine blutige Trophäe hielt er den Schopf über seinen Kopf und zeigte ihn provokativ in alle Richtungen. Ein Orchester von wütenden Lauten ging auf ihn nieder. Aus jeder Richtung schien sich der Zorn über ihn zu legen.
"Erwischt." sagte er lächelnd und warf den Skalp in den Staub. Provokativ trat er drauf, als würde er ein Insekt zertreten. Nun bahnte sich unbändige Wut ihren Weg. Aus allen Himmelsrichtungen strömten Angreifer auf sie zu und das ohrenbetäubende Gebrüll schien die Angst der Verteidiger für einen Moment zu nähren. Höchste Zeit für von Tranje und seinen Knappen in den Schildwall zurückzukehren.
"Nicht vergessen. Intelligenz über Instinkte." versuchte von Tranje das Gebrüll zu übertönen. Einen kurzen Moment später schlugen die ersten Vikiner in die Nordflanke des Schildwalls ein.
Die Wucht riss ein Loch in die Linien der Verteidiger und obwohl zwei der drei Angreifer sofort tödlich verwundet wurden, drohte der verbliebene Vikiner ein Blutbad innerhalb des Walls anzurichten. Es war von Dormats schneller Reaktion zu verdanken, dass die Streitaxt zu keinem tödlichen Schlag ausholen konnte. Die primitive Waffe fiel in den Staub, als der Kopf ihres Besitzers von einem Schwert durchbohrt wurde.
"Drei Schritt Richtung Süden." befahl von Tranje als die Situation bereinigt war. Der Schildwall setzte sich unmittelbar in Bewegung. Die gestürzten Knappen waren in Rekordtempo wieder auf den Füßen und schlossen die gerissene Lücke. Durch die Verschiebung lagen die toten Körper jetzt direkt vor ihren Füßen und dienten als natürliches Hindernis für die kommenden Angreifer. Die versuchten ihren nächsten Durchbruch auf der westlichen Flanke mit weitaus weniger Erfolg, als ihre Vorgänger im Norden. Die Verteidiger hatten aus dem Sturz gelernt und ließen die Streitäxte nicht einfach auf die Schilde prallen. Der Angriff wurde so gezielt abgelenkt, dass die zweite Reihe das Quartett aus Vikinern mit wenigen Handstreichen erledigen konnte.
"Hahhhhhh..." brüllte von Galwetter den Leichnam zu seinen Füßen an. Vom Blutrausch erfasst, hieb er sein Schwert ein weiteres Mal in den Kadaver.
"Galatien 7. Vikiner 0." brüllte er den Toten an und drückte seine Verachtung mit einer ordentlichen Portion Spucke aus, die er in Richtung des Toten schickte.
"Konzentriert bleiben." wies ihn von Tranje zu Recht. Ermutigt von den Erfolgen drohte Leichtsinn seine Gefolgschaft zu erfassen.
Die Atempause war nur kurz, bis die Angreifer im Osten und im Süden gleichzeitig auf den Wall trafen. Der Anblick von neun Vikinern raubte dem Knappen genau im Winkel jeglichen Mut und die Streitaxt, die krachend seinen Kopf spaltete, vergoss zum ersten Mal galatisches Blut in dieser Schlacht. Mit dem Fall der südöstlichen Ecke konnten die Vikiner ins Innere des Schildwalls vordringen und verheerenden Schaden in der zweiten Reihe anrichten. Jessica verlor den Überblick im Kampfgeschehen und die barbarischen Schreie und das Klirren der Schwerter waren nun nicht mehr Triumphgeräusche, die den Tod ihrer Angreifer ankündigten, sondern Vorboten galatischer Opfer, die von schweren Streitäxten niedergestreckt wurden.
Nach dem Durchbruch verlagerte von Tranje die zweite Reihe des Schildwalls komplett in den Südosten und löste die umgebende Schildformation auf, um den Kämpfern mehr Freiraum zu lassen. Diese Situation war in der Theorie tausendmal einstudiert worden und die Reibungslosigkeit, mit der das Manöver in der Praxis funktionierte, überraschte Jessica. Die Enge wich einer großen Fläche auf der die Schwerter ihren Vorteil mehr zur Wirkung bringen konnten. Durch die geänderte Gefechtsformation hatten die Vikiner der Überzahl nichts mehr entgegenzusetzen und einer nach dem anderen hauchte buchstäblich sein Leben aus. Ein letzter Atemzug, der in der Kälte als Nebel niederging.
"Schildwall wiederaufbauen." brüllte von Tranje, aber vorerst gab es keine weiteren Angreifer mehr. Vier Tote gab es zu beklagen, die zwar im Gegensatz zu den Verlusten der Vikiner überschaubar waren, aber trotzdem viel Trauer in Jessica auslösten. Diese Männer waren für ihre Familie gestorben und eine gewisse Schuld lastete damit für ewig auf ihren Schultern. Die blutige Realität zu ihren Füßen steigerte ihre Ängste und zeigte ihr ein gnadenloses Ende im Falle ihres Scheiterns auf.
War der erste Angriff überwiegend von Wut getragen, mussten sie damit rechnen, dass die Vikiner ihre Strategie dahingehend ändern würden und nicht mehr unkontrolliert in den Wall stürmen. Sie hatten sich eine blutige Nase geholt, indem sie von Tranjes Provokation mit unkontrolliertem Hass begegneten. Auch wenn das bisherige Auftreten der Vikiner auf kein überlegtes Handeln schließen ließ, würden sie diesen Fehler kein zweites Mal begehen. In Erwartung einer ausgefeilteren Taktik wurden sie anhand der Masse ihres Gegners eines Besseren belehrt.
"So viele." entfuhr es von Galwetter ängstlich. An die sechzig Vikiner schickten sich an, die Angriffstaktik ihrer Vorgänger dahingehend zu verfeinern, indem sie ihre Kraft bündelten, um ihre Opfer besser überrennen zu können. Wenigstens konzentrierte sich ihr Angriff nur noch aus einer Richtung, was von Tranje dazu veranlasste den Schildwall aufzulösen.
"Doppelte Schildreihe." brüllte er. Umgehend wurde der Schildwall aufgelöst. Jetzt galt es die anrollende Wucht abzufangen. Während die vorderste Reihe der Knappen ihre Schilde kniend in den eisigen Boden rammten um sich dahinter so gut wie möglich zu verbarrikadieren, stand die zweite Reihe aufrecht und war bereit ihre Schwerter in die anstürmenden Angreifer zu versenken. Jeweils ein halbes Dutzend Ritter sicherten die Flanken.
"Auf mein Zeichen lösen wir die Flankensicherung und gehen in die Offensive." brüllte von Tranje über die einsetzenden Kampfschreie der Vikiner hinweg. Nur noch wenige Augenblicke und der geballte Hass ihrer Angreifer würde auf die Schilde prallen. Jessica war sich nicht sicher, ob sie ihren von Angst geprägten Körper auf Befehl in Bewegung setzen könne. Sie zitterte am ganzen Leibe und gerade als ihr das Schwert aus der Hand zu rutschen drohte, gewann sie die Kontrolle schlagartig zurück. Eine innere Schleuse ließ all die Mutlosigkeit blitzartig ablaufen und füllte den Leerraum genauso schnell mit Blutrausch. Nichts Anderes gab es mehr. Keine Angst, keine Gnade, kein Mitleid. Was zählte war nur das Überleben. Die Jessica, die die letzten 18 Jahre geprägt wurde, verschwand in den Untiefen ihres Geistes und machte Platz für den puren Instinkt und der kannte nur ein Ziel. Töten.
Jessica hockte hinter der doppelten Wand und wartete auf das Angriffssignal. Die Kampfschreie der Angreifer erloschen, als die ersten Streitäxte auf die Schilde trafen. Dieses Geräusch vom Aufprall unterschiedlicher Metalle läutete die eigentliche Schlacht ein. Es war ihr unmöglich zu sehen, ob die erste Reihe dem Ansturm standhalten konnte, aber da noch kein Vikiner es in ihr Sichtfeld geschafft hatte, schien die Abwehr vorerst zu halten. Sasha und Alvor schickten dem brüllenden Mob Pfeile entgegen und hatten dadurch einige Lücken gerissen. Das minderte die Einschlagskraft der ersten Welle. Keinen Atemzug gönnte sich Jessica jetzt mehr. Zu groß war die Anspannung. Sie wartete auf von Tranjes Befehl, um der angestauten Energie freien Lauf zu lassen. Schmerzensschreie erfüllten die Luft und steigerten ihre Ungeduld. Sie ignorierte das Splittern von Knochen, welches nicht unweit von ihr ihren Ursprung haben musste. Zu wichtig war es die Konzentration für den bevorstehenden Angriff aufrecht zu erhalten.
"Angriff." kam es endlich und die erste Aktion, die Jessica mit dieser Entfesselung ihrer Ungeduld vollbrachte, war tief Luft zu holen. Sie rannte zur linken Flanke der Schildmauer, die sich kurz vor dem Zusammenbruch befand und steuerte blindlings auf die erste Gruppe von Gegnern zu, die sichtlich überrascht waren, über die neue Bedrohung. Ohne behindernde Rüstung war sie schneller als ihre Kameraden und so war sie die Erste, die am Ort des Geschehens eintraf.
Wut leitete sie, bei der Auswahl ihres ersten Gegners. Obwohl deutlich gefährlicher, ignorierte sie den Vikiner, der auf sie zusteuerte um sie im Zweikampf zu stellen. Sie versenkte ihr Schwert in den Hals eines Angreifers, der gerade bemüht war seine Axt aus dem toten Körper eines ihrer Leute zu ziehen. Das Überraschungsmoment bescherte ihr den ersten Erfolg und das spritzende Blut der getroffenen Halsschlagader diente als Wahrzeichen ihres Triumphes und ließ sie für einen Moment unvorsichtig werden. Der ignorierte Vikiner ließ seine Streitaxt auf sie niedergehen und obwohl sie der trägen Waffe noch ausweichen konnte um der Spaltung ihrer linken Schulter zu entgehen, hinterließ der Schlag eine klaffende Wunde in ihrem Oberarm. Zu ihrer Überraschung verhinderte der vorherrschende Blutrausch das Empfinden von Schmerzen und so zog sie das Schwert aus dem mittlerweile toten Opfer ihres ersten Angriffes und konzentrierte sich endlich vollkommen auf den zu lange Verschmähten.
Es war ein Fehler ihm ins Gesicht zu schauen. Die enorme Größe war schon einschüchternd genug, aber das brutale Antlitz raubte ihr für den Moment einen großen Teil ihres Mutes und machte einen Konter unmöglich. Diese Angst einflössende Wirkung war vermutlich einer der größten Stärken der Vikiner und ließ weniger erfahrende Kämpfer regelmäßig zur leichten Beute verkommen. Jessica riss sich zusammen, bevor ihr Gegner seinen Vorteil gewinnbringend umsetzen konnte. Sie machte einen Schritt rückwärts und musterte den Giganten aus einem anderen Winkel. Seine Schwächen waren ohne Zweifel, die mangelnde Agilität auf Grund seines Körperbaus. Gepaart mit der schweren Waffe konnte er wenig flexibel auf Angriffe reagieren, also musste sie ihn überraschen.
Sie stürzte beidhändig mit dem Schwert auf ihn zu und während das erwartete Abwehrmanöver seinen Lauf nahm, löste sie die linke Hand vom Griff. Die Streitaxt traf auf ihr Schwert und die Wucht riss ihr die Waffe aus der Hand. Damit hatte sie nicht gerechnet, aber für ihren eigentlichen Plan war es vorerst nicht entscheidend. Wie geplant tauchte sie ab und die Utcha-Kralle verursachte tiefe Schnitte in der rechten unteren Hälfte seiner Bauchgegend. Ein kurzes Stöhnen verriet ihr, dass die Wunde mehr als ein lästiges Ärgernis war, aber ihr Gegner war immer noch eine ernsthafte Bedrohung für sie. Zu ihrem Pech war sie jetzt auch noch ohne Schwert.
Mit der Verwundung war ihr Gegner noch schwerfälliger geworden und das nutzte sie um in seinen Rücken zu gelangen. Sie sprang einfach auf ihn und umklammerte ihn von hinten. Es wäre ein Leichtes für den Vikiner gewesen sie abzuschütteln, aber diese unerwartete Wendung ließ ihn für einen Moment zögern. Zeit genug um ihre Kralle in den Hinterkopf zu stoßen. Ein "Uffz" begleitete seinen letzten Atemzug, dann ging er auf die Knie und fiel vorne über.
Mit dem Tod ihres Angreifers flachte der Blutrausch etwas ab und ließ mehr Raum für die Schmerzen. Ihr linker Arm war das Zentrum dieses jetzt vorherrschenden Gefühls. Vorsichtig schob sie den Hemdärmel hoch und begutachtete den tiefen Schnitt.
Noch war keine Zeit um der Verwundung all zuviel Aufmerksamkeit zu widmen. Sie schaute sich um. Ihre Abwehrreihen aus Schilden waren längst gefallen und an der Stelle türmten sich die Leichen ihrer Gefolgschaft. Es muss ein harter Abwehrkampf gewesen sein, denn die toten Vikiner davor waren ebenso zahlreich, aber am Ende musste die Masse den Durchbruch erzwungen haben. Die Kämpfe waren in vollem Gange und obwohl die Vikiner in der Überzahl waren, hielten die Reste der zweiten Abwehrreihe dem Druck bisher noch stand. Von Dormats rechte Flanke kreiste Stück für Stück die Angreifer ein und wenn alles halbwegs planmäßig laufen würde, dauerte es nicht mehr lange bis sich die Zange endgültig schloss. Dann konnten die Vikiner aus ihrer Überzahl keinen Vorteil mehr schöpfen. Während also dort drüben etwas wie Hoffnung auf einen Sieg durchschimmerte, war die linke Flanke etwas abgedrängt worden vom eigentlichen Kampfgeschehen.
Bennet von Burmund und sein Knappe Thore erwehrten sich tapfer der Übermacht, aber außer den beiden standen nur noch Quatar, Alvor und zwei weitere Ritter ihres Gefolges. Jessica ergriff ihr Schwert und übernahm einen der beiden Angreifer deren Burmund sich erwehren musste. Mit der gewonnenen Freiheit im Kampf entledigte sich dieser seinem verbliebenen Gegner und wollte seinem Knappen zur Hilfe eilen, aber dieser lag bereits mit gespaltenem Schädel am Boden. Die Wut über den Verlust seines Getreuen machte ihn rasend und obwohl er zwei weitere Vikiner zu den Göttern schickte, erlag er einem tödlichen Schlag eines Hammers. Die Situation drohte jetzt endgültig zu kippen. Tapfer verteidigte der Rest der linken Flanke ihre Leben, aber die Übermacht war zu erdrückend. Einer nach dem Anderen ging zu Boden und am Ende waren nur noch Quatar und sie übrig. Was blieben ihr jetzt noch für Optionen? Eigentlich nur eine. Die Flucht zu von Tranje und seinen Leuten, denn die hatten mittlerweile die Oberhand über ihren Teil der Schlacht gewonnen.
"Wir müssen zu den Anderen. Los Ihr zuerst." brüllte Quatar und wich einem Schlag aus.
"Ich lass Euch nicht allein." antwortete Jessica. Sie würden nicht mehr lange standhalten.
"Ich folge Euch schon." brüllte Quatar. Jessica wollte losrennen, aber einer der Vikiner stellte sich ihr in den Weg. Sie hatten zu lange gewartet und waren jetzt eingekreist. Damit schien ihr Schicksal besiegelt.
"Los." brüllte Quatar und stürzte sich gegen die massive Anhäufung von Muskeln. Es war unglaublich wie er mit der Hälfte der Körpermasse diesen Vikiner-Fleischberg zu Fall brachte und in das umgebende Bollwerk damit eine Lücke riss. Gemeinsam stürzten sie zu Boden und während Jessica die Gelegenheit nutzte und losrannte, kamen ihr die Tränen. Sie wollte das Splittern der Knochen ausblenden, das Stöhnen von Quatar ignorieren und die Triumphschreie der Vikiner überhören, aber dieser Augenblick mit allen seinen tragischen Gegebenheiten würde die Erinnerung an diese Schlacht maßgeblich prägen. Der Verlust von Quatar offenbarte ihr eine neue Dimension von Schmerz und all die anderen Gefährten, die bisher auf dieser Reise in ihrem Namen zu den Göttern aufgestiegen waren, verblassten im Angesicht dieser Tragödie.
Die Tränen in ihrem Gesicht verwässerten die Blutspritzer, die als Zeugnisse der Kämpfe ihr ein barbarisches Aussehen verliehen. Nichts erinnerte mehr an die elegante Königstochter, die in Würde und Anmut ihre Gefolgschaft anführte. Jessica war jetzt nur ein Kind was dem Grauen des Schlachtfeldes nicht gewachsen war. Hemmungslos weinte sie, als sie von Tranje und die anderen Überlebenden der rechten Flanke erreichte. Ihr Geist drohte zu kollabieren. Diese Brutalität, mit der die Vikiner ihre Streitäxte einsetzten, hatte sogar nichts gemeinsam mit den Geschichten über ehrenvolle Schlachten in der Historie von Galatien. Die Realität war blutig und alles andere als heldenhaft. Der Tod war die vorherrschende Komponente und verursachte nur Trauer und Leid bei den Überlebenden, die von naiven Poeten zu Helden stilisiert werden. Für Jessicas mentales Chaos gab es nur einen Ausweg um ihren Verstand in einen halbwegs stabilen Zustand zu versetzen. Wut. Sie fokussierte sich jetzt auf dieses vorherrschende Gefühl, denn noch waren genug Vikiner da, um dieser Wut ein geeignetes Ziel zu geben.
Sie waren nur noch zu sechst. Neben der Königstochter und von Tranje waren von Dormat nebst Knappe, Herald von Mathus und Shane von Goldbringer soweit kampfbereit, dass sie sich den verbliebenen Angreifern stellen konnten. Der Rest ihres Gefolges war tot oder so schwer verwundet, dass ein Kampf unmöglich war. Ein Blick in das Gesicht von Shane, zeigte ihr, dass die Grauen an ihm ebenfalls nicht spurlos vorübergegangen waren. Auch für ihn war es die erste ernsthafte Schlacht. Eine Schlacht, die ihn ein Leben lang prägen würde.
"Wo ist Sasha? Ich sehe sie nicht unter den Toten." fragte Jessica angespannt.
"Sie hat bis zum Schluss an unserer Seite gekämpft und ist dann einfach verschwunden." erklärte ein müder von Dormat.
"Das ist nebensächlich. Wir sollten uns um die da drüben kümmern." von Tranje zeigte in Richtung der verbliebenen Vikiner, die mit ihrem finalen Angriff zögerten, da sie zu viert in der Unterzahl waren.
"Gut. Keine Taktik mehr. Ein sauberer Kampf. Mann gegen Bestie." beschloss von Tranje und machte einen Schritt auf die Vikiner zu. Ein Zischen durchdrang die vorherrschende Stille und als die Quelle mit der Spitze zuerst in den Brustkorb eines der Vikiner einschlug, sank dieser unmittelbar zusammen. Ein zweiter Pfeil erledigte den verdutzt dreinschauenden Nachbar. Erst jetzt suchten die verbliebenen zwei Barbaren Deckung, was für einen der beiden zu lange dauerte. Auch ihn ereilte das Schicksal seiner Kumpanen. Sasha tauchte hinter einem Felsvorsprung auf und stürzte wild entschlossen auf den letzten Vikiner zu. Nur kurze Augenblicke, dann war auch er nicht mehr am Leben. Es war ihre ganz persönliche Rache für den Tod ihres Bruders.
"Es ist trotzdem noch nicht vorbei." von Tranje deutete auf ein der umgebenden Hügel. Tatsächlich erblickten sie einen weiteren Feind auf der Höhe. Sasha schickte einen Pfeil hinauf, der sich zielsicher in die Brust des Gegners bohrte. Keine Reaktion war zu vernehmen. Diese Gestalt stand einfach nur weiter da und schien seine Gegner zu verspotten.
"Bei den Göttern. Was ist das?" fragte von Dormat.
"Wir können nicht töten, was schon tot ist." erklärte von Tranje geheimnisvoll.
"Wie sollen wir uns dann gegen ihn wehren?"
"Er wird uns nicht angreifen, denn mein Schwert ist eines der wenigen Dinge, die ihn zerstören können."
"Ist er einer der Geister von Wehedim?" fragte Jessica.
"Ja. Und vermutlich auch verantwortlich für die Kälte. Perfekte Kampfbedingungen für die Vikiner. Er vermochte es nicht sie zu kontrollieren, aber unterstützen konnte er sie." erklärte von Tranje. Ein kurzer Blitz blendete den Rest von Jessicas Gefolgschaft für einen Moment. Die Gestalt auf dem Hügel war verschwunden.
Jessica versagten die Knie. Jetzt, wo keine Bedrohung mehr vorhanden war, fiel sie in den Normalzustand zurück. Der erschöpfte Körper forderte sein Recht auf Erholung und es waren weniger die konditionellen Defizite, die sie auf den Boden zwangen. Sie fühlte sich geistig vollkommen überfordert. Unfähig die Geschehnisse der vergangenen Stunde auch nur einzuordnen oder sogar zu verarbeiten, ließ sie dem erneuten Chaos in ihrem Kopf freien Lauf. Ein Fehler, wie sich herausstellen sollte, denn todbringende Vikiner, untote Magier und ein blutüberströmter Quatar verschmolzen zu einer irren Geschichte, die alle Geisteskranken von Galatien nicht zusammengebracht hätten. Jessica drohte den Verstand zu verlieren.
"Euer Hoheit." von Tranje warf ihr einen Rettungsanker zu.
"Ich weiß, was Euch gerade widerfährt. Meine erste Schlacht war ähnlich traumatisch, deswegen glaubt mir, wenn ich Euch sage, dass es genau jetzt wichtig ist, nicht den Halt zu verlieren. Besinnt Euch auf Eure königliche Ausbildung. Bewahrt die Etikette, wie Ihr es all die Jahre gelernt habt. Auch wenn Euch diese Schauspielerei ein Leben lang verhasst war, ist sie genau jetzt der einzige Weg, um nicht dem Wahnsinn zu verfallen." von Tranjes Worte verhallten in dem Durcheinander ihrer Gedankenwelt. Nur ein kläglicher Schrei, der in einer Welt voller Lärm vollkommen unterging. Es war für Jessica unmöglich Ordnung zu schaffen. Sie war bereit zu resignieren und dem Wahnsinn wenigstens einen Teil ihres Verstandes zu opfern, als durchdringender Schmerz doch noch für die erhoffte Ruhe sorgte.
"Ahhh......" Jessica schrie sich nicht nur die körperlichen Torturen aus der Kehle.
"Tut mir leid, aber es schien mir die einzige Möglichkeit Euch wieder zu Verstand zu bringen." von Tranje ließ ab von ihrer Verwundung.
"Schaut mich an." forderte er Jessica auf.
"Ihr dürft Euch jetzt nicht aufgeben. Ich weiß Ihr seid eine starke Frau. Genau dieser Stärke bedarf es jetzt. Ihr müsst mir glauben, wenn ich Euch verspreche, dass es nicht schlimmer kommen wird. Hier und Jetzt holt Ihr Euch den Schutzpanzer für kommende Konflikte. Akzeptiert was heute geschehen ist, so schmerzhaft es auch sein mag. Es stählt Euch für die Zukunft." von Tranje musterte sie, um sicher zu gehen, dass sie auch wirklich dem drohenden Kollaps entkommen war. Er kniete sich nieder zu ihr und drückte ihr Haupt an seine Brust.
"Natürlich dürft Ihr weinen." sagte er sanft und damit öffneten sich Jessicas Schleusen. In diesem Moment war es ihr egal, dass sie ihre verletzlichste Seite offenbarte. Was sie brauchte war Stabilität und die bekam sie mit jeder Träne mehr und mehr zurück. Von Tranje hatte Recht. Es wäre feige gewesen dem Irrsinn auch nur den kleinsten Platz in ihrem Inneren einzuräumen. Er hatte sie aufgefangen in ihrem schlimmsten Moment und dafür würde sie ihm ewig dankbar sein.
Auch wenn Jessica die traumatischen Erlebnisse nicht vollkommen aus ihrem Geist verbannen konnte, hatte sie jetzt wenigstens die Kontrolle über die Grundfunktionen zurück. Sie quälte sich hoch, auch wenn es ihr dabei schien, als hätte sie tausend Tonnen schwere Gewichte zu stemmen. Sie schaute sich um und sah die vielen Leichen, mit der sie alle eine individuelle Geschichte verband. Die wichtigste dieser Geschichten lag in einiger Entfernung und obwohl alles in ihr dagegen rebellierte, ging sie zu dem Leichnam von Quatar hinüber. Seine Henker hatten ihn übel zugerichtet. Mindestens drei Einschläge von Streitäxten verunstalteten seinen Rücken. Sie drehte die Leiche und jetzt erweckte er den Anschein, als wäre er friedlich im Schlaf verschieden. Kein Schrecken in seinen Gesichtszügen und keine Anzeichen von Reue. Er ist gestorben wie er gelebt hatte. Die tiefste Überzeugung das Richtige getan zu haben, hat er mit in die nächste Welt genommen und damit dem Tod seiner größten Freude beraubt. Der Angst vor dem Sterben.
"Danke, für so Vieles." murmelte sie. Auch wenn es einen ganzen Tag dauern würde, jeder Einzelne der Gefallenen würde ein würdiges Grab erhalten.
Noch war nicht der Zeitpunkt für Begräbnisse. Die Vikiner mochten zwar besiegt sein, aber es blieb immer noch den Verbleib ihrer Geiseln zu ergründen. Zu Sechst begaben sie sich zu dem engen Durchgang, der als eigentlicher Ort für den Überfall von den Vikinern auserkoren wurde, den aber von Tranje mit seiner Skalpierung verlagert hatte. Sein Opfer war nun der einzige Überlebende der Angreifer, aber die verdreckte Kopfwunde ließ auf keine lange Lebenserwartung mehr schließen. Als todgeweihte Geisel war er gezwungen der Gruppe zu folgen.
"Bei den Göttern." entfuhr es Shane, als er die Gestalt an einem übergroßen Holzkreuz erblickte.
"Demitri. Sie haben ihn gehäutet. Diese Bastarde." entfuhr es Herald von Mathus beim Anblick seines gekreuzigten Knappen wütend. Mit dieser Erkenntnis konnte es Shane nicht mehr vermeiden sich zu übergeben. Ein leises Wimmern drang vom Kreuz herab.
"Oh nein. Er ist noch am Leben." Jessica wandte ihr Gesicht ab. Die gerade wieder gewonnene Stabilität ihres Geistes drohte erneut zu kippen. Von Mathus löste die Fesseln und hob Demitri vorsichtig herab.
"Mögest du Erlösung finden." Langsam drückte er seinen Dolch in Demitris Herz. Ein letztes kurzes Stöhnen, dann glitt er hinüber in den Tod.
"Tun wir endlich das, wofür wir hergekommen sind." Von Mathus Stimme war jetzt eine Mischung aus Trauer, Bedrücktheit aber auch Wut.
"Dort drüben." Die Quelle der Jugend war nur noch wenige Schritte entfernt. Die Gruppe überquerte die kleine Steinebene und die einsetzende Wärme nährte die Hoffnung auf normale Zustände. Die wurde sofort enttäuscht, als sie den zweiten entführten Knappen fanden, der ebenfalls komplett gehäutet war, aber im Gegensatz zu Demitri nicht mehr auf Erlösung hoffen musste. Sein Leichnam lehnte sitzend an einem Felsen.
"Wie krank seid ihr denn?" blaffte Shane den kahlköpfigen Vikiner an. Dieser grunzte nur kurz und widmete sich wieder seinen eigenen nicht unerheblichen Problemen. Eine kurze Beileidsbezeugung durch von Tranje, dann fuhr er mit seinen Fingern ein paar in den Stein gehauene Runen entlang und musterte sie ausgiebig.
"Soweit ich mich erinnere sind das die altvorderen Zeichen für Frühling, Sommer und Herbst." erklärte von Tranje.
"Was ist mit Winter?" fragte Shane.
"Wirklich? Dich interessiert der Winter? Ich frage mich eher, wo ist die Quelle? Ich sehe kein Wasser." von Dormat klang enttäuscht.
"Sie offenbart sich nur bei der Darbietung eines Opfers." erklärte von Tranje.
"Was muss ich denn ..." Jessica wurde durch ein Räuspern unterbrochen.
"Ähem..." kam es von von Dormats Knappe schüchtern. Er zeigte auf einen kahlen Felsen, an dem gerade noch ein Leichnam lehnte. "Was?" entfuhr es Shane.
"Wo ist er hin?" fragte von Dormat. Alle hatten sich so sehr auf die Quelle konzentriert, dass keiner dem toten Knappen mehr Aufmerksamkeit schenkte. Sofort waren alle Schwerter wieder gezückt.
"Er kann doch unmöglich aufgestanden und davongelaufen sein." stellte Herald von Mathus fest.
"Offenbar doch." Shane zeigte auf eine Gestalt, die langsam über die Steinebene schlürfte und dabei ihr rechtes Bein nachzog. Vorsichtig kreiste die Gruppe den vermeintlich Toten von hinten ein. Hatten sie sich so sehr geirrt, was seinen Zustand anging?
"Hey Bursche." rief von Tranje. Der hautlose Knappe blieb stehen und rührte keinen Muskel mehr. Sein Blick blieb stur gerade aus. In gebührendem Abstand umkreiste ihn die Gruppe und näherte sich vorsichtig von vorn. Von Tranje schwang sein Schwert vor seinem Gesichtsfeld, so wollte er die Aufmerksamkeit des plötzlich wieder Auferstandenen auf sich lenken. Die glasigen Augen taten ihm nicht den Gefallen und starrten weiter in die Leere.
"Oh nein. Ich habe gehofft so etwas nie wieder zu Gesicht zu bekommen." von Tranje klang besorgt. Langsam drehte sich der Kopf des Untoten in von Tranjes Richtung.
"Zoran von Tranje." fing er gefühlskalt an zu sprechen. Die emotionslose Stimme verschärfte die furchteinflößende Ausstrahlung des Hautlosen, so dass jeder unwillkürlich einen Schritt zurück machte.
"Wer seid Ihr?"
"Seht diese Gestalt an und erinnert Euch an den Untergang." kam es jetzt monoton.
"Das ist hundert Jahre her."
"Und wird sich nun wiederholen. Es gibt keine Alternative für eure Welt."
"Eure List ist nur zum Teil aufgegangen. Leider habt ihr den Stab, aber es ist Euch nicht gelungen die Königstochter zu töten. Genug Raum für eine Alternative."
"Bei den Göttern. Wer ist das?" Beim Anblick des hautlosen Widergängers verkrampfte Jessicas Stimme.
"Die Wurzel allen Übels. Was wollt Ihr? Warum nehmt ihr auf diese abartige Weise Kontakt zu uns auf?" von Tranjes Stimme wurde wütender. Die Gestalt drehte ihren Kopf in Richtung Jessica, die ihre Abwehrstellung daraufhin verstärkte. Die Halswirbel gaben ein unnatürliches Knacken von sich. Zwei seelenlose Augen waren jetzt auf sie gerichtet.
"Euer Anführer ist tot. Euer Widerstand ist aussichtslos." sagte er trocken.
"Das ist nicht wahr. Mein Vater lebt. Ich spüre es. Ich werde ihn heilen und gemeinsam werden wir Euch eine passende Alternative aufzeigen." schrie Jessica die Gestalt an.
"Verweilet hier. Unbehelligt unter dem Volk der Grünäugigen könnt ihr euer Leben führen." schlug der Untote emotionslos vor.
"Und Osos seinem Schicksal überlassen. Niemals. Lieber sterbe ich mit dem Schwert in der Hand." Ihre Lippen zitterten.
"Tod steht nicht immer am Ende allen Seins." sagte die Gestalt listig und brachte damit Jessicas Wut zum überlaufen. Mit einem gezieltem Schwerthieb schlug sie dem armen Knappen den Kopf ab. Die arme Gestalt sackte in sich zusammen.
"Was immer da auch sein Gift versprüht. Es lügt. Mein Vater ist am Leben." Jessica klang verzweifelt.
"Natürlich ist er das." baute sie von Tranje auf. Bevor er weitere tröstende Worte fand, wurden sie von einem lauten hämischen Lachen unterbrochen. Der Vikiner lachte so penetrant und höhnisch, dass Jessicas Wut neu entfacht wurde. Ein Spott den sie in ihrem aufgewühlten Zustand schwer ertragen konnte und so stürmte sie zu dem gefesselten Opfer und bohrte ihre Klinge in den offenliegenden Schädel. Die Reue setzte unmittelbar ein, als die Schädeldecke splitterte wie eine aufgeschlagene Nuss.
"Ich schaffe das alles nicht mehr. Es droht mich zu zerreißen." Jessicas Wut war mit dem sinnlosen Tod vorerst befriedigt. Resignation und Angst übernahmen den frei gewordenen Platz und der viel zu schnelle Wechsel der extremen Emotionen schien sie zu überfordern. Sie ließ sich auf einen der Felsen nieder und wollte weinen, aber alle Tränen schienen für diesen Tag schon verbraucht.
"Ich fühle mich so unglaublich leer. Wenn mein Vater tot ist, dann war alles umsonst. Welchen Sinn hatten dann all die Toten?"
"Ihr dürft diesen Täuschungen nicht erliegen. Es gibt Hoffnung. Dieses Angebot zeigt, dass unser aller Schicksal noch nicht geschrieben steht. Ihr habt Stärke bewiesen und den Feind verunsichert." von Tranje war jetzt an ihrer Seite, aber bevor sie etwas erwidern konnte, lenkte ein rauschendes Geräusch ihre Aufmerksamkeit auf sich. Die Quelle der Jugend sprudelte.
"Welches Opfer habe ich denn erbracht?" fragte Jessica leise.
"Ihr habt Eure Unschuld verloren." Von Tranjes Blick fiel auf den immer noch gefesselten Vikiner, der so eben niedergestochen wurde.
Sie benötigten den Rest des Tages für die Bestattung der gefallenen Kameraden. Weitere Steinhaufen wurden in der Höhle aufgebahrt und Jessica ließ es sich nicht nehmen, jedem einzelnen ein paar letzte Worte mit in die nächste Welt mitzugeben. Müde ließ sich anschließend am provisorisch eingerichteten Nachtlager nieder. Die vergangenen Stunden zerrten an jedem einzelnen Muskel in ihrem Körper, aber dieser Schmerz war in einigen Tagen vergessen. Die seelischen Narben dagegen würden sie ein Leben lang begleiten und ihr Wesen auf unvorhergesehene Weise verändern. Die Ereignisse an der Quelle der Jugend schufen eine neue Königstochter, welche mitleidig auf die bisherige Jessica herabblickte. Die einfältigen Entscheidungen der Vergangenheit wirkten wie Peinlichkeiten aus einer in Watte gepackten Welt, die sich einer Brutalität von Vikinern bisher verweigert hatte. Von Tranje hatte Recht. So schmerzhaft die Lektion auch war, es war überlebenswichtig für die Zukunft von Galatien. Erst jetzt wurde ihr klar, was Krieg wirklich bedeutet. Alles Glorifizierende waren nur Übertreibungen von Geschichtsschreibern. Heldentaten waren irrelevant. Siege waren irrelevant. Selbst auf der Gewinnerseite steht am Ende immer nur Tod, Leid und Hass. Brennstoff, der den Krieg weiter befeuert und ihn am Leben hält.
Jessica ging zu Sasha, welche die Verwundeten notdürftig versorgte. Die Schmerzensschreie des jungen Garan von Galwetter hallten bis vor Kurzem noch von den Höhlenwänden wieder, aber von einem Augenblick auf den anderen legte sich Stille über den vom Feuer erhellten Hohlraum. In böser Vorahnung über das Schicksal des jungen Ritters, befragte sie Sasha zu seinem Zustand, denn die tiefe Fleischwunde an seinem Oberschenkel deutete auf keine gute Perspektive hin. Tatsächlich gab es nur eine Alternative um sein Leben noch retten zu können.
"Ich kann den Blutverlust nicht vollständig unterdrücken. Die Gefahr ist groß, dass sich die Wunde entzündet. Wenn wir ihm nicht das Bein entfernen, wird er sterben." schlug Sasha vor.
"Das ist barbarisch." fiel Shane in die Diskussion ein. Ein Wort ergab das andere, aber am Ende entschied von Tranje die Amputation vorzunehmen. Unerwartet einfach ließ sich die Trennung vollziehen, was auf die verheerende Wirkung von Streitäxten gegenüber Gliedmaßen zurückzuführen war. Sie brannten den Stumpf mit einem glühenden Schwert aus und stoppten damit endlich den Blutfluss. Von Galwetter ließ das alles klaglos über sich ergehen, da ihm die Gnade der Ohnmacht den Schmerz ersparte.
Diese ganze Tortur im Schein des Lagerfeuers stellte sich als sinnlos heraus. Garan von Galwetter erwachte nicht mehr und erhöhte damit die Zahl der Gräber im Inneren der Höhle. Ein weiterer Steinhaufen, der den Preis ihrer Unternehmung in Blut verteuerte. Wieder gab es ein paar letzte Worte der müden Königstochter, welche unfähig war auch nur ein Auge in der Nacht zu schließen. Jessica fühlte sich so unendlich leer und ausgebrannt. Die Grabrede saugte die letzte Energie aus ihrem Körper. Sie fühlte sich wie dieser Knappe, dem sie so wütend den Kopf abgeschlagen hat. Eine Handpuppe, die zwar ihren Zweck erfüllte und jeden Befehl ausführte, aber innerlich vollkommen hohl war. Keine Emotion wagte sich in den Vordergrund, um das Handeln zu bestimmen. Selbst die von Sasha provisorisch genähte Verletzung ihres Armes war nur ein dumpfes Pochen in einem Meer aus Gleichgültigkeit. Eine wandelnde Tote, die auf der Suche zurück ins Leben war.
Von Tranje sah sich gezwungen die Gruppe für den Rückweg zu teilen. Zwei Ritter der Gefolgschaft hatten zwar den Angriff der Vikiner überlebt, waren aber so schwer verwundet, dass eine schnelle Rückkehr nach Spuuun nicht möglich war. Herald von Mathus wurde dafür abgestellt diese Verwundeten mit aller Zeit der Welt Richtung Ozean zu führen. Sasha fertigte ihm dazu eine grobe Skizze der Umgebung an, die von Mathus knurrend als unnützes Gekrakel eines Kindes kommentierte. Im Falle einer Verirrung würde er einfach dem Flusslauf Richtung Osten folgen und an der Küste irgendwann südlich auf Spuuun treffen. Dort wartete die Kibely, die mit dieser Nachhut den Kurs Richtung Osos setzen würde.
Die Zeit schien Jessica davon zu laufen. Schnellstmöglich mussten sie die Stolz von Galatien erreichen, um das Wasser des Lebens ihrem Vater zu bringen. Das Tempo der verbliebenen Sechs war deutlich höher, als auf ihrem Hinweg. Sie sparten ganze zwei Tage ein und als sie am Vorabend der erwarteten Ankunft in Spuuun ihr Nachtlager aufschlugen, gelang es der Königstochter den innerlichen Zombie erstmals wieder zu verdrängen. Vielleicht war es die Vorfreude auf die Annehmlichkeiten des Schiffes oder die Aussicht diesen verfluchten Kontinent endlich verlassen zu können, jedenfalls meldeten die Lebensgeister wieder erhöhten Bedarf an. Den ganzen Weg über vergrub sie sich in der Leere ihres Geistes und mied jeglichen sozialen Umgang. Auch wenn die Ereignisse an der Quelle der Jugend sicherlich noch nicht verarbeitet waren, hatten sie doch nicht mehr die alleinige Vorherrschaft in ihrem Verstand. Jessica drängte es regelrecht nach Worten und so suchte sie diejenige auf, die sie nach ihrem Empfinden am Besten verstehen würde.
"Ich schulde Euch immer noch die Beileidsbekundungen für Euren Bruder. Das möchte ich hiermit nachholen. Er war ein aufrichtiger Mann." begann Jessica. Wie erwartet verschwendete Sasha keine unnötigen Worte und schwieg in die Dunkelheit hinein.
"Wie geht es Euch? Kommt Ihr mit dem Verlust klar?" fragte Jessica vorsichtig.
"Habt ihr weise Männer auf Osos?" stellte Sasha eine Gegenfrage.
"Ja sicher."
"Bei den Etraker gibt es überwiegend Narren. Das wäre nicht weiter schlimm, wenn diese Narren nicht versuchen würden die wenigen mit Verstand ebenfalls zu Narren zu formen. Mein Bruder war ein Freigeist. Jemand, der gesellschaftlichen Zwängen widerstand. Die Kunde von seinem Tod wird meinem Volk vermutlich als warnendes Beispiel dienen und sie in ihrer Verbohrtheit weiter bestärken. Ein trauriges Vermächtnis." Sasha klang bedrückt.
"Einer unser weisen Männer, ich glaube er hieß Penn, sagte einmal: "Wir werden in eine Welt hineingeboren, in der sich niemand mehr die Zeit nimmt, der zu werden, der er ist – und all diese Menschen, die nicht sie selbst sind, verletzen die wenigen Menschen, die sich diese Zeit nehmen". Ich habe diese Worte nie verstanden und trotzdem habe ich sie ein Leben lang nie vergessen. Euer Bruder, Quatar, Ihr selbst, diese ganze Reise geben der Aussage endlich einen Sinn. Vielleicht hat Alvor bei seinem Volk kein Vermächtnis hinterlassen, aber mir wird er immer in Erinnerung bleiben, als einer der Menschen, die mich mit ihrem Wesen geprägt haben."
"Ein wahrlich weiser Mann dieser Penn. Vielleicht wird es Zeit diese Ordnung wenigstens zu erschüttern." Sasha klang nachdenklich.
"Auch Osos bräuchte mehr Menschen wie euren Bruder. Wir verharren in alten Traditionen. Vielen reicht es satt zu werden. Wir nehmen unsere Rollen ein und versuchen ein möglichst unauffälliges Leben zu führen. Kein Aufbegehren, keine Risiken, kein Fortschritt. Wo ist die Neugier auf das Unbekannte. Wir haben sogar Angst davor. Was glaubt Ihr wohl, was diese Expedition für Proteste auslöste? Jetzt droht diese unbekannte Macht auch noch Osos zu überrollen. Ein gefundenes Fressen für alle Zweifler und Zauderer. Dabei brauchen wir eine Erneuerung." Mit Bedauern musste Jessica feststellen, dass diese Gespräche genau die richtige Bühne für Quatar gewesen wären.
"Im Gegensatz zu mir, bist du in der Position für diese Erneuerung."
"Ich mag zwar irgendwann Königin werden, aber wirkliche Macht besitze ich nicht."
"Also bleibt dir nur als Alternative die Regeln einzuhalten. Alt zu werden in den Ketten eurer Welt. Irgendwann schaust deprimiert zurück und wünschst, dass dein jüngeres Ich den Mut aufgebracht hätte, die vorherrschende Ordnung wenigstens anzukratzen."
"Jetzt verstehe ich, warum Quatar Euch gemocht hatte." Zum ersten Mal seit Tagen zierte ein leichtes Lächeln Jessicas Gesicht. Das Gespräch mit Sasha tat ihr sichtlich gut.
"Ich werde dich begleiten. Zeig mir deine Welt von Osos. Vielleicht nützt dir die Perspektive einer Außenstehenden, um die Dinge zu erkennen, die sich unter dem Deckmantel der Traditionen verbergen." schlug Sasha vor.
"Ich habe Euch gern an meiner Seite. Eure direkte Art wäre der perfekte Farbtupfer im Grau der höfischen Eitelkeiten. Nur befürchte ich, dass es keine Rückkehr nach Askalan geben könnte."
"Vielleicht treibt mich der Leichtsinn, aber bei der Wahl zwischen der traditionellen Enge der Etraker und sich dem Feind allen Lebens im Kampfe zu stellen, bevorzuge ich Letzteres. Die Entscheidung wird in deiner Heimat fallen. Versagt ihr, ist auch Askalan dem Untergang geweiht." Sasha wirkte entschlossen.
"Ich kann wahrlich jegliche Hilfe gebrauchen. Somit benenne ich Euch zur königlichen Beraterin in Kriegsangelegenheiten." Mit einem festen Händedruck wurde der neue Packt besiegelt. Für Jessica gab es nicht nur ein neues Mitglied in ihrem bereits schon ansehnlichen Stab von Beratern. Hier ging es um mehr. Das Vertrauen in Sasha war ähnlich hoch wie gegenüber von Tranje, aber während gegenüber dem Heerführer ein eher emotionsloses Verhältnis herrschte, entwickelte sich bei der Etrakerin das zarte Pflänzchen einer Freundschaft. Ein gutes Gefühl, dass in ihrem bisherigen Leben viel zu kurz kam.
Sie erreichten die Küste am Mittag des nächsten Tages. Gnadenlose Hitze machte sich breit, als sie das schützende Blattwerk des Dschungels hinter sich ließen. Die Schwüle trieb sie den Pfad Richtung Süden entlang und als sie die gerafften Segel ihrer kleinen Flotte am Horizont erblickten, leerten sie in Vorfreude auf kommenden Komfort ihre Trinkflaschen. Sie bestiegen die kleinen Beiboote und ruderten auf die "Stolz von Galatien" zu. Der Ballast der vergangenen Tage schien endgültig von den Reisenden abzufallen, als sie die Planken des schwankenden Schiffes unter sich spürten. Jessica hatte sichtlich Mühe auf den Beinen zu bleiben, denn die Antriebsenergie, die sie durch den Dschungel von Askalan trieb, hatte bereits die letzten Reserven aufgebraucht. Die Erschöpfung forderte nun ihren Tribut und im Schutze der vertrauten Umgebung drohte ihrem Körper der erlösende Kollaps. Von Tranje erteilte kurze knappe Anweisungen an den Kapitän des Schiffes und entlastete sie damit von ihren Pflichten als Anführerin. Nur am Rande bekam sie den Schock von Polpers mit, der unweigerlich durch ihr wildes Aussehen ausgelöst worden sein musste. Müde registrierte sie, dass das getrocknete Vikiner-Blut auf ihrem Hemd in Kombination mit den verfilzten Haaren ihr das Aussehen einer irren Kriegerin verlieh, die in Sachen Brutalität den Vikiner in nichts nachzustehen schien. Das alles konnte mit einem Bad und neuer Kleidung wieder in Ordnung gebracht werden, aber als sie in den Spiegel ihrer Kajüte schaute, fiel ihr noch eine andere Veränderung auf. Ihr Gesicht schien die Unschuld einer Heranwachsenden verloren zu haben. Das naive Mädchen, dass vor dem Abendmahl auf die Zinnen ihrer Burg kletterte und sich Geschichten über die Bewohner ihrer Stadt ausdachte war irgendwo in den Weiten von Askalan verloren gegangen. Zurück blieb eine Frau, die von der Realität brutal überrollt wurde. Die traumatischen Ereignisse der vergangenen Tage waren nur Vorboten für kommendes Unheil. Die Zeit für Fantasien war endgültig vorbei.
Noch wurde ihr keine Erholung gegönnt. Von Tranje, Kapitän Polpers und der Kapitän der "Kibely" berieten bereits das weitere Vorgehen, als sich Jessica in frischer Kleidung und mit halbwegs hergerichtetem Aussehen auf das Oberdeck begab. Hektisches Treiben herrschte bereits auf dem Schiff, was auf ein zügiges Ablegen hindeutete.
"Eure Majestät." wurde sie von Polpers begrüßt. Jessica begegnete dem Kapitän mit einem Kopfnicken.
"Die "Kibely" wird auf die restlichen Überlebenden warten. Der Zustand des Schiffes ist aber immer noch besorgniserregend, da wir den größten Teil unserer Ressourcen abtreten mussten." Eine gewisse Klage war aus den Worten des Kapitäns der "Kibely" zu vernehmen, die auf unausgesprochene Entschädigung abzielte.
"Wir wissen eure Großmütigkeit zu schätzen und werden uns bei passender Gelegenheit dafür erkenntlich zeigen. Wird es euer Schiff nach Osos schaffen?" fragte Jessica gereizt.
"Es wird nicht einfach, aber ich denke meine Erfahrung auf See sollte die Unzulänglichkeiten ausgleichen. Die Situation ist vergleichbar mit einer Havarie, die uns in den Untiefen vor Maluk ereilt hatte. Damals konnte ich nur mit Hilfe ...." Der Kapitän wurde unterbrochen.
"Dann schlage ich vor, Ihr begebt Euch auf euer Schiff und bereitet die Ankunft der Verletzten vor." Jessica war zu müde für die Grabenkämpfe innerhalb der königlichen Marine. Ihre Reise nach Askalan war der ideale Nährboden im Ringen um Privilegien und Vorteile und eine ihrer nervigen Verpflichtungen bestand darin, am Ende jeden Einzelnen mit Gold oder Positionen am königlichen Hofe für seine Taten zu entlohnen. Das Kommando der "Kibely" war halt nur die zweit wichtigste Position und Kapitän Polpers hatte deutlich mehr Jahre hinter sich, als vor ihm lagen.
"Wir sind in Kürze bereit zum Ablegen." vernahm sie die Meldung. Jessica gönnte sich einen Blick zurück auf die vor ihr liegende Küste. Zu viele ihrer Getreuen hatte sie zurücklassen müssen und kurz machte sich das Gefühl des Versagens in ihr breit.
"Kurs Richtung Osten." befahl sie mit fester Stimme und verschwand in ihrer Kabine.
Die Eintönigkeit der Überfahrt stellte sich als ideale Gelegenheit da ihren aufgewühlten Geist wieder in Normalzustand zu bringen. Zuerst beabsichtigte sie bis in alle Ewigkeit zu schlafen, aber trotz der weichen Matratzen fand sie keine Ruhe. Halbgare Träume von metzelnden Vikinern und einem untoten Quatar, der seinen eigenen Tod am Lagerfeuer als Heldengeschichte zum Besten gab, verhinderten vorerst die geplante Erholung. Unruhig wälzte sie sich im Bett und obwohl sie sich alle Mühe gab den gedanklichen Wildwuchs in ihrem Kopf zu bändigen, gab es keinen erlösenden Schlaf. Tief in der Nacht gab sie auf und begab sich auf das Oberdeck in der Hoffnung das frische Seeluft ihren Geist beruhigte.
Das weiche Licht der Fackeln und die sanften Wellen, die den Bug umspülten, verliehen dem Schiff eine Unschuld, die sich tagsüber unter dem Deckmantel fluchender Matrosen und zackiger Anweisungen geschickt verbergen konnte. In der Ruhe der Nacht wirkte die "Stolz von Galatien" wie der ideale Rückzugsort um die Gedanken schweifen zu lassen. Jessica passierte den wachhabenden Matrosen, der vollkommen überrascht ihr ein steifes "Eure Majestät" entgegenbrachte und nicht so recht wusste, ob die Etikette mehr von ihm verlangte. Allein auf dem Oberdeck nahm sie einen tiefen Atemzug dieser klaren, sauberen Luft und als sie wieder ausatmete, schien die innere Unruhe für einen Moment gebändigt. Die Sterne funkelten auf sie herab und eine leichte Brise aus Westen kitzelte ihre Wangen. Eine winzige Königstochter in der Unendlichkeit allen Seins. Die Götter hatten ihr diese unmenschliche Verantwortung auferlegt, verschwiegen aber, wie diese Bürde zu meistern war. Die Selbstzweifel waren nie größer, als in dieser alles verschlingenden Schwärze, die das Schiff umgab. Einsam in der Dunkelheit ihrer Seele lauschte sie den Lauten des Meeres und die Hilflosigkeit schien sie zu erdrücken. Ein gutes Gefühl sich in diesem Pfuhl aus Selbstmitleid zu wälzen, dem sie bis zum Morgengrauen nachgab. Auf dem Höhepunkt dieser trügerischen Befriedigung trat Sasha an ihre Seite und sagte kein Wort.
Schweigend standen sie nebeneinander und dieser Moment ohne Worte linderte ihren Schmerz auf ungeahnte Weise. Sie vereinten ihre Trauer und wandelten sie Stück für Stück in Zuversicht um. Ein telepatisches Bündnis aus Intimität, welches die Wunden ihrer kranken Seelen nach und nach verschloss. Alvor und Quatar standen jetzt nicht mehr ausschließlich für Verlust. Ihr Gedenken war von nun an eine Quelle der Kraft. Neue Lebensenergie durchflutete Jessica und mit ihr kehrte die vermisste Stabilität ihres Geistes zurück. Unendlich dankbar fiel es ihr schwer Sasha zu umarmen, aber die neu gewonnene Freundschaft stand jetzt über den verstaubten Regeln von königlichem Anstand. Für beide war es die größte Form der Anerkennung ihre reservierte Haltung für diesen erhabenen Moment zu opfern. Eine weibliche Variante des Blutschwurs, der statt des Ritzens mit Umarmung ewige Verbundenheit garantierte. Ein gutes Gefühl, die anstehenden Gefahren nicht alleine bewältigen zu müssen.
Trotz der neuen Zuversicht konnte Jessica die trüben Gedanken nicht vollends aus ihrem Bewusstsein tilgen, aber der zarte Optimismus schaffte es all den Ballast zu bündeln und in eine mentale Kiste zu verstauen, dessen Schloss stark genug war, das Gift ihrer Seele am erneuten Ausbreiten zu hindern. Endlich konnte sie schlafen und die resultierende Erholung schaffte die notwendige Ordnung in ihrem Verstand, die sie brauchte um Vorkehrungen für das drohende Unheil zu treffen. Der Feind streckte seine Hände nach Osos aus, soviel war sicher, aber weder gab es zuverlässige Aussagen über die Stärke noch über Taktiken der zu erwartenden Streitmacht. Die Abholzung des Listerwalds ließ einerseits auf Brennstoff für Waffenschmieden und anderseits auf massiven Bootsbau schließen. Selbst die optimistischste Schätzung deutete auf ein riesiges Heer hin, welches in naher Zukunft im Begriff war das westliche Meer zu überqueren. Galatiens Armee würde dieser Übermacht nichts entgegensetzen können und so war es einer der ersten Aufgaben nach der Ankunft in Dreiwasser, Boten in die umliegenden Königreiche zu senden, um gemeinsam der Bedrohung zu begegnen. Hoffentlich blieb ihnen noch genug Zeit, um eine schlagkräftige Abwehr zu organisieren.
Mit den Königreichen Hestos und Gamal hatte Galatien ein Verteidigungsbündnis geschlossen, dessen ursprüngliche Abschreckung den nördlichen Völkern diente. Barbaren, die keinem König die Treue schworen und ihre Freiheit als höchstes Gut ansahen. Die raue und unwirtliche Gegend im Norden von Osos ermöglichte der wilden Bevölkerung nur ein geringes Auskommen und so plünderten sie in der Vergangenheit regelmäßig die nördlichen Provinzen dieser drei Königreiche. Jessicas Urgroßvater organisierte ein Bündnis mit den damaligen Königen, um der Plage Herr zu werden und tatsächlich brachten einige blutige Vergeltungsaktionen irgendwann Ruhe. Dieses Bündnis wurde auf Grund des Erfolges auf jegliche Bedrohungen ausgedehnt und nun hoffte sie, dass all die Versprechungen der Vergangenheit nicht nur leere Worte waren. Sie verfasste zwei Briefe, die den Verteidigungsfall einforderten und ähnlich wie im Kampf, war ihre Ausbildung in Sachen Diplomatie eher theoretischer Natur. Hier waren die Worte ihr Feind und erst unter Mithilfe von von Tranje schaffte sie es Forderung, Schmeichelei und Erklärung in der richtigen Dosierung aufs Papier zu bringen.
Es würde trotz der Unterstützung ein aussichtsloser Kampf werden. Wollten sie der Bedrohung wirklich standhalten, brauchten sie mehr Kämpfer. Das stärkste Heer von Osos befand sich an den südlichen Grenzen von Galatien und war eine permanente Bedrohung für den hundert Jahre alten Frieden. Die Planizier fühlten sich allen anderen Völkern von Osos überlegen und nicht wenige in diesem Königreich waren der Meinung diese Überlegenheit ihren Nachbarn mit Gewalt einbläuen zu müssen. Die vielen Häuser in diesem riesigen Reich waren Fluch und Segen zu gleich für Planiz. Auch wenn es keinen Bürgerkrieg gab, schwächte die zerstrittene Struktur die herrschende Dynastie und somit blieben kriegerische Auseinandersetzungen mit Galatien vorerst aus. Eine Aufrüstung der letzten Jahre hatte Planitz zwar eine zahlenmäßig weit überlegende Armee verschafft, die unter verschiedenen Heerführern aber unterschiedlichen Interessen nachging. König Dastan schaffte es nicht eine einheitliche Richtung vorzugeben und so rieb sich Planiz förmlich auf in internen Zwistigkeiten. Hier würden weder Worte aus Vernunft, Forderung oder Speichelleckerei auch nur einen Ritter dazu bringen ihnen beizustehen, aber ohne die Hilfe aus dem Süden drohte ganz Osos früher oder später der Untergang. Es war von entscheidender Wichtigkeit gemeinsam gegen den Feind vorzugehen.
"Ohne die Truppen aus Planiz werden wir wohl nicht standhalten können." von Tranje und von Dormat hielten Kriegsrat in ihrer Kabine.
"Das ist mir bewusst. Von daher müssen wir die besten Diplomaten aussenden, um wenigstens einen Teil für unsere Sache zu überzeugen." erklärte Jessica.
"Mit Verlaub eure Hoheit. Euch ist die Lage in Planiz nicht bewusst. König Dastan ist schwach und seine Söhne lauern auf das Erbe seiner Regentschaft. Sie scharen die Truppen um sich und warten nur auf den passenden Moment zuzuschlagen. Derzeit gibt es einen Patt. Niemanden würde auch nur einen Kämpfer entbehren. Schon gar nicht für das Wohl Fremder." erklärte von Dormat.
"Diese kleinen Zänkereien sind doch unwichtig. Da kommt viel Größeres auf uns zu, dem wir nur gemeinsam standhalten können. Wir müssen sie von der Notwendigkeit uns zu helfen überzeugen." Jessica klang energisch.
"Mit Vernunft werden wir dort nicht vorankommen. Diese Patt-Situation, die Ihr anspracht. Wir müssen sie auflösen." erklärte von Tranje. Jessica gefiel nicht worauf die Sache hinauslief.
"Eine Hochzeit." kam von Dormat die Erleuchtung.
"Eine Vereinigung der Königreiche Galatien und Planiz. Das Bündnis mit dem Norden wird die Zwietracht des Südens beseitigen. Mit der galatischen Armee und seinen Verbündeten wird der rechtmäßige Thronfolger die gesamten Truppen Planiz hinter sich bringen." erklärte von Tranje.
"Ich nehme an nicht eine meiner Schwestern wird als Braut fungieren." Jessica klang resigniert.
"Nicht weniger als mit der Thronfolgerin werden sie sich begnügen." von Tranje klang traurig.
"Dann soll es so sein. Schickt Boten aus, sobald wir Dreiwasser erreichen. Ich werde einen Brief an König Dastan aufsetzen und ein königliches Versprechen dahingeben, seinen Sohn Kasabian zu ehelichen."
"Ähmm.." von Dormat wirkte pikiert.
"Kosobion. Eure Hoheit. Kasabian ist der unrechtmäßige Rivale." erklärte von Tranje.
"Verzeiht meine Unwissenheit, aber König Dastan hätte bei der Wahl der Namen seiner Söhne etwas mehr auf Unterscheidung achten sollen." erklärte sie gereizt mit einem Höchstmaß an Selbstbeherrschung. Ihr war klar, dass sie eines Tages einen Mann haben würde, der ausschließlich aus strategischen Gründen für sie erwählt wurde, aber der Tag schien noch so unendlich weit weg. Wieder überrollten sie die Ereignisse.
"Ihr solltet euren Vater in der Sache nicht übergehen, eure Hoheit." warf von Tranje ein.
"Ich schätze Euren Ratschlag, aber diese Angelegenheit kläre ich mit dem König persönlich. Ich bin mir sicher, er wird meine Entscheidungen gutheißen." Jessica war angespannt und sie hatte Mühe ihren langjährigen Vertrauten nicht grundlos anzufahren. Von Dormat verkrampfte und als erfahrender Kämpfer wusste er, wann er sich zurückzuziehen hatte. Unter einem fadenscheinigen Vorwand verließ er die Kabine.
"Ihr wusstet, dass Euch dieses Schicksal früher oder später ereilen würde." von Tranje klang mitfühlend.
"Hört Ihr sie? Die Musik." fragte Jessica und erntete nur ein Stirnrunzeln.
"Sie gibt den Takt vor, nachdem wir alle tanzen müssen. Wir können nicht anders als jeden Schritt dieser Musik unterzuordnen. Ob wir nun Bauern, Ritter oder Könige sind. Wir haben keine Wahl. Wir müssen dem Takt folgen, auch wenn er uns ins Verderben führt, denn ausscheren, dass dürfen wir nicht. Sasha hatte Recht. Ich werde zurückschauen auf diesen Tag und der Schmerz des Versagens wird mir die Schamesröte auf die Wangen legen. Hier und jetzt werde ich scheitern. Wie konnte ich nur glauben Dinge ändern zu können."
"Ich sehe soviel von mir in Euch. Auch ich war jung und die Welt war ein Ort voller Ungerechtigkeiten. Über hundert Jahre ist das her. Ihr hättet damals dabei seien müssen. Menschenopfer für die Götter waren noch weit verbreitet und Frauen durften nicht feiern, geschweige denn Wein trinken. Den Kindern unterer Stände war es verboten das Lesen zu lernen und rote Haare waren ein Zeichen böser Mächte. Das alles gibt es heute nicht mehr, weil Mutige dagegen aufstanden und diese Regeln durchbrochen haben. Das passierte nicht von heute auf morgen. Veränderung braucht ihre Zeit, aber vor allen Dingen braucht sie Mut und Durchhaltewillen. Rückschläge wird es immer geben, aber solange die Leidenschaft in Euch brennt, werdet ihr der Zukunft euren Willen aufzwingen. Passt auf, dass die Flamme in Euch niemals erlischt. Verzaget nicht. Findet Euren Weg und dann schaut Ihr zurück und wisst diesen Tag richtig einzuordnen." von Tranje verließ die Kabine und hinterließ eine frustrierte Königstochter.
In der folgenden Nacht brach Jubel an Deck aus und Jessica ließ es sich nicht nehmen, dem Grund dieser Heiterkeit zu ergründen. Kapitän Polpers zeigte Richtung Sternenhimmel und benannte euphorisch einige Sternenbilder. Askalan lag nun endgültig hinter ihnen und Osos war schon fast spürbar. Karten wurden abgeglichen und mit Erstaunen wurde festgestellt, dass sie die westlichen Inseln bereits passiert hatten. Sie würden Dreiwasser schon in zwei Tagen erreichen, vorausgesetzt die Winde bliesen weiter so heftig in die Segel. Die Vorfreude auf die Heimat hob die Moral der gesamten Besatzung.
"Land in Sicht." flogen die Worte über das Deck der "Stolz von Galatien" am Mittag des zweiten Tages. Wirklich jeder stürmte zur Reling, als trauten sie den Worten des Ausguckpostens nicht.
"Ich werde ein ganzes Fass Bier leeren." kam es von einem der Matrosen voller Vorfreude.
"Ich werde mich einmal quer durch die Bordelle vögeln." versprach ein anderer.
"Und ich werde beides kombinieren." grölte ein Dritter und versetzte die ganze Mannschaft in lautes Gelächter.
"Schnauze halten." brüllte Polpers vom Oberdeck und brachte wenigstens für den Moment etwas Ordnung in die aufgepeitschte Menge. Die ersten Konturen von Dreiwasser zeichneten sich vor dem Hintergrund des allmächtigen Nebelberges ab. Es würde noch eine Weile dauern bis das Schiff vor Anker gehen würde, aber jeder Matrose an Bord legte noch mal extra Energie in seine Arbeit, so als würden die Bordelle dieser Stadt ein zu spät kommen unweigerlich bestrafen.
"Seltsam." murmelte Polpers vor sich hin. Mit dem Fernglas schaute er Richtung Hafen.
"Was habt Ihr?" fragte von Tranje.
"Normalerweise ist so ein Hafen voller Menschen. Seht selbst. Ich kann niemanden ausmachen." Polpers gab von Tranje das Fernglas.
"Ihr habt Recht. Gerade bei der Ankunft des königlichen Flaggschiffs sollten sie sich dort gegenseitig auf die Füße treten." von Tranje wirkte nachdenklich.
"Die benehmen sich ja so, als würde sich ein Piratenschiff nähern." scherzte Polpers. Inspiriert von diesen Worten setzte von Tranje erneut das Fernglas an, doch jetzt richtete er es auf die vor gelagerten Festungstürme.
"Abdrehen. Sofort abdrehen." befahl er dem Steuermann und erntete ein missmutiges Gesicht von Polpers, der sich übergangen fühlte. Ein Zischen durchschnitt die salzige Luft.
"Hart Backbord." schrie jetzt auch Polpers.
"Bring uns außer Schussweite." Zu spät. Krachend splitterte das Holz im Heck des Schiffes, als die Steinkugel einschlug. Wasser spritzte an Steuerbord, als ein weiteres Geschoß sie nur knapp verfehlte. Erst jetzt begriff Jessica, dass ihre Rückkehr keine ihrer Vorstellungen entsprach. Sie wurden angegriffen von ihren eigenen Triboks.
Azuls Leben vor diesem Abend schien im Angesicht der vergangenen Ereignisse urplötzlich auf einen Wimpernschlag der Zeit reduziert worden. Nutzloses Geplänkel eines naiven Bauern, der seine Lebenszeit damit verschwendete die Ungerechtigkeiten dieser Welt zu bedauern. Nichtigkeiten im Vergleich zu dem, was vor ihm lag. Allein die Ausübung der Macht über das stärkste Wesen dieser Welt, ließ ihn mitleidig auf den schwachen Knappen der vergangenen Tage herabblicken. Ein elendiges Dasein als Sklave falscher Anführer, mit Blindheit geschlagen den Irrweg nicht zu erkennen. Die Erkenntnis seinem ehemaligen Herrn eigentlich überlegen zu sein, verdankte er dieser selbsternannten Gottheit, die ihm die wahre Bestimmung als Stabträger offenbarte. Seine Ketten der Sklaverei pulverisierte er förmlich, als er von Tranje mit einem magischen Geschoss niederstreckte. Dieser Moment war der endgültige Übergang in die Freiheit und auch wenn sich anfänglich noch etwas Reue einstellte, verflüchtigte sich diese mit jedem Schuss, den er Richtung seiner ehemaligen Unterdrücker schickte. Noch waren die Skrupel zu groß sie einfach niederzustrecken, aber als von Zuertel mit gezücktem Schwert auf ihn zustürmte, überschritt er auch die letzte Grenze. Bedauern und Mitleid waren durchaus vorhanden als er ihn durchbohrte, aber der Rausch der Macht ertränkte diese unnützen Gefühle und versetzte ihn in nie dagewesene Euphorie. Nun gab es endgültig kein zurück mehr. Sein Weg war vorgezeichnet und die Richtung unwiderruflich festgesetzt. Die Entscheidung befreite ihn von all den widersprüchlichen Empfindungen.
Jetzt schwebte Azul buchstäblich über den Dingen. Die riesigen Bäume unter ihnen wirkten wie winzige Spielzeuge von Göttern. Auf dem Rücken des Drachen glitten sie über eine chaotische Welt, die förmlich um Ordnung schrie. Auf Askalan würde es seinen Anfang nehmen und sich bis in den letzten Winkel auf Osos ausbreiten. Azul würde seine Erkenntnis über die falschen Anführer jedem verkünden. Der ganzen Welt wollte er die Augen öffnen und ein neues Zeitalter voller Gerechtigkeit und Gnade einläuten. Die Anhänger der alten Werte würden verschwinden und auf ihrer Asche würde die Saat einer besseren Zukunft gesät werden.
Der Drache unterbrach seine heroischen Gedanken. Zwei kräftige Flügelschläge durchschnitten die Luft und verlagerte das schwere Tier auf neue Höhen. Angst machte sich in Azul breit, die irgendwann in Euphorie wechselte, welche wiederum in Überlegenheit gipfelte. Eine Überlegenheit jeglichem menschlichen Wesen, denn dieses erhabene Gefühl des Fliegens hatte er exklusiv für sich und erhob ihn in Gottnähe. Auch wenn das Ziel ihrer Reise unbekannt war, steckte er voller Vorfreude aufkommende Taten, denn soviel war sicher, es würde seinen neu gewonnenen Geschmack an Macht weiter bestärken.
Am nächsten Tag erreichten sie die Küste und die zurückgelegte Distanz hätte zu Fuß vermutlich Wochen gedauert. Der Drachen landete sanft vor einem gigantischen Turm, der mit seinem rundlichen Ausmaß zwar in seinem Umfang überschaubar war, aber in der Höhe jegliche Grenzen zu sprengen schien. Noch nie hatte Azul so ein hohes Gebäude erblickt und obwohl er die karge Gegend bereits von oben begutachten konnte, war er neugierig auf den Ausblick von der Spitze.
Sein Begleiter sagte kein Wort als er vom Rücken des Drachen stieg und in der schmalen Pforte des Turms verschwand. Ein wenig Hilflosigkeit machte sich in Azul breit, denn er war es gewohnt konkreten Anweisungen zu folgen und so zögerte er kurz den Turm unaufgefordert zu betreten. Nachdem er seine unangebrachte Schüchternheit überwunden hatte, durchquerte auch er das Portal und sah sich einer scheinbar endlosen Wendeltreppe gegenüber, die nach oben führte. Zu seiner Überraschung war die Kopie seiner selbst, die wenige Augenblicke vor ihm diese Tür passierte, verschwunden. Offenbar gab es für Götter leichtere Möglichkeiten diesen Turm zu erklimmen.
Stufe für Stufe kämpfte er sich nach oben und als er glaubte diese verdammte Treppe würde bis in das Himmelreich führen, erspähte er eine Plattform über seinem Kopf, die ihm wenigstens ein vorläufiges Ende dieses Irrsinns an Baukunst vorgaukelte.
"Willkommen, werter Herr." wurde er von einem kleinen kahlköpfigen Mann begrüßt, der in seiner zerschlissenen Kutte den Eindruck eines Geistigen erweckte. Azul musterte den Fremden.
"Seid Ihr... ?" fragte er ungläubig.
"Ein Mensch? Ja das bin ich. Unsere Gottheit verwirrt uns das Öfteren, aber glaubt mir. Ich bin so real, wie Ihr es seid." versicherte der Fremde.
"Mein Name ist Olmot. Wächter des Turmes der Erlösung." stellte er sich vor.
"Turm der Erlösung?" fragte Azul zweifelnd.
"Ja sicher doch. Von hier aus geht das Ende allen Leids aus und das ist nun mal die Erlösung." erklärte Olmot etwas herablassend.
"Wie schafft Ihr es tagtäglich diese Stufen zu erklimmen?" fragte Azul erschöpft.
"Diese Frage stellt sich mir nicht. Ich habe diesen Turm seit Jahren nicht verlassen. Folgt mir. Ich bin mir sicher werter Herr, Ihr dürstet nach dem Ausblick aus dieser Höhe." forderte Olmot Azul auf. Sie durchquerten eine Bibliothek, dessen Regale sich der rundlichen Kontur der Außenmauern des Turmes angepasst hatten und das ganze Stockwerk ausfüllte. Eine schmale Öffnung in dieser Unzahl an Büchern führte ins Freie.
"Unglaublich." flüsterte Azul ehrfürchtig als er den Vorsprung betrat und sich vorsichtig an der steinernen Brüstung festhielt. Ihm wurde leicht schwindelig als er einen Blick in die Tiefe riskierte.
"Leider hat sich die Umgebung in letzter Zeit nicht zu ihrem Vorteil verändert." kommentierte Olmot das karge Umland.
"Vor ein paar Jahren gab es hier Bäume soweit das Auge reichte." seufzte er.
"Wo sind sie hin?" fragte Azul und musterte die Baumstümpfe unter ihm, die wie ungewollte Pickel die ganze Umgebung verschandelten.
"Das kann ich Euch zeigen, werter Herr." lächelte Olmot und folgte dem Balkon Richtung Norden, der offenbar den ganzen Turm wie ein Ring umschloss. Sie hatten jetzt freien Blick auf das Meer.
"Seht." Olmot klang stolz, als er auf unzählige Schiffe deutete, die vor der Küste vor Anker lagen. Es war Azul unmöglich das Ende dieser riesigen Flotte zu erblicken.
"Das müssen Tausende sein." Azul klang eingeschüchtert.
"Die genaue Zahl weiß nur unser Bootsmeister." Olmot amüsierte sich über seine Verblüffung.
"Wer braucht soviel Schiffe?" fragte Azul sichtlich beeindruckt.
"Alles zu seiner Zeit, werter Herr. Ich werde Euch in Kürze über alles informieren." erklärte Olmot in einer aristokratischen Herablassung, die knapp unterhalb von Arroganz angesiedelt war. Obwohl er Azul mit Worten bedachte, die einem Gutsherren angemessen waren, machte er keinen Hehl aus seiner Abneigung.
"Folgt mir, werter Herr. Ich werde Euch den Anderen vorstellen." Olmot verschwand im Inneren des Turmes ohne eine Antwort abzuwarten. Die Worte "werter Herr" klangen wie Hohn in Azuls Ohren. Eine Floskel ohne wirkliche Bedeutung oder sogar Respekt. Schwankend und mit einer Hand an der Brüstung, folgte er dem Geistigen zurück in die Bibliothek.
Sie betraten erneut die Treppe und folgten den Stufen nach oben. Olmot trabte schweigend vor ihm her und nicht mal ein tiefer Atemzug war in der Stille von ihm zu vernehmen, während bei Azul sich bereits der Schweiß erneut seinen Weg bahnte. Sie ereichten ein weiteres Level, was Olmot kurz mit "Quartiere" charakterisierte um dann weiter schweigend dem Verlauf der Treppe zu folgen. Schritt für Schritt ging es nach oben, bis sie das Ende erreichten. Ein Windhauch umwehte Azuls Nase als er ins Freie trat.
"Hier werdet Ihr üben, werter Herr." Olmot schwang seinen rechten Arm ausladend über die Plattform, die als höchste Stelle dieses gigantischen Bauwerkes alles Andere in der Umgebung überragte.
"Üben?" fragte Azul und mit Erschrecken stellte er fest, dass es hier oben keine schützende Brüstung gab.
"Mit euren Verbündeten." Olmot deutete auf die vier Fremden, dessen Anwesenheit Azul erst jetzt so richtig wahrnahm. Die Beine überkreuzt erinnerten sie an Geistige die sitzend und meditierend in alle Himmelsrichtungen still ihre Gebete verschickten.
"Lassen wir ihnen noch ein Moment." erklärte Olmot leise und gemeinsam warteten sie, dass die Unbekannten von ihrer stillen Reise zurückkehrten.
Azul musterte das junge Mädchen, welches in ihrer Richtung meditierte. Es war weniger die Person an sich, die ihn interessierte, sondern der Gegenstand, der leicht vibrierend in ihren Händen lag.
"Sie sind wie ich." flüsterte er leise.
"Seit Äonen sind die fünf Stäbe des Werekas wieder vereint." erklärte Olmot feierlich.
"Ihre Macht ist damit von unendlicher Natur." fuhr er fort. Azul fuhr über das Holz seines eigenen Stabes. Nichts. Kein Vibrieren, keine Erschütterung, nicht ein Zeichen von Vorfreude auf die Wiedervereinigung.
"Ihr fünf seid das Rückrat der Veränderung. Gemeinsam werdet ihr die neue Welt gestalten. Aber zuerst müssen wir die alte Welt beseitigen." Olmot klang jetzt wie ein hochtrabender Despot.
Bewegung kam jetzt in die vier, die bisher den Eindruck von fleischgewordenen Statuen vermittelt hatten. Drei Jungen und ein Mädchen trafen sich in der Mitte, diskutierten kurz ihr weiteres Vorgehen, wobei sie ein paar verschwörerische Blicke Richtung Azul warfen, bis sie beschlossen den Neuankömmling gemeinsam zu empfangen.
"Meine werten Herren, meine Dame. Wir sind komplett. Meister Werekas würde diesen Moment vermutlich als Zeitenwende titulieren." versuchte Olmot die Spannung zu durchbrechen.
"Meister Werekas war mehr an den Röcken der Weiber interessiert als an solchen Momenten." zerstörte der größte der Jungen Olmots Visionen von einem wegweisenden Augenblick der Geschichte.
"Hütet eure Zunge, Herr Legan."
"Oder Ihr lasst mich nicht mitspielen an euren Welteroberungsplänen." konterte Legan frech. Seine blonde Lockenmähne und die tiefen blauen Augen waren mit Sicherheit schon der Schlüssel zu fast jedem Frauenherz, aber der rebellische Umgangston mit Leuten wie Olmot gab ihm einen zusätzlichen Bonus.
"Legan." wurde er zurechtgewiesen von der einzigen weiblichen Anwesenden.
"Mein Name ist Niska." stellte sie sich vor.
"Azul." stotterte er und seine Unsicherheit gegenüber schönen Frauen schlug mit voller Härte durch.
"Er sieht sehr jung aus." kam es von einem der Jungen, der durch seinen dunklen Hautteint und dem langen schwarzen Haar exotisch wirkte.
"Und vermutlich waren seine Erfahrungen mit Weiberröcken bisher gering." Diese Bemerkung brachte Legan eine weitere Zurechtweisung seitens Niska ein. Azul merkte wie sein Kopf rot anlief.
"Vergiss diesen Narren. Auch für ihn war in diesem Alter, der Frauenkörper ein unentwirrbares Labyrinth. Wenn ich es mir Recht überlege, ist es teilweise auch heute noch so." verteidigte Niska Azul. Offenbar waren die beiden ein Paar, so vertraut wie sich neckten.
"Ruhe jetzt." Olmot wirkte auf Grund der Unterhaltung pikiert.
"Ach ja. Die Wiedervereinigung. Eurer heiliger Moment." Legans Sarkasmus ließ Olmot Wutpegel steigen.
"Ihr provoziert mich nicht, mein Herr." sagte er, nachdem er einmal tief durchgeatmet hatte.
"Gut dann stelle ich dir den Rest der Weltveränderungstruppe vor. Der Schweigsame dort drüben ist Rohan. Mit seinen grün leuchtenden Augen wirkt er irgendwie gruselig." Legan zeigte auf einen schüchtern wirkenden Jungen, der die bisherige Vorstellungsrunde aus gebührender Entfernung betrachtete.
"Du bist ein Etraker." entfuhr es Azul.
"Uhhh. Da kennt sich aber jemand gut aus, dafür dass er von jenseits des Meeres kommt." Selbst anerkennende Worte schien Legan nicht ohne Spott anbringen zu können.
"Und unser exotischer Frauenheld dort drüben heißt Wolka. Ein alberner Name wie ich finde, aber man sagt trotz dieses verbalen Unfalls hatte er mehr Frauen als wir alle zusammen." Wieder sah sich Niska gezwungen Legan zurechtzuweisen.
"Schön. Jetzt, wo die Herrschaften sich bekannt gemacht haben, weist den Neuankömmling doch in alles ein." Für Olmot schien der perfekte Fluchtzeitpunkt gekommen. Er verschwand in den Tiefen des Turmes.
"Verklemmter Knabenliebhaber." schickte Legan ihm hinterher.
"Höre nicht auf das Gerede von Legan. Er ist wirklich kein schlechter Kerl. Die ganze Sache überfordert ihn genauso wie alle anderen. Es ist seine Art mit der Unsicherheit klar zu kommen." Niskas Einfühlvermögen war genau der Anker, den Azul gerade brauchte. Sie lächelte ihn an.
"Mit dir könnte das jetzt alles etwas einfacher werden. Obwohl du arg jung bist, scheinst du aber genau der fehlende Teil zu sein, den wir brauchen." Niskas dunkle Mähne war zu einem verführerischen Pferdeschwanz zusammengebunden. Azul verlor sich in ihren braunen Augen.
"Vielleicht sollten wir es mal probieren." sagte sie leise. Missverständliche Worte, die Azul die Schamesröte zurückbrachte. Sanft ergriff sie seine Hand und lächelte ihn spöttisch an hinsichtlich seiner Fehlinterpretation ihrer Worte.
"Die gemeinsame Ausübung der Macht." Sie führte ihn zu dem Mittelpunkt der Plattform und forderte ihn auf sich zu setzen. Jetzt saß Azul mit gekreuzten Beinen da, aber von Entspannung war er noch weit entfernt.
"Entspanne dich. Schließ die Augen und atme ganz ruhig." Niska ließ seine Hand los und legte den Stab in seine nach oben geöffneten Hände.
"Ich nehme dich mit auf die Reise. Ich zeige dir, zu was wir fähig sind." Niska schaffte es erfolgreich Vertrauen aufzubauen. Sanft und beruhigend lockten ihre Worte ihn in diese unbekannte Welt, die so viel Harmonie versprach.
"Folge mir." Die Stimme befand sich jetzt direkt in seinem Kopf und drohten ihn ins Chaos zu stürzen.
"Ruhig. Lass es geschehen. Ich führe dich durch die Wirren deines eigenen Geistes." Waren das jetzt seine eigenen Gedanken oder hatte Niska seinen Verstand geentert? Azul konnte nicht mehr unterscheiden.
"Vertraue mir." versuchte der Eindringling ihn zu beruhigen, aber die nicht einzuordnenden Gedanken überfluteten ihn und versetzten ihn in Panik. Ein kleines Mädchen schob sich in den Vordergrund und lächelte ihn an. Die dunklen Augen kamen ihm wage bekannt vor und als Azul die ausgestreckte Hand ergreifen will, verzerrte sich ihr Anblick bis sie vollkommen verschwand. Die Verwirrung katapultierte ihn in einen steinernen Raum, dessen runden Wände auf einen Turm schließen ließ. Legan stand vor ihm und bevor er sich versah, trafen sich ihre Lippen. Sie küssten sich und anstatt Ekel zu empfinden durchflutete ihn das gleiche Gefühl der Erregung, wie er es auch schon bei Sasha empfand. Ein Gefühl, dass nicht lange anhielt, dann verschwand auch Legan, als würde ihn eine riesige Windhose einfach davon blasen. Azul fühlte, wie sein Verstand jetzt wieder frei von fremden Einflüssen war. Das Chaos in seinem Kopf gehörte jetzt wieder vollkommen ihm. Es war unbedingt notwendig Klarheit zu schaffen und zum Glück wusste er ja bereits, wie er das hinbekommen würde. Seine volle Konzentration galt jetzt seinem Stab in der Hand. Leichte Vibrationen zeugten von dem richtigen Weg und die wirren Gedanken wurden Stück für Stück beseitigt. Leere füllte nach und nach seinen Geist. Der perfekte Zustand. Keine Sorgen. Keine Angst. Keine Ablenkungen. Nicht ganz, wie sich herausstellen sollte.
"Gut." vernahm er leise. Ein einzelner Gedanke hatte es geschafft sich dem ganzen Aufräumen zu entziehen. Jetzt fühlte er ihre Präsenz in all dem Nichts. Der Drang sich zu bewegen kam über ihn und anstatt aufzustehen, schwebte er jetzt über der Plattform und schaute auf sich selbst hernieder. Schwindel machte sich in ihm breit, aber bevor seine verheerende Wirkung ihn aus dem Gleichgewicht bringen konnte, steuerte er gekonnt dagegen. Das Manöver kam ihm seltsam vertraut vor, obwohl er nie zuvor auch nur ähnliches vollführt hatte. Niska. Sie war jetzt ein Teil von ihm oder war er ein Teil von ihr. Vermutlich waren sie weder in ihrem noch in seinem Geist. Ein neues Bewusstsein. Verbunden durch die Stäbe. Die Vereinigung war chaotisch und mit Sicherheit war das kleine Mädchen und der Kuss Niskas verwirrende Gedankengänge, welche durch ihren Stab beseitigt wurden. Wieder überkam Azul der Drang sich zu bewegen.
Sie flogen. Nein eigentlich war es nicht Azul der flog. Es war diese neue Art von geistiger Verbindung, die sich körperlos über die spärlichen Reste des Listerwaldes erhob. Ihr Weg führte sie Richtung Osten und obwohl er eigentlich gleichberechtigt in diese ungewöhnliche Partnerschaft einging, spürte er wie Niska die Richtung vorgab. Er befand sich in einem Geist, der nicht ausschließlich ihm gehörte. Intimität war hier keine persönliche Angelegenheit. Seine Gedanken keine Privatsache. Keine Möglichkeit seine Unsicherheit irgendwie zu verbergen. Wie oft hatte sie sich schon mit den Anderen auf diese Art vereinigt? Vermutlich unzählige Male und von daher war es verständlich, dass sie Azul an die mentale Hand nahm.
Etwas Schwarzes durchbrach die eintönige Landschaft aus gerodeten Bäumen. Je weiter sie Richtung Osten kamen, umso mehr füllte diese Schwärze die ganze Ebene aus. Was immer dort auch vor sich hin wuselte, es musste gigantisch sein, denn noch waren sie zu weit entfernt für eine genaue Erkenntnis. Mit Spannung flogen sie auf diese riesige Anhäufung von beweglichen kleinen Punkten zu, dessen innere Unruhe an einen Ameisenhaufen erinnerte. Unzählige Menschen mussten sich dort unten befinden. Azul erwartete eine Stadt, welche diese gigantische Zahl an Leuten bündelte, aber es waren nur sporadisch kleine Gebäude zu erkennen. Sie gingen tiefer und jetzt erkannte er seinen Irrtum. Dort unten war keine Stadt. Hier befand sich ein riesiges Feldlager und ihre Bewohner waren auch keine Menschen. Utchas, soweit das Auge reichte. Jetzt hatte er seine Antwort, auf die riesige Flotte vor dem "Turm der Erlösung". Die Invasion auf Osos nahm genau hier ihren Anfang.
Sie gingen tiefer und steuerten auf eine der wenigen Hütten zu. Wände stellten keinen Widerstand da und so gelangten sie ohne große Mühe in das Innere, indem sich ein einziger Utcha befand. Sie schwebten über ihm, ohne dass er sie wahrnahm und Azul wusste, was jetzt von ihm erwartet wurde. Losgelöst von dem gemeinsamen Bewusstsein drang er in den Geist des Anführers ein, wie er es schon einmal beim Drachen getan hatte. Keinen Widerstand gab es dieses Mal. Nur blinde Ergebenheit. Keinen rebellischen Geist gab es zu brechen oder zu erziehen. Dieser Utcha wurde zum Gehorsam erzogen. Azul langweilte sich schnell und so verließ er den Geist des enttäuschten Anführers wieder und kehrte in den mentalen Schoß von Niska zurück. Gemeinsam erwachten sie nach der Rückreise auf der Plattform. Der eigene Körper fühlte sich so gut an.
"Das war unglaublich." entfuhr es Azul.
"Du bist weiter als wir dachten." sagte Niska ruhig.
"Hat er es geschafft seinen Geist zu befreien?" fragte Wolkan aufgeregt.
"Nicht nur das. Wir sind die Verbindung eingegangen." sagte Niska stolz.
"Beim ersten Mal. Huiii... Ich hoffe nur du hast da nichts Unerlaubtes durchgezogen." neckte Legan Azul neckisch.
"Ähh..." stotterte Azul, dem der Kuss wieder in den Sinn kam.
"Erklärt es mir?" forderte er jetzt peinlich berührt.
"Das ist immer schwer in Worte zu fassen. Die Stäbe erzeugen so eine Art gemeinsamen Kopf oder Raum. Wir beide wurden sozusagen eine neue Persönlichkeit." erklärte Niska vorsichtig.
"Und was war das am Anfang? Ich habe ein kleines Mädchen gesehen."
"Niemand geht unbelastet in diesen Raum. Wir müssen ihn erst nach und nach entrümpeln. Dieses Mädchen ist meine Bürde, die ich jedes Mal mit rein schleppe. Ich habe auch eine Vielzahl deiner Belastungen gesehen. Wir sprechen nicht gegenüber Dritte darüber, was wir gegenseitig voneinander mitbekommen. Ist so eine Art Ehrenkodex." Niska lächelte auf ihre eigene bezaubernde Weise.
"Es wird die Jugend sein, die ihn die ganze Sache furchtloser angehen lässt." sagte Wolkan.
"Möglich. Vielleicht hat er auch nur weniger Probleme mit Intimität." warf Niska ein.
"Was soll das heißen?" fragte Azul, dem es gar nicht passte, dass über ihn gesprochen wurde, als wäre er nicht anwesend.
"Diese Verbindung, die wir demnächst alle fünf gemeinsam eingehen werden, wird eine nie dagewesene Beziehung darstellen. Je öfter wir zusammen sind, umso mehr wirst du über uns erfahren. Wie du gemerkt hast, kannst du dort drinnen nichts verheimlichen. Ängste, Sehnsüchte, Leiden. Es gibt keinen Rückzugsort für das alles. Also werden wir auch alles über dich erfahren. Intimität in seiner höchsten Ausprägung, aber keine Angst. Wir haben alle gelernt damit zu leben. Der eine schneller, der andere zögerlicher." Ihr Blick fiel auf Rohan, den Etraker.
"Was dort drin sich offenbart, bleibt dort drin. Diese Regel musst du unbedingt beherzigen, sonst funktioniert das alles nicht." fuhr sie fort.
"Und wozu das Alles?" fragte Azul.
"Das habe ich dir gezeigt. Wir sind das Bindeglied zwischen ihm und dieser riesigen Armee. Die Utchas wurden dafür geschaffen sich von uns kontrollieren zu lassen. Wir sind sozusagen die Generäle."
"Er war so gehorsam. Kein Vergleich zu dem Drachen." raunte Azul.
"Du warst im Geist des Drachen?" fragte der sonst so stille Rohan erstaunt.
"Ich habe es nicht allein geschafft. Er hat mir geholfen." erklärte Azul ehrfurchtsvoll.
"Welch Leiden musst du vernommen haben. Nur die Gottheit selbst und einer der untoten Magier schaffen es den Drachen zu kontrollieren." Rohan klang traurig.
"Habt ihr diese Gottheit je in ihrer ursprünglichen Form gesehen?" fragte Azul vorsichtig.
"Niemand hat das." raunte Wolkan.
"Es ist spät geworden." Olmot stand auf der letzten Stufe der Treppe.
"Es wird Zeit für das Abendmahl. Morgen früh könnt ihr eure Übungen fortsetzen." verkündete er.
Die Gruppe kehrte auf die Quartierebene zurück, die aus sechs kargen Räumen bestand. Fünf dieser Räume dienten als Unterkunft der Mitglieder dieser unheimlichen Verbindung, die Azul gerade durchlebt hatte. Niska und er teilten ein Bewusstsein oder waren ein Bewusstsein. Unmöglich diesen Zustand genau zu beschreiben, aber nachdem er in seinen Körper zurückkehrte, fühlte er sich als hätte man ihm einen wichtigen Teil seines Geistes entrissen. Eine Lücke, die er nicht in Worten beschreiben konnte. Etwas, dass jenseits von Intimität existierte, aber ähnliche Entzugserscheinungen hervorrief.
"Wie fühlst du dich?" fragte Niska, als sie im Aufenthaltsraum an einem reich gedeckten Tisch Platz nahmen.
"Verwirrt." sagte Azul. Das einzige Wort, das halbwegs passte.
"Nach so einer Erfahrung kommen dir Worte so beschränkend vor." Niska lächelte ihn auf eine Art und Weise an, die ihn vollkommen wehrlos machte. Jetzt war er der Utcha, der jeden Befehl von ihr ausführen würde.
"Nach dem Essen können wir noch mal einen Ausflug wagen. Dann kannst du es mir besser erklären." sagte Niska sanft.
"Gern." stotterte Azul mit rotem Gesicht.
"Hey. Verdreh ihm nicht den Kopf." spottete Legan.
"Lasst uns die Speisen genießen." Olmot saß am Kopf der Tafel und ließ es sich nicht nehmen das Mahl zu eröffnen. Jeder griff beherzt zu, nur Azul zögerte.
"Was hast du Junge?" fragte Legan. Noch nie hatte Azul ein dermaßen reichliches Mahl erblickt. Da standen gebratene Hühner, exotische Früchte, leckere Süßspeisen und guter Wein auf dem Tisch. Speisen für Könige, nicht für Leute wie ihn.
"Er ziert sich." wieder war Spott in Legans Stimme. Offensichtlich ging es bei ihm nicht ohne.
"Wir alle saßen das erste Mal so ungläubig hier am Tisch. Keiner von uns hatte vorher solch eine Anhäufung von Essen gesehen." Wolkan stopfte sich eine Hühnerkeule in den Mund.
"Weißt du was das wirklich Unglaubliche an diesem Mahl ist?" fragte Legan listig. Azul schüttelte den Kopf.
"Es gibt keinen Koch. Nirgendwo. Wir haben die ganze Umgebung abgesucht. Nichts. Kein Koch, keine Bauern, nicht mal Dienstboten, die das die Stufen hochbringen. Wie von Geisterhand steht dieses leckere Essen hier jeden Abend auf dem Tisch und unser aller Freund Olmot weigert sich uns zu erklären, wie er das hinbekommt. Bei solchen Künsten möchte man meinen, er wäre der Segen jeder Frau, aber nein er bleibt Junggeselle. Vielleicht solltet Ihr öfter mal raus aus dem Turm. Geht auf Brautschau. Mit diesen Talenten stehen die Weiberröcke bei Euch sicherlich Schlange." Legan grinste wie ein pubertärer Junge.
"Ich sehne den Tag herbei, an dem ihr eines dieser Schiffe besteigt und endlich gegen Osten segelt." Olmots Selbstbeherrschung schien das Ergebnis jahrelangen Trainings.
"Bis dahin habe ich Euch soweit, dass ihr etwas lockerer werdet. Wer weiß. Vielleicht tanzt Ihr dann nackt auf den Tischen." In Azuls Geist setzte sich ein verstörendes Bild fest.
"Habt Ihr die Gottheit je in ihrer natürlichen Erscheinung gesehen?" Azul wechselte das Thema und hoffte wenigstens von Olmot eine positive Antwort zu bekommen.
"Natürlich." antwortete dieser herablassend.
"Das war es. Mehr wirst du nicht erfahren." erklärte Wolkan.
"Da irrt Ihr. Jetzt, wo die Stabträger zusammengekommen sind, wird er sich euch offenbaren." Eine gespenstische Ruhe legte sich über den Raum.
"Tatsächlich. Wird ja auch Zeit, dass er sich mal blicken lässt, immerhin sollen wir für ihn die Drecksarbeit machen." kommentierte Legan die Neuigkeit und versuchte mit gespielter Lässigkeit seine Unsicherheit zu kaschieren.
"Am Tag des Aufbruchs wird er uns mit seiner Anwesenheit die Stärke geben, die wir für eine bessere Welt brauchen." ignorierte Olmot Legans Worte. Damit hielt er das Thema für beendet. Das Essen wurde gelegentlich durch ein paar Sticheleien von Legan begleitet, aber alles in allem verloren sich alle in ihren eigenen Gedanken. Wie versprochen kehrte Azul mit Niska auf die obere Plattform zurück. Das Licht der untergehenden Sonne verlieh der zerstörten Umgebung ein gespenstiges Aussehen. Verbrannte Erde, die bereit war sich wie ein Geschwür auch über Osos auszubreiten.
"Bist du bereit?" fragte Niska. Sie machte einen ungeduldigen Eindruck.
"Es ist lange her, dass ich jemanden neues kennenlernen durfte. Ich kenne fast jede Facette der drei. Du bist für mich wie ein neues Buch und ich kann es nicht erwarten darin zu schmökern." erklärte sie sich.
"Werde ich sie wiedersehen? Das Mädchen meine ich." fragte Azul. Niska wurde betrübt.
"Vermutlich. Ich kann es nie verhindern. Bitte ignoriere es. Ich wäre dir sehr dankbar." Traurigkeit umspülte ihre Worte.
"Dann muss ich wieder Legan küssen." entfuhr es Azul.
"Ohje." Niska war jetzt peinlich berührt.
"Das ist nur fair. Ich hatte eine Frau mit grünen Augen. Der Kuss war niedlich." grinste sie und jetzt wurde Azul rot.
"Sasha." Eine Erinnerung wie vor tausend Jahren.
"Es ist in Ordnung. Wir werden noch mehr Peinlichkeiten übereinander erfahren. Warte ab bis Legans Geist mit dazu kommt. Der überrumpelt dich mit verrückten Sachen, da ist so ein Kuss vollkommen normal dagegen." beruhigte sie ihn sanft.
"Bereit?" fragte sie Azul nachdem er seine Aufregung unter Kontrolle hatte.
"Ich verspreche dir. Es wird nichts Unangenehmes passieren." Vertrauen machte sich in Azul breit. Gemeinsam betraten sie wieder diesen Raum, der voll war von chaotischen Gedanken.
Da war es wieder, dieses kleine Mädchen, was ihm wage vertraut vorkam. Wieder streckte sie ihre Hand aus und wieder drohte sie Azul zu entgleiten, bevor er sie ergreifen konnte. Den kleinen Finger erwischte er gerade noch so und wie sie sich zu ihm zurückdrehte und ihn anlächelte, erkannte er die viel zu jungen Gesichtszüge. Es war Niska. Fünf. Vielleicht sechs Jahre alt. Sie riss sich los und verschwand in einem Strudel aus Sternen. An ihre Stelle erschien erneut Legan, der genüsslich an seiner Brust saugte. Voller Ekel schob er ihn weg und in einem Anfall von Genugtuung stellte er fest, dass auch Niska nicht unbedingt diese Erinnerung mit Freude in Verbindung brachte. Wie sagte sie so treffend. Auch für Legan war der Körper einer Frau noch unbekanntes Gelände. Weitere Bilder aus ihrem Geist gingen auf ihn nieder, aber mit der selben unglaublichen Geschwindigkeit wie sie erschienen, verschwanden sie auch wieder. Endlich war Ruhe. Sie waren jetzt ein einziges Bewusstsein.
"Lerne zu unterscheiden." Ein einziger Gedanke durchbrach das Nichts.
"Verfalle nicht dem Wahnsinn." Eine berechtigte Warnung, denn Azul hatte Schwierigkeiten mit der Zuordnung. Dieser Gedanke hatte etwas Fremdes, obwohl er aus dem Innersten seines Verstandes zu kommen schien.
"Lerne zu unterscheiden." Die Verwirrung wurde größer. Die Stille war jetzt dahin und das Chaos bahnte sich wieder seinen Weg. Der Raum begann zu kollabieren.
"Schon gut." Azul war zurück in der Realität. Er spürte Niskas Hände auf seinen. Ihre Stimme beruhigte seinen aufgebrachten Geist. Erst jetzt merkte er, dass er leicht zitterte.
"Was ist passiert?" fragte er erregt.
"Es ist schwierig für Anfänger eigene von fremden Gedanken zu unterscheiden. Du merkst, dass etwas nicht stimmt, aber dein Verstand weigert sich das Fremde zu akzeptieren. Ich hatte auch am Anfang meine Probleme damit. Vergleiche es mit Stimmen. Jede hat ihren eigenen fremden Klang. Wenn der Verstand etwas hat, was er zuordnen kann, bleibt die Verwirrung aus."
Nochmals betraten sie den Raum und dieses Mal erwischte Azul die komplette Hand der kleinen Niska. Jetzt konnte sie nicht einfach in verrückten Strudeln verschwinden. Er hatte den Eindruck das wollte sie auch nicht. Fest entschlossen die Verbindung aufrecht zu erhalten wurde er einen langen Weg entlang gezogen, der gesäumt von riesigen Bäumen vermutlich irgendwo auf Askalan wirklich zu existieren schien. Niska stoppte, als Schreie aus den Wäldern vor ihr zu einem kreischenden Lärm anschwellte. Nun löste sie doch die Verbindung und drückte ihre Hände schützend auf die Ohren. Der Strudel sah seine Gelegenheit gekommen und verschlang Wald, Lärm und die kleine Niska.
"Lerne zu unterscheiden." Wieder war sich Azul unklar über den Ursprung des Gedankens, aber bevor die Verwirrung erneut die Oberhand gewann, ertastete er mit unsichtbaren Fühlern den Widerspruch. Niska hatte Recht. Jetzt, wo das Fremde deutlich zu erkennen war, gab sich sein Verstand zufrieden.
"Lerne zu unterscheiden." Jetzt musste er nicht mehr nach der Abweichung suchen. Sie wurde ihm förmlich vorgehalten. Ein neuer Sinn offenbarte sich ihm. Vergleichbar mit einem Blinden, der endlich sehen konnte, weil er lernte die Augen zu öffnen. Es wurde Zeit einzelne Farben zu erlernen.
"Ich hab es." triumphierte er innerlich und konnte keinerlei Fremde feststellen an diesem Gefühl.
"Perfekt." erhellte Niskas Stimme die Stille. Damit hatte er auch die Zuordnung hinbekommen, sowie sie es empfohlen hatte.
"Du lernst schnell." lobte sie ihn, als sie auf der Turmhöhe in ihren körperlichen Hüllen zurück waren.
"Ich habe eine gute Lehrerin." antwortete Azul euphorisch. Ihre Mine wurde nachdenklich.
"Was ist?" fragte er.
"Weißt du noch, wie ich dich gebeten habe dieses kleine Mädchen zu ignorieren?" fragte sie ernsthaft. Azul fühlte sich ertappt, immerhin hatte er ihre Bitte ignoriert. Das konnte sie unmöglich wissen, denn er wusste ja auch nichts von ihren Ausflügen in seine Seele.
"Du hast auch jede Menge, dass mir schwer fällt zu ignorieren." Sie schenkte ihm ein unsicheres Lächeln und verschwand im Inneren des Turms.
Azul war ein guter Schüler. Jedenfalls in Niskas Augen. Sie schien jedes Mal überrascht, wie schnell er einzelne Fähigkeiten erlernte. Tat er die lobenden Worte zu erst nur als Teil einer Motivationstaktik ab, merkte er schnell, dass in diesem gemeinsamen Bewusstseinszustand es keinen Zweck hatte sich gegenseitig etwas vor zu machen. Ihre Überraschung war echt und befeuerte seine Motivation auf ehrliche Weise und bestätigte damit wiederum Niskas Handeln, die den neuen gemeinsamen Geist sichtlich genoss. Anfangs öffnete sie sich nur vorsichtig, um Azuls Verstand nicht zu überfordern. Ähnlich wie mit den Gedanken, musste dieser unterscheiden, welche Emotionen nun seine eigenen waren und welche von Niska ausgingen. Eine überraschend einfache Sache, denn die weibliche Note der fremden Empfindungen wurde ihm schnell bewusst. Es war fast so als hätte jedes Gefühl einen viel zu geringen Anteil an Aggression, dafür schwang aber jede Menge Unsicherheit mit. Genau diese Mischung wurde sein Unterscheidungsmerkmal, welches vermutlich bei den anderen Mitgliedern nicht funktionieren würde, aber noch verschonten sie die gemeinsame Welt, die sich die beiden schufen. Tropfen für Tropfen sickerte mehr von Niska durch und formte das Bild, welches sich immer weiter manifestierte und Azul faszinierte. Selbst in stundenlangen Gesprächen, hätte er nie diese Details über ihr Innenleben erfahren. Sie war eine der aufrichtigsten und gütigsten Personen, die er je kennenlernen durfte. Am Ende blieb die Frage nach dem warum. Wieso ließ sich eine so bezaubernde Person wie sie auf diese Unternehmung ein, die vermutlich vielen Menschen den Tod bringen würde.
"Ab morgen werden wir nach und nach die Anderen dazu holen." erklärte Niska nach einigen Tagen beim gemeinsamen Abendmahl.
"Wunderbar." entfuhr es Olmot, der wie immer am Kopf der Tafel saß.
"Es wird tatsächlich Zeit, bevor eure Sache zu intim wird und ihr niemanden mehr reinlasst." warf Legan ein.
"Was meint er?" fragte Azul in Richtung Niska.
"Bei Rohan hatten wir eine andere Herangehensweise gewählt." Legan hielt seinen Unmut darüber, dass er nicht direkt angesprochen wurde nur mit Mühe zurück.
"Als er zu uns stieß, hatten wir ihn zu dritt förmlich überfallen, was dazu führte, dass er eine Art mentale Abschottung aufbaute. Das bringt ihm nicht viel, macht unsere Zusammenarbeit aber wahnsinnig kompliziert. Du wirst es sehen, wenn er mit dazu kommt. Es ist vergleichbar mit einer Mauer, die man jedes Mal überklettern muss." Legan tippelte mit seinen Fingern ein paar imaginäre Stufen durch die Luft, um seine Worte optisch zu untermauern.
"Also schickten wir dieses Mal unser Sensibelchen alleine vor, um dich sozusagen nicht zu verschrecken. Allerdings besteht jetzt die Gefahr, dass ihr euch eure eigene kleine heile Welt baut, in die ihr niemand mehr reinlassen wollt." Er schickte einen ärgerlichen Blick Richtung Niska. Offenbar war etwas vorgefallen, dass die sonst so vertraute Stimmung zwischen den beiden erschüttert hatte.
"Also krachen wir ab morgen einer nach dem Anderen in euer Paradies. Aber keine Angst. Wir sind vielleicht nicht ganz zuckersüß in unserem Wesen wie sie, aber du wirst uns trotzdem mögen." Legan verfiel in seinen üblichen harmlosen Spott, aber dieses Mal war eine gewisse Gemeinheit nicht zu überhören.
Azul wusste, dass genau dieses Szenario irgendwann eintreten würde. Er hatte mit Niska eine Beziehung aufgebaut, die jenseits aller Intimität war und nun drohte genau diese einmalige Verbindung kontaminiert zu werden.
"Es ist das Beste. Jede weitere Zweisamkeit macht die eigentliche Sache nur komplizierter." Auch Niska klang bedrückt.
"Ein letztes Mal. Nur wir beide." forderte Azul.
"Nein." Legan klang bestimmt.
"Ich habe das Gefühl, dass noch etwas offen ist. Etwas, dass nur uns beide angeht." erklärte Azul.
"Du verstehst es noch nicht. Wir wissen alles über sie und sie weiß alles über uns. Es gibt nichts, was nur euch beide betrifft." Legan klang jetzt herablassend.
"Tu ihm doch den Gefallen. Er weiß es doch noch nicht besser." Niska klang ungewohnt flehend.
"Tue ich ihm den Gefallen oder dir?" Legan wechselte jetzt auf schnippisch.
"Uns allen." Niskas Selbstsicherheit war auf Grund ihrer Wut auf Legan zurück.
"Ein allerletztes Mal. Bereite ihn auf unsere Ankunft vor." Wolkan unterstützte damit Azuls Vorschlag.
"Seit wann gibt es eine Abstimmung?" Legan wirkte überrascht.
"Verdammt. Sei kein Narr. Es ist besser für die gemeinsame Sache." warf Niska ein. Wolkans Unterstützung ließ sie siegesgewiss klingen.
"Na gut. Offenbar bin ich überstimmt, aber es wird Zeit, dass diese gemeinsame Sache auch wieder gemeinsam betrieben wird." Legan sprang von seinem Stuhl auf und verließ den Aufenthaltsraum.
"So geht das also." seufzte Olmot, dem der heutige Spott damit erspart blieb.
"So sehr ich es auch begrüße Herrn Legan in dieser Lage zu sehen, möchte ich darauf hinweisen, dass die Einigkeit der Gruppe eine Notwendigkeit ist. Bereinigen sie ihre Differenzen. Morgen Abend will ich wieder das vertraute Gefühl des Hohns über mich ergehen lassen." Olmot schob sich mit übertriebener Eleganz ein Stück Fleisch in den Mund.
Nach dem Abendmahl betraten Niska und Azul erneut die Plattform. Gemeinsam schauten sie auf das Meer hinaus. Die unzähligen Boote wippten ruhig über die Wellen und dass orange der untergehenden Sonne war der erste Vorbote für die Endlichkeit des Tages. Sie ergriff seine Hand.
"Was glaubst du denn noch ergründen zu müssen?" fragte sie sanft.
"Warum bist du hier? Ich verstehe es nicht." sagte er.
"Ich habe keine Wahl. Wenn du wirklich eine Antwort suchst, dann folge dem kleinen Mädchen."
"Du bist dieses Mädchen. Nicht wahr?"
"Es ist mein letztes großes Geheimnis vor dir." wich sie ihm aus.
"Ich weiß es zu schätzen, dass ich ..." Azul wurde unterbrochen. Niska legte ihren Finger auf seine Lippen.
"Ich wünschte ich könnte dich küssen. Wir sind uns mittlerweile so vertraut, dass es keiner Worte mehr möglich wäre es zu beschreiben." sagte sie sanft. Er näherte sich mit seinem Kopf, um die Vermutung in der Praxis zu testen.
"Nein." sagte sie und entzog sich dem Versuch sanft.
"Legan hat Recht. Wir drohen uns von den Anderen zu entfremden. Ein süßes Gift, dass uns von der eigentlichen Aufgabe ablenkt. Ich habe diese Zeit wahrlich genossen. Keiner von den Anderen hat auch nur annähernd dieses Maß an Übereinstimmung hervorgerufen. Wir greifen ineinander wie zwei wahllos geformte Schmiedeteile. Nur gemeinsam ergeben wir die passende Form. Ich wünschte die Vorraussetzungen unseres Kennenlernens wären uns besser gewogen gewesen. Es ist nun mal unser Schicksal diesen Weg nicht nur zu zweit zu gehen." Es lag wirkliches Bedauern in ihrer Stimme.
"Lass uns loslegen." Niska begab sich zum Zentrum der Plattform.
"Folge dem Mädchen." forderte sie Azul auf.
"Ich erlaube es mir eines deiner Geheimnisse zu ergründen. Eine Person namens Wilmot von Zuertel scheint dich ja immer noch zu beschäftigen." Sie setzte sich in den üblichen Meditationssitz.
"Ich bitte dich. Tu es nicht." flehte Azul.
"Das ist nur fair." antwortete sie frech. Azul ließ sich ihr gegenüber nieder.
Die Routine, mit der sie zusammen diesen Raum von allen lästigen Erinnerungen säuberten, war nur schwer zu durchbrechen. Unzählige Male hatte Azul das Mädchen einfach ziehen lassen und damit Niskas Wunsch entsprochen. Nun hatte er die Erlaubnis und zu seiner Überraschung verdrängte ausgerechnet Legan das liebgewonnene Gesicht, dass jedes Mal zuverlässig als erstes erschien. Ein Streit tat sich auf und obwohl sich Azul der wirkliche Grund nicht erschloss, war er sich sicher einen entsprechenden Anteil an dem unverständlichen Zwist zu haben. Er schob die Szenerie mit seiner mentalen Hand beiseite und wartete auf die eigentliche Bürde Niskas, die wenige Augenblicke später zuverlässig erschien.
Hand in Hand gingen sie den bekannten Weg entlang und als die bedrückende Stille mehr und mehr in ein Gemisch aus unnatürlich lauten Klängen wechselte, drückte er ihren kleinen Körper an sich. Er schirmte sie ab gegen diesen Wahnsinn aus schmerzenden Geräuschen. Gemeinsam trotzten sie dem Lärm und als dieser die Sinnlosigkeit seines Handelns gegenüber dem mentalen Bündnis erkannte, flaute das Inferno allmählich ab. Schüchtern lächelte sie ihn an und als er noch fasziniert ihr kindliches Antlitz bewunderte, änderte sich die Umgebung. Die Bäume verschwanden und an ihrer Stelle erschienen einfache Holzhütten, die ihn entfernt an weitentlegene Dörfer auf Osos erinnerten.
Sie steuerten auf einen zentralen Platz zu, auf dem sich eine Gruppe von Bewohnern angeregt unterhielten. Einfache Leute, die dem Leben jeden Tag mit harter Arbeit beweisen mussten, dass sie es wert waren weitere Zeit in dieser Welt zu verbringen. Die einzige Ausnahme war ein älterer Mann, dessen autoritäre Bewegungen ihn von den anderen unterschied. Ein Fremder, der mit Misstrauen, aber auch Respekt bedacht wurde. Er passte sogar nicht in diese bäuerliche Idylle, dass sich zwangsläufig die Frage nach seinem Aufenthalt an diesem für ihn unpassenden Ort stellte. Gnädig lauschte er den Diskussionen, die für Azul unmöglich zu verstehen waren. Als die beiden die Gruppe erreichten, stellte sich behagliches Schweigen ein. Eine Erleichterung, die die ganze Umgebung erfasste und für Seeligkeit aller Anwesenden sorgte. Die knochige Hand des Fremden legte sich auf die Stirn des Mädchens und plötzlich begann es zu regnen. Kein Wasser fiel vom Himmel. Was hier auf die Erde niederging war eine Ansammlung leckerster Speisen. Früchte, gebratene Hühner, ja sogar Süßspeisen fielen den Bewohnern förmlich in den Mund. Die Frauen breiteten ihre Röcke aus um möglichst viel zu ergattern und die Männer begannen genüsslich die verschiedenen Leckereien zu verzehren. Ihre Bäuche schwollen an und veränderten die ausgemergelten Bauern in satte und faule Taugenichtse. Die Szenerie wurde immer absurder und als Azul fürchtete, dass die ersten hinsichtlich Überfressung bald platzen würden, zerrte ihn die Kleine in eine der Hütten.
Seine Begleiterin war verschwunden als er sich im Inneren wiederfand. Gerade noch spürte er ihre Hand, aber nun hatte sie sich förmlich in Luft aufgelöst. Der Geruch von Heilkräutern stieg ihm in die Nase und plötzlich spürte er die Anwesenheit des Todes. Nichts Ruhmreiches wie auf dem Schlachtfeld, wo falsch verstandene Loyalität ihm seine Opfer reihenweise in die Arme trieb. Hier schlich er sich feige an ein wehrloses Geschöpf, dass nicht bereit war ihm so frühzeitig zu folgen. Azul schaute sich um und fand seine ehemalige Begleitung am Ende des Raumes, der vollgestopft mit Menschen war. Auf einer Liege lag eine vom Fieber geschüttelte Niska, die zwar kein Kleinkind mehr war, aber sich noch weit entfernt vom Erwachsenenalter befand. Besorgte Mienen umgaben das Mädchen und wieder gab es Diskussionen, die Azul nur als verschwommenes Gewäsch wahrnahm. Ein allerletztes Mal erhob sich Niskas Brust, dann wich das Leben aus ihr und hinterließ ratlose Gesichter. Nur wenig Trauer war zu erkennen. Die Sorge schien alle anderen Gefühle zu erdrücken. Sie entkleideten den Leichnam und verfielen erneut in scheinbar sinnloses Geschwafel. Auch wenn Azul immer noch kein Wort verstand, schwang die pure Angst in jeder Silbe mit.
Plötzlich herrschte Stille und alle Blicke wanderten in eine Ecke, die für ihn nicht einsehbar war. Zu viele Leute versperrten ihm die Sicht, aber die Hoffnung schien jetzt greifbar. Es wirkte fast so als hätten sie eine Entscheidung getroffen. Niskas Kleidung wechselte von Hand zu Hand und verschwand genau an jenem Ort, der Azul bisher verborgen blieb. Der Raum leerte sich und strahlende Gesichter durchquerten die Eingangstür nach draußen. Erleichterung war überall zu vernehmen und feierliche Musik erklang in der Ferne. Endlich war die Sicht frei. Dort in der Ecke kauerte ein weiteres Mädchen. Im Anblick unterschied sie nichts von der Leiche auf der Liege. Zwillinge schoss es ihm durch den Kopf und in dem Augenblick wurde Azul der wahre Hintergrund dieser als schlecht gemachtes Theaterstück getarnten Erinnerung bewusst. Es war seine Niska, die da kauerte und der Last der Verantwortung nicht gewachsen schien. Die eigentliche Stabträgerin war verstorben und mit ihrem Tod drohte all der Wohlstand der Gemeinde zu schwinden. Azul hatte jetzt den Grund für Niskas Bereitschaft in den Krieg zu ziehen. Verantwortung.
Er kehrte in seinen physischen Körper zurück.
"Du bist nicht Niska." entfuhr es ihm.
"Nein bin ich nicht." sagte sie selbstbewusst.
"Wer bist du?" fragte er leise.
"Namen sind nicht wichtig. Ich habe meiner Schwester Platz eingenommen. Sie war die eigentliche Auserwählte. Leider erlag sie dem Fieber." Niska klang traurig.
"Das tut mir leid. Ich habe einen Mann gesehen, der hat Essen vom Himmel fallen lassen."
"Galamil. Das Dorf in dem ich wohnte war arm. Hunger war ein ständiger Begleiter. Viele starben in Zeiten schlechter Ernten. Eines Tages kam Galamil und brachte regelmäßig Nahrung, Wasser und Kleidung. Auch wenn er es nicht vom Himmel fallen ließ, wurde er zu unserem Wohltäter. Wir bekamen mehr als wir brauchten und wurden bequem. Er erzählte uns, dass Niska zur Stabträgerin auserwählt wurde und eines Tages mit ihm gehen würde. Unsere einzige Aufgabe war es, sie bis zu diesem Tag zu behüten."
"Doch dann starb Niska. Ihr befürchtetet das damit auch die Wohltaten enden würden. Also habt ihr ihn betrogen." schlussfolgerte Azul.
"Ich wurde zu Niska und erstaunlicherweise akzeptierte der Stab auch mich. Nur wir fünf kennen das Geheimnis. Ich weiß nicht was passiert, sollte Olmot von dem Betrug erfahren." Sie klang peinlich berührt.
"War sie denn soviel anders als du?" fragte Azul.
"Unterschiedlicher konnten wir kaum sein. Sie war stark und selbstbewusst. Ein egozentrischer Charakter, dem das eigene Wohl am wichtigsten war. Ich litt unter ihr. Alle litten unter ihr. Nach Galamils auftauchen und der damit einhergehenden Unverzichtbarkeit ihrer Person wurde sie unerträglich. Eine durchtriebene Diva, die sich Heimtücke und List zu eigen machte." erklärte sie.
"Trotzdem liebte ich sie und ihr Tod hat mich tief getroffen."
"Und dein Dorf?"
"Lebt weiter im Wohlstand. Viele Menschenleben hängen davon ab, dass ich Niska bin." erklärte sie sich. Azul blieb schweigsam.
"Du hast einen Menschen umgebracht." sagte sie leise nach kurzem Schweigen. Jetzt war es Azul, der sich rechtfertigen musste.
"Ja." presste er gedrückt heraus.
"Wut und Hass sind tief in dir. Noch sind sie nicht so stark um Güte und Liebe zu verdrängen. Lass sie nicht die Oberhand gewinnen." sagte sie sanft und gab ihm einen zarten Kuss auf die Stirn. Danach verschwand sie im Turm und ließ Azul mit seinen Gedanken allein.
Wilmot von Zuertel. Bisher erschlugen ihn die Ereignisse so sehr, dass er all die Ereignisse um diesen Namen erfolgreich verdrängen konnte. Niska hatte ihn aus den tiefsten Schubladen seines Geistes hervorgekramt und schonungslos präsentiert. Er hatte ein Leben genommen und bisher ließ ihn das vollkommen kalt. Sein Unterbewusstsein allerdings schien die Geschichte nicht ganz so einfach ignorieren zu können. Ähnlich wie Niska immer wieder ihre Schwester als mentalen Ballast in das gemeinsame Bewusstsein mit hineinschleppte, musste er ihr von Zuertel vorgehalten haben. Der Moment, als er seinen Stab in den Brustkorb rammte, hatte sie vermutlich miterlebt. Dann wusste sie auch, dass er angegriffen wurde und sich nur verteidigt hatte. Eine billige Ausrede, dass musste er sich selbst eingestehen. Er hätte von Zuertel nicht töten müssen. Er wollte von Zuertel töten. Ein Zeichen setzen gegenüber seinem neuen Herrn. Seine Entschlossenheit untermauern alles zu tun für eine neue gemeinsame Welt. Aber was für eine Welt? Eine, die auf Blut beruht? Niska hatte ihm unbewusst den Spiegel vorgehalten. Befand er sich doch auf dem falschen Weg? Die Antwort auf diese Frage war unwichtig. Es gab kein zurück mehr. Er schob die Zweifel beiseite, denn die würden nur ein Handeln behindern, das alternativlos geworden war.
Schmutzig. Dieses Wort kam Azul in den Sinn, als Legan in ihre von trauter Zweisamkeit geprägte Welt einbrach. Es fühlte sich an, als würde etwas vollkommen Reines mit all dem Dreck von Askalan besudelt werden. Wolkan kam als nächstes und den Abschluss machte Rohan. Eine gewisse Erleichterung stellte sich ein, als er seine Anwesenheit spürte, denn für Azul war damit der Höhepunkt alles Negativen erreicht. Das Chaos stand in seinem Zenit und von nun an würde sich alles wieder bessern, auch wenn es niemals wieder die Qualität der Zweisamkeit mit Niska erreichen würde. Er konzentrierte sich darauf die einzelnen Muster zu unterscheiden, was ihm überaus rasch gelang. Legan war der Spöttische. Seine Gedanken, seine Gefühle, sein Bewusstsein, alles strotzte nur so vor Sarkasmus und machte ihn leicht unterscheidbar. Ein idealer Schleier für seine eigene Unsicherheit, die sich nicht ganz so ausgeprägt darstellte wie bei Niska. Seine Vergangenheit vor der Berufung zum Stabträger war typisch für einen Bewohner von Askalan. Auch er stammte aus einer kleinen Gemeinschaft, die es scheinbar hundertfach in dieser Welt gab. Die Ereignisse um Waskur hatten den riesigen Kontinent in eine Dezentralisierung getrieben, die jegliches Bevölkerungswachstum und damit eine urbane Entwicklung erstickte. Legans Heimat unterschied sich grundlegend von den grünen Wäldern, die Niskas Dorf umgaben. Lange Winter und kurze feuchte Sommer prägten seine Erinnerungen. In den heimischen Bergen waren Eis und Schnee ständige Begleiter der Kindheit und verliehen ihm eine gewisse Resistenz gegen Kälte. Ein Vorteil, der in diesem Teil von Askalan vollkommen nutzlos war, aber trotzdem immer wieder von Legan angebracht wurde, wenn die Temperaturen doch mal unterhalb der üblichen Wärme lagen. Trotz seiner Großmäuligkeit erkannte Azul in ihm eine Ehrlichkeit, die im Laufe der Zeit zu Vertrauen führte. Auch wenn die Intensität ihrer Beziehung nur ein Bruchteil an Intimität im Vergleich zu Niskas besaß, entstand nach und nach eine Freundschaft, die Azul bisher vollkommen fremd war. Auch hier stellte sich irgendwann die Frage nach den Motiven für diese Unternehmung. Es war schlicht und ergreifend jugendliche Abenteuerlust, die ihn dazu veranlasste seine karge Heimat zu verlassen und der Berufung als Stabträger zu folgen. War er für Azul am Anfang der Störfaktor schlecht hin, entpuppte sich Legan im Laufe der Zeit als zusätzlicher Stabilitätsanker. Ein amouröses Dreieck, Niska, Azul, Legan hatte keine Möglichkeit zur Entfaltung in diesem gemeinsamen Bewusstsein, da weder Vermutungen, Geheimnisse noch Zweifel die Möglichkeit hatten zu gedeihen. Sämtliche Gefühle lagen wie auf dem Silbertablett offen auf dem Büfett des großen mentalen Speisesaals. Azuls Empfindungen für Niska und die einhergehende Eifersucht auf Legan konnten in einer Art und Weise geklärt werden, die Worte niemals ausdrücken konnten. Am Ende war es Niska, die klar und deutlich zu ungunsten Azuls entschied und alle Beteiligten stabilisierte. Das würde funktionieren, solange sie sich gegenüber Legan hundertprozentig im Klaren war.
Wolkan war der geborene Anführer. Seine dominante Art wurde für Azul zum Erkennungsmerkmal. Bisher hatte er eigentlich Legan als Wortführer gesehen, aber trotz seiner deutlich geringen Anzahl an Worten, war Wolkan viel besser geeignet das mentale Chaos, das manchmal im gemeinsamen Bewusstsein herrschte zu ordnen. Er strahlte eine Selbstsicherheit aus, die sonst niemand auch nur ansatzweise besaß. Wie kein Anderer konnte er die einzelnen Fähigkeiten der fünf zum gemeinsamen Vorteil nutzen. Sein Gespür für den richtigen Umgang in schwierigen Entscheidungen war für Azul beneidenswert. Die weibliche Sensibilität Niskas, die vorlaute Art von Legan oder auch die Ermutigung den zurückhaltenden Rohan mit einzubeziehen, machten ihn zum wichtigsten Mitglied ihrer Gemeinschaft. Er war charismatisch, aber nicht auf die aufdringliche alles überstrahlende Art. Den Respekt verdiente er sich Stück für Stück und seine gelassene, ruhige Art die Dinge konsequent zu meistern, verliehen ihm die Aura des Unfehlbaren. Wolkan war ein Mann weniger Worte, aber vieler Taten. Pragmatisch durch und durch. Für ihn waren Ruhm und Anerkennung kein erstrebenswertes Ziel. Trotzdem war genau dass sein Antrieb, nur tat er es nicht für irgendwelche Geschichtschroniken. Den einzigen, den er überzeugen wollte, war er selbst. Sein Ehrgeiz kannte dahingehend keine Grenzen.
Rohan war, wie von Legan bereits angekündigt, schwer durchschaubar. Seine Abstammung von den Etrakern brachte ihm einen ungewollten Bonus bei Azul ein, aber der wurde ziemlich schnell aufgebraucht. Als die viel zitierte mentale Mauer endlich überwunden wurde und Azul dem Abdruck seiner Seele gegenüberstand, erkannte er nichts als Zorn. Die Zurückhaltung und die schüchterne Art waren nur Mäntel, die Rohans eigentliches Wesen geschickt tarnten. Sein Volk vertrat diese sehr konservative Einstellung von Zusammenleben, die Sasha ihm schon offenbarte. Die starren Regeln waren nichts für Individualisten wie ihn und im Gegensatz zu Sasha oder Alvor, die mit Rebellion dem vorherrschenden Zeitgeist widersprachen, zog er sich lieber in seine eigene kleine Welt zurück. Gesellschaftlich isoliert lernte er seine Umgebung zu hassen. Die Kultur der Etraker entpuppte sich als perfekter Nährboden für seine Abneigung gegen alles Menschliche. Wie auch bei Sasha war er der Natur verbunden und nur hier hatte seine Wut keine Chance. Mit der gleichen Inbrunst wie er scheinbar jeden außerhalb seiner selbst geschaffenen Blase verabscheute, liebte er die Einsamkeit seiner heimischen Wälder. Als einziger schien Rohan einen nachempfindbaren Grund zu haben in den Krieg gegen Osos zu ziehen und obwohl er damit Azuls Motiven ziemlich Nahe kam, war die Verbindungen ausgerechnet zwischen ihnen beiden am schwächsten.
Es dauerte drei Tage bis sie sich aufeinander abgestimmt hatten. Am vierten Tag versuchten sie sich erstmals an der eigentlichen Aufgabe. Azul hatte fälschlicherweise angenommen, dass ihre Streitmacht ausschließlich aus Utchas bestand. Die Herausforderung mit seiner begrenzten militärischen Ausbildung zehntausende Kämpfer zu organisieren schien schon gewaltig, aber jetzt mit der Vielfalt der einzelnen Truppen wurde es fast unmöglich. Sichtlich verunsichert erklärte Wolkan ihm die einzelnen Truppenteile. Neben den Utchas, welche gezüchtete Kreaturen der einzig wahren Gottheit waren, verfügten sie unter anderem über verschiedene Arten von Riesen. Geschöpfe, die selbst das größte Exemplar von Mensch mindestens um das dreifache übertrafen und das nicht nur in der Höhe. Der gewaltige Anblick einer ganzen Schar von Steinriesen ließ Azul ehrfurchtsvoll erschauern. Sie verdankten ihren Namen aus den friedlichen Zeiten von Askalan, in denen sie vorzugsweise in Steinbrüchen eingesetzt wurden, die das Rohmaterial für einst prächtige Bauten lieferten. Ihr eher sanftes Wesen machte sie trotz ihrer imposanten Erscheinung untauglich für den Fronteinsatz und so lagen ihre Qualitäten hauptsächlich in der Nachschubversorgung. Ihre Verwandten waren die Eisriesen, die nicht ganz so imposant in der Statur wirkten. Ihre Haut war deutlich heller und das Haar überwiegend schlohweiß. Die stechenden schwarzen Augen ließen auf keine so sanfte Natur schließen wie bei ihren größeren Artgenossen. Wolkan hatte Azul nach der Höhe ihrer Mauern auf Osos befragt. Ein Einsatzgebiet, dass für die Eisriesen sicherlich Priorität hatte.
Weiter ging es mit einer menschenähnlichen Spezies, die sich Vikiner nannte. Für Azul waren das wilde Barbaren, die unkontrollierbar schienen. "Gehe nie in ihren Kopf" war die einvernehmliche Warnung. Sicherlich eine der größten Herausforderungen in der Koordination ihrer Truppen das aggressive Gemüt in die richtigen Bahnen zu lenken. Das Warten auf den Abmarsch und die einhergehende Ungeduld sorgten gerade bei diesen scheinbar unkontrollierbaren Wilden für permanente Spannungen im riesigen Feldlager und es gab sogar schon Verletzte auf Grund spontaner Wutausbrüche der Vikiner. Nur die Aussicht auf Brandschatzungen in einem Land voller Überfluss beruhigte die Vikiner, aber ewig würde die Ruhe vermutlich nicht halten.
Die ungewöhnlichste Truppengattung waren mit Sicherheit die Greife. In keiner der zahlreichen Schlachten in Oso's Historie gab es einen Angriff, der über die Luft ausgeführt wurde. Die Greife und auch der Drachen, den sie sich unterworfen hatten, würden für viel Ratlosigkeit bei ihren Verteidigern sorgen. Als Azul die majestätischen Vögel zum ersten Mal in voller Pracht bewundern konnte, kamen ihm die Erinnerungen aus Spuuun in den Sinn. Er erinnerte sich an die funkelnden Augen in der Höhle, die er fälschlicherweise zuerst als Insekten abtat. Wäre ihm damals bewusst gewesen, welche Ausmaße der Vogel besaß, er wäre vermutlich schreiend und ängstlich die Klippen hinabgeklettert und hätte sich für immer an Bord der "Kibely" verkrochen. Dieser Azul existierte zum Glück nicht mehr. Unterwürfige Angst gehörten der Vergangenheit an. Die Gemeinschaft gab ihm das Gefühl der Unbesiegbarkeit. Heute war er nicht mehr Beute dieser fliegenden Kreaturen. Er war ihr Beherrscher.
Azuls wesentliche Aufgabe bestand darin Informationen über ihren potentiellen Feind zu liefern. Mit wie vielen Gegnern mussten sie rechnen? Wie dick und hoch waren ihre Befestigungsmauern? Welche Möglichkeiten zur Verteidigung waren vorhanden? Nicht ein einziges Mal kam das Gefühl des Verrats über ihn. Es war die natürlichste Sache der Welt seine in der Ausbildung erlernten Fähigkeiten am Schwert an die Utchas weiterzugeben, so dass sie sich auf die Kämpfer einstellen konnten. Ohne Gewissensbisse erzählte er Wolkan von den berittenen Einheiten, die in jeder Schlacht für große Verluste bei ihren Gegnern sorgten. Jedes Detail schien wichtig und auch wenn Azuls taktische Kenntnisse unzureichend waren, saugte Wolkan jede Information in sich auf und ersann Strategien für alle mögliche Szenarien. Der Ehrgeiz mit der er sich der Aufgabe widmete beeindruckte Azul, aber eines Tages war von diesem unbändigen Ehrgeiz nichts mehr zu spüren. Wie eine Kerze, die durch einen unerwarteten Windstoß erlosch, war ihr gemeinsames Bewusstsein plötzlich einer wichtigen Konstante beraubt worden.
"Was ist passiert?" fragte Legan geschockt, als sie auf der Plattform in ihre physische Existenz zurückkehrten. Wolkan tat sich schwer mit Worten und blieb vorerst schweigsam.
"Erkennst du es nicht?" fiel Niska ein. Legan kannte die Antwort, verdrängte aber die unangenehme Wahrheit. Es war jedem bewusst, dass all die Vorteile, die sie gegenüber ihrem Gegner besaßen von einem einzigen Nachteil für nutzlos erklärt wurden. Die fünffache Überlegenheit an Kämpfern, ihre Luftwaffe, selbst die Tatsache, dass niemand auf Osos wusste, was sich da anschickte mit Hilfe von Magie Tod und Verderben über den Kontinent herzufallen, konnte ihre größte Schwäche nicht ausgleichen. Was nutzte es Kindern die mächtigste Armee der Welt zu übergeben, wenn ihnen die Weisheit fehlte sie gewinnbringend einzusetzen. Wolkan war intelligent genug nach Abwägung aller Tatsachen einzusehen, dass die militärische Erfahrung über Sieg oder Niederlage entscheiden würde. Ein Aspekt, bei dem sie eindeutig im Nachteil waren.
"Jahre wären nötig, um halbwegs die taktische Ausbildung unserer Feinde zu erreichen." erklärte Wolkan die Erkenntnis beim gemeinsamen Abendmahl gegenüber Olmot. Das Schweigen seiner Kameraden zeugte von Zustimmung.
"Wir haben aber keine Jahre. In wenigen Wochen wird die Unternehmung starten." Olmot klang eher amüsiert als verärgert.
"Dann ist sie zum Scheitern verurteilt." kam es jetzt kleinlaut von Niska. Olmot blieb unbeeindruckt und fuhr mit dem Essen fort.
"Ihr versteht den Ernst der Lage nicht." Wolkan klang jetzt verärgert, was ziemlich absurd erschien, denn es sollte eigentlich genau umgekehrt sein.
"Ohje. Demut und Zweifel zwingen euch die Dinge aus einer anderen Sicht zu sehen. Sie ändern aber nichts am eigentlichen Ablauf der Ereignisse." antwortete Olmot herablassend.
"Du verdammter Knabenliebhaber. Wir sind nicht bereit in den Krieg zu ziehen. Nicht in ein paar Wochen, nicht in ein paar Jahren. Vielleicht werden wir es niemals sein. Solltest du uns zwingen in die Schlacht zu ziehen, wird das in einem Blutbad für uns alle enden." schnaubte Legan vor Wut.
"Kommt zu später Stunde in die Bibliothek und bringt die Stäbe des Werekas mit. Euer Feuer für die Sache scheint mir erloschen. Ich versichere euch, dass genau das beabsichtigt war. Die Erkenntnis eurer Fehlbarkeit war notwendig. Auf Basis dieser Demut werde ich die Flamme neu entzünden. Heißer und intensiver als je zuvor." Damit beendete Olmot die Diskussionen, obwohl in den Gesichtern aller Anwesenden noch jede Menge Gesprächsbedarf zu erkennen war.
Die Hälfte der Nacht war bereits vorüber, als sich die fünf Auserwählten an der Treppe trafen um gemeinsam die schmalen Stufen zur Bibliothek hinabzusteigen. Das spärliche Licht der Kerzen machte den Abstieg zur Herausforderung und steigerte die Anspannung. Noch nie hatte sie Olmot zu dieser Stunde in sein Reich aus unzähliger Literatur gebeten. Legan machte seine üblichen Witze, die er geschickt in Geschichten über feminine Knaben einbaute, die sich seiner Meinung nach nackt in den feinsten Betttüchern räkelten und heroischen Ansprachen lauschten. Gepaart mit wilden Spekulationen über das Geschlechtsteil von Olmot ließ er seiner Kreativität freien Lauf. Den ganzen Weg hinab beglückte er die Gruppe mit dem Thema und schaffte es tatsächlich die Anspannung etwas zu lösen. Flackerndes Licht empfing sie, als sie die Ebene betraten. Knisternd barst das Holz in dem großen Kamin, der wohlige Wärme spendete. Wieder war Azul beeindruckt von den tausenden bis zur Decke gestapelten Büchern, die jetzt im Halbdunkel des Kaminlichts etwas Mystisches an sich hatten.
"Wo ist er?" fragte Niska. Tatsächlich wurden sie von Niemanden empfangen.
"In seinem geheimen Schlafzimmer, in dem solche wie du keinen Zutritt haben." Legan machte da weiter, wo er auf der Treppe aufgehört hatte.
"Da." entfuhr es Rohan. Er zeigte auf eine Gestalt, die im Torbogen zum Durchgang nach draußen stand.
"Huuuu... Gespenstischer Auftritt." frotzelte Legan.
"Halt die Klappe." zischte Azul. Er wusste sofort mit wem er es zu tun hatte. Auch wenn die Person in Aussehen und Gestalt Olmot bis ins kleinste Detail glich, erkannte er die optische Täuschung auf Anhieb.
"Er ist es." Azuls Stimme zitterte leicht. Langsam bewegte sich der falsche Olmot auf sie zu. Er schien fast zu schweben.
"Die fünf sind wieder vereint." erklang Olmots Stimme in einem feierlichen Tonfall.
"Noch so einer, der..." Legan spürte Niskas Ellenbogen in seinen Rippen.
"Die Verkörperung meines Wesens findet sich in diesen Waffen wieder." Azul bekam den Eindruck, dass die Gottheit mehr zu sich selbst sprach und alle Anwesenden ignorierte. Olmots Kopie schwebte auf Legan zu und legte die Hand auf den Kampfstab.
"Mut und Eroberungswille." sprach er und brachte die Waffe in Legans Hand zum vibrieren. Die Überraschung darüber verhinderte den üblichen Spott von Legan. Die Gottheit begab sich zu Wolkan.
"Intelligenz und Ehrgeiz." Jetzt vibrierte auch Wolkans Kampfstab.
"Loyalität und Gerechtigkeit." Er stand nun vor Azul und schwebte einen Augenblick später weiter zu Niska.
"Anmut und List." Zum ersten Mal hob Olmot seinen Kopf und begutachtete die Stabträgerin. Er sah ihr tief in die Augen, so als prüfe er die eben gesprochenen Worte auf ihren Wahrheitsgehalt. Eine gefühlte Ewigkeit durchbohrte er Niska und wandte sich dann Rohan zu.
"Hass und Vernichtung." Die Worte kamen so ehrfurchtsvoll daher, als würde er ihnen eine größere Bedeutung zukommen lassen wollen.
"Vereint." brüllte er und ein blauer Strahl schoss aus der Decke der Bibliothek und prallte auf den Boden vor ihnen. Fasziniert starrte Azul auf den Wasserfall aus Licht, der sich vor ihnen auftat. Noch nie hatte er etwas Vergleichbares gesehen und obwohl ihn der Anblick in eine Art Euphorie versetzte, spürte er auch die Gefahr, die knisternd an die umgebende Luft abgegeben wurde. Winzige Teilchen entzogen sich dem Strom nach unten und kreuzten innerhalb der Lichtfluten chaotisch durcheinander.
"Es ist wunderschön." hörte er Niska neben sich flüstern. Vorsichtig schob sie die Spitze ihres Kampfstabes in das blaue Licht. Die Energie bahnte sich langsam ihren Weg entlang des glatten Holzes und erreichte Niskas rechte Hand.
"Du bist verrückt." hörte sie Legan, als erste kleine Blitze um ihre Hand zuckten.
"Keine Angst. Es gibt keinen Schmerz." sagte sie sanft. Legan tat es ihr nun gleich und als auch ihn die blaue Energie kitzelte, lächelte er zufrieden.
"Als wenn dich eine Frau zärtlich streichelt." ermutigte er die anderen es ihm gleich zu tun. Alle bis auf Rohan waren kurze Zeit später ein Teil dieser energetischen Verbindung.
"Komm schon. Du wirst es nicht bereuen." forderte ihn Legan auf. Zögerlich hob Rohan seine Waffe. Als die Spitze in das Blau eintauchte, veränderte sich die Farbe in gleißendes Weiß. Das Knistern wirkte jetzt bedrohlich. Ein Vorbote kommenden Unheils und als Azul versuchte seinen Kampfstab aus dem blendenden Licht zu entfernen, war es bereits zu spät. Sein Kopf drohte zu explodieren als ein gigantischer Blitz in seine Stirn einschlug. Er wollte schreien, aber kein einziger Laut verließ seine Kehle. Unmengen von Bildern fluteten seinen Verstand. Schlachten aus längst vergangenen Zeiten wurden zu Eindrücken, die sich scheinbar erst gestern zugetragen hatten. Das Klirren von Schwertern fühlte sich in diesen fremden Erinnerungen ebenso real an, wie die Erregung, die einem bei bevorstehenden Kämpfen überkommt. Blut, Tod und Verwesung waren die Grundfeiler dieser ungewollten Rückblende und neben dem Gefühl des Versagens spürte er die Genugtuung über die Angst seiner Gegner. Was immer auch gerade seinen Geist enterte, schickte sich an ihn zu überlasten. Er spürte das Blut aus seiner Nase sickerte.
"Aufhören." kam es von Wolkan zu seiner Linken. Auch ihn schien die fremden Gedanken zu überrollen, aber das bekam Azul nur am Rande mit. Seine eigene Welt schien jetzt so unsagbar weit weg. Gefangen in der Vergangenheit sah er Tote sich erheben, die auf eine Stadt zuwankten, die ihm so vertraut vorkam, als hätte er sein ganzes Leben dort verbracht. Es fiel ihm zunehmend schwerer die eindringenden Bilder, als fremde Invasoren einzuordnen. Die Erfahrungen, die Erinnerungen, alles das, was Azul die letzten Jahre geformt und ihn zu dem Charakter reifen ließ, der beschloss sich dieser einzig wahren Gottheit anzuschließen, drohte jetzt unter der Last der aufgezwungenen Eindrücke zu ersticken. Er musste sich wehren, wenn er nicht vollkommen untergehen wollte. Tausende Tote marschierten jetzt in seinem Kopf auf diese Stadt zu und drohten alles Lebendige zu ihresgleichen zu machen. Immer mehr prasselte auf ihn ein und dann plötzlich sah er sich in dieser Schreibstube in Saetung. Ein Hilfeschrei seines Verstandes schaffte es diese eigene Erinnerung durch das Chaos der Neuankömmlinge zu schicken. Ein Gedanke aus einer anderen Welt, die ihm so furchtbar fremd geworden war. Eine Demütigung, die der Ausbildung zum Knappen der Königsgarde als herabwürdigende Registrierung vorangestellt wurde. Dieser arrogante Schreiberling stellte ihm damals eine Frage nach der anderen und kritzelte Azuls schüchterne Antworten mit Tinte auf ein Blatt Papier. Nachdem er alle Herablassung dieser Welt überstanden hatte, rollte dieser trollähnliche Beamte sein persönliches Zeugnis zusammen und stand nun unschlüssig vor seinen unzähligen Regalen, die gefüllt mit anderen gerolltem Papier jeden einzelnen Rekruten in eine für den Laien unverständliche Kategorie unterteilte. Es war ihm unmöglich den Bauernsohn in eines der vorhandenen Regale einzuordnen, so bekam Azul das zweifelhafte Privileg zugesprochen, der Erste einer neuen Kategorie zu werden. Der Anfang einer langen Kette von Ereignissen, die ihm aufzeigen sollten, dass er so vollkommen anders wahrgenommen wurde, als all die anderen Menschen, die er in den kommenden Monaten begegnen sollte. Aber das Außenseiterdasein war hier nicht die eigentliche Botschaft seines überlasteten Geistes. Das leere Regal drängte sich in den Vordergrund und nun endlich erkannte Azul den eigentlichen Hilferuf. Was er brauchte, war eine eigene Einteilung dieser invasiven Erinnerungen, also griff er sich alles, was da seinen Verstand flutete, rollte es zusammen zu einer Papierrolle und schob es in einen Bereich seiner mentalen Bibliothek, der bisher vollkommen ungenutzt blieb. Obwohl der Strom von fremden Eindrücken nicht abriss, schaffte er beruhigende Ordnung, indem er Papierrolle um Papierrolle in das neu geschaffene Archiv stapelte. Wer hätte damals gedacht, dass dieser Troll von einem Beamten mit seinem erhabenen Getue ihn eines Tages vor dem Wahnsinn bewahren würde.
Es war unmöglich einzuordnen, wie lange die Blitze ihren Verstand quälten. Sekunden oder Stunden. Jeder fühlte sich, als hätte er ein ganzes Leben gelebt. Als endlich das Martyrium endete, sanken alle erschöpft auf die Knie. Eine Demutshaltung, die dem falschen Olmot gelegen kam.
"Waskur ist nun ein Teil von euch. Nutzt sein Wissen und seine Erfahrung. Vermeidet seine Fehler und seine Überheblichkeit, dann werden am Ende Erfolg und Triumph stehen. Die Welt wird unsere sein." Die Gestalt begab sich zu dem Durchgang nach draußen.
"Wartet." rief ihm Azul hinterher. Der falsche Olmot blieb stehen, gönnte Azul aber nicht die volle Aufmerksamkeit, da er ihm weiterhin den Rücken zukehrte.
"Zeigt Eure wahre Gestalt. Nur ein einziges Mal." forderte Azul ihn ungewohnt selbstsicher auf. Ein paar Momente vergingen, dann setzte die Gottheit ihren Weg auf den Balkon fort ohne ein weiteres Wort zu verschwenden.
Azul schaute sich um. Alle hatten mit den Nachwirkungen der gedanklichen Penetration zu kämpfen. Neben der geistigen Erschöpfung waren auch körperliche Wunden zu erkennen. Blut kam aus Nase, Ohren und Augen. Er wischte sich über die eigene Nase und spürte den roten Lebenssaft.
"Verdammt noch mal. Was war denn das?" schimpfte Legan. Er litt unter Kopfschmerzen.
"Nun solltet ihr gewappnet sein für die kommenden Ereignisse." Olmot stand am Treppeneingang und amüsierte sich über das Elend der fünf.
"Ich nehme mal an, wir haben wieder den wahren Olmot vor uns. Das herablassende und selbstverliebte Original." versuchte sich Legat im üblichen Spott.
"Die Gottheit hat meine Form gewählt? Welche eine Ehre." Olmot schien sichtlich beeindruckt.
"Was ist passiert?" fragte Wolkan müde.
"Ihr habt das bekommen, was euch eurer Meinung nach fehlte. Erfahrung. Vor hundert Jahren zog Waskur in den Krieg. Askalan war sein Schlachtfeld. Nutzt dieses Wissen für den Erfolg." erklärte Olmot.
"Am Ende hat er verloren." warf Niska ein.
"Ein bedauerliches Manko. Es gab keinerlei Gewinner in diesem Krieg. Lernt aus seinem Scheitern."
"Seine Erinnerungen sind verschwommen. Ich weiß, dass sie da sind, aber sie sind nicht wirklich greifbar." Azul klang verwirrt.
"Was auch gut so ist. Ihr würdet dem Wahnsinn verfallen. Seht es als eine Art Stütze. Ein Instinkt. Eine Eingebung, die euch immer dann hilft, wenn ihr an eure Grenzen stoßt. Ihr werdet morgen bei euren Übungen den Geist von Waskur spüren." Olmot klang jetzt euphorisch.
"Und nun geht schlafen." Eine wenig freundlich bemühte Aufforderung sein Reich aus Büchern zu verlassen.
Azuls Nacht war unruhig. Krampfhaft bemühte er sich die Bilder ins Gedächtnis zu rufen, die ihn wenige Stunden vorher so überfallen hatten. Nichts. Es war beunruhigend zu wissen, dass dieser Fremde in seinem Geist hauste und irgendwo in den entlegenen Stellen seines Verstandes sein Unwesen trieb. Würde er ihn kontrollieren können, wenn er beschloss an die Oberfläche zu kommen? War es überhaupt möglich ihm irgendetwas entgegenzusetzen? Seine Gedanken gehörtem ihm. Waren es überhaupt noch seine Gedanken oder wirkte schon der Einfluss von Waskur? Spätestens jetzt war jeglicher Schlaf unmöglich und dementsprechend übermüdet erschien er am nächsten Morgen auf der Plattform.
Ein Blick in die Gesichter seiner Kameraden verriet ihm, dass sie eine ähnlich unruhige Nacht hinter sich hatten wie er. Niska begrüßte ihn wortkarg. Legan war unfähig seinen üblichen Spott anzubringen und Wolkan wirkte unkonzentriert. Einzig und allein Rohan schienen die Ereignisse in der Bibliothek wenig anzuhaben. Dieser Eindruck wurde verstärkt, nachdem sie in ihr gemeinsames Bewusstsein eintauchten. Es schien fast so, als wäre Rohan um ein fehlendes Teil von sich selbst ergänzt worden.
Wolkan veränderte vieles an ihrem bisherigen Vorgehen, aber das wesentliche war die neue Einteilung der Aufgaben. Jeder bekam jetzt präzise Vorgaben. Azul war einzig und allein für die Aufklärung zuständig. Jede noch so kleine Entwicklung meldete er an Wolkan und dies dank der gemeinsamen Bewusstseinsebene in einer Geschwindigkeit und in einer Präzision, die kein Bote jemals in Worte fassen konnte. Wolkan blieb der Koordinator. Er saugte förmlich jede Information auf und gab die notwendigen Anweisungen raus. Gegenüber den bisherigen Diskussionen, die jedes mal über das weitere Vorgehen innerhalb der Gruppe herrschten, machte diese alleinige Verantwortung ihr Vorgehen unheimlich effektiv. Rohan wurde als Frontkoordinator eingeteilt und setzte die Befehle in vorderster Reihe um. Legan verantwortete die Nachhut und den Nachschub, während Niska die Truppen außerhalb der Kampflinie betreute. Diese klare Unterteilung der Zuständigkeiten wurde als enormer Vorteil gegenüber der demokratieähnlichen Abstimmung gesehen und besonders Wolkan ging in seiner neuen absoluten Führungsrolle vollkommen auf.
Die zweite wesentliche Veränderung in ihrem Denken bestand in der taktischen Betrachtung der Gegebenheiten. Mauern, Flüsse Truppengattung. Alles hatte jetzt mehr als eine Bedeutung. So war ein besetzter Hügel nun nicht nur ein Hindernis, was das Vorankommen ihrer eigenen Truppen behindern konnte. Mit dem Einfluss von Waskur entpuppte sich der Hügel jetzt als taktische Gelegenheit mit vielen Varianten. Je nach Umgebungsbedingungen konnte so ein Hindernis gestürmt, ignoriert oder eingekreist werden. Es war unglaublich, welche Sichtweisen ihnen der neue Gast bot und wie leicht Wolkan das Verständnis für die neu dargebotenen Alternativen fiel. Vor den Begebenheiten in der Bibliothek schien es nur schwarz oder weiß zu geben. Der Regenbogen dazwischen, mit all seinen Nuancen an Farben, blieb ihnen bisher im Nebel der Unerfahrenheit verborgen. Nach drei Wochen intensivem Manöver hatten sie ihre Truppen auf eine Ebene der taktischen Disziplin gebracht, die sie ohne Waskurs Einfluss vermutlich nie erreicht hätten. Die Abstimmung passte und selbst die Vikiner, die sich als regelmäßige Störung ihrer Abläufe entpuppten, waren jetzt ein nützlicher Teil ihrer Armee. Das Schwert des Krieges war geschmiedet und im Gegensatz zu den früheren kläglichen Versuchen war es dieses Mal scharf.
Sie waren bereit für den Krieg und dementsprechend zufrieden lud sie Olmot eines Abends erneut in seine Bibliothek ein.
"Die Vorbereitungen sind abgeschlossen. Morgen begibt sich die Flotte Richtung Osos." verkündete Olmot feierlich.
"Gut." sagte Wolkan nüchtern und beendete mit einem Wort Olmots selbstzufriedene Stimmung bevor sie richtig erblühen konnte. Er entrollte eine große Karte von Osos auf dem Eichentisch.
"Ich werde wohl nie etwas Feierstimmung in diesen Räumen verbreiten können." seufzte Olmot.
"Feiern steht am Ende des Krieges. Nicht am Anfang." entgegnete Wolkan trocken und studierte die Karte.
"Die Stadt Dreiwasser sollte euer erstes Ziel werden." schlug Olmot vor und zeigte auf den Punkt an der Küste.
"Verlockend." bestätigte Wolkan zweifelnd.
"Trotzdem ist sie nicht Eure erste Wahl. Darf ich fragen warum?" Olmot klang interessiert.
"Wir können sie nur von der Meerseite attackieren. Alles was eure Spione berichten, ist sie stark befestigt. Sie würden einen großen Teil unserer Flotte zerschießen, bevor der erste Utcha auch nur einen Fuß an Land setzt. Außerdem wollen wir schnell ins Landesinnere vordringen. Der einsame Berg verhindert das schnelle Bewegen größerer Truppenverbände." erklärte Wolkan.
"Macht Euch um die Gegenwehr keine Gedanken, aber ein schneller Vormarsch ist tatsächlich unmöglich." Olmots Finger fuhr die Küstenlinie entlang.
"Dann landet ihr nördlich von Dreiwasser. Dieser breite Strand scheint ideal." schlug er vor.
"Was meinst du mit "keine Sorge um die Gegenwehr." Gibt es da etwas, was wir wissen müssen?"
"Sagen wir so. Die Dinge laufen in die richtige Richtung, aber sie sind noch nicht abgeschlossen. Das galatische Königsgeschlecht hat noch nicht die Konstellation, die wir benötigen." erklärte Olmot geheimnisvoll.
"Verbündete?" fragte Azul.
"Vasallen." Olmot lächelte weise.
"Gut. Dann starten wir an diesem Strand unsere Invasion und rücken schnellstmöglich nach Saetung vor, wo wir dann auf unsere Vasallen treffen. Ich hoffe sie können ein Heer unserer Größe versorgen."
"Wenn nicht greifen wir auf die gute alte Plünderung zurück." warf Rohan ein.
"Das ist die richtige Einstellung." Olmot klang erheitert. Sie studierten noch ein paar alternative Strategien, als Olmot unverhofft in Anspannung verfiel.
"Er ist hier." hauchte er ehrfurchtsvoll. Die angeregten Diskussionen verstummten und die beklemmende Stille war der ideale Vorbote eines großen Ereignisses.
"Wo?" flüsterte Niska kaum hörbar. Olmot bewegte sich auf den Durchgang nach draußen zu und fiel unverhofft auf die Knie.
"Eure Gottheit." kam es ehrerbietig. Trotz aller Anstrengung konnten die fünf dieses Mal niemanden ausmachen.
"Ähem..." Legan setzte zu seinem üblichen Spott an, als ein Schatten schnell über die Bücherwand glitt.
"Bei den Göttern." entfuhr es Niska. Obwohl niemand wusste wo der Schatten abgeblieben war, spürten sie die übernatürliche Präsenz.
"Verzeiht ihr Verhalten. Sie wissen es noch nicht besser." erklärte sich Olmot scheinbar einem Unsichtbaren.
"Auf die Knie." zischte er barsch in Richtung Azul. Einer nach dem anderen sank auf die Knie. Der Schatten huschte dieses Mal über das gegenüberliegende Bücherregal.
"Euer Gott offenbart sich euch nun in seiner ursprünglichen Form." Olmot erhob seine Stimme. Angst breitete sich in der Bibliothek aus. Demütig wurden die Köpfe gesenkt.
"Erhebt eure Blicke." befahl Olmot. Alles in Azul weigerte sich dem Befehl folge zu leisten. Woher kam nur diese verdammte Angst? Sein Leben war nicht in Gefahr und es sollte ihm doch eine Ehre sein, vor der Gottheit zu knien und ihr wahres Antlitz zu erblicken. Trotzdem zitterte er am ganzen Leib und wagte es nicht seinen Kopf zu erheben.
"Tut es." kam es jetzt fordernd von Olmot.
Mit aller Willenskraft tat Azul wie ihm geheißen wurde. Für seine Augen offenbarte sich vor ihm nur ein unbedeutender schwarzer Rauch, der ohne Feuer sicherlich beeindruckend wirkte, aber für gewöhnlich wenig Angst einflößend daherkam. Doch der harmlose Anblick täuschte, denn alle seine Instinkte waren in Habacht. Die Art, wie dieser schwarze Schleier knapp über dem glatten Steinboden der Bibliothek schwebte, wirkte unnatürlich. Als würden unsichtbare Hände versuchen diesem Gebilde eine Form zu geben, ohne zu wissen welche Kontur am Ende die geeignete wäre. Furcht ergriff Azul. Eine Furcht, die nicht um sein Leben bangte. Was ihn hier überkam, war die Angst vor der Zukunft. Seine Vision von einem besseren und gerechten Osos wurde heftig erschüttert. Zum ersten Mal überkamen ihm Zweifel hinsichtlich der Absichten ihres Feldzuges. Hier ging es nicht um edle Motive wie Gerechtigkeit. Auch nicht Ruhm, Reichtum oder Herrschaft taugten als Rechtfertigung für den bevorstehenden Krieg. Welches Wesen sich ihnen in dieser Bibliothek auch zeigte, es offenbarte mehr als seine ursprüngliche Form. Diese Gottheit machte keinen Hehl aus seinen wahren Zielen. Diese Wellen aus Hass, die mit jedem neuen Versuch einer Formfindung gegen die Bücher brandeten, ließen nur einen Schluss zu. Die Vernichtung aller menschlichen Wesen. Welche Wunden die Menschheit dieser Kreatur auch zugefügt haben mag, die Auslöschung schien die einzig verbliebene Option auf Rache. Wie sollten sich Feinde einer solchen Kraft erwehren? Für Schwerter gab es Schilde, für Feuer gab es Wasser, aber hier schien der menschliche Überlebenswillen an seinen Meister zu geraten.
"Warum? Was haben wir dir angetan, dass wir diesen Hass verdienen?" Niska hatte Tränen in den Augen.
"Schweig." zischte Olmot. Jetzt wurde Azul der wahre Grund dieses Auftritts bewusst. Der Feldherr besuchte am Vorabend der Schlacht nicht seine Untertanen, um die Motivation oder den Kampfeswillen zu stärken. Diese selbsternannte Gottheit sicherte sich ihre Loyalität mit Angst. Folgt mir und ihr werdet mit der Gnade meines Anspruches als einer der wenigen überleben oder stellt euch gegen mich und ihr werdet im Feuersturm mit dem Rest eurer Spezies untergehen. Diese unausgesprochene Warnung war die eigentliche Botschaft in diesem Raum voller Bücher. Die Zweifel an der Ausrottung ihrer eigenen Art aktiv mit zu wirken, würden Azul und die anderen zweifelsohne irgendwann überkommen. Hier und jetzt wurde ihnen aufgezeigt, dass das Ende bereits geschrieben steht. Was immer auch sie dazu antrieb den Verlockungen des Krieges zu folgen, sie wurden alle betrogen.
Ein Stein von den Ausmaßen eines Rinderkopfes flog über ihre Köpfe hinweg und das splitternde Holz zeugte von dem verheerenden Schaden, den das Geschoß anrichtete. Der Hauptmast stand zwar noch, aber Jessica zweifelte, dass er großen Windböen jemals wieder trotzen würde. Sie zog den Kopf ein. Ein natürlicher, aber unnützer Reflex. Wichtig war es das Schiff außer Reichweite zu bringen, bevor die Steine jede einzelne Planke in Brennholz verwandelten. Kurze knappe Befehle flogen über das Deck und rissen die Mannschaft aus der Schockstarre. Sie vernahm ein paar unflätige Worte des Kapitäns, der seine Hurensöhne dazu antrieb lieber in einem Bordell zu sterben, als hier vor der Küste von Osos zu ertrinken. Mit Erfolg, denn sie drehten das Schiff in den Wind und entkamen damit vorerst dem Bombardement.
"Was passiert hier?" fragte Jessica, nachdem sich die Lage etwas beruhigt hatte.
"Erste Vorboten des nahenden Krieges." erklärte von Tranje fast nichtssagend. Jessicas fragendes Gesicht zwang ihn zu weiteren Erklärungen.
"Wie bereits vermutet sitzt der Feind auch in unseren eigenen Reihen, eure Hoheit."
"Verrat? Niemals. Der König würde es nicht zulassen, dass sein Flaggschiff versenkt wird." Jessica wirkte entschlossen.
"Da habt Ihr wohl Recht." antwortete von Tranje gedrückt. Erst jetzt wurde ihr das Ausmaß der Erkenntnis bewusst. Wer immer jetzt auch die Befehlsgewalt in Galatien hatte, er war der Nachfolger ihres Vaters, dessen Schicksal nur eine traurige Gewissheit zuließ.
"Nein." Tränen schossen ihr in die Augen.
"Es tut mir leid." drückte von Tranje sein Beileid aus. Polpers erschien an seiner Seite und räusperte sich.
"Sprecht." Jessica riss sich zusammen.
"Wir sind manövrierunfähig. Mit den letzten Treffern hat es unser Ruder erwischt. Wir sinken zwar nicht, haben aber verschiedene Lecks. Wir können sie notdürftig abdichten. Zeit bleibt uns trotzdem nicht viel, denn der Wellengang wird zunehmend rauer. Wir müssen das Schiff aufgeben." Polpers klang verärgert.
"Sie werden uns nicht an Land lassen." schlussfolgerte von Tranje.
"Wir haben keine Wahl." beharrte Polpers. Tatsächlich verhinderte der Nebelberg mit seinen steilen Klippen das Anlegen mit Booten außerhalb Dreiwassers.
"Gehen wir unsere Optionen mit kühlem Kopf durch. Der oberste Hüter der Stadt ist Krajan von Hantrup. Er ist ebenso integer wie gerissen. Ein Meister in taktischer Militärführung. Der Angriff war viel zu dilettantisch vorgetragen, also vermutlich nicht sein Werk." von Tranje grübelte.
"Ihr meint, dass er nicht mehr Hüter der Stadt ist."
"Unter seinem Befehl wären wir schon längst versenkt."
"Dann hat er sich seinem neuen Herrn verweigert." schlussfolgerte Jessica.
"Davon können wir ausgehen. Er genießt sehr hohes Ansehen in der Stadt. Wer immer jetzt auch die Befehlsgewalt besitzt, die Verteidiger stehen vermutlich nicht uneingeschränkt hinter ihm." schlussfolgerte von Tranje.
"Das ist ja alles sehr erhellend, aber die "Stolz von Galatien" wird den Abend nicht erleben. Jedenfalls nicht über der Wasseroberfläche." drängelte Polpers.
"Wir ergeben uns. Bereitet das Ritual vor." befahl von Tranje, der das verblüffte Gesicht von Polpers ignorierte. Der Kapitän hatte schon das ein oder anderen Piratenschiff aufgebracht. Jedes Mal wenn die Lage der Freibeuter ausweglos erschien, hissten sie die berüchtigte Piratenflagge, wobei sie in diesem Fall auf dem Kopf stand. Dann setzten sie ihren Kapitän in ein Beiboot und unter dunklen Rauchschwaden, meist wurde Schweröl entzündet, ruderte er seinen Bezwingern entgegen, die nun verpflichtet waren die Bedingungen seiner Kapitulation anzuhören. Ganz Osos unterwarf sich diesen nirgendwo niedergeschriebenen Regeln. Das Schicksal hatte Polpers nun auf diese Seite des oft erlebten Rituals gezwungen.
"Ich bin kein Pirat." protestierte er.
"Für wahr. Ihr werdet auch nicht derjenige sein, der in Verhandlung tritt." von Tranjes Blick fiel auf Jessica.
"Leider stellt sich Eure Herkunft als erneute Bürde da." sagte von Tranje sanft.
"Ich besteige dieses Boot?" fragte sie zweifelnd.
"Ihr seid die rechtmäßige Thronfolgerin, eure Hoheit."
"Genau dies ist der Grund, warum man mir nach dem Leben trachtet. Sobald ich dort an Land gehe, erlischt der Führungsanspruch der herrschenden Macht. Glaubt Ihr wirklich sie wird das einfach so hinnehmen? Wie viele Bogenschützen erwarten mich dort? Tausend? Wer garantiert Euch, dass alle dieses Ritual akzeptieren und die Befehle des neuen Hüters ignorieren?" Pure Angst machte sich in Jessica breit.
"Ich kann es Euch nicht garantieren, aber ich kenne die Herzen der Soldaten Galatiens. Sobald sie Euch erkennen, werden sie die Bogen senken. Vertraut eurem eigenem Volk." von Tranjes Worte klangen beruhigend.
"Wenn sie auf mich schießen, bin ich es auch nicht wert ihre Königin zu sein." machte sie sich selbst Mut.
"Ich werde dich begleiten." mischte sich Sasha ein.
"Das ist leider unmöglich. Diesen Weg muss ich alleine gehen." Jessica ignorierte die königlichen Zwänge und umarmte Sasha. Dieses Gefühl der Freundschaft gab ihr den nötigen Mut für die bevorstehenden Ereignisse. Auch wenn sie in wenigen Augenblicken von Pfeilen durchbohrt werden sollte, durch Sasha blieb am Ende mehr von ihrem eigentlichen Wesen erhalten, als es irgendwelche Chroniken in Zukunft wiedergeben konnten.
"Dreht die Flagge. Lasst das Beiboot zu Wasser." brüllte Polpers seine Anweisungen. Wenige Augenblicke später bestieg Jessica das Boot und entzündete das Öl. Dunkle Rauchschwaden stiegen empor und bevor sie zu den Rudern griff, atmete sie noch mal tief durch. Sie schloss die Augen und setzte sich in Bewegung.
Ihr Geist war überraschend ruhig. Er hatte sich wohl damit abgefunden, dass das Schicksal nicht mehr beeinflussbar war und konzentrierte sich vollends auf das Vorankommen. Schlag. Schlag. Atmen. Augen kurz öffnen. Schauen ob der Kurs stimmt. Augen schließen. Dann begann der Ablauf von vorne. Ihre Welt beschränkte sich auf diese einfachen Tätigkeiten. Sie spürte weder die Wellen, die gegen das Boot brandeten noch den zunehmenden Schmerz in ihren Armen. Selbst die abnehmende Entfernung ignorierte sie. Wichtig war nur der Ablauf. Hundertmal. Tausendmal. Zehntausendmal. Sie wusste nicht, wie oft sie Schläge, Atmung und Augen in perfekten Einklang brachte. Kein Sturm, kein Pfeil, selbst Jubelschreie hätten sie aus dieser Trance reißen können. Die perfekte Flucht aus der Realität aus drohendem Tod. Es gab nur noch diesen einen Gedanken in ihrem Verstand.
Ärger machte sich in ihr breit, als das rechte Ruder an der Hafenmauer zerbrach und damit die Heiligkeit des Ablaufs entweihte. Sie war angekommen, ohne auch nur registriert zu haben, dass sie sich dem Hafen überhaupt näherte. Verwirrt schaute sie sich um. Der Warenumschlagplatz am Hafen war komplett beräumt. Dort wo normalerweise Stände dicht an dicht standen und Händler und Kunden ihren Geschäften umtriebig nachgingen befand sich nur Leere. Ein unglaubliche Stille herrschte an diesem in der Regel überlaufenden Ort. Obwohl nicht eine Menschenseele zu sehen war, fühlte sie sich von tausend Augenpaaren beobachtet, die irgendwo in den Häusern verweilten. Es war Jessicas großer Auftritt, auf einer Bühne, dessen Zuschauer feige im Verborgenen hockten und ihr Schicksal schweigend beobachteten. Linkisch kroch sie aus dem Boot und die Schwielen an ihren Händen trugen zur nicht gerade sehr königlichen Haltung beim Verlassen bei. Längst musste sie in Reichweite der Bogenschützen sein, aber bisher hielten sich ihre potentiellen Vollstrecker noch zurück. Vorsichtig hob sie die geplagten Arme, um zu beteuern, dass keinerlei Gefahr von ihr ausging. Eine unnötige Schutzgeste, denn versteckte Waffen oder törichte Aktionen erwartete niemand. Wichtig war einzig und allein der Anspruch auf Dreiwasser und damit einhergehend auf ganz Galatien.
"Ich bin Jessica von Galatien. Rechtmäßige Thronfolgerin des Königreiches. Ich verlange den Bürgermeister und den Hüter der Stadt zu sprechen." Mit lauter Stimme durchbrach sie die gespenstische Stille an diesem Ort. Nichts. Keine Reaktion auf ihre Worte. Sie ging ein paar Schritte auf den leeren Marktplatz zu und dann passierte es. Ein Pfeil durchschnitt die Luft und bohrte sich in ihre linke Schulter. Der Schmerz war nebensächlich, denn die Angst vor unzähligen weiteren Pfeilen überdeckte jegliche Empfindung. Sie unterdrückte den Drang einfach ins Boot zurückzuspringen und davon zu rudern. Stattdessen ging sie mit ungeahntem Mut einen weiteren Schritt vorwärts. Wieder glitt ein Pfeil durch die Luft verfehlte sie aber deutlich. Mit störrischer Zuversicht ging sie weiter voran.
"Ich bin eure Königin." brüllte sie. War es Wut oder Angst, die sie jetzt beherrschten. Es war für Jessica unmöglich geworden zu unterscheiden. Als hätten sich beide zusammengetan um sie in den Wahnsinn zu treiben. Noch ein Pfeil und wieder ging er daneben. Trotzig ging sie weitere Schritte vorwärts. Sie befand sich nun im Zentrum des Platzes. Der perfekte Standort, um sie von allen Seiten zu erledigen. Eine königliche Strohpuppe, an der die Bogenschützen ihre Zielgenauigkeit verbessern konnten.
Es tat sich etwas im Hauseingang genau vor ihr. Ein Körper rollte die weißen Stufen der Eingangstreppe hinab. Blut färbte den edlen Stein vor dem Gebäude rot. Röchelnd gab der Unglückselige seine letzten Atemzüge von sich. Jessica erkannte das Abzeichen des obersten Hüters der Stadt. Er folgte also ihrer Aufforderung, aber offenbar steckte nicht mehr genug Leben in ihm für eine ordentliche Verhandlung. Endlich füllte sich der ganze Platz mit Menschen. Überall öffneten sich Türen und Unmengen von Bewohnern kamen ins Freie. Hafenarbeiter, Angestellte, Soldaten. Alle suchten sich eine freie Stelle um vor ihrer Königin mit gesenktem Haupt niederzuknien. Wieder herrschte Stille, aber dieses Mal hatte die Angst in ihr keine Chance. Das erhabene Gefühl des Stolzes durchflutete ihren Körper. Einen Stolz, der nicht nur auf ihrem Handeln beruhte. Ihr Volk stand hinter ihr.
Sie verstand nicht, was Gernot von Flake von sich gab. Zu aufgewühlt war ihr Geist, als dass sie sich auf seine Worte konzentrieren konnte. Der Bürgermeister kniete keine zwei Schritte entfernt von ihr und sein Tonfall hatte was Bedauerndes und Unterwürfiges an sich. Vermutlich spulte er eine ganze Reihe von diplomatischen Entschuldigungen ab, aber Jessica war nicht in der Lage in den höfischen Umgang zu wechseln. Mit dem Verschwinden der Bedrohung versuchte ihr Körper in den normalen Zustand zurückzukehren, aber ihr Verstand war noch nicht bereit für das Tagesgeschäft, dafür lag der Balanceakt am Abgrund des Todes noch nicht weit genug in der Vergangenheit. Dieses Missverständnis sorgte dafür, das ihre Beine ihr den Dienst versagten. Sie sank auf die Knie und ihr drohte die Ohnmacht. Von Flake überwand seine anerzogene Zurückhaltung und verhinderte den vollständigen Sturz, indem er sie stützte. Schmerz machte sich in ihrer Schulter breit, so als würden tausend heiße Nadeln ein ewiges Feuer entzünden wollen.
"Schickt nach dem Heiler." hörte sie von Flake brüllen.
"Es geht mir gut." hauchte sie schwach. Es war ihr zu wider in dieser Position vor ihren Untergebenen zu verweilen. Mit unbändiger Kraft brachte sie sich wieder auf die Beine. Der überraschte Bürgermeister ließ von ihr ab.
"Schickt Boote aus, um die Schiffbrüchigen zu bergen." befahl sie mit zittriger Stimme. Auf dem Boden vor ihr hatte sich ein roter Fleck gebildet. Ein untrügliches Zeichen, dass ihre Verletzung schlimmer war, als sie es bisher vernommen hatte.
"Sicher. Ihr braucht Arznei, eure Hoheit." von Flake klang immer noch extrem unterwürfig. Jessica ignorierte seinen Rat und stolperte auf die Eingangsstufen der Hafenkommandantur zu. Sie begutachtete den Leichnam zu ihren Füßen. Eric Tomash. Bastardsohn von Herfold von Tomash. Halbbruder von Padraig von Tomash. Ein Emporkömmling, der nur verwässertes adliges Blut besaß, aber auf Grund gewisser Liebschaften bis in die höchsten Kreise vordringen konnte. Ihres Vaters Schwester hatte eine dieser arrangierten Hochzeiten, die mehr aus Strategie als aus Liebe geschlossen wurden, über sich ergehen lassen müssen und da diese Vereinigung nie über den Status eines Arrangements hinauskam, vergnügte sich Herfold von Tomash zum größten Teil außerhalb seiner Ehe. Das Ergebnis waren unzählige Bastardkinder, die zwar den Namen des Hauses tragen durften, denen aber das "von" verweigert wurde. Jessica war ihrem unehelichen Cousin das ein oder andere Mal begegnet. Ein Gesicht unter Tausenden, die sich alle dem höfischen Ritual unterwarfen und damit austauschbar waren.
"Seit wann dürfen solch hergelaufene Bastarde hohe Posten, wie den Hüter der Stadt einnehmen?" fragte Jessica gereizt. Der Schmerz in ihrer Schulter stachelte ihren Zorn an.
"Es ist viel passiert in den sechs Monaten, die Ihr fort wart, eure Hoheit." erklärte von Flake.
"Was sprecht Ihr da? Wir waren keine sechs Monate fort." erwiderte Jessica immer noch gereizt. Der Bürgermeister senkte demütig sein Haupt. Er wirkte wie ein Schüler, der gerade von seinem Lehrer zu unrecht getadelt wurde, obwohl er die Aufgabe richtig gelöst hatte. Er rang nach einer Antwort, als der Heiler an seiner Seite erschien.
"Bitte eure Hoheit. Ihr müsst Euch ins Innere der Kommandantur begeben. Eure Wunde muss versorgt werden." drängte von Flake jetzt. Jessica spürte wie die Schwäche immer mehr Besitz von ihr ergriff. Sie folgte dem Heiler in eine Kammer, in der ein klappriges Bett stand, das vermutlich als Schlafquartier der diensthabenden Wache diente.
"Haben wir nichts Passenderes?" raunte der Bürgermeister den Heiler an. Bevor dieser eine Antwort geben konnte, lag Jessica bereits in den schäbigen Kissen. In der Waagerechten drohte jetzt endgültig die Ohnmacht. Einsetzender Schmerz verhinderte diese vorerst. Der Heiler zerschnitt vorsichtig ihr Hemd und murmelte mit jedem Aufstöhnen eine Entschuldigung.
"Ihr müsst mich ablenken, Bürgermeister. Erklärt mir die Zustände im Reich." befahl sie.
"Natürlich. Wie Ihr wünscht." Er überlegte kurz wo er ansetzen sollte und begann dann mit seiner Erklärung.
"Zwei Wochen nach Eurer Abreise erhielten wir die Kunde vom Tod des Königs." fing er vorsichtig an.
"Wir zögerten zu lange." machte sich Jessica Vorwürfe.
"Eine weitere Tragödie erschütterte das Königshaus ein paar Tage später." von Flake zögerte mit seinen Worten.
"Sprecht." befahl sie schwach.
"Prinzessin Lana verunglückte tragisch." Seine Worte waren kaum zu vernehmen.
"Auf welche Weise?" Bevor sich die Trauer in ihr ausbreiten konnte erschütterte ein Schmerzschub ihre Schulter. Begleitet wurde sie von einer weiteren Entschuldigung des Heilers.
"Man sagt, sie hätte einen Reitunfall."
"Ihr klingt skeptisch."
"Die nachfolgenden Ereignisse lassen Zweifel an dieser Geschichte aufkommen."
"Sprecht weiter." Jetzt fiel es ihr schwer Worte zu finden. Sie wünschte dieser verdammte Bürgermeister würde unaufgefordert weitererzählen.
"Nur wenige Wochen später wurde die Vermählung von Prinzessin Crahild und Prinz Padraig von Tomash gefeiert."
"Crahild ist Königin?" fragte sie ungläubig.
"So steht es auf dem Papier. In Wahrheit aber hat das Haus Tomash die Regierungsgeschäfte übernommen. Dies ist nun mit eurer Ankunft aber hinfällig geworden. Ich muss zugeben wir waren in einer Art Konflikt, als die "Stolz von Galatien" am Horizont erschien. Uns wurde versichert, dass das Schiff von feindlichen Mächten übernommen wurde. Daher hat unser neuer Hüter der Stadt eure Bombardierung befohlen. Als Ihr aus dem Boot stiegt, haben wir die Rechtmäßigkeit eurer Herrschaft erkannt und den Tötungsbefehl verweigert."
"Wer hat dann auf mich geschossen?"
"Eure Hoheit, es tut uns leid. Wir zögerten zu lange, so dass Ihr jetzt in dieser misslichen Lage seid. Naran, der Gildenmeister, hatte als Einziger den Mut, dem neuen Hüter der Stadt mit einem Messer zu widersprechen."
"Widersprechen. Haha." Jessica kam das Bild des toten Eric wider in den Sinn. Erneut flammte Schmerz auf. Was immer da auch an Flüssigkeiten auf ihre Wunde gekippt wurde, entfachte ein nie dagewesenes Feuer.
"Eure Hoheit, es tut ..." setzte der Heiler zu einer erneuten Entschuldigung an, aber Jessica brachte ihn zum Schweigen.
"Was ist mit dem Pfeil?" fragte sie als der Schmerz etwas abebbte. Schon allein der Blick auf das herausragende Stück Holz brachte ihn sofort zurück.
"Ich wage es nicht ihn zu entfernen."
"Ach ja. Soll ich ein Leben lang mit einem Stück Metall in der Schulter rumlaufen?"
"Dies ist durchaus die bessere Variante. Eine Entfernung könnte weiteren Schaden anrichten." erklärte der Heiler. Die Tür wurde aufgerissen und von Tranje stürmte herein.
"Ich war ein Narr Euch dort allein rausgehen zu lassen." Sorge stand ihm im Gesicht, als er in das bleiche Gesicht der Königin schaute.
"Euer Plan ist doch aufgegangen." entgegnete Jessica schwach.
"Zu welchem Preis?"
"Ich konnte die Blutung stoppen. Ihr braucht jetzt dringend Ruhe, eure Hoheit." erklärte der Heiler.
"Holt diesen verdammten Pfeil aus mir raus." befahl sie mit neuer Energie. Sie ignorierte die Proteste des Heilers und sah von Tranje an.
"Tut es. Bitte." flehte sie. Er nickte und brüllte Anweisungen.
"Ich verstehe Euch." Eine Flasche wurde ihm in die Hand gedrückt.
"Trinkt. Trinkt soviel Ihr vertragt." Er setzte die Flasche an ihre Lippen. Brennende Flüssigkeit lief ihre Kehle hinab. Es dauerte nicht lange und ihr wurde schwummrig. Der Schmerz war jetzt nur ein nerviges Pochen. Wie eine Katze, die auf der Lauer lag um den richtigen Moment für den Sprung abzuwarten. Ein knackendes Geräusch forderte ihre Aufmerksamkeit.
"Schon besser." lallte sie, als sie sah, dass nur noch ein kleiner Teil des ursprünglichen Pfeils in ihrer Schulter steckte.
"Möge Euch die Ohnmacht ereilen." von Tranje drehte sie auf die Seite, so dass der linke Arm oben lag. Er packte den verbliebenen Rest des Pfeils und schob ihm mit einem Ruck durch ihren Körper und zog ihn auf der anderen Seite wieder hinaus.
"War doch halbwegs erträglich." Jessica hatte Mühe die Worte zu formen. Von Tranjes besorgtes Gesicht zeigte ihr auf, dass es noch nicht überstanden war. Ein glühendes Schwert tauchte jetzt in seiner linken Hand auf. Panik brach aus und zu ihrem Glück erfüllte sich von Tranjes Wunsch, bevor sämtlicher Schmerz dieser Welt auf sie niederging.
Pochender Schmerz holte sie zurück in die Realität. Eine Realität, die sie vorerst nicht begreifen konnte, denn nichts passte zusammen. Das fade Kerzenlicht, die gedämpften Stimmen irgendwo außerhalb dieses schäbigen Schlafgemachs und der abscheuliche Geruch von Kräutern, der seinen Ursprung auf ihrer linken Schulter hatte, verwirrten ihren Geist. Sie brauchte einen Moment um halbwegs Klarheit über ihren Zustand zu bekommen. Sasha saß an ihrem Bett und lächelte sie an. Ein hübsches Lächeln, das geprägt war von Aufrichtigkeit. Perfekt um ihre Verwirrung zu lindern, denn sie hatte Sasha noch nie lächeln sehen.
"Wie lange war ich weg?" fragte Jessica.
"Der neue Tag beginnt in wenigen Augenblicken." entgegnete ihr Sasha sanft. Jessica versuchte sich aufzurichten, aber nicht nur der Schmerz verhinderte dieses Manöver. Sie fühlte sich unheimlich schwach.
"Du musst dich erholen." hielt sie Sasha zurück. Angelockt von den Stimmen füllte sich der Raum. Von Tranje, Bürgermeister von Flake, Krajan von Hantrup und Naran der Gildenmeister übertrafen sich in besorgten Mienen.
"Hilf mir hoch." bat sie Sasha.
"Du bist zu schwach." antworte diese, aber nach kurzem Zögern entsprach sie ihrer Bitte. Von Flakes Gesichtsausdruck wandelte von Besorgnis in Erstaunen. Noch nie hatte er erlebt, dass jemand in diesem laxen Tonfall mit einem Mitglied der königlichen Familie sprach.
"Wir müssen schnell handeln." leitete sie die Lagebesprechung ein.
"Padraig von Tomash wird über eure Ankunft sicherlich informiert worden sein. Bald wird die Kunde über Dreiwassers Loyalität Euch gegenüber auch in der Hauptstadt die Runde machen. Das zwingt den jetzigen König zum Abdanken." erklärte von Tranje.
"Er ist kein König." In Jessica stieg die Wut hoch. Die Tomashs haben offen gegen die Krone rebelliert und jegliches Maß bei den typischen höfischen Intrigen überschritten. Sie verbündeten sich mit dem Feind und ermordeten mehrere Mitglieder ihrer Familie. Der Wunsch nach Vergeltung wurde übermächtig in ihr und gab ihr neue Energie.
"Die Zweifel werden solange anhalten, bis ich lebendig vor ihnen stehe. Wie auch hier in Dreiwasser glauben die Menschen nur was sie sehen. Ich hoffe, dass ich dieses Mal nicht alleine und mit Pfeil in der Schulter meinen Anspruch gelten machen muss." Eine Spitze, die alle Anwesenden in Reue versetzte. Jessica erhob sich, um auf Augenhöhe zu sein.
"Ihr habt wahrlich keinen Grund für Scham." wandte sie sich an den Gildenmeister.
"Ich werde Euer Handeln niemals vergessen und mich angemessen dafür revanchieren. In Kürze werden ein paar Ländereien im Norden einen neuen Verwalter benötigen." Sie spielte damit auf die Tomashs an, die unter ihrer Herrschaft keinen legalen Anspruch mehr besaßen.
"Wir werden uns zu passender Gelegenheit um das Haus Tomash kümmern, aber derzeit sollte unser Augenmerk auf die Bedrohung aus dem Westen liegen." Von Tranje gefiel es gar nicht, wie Jessica persönliche Gefühle über Vernunft stellte.
"Die vorbereiteten Briefe sind versandt. Der Bündnisfall mit Hestos und Gamal wird eingefordert." fuhr von Tranje fort.
"Wie steht es mit dem Brief nach Planitz?"
"Um Eure Vermählung mit Prinz Kasabian wird offiziell ersucht."
"Ihr meintet wohl Prinz Kosobion." Zum ersten Mal nach der Rückkehr von Askalan huschte ein Lächeln über ihr Gesicht.
"Wir sollten bei den Namen mehr Sicherheit bekommen, sonst ziehen wir bald auch noch gegen Planitz in den Krieg." scherzte von Tranje und lockerte die verspannte Atmosphäre für einen Moment auf.
"Wir müssen so schnell wie möglich nach Saetung gelangen. Wann können wir aufbrechen?" fragte Jessica wieder ernst.
"Sobald Ihr halbwegs genesen seid. In vier oder fünf Tagen."
"Die Frage bezog sich nicht auf meine Gesundheit. Hüter der Stadt. Wie lange wird es dauern eure zwanzig fähigsten Kämpfer als Geleitschutz abzustellen?" Jessica bügelte von Tranjes geplanten Einspruch mit einem dominanten Blick ab.
"Zur Mittagszeit solltet Ihr über sie uneingeschränkt verfügen können." von Hantrup wirkte überrumpelt.
"Dann ist es beschlossen. Wir werden zur Mittagstunde die Reise nach Saetung starten."
"Da ich Euch diese Torheit nicht ausreden kann, solltet Ihr wenigstens bis dahin ruhen." von Tranje wirkte besorgt.
Jessica folgte dem Rat, schon um von Tranje nicht ein weiteres Mal zu verprellen, doch brachten die wenigen Stunden Schlaf keinerlei Linderung. Mühsam und mit einem Mindestmaß an Haltung verließ sie gegen Mittag die Kommandantur. Sie versuchte sich die Behinderung nicht anmerken zu lassen, aber so gut wie jede Bewegung quittierte ihre linke Schulter mit einem Meer aus Schmerzen. Von Tranje hatte wohl Recht, es als Torheit zu bezeichnen sich in diesem Zustand auf eine beschwerliche Reise zu begeben, aber die Zeit war einer ihrer größten Gegner. Der Besuch auf Askalan hatte das Gefüge durcheinandergebracht. Obwohl sie nur ein paar Wochen durch die Dschungel des mystischen Kontinents irrten, verging die Zeit auf Osos offenbar schneller. Welcher Zauber auch immer dahinter steckte, es hatte sie ins Hintertreffen geraten lassen. Sie musste so schnell wie möglich zurück in die Hauptstadt um damit den Spielraum der anrückenden Bedrohung einzuengen. Jetzt war die Zeit der taktischen Vorgeplänkel und Saetung durfte keinen Tag länger unter feindlicher Vorherrschaft stehen. Sie hoffte nur, dass es zu keinen großen kriegerischen Auseinandersetzungen kam und die Zahl der Opfer sich ausschließlich auf die Familie Tomash beschränkte.
Der Grünfluss war bekannt für seine raue Natur, aber an diesem Mittag zeigte er sich von einer ungewohnt sanften Seite. Es war fast so, als hätte er Jessicas Ansinnen schnell nach Saetung zu gelangen erfasst und beschlossen wenigstens für den einen Tag ein vernünftiges Benehmen zu zeigen. Die Floße wurden mit Mensch, Pferd und Verpflegung beladen, so dass gegen Mittag die Flussleute begannen die vollgepackten Transportmittel stromaufwärts zu staken. Zwischen den imposanten Wänden des Nebelberges rechts und links des Flusses kam sich Jessica so unheimlich winzig vor. Sie durchquerte nicht zum ersten Mal diese eindrucksvolle Passage, aber so große Demut wie heute überkam sie noch nie. Im Angesicht der schweren Verletzung zeigte dieses gewaltige Schauspiel der Natur ihr die eigene Sterblichkeit gnadenlos auf. Diese Wände waren für die Ewigkeit geschaffen worden, in einer Zeit, weit vor allem menschlichen Leben und wenn der letzte ihrer Art eines Tages vom Angesicht der Welt verschwunden sein sollte, würden sie weiterhin die Ufer mit ihren gigantischen Ausmaßen säumen und dem Fluss höchstens zur Mittagstunde, wenn die Sonne am höchsten stand, ein paar wärmende Strahlen gönnen.
Gegen Abend erreichten sie die Steinebene und schlugen das erste Nachtlager auf. Waren die Strapazen bisher noch halbwegs erträglich, würde der nächste Tag mit Sicherheit eine Steigerung bringen. Jessica wusste nicht, ob sie überhaupt in der Lage war zu reiten, aber der Drang Saetung zurück unter die Kontrolle der königlichen Familie zu stellen, verlieh ihr den notwendigen Willen. Eine Nacht voller Schmerzen ließ nur wenig Schlaf zu und als am nächsten Morgen der Heiler den durchbluteten Verband entfernte, stieg ihr ein übler Geruch in die Nase. Die Wunde hatte sich trotz aller Maßnahmen entzündet und erzeugte erstes totes Gewebe.
Noch war sie guten Mutes, dass die Salben des Medikus ihr Linderung verschaffen, aber als sie in der nächsten Nacht von Fieberschüben geplagt wurde, wusste sie, dass die Sache nicht gut für sie enden würde. Das Gift des Todes würde nach und nach ihren ganzen Körper befallen und ihr jede Lebensenergie aussaugen. Die besorgten Mienen und die zurückhaltenden Kommentare über ihren Gesundheitszustand waren weitere Beweise für ihr unausweichliches Schicksal. Saetung schien so unheimlich weit weg. Galtien, Osos, die gesamte Menschheit war davon abhängig, dass sie halbwegs lebendig in der Hauptstadt ankam, um wenigstens etwas Hoffnung in den bevorstehenden dunklen Tagen zu verbreiten. Durchhalten war jetzt ihr einziges Lebensziel und so erklomm sie ihr Pferd für den letzten Ritt.
Für Jessica war es unmöglich zu unterscheiden, ob sie des Fiebers wegen schwitze oder ob die Steinwüste mit ihrer unendlichen Einöde einen besonders heißen Tag für sie bereithielt. Bisher glaubte sie sich bei klarem Verstand, aber als Quatar plötzlich an ihrer linken Seite ritt und mit der für ihn typischen frechen Bemerkung um ihre Aufmerksamkeit buhlte, wusste sie, dass es auch geistig um sie nicht gutstand.
"Ihr seid tot." blaffte sie die Fantasiegestalt auf dem Pferd erschöpft an.
"Das bin ich und Ihr seid es auch bald." bestätigte er mit seinem typischen Optimismus. Er lächelte sie an. Dieses Lächeln empfand sie immer als eine Steigerung seines ohnehin schon attraktiven Aussehens.
"Zeit für Reue." Er besaß jetzt eine Aura aus gleißendem Licht.
"Reue?" flüsterte sie leise und schwach.
"Ja. Reue. Jeder Mensch bereut bestimmte Taten. Sie werden einem erst so richtig bewusst, wenn es zu Ende geht. Meist sind es Dinge, die sie nicht getan haben. Also. Was bereut Ihr nicht getan zu haben?" Es war Jessica unmöglich geworden sein Gesicht zu erkennen. Zu gleißend war jetzt das Licht, das ihn förmlich einhüllte.
"Ich will nicht sterben." gab sie schluchzend in Richtung des Lichtes und lehnte sich aus dem Sattel. Quatars Gesicht tauchte aus all den tausend Strahlen auf und befand sich jetzt direkt vor ihr.
"Was bereut Ihr?" fragte er sanft und in diesem Augenblick wurde es der Sterbenden bewusst. Sie hatte sich geweigert seinen Kuss zu erwidern und dass obwohl es zu einem der glücklichsten Momente ihres Lebens hätte werden können. Aber dieser Kuss war nur ein trauriger Teil einer Kette von unsäglich vielen Momenten, die es jetzt wert waren bereut zu werden. Wo lag der Anfang, das erste Glied, die Wurzel all dieser traurigen Momente, die das Zeug hatten Meilensteine ihres Lebens zu werden und stattdessen nichts weiter als verpasste Gelegenheiten in ihrem Gedächtnis blieben? Die Ursache allen Übels war sie selbst. Sie selbst und ihre unendliche Feigheit. Mit dieser Erkenntnis stürzte sie aus dem Sattel.
Der Aufprall katapultierte sie aus dem Fieberwahn in eine Unendlichkeit aus Qualen. Sie war dankbar für einen letzten klaren Augenblick, den ihr der Schmerz ermöglichte. Sie drehte sich auf den Rücken und als sie den Himmel erblickte, kam er ihr noch nie so blau vor, wie in diesem Moment. Die Luft war noch nie so rein und die Sonnenstrahlen noch nie so wohltuend. Alle ihre Sinne verwendeten ihre verbliebene Energie darauf ihre letzten Augenblicke auf Erden so angenehm wie möglich zu gestalten, bevor der Wahnsinn des Fiebers erneut von ihr Besitz ergriff. Die panischen Stimmen in ihrer Umgebung wurden zu wohltuender Musik und als man ihr Wasser einflößte, hatte sie das Gefühl noch nie etwas Leckereres getrunken zu haben. Sie lächelte und schloss die Augen. Möge sie in der nächsten Welt mutiger sein.
Es herrschte keine euphorische Aufbruchstimmung als Azul und die anderen an Bord des Flaggschiffes ihrer riesigen Flotte gingen. Die Worte beschränkten sich auf Anweisungen und das obwohl jedem klar war, dass die Ereignisse des vergangenen Abends einer ausführlichen Klärung innerhalb der Gruppe bedurften. Die dicken schwarzen Wolken hingen wie Trauerflor über der Bucht und schickten vereinzelt Tropfen auf die unruhige See. Ein perfektes Abbild des drohenden Unheils, was sich über die Menschheit ergießen sollte und in das sich der Turm an der Küste, der innerhalb der traurigen Landschaft aus Baumstumpfen wie ein Sinnbild von Tod und Zerstörung wirkte, perfekt integrierte. Irgendwo dort oben hockte Olmot zwischen all seinen Büchern und beäugte vermutlich jedes Schiff skeptisch, ob es auch wirklich ausläuft. Einer der Utcha auf ihrem Schiff blies ins Horn und der lang anhaltende Ton verkündete den Aufbruch. Schiff um Schiff setzte sich in Bewegung Richtung Osten und obwohl Azul die letzten Wochen ausschließlich in diesem Turm verbracht hatte, verspürte er keinerlei Wehmut als dieser am Horizont immer kleiner wurde.
Er hatte sich aufs Oberdeck begeben und stand an der Reling. Die Flotte folgte dem Küstenverlauf, der ausschließlich aus den kläglichen Überresten des sicherlich einstmals stattlichen Listerwaldes bestand. Niska und Wolka erschienen an seiner Seite. Ihm war nicht nach Reden, aber wenn es jemanden gab für den er eine Ausnahme machen würde, dann war es Niska. Sie standen nur schweigend neben ihm und Niskas Einfühlungsvermögen war es zu verdanken, dass er von Worten vorerst verschont blieb.
"Ich werde immer ein Knecht bleiben." brach Azul das Schweigen nach einer gefühlten Ewigkeit. Niemand erwiderte etwas.
"Ich bin nur von einem Herrn zu einem anderen gewechselt." fuhr er fort. Auch jetzt gab es keine Reaktion.
"Ein Leben lang in Ketten."
"Am eigentlichen Ziel hat sich doch nichts geändert. Diese Ketten zu zerschlagen. Nicht nur für dich. Für alle Menschen auf Osos." sagte Wolka ruhig.
"Wie kannst du so etwas sagen, nach gestern Abend."
"Was ist denn genau passiert? Ein weiterer großspuriger Möchtegern-Herrscher hat die Hosen runtergelassen. Nur weil er nicht aus Fleisch und Blut ist, heißt das nicht, dass wir ihm in alle Ewigkeit folgen sollten."
"Doch das heißt es. Hast du es nicht gespürt? Dieser unbedingte Willen alles Menschliche zu vernichten. Wir werden nur verschont, wenn wir ihm bedingungslos folgen."
"Glaubst du das wirklich? Dass er uns verschont, weil wir ihm so treu folgen. Ich persönlich verlasse mich seit gestern Abend nicht darauf. Selbst wenn dem so ist, was mag das für ein Leben sein. Derzeit sind wir aufeinander angewiesen. Wir brauchen ihn, genauso wie er uns braucht. Haben wir Osos unterworfen, ändern sich die Bedingungen. Dann müssen wir schnell handeln."
"Du sprichst von Meuterei."
"Nur wenn wir gerade auf einem Schiff sind. Ansonsten ist es ein Aufstand." versuchte Niska die Situation aufzulockern. Vergeblich.
"Nach dieser Begegnung gestern spielen wir mit offenen Karten. Solange wir einen gemeinsamen Feind haben, ziehen wir an einem Strang. Danach ..." Wolka verzichtete das Offensichtliche auszusprechen.
"Was ich jetzt brauche ist deine vollkommene Konzentration auf den Krieg gegen Osos. Keine Zweifel. Kein Zaudern. Nur der Sieg zählt. Kann ich mich da auf dich verlassen?" Wolka reichte ihm die Hand.
"Es ist ein langer und steiniger Weg. Nur gemeinsam bekommen wir das hin. Am Ende formen wir Osos nach unseren Vorstellungen. Ohne Könige und ohne irgendwelche verqualmten Gottheiten." Wolka klang überzeugend und in Azul stieg die Zuversicht. Beherzt ergriff er die ausgestreckte Hand.
Das Wetter besserte sich je weiter sie Richtung Osten kamen. Die Küste machte einen Bogen Richtung Süden, wo irgendwo die Hafenstadt Spuuun lag. Eine Erinnerung an die Ruinen und das erste Treffen mit Sasha und ihrem Bruder überkam Azul. Ihr unbekanntes Schicksal war ihm nicht gleichgültig und er hoffte, dass sie irgendwo auf Askalan ein friedliches Leben weitab dieses ganzen Wahnsinns führen würden. Es war nicht ihr Krieg, aber sollten Olmot und sein Gebieter am Ende triumphieren, würde es vermutlich zu ihrem werden. Der Kontinent verschwand am Horizont und räumte den Platz für die scheinbare Unendlichkeit des westlichen Meeres. Gegen Abend des zweiten Tages befanden sie sich auf hoher See. Die nächste Küste, die sie erblicken würden, gehörte schon zu Osos. Die Ereignisse nahmen ihren Lauf, aber schon am folgenden Abend sollte ihr Schicksal eine andere Wendung nehmen.
Die Sonne schickte ihre letzten Strahlen über die glatte Meeresoberfläche, als Unruhe die Mannschaft aus Utchas ergriff. Die Ursache für diese Aufregung befand sich auf dem Oberdeck und manifestierte sich in einem seltsamen Vogel, der auf der Reling saß und immer dann davonflog, sobald einer der Utchas versuchte ihn zu ergreifen. Sein goldfarbenes Gefieder machte ihn zu einer Luxusausgabe einer herkömmlichen Taube, aber selbst das erklärte nicht, wie er soweit entfernt von jeglichem Land auf dieses Schiff kam. Er setzte sich immer wieder auf dieselbe Stelle und war geschickt genug den tumben Versuchen ihn zu packen zu entkommen. Erst als Wolka sich näherte, ließ sich die Goldtaube ohne große Probleme fangen. Offenbar transportierte sie eine Nachricht, die von Olmot kam.
"Es gibt Neuigkeiten aus Osos." erklärte Wolka mürrisch als er die Botschaft las. Gemeinsam verschwanden sie in der Kabine, in der die große Karte von Osos lag.
"Saetung ist wohl nicht so vasallentreu wie erhofft." Wolka studierte bereits die Westküste.
"Das zwingt uns unsere Pläne anzupassen."
"Dort." Sein Finger wanderte auf einen Punkt weit im Norden.
"Eishaffen. Was weißt du von diesem Ort?" fragte er Azul.
"Soweit ich weiß ein Dorf, wie es tausendfach auf Osos vorkommt. Was hast du vor?" Azul kannte nur den Namen.
"Der Name verspricht Wetter nach meinem Geschmack." frohlockte Legan.
"Dort wird unser Siegeszug beginnen." Wolka führte seinen Finger landeinwärts auf einen Punkt, der allein schon von seinen Ausmaßen auf eine große Stadt hinwies.
"Und dort wird es enden."
Azul musterte die ausgebreitete Karte, die sich nur widerspenstig auf dem Tisch hielt und ausschließlich auf Grund von Wasserkrügen daran gehindert wurde in ihre ursprüngliche Form als Rolle zurückzukehren. Eishaffen lag so unheimlich weit im Norden, dass sie geschlagene zehn Tage zusätzlich brauchen würden um die Küste zu erreichen. Saetung war zurück an den Feind gefallen, was sicherlich bedauerlich war, rechtfertigte aber nicht ausgerechnet dieses Kaff als Alternative für den Start eines glorreichen Feldzuges zu erwählen.
"Warum?" fragte Legan stellvertretend für alle.
"Dort oben gibt es nur Schnee und Eis. Unsere Truppen würden nur langsam vorankommen." erklärte Azul.
"Allein die Landung in dieser engen Bucht würde Tage dauern." fiel Niska in den Chor der Zweifler ein.
"Wir haben ein paar schnelle Segler in unserer Flotte. Sie erreichen Eishaffen in weniger als drei Tagen. Hundert Vikiner sollten reichen, um dort oben die nötige Messerarbeit zu verrichten. Die restliche Flotte segelt weiter Richtung Osten bis wir auf die Küste treffen. Wir nutzen die kräftigen Südwinde, die sich an den Klippen ergeben und sparen dadurch zwei Tage Reisezeit. Auch wenn wir durch das Wetter an Land langsamer vorankommen. Niemand rechnet mit einem Angriff soweit im Norden. Wir werden sie überraschen." Wolka klang zuversichtlich.
Jessica schwamm auf dem Rücken in einer Umgebung aus tiefster Schwärze. Nur war es kein Wasser, dass sie trug, es war... Ja was war es eigentlich? Wie sollte sie etwas beschreiben, dass sie noch nie in der Form erlebt hatte? Flüssiger Samt traf es wohl noch am besten, aber für eine passende Beschreibung müsste sie Worte erfinden, da nichts in ihrem Wortschatz auch nur annähernd beschreiben könnte, was da unter ihr ein Gefühl perfekter Geborgenheit erzeugte. So musste sich ein Ungeborenes im Mutterleib fühlen. Satt, zufrieden und das allerwichtigste, es gab keinerlei Sorgen. Der perfekte Zustand aus Ruhe, Glück und Genügsamkeit. Wenn das der Tod für einen bereithielt, war die Angst vor ihm unbegründet. Eine Welle unter ihr erschütterte die perfekte Unbeschreiblichkeit und störte die paradiesische Sorglosigkeit. Sie wollte es sich gerade wieder bequem machen, als eine weitere noch stärkere Welle sie förmlich aushebelte. Eine dritte Welle schleuderte sie auf die Seite. Das Gefühl unerwünscht zu sein beschmutzte die Unbeschwertheit dieser Idylle. Bei den Göttern, was passierte mit ihr? Blitze zuckten durch die sie einhüllende Dunkelheit und versetzten ihr Kopfschmerzen. Wieder eine Welle und dieses Mal flog sie regelrecht auf ein helles Licht zu. Panisch schloss sie die Augen um sie gleich wieder zu öffnen. Das Paradies erachtete sie als unwürdig und war bereit sie wieder auszuspucken.
Verwirrt starrte sie auf die Kissen, die zwar weich waren, aber nicht annähernd die Geschmeidigkeit des flüssigen Samts besaßen. Wo war sie? Welche neue Spielwiese hatte der Tod für sie auserkoren? Eine bekannte, soviel war sicher, denn die Stickereien auf dem Kissenbezug trugen das königliche Siegel. War sie am Leben? Wie hatte sie es geschafft der Nachwelt zu entkommen und genau hier in ihrem königlichen Schlafgemach wieder aufzuerstehen? Ihre Hand fuhr unter ihr Nachthemd. Exakt an die Stelle, an der der Tod um Einlass in ihren Körper verlangt hatte. Nichts. Kein Verband. Keine Wunde. Nicht mal eine Narbe konnte sie ertasten. Sasha saß an ihrem Bett und beobachtete schweigend ihre Rückkehr ins Leben.
"Was?... Wie?" stammelte Jessica und tastete immer noch ihre Schulter ab. Es blieb dabei. Sie war vollkommen unversehrt.
"Willkommen unter den Lebenden." begrüßte sie Sasha herzlich. Jessica war zu verwirrt, um die Umarmung gebührend zu erwidern.
"Was...? Wie...? Wie habe ich... ?" Es fiel ihr schwer die passenden Worte zu finden.
"Wie du überlebt hast?" fragte Sasha.
"Ja." hauchte Jessica.
"Das Wasser der "Quelle der Jugend". Es kam zu spät für deinen Vater, aber gerade noch rechtzeitig für dich." erklärte Sasha.
"Ihr habt mich mit Magie gerettet?"
"Du bist jetzt unsterblich. Keine Krankheit oder Altern können dir von nun an was anhaben. Nur der gewaltsame Tod kann dich ereilen."
Jessica tat sich schwer die Worte vernünftig zu erfassen. Ihr Verstand war einfach noch zu konfus um solch schwerwiegende Gegebenheiten zu verarbeiten.
"Wir sind in Saetung." stellte sie ungläubig fest.
"Das sind wir. Mittlerweile seit drei Tagen." erwiderte Sasha ruhig. Diese Aussage half nicht Jessicas Verwirrung zu mindern. Ganz im Gegenteil. Die Tatsache, dass ihr fast eine Woche ihres Lebens abhandengekommen war, überforderte ihren Geist weiter.
"Was ist passiert?" Die Fragen schienen kein Ende zu nehmen.
"Wir erreichten diese Stadt. Dein halbtoter Zustand verhinderte jegliche Konfrontationen und wir wurden ohne große Probleme eingelassen."
"Was ist mit König Padraig?"
"Geflohen. Nur deine Schwester blieb vor Ort. Sie steht unter Arrest in den königlichen Gemächern." erklärte Sasha ruhig. Es klopfte an der Tür und nach einer kurzen Auforderung betrat einer der Bediensteten den Raum.
"Herr Zoran von Tranje bittet um Einlass." verkündete er steif. Sasha rümpfte die Nase und imitierte das Gehabe des Bediensteten mit einem verächtlichen Kopfschütteln.
"Seltsame Sitten herrschen in deinem Königreich." Die unterwürfige Haltung des Dieners war ihr zuwider. Jessica nickte kurz und einen Augenblick später betrat von Tranje den Raum. Nach dem Austausch der üblichen Höflichkeiten erklärte er Jessica die Lage.
"Verzeiht mir. Aber es war notwendig, dass Ihr überlebt." begann er.
"Warum sollte ich Euch verzeihen, dass ihr mir das Leben gerettet habt?"
"Vielleicht ist es zu früh für eine Entschuldigung. In den kommenden Jahren, wenn Weggefährten dem Zahn der Zeit Tribut zollen, Kameraden dem Alter erliegen und Ihr vielleicht die eigenen Kinder überlebt, dann werdet Ihr verstehen was ich mit meiner Entschuldigung meine." erklärte von Tranje geheimnisvoll.
"Wie steht es im Reich Galatien?" fragte Jessica.
"Es wird Euch freuen zu hören, dass das Volk froh ist über eure Rückkehr. König Padraig hat trotz der Kürze seiner Amtszeit ein paar schwerwiegende Änderungen durchgesetzt, die nicht viel Vertrauen erzeugt haben."
"Veränderungen?"
"Vor allen Dingen personeller Art. Fast alle wichtigen Stellen im Reich wurden mit Vertrauten des Hauses Tomash besetzt, unabhängig ihrer Kompetenz oder Eignung. Diese Unwissenheit führte zu vielen Turbulenzen innerhalb des Reiches. Zu unserem Glück flohen diese Herrschaften gemeinsam mit dem König. Es gibt nur eine Ausnahme. Marsha von Tomash."
"Marsha ist geblieben?" Jessica war überrascht. Ihre Cousine hatte einen sehr eigenwilligen Charakter und diesen schien sie mit der Verweigerung zur Flucht wieder bewiesen zu haben.
"Sie steht gemeinsam mit eurer Schwester unter Arrest."
"Also macht es nicht viel Sinn den Rat einzuberufen."
"Nein. Es musst erst ein neuer Rat bestellt werden und das kann nur durch die Königin passieren. Das werdet Ihr sein, aber volle Weisungsbefugnis habt ihr erst nach eurer Krönung."
"Das alles dauert mehr als zwei Wochen. So viel Zeit haben wir nicht." Jessica klang verbittert hinsichtlich der starren Regeln von Galatien.
"In der Tat. Deshalb würde ich vorschlagen Königin Crahild vorerst im Amt zu lassen. Sie war Marionette von Padraig. Warum sollte sie nicht auch die eure sein? Es hätte den Vorteil, dass wir schnell und uneingeschränkt handeln können. Euren Thronanspruch könnt ihr jeder Zeit später anmelden." schlug von Tranje vor.
"Ich bin mir sicher, dass sie darauf eingehen wird, aber als Gegenleistung wird sie die vollständige Wiederherstellung ihrer Reputation fordern. Alles was ihr mit dem Tod meines Vaters und meiner Schwester nachgewiesen werden könnte, würde erlöschen." Jessica zögerte und entschied sich auf von Tranjes Vorschlag einzugehen.
"Dann werde ich es so arrangieren." bestätigte er die Anweisung und wollte gehen, aber Jessica hielt ihn zurück.
"Wartet. Trefft mich und Marsha zum Mittag im Thronsaal. Wir müssen einiges bereden." befahl Jessica. Von Tranje nickte und verschwand.
Die heimische Umgebung fühlte sich fremd an. Der Schrank mit ihren Sachen, der große Spiegel an der Wand, selbst das Bett, dass sie gerade noch als wohlwollendes Paradies empfand, gehörten einer Jessica, die irgendwo auf der Reise nach Askalan verloren gegangen war. Es gab keinen persönlichen Bezug mehr, als sie sich die Bluse überzog, in die bequemen Schuhe schlüpfte und sich das Haar bürstete. All diese Dinge standen für einen Lebensabschnitt, der in seiner naiven Unschuld nie wiederkommen würde. Wehmut machte sich in ihr breit, als sie registrierte, dass diese Welt aus Watte unwiderruflich verloren war. Sie hatte ihren Kopf außerhalb der goldenen Stangen ihres Käfigs gesteckt und damit die Unschuld im Inneren für immer verloren.
Nach einer ausgiebigen Mahlzeit begab sich Jessica in den Thronsaal. Sasha wich nicht von ihrer Seite, was vermutlich auch auf die unbekannte und für eine Waldläuferin sicherlich furchteinflößende Umgebung zurückzuführen war. Sie genoss die Gesellschaft der Etrakerin, die mit ihrer unkonventionellen Art mehr als einmal mit der höfischen Eitelkeit kollidierte. Von Tranje und Marsha befanden sich bereits vor dem riesigen Tisch mit dem Relief des Reiches, der trotz seiner beeindruckenden Größe im hohen Thronsaal förmlich verschluckt wurde.
"Eure Hoheit." wurde sie von Marsha höflich aber selbstsicher begrüßt. Jessica erwiderte nichts und musterte ihre Cousine eindringlich. Die erwiderte ihren strengen Blick ohne auch nur ein Stück Selbstvertrauen herzugeben.
"Warum seid Ihr noch hier?" fragte Jessica nachdem sie die Sinnlosigkeit ihrer Einschüchterungsversuche erkannte.
"Ihr meint, warum ich nicht geflohen bin, wie mein Bruder? Ich habe meinen Eid auf die Königin geschworen und die Königin ist noch immer hier." erwiderte Marsha ruhig. Nichts schien ihr Selbstvertrauen zu erschüttern.
"Ihr seid..." Jessica zögerte kurz.
"Ihr wart zweite Vertreterin des königlichen Vertrauten der Schatzkammer. Eine Position, die nicht so dringender Natur ist, dafür euren Kopf für den Verrat eurer Familie zu riskieren." Jessicas Stimme klang streng.
"Mit Verlaub da irrt Ihr. Es wurden bisher keine Nachfolger bestimmt und durch die überstürzte Abreise des Vertrauten nebst seines ersten Stellvertreters bin ich offiziell nun die Zuständige für die Verwaltung der Schatzkammer." Eine Frechheit, die trotz ihres Wahrheitsgehaltes der Aussage Jessica kurz verdutzte. Tatsächlich waren ihre Vorgesetzten mit Padaig zusammen geflohen und machten sie damit formal zur obersten Verwalterin der Finanzen.
"Eure Familie wird für den Mord meines Vaters und meiner Schwester verantwortlich gemacht. Ist euer Tod, die paar Tage Anerkennung wert?"
"Ich bedaure den Verlust eurer Verwandtschaft aufrichtig. Sollte mein Bruder oder ein anderes Mitglied meiner Familie in Verantwortung dieser schändlichen Tat stehen, ist es legitim, dass sie dafür zur Rechenschaft gezogen werden. Ich für meinen Teil kann mit reinem Gewissen meinen königlichen Eid befolgen."
"Dann folgt diesem Eid und erläutert mir die Pläne eures Bruders." Jessica hatte Mühe sich auf Grund dieser an Arroganz nahen Selbstsicherheit zu beherrschen.
"Das werde ich. Ich bitte Euch nur meinen Arrest aufzuheben, um meinen Aufgaben als königliche Vertraute zu eurer Zufriedenheit zu erfüllen."
"Ihr besitzt eine Chuzpe, die die höfische Schmeichelei mit einer offenen Arroganz gegenüber königlichem Blut vereint. Wählt eure Worte in Zukunft weiser." mischte sich von Tranje ein.
"Die Pläne." Jessica war ungeduldig.
"90000 Kreaturen unterschiedlichster Natur sollten in Saetung mit allem notwendigen versorgt werden. Ein Feldlager im Norden war dafür vorgesehen."
"90000." wiederholte Jessica ungläubig.
"Was für Kreaturen?" fragte von Tranje neugierig.
"Überwiegend Otchas."
"Utchas." wurde Marsha korrigiert.
"Und wie sollte es dann weitergehen?"
"Ein Königreich nach dem Anderen sollte unterworfen werden. Padaig wurde die Herrschaft über ganz Osos versprochen."
"Wer steckt dahinter?"
"Niemand weiß es, aber es muss was unglaublich Mächtiges sein."
"Was bringt Euch zu der Annahme?"
"Weil wir sie gesehen haben, die Otchas. Nicht nur ich. Jeder in meiner Familie hatte den selben Traum. Wir flogen über dieses riesige Heer aus furchteinflößend wirkenden Monstern."
"Wir müssen jeden einzelnen Kämpfer nach Saetung holen." wandte sich Jessica an von Tranje.
"Es wird nicht reichen. Ganz Osos hat nicht diese Vielzahl an Rittern." wirkte dieser nachdenklich.
"Dann müssen alle kämpfen. Knappen, Bauern, Hufschmiede. Jeder, der ein Schwert zu halten vermag muss kämpfen." forderte Jessica.
"Boten wurden bereits ausgesandt. Jeder kampffähige Mann wird nach Saetung beordert. Zu unserem Glück war der ehemalige König so weise und hat bereits Vorkehrungen für ein Feldlager getroffen." Von Tranjes Sarkasmus konnte Jessica nicht aufheitern.
"Wir haben Kunde aus den Reichen Hestos und Gamal. Sie sichern uns ihre Bündnistreue zu. Mit ihrer Unterstützung kommen wir auf 12000 waffenfähige Männer." fuhr er fort.
"Und Planitz?" fragte Jessica traurig.
"Die Unterhändler sind bereits eingetroffen. Dieses Arrangement sollte mit höchster Wichtigkeit vorangetrieben werden." auch von Tranje klang betrübt.
"Du musst das nicht tun." mischte sich Sasha ein.
"Doch. Ich kann nicht meine eigene Eitelkeit über das Wohl so vieler Menschen stellen." erklärte Jessica unsicher.
"Dann sollten wir heute Abend mit den ersten Gesprächen beginnen. Eure Anwesenheit ist erst erforderlich, wenn die Unterhändler sich geeinigt haben. Auch dann ist es nur ein formeller Akt, also bleiben Euch vorerst eure eigenen Hochzeitsvorbereitungen erspart." versuchte sie von Tranje aufzumuntern. Damit wurde die Runde aufgelöst.
Die nächsten Tage herrschte eine Geschäftigkeit im königlichen Palast, die Jessica in der Form bisher nie erfahren hatte. Eigentlich war immer viel los, immerhin war genau hier die Machtzentrale von Galatien, aber die Rückkehr der ältesten Königstochter und die kommende Bedrohung veranlassten alle Anwesenden zu extra schnellen Schritten. Die Anspannung stieg von Tag zu Tag und wie Ameisen, die alles für den Erhalt des heimischen Hügels taten, gab es für alle nur eine einzige Angelegenheit von Bedeutung. Die Verteidigung der Stadt. In unzähligen Gesprächsrunden wurden die Möglichkeiten erläutert, Taktiken ersonnen und eventuelle Rückzugsgebiete auserkoren. Der oberste Hüter der Stadt hatte im Verteidigungsfall die uneingeschränkte Befehlsgewalt und selbst die Könige von Hestos, Gamal und Galatien wurden zu Befehlsempfängern degradiert. Ein Zustand der regelmäßig zu Spannungen führte und Jessicas Geduld auf eine harte Probe stellte. Nach zwei Wochen hatte man sich in mühsamen Diskussionen auf eine Strategie geeinigt und Jessica befürchtete mit dem Eintreffen ihres zukünftigen Gemahls würde diese erneut in Frage gestellt werden. Zu viele Könige und zu wenig Kämpfer.
Zwei Tage vor dem Eintreffen von Prinz Kosobion und seiner Streitmacht wurde überraschenderweise eine weitere taktische Besprechung einberufen. Die Unruhe war groß als Jessica den Thronsaal betrat und die Anwesenden am großen Relief von Osos förmlich begrüßte.
"Ist etwas geschehen?" fragte sie etwas verwirrt hinsichtlich der Aufregung.
"Nein, eure Hoheit. Jedenfalls nichts von Bedeutung." erklärte ihr Promin von Saetung. Der oberste Hüter der Stadt schien aber allein mit seiner Meinung.
"Wir Ihr wisst erwarten wir täglich Boten aus allen Teilen des Reiches. Ihre einzige Botschaft ist zu bestätigen, dass in ihren Bereichen alles in bester Ordnung ist." fing von Tranje an zu erklären. In der Tat wurde dieses Konstrukt aus Reitern unmittelbar nach ihrer Ankunft ins Leben gerufen. Es war eine Art Spinnennetz, dessen einzelnen Fäden zu stärkeren Fäden zusammengeführt wurden und am Ende alle in Saetung mündeten. Ziel war es, selbst die entferntesten Winkel des Reiches zu überwachen. Offenbar war dieses komplexe Spinnennetz aus Boten erschüttert worden.
"Wir haben seit sieben Tagen keine Rückmeldung mehr aus Eishaffen." bestätigte von Tranje ihre Vermutung. Jessica ging den langen Tisch entlang. Dort wo der Norden eisig und kalt war und die Sonnentage knapp sind, dort oben gab es nicht viele Menschen.
"Ich finde es nicht auf dem Relief." sagte sie. Von Tranje ging an ihr vorbei, noch weiter in den Norden.
"Dort." Mit einem langen Holzstab zeigte er auf einen winzigen Punkt an der Küste.
"Euer Hoheit. Dort oben herrschen eisige Stürme. Der Bote ist sicherlich nicht durchgekommen. Das ist kein Grund zur Beunruhigung." Promin beharrte auf seinem Standpunkt.
"Wie seht Ihr das?" fragte sie von Tranje.
"Er hätte in Sawasch seine Meldung abgeben sollen. Der Bote aus Sawasch empfängt alle Boten aus den Dörfern des Nordens und gibt seine Botschaft weiter nach Kirkut. Dort wird der sämtliche Norden fokussiert. Da kein weiterer Bote ausgefallen ist und ich der Meinung bin das Eisstürme sich nicht nur auf ein einzelnes Gebiet konzentrieren, sollten wir die Sache näher untersuchen. Ich habe angewiesen, dass Kundschafter aus Sawasch nach dem Rechten schauen sollen. Mit dem heutigen Boten des Nordens werden wir Rückmeldung erhalten. Er ist soeben eingetroffen und wird uns in Kürze vorgeführt."
"Eure Hoheit, dort oben leben eher einfältige Menschen. Ihre Gründerväter haben es nicht mal geschafft den Namen ihres Dorfes korrekt eintragen zu lassen. Sie sehen es mit der königlichen Pflicht eher etwas lockerer." erklärte Promin abwertend. Die gewaltige Tür des Thronsaales öffnete sich und ein einfach gekleideter Mann wurde hereingeleitet und als Bote aus Kirkut angekündigt.
"Eure Hoheit." Eine Verbeugung als Respektbezeugung folgte den demütigen Worten.
"Sprecht. Was gibt es Neues aus dem Norden."
"Wie befohlen, wurden Späher nach Eishaffen entsandt. Keiner der drei ist zurückgekehrt." erklärte der Bote entschuldigend. Sofort entfachten die Diskussionen, die in dem riesigen Saal wie Marktgetümmel widerhallten. Von Tranje ging zurück ans Relief.
"Die drei Schwestern des Nordens." sprach er mehr zu sich selbst.
"Ihr glaubt, dass sich die Pläne unserer Feinde geändert haben?" fragte Jessica.
"Vermutlich. Mit der Flucht von König Padraig ist Saetung nicht mehr erste Wahl."
"Und was glaubt Ihr ist jetzt erste Wahl?" Die drei Schwestern des Nordens waren ein Sammelbegriff für Städte, die so fernab im Norden ihren eigenen Zusammenhalt zelebrierten und es zu einem gewissen Reichtum gebracht haben.
"Da gibt es Reichenberg. Eine Stadt, die durch ihre Silberminen das königliche Privileg zur Münzprägung erhalten hat. Ein lohnendes Ziel für jedes Heer, aber dieser Feind ist mit herkömmlichen Armeen nicht zu vergleichen. Den Utchas verlangt es nicht nach Silber." Er hatte Recht. Die Unmengen an Edelmetallen hatten schon den ein oder anderen Raubzug angelockt, aber die niederen Motive von Reichtum durch Diebstahl passten nicht zu der Bedrohung aus Askalan. Von Tranjes Blick wanderte weiter nach Osten.
"Krumau. Über den Gap-Pass zu erreichen. Kein guter Weg für eine große Armee. Außerdem ist die Stadt stark befestigt und kein wirklich lohnenswertes Ziel, es sei denn den Utchas verlangt es nach neuem Wissen." von Tranje spielte damit auf die größte Bibliothek im Lande an, die Krumau zum Schmelztiegel aller Gelehrten und Freidenker machte. Gleich zwei Universitäten haben sich in einem Umfeld von soviel Wissen niedergelassen. Der Fluss Krum machte an diesem Ort eine hufeisenförmige Wendung. Dadurch umgab die Stadt ein fast vollständig umschlossener, natürlicher Burggraben und wurde damit so ziemlich uneinnehmbar für jeden Feind.
"Ich glaube, dass die Bedrohung sich eher in diese Richtung verlagern wird. Pardubitz. Das Handelszentrum im Norden und die Verbindung zwischen Reichenberg und dem kompletten Süden. Ein taktisch lohnendes Ziel. Damit würden sie uns echt treffen." von Tranje grübelte. Pardubitz war das Tor zum Norden und seine Einwohner lebten gut vom Handel zwischen den Welten, sei es durch das Umschlagen aller möglichen Waren oder dem Erteilen von Krediten. Reichenberg mochte das Silber haben, aber Pardubitz besaß die Münzen.
"Sollten wirklich 90000 Utchas dort oben lauern, dürfen wir nicht zulassen, dass sie Pardubitz einnehmen und sich dort verschanzen. Noch ist Zeit den Bastarden zuvorzukommen" König Derold von Gamal klang entschlossen.
"Wir können aber auch nicht Saetung schutzlos zurücklassen. Vielleicht ist das nur eine Finte, um unsere Truppen von hier weg zu locken." wandte Promin ein. Damit war die Diskussion in vollem Gange. Jede Seite hatte ihre Argumente und Jessica schaffte es nicht ein klares Bild der Situation zu bekommen. Ihr Land wurde angegriffen und damit oblag es bei ihr eine endgültige Entscheidung zu treffen. Einer dieser Momente lag vor ihr, die über das Schicksal von tausenden Leben entscheiden würde. Sie wollte sich nicht schwach und entmutigt fühlen, aber die Bürde war in diesem Augenblick einfach zu schwer. Als die Stimmen verstummten und die Blicke sich langsam an sie hefteten, wusste sie, dass es keine Entkommen mehr gab. Die Zweifel hatten zu lange von ihrem Teller gegessen. Es wurde Zeit all die Schwäche beiseite zu schieben und dem Unausweichlichem die Stirn zu bieten.
"Ich habe es satt hier zu kauern und darauf zu warten, dass der Feind sich blicken lässt. Macht die Truppen abmarschbereit. Wir werden morgen in aller Frühe nach Pardubitz aufbrechen."
Jessica war in einer seltsamen Stimmung, als sie am nächsten Morgen ihr Pferd bestieg und den Befehl zum Abmarsch gab. Die Sonne war noch nicht vollends aufgegangen und das fahle Licht tauchte die eigentlich weißen Mauern des königlichen Palastes in ein gespenstisches Grau. Sie gönnte sich einen letzten wehmütigen Blick über die prachtvolle Fassade und verdrängte das Gefühl, diesen Anblick zum letzten Mal genießen zu dürfen. Es war unklar, ob sie jemals wiederkehren würden, aber ein Scheitern ihrer Unternehmung hätte den Untergang von ganz Osos zur Folge. Eine riesige Verantwortung, die wie Blei auf ihrer Brust lag. Warum musste es ausgerechnet sie treffen? So viele Herrscher gab es vor ihr und niemand musste sich dieser Art von Herausforderung stellen. Sie wandte sich ab und gab dem Mut in ihr wieder mehr Raum. Ihr Pferd trabte Richtung Tor und die Königsgarde mit all ihren prächtigen Bannern folgte ihr zu dem riesigen Feldlager.
So viele Ritter, Pferde und Knappen hatte keiner der Anwesenden je in dieser konzentrierten Form erblickt. Eine gewaltige Streitmacht hatte sich vor den Toren der Hauptstadt versammelt und obwohl eine ähnliche Armee von Planitz diesen Anblick noch um ein einiges verstärken würde, hatten sie nur einen Bruchteil dessen, was ihr Gegner an Kämpfern aufbieten konnte. Eine gewaltige Schlacht lag vor ihnen und sicherlich gab es nichts Vergleichbares in den Geschichtsbüchern von Osos. Rund um Pardubitz würden sie eine neue Definition von Krieg erschaffen, die überwiegend durch ihre Anzahl von Opfern bestimmt würde. Ein paar letzte organisatorische Anweisungen dann setzte sich die imposante Streitmacht in Bewegung. Über zwei Wochen würden sie für die Reise benötigen. Eine gefühlte Ewigkeit. Hoffentlich würden ihre Feinde ähnlich langsam vorankommen.
Es gab nicht wenige, die diesen übereilten Aufbruch für einen Fehler hielten. Besonders Julian von Hestos bestand darauf die entscheidende Schlacht in Saetung zu führen, auch wenn dies bedeutete, dass die komplette Provinz unter den Plünderungen der Eindringlinge zu leiden hätte. Saetung war eine Festung, mit Verteidigungsmöglichkeiten, die keine andere Stadt in Galatien aufwies. Sicherlich war hier die Wahrscheinlichkeit für einen Sieg am Höchsten, aber Jessica war nicht bereit die weniger privilegierten Menschen des Nordens den mordenden Horden aller Vikiner preis zu geben. Auch den Einwand wenigstens auf die Truppen von Planiz zu warten, gab es von einem Großteil ihres Beraterstabes, aber Jessica wollte keine drei weitere Tage Verzögerung hinnehmen. Pardubitz hatte zwar eine ordentliche Verteidigung aufzubieten, aber einer Belagerung würden sie trotzdem nur geringe Zeit standhalten. Es war von enormer Wichtigkeit vor dem Feind die Stadt zu erreichen, denn Pardubitz sollte verteidigt und nicht zurückerobert werden.
Am zehnten Tag erreichten sie den kleinen Ort Koban, der idyllisch am Fluss Krum lag und die inoffizielle Grenze zum Norden verkörperte. Entlang der Handelswege nach Pardubitz und Krumau gab es keine nennenswerten Städte mehr und so bot Koban die letzte Möglichkeit zur Zerstreuung für ein vom Marsch erschöpftes Heer. Im Vorfeld wurde jede Menge Wein, Essen und Unterhaltung organisiert, so dass die Truppen eine von solchen Ausmaßen nie dagewesene Feier erwartete. Ein letztes Gelage vor der alles entscheidenden Schlacht, sollte die doch aussichtslos wirkende Situation wenigstens moralisch aufbessern. Nach ihrer Ankunft sprühte der ganze Ort nur so vor Lebendigkeit. Musik erklang die ganze Nacht hindurch, der Wein floss in endlosen Strömen in die Becher der durstigen Kämpfer und so manche Einheimische empfing in dieser Nacht den Nachwuchs adliger Hochwohlgeborener. Ein letztes Mal fielen die Zwänge, um sie am nächsten Morgen mit neuer Härte unweigerlich wieder zu verfestigen.
Jessica entzog sich den Feierlichkeiten weites gehend. Ihre einzige Verpflichtung an diesem Abend bestand in einem offiziellen Abendessen im besten Wirtshaus der Stadt. Nachdem dieser formelle Akt beendet war, verweilte sie mit Sasha an einem der Tische abseits der großen Tafel. Der feierliche Trubel drang durch die geöffneten Fenster und die Musikanten spielten Lieder, die durch ihren schnellen Rhythmus auf keinen großen Anspruch schließen ließen. Die anzüglichen Texte wurden aus hundert Kehlen grölend begleitet und vermutlich sogar noch in Saetung vernommen. Jeder hatte seine spezielle Form von Spaß, nur die beiden Frauen am Tisch saßen trübselig vor ihrem Kelch Wein und gaben sich wenig aufregenden Gesprächen hin. Hauptsächlich ging es um die verschobene Hochzeit. Boten aus Saetung hatten Prinz Kosobions Unmut übermittelt, aber die zurückgebliebenen Diplomaten hatten es geschafft die Wogen zu glätten und so befanden sich seine Truppen nur vier Tage hinter ihnen.
"Ich verstehe das nicht. Wir stehen kurz vor unserer Vernichtung und deine Leute geben sich wilden Exzessen hin." Sasha schüttelte verständnislos den Kopf.
"Sie brauchen die Zerstreuung, um mit freiem Kopf das Bevorstehende zu meistern." erklärte Jessica.
"Und du brauchst das nicht?"
"Selbst wenn ich es bräuchte, lässt es mein Stand nicht zu. Außerdem bringt es mir mehr Zerstreuung mit dir hier zu reden. Kein Wein der Welt könnte das ersetzen." erklärte Jessica.
"Dann schlage ich mal ein neues Thema vor. Siehst du diese alte Frau dort. Sie starrt dich ungeniert an."
"Wann sieht man schon mal eine Königin." Jessica drehte den Kopf in die angegebene Richtung. Überrascht blieb sie an dem bekannten Gesicht hängen.
"Das Orakel." flüsterte sie.
"Du kennst sie?"
"Bedauerlicherweise. Wir sollten zu ihr rübergehen." Jessica erhob sich, ergriff ihren Kelch und bewegte sich auf den Tisch der Alten zu. Ohne ein Wort zu sagen, setzten sich die beiden Frauen dem Orakel gegenüber.
"Ich bin überrascht Euch hier zu sehen." Jessica wirkte unsicher.
"Es ist mir auch kein Vergnügen hier zu sein, aber eure Torheit zwingt mich dazu." entgegnete das Orakel brüsk.
"Sie gefällt mir jetzt schon." Sasha grinste.
"Was meint Ihr?" fragte Jessica. Obwohl sie wusste welch schwieriger Charakter vor ihr saß, war sie überrascht über die abweisende Erwiderung.
"Ihr verkennt vollkommen die Ziele eures Gegners." Der offensichtlich belehrende Tonfall verärgerte Jessica.
"Dann erklärt sie mir. Immerhin seid Ihr das Orakel." entgegnete sie gereizt.
"Ihr solltet mir mehr Respekt zollen. Immerhin bin ich die Einzige, die Euch zurück auf den rechten Weg bringen kann." Jetzt klang die Alte verärgert.
"Ihr habt sicher nicht den weiten Weg auf Euch genommen, um vor mir zu schmollen, nur weil ich Euch die Hochachtung versage, die Ihr für angebracht haltet. Also sagt mir, was Ihr zu sagen habt oder kehrt zurück in eure Spelunke nach Dreiwasser. Es ist mir gleich. Ihr verlangt Respekt. Dann zeigt ihn auch vor uns." Jessica zeigte ungewohnten Trotz. Ein paar Sekunden Schweigen folgten.
"Askalan hat Euch verändert." fing die Alte in ruhigem Tonfall an.
"Ich habe dort drüben viel Schmerz erlebt."
"Das ist Nichts gegenüber dem, was Euch bevorsteht, wenn Ihr eure Pläne nicht ändert."
"Also. Was machen wir falsch?"
"Ich kenne euren Gegner. Ihm liegt nicht viel an Eroberung. Sein einziges Ziel besteht in der Vernichtung allen menschlichen Lebens. Diesem Ziel wird alles untergeordnet. Ihr glaubt das Mittel der Vernichtung ist diese riesige Heer, was auf Euch zukommt. Da irrt Ihr. Es gibt eine viel mächtigere Waffe und nach der streckt er gerade seine Finger aus."
"Was? Was könnte schlimmer sein als diese Anhäufung von Barbaren?"
"Die Schriften von Xantes." erklärte das Orakel bedeutungsschwanger.
"Dieses vergammelte Buch, dessen Existenz nie bewiesen wurde. Lächerlich." Jessica schnaubte verächtlich.
"Ihr solltet das nicht so hochnäsig abtun. Das gleiche hat man auch über Askalan und der Quelle der Jugend behauptet. Nun seht Euch an. Ihr lebt nur, weil sich diese Mythen als wahr herausstellten."
"Und verratet Ihr mir auch, wo sich dieses Buch befindet." Jessica fiel zurück in den alten Trotz. Sie bereute es mittlerweile an den Tisch gekommen zu sein.
"Zügelt eure Arroganz." erwiderte die Alte nicht weniger trotzig.
"Ich habe euresgleichen so satt. Eure Informationen tröpfeln so spärlich, wie Morgentau den Grashalm runter rinnt. Dafür erklimmt eure Wichtigtuerei neue Höhen. Sagt es oder lasst es. Ich werde mich nicht erniedrigen Euch darum zu betteln." Das Orakel und ihre herablassende Art mit ihr zu reden, widerte Jessica an.
"Euer Stolz wird euer Untergang sein." Das Orakel erhob sich und war bereit zu gehen.
"Wartet." hielt sie Sasha zurück. Ihr fordernder Blick fiel auf Jessica.
"Nein. Irgendwann ist Schluss. Ich habe diesen verfluchten Kontinent besucht, weil es von mir erwartet wurde. Ich heirate einen Prinzen den ich noch nie gesehen habe, nur um neue Bündnisse zu schließen. Ich führe diese verdammte Armee gegen eine Übermacht an, obwohl vermutlich jeder auf Osos besser als Heerführer geeignet wäre. Was wollt ihr denn noch? Das ich auf die Knie gehe vor dieser ..." Jessica konnte sich gerade noch beherrschen.
"Ich kann einfach nicht mehr. Es ist zu viel." schluchzte sie, einem Zusammenbruch nahe.
"Ich weiß." erwiderte Sasha sanft.
"Jedenfalls werde ich nicht betteln." schickte sie jetzt wieder gefasst in Richtung Orakel. Die Alte stand immer noch am Tisch.
"Ich habe vergessen wie jung Ihr noch seid. Die Schriften befinden sich dort, wo Bücher üblicherweise aufgehoben werden. Findet euren Weg. Ich hoffe ihr tut das Richtige." Damit ließ sie das Orakel allein. Sasha beugte sich zu Jessica rüber.
"Jetzt ist der richtige Zeitpunkt für deine Zerstreuung." sagte sie. Ihre Gesichter waren nur noch eine Handbreit voneinander entfernt.
"Was?" fragte Jessica war verwirrt. Sie sahen sich tief in die Augen.
"Du weist schon. Den Kopf frei kriegen um das Bevorstehende zu meistern." Erst jetzt verstand Jessica und damit ließ sie ihren Tränen freien Lauf. Sanft drückte Sasha sie an ihre Schulter und in diesem Moment schien der Rucksack mit all den Verpflichtungen um mehrere Brocken leichter.
Die Flotte erreichte gegen Morgen endlich die Küste. Die aufgehende Sonne blendete Azul, als er versuchte die steil abfallenden Klippen näher zu ergründen. Irgendwo dort drüben musste sich der Fluss Krum seinen Weg durch die Felsen gewaschen haben, um nach unzähligen Windungen auf dem Kontinent endlich sein Wasser im westlichen Meer zu ergießen. Von hier aus planten sie nach Norden zu segeln, immer der Kälte entgegen, die dort oben so gnadenlos alles Menschliche peinigte. Mit Schaudern dachte Azul an die Option in Eishaffen von Bord zu gehen und einen langen Fußmarsch in Richtung ihres eigentlichen Ziels zu absolvieren.
"Wolka will uns sehen." Niska riss ihn aus den Gedanken.
"Ich komme gleich." antworte Azul knapp und behielt seinen Blick Richtung Osten.
"Wie fühlst du dich?" fragte sie.
"Es ist seltsam. Ich spüre nichts. Keine Freude. Keine Aufregung. Keine Wehmut. Sollte ich nicht irgendeine Art von Gefühl haben, immerhin kehre ich in meine Heimat zurück."
"Vielleicht kommt es ja noch."
"Nein. Ich fürchte ich habe keine Heimat mehr."
"Das wird schon wieder und jetzt komm." versuchte Niska ihn aufzumuntern. Gemeinsam betraten sie die Kabine, in der Wolka bereits über der Karte hockte.
"Es war ein Fehler die Vikiner voraus nach Eishaffen zu schicken." sprach er mehr zu sich selbst. Gedankenversunken studierte er den nördlichen Kartenabschnitt.
"Aber vielleicht können wir doch noch daraus unseren Vorteil ziehen." grübelte er vor sich hin und bemerkte gar nicht, dass die Gruppe vollständig war.
"Äh... Wolka. In welchen Sphären du auch gerade schwebst, aber komm zurück und beziehe uns mit ein." Legans Berührung ließ Wolka zusammenzucken.
"Oh. Ich habe euch gar nicht bemerkt."
"Was ist denn los?"
"Die Vikiner. Sie haben in Eishaffen zu viel Aufmerksamkeit erregt."
"Was solls. Dann wissen sie halt das wir kommen. Aufhalten können sie uns eh nicht." versuchte Legan ihn zu beruhigen.
"Nein, nein. Erkennst du das denn nicht? Dieser Pass hier, da können eine Hand voll Männer ganze Armeen Tage lang blockieren. Wir hätten das Überraschungsmoment gebraucht, um da durch zu kommen, aber diese verdammten Vikiner mussten ja unbedingt plündern. Nun weiß unserer Gegner, dass wir da oben sind."
"Dann müssen wir halt den Umweg gehen." Legan fuhr mit dem Finger über die Karte.
"Das dauert zu lange und ist außerdem zu vorhersehbar. Inzwischen könnten sie ganze Festungen entlang unserer Route bauen. Es gibt einen einfacheren Weg. Wir segeln den Fluss Strom aufwärts."
"Ach ja. Und wenn wir Flaute haben, treiben wir zurück ins Meer."
"Dann rudern wir. Genug kräftige Utchas sind an Bord. Bis Koban sollte der Fluss tief genug sein. Von da an sind es nur noch wenige Tagesmärsche. Dann nähern wir uns von Süden."
"Damit hätten wir wieder unser Überraschungsmoment, denn der Angriff wird von Norden erwartet." ergänzte Niska.
"Klingt nach einem guten Plan, zu mal es kaum Siedlungen entlang des Flusses gibt. Die wenigen Siedlungen können wir mit einem Vorauskommando erledigen. So sollten wir bis Koban unerkannt bleiben." erklärte Legan.
"Dieses Mal schicken wir aber keine Vikiner. Utchas. Nicht mehr als fünfzig. Wir behalten die Kontrolle. Koban wird dann unser erster richtiger Einsatz." Wolka grübelte jetzt wieder. Sein Blick schweifte erneut über die Karte in der Hoffnung nichts übersehen zu haben. Für einen Moment blieb er an jenem großen Punkt hängen, der am Ende ihrer Reise stand. Der Fluss machte dort eine hufeisenförmige Krümmung und schloss die Stadt fast komplett ein. Es würde nicht einfach werden sie einzunehmen, aber genau dort würde sich das Schicksal der gesamten Menschheit entscheiden.
Wie an einer Perlenkette aufgeschnürt, segelte ein Schiff nach dem anderen den Fluss hinauf. Vorneweg die leichten, wenig beladenen Schaluppen, die die gesamte Breite des Flusses nutzen konnten. Die schweren Galeonen dagegen hatten nicht viel Spielraum und es bedurfte einiges Geschick sie in der Fahrrinne zu halten, aber sie kamen gut voran. Es bestand ein gewisses Risiko die Truppen auf diese Entfernung zu verteilen und es würde auch seine Zeit brauchen, um alles wieder zu vereinigen, aber solange sie vom Feind unbemerkt blieben, drohte ihnen keine Gefahr. Die wenigen Bewohner entlang der Krum wurden durch die Vorhut liquidiert. Kleine Gemeinschaften, die dem harten Norden mit seinen langen Wintern in mühsamer Arbeit etwas Land abgetrotzt hatten und jetzt durch Kreaturen aus einer anderen Welt emotionslos massakriert wurden. Regelmäßig klinkten sich Azul und die anderen aus, wenn es blutig wurde. Eine feige Flucht. Es war zwar einfach sich den grausamen Einzelheiten zu entziehen, aber es war schwierig das unruhige Gewissen im Zaum zu halten. Azul bemerkte die Zweifel in Niska, Legan und Wolka, als die von der Leine gelassenen Utchas auch Kinder mit ihren Keulen erschlugen. Zweifel, die auch ihn erfassten und ihm einige schlaflose Nächte einbrachten. Das war nicht die Art von Krieg, auf die sie sich vorbereitet hatten und so war er erleichtert, als sie endlich Koban erreichten. Hier würden sie nur die Stadtverteidiger erledigen und die Bevölkerung einfach davonjagen. Er hoffte, dass damit sein Gewissen endlich beruhigt wurde.
Sie planten den Angriff weit nach Mitternacht, so dass sie die wenigen Stadtwachen praktisch im Schlaf überraschen würden. Auf Grund der geringen Größe der Stadt und ihrer wenig ausgebauten Befestigung rechnete Wolka mit höchstens zwanzig Gegnern, die für die fünfzig natürlich gepanzerten Utchas kein Problem darstellen sollten. Die fünf Stabträger versammelten sich in der Kajüte des Flagschiffes und bildeten ihren elitären Zirkel. Sie steuerten die Utchas, mit der Art von Magie, die sie auf Askalan unzählige Male geübt hatten. Sie sahen wie ihre Marionetten in einem leichten Segelboot flussaufwärts ruderten und als sie die ersten kleinen Lichtpunkte in der Dunkelheit erkannten, wussten sie, dass es nicht ganz so einfach werden würde.
"Die Stadt ist viel zu hell erleuchtet für diese Uhrzeit." hörte Azul Legans Gedanken in seinem Kopf.
"Da steigt eine Feier. Ich höre Musik." kam es jetzt von Niska.
"Sei vorsichtig. Irgendwas stimmt da nicht." Wolka hatte das Vorgehen Rohan überlassen, denn immerhin war es seine Aufgabe die Kämpfer in der ersten Reihe zu koordinieren.
"Dann sind sie halt betrunken statt schlafend. Das Ergebnis wird das Selbe sein." Rohans Gedanken waren selten in der Gruppe, aber wenn doch hatte es immer was verstörendes an sich. Die Utchas steuerten das Schiff ans Ufer und betraten lautlos die abfallende Böschung. Sie näherten sich den ersten Behausungen und bevor die Stadtwache auch nur begriff, dass sich ihm grauenvolle Kreaturen näherten, wurde ihr schon der Kopf gespalten. Ohne jegliches Geräusch schlichen sie weiter stadteinwärts, was in dieser Form eigentlich unnötig war, denn bei der lauten Musik hätten sie auch marschieren können, es wäre niemanden aufgefallen. Ihr Ziel war der zentrale Marktplatz, dort wo sie die Quelle der Feier vermuteten. Rohan plante über die angetrunkenen Einwohner herzufallen, wie es ein Wolfsrudel mit einer Schafsherde tun würde.
"Nur die Bewaffneten." kam es von Niska, aber Rohan machte keinen Hehl über seine Abneigung daraus, was er von dieser Bitte hielt.
"Wolka. Befehl ihm, dass er Frauen und Kinder verschont." flehte Niska, aber Wolka blieb still.
Die Utchas brüllten fürchterlich als sie begannen auf die Feiernden einzuschlagen. Die Musik verstummte umgehend und wurde ersetzt durch den Takt von berstenden Schädeln. Panische Hilfeschreie lösten das Gebrüll der Utchas ab. Die Menschen stolperten übereinander, als sie versuchten in die engen Gassen der Stadt zu fliehen. Blut färbte die Pflastersteine rot und das wilde Gegrunze der Utchas verwandelte den Marktplatz jetzt auch akustisch in eine Theaterbühne des Grauens. Es dauerte nicht lange bis sich die Leichen stapelten und alles menschliche Leben, dass durch zuviel Wein oder Verletzungen nicht mehr fliehen konnte von seiner Existenz erlöst wurde. Mindestens drei dutzend Tote verzeichnete Azul und bei jedem Einzelnen konnte er die Genugtuung von Rohan spüren.
"Hör auf. Es reicht." befahl Wolka. Die Utchas wollten sich gerade aufmachen, die Gassen nach weiteren Opfern zu durchsuchen.
"Sollen sie verängstigt in die Umgebung fliehen und allen erzählen was hier passiert ist. Es juckt uns nicht. Sichere die Stadt. Morgen ziehen wir den Rest der Truppen nach und dann..." Wolka brach ab. Etwas hatte seine Aufmerksamkeit in einer der Seitengassen erregt.
"Da ist jemand aber todesmutig." kommentierte Legan die Bewegung.
"Soll ich sie vertreiben?" fragte Rohan.
"Warte noch." befahl Wolka.
Jetzt tat sich auch was in den anderen Gassen.
"Sie kreisen uns ein." erfasste Wolka als erstes die Situation.
"Wohl doch mehr als nur zwanzig." stellte Legan fest. Niska schickte augenblicklich einen der Greife los. Es dauerte eine Weile bis der Vogel über der Stadt kreiste und das wahre Ausmaß ihrer Gegner offenbarte.
"Deutlich mehr als zwanzig. Verdammt. Wo kommen die alle her?" Legan war sichtlich überrascht.
"Die Utchas sitzen in der Falle. Was sollen wir tun?" Zum ersten Mal fühlte Azul etwas Anderes als tiefe Abneigung in Rohans Gedanken. Es war schon fast panisch, wie er die Frage in den Raum warf.
"Ich.." Wolka wusste nicht was er sagen sollte. Soweit er das überblicken konnte lagerten hier tausende Kämpfer. Wie konnte er sich nur so sehr geirrt haben in seinen Überlegungen. Der praktische Fehler lag in der mangelnden Aufklärung, aber selbst in seinen pessimistischsten Prognosen hätte er nie das erwartet, was er hier vorfand, von daher gab es keinen Grund einen der Greife vorweg zu schicken.
"Was tun wir?" brüllte Rohan jetzt. Auch wenn es pure Verzweiflung war. Es gab nur eine Möglichkeit. Durchbruch.
Jessica trocknete ihre Tränen. Auch wenn ihr das Weinen einen ordentlichen Ballast genommen hatte, hasste sie in diesem Moment ihre Schwäche. Warum konnte sie nicht so gefasst sein wie Sasha? Den Tod ihres Bruders hatte sie mit einer Würde und vor allen Dingen mit einer Stärke gemeistert, die bewundernswert war. Sasha besaß genau die Eigenschaften, die Jessica als rechtmäßige Thronfolgerin vollkommen fehlten. Die Härte, die Souveränität und auch die scheinbar dominante Ausstrahlung mit der sie ihre Anweisungen erteilte, waren nichts weiter als Heuchelei. Tief in ihrem Inneren saß ein kleines verängstigtes Mädchen, das sich so winzig fühlte und dass drohte von der riesigen Welt dort draußen erdrückt zu werden. Irgendwann würde diese schützende Fassade aus Trugbildern zusammenbrechen und wenn dann all ihre Minderwertigkeit offen daliegt, wie feinstes Obst in den Auslagen eines Marktstandes, dann würden die Geschichtsschreiber nicht mehr nachkommen, ihre Chroniken bezüglich ihres Versagens anzupassen. Nicht weit von hier, in Krumau, würden ganze Regale mit Büchern über ihre Unzulänglichkeiten gefüllt werden. Die unheilvolle Verkettung brachte sie ins Grübeln.
"Das Orakel sagte, wir würden die Schriften dort finden, wo Bücher in der Regel aufbewahrt werden. An keinem Ort gibt es mehr Bücher, als in Krumau. Was, wenn wir wirklich falsch liegen." riss sie sich aus ihrer Versagensangst los.
"Hm. Ich kann dir da nicht weiterhelfen, aber dafür hast du einen ansehnlichen Stab aus Beratern." erwiderte Sasha.
"Soldaten, die in taktischen Zwängen denken. Wenn ich denen mit Büchern komme, erklären sie mich für verrückt."
"Ich weiß nicht, inwiefern dieses Orakel ernst zunehmen ist, aber..." Sasha stockte, denn der Lärm der Straße hatte sich von ausgelassen in panisch geändert. Sie gingen zu dem Fenster hinüber und erblickten zwei Frauen, die voller Angst die Gasse vor ihrem Wirtshaus hinauf stürmten.
"Die Waffen." sagte Sasha und schon stürmten die beiden Frauen die Treppe hinauf. In der ersten Etage begegnete ihnen von Tranje, der im hektischen Gehen seinen Waffenrock anlegte. Ein Blondschopf ragte aus der Tür seines Zimmers. Mit ein paar sanften Worten drängte er die Frau zurück. Jessica war verblüfft. Sie sah in von Tranje einen Ehrenmann, der ausschließlich für Anstand, Königreich und gute Ratschläge stand. Bisher hatte sie nur wenige private Eigenschaften von ihm kennengelernt.
"Ich bin auch nur ein Mann." erwiderte er auf ihren verblüfften Blick. Jessica verdrängte die aufkommenden Bilder.
"Was geht hier vor?" fragte sie jetzt wieder gefasst.
"Ich weiß es nicht. Holt euer Schwert und folgt mir." Wenige Augenblicke später verließen sie bewaffnet das Wirtshaus. Vorsichtig folgten sie der Gasse Richtung Marktplatz.
"Bei den Göttern." entfuhr es Jessica, als sie die unzähligen Utchas erblickte, die förmlich ein Massaker unter den Feiernden anrichteten.
"Zurück." befahl von Tranje.
"Was? Wir müssen ihnen helfen." forderte Jessica.
"Das werden wir, aber nicht kopflos. Folgt mir." von Tranje stürmte stadtauswärts. Die Schreie wurden leiser, als sie die engen Gassen hinter sich ließen und das Feldlager vor der Stadt betraten. Er brüllte ein paar Anweisungen und wenige Momente später standen mehr als hundert Knappen in dünnen Hemden vor ihm.
"Rüstung. Langschilde. Keine Schwerter. Keine Bogen. Beeilung." befahl er und die Knappen setzten sich in Bewegung.
"Wir müssen sie auf dem Markt festsetzen, bevor sie sich in der ganzen Stadt aufteilen. Sieben Gassen führen dort hin. Das heißt wir bilden sechs Gruppen." von Tranje koordinierte jetzt ruhig, aber bestimmt.
"Wir drängen sie Richtung Fluss. Das ist unsere einzige Chance." Er wartete nicht darauf, dass alle Knappen vollständig angetreten waren. Willkürlich teilte er sie in sechs Gruppen auf und legte für jede einen Anführer fest. Dann rannten sie durch das nördliche Stadttor. Die Aufgabe der Knappen bestand darin, jede einzelne Gasse zu blockieren. Einzig die breite Strasse zum Fluss blieb offen. Sie rammten ihre Langschilde in die Fugen des Pflasters und in Dreierreihe dahinter formten sie ein Bollwerk, dass schwer zu durchbrechen seien würde.
Jessicas Blick schweifte über den Marktplatz. Unmengen an Leichen lagen auf dem Pflaster und alles was noch stand, hatte diese furchtbar verzerrte Fratze, die so typisch für Utchas war. Sie erinnerte sich an die Furcht, als sie zum ersten Mal einer dieser Kreaturen gegenüberstand. Dieselbe Furcht musste jetzt auch ihr menschliches Bollwerk ergreifen. Bei den Göttern. Wo kamen diese Ausgeburten nur her? Soweit im Süden hatten sie mit keinem Angriff gerechnet. War Pardubitz schon gefallen? Unmöglich. Die Kunde hätte sie längst erreicht. Jetzt dämmerte es ihr. Sie mussten den Fluss hinauf gesegelt sein. Dann konnte Pardubitz unmöglich ihr Ziel sein. Krumau. Sie wollten nach Krumau. Dort, wo alle Bücher stehen und dieses eine ganz Spezielle. Ein metallisches Geräusch durchbrach ihre Gedanken. Die Utchas versuchten einen der Schildwalle zu erstürmen. Vergeblich. Die Knappen hielten stand, als die Keulen auf den Schilden niedergingen. Trotz aller Wucht gaben sie keinen Breit her. Wie Wasser, das auf eine Felswand aus massiven Gestein traf, prallten die Utchas am Schildwall ab.
"Haltet stand." brüllte von Tranje über den Marktplatz und verschwand umgehend in den jetzt dunklen Gassen der Stadt. Eine gefühlte Ewigkeit verging und weitere Versuche der Utchas durchzubrechen scheiterten. Dafür waren die Gassen zu schmal und die Schildwalle zu stabil. Es blieb ihnen nur ein Ausweg und der führte abwärts zum Hafen. Vorerst mieden sie diese einzige Option, denn von dort aus gab es keinen Fluchtweg. Irgendwann erschien von Tranje wieder an Jessicas Seite. Er hatte jetzt weitere Truppen organisiert, mit denen er vorrücken wollte.
"Vorwärts." brüllte er über den Marktplatz und die Schildträger ergossen sich wie Wasser nach einem gebrochenen Staudamm über die Freifläche. Die Mengen an Männern kam ihnen jetzt zu Gute. Ein zum Fluss offenes Viereck kreiste die verdutzten Utchas ein. In Dreierreihe hatten sie die nächtlichen Angreifer förmlich umzingelt.
"Schritt." kam das Kommando und die Schilde wurden aus den Fugen gezogen und eine Schrittlänge weiter vorne wieder ins Pflaster gerammt. Beim zweiten Kommando Schritt bekamen die Utchas Panik. Ihr Raum wurde immer enger. Erneute Versuche das Bollwerk zu durchbrechen scheiterten. Die einzige Möglichkeit wurde ihnen jetzt förmlich aufgedrängt. Der Morgen graute bereits, als die Schildreihen mittlerweile so eng waren, dass die Utchas in die Strasse zum Fluss ausweichen mussten. Die sporadischen Ausbruchsversuche nahmen in ihrer Verzweiflung zu, wie sie in ihrer Intensität abnahmen. Der Frust saß tief in den Reihen der Bestien. Stück für Stück wurde ihr Raum enger und irgendwann fanden sie sich an dem kleinen Hafen wieder.
"Können diese Bastarde eigentlich schwimmen?" fragte Jessica, als der erste Utcha auf Grund der Enge drohte ins Wasser zu stürzen.
"Das werden wir gleich herausfinden. Schritt." brüllte von Tranje und das Plätschern von Wasser verriet ihm, das es den ersten erwischt hatte. Hilflos paddelte er herum und nach wenigen Minuten versank er in den Fluten des tiefen Flusses. Im Angesicht dieses grausamen Schicksals rafften die verbliebenen Utchas ihren letzten Mut zusammen und probierten einen Ausbruch mit ungeahnter Heftigkeit.
"Vorwärts. Ertränkt sie." befahl von Tranje. Gegen die Masse an Soldaten hatten die Utchas keine Chance. Einer nach dem anderen fiel über die Hafenmauer in den Fluss und ertrank jämmerlich. Begleitet von wildem Siegesjubel hauchten sie ihren letzten Atemzug aus.
Dieser erste Triumph über den Feind setzte ungeahnte Motivation frei. Obwohl das Ungleichgewicht der Kräfte eigentlich keinen anderen Ausgang zuließ, fühlten sich die Kämpfer wie Helden, die einen weit überlegenden Feind mit Raffinesse und Geschick besiegt hatten. Die Unwirksamkeit ihrer Waffen kompensierten sie mit diesem taktischen Manöver, dass von von Tranje auserkoren und perfekt umgesetzt wurde. Es gab ein paar Verluste unter den Feiernden auf dem Marktplatz, aber überwiegend hatte es Einheimische getroffen. Blieb einzig und allein die Frage, wie es zu dieser Konfrontation kommen konnte.
"Wie konnte uns der Feind so überraschen?" fragte Derold von Gamal zurecht, als sie sich zur Lagebesprechung im Wirtshaus einfanden.
"Sie müssen den Fluss hinaufgekommen sein." Von Tranje studierte die vor ihm liegende Karte.
"Offenbar hatten sie genauso wenig mit uns gerechnet, wie wir mit ihnen." fuhr er fort.
"Ihr glaubt, das Aufeinandertreffen war nur ein großer Zufall?" fragte Jessica.
"Allerdings. Kundschafter einer viel größeren Streitmacht."
"Ihr glaubt doch nicht wirklich, dass 90000 Soldaten auf Schiffen den Fluss hinaufkommen. Das würde ihre Truppen wahnsinnig zersplittern. Kein vernünftiger Feldherr würde das machen." warf von Gamal zweifelnd ein.
"Da habt Ihr wohl Recht und unter normalen Umständen könnten wir ihnen, jetzt wo wir das wissen, einen vernichtenden Schlag versetzen. Leider haben wir keine funktionierenden Angriffswaffen, so dass wir trotz der idealen Umstände kaum Erfolg haben werden." erklärte von Tranje.
"Was schlagt Ihr vor?" fragte von Gamal.
"Offenbar waren die Angriffe im Norden eine Finte. Damit ist Pardubitz nicht mehr ihr vorrangiges Ziel. Was immer auch dort den Fluss hinaufkommt, wird hier in Koban aufschlagen. Damit stehen sie genau in der Schnittstelle zwischen Saetung und dem Norden. Wir sollten zurück und die geplante Verteidigung in der Hauptstadt organisieren." schlug von Tranje vor.
"Und die Städte des Nordens den Bastarden überlassen. Was wenn sie die Grenze nach Gamal überschreiten? Ich werde mich nicht in eurer Hauptstadt verstecken und darauf warten, dass der Feind endlich vorbeikommt, während mein eigenes Land geplündert wird." von Gamal wurde jetzt aufbrausend.
"Auf dem offenen Schlachtfeld werden wir untergehen. Wir müssen uns verschanzen." Die Worte flogen nur so hin und her und Jessica wusste, dass es jetzt unmöglich war in dieser aufgeheizten Stimmung irgendein brauchbares Argument vorzubringen. Also wartete sie bis jeder seinen Unmut in die Runde geworfen hatte. Nachdem die Streitenden ihrer eigenen Worte langsam überdrüssig wurden, sagte sie ruhig und bestimmt nur ein Wort.
"Krumau."
"Die schlechteste aller Möglichkeiten." warf von Gamal müde aber verächtlich ein.
"Du glaubst doch dem Orakel?" fragte Sasha skeptisch.
"Das Orakel? Es war hier? Warum erzähltet Ihr mir nicht davon?" fragte von Tranje.
"Gestern Abend wart Ihr mit anderen Dingen beschäftigt." antwortete Jessica etwas zu frech.
"Mit blonden Dingen." fiel Sasha spöttisch ein.
"Was hat es verkündet?" von Tranje schien etwas pikiert zu sein.
"Es erzählte mir von den Schriften von Xantes. Der eigentliche Grund der Invasion." Bedrückende Stille erfüllte den Raum.
"Das es diese Schriften gibt wurde nie nachgewiesen." wandte Julian von Hestos ein.
"Ihr seid König. Euch werden mehr Dinge überliefert als dem gewöhnlichen Adel. Ihr kennt die Geschichten über die Vergangenheit dieses Buches. Es gibt Gründe, warum sie nur wenigen Auserwählten weitergereicht werden." von Gamal wirkte nachdenklich.
"Was hat es mit diesem Buch auf sich?" fragte Jessica.
"Angeblich ist es vor vielen Jahrhunderten auf Osos aufgetaucht. Es ist nicht aus dieser Welt. All die Geschichten um dieses Buch enden mit Wahnsinn, Tod und Vernichtung. Nachdem es soviel Leid angerichtet hatte, wurde es versteckt. Niemand weiß wo." erklärte der König von Gamal.
"Mythen. Auch Ihr hättet eines Tages davon Kunde bekommen." Der König von Hestos blieb skeptisch.
"Wo versteckt man ein Buch am Besten? Unter Millionen von anderen Büchern." schlussfolgerte von Tranje.
"Die große Bibliothek von Krumau."
"Ein hohes Wagnis die Truppen dorthin zu führen." sagte von Gamal.
"Eine Torheit um es genau zu sagen." schloss sich von Hestos an.
"Was meint Ihr?" fragte Jessica von Tranje.
"Das Orakel mag launisch sein, teilweise sogar verbittert. Aber es besitzt auch eine gewisse Weisheit. Ich sehe keinen Grund an ihren Worten zu zweifeln." antwortete er.
"Dann ist es entschieden. Führen wir die Truppen nach Krumau." Jessica hatte Mühe diese Anweisung selbstsicher zu verkünden. Zu groß waren ihre eigenen Zweifel das richtige zu tun.
Der nächste Morgen wurde schön. Das Rot der aufgehenden Sonne verbreitete eine ungeahnte Euphorie, die sicherlich ihren Ursprung in dem Sieg der vergangenen Nacht hatte. Die alltäglichen Verpflichtungen gingen leichter von der Hand, wenn diese Welle des Hochgefühls einen erfasst und mit unbändigem Selbstvertrauen dem Ziel entgegenträgt. Leider trübten verschiedene Wellenbrecher dieses beste aller Gefühle und brachten Jessica schnell wieder in den üblichen Fluss des Zweifelns zurück. Die Bevölkerung der Stadt Koban war gezwungen ihre Heimat zu verlassen. Sie wurden zu Flüchtlingen, die vorübergehend in Saetung unterkommen würden. Selbst im besten Fall würden sie nach ihrer Rückkehr vermutlich eine zerstörte Stadt vorfinden. Die Unschuldigen waren die ersten Opfer des Krieges und es bedurfte einiger Beteuerungen der Königin, die notwendige Evakuierung zu rechtfertigen. Eine handvoll Kämpfer stellte sie zu ihrem Schutz ab. Schwerter, die im kommenden Konflikt schmerzlich fehlen würden, auch wenn sie wenig Schaden bei den Utchas anrichten würden. Ein Bote wurde zum nachrückenden Heer ihres kommenden Gemahls gesandt, der sich auf eine Konfrontation einstellen musste, sollte sich Jessica mit Krumau geirrt haben und Saetung zum eigentlichen Ziel wurde. Gegen Mittag waren ihre Truppen abmarschbereit und die riesige Ansammlung von Kämpfern begann sich Richtung Norden zu bewegen. Alle, bis auf zwei Kundschafter, folgten dem Flusslauf Richtung Krumau. Jessica brauchte unbedingt Klarheit über das Ziel ihrer Gegner und sollten sich diese doch Richtung Süden bewegen, würden die zurückgelassenen Beobachter in Windeseile sie über den neuen Plan informieren.
Trotz der Größe ihrer Truppen kamen sie gut voran und am Vorabend der eigentlichen Ankunft in Krumau bekam sie endlich Nachrichten von den zurückgelassenen Kundschaftern. In blumigen Ausschmückungen beschrieben sie die dunkle, riesige Masse an Utchas, die sich flussaufwärts wälzte und alles vernichtete, was irgendwie nach menschlichem Leben aussah. Das Orakel hatte also Recht. Sie wollten dieses Buch. Bei den Göttern. Was stand in diesem Buch, das es wert war diese Vernichtung zu rechtfertigen.
"Was wisst Ihr über die "Schriften von Xantes"?" fragte Jessica Marsha von Tomash. Sie hatte ihre Cousine mit auf diese Reise genommen, da sie glaubte, dass Marsha ihr bisher nicht alles erzählt hatte.
"Ein gefährliches Buch." antwortete sie nichtssagend. Sie befanden sich im königlichen Zelt, dass jeden Abend für sie aufgebaut wurde.
"Der Feind versucht sich dieses Buch anzueignen."
"Dann scheint es für ihn einen gewissen Wert zu besitzen." erwiderte Marsha erneut belanglos. Jessica nickte kurz den Bewachern ihrer Cousine zu, die daraufhin ihr Schwert zogen.
"Ihr seid nur am Leben, weil ich mir von Euch Informationen erhoffe. Liefert ihr keine, seid Ihr nutzlos für mich." Die Bewacher kamen jetzt einen Schritt auf Marsha zu und untermauerten ihre Drohung.
"Ich kann Euch nur erzählen, was ich in meinem Traum gesehen habe." Jetzt war etwas Angst in Marshas Worten.
"Erzählt."
"Ich sah Padraig als König von Osos, aber er war nicht der oberste Herrscher. Eine gesichtslose Gestalt thronte über allem."
"Wer war diese Gestalt?"
"Ich weiß es nicht, aber sie fühlte sich so unheimlich mächtig an. Eine Gottheit in Menschengestalt, die überall präsent war. Niemand und nichts konnte sich vor ihr verstecken. Eine beängstigende Vorstellung."
"Und trotzdem folgtet Ihr dieser Gottheit."
"Wir folgten ihm nicht trotz der Angst, sondern auf Grund der Angst." Marsha machte eine kurze Pause, so als ob sie sich dieser Angst gerade wieder bewusstwurde.
"Und das Buch?" fragte Jessica streng.
"Dient vermutlich der Verstärkung seiner Macht. Vielleicht ist es auch nur eine religiöse Schrift. Es kam in meinem Traum jedenfalls kein Buch vor." Jessica ging jetzt ein paar Schritte auf Marsha zu.
"Ihr seid übergelaufen zu einem Feind, der jeden in dieser Welt vernichten will. Auch Euch und eure Sippschaft. Also wenn ihr noch irgendwas wisst, warum uns dieses Schicksal droht, dann wäre jetzt der richtige Zeitpunkt es uns kund zu tun."
"Ich bereue diesen Fehler zutiefst und ich versichere Euch, dass ..."
"Schweigt." unterbrach Jessica ihre Cousine brüsk.
"Mir verlangt es nicht nach umschmeichelten Worten. Ich brauche Informationen." Marsha schwieg.
"Dann nützt Ihr mir nichts. Jedenfalls nicht lebend." Jessica nickte mit dem Kopf Richtung Wachen. Diese packten Marsha umgehend unter den Armen.
"Nein." flehte sie.
"Furcht ist eine der größten Schwächen im menschlichen Dasein. Furcht führt zu irrationalen Handlungen wie Verrat. Ihr selbst habt das gerade zugegeben. Dort draußen habe ich 12000 potentielle angsterfüllte Verräter. Ich kann ihre Furcht nicht lindern, aber ich kann sie in die richtigen Bahnen lenken. Wenn ich morgen früh euren verräterischen Kopf von den Schultern trenne, dann zittern sie zwar immer noch vor diesem anrückenden Heer von Utchas, aber viel mehr werden sie dann vor mir zittern." Jessicas Stimme bebte.
"Tut es nicht." Marsha schluchzte während sie die Wachen nach draußen brachten.
Jessica musste sich setzen. Sie war jetzt allein in ihrem Zelt und damit konnte sie sämtliche Maskerade fallen lassen. Was hatte sie bloß getan? In ihrer Trauer um ihren Vater hatte sie ein Todesurteil verhängt. War es wirklich so einfach mit Trauer zu erklären? Seit ihrer Rückkehr nach Saetung wurde von ihr verlangt ein Zeichen zu setzen gegen den Verrat an der königlichen Krone. Und hier bot sich Marsha regelrecht an, aber bisher hatte sie kooperiert und damit ihr Überleben gerechtfertigt. Trotzdem wurde Jessica mehr und mehr Schwäche nachgesagt, was die königliche Führung betraf. Die Beliebtheit ihres Vaters und der einhergehende heimtückische Mord verlangten nach Genugtuung. Ihren Untertanen reichte der Name Padraig nicht mehr um all die Ungerechtigkeiten der letzten Monate zu erklären. Es wurde notwendig all die aufgestauten Empfindungen auf jemanden abladen zu können und Jessica hatte nun endlich den geeigneten Ablass geliefert. Auch wenn es besser geeignete Kandidaten als Sündenbock gab, musste Marsha ihre Rolle in dem großen Spiel am königlichen Hof einnehmen. Ähnlich wie Jessicas Hochzeit mit Prinz Kosobion hatte jeder seinen Teil beizutragen, auch wenn dieser Teil das eigene Leben beinhaltete.
Die unruhige Nacht zeugte von den Zweifeln die Jessica hinsichtlich der Hinrichtung befielen. Viel früher als geplant verließ sie ihr Bett, zog ihre Kleidung an und inspizierte aufgewühlt das Feldlager. Es war noch Schlafenszeit und so traf sie höchstens ein paar Wachen, die kurz versteiften und einen leisen Gruß absonderten. Sie ging runter zum Fluss und instinktiv hoffte sie auf Sasha zu treffen, denn mehr denn je musste sie mit Worten ihre Anspannung lösen. Tatsächlich fand sie ihre Freundin und setzte sich schweigend neben sie.
"Es ist nicht richtig." sagte Sasha bevor Jessica auch nur ein Wort anbringen konnte.
"Natürlich nicht, aber das ist unwichtig. Worum es geht ist die Botschaft. Marsha ist der einzige Feind, der sein Gesicht zeigte. Ihr Tod wird die Ordnung aufrechterhalten. Es ist ihr Opfer für den Glauben an den Sieg."
"Das seid ihr? Eine Gesellschaft aus Opfern? Ein Bauer, dem es versagt wird mehr aus seinem Leben zu machen als nur Getreide anzubauen. Eine Königstochter, die jemanden heiratet, den sie nie gesehen hat. Und nun dass? Ihr richtet eine Frau hin, damit die Ordnung erhalten bleibt. Frag dich selber. Ist es das wert, dass so eine Gesellschaft überlebt?"
"So passiert es seit Ewigkeiten. Daraus beziehen wir unsere Stärke. Jeder muss dem Lauf der Geschichte seinen Tribut zollen." verteidigte sich Jessica.
"Stärke. Ihr glaubt Stärke lässt euch überleben. Da irrt ihr euch. Nur jene werden überleben, die fähig sind sich anzupassen."
"Ich kann nicht. Nicht so kurz vor dem Krieg. Was wir jetzt brauchen ist Verlässlichkeit."
"Dann habt ihr bereits verloren." Sasha stand auf und ließ Jessica mit ihren Gedanken allein. Sie hatte keine Rechtfertigung erwartet, aber wenigstens Zustimmung zu ihrer schweren Entscheidung. Sie kannte Sasha offenbar nicht halb so gut wie sie dachte.
Die Sonne eröffnete den Tag mit schwachem Licht. Wolken hingen über ihnen, so als wollten sie ihren Unmut über die erste offizielle Tat des Tages mit der Vorenthaltung von Sonnenstrahlen kundtun. Ein massiver Holzblock wurde aufgestellt und die ersten Schaulustigen versammelten sich, um der Hinrichtung in vorderster Reihe beizuwohnen. Marsha wurde herbeigeführt und vor dem Klotz zum knien gezwungen. Ein prachtvolles Schwert diente als Instrument der Vollstreckung und wurde dem Scharfrichter überreicht. Die Bühne war hergerichtet und nun fehlte nur noch eins. Die endgültige Anweisung. Jessica trat vor den Holzblock und musterte die Gesichter, welche voller Erwartung auf das blutige Spektakel hinfieberten. Keinerlei Abscheu oder Zweifel konnte sie erkennen. Alle waren sich einig, dass die Notwendigkeit der bevorstehenden Tat viel zulange hinausgezögert wurde.
"Eurer Familie wird Mord am königlichen Geschlecht vorgeworfen. Was sagt Ihr?" fragte Jessica. Marsha schwieg.
"Weiterhin wird dem Hause Tomash Verrat vorgeworfen." Wieder bekam sie keine Antwort. Marsha kniete mit einer Würde vor ihr, die nur wenige in dieser Situation hinbekommen würden. Es bestanden keine Zweifel. Sie war eine starke Frau, selbst im Angesicht des Todes.
"Das königliche Gesetz schreibt vor, dass im Falle von Verrat an der Krone der Tod als einzige Konsequenz gilt." Ein zustimmendes Grummeln erfasste die Menge der Schaulustigen.
"Bekennt Ihr Euch des Verrats schuldig?" fragte Jessica.
"Ich habe geschworen Königin Crahild treu und ehrerbietig zu dienen, sie in schwierigen Zeiten zu beschützen und jeglichen Schaden von ihr abzuhalten. Ich sehe diesen Schwur als erfüllt an. Heute richtet ihr keine Verräterin hin. Heute sterbe ich auf Grund meiner Loyalität zur Krone." Marsha stand auf und überraschte damit die Menge. Ein Raunen erfüllte die Luft.
"Kniet nieder." befahl Jessica.
"Der Schmerz sitzt tief in Euch, aber mein Tod wird ihn nicht lindern. Diese Erkenntnis wird Euch ereilen, sobald mein Kopf zu euren Füßen liegt. Ich hoffe Ihr macht eines Tages euren Frieden mit Vergangenheit, Gegenwart und düsterer Zukunft. Ich für meinen Teil werde diese Welt im Reinen verlassen." Marshas Stimme hatte eine Gelassenheit, die offenbar frei von sämtlichen Emotionen war. Im Angesicht des Todes schien sie jeglicher Last entledigt. Neid kam in Jessica auf. Die Todgeweihte lächelte leicht, kniete sich nieder und legte ihren Kopf auf den Holzblock. Ein Knirschen erschütterte die angespannte Ruhe, als das Schwert den Halswirbel durchtrennte und der Kopf wie angekündigt vor Jessicas Füße rollte. Es benötigte alle Anstrengungen, um die Fassade aus königlicher Ausstrahlung zu halten. Sie atmete tief durch, gab ein paar Anweisungen und verschwand in ihrem Zelt. Eine Manifestation ihres schlechten Gewissens erwartete sie bereits.
"Hast du sie gesehen? All die Leute mit ihren zustimmenden Blicken. Und dann diese Genugtuung, als alles vorbei war. Sie wollten Blut und ich habe ihnen es gegeben. Jetzt gelte ich wieder als starke Anführerin, aber das bin ich nicht. Ich bin schwach. Marsha hatte das Recht auf eine ordentliche Verhandlung und ich habe sie hinrichten lassen, nur für ein bisschen mehr Respekt bei meinen Vasallen." fuhr sie Sasha an.
"Hasst du mich jetzt?" fragte Jessica, als Sasha nichts erwiderte.
"Nein. Es war falsch und irgendwann wirst du auch erkennen warum und ich hoffe du ziehst die richtigen Schlüsse daraus."
"Ich brauche dich. Ohne dich halte ich das nicht durch." Jessica stand kurz vor einem Weinkrampf. Sasha kam auf sie zu und drückte ihre Stirn auf die ihrer Freundin. Ihre Blicke trafen sich.
"Schlimme Dinge sind passiert und werden noch passieren. Was immer da auf uns zukommt? Wir stehen das gemeinsam durch. Wir können gar nicht anders, denn jeder für sich allein wird scheitern." Eine Umarmung folgte und wieder verlor Jessica tonnenweise emotionalen Ballast.
"Danke." raunte sie.
Kurze Zeit später brachen sie zu ihrer letzten Etappe auf. Das Ufer der Krum wurde so kurz vor dem eigentlichen Ziel hügliger und erschwerte das Vorankommen erheblich. Gegen Mittag setzte starker Regen ein und verwandelte den staubigen Weg in ein einziges Schlammloch, das es den Karren des Versorgungstrosses fast unmöglich machte voranzukommen. Gegen Abend wollten sie Krumau erreichen, aber durch die Wetterkapriolen konnten sie diesen Zeitplan unmöglich halten. Ihre Verfolger waren höchstens drei Tagesmärsche hinter ihnen und auch wenn diese mit ähnlichen Schwierigkeiten zu kämpfen hatten, wollte Jessica jegliche Verzögerung vermeiden. Es widerstrebte ihr sich von der Truppe zu trennen, aber jede Minute für die Planung der Verteidigung war kostbar und so erreichte ihre engste Entourage kurz nach Sonnenuntergang als Vorhut die Stadt. Begrüßt wurden sie von der üblichen Ansammlung örtlicher Politiker, die ihnen noch weit vor den Toren der Stadt entgegenkamen. Bürgermeister, Stadtrat, die Rektoren der Universitäten und der Hüter der Stadt machten ihre Aufwartung. Ein Ritual, was jedes Mal unendlich viel Zeit beanspruchte und die ungeduldige Jessica jede Menge Beherrschung kostete. Eine Unzahl an belanglosen Floskeln wurde ausgetauscht, bevor sich die Delegation in Bewegung setzte.
Sie überquerten die Krum am südlichen Ende der hufeisenförmigen Krümmung. Hatten sie bisher nur Felder und ein paar wacklige Hütten passiert, betraten sie mit dem überqueren der Brücke die eigentliche Stadt. Die Dunkelheit machte es schwer sich einen ersten Eindruck zu verschaffen, aber die wenigen Lichter in den Häusern verbreiteten eine trügerische Gemütlichkeit. Noch nie war Jessica soweit im Norden gewesen und all die Geschichten, die am Hofe von Saetung die Runde machten, handelten von einem Volk, was es trotz seiner Einfältigkeit zu Wohlstand gebracht hatte. Sie war zu jung, um den Widerspruch zu hinterfragen, warum ausgerechnet solch einfältige Menschen die größte Anhäufung von Wissen beherbergten. Die Wahrheit war, Saetung fühlte sich trotz seines Status als Hauptstadt minderwertig gegenüber den drei Schwestern und diese Geschichten kompensierten das Gefühl, dass es hier oben Leute gab, die weit ab des königlichen Hofes ihre eigene Erfolgsgeschichte schrieben. Nun befand sie sich hier vor Ort und auch wenn der Anlass eher trauriger Natur war, würde sie all den Mythen um den Norden ihre persönliche Note hinzufügen.
Sie durchquerten die engen Gassen und soweit es Jessica erkennen konnte, waren die Hütten von simpler Konstruktion. Einfache Leute wohnten hier, die ihr Auskommen mehr oder weniger der Festung verdankten. Diese Festung war das eigentliche Herzstück der Stadt, beinhaltete sie doch die größte Bibliothek von Osos. Ihre hohen Mauern erstreckten sich an den Ufern und kamen so imposant daher, dass die Minderwertigkeitskomplexe von Saetung gerechtfertig schienen. In den letzten hundert Jahren hatten Legionen von Steinmetzen dieses Weltwunder erschaffen und deren Nachfahren werden es die nächsten hundert Jahre Stück für Stück erweitern. Eingebettet in die Flussbiegung war sie praktisch von drei Seiten mit Wasser umgeben und konnte bei Bedarf sogar über einen Kanal als Insel abgesichert werden. Eine Zugbrücke ermöglichte einen Zugang von Westen, aber dieser wurde nur selten genutzt. In diesen Bau aus dickem Gestein gelangte man am besten durch die vorgelagerte Stadt im Osten. Hier lebte der Großteil der Bevölkerung. War die Festung das Herz, so waren die Gebäude vor den Mauern die Organe, die die Stadt am Leben hielten. Vorne weg die Universitäten, aber auch das Rathaus und das Theater waren beeindruckende Monumente der Architektur. Unzählige Wirtshäuser und jede Menge Wohnviertel, die je nach Stand unterschiedlich prächtig daherkamen, gaben der Stadt ihren unverwechselbaren Charme. Dieser Mix aus Kultur, Wissen und Wirtschaft war der eigentliche Nährboden für das Wachstum und verschaffte dem Ort einen ständigen Zulauf an neuen Einwohnern. Eine florierende Stadt, der durch die Wirren der Geschichte ein plötzliches Ende drohte. Viele Bewohner bereiteten sich auf die Evakuierung vor und da der Süden blockiert war, blieb ihnen nur der Weg über die Berge in den eisigen Norden.
Im Wirtshaus "zum lustigen Gesell" wurde den Gästen ein stattliches Mahl serviert. Das übliche Palaver bei solchen Anlässen blieb dieses Mal vollkommen aus. Zu unsicher war die Lage und von daher versuchte niemand wirtschaftliche Kontakte zu knüpfen oder über das elendige Leid von Steuern zu sprechen. Schweigend wurde der Braten verzehrt und die Anspannung im Speisesaal war Sinnbild für den Zustand der gesamten Stadt.
"Wie verkraften die Menschen von Krumau die Kunde vom nahenden Krieg?" durchbrach Jessica die unheimliche Ruhe.
"Angst beherrscht die Straßen. Viele sind heute schon Richtung Reichenberg aufgebrochen. Ich denke morgen werden ihnen weitere folgen. Es gibt aber auch Einwohner, die nicht fliehen und aktiv an der Verteidigung der Stadt mithelfen wollen." antwortete ihr der Bürgermeister. Die Jahre des Wohlstandes hatten ihm eine rundliche Figur verpasst. Durch seine geringe Größe erinnerte sein Körperbau an eine Boje.
"Wir brauchen jede Hilfe. Nicht nur an Schwertern besteht Mangel. Heiler, Pfleger, Köche. Alles wird benötigt. Die Belagerung wird unter Umständen Wochen dauern." erklärte von Tranje und steigerte damit unbeabsichtigt die Resignation.
"Hüter der Stadt Krumau." wandte sich Jessica an Una von Lendwutt. Ein bulliger Kerl, dem diese Aura eines grobklotzigen Haudegens anhing. Allein seine Statur raubte jedem potentiellen Angreifer eine ordentliche Portion Mut. Auf dem Schlachtfeld war er sicherlich ein gefürchteter Gegner für jeden Mann.
"Ihr seid unterrichtet über die Situation. Ein gewaltiges Heer marschiert auf eure Stadt zu. Laut Gesetz obliegt Euch die volle Verantwortung für die Verteidigung. Eine erste Lagebesprechung sollten wir noch heute Abend durchführen."
"Im Rathaus ist bereits alles vorbereitet." brummte der kantige Mann. Sein Blick blieb an Sasha hängen.
"Ihr seid nicht von hier?" fragte er ohne große Scheu.
"Sie stammt von Askalan." beantwortete Jessica seine Frage, da Sasha es vorzog zu schweigen.
"Genau wie diese Bastarde dort draußen." erwiderte von Lendwutt.
"Ich vertraue ihr voll und ganz. Das könnt Ihr auch tun." versicherte Jessica.
"Bei allem Respekt..." von Lendwutt spie das letzte Wort aus, als würde es ihn anekeln.
"Ich mache mir mein eigenes Bild." Er musterte ihre grünen Augen. Sasha hielt dem Blick souverän stand.
"Ich muss in die große Bibliothek." Jessica wechselte das Thema und erntete ungläubige Blicke.
"Natürlich. Ich werde Euch morgen früh sofort dort hinführen, eure Majestät." antwortete der Bürgermeister unterwürfig.
"Es ist heute Abend noch notwendig." Wieder gab es nur ungläubige Blicke, die Jessica zu einer Erklärung zwangen.
"Es gibt dort ein Buch, welches die Ursache all dieses Übels ist."
"Die Schriften von Xantes." schob von Tranje nach.
"Ich fürchte dieses Buch existiert nicht." warf Rektor Hebot schon fast zu hektisch ein.
"Der Feind ist anderer Meinung und offenbar scheint Euch die Erwähnung nervös zu machen." hakte von Tranje nach.
"Habt Ihr dieses Buch? Ja oder nein?" Jessica wurde energisch.
"Wir wissen es nicht." schaltete sich Rektor Plota ein, bevor sein Kollege eine weitere Lüge anbrachte.
"Erklärt mir das." forderte Jessica ihn auf.
"Die Bibliothek ist sehr alt. Mehr als tausend Jahre steht sie nun schon. Wir haben nicht zu allen Bereichen zutritt, daher wissen wir nicht, was in den verschlossenen Kammern lagert."
"Schlösser können aufgebrochen werden. Besonders, wenn sie sehr alt sind." erklärte von Tranje skeptisch.
"Nicht dieses Schloss. Kein Hammer vermag auch nur einen Kratzer in das Metall zu schlagen." Plota klang geheimnisvoll.
"Warum habe ich keine Kunde über Kammern im Reich Galatien, die nicht zugänglich sind?" fragte Jessica streng. Plota atmete tief durch bevor er antwortete.
"Eine Tür, die nicht geöffnet werden kann. Kein gutes Zeugnis für eine Bibliothek."
"Pah." entfuhr es Sasha.
"Damit wir uns richtig verstehen. Was immer auch sich hinter dieser Tür befindet, ist Eigentum der Krone." drohte Jessica.
"Natürlich." Plota fühlte sich ertappt.
"Gut. Im Übrigen wurde diese Tür durchaus durchschritten." War die Ruhe bisher wenigstens durch gelegentliches Klappern von Geschirr unterbrochen worden, herrschte jetzt absolute Stille.
"Das Orakel. Erinnert Euch. Sie hatte in den Schriften gelesen und sollten sie sich dort drinnen befinden, muss sie einen Schlüssel besitzen um hineinzugelangen." wandte sich Jessica an von Tranje.
"Ihr habt Recht eure Hoheit." von Tranje grübelte.
"Ist in den vergangenen Tagen eine alte Frau in der Stadt angekommen?" fragte von Tranje in die Runde. Bis auf von Lendwutt schüttelten alle nur unwissend den Kopf.
"Ich wusste da stimmt was nicht. In diesen Zeiten, wo alle fliehen kommt diese alte mürrische Vettel allein in die Stadt. Ich habe sie unter Beobachtung stellen lassen, aber sie ist uns entkommen." erklärte von Lendwutt.
"Ein Hoch auf euer Misstrauen. Wo habt Ihr sie verloren?" fragte von Tranje.
"Im Wirtshaus "Zum Unwissen"."
"Ein abscheuliches Haus. Dort spottet man Allem, was uns in der Stadt wichtig ist. Ich hätte dieses Lokal schon längst schließen lassen sollen." entfuhr es dem Bürgermeister.
"Das klingt eindeutig nach dem Orakel." wandte sich Jessica an von Tranje.
"Sie bleibt ihrer Linie treu. Ihr solltet vor eurem Abstecher in die Bibliothek dort vorbeischauen." empfahl er.
"Begleitet Ihr mich nicht? Ich könnte eure Unterstützung gebrauchen, denn ich fürchte mein Verhältnis zu dieser Frau ist nicht das Beste."
"Tut mir leid. Wir haben die Verteidigung der Stadt zu planen. Ihr könntet es mir befehlen, aber es wäre sinnvoll, dass wenigstens einer von uns bei den Vorbereitungen dabei ist."
"Da habt Ihr wohl Recht." Jessica verkrampfte der Magen bei dem Gedanken daran wieder mit dieser fürchterlichen Frau reden zu müssen. Ein notwendiges Übel, denn mittlerweile war sie davon überzeugt, dass die Alte eine entscheidende Rolle in diesem Krieg spielte.
Nach dem Essen machte sie sich gemeinsam mit Sasha auf den Weg. Eine unheimliche Stille lag über der Stadt, wie ein Mantel aus drohendem Unheil. Die spärlich beleuchteten Gassen waren kaum zu unterscheiden, aber sie hatten sich den Weg genau erklären lassen. Vorbei an den Wohnhäusern, in denen ihre Bewohner friedlich schliefen, folgten sie den Anweisungen und verzichteten auf Geleitschutz. Erst als sie die letzte Abzweigung nahmen, wurde die unnatürliche Ruhe durch lauten Trubel durchbrochen. Ein kleiner Platz inmitten der engen Gassen, an denen tagsüber vermutlich Waren angeboten wurden, diente gerade als Freilichtbühne für Inszenierungen betrunkener Laienspielkunst, die ausschließlich auf Gegröle und obszönen Witzen beruhte. Keine passende Gegend für Frauen. Schon gar nicht, wenn sie von königlichem Blut waren. Sie hasste das Orakel dafür, schon wieder an solch deprimierenden Orten unterwegs seien zu müssen.
Das eigentliche Wirtshaus war kaum zu unterscheiden von den Wohnhäusern der Umgebung. Einzig und allein das Schild über dem Eingang verriet es als öffentliches Lokal, indem die Betrunkenen vor der Tür ihren Nachschub an Alkohol sicherten. Genau an diesen mussten sie vorbei, um ins Innere zu gelangen. Wie auch immer ihre Strategie aussehen würde um die Meute zu passieren, es würde unangenehm werden. Zu ihrem Glück kam ihnen der Zufall zu Hilfe, denn genau in diesem Moment gerieten zwei der Volltrunkenen aneinander und während die anderen versuchten die Streithähne zu besänftigen, gelang es den beiden Frauen durch die Ablenkung unerkannt vorbei zu schleichen.
Die Beschreibung des Bürgermeisters war nicht übertrieben. Wenn der beißende Qualm von Tabak und der unerträgliche Lärm die Gäste nicht zum Umkehren bewegen konnten, ergriffen einen spätestens bei der abgewetzten Einrichtung die Fluchtinstinkte. Das alles war schon schwer zu ertragen, aber die wirkliche Abneigung überkam Jessica beim Anblick der Klientel, die an den Tischen sich den verschiedensten alkoholischen Getränken hingab. Der Gedanke alle Obdachlosen von Osos hätten sich hier verabredet, um hemmungslos in ihren verlotterten Sachen zu feiern, setzte sich in ihrem Kopf fest. Noch nie hatte sie soviel Elend auf so engem Raum gesehen. Ihr Eintreten wurde bisher nur von wenigen bemerkt, denn die vielen Glücksspiele, in Kombination mit leicht bekleideten Frauen sorgten für jede Menge Ablenkung. Das würde vermutlich nicht lange anhalten, denn schon auf Grund ihres gehobenen Kleidungsstils drohten die beiden Frauen zum Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu werden.
"Dort drüben." Durch all den Dunst konnte sie das Orakel an einem kleinen Tisch erkennen.
"Da kommen wir nie durch." zweifelte Sasha. Jessica lächelte kurz, als ihr die Erinnerungen aus der Taverne in Dreiwasser wieder einfielen. Allein die Aura der Alten hatte alle Männer im Zaum gehalten. Sie machte sich auf den Weg und die Geschichte wiederholte sich. Kein Betrunkener wagte es sie auch nur anzusehen.
"Können wir uns nicht mal an einem angenehmeren Orten treffen?" eröffnete Jessica das Gespräch. Ein Stuhl wurde ihr gereicht von einem Gast mit furchtbar schlechten Zähnen, der gerade noch lautstark prahlte sich komplett durchs Bordell zu vögeln. In Gegenwart des Orakels bekam er kein Wort mehr über die Lippen.
"Ich wünschte, ich könnte mir die Männer so erziehen." kam es von Sasha bewundernd. Auch ihr wurde ein Stuhl bereitgestellt.
"Ein schwacher Geist ist leicht zu beeinflussen. Deswegen bevorzuge ich auch solche Orte." erwiderte das Orakel.
"Habt ihr uns erwartet?"
"Natürlich. Ich warte schon seit einigen Stunden auf Euch." Da war sie wieder, diese missmutige Alte, die offenbar jeden und alles verabscheute.
"Der Regen hat uns aufgehalten. Konntet Ihr das als Orakel nicht vorhersehen?" Jessica hatte sich vorgenommen höflich zu bleiben, aber schon auf die erste Provokation stieg sie ein.
"Ihr verwechselt mich mit der Wettervorhersage. Hört zu! Wir können uns wieder gegenseitig mit Beleidigungen zuwerfen, aber dafür haben wir keine Zeit." Sie wechselte von missmutig auf ungeduldig.
"Dann erklärt mir die Sache mit dem Buch. Was will der Feind damit?" fragte Jessica. Das Orakel fing an zu grübeln, so als hätte es Probleme die passenden Worte zu finden.
"Es wird Zeit für Euch die ganze Geschichte zu erfahren. Hört zu. Es gab eine Zeit..." sie brach ab.
"Zeit ist nicht das richtige Wort. Es gab einen Zustand."
"Zustand?" fragte Sasha.
"Ja. Vor all dem hier. Vor den Menschen, vor Osos, vor Askalan. Ihr würdet es vielleicht mit Leere beschreiben, aber das war es nicht. Es gab Wesen, die diese Leere bewohnten. Sie waren nicht vergleichbar mit uns. Kein Fleisch, das man hätte berühren können oder eine Form, die ihnen ein Antlitz gaben. Ihr würdet sie vielleicht Götter nennen, aber diese Beschreibung wäre nur unzureichend." Der Blick des Orakels wurde leer, so als ob sie sich längst vergangene Erinnerungen zurückholen wollte.
"Sie gab es zu Tausenden. Sie lebten auf eine Art, die ihr nicht mal annähernd verstehen würdet. Millionen von Jahren existierten sie als Geister, die durch den Sternenhimmel reisten, mit allem Wissen und wie sie glaubten mit aller Weisheit, die es je in ihrer Welt gegeben hatte. Sie kannten keine Kriege, kein Leid, aber auch keine Freude oder Liebe. Ihnen fehlte jegliche Empfindung. Eine perfekte Gesellschaft aus reiner Intelligenz und Erleuchtung. Harmonie und Einklang waren die Taktgeber und überdauerten die Zeitalter." Die letzten Worte versetzten das Orakel in Melancholie.
"Bis zu jenem Tag, als die Saat des Zweifels in ihnen keimte. Eine Verunreinigung ihres spirituellen Gleichgewichts durch die einzige Frage, die sie nicht beantworten konnten. Was ist der Sinn unseres Daseins? Stellt euch vor ihr besitzt alles Wissen, alle Antworten und jegliche Weisheit. Wonach sollt ihr noch streben? Was ist dann euer Antrieb? Die traurige Erkenntnis, dass es nichts mehr zu erfahren gab, weil alles schon bekannt war, stürzte sie in die Sinnkrise. Der Weg allen Wissens war zu Ende. Das Ziel war erreicht und nun stellten sie fest, es gab kein weiter mehr. Also vegetierten sie Millionen Jahre in einem Zustand, der nicht Leben und nicht Tod bedeutete. Sie waren satt, aber sie sehnten sich nach Hunger." Das Orakel machte eine Pause.
"Und dann?" fragte Sasha neugierig.
"Erschufen sie uns." antwortete die Alte.
"Was?" Jessica wollte dieses wilde Gefasel eigentlich nicht weiter anhören, aber trotzdem blieb ein Rest von Neugierde.
"Aber eins nach dem anderen. Irgendwann war da diese Idee. Sie holte sie alle aus diesem Dämmerzustand. Wenn sie am Ende jeglicher Entwicklung standen, dann mussten sie etwas erschaffen, das sich entwickeln konnte. Etwas, was vollkommen anders war als sie selbst."
"Die Menschen?"
"Sie erkannten die Gefahr, dass wenn sie etwas mit Verstand erschufen, am Ende wieder diese Sackgasse allen Wissens stehen würde. Also beschränkten sie die neue Welt auf Pflanzen und Tiere. All das, was wir unter Natur verstehen."
"Für Wesen mit aller Macht klingt das ziemlich langweilig. Als würde man Ameisen in ihrem Hügel beobachten."
"Genau das war das Problem. Alles gedieh und wuchs, aber es erfüllte sie nicht. Sie brauchten etwas Unberechenbares, also gaben sie ihrer nächsten Schöpfung ein Bewusstsein. Aber auch das befriedigte sie nicht. Was sie brauchten waren Gefühle."
"Ihr sagtet diese Wesen kannten keine Gefühle."
"Das habt Ihr gut erkannt. Sie waren also Blinde, die versuchten Farben zu mischen. Der Eifer war so groß, dass sie übers Ziel hinausschossen. Vor lauter Faszination über das Neue merkten sie gar nicht, dass sie etwas Zerstörerisches schufen, aber das war ja das, was sie wollten. Noch besaßen sie die Kontrolle. Sie berauschten sich an der Unvorhersehbarkeit und stopften die Menschen mit einem Gefühl nach dem anderen zu. Liebe, Hass, Wut. Sie ergründeten die Zusammenhänge und endlich gab es wieder etwas zu entdecken. Für einen Moment hatte ihr trostloses Dasein wieder einen Sinn. Aber wie ergründet man etwas, das einem selbst verwehrt bleibt? Da wagten sie den Schritt, der sie ins Verderben führen sollte. Im Übermut ihres Endeckerdrangs infizierten sie sich mit der Krankheit, die schon ihre Schöpfung an den Rand des Untergangs führte. Sie gaben sich ihren geschaffenen Emotionen hin." Mitleid schwang jetzt in den Worten mit.
"Sie unterschätzten den Einfluss von Liebe, Macht und Wut. Jetzt wussten sie, wie sich die Menschen fühlen mussten, als sie sie mit diesen Gefühlen überschüttet hatten. Einmal davon gekostet kamen sie nicht mehr davon weg. All das, was sie beobachtet hatten, erlebten sie jetzt an sich selbst und die Harmonie, die über die Zeitalter geherrscht hatte, war mit einem Schlag dahin. Die Liebe war noch eine der schönsten Erfahrungen, aber schon Eifersucht führte sie ins Chaos. Wie konnten sie etwas verarbeiten, das bisher vollkommen unbekannt war? Sie mussten erst lernen damit umzugehen und obwohl am Anfang regelrechte Euphorie über diese neuen Erfahrungen herrschte, stellte sich schnell Ernüchterung ein. Auf Eifersucht folgte Wut und darauf folgte Hass. Als sie ihre Gefühle endlich kontrollieren konnten, waren sie nur noch wenige hundert. Ähnlich wie bei den Menschen gab es auf Hass nur eine Antwort. Den Tod." Die Trauer war unüberhörbar.
"Die Menschen gab es weiterhin. Auch sie hatten sich dezimiert und dienten als Vergleich dessen, was auch diese Wesen ereilen würde. Das Leid wurde nicht weniger, obwohl auch sie lernten, die Vielzahl an inneren Konflikten zu beherrschen. Die Unvorhersehbarkeit, die so sehr gewünscht wurde, drohte Schöpfer und Schöpfung in die Selbstzerstörung zu treiben. Um diesem Schicksal zu entgehen schufen sie etwas, dass die Seelen dieser Wesen auf ewig erhalten sollten."
"Das Buch?"
"Es ist nur ein Schlüssel zu einer Welt, die jenseits unserer Vorstellung liegt. Eine Art Friedhof, von dem sie irgendwann wieder auferstehen können. Ein Wächter blieb zurück, bereit sie wieder zu erwecken, wenn die Unvorhersehbarkeit vorhersehbar wurde." erklärte die Alte mystisch.
"Dieser Wächter steckt hinter allem?" fragte Sasha.
"Er ist das Übel unserer Zeit."
"Aber warum sollte er die Menschen vernichten, wenn unser Schicksal doch als Vorlage ihrer eigenen Zukunft dienen soll?" fragte Jessica.
"Ich weiß es nicht. Askalan war sein erstes Versuchsfeld. Sein Ziel war Beherrschung. Damals war es eine Welt wie diese. Frei von Magie und sehr instabil in ihrem Wesen. Die Spannungen zwischen den einzelnen Gruppen waren Vorboten des Krieges. Dann tauchten die ersten Zauberer auf und mit ihnen die Magie. Die Menschheit sollte dem einen Führer unterworfen werden, um damit die notwendige Stabilität zu erreichen. Doch die Bewohner von Askalan starben lieber, als sich dem Willen von Waskur zu ergeben. Das Vorhaben scheiterte und verursachte unendliches Leid. Hier auf Osos verfolgt er andere Pläne. Sie sind mir verborgen, aber das Buch ist der Schlüssel."
"Ich muss es sehen. Könnt Ihr mich zu diesem Buch führen?" fragte Jessica nach einer kurzen Pause.
"Das kann ich in der Tat, aber dieses Buch ist gefährlich. Wahnsinn kann Euch ereilen, solltet Ihr darin zu lesen versuchen."
"Es wird in einer Kammer verborgen, die niemanden Zutritt gewährt." warf Sasha ein.
"Ein magisches Siegel, von mir erschaffen. Selbst der Wächter vermag es nicht zu zerstören."
"Dann ist das Buch sicher. Worum sorgt Ihr euch?" Die Alte schwieg, so als würde die Antwort sie unglaubwürdig erscheinen lassen.
"Wir sollten gehen. Folgt mir." Das Orakel erhob sich und plötzlich verstummte der sie umgebende Lärm. Keiner der Feiernden wagte den Blick in ihre Richtung zu lenken.
"Wer seid Ihr?" fragte Sasha ehrfurchtsvoll. Schweigend verließ die Alte das Wirtshaus, durch eine von ängstlichen Menschen gesäumte Gasse, die scheinbar nur für sie errichtet wurde.
Die beiden Frauen folgten dem Orakel ins Freie und ohne große Worte steuerten sie gemeinsam auf das östliche Tor der Festung zu. Die Bewohner schienen jetzt endgültig zu Bett gegangen zu sein, denn kein einziges Licht war in den Behausungen mehr zu erkennen. Das massive Tor war verschlossen, aber innerhalb der riesigen Flügel gab es kleinere Türen, die für späte Gäste wie sie geöffnet werden konnten. Ohne große Nachfragen ließen die Wachen die Königin passieren und als sie sich innerhalb der Festung befanden, wurde Jessica sich das erste Mal bewusst, wie dick das umgebende Mauerwerk aus Stein wirklich war. Was immer auch ihr Feind gegen sie aufbot, es musste gewaltig sein, um dieses Bollwerk zu überwinden.
Sie überquerten den anschließenden Platz und verschwanden in einer Seitengasse, dessen anliegende Wohnhäuser selbst in der Dunkelheit eine unglaubliche Pracht versprühten. Die Oberschicht von Krumau lebte innerhalb der schützenden Mauern und ließ es sich nicht nehmen ihren Wohlstand durch reich verzierte Fassaden zu zeigen. Ein weiterer Platz erwartete sie am Ende der Gasse, auf dem zentral mehrere Statuen ehrfurchtsvoll ihre Zeigefinger Richtung Nachthimmel streckten. Wichtige Personen, die ihren Geburtsort hier in Krumau hatten. Trotz ihrer imposanten Größe wirkten sie winzig vor der riesigen Fassade aus Säulen und Treppen, die den Eingang zur größten Bibliothek auf Osos markierten.
"Wie groß ist dieses Gebäude, in dem es nur Bücher gibt?" fragte Sasha sichtlich beeindruckt. Im fahlen Fackellicht konnte sie nicht mal annähernd den gesamten Umfang der Bibliothek einschätzen.
Sie traten durch eine kleine Seitentür ins Innere und fanden sich in einem gigantischen Saal wieder. Wohlige Wärme schlug ihnen entgegen, die durch mehrere Feuer erzeugt wurde.
"Der Lesesaal der ewigen Feuer." Jetzt war es an Jessica beeindruckt zu sein. Seit bestehen der Bibliothek, was immerhin mehrere hundert Jahre war, zündelten die Flammen ununterbrochen und schufen die perfekte Umgebung für das empfindliche Papier, um es vor der feuchten Kälte zu schützen. Nur hier in Krumau gab es den Berufsstand des Feuermachers, der einerseits diesen perfekten Zustand jederzeit erhalten musste, egal mit welchem Wetter der Norden sie überraschte, aber auch anderseits verantwortlich dafür war, dass kein Funke die kostbaren Schriften zerstörte. Diese Schriften säumten jeden freien Platz in den kunstvoll verzierten Regalen, die auf Rängen oberhalb des Saals scheinbar tausendfach vorhanden waren.
Zu dieser späten Zeit war der Saal nur spärlich besucht. Ein paar Feuermacher huschten durch die Reihen von Schreibtischen und verfluchten die Neuankömmlinge leise, die ihrer Meinung nach viel zu lange die Tür offenließen und damit das Gleichgewicht der Wärme erschütterten. Ein paar Schriftgelehrte nutzten die nächtliche Ruhe um ungestört Schriften abzuschreiben und waren so vertieft in ihre Arbeit, dass sie nicht mal aufblickten, als die drei Frauen sie passierten. Zu Jessicas Überraschung betraten sie keine der edlen Wendeltreppen, die auf die Ränge zu den unzähligen Büchern führten. Es ging abwärts und hatte sie bisher die oberirdische Vielzahl des gebundenen Wissens erstaunt, wurde sie jetzt unterirdisch mit ebensoviel Büchern konfrontiert. Auch hier war es warm und trocken, aber das geräumige Wohlempfinden des Lesesaals wurde ersetzt durch die bedrückende Enge der Regale. Gerade mal eine Person hatte in den Gängen Platz, so dass sie hintereinander die einzelnen Reihen voller Papier passieren mussten. Ein enges Labyrinth aus Büchern und Schriften, das ab und an durch Feuerstellen unterbrochen wurde. Ohne fremde Hilfe würde sich Jessica im spärlichen Fackellicht unweigerlich verlaufen, zumal das Orakel immer weiter in die Untiefen der Bibliothek vordrang. Es war unmöglich zu sagen wie lang sie ihr hinterherliefen, aber plötzlich standen sie vor dieser Tür, die im Erscheinungsbild viel zu schlicht daherkam.
"Was ist das für eine Kammer?" fragte Sasha.
"Ein Verbannungsort für alles Magische, was den Weg von Askalan noch Osos gefunden hat." erklärte die Alte.
"Ihr solltet nichts darin berühren." schwor sie die beiden Frauen ein und drückte die Klinke. Die Tür öffnete sich. Wie von Geisterhand entflammte eine Fackel und erhellte den Raum dahinter. Auch hier standen Regale, nur waren sie lange nicht so prachtvoll. Ein Tisch stand zentral in der Mitte auf dem aufgeklappt ein Buch lag.
"Die Schriften von Xantes." raunte Jessica und ein unangenehmes Gefühl beschlich sie. Dieser ganze Raum war mit einer Energie aufgeladen, die sie am ehesten noch mit Furcht beschreiben würde. Sie wagte einen Schritt auf den Tisch zu.
"Wendet euren Blick ab." forderte sie das Orakel auf, aber Jessicas Widerstandskraft war gebrochen. Sie erblickte eine Zeichnung auf der linken Seite. Federstriche, die sich bewegten und nach ihr zu greifen schienen. Lautstark klappte die Alte das Buch zu.
"Schon vergessen? Wahnsinn." fauchte das Orakel.
"Warum seid Ihr immun dagegen?" fragte Jessica.
"Weil ich nicht so eine verzogene und einfältige Göre wie Ihr seid." antwortete sie brüsk.
"Können wir es zerstören?"
"Ihr seid wirklich einfältig. Nun habt Ihr es gesehen. Es ist real und es ist gefährlich. Wir sollten gehen. Wo ist eure Gefährtin?" Panisch schaute sich die Alte um und erblickte Sasha wie sie ihre Hand nach einem Gegenstand ausstreckte.
"Haltet ein." brüllte sie und stürzte auf die Etrakerin zu. Sasha zuckte zusammen und gewann die Hoheit über ihren Willen zurück. Jessicas Blick fiel auf das Fach im Regal. Nicht zum ersten Mal hatte sie den Gegenstand darin gesehen und sie erinnerte sich an die Verführung, der auch sie schon ausgesetzt war.
"Ein weißer Pfeil des Thores." raunte sie.
"Wir müssen jetzt gehen." forderte das Orakel auf.
"Was lagert noch hier?"
"Nichts, was Ihr gebrauchen könnt."
"Abertausende Kreaturen wollen die Stadt stürmen und wir haben so gut wie keine wirksame Waffe gegen sie. Alles hier drin hilft uns weiter."
"Es hat seinen Grund, warum die Sachen verschlossen sind. Nichts von dem wird Euch wirklich helfen. Eurer Gegner wird geschützt von Magie. Hier auf Osos wirkt sie nur eingeschränkt. Ich kann sie beseitigen."
"Ihr werdet uns helfen?"
"Verdammt ich helfe Euch doch bereits."
"Dann sagt mir, wer Ihr seid?"
"Alles zu seiner Zeit. Ihr müsst mir vertrauen." Die Alte wirkte jetzt verletzlich. Sie drängte die beiden Frauen aus dem Raum. Wieder folgten sie dem Orakel in das Labyrinth aus Büchern, bis sie sich im Lesesaal wiederfanden.
"Ihr wisst, wo Ihr mich findet." verabschiedete sich die Alte und verschwand in der Dunkelheit. Sasha und Jessica brauchten eine Weile bis sie den Weg zurück in das Rathaus fanden. Die taktische Besprechung war bereits in vollem Gange.
"Versteht doch. Wir müssen alles auf Verteidigung auslegen. Wir haben keinerlei brauchbare Waffen." diskutierte von Tranje mit dem Hüter der Stadt.
"Ich verkrieche mich nicht hinter den Mauern der Festung und überlasse die Stadt diesen Bastarden." brüllte von Lendwutt. Jessica betrat den Raum und die Wortgefechte verstummten sofort.
"Wie ich sehe seid Ihr euch uneins." durchbrach sie die erwartungsvolle Stille.
"Habt Ihr es gesehen?" fragte von Tranje.
"Es existiert." sagte sie kurz.
"Verdammt. Was will der Feind damit?" fluchte von Lendwutt und Jessica erzählte die Geschichte des Orakels.
"Wesen, die in Büchern hausen. Das taugt nicht mal für eine anständige Legende." von Lendwutt war skeptisch.
"Es ist unerheblich, ob die Geschichte war ist. Wir müssen die Stadt verteidigen."
"Trotz aller Meinungsverschiedenheiten haben wir uns auf einiges geeinigt. Der Fluss trägt genug Wasser den Kanal zu fluten." von Tranje zog auf der Karte einen Strich und schloss damit das Hufeisen zu einem Kreis.
"Damit teilen wir die Stadt." stellte Jessica fest. Der größere Teil befand sich zwar auf der neu geschaffenen Insel, aber viele Häuser im Osten waren dem Feind damit schutzlos ausgeliefert.
"Es gibt nur eine Brücke über den Kanal. Die wird unser Schlachtfeld. Ein Engpass über den sie müssen, den wir aber mit wenig Aufwand halten können." erklärte von Lendwutt.
"Aber nicht für ewig. Früher oder später müssen wir uns zurückziehen in die Festung. Dort sollten wir unsere Verteidigung planen." Der Disput zwischen von Tranje und von Lendwutt schien erneut aufzuflammen.
"Wir werden diese Brücke halten. Dieser Ort ist ausgelegt für eine wirksame Verteidigung. Seht ihr diese Türme? Ihre Mauern sind dick und sie haben Platz für Hunderte von Bogenschützen, die ihre Pfeile auf die Angreifer schicken können. Unsere Vorfahren haben die Stadt geplant und erbaut, immer in dem Wissen, dass eines Tages ein Heer von Barbaren versucht sie zu erobern. Wir sollten ihre Voraussicht nutzen und den Feind genau da stellen, wo es zu unserem Vorteil ist." von Lendwutt wirkte verärgert, weil von Tranje seine Kompetenz anzweifelte.
"Was nützen tausend Pfeile, wenn nicht ein einziger sein Ziel trifft. Wir opfern sinnlos unsere Männer auf der Brücke." Auch seine Stimme war voller Ärger.
"Ihr sagtet, dass mir die Verteidigung der Stadt obliegt. Steht Ihr zu eurem Wort?" fragte von Lendwutt listig die Königin. Damit brachte er Jessica in Verlegenheit, denn eine Entscheidung gegen ihren Mentor der letzten Wochen zu treffen, würde sicherlich das Verhältnis zu von Tranje erschüttern. Für einen Moment überlegte sie, wie sie die Zusage mit viel diplomatischen Geschick widerrufen könnte, aber es gab keine Lösung für dieses Dilemma, welche beide Seiten besänftigen würde.
"Das tue ich." drückte sie gepresst heraus und wagte es nicht von Tranje anzuschauen. Sie hatte das Gefühl einen Dolch in den Rücken ihres Freundes zu treiben. Das von Lendwutt sie zu diesen Worten nötigte, machte sie wütend.
"Eine weise Entscheidung." triumphierte von Lendwutt.
"Vielleicht sind die Sitten hier oben im Norden etwas lockerer, aber in Gegenwart der königlichen Familie erwarte ich einen formellen Umgangston." Jessica ließ etwas Dampf ab von ihrem Wutkessel.
"Eine weise Entscheidung, eure Hoheit." von Lendwutt verbeugte sich überschwänglich und parodierte damit sein eigenes Verhalten. Der Druck in Jessica stieg wieder an. Zum ersten Mal in ihrem Leben verspürte sie den Drang jemanden ohrfeigen zu müssen.
Die folgenden Tage waren alle damit beschäftigt die drohende Belagerung zu organisieren. Bei Tageslicht zeigte sich der gesamte Umfang der Festung. Sichtlich stolz führte sie der Festungsmeister durch jeden Winkel des Bauwerks und Jessica kam nicht umhin die Leistung tausendjähriger Steinmetzkunst anerkennend zu würdigen. Wer immer auch auf die Idee kam das Buch hier zu verbergen, hatte in weiser Vorrausicht gehandelt. Es gab keinen besseren Ort zur Verteidigung als dieses imposante Bauwerk, dessen Mauern so dick und dessen Zinnen so hoch waren. Die wirkliche Herausforderung bestand ohnehin darin das riesige Heer zu versorgen, das mit einem Tag Verspätung eintraf und innerhalb der Festungsmauern Quartier bezog. Da die Wohnhäuser trotz ihrer prachtvollen Ausstattung diese riesige Anzahl an Kämpfern nicht unterbringen konnte, wurden Feldlager auf den reichlich vorhandenen Plätzen errichtet. Es war unmöglich geworden nicht auf lagernde Soldaten zu treffen, da praktisch jeder freie Fleck besetzt wurde. Die bedrückende Enge in den Gassen verdeutlichte auch optisch die Ausnahmesituation, die spätestens jetzt jedem verbliebenen Einwohner bewusstwurde. Selbst der riesige Lesesaal der Bibliothek wurde umfunktioniert und bot jetzt Platz für mehrere hundert Kämpfer. Es blieben nur wenige Tage Zeit sich zu arrangieren und eine solche Vielzahl an Menschen auf engem Raum erzeugte auch eine Vielzahl an Konflikten, die nicht immer glimpflich gelöst werden konnten. Am dritten Tag hatten sie das Chaos halbwegs im Griff. Alle verfügbaren Nahrungsmittel waren umgelagert. Arznei, Waffen und Einwohner befanden sich jetzt innerhalb des umgebenden Flusses. Gerade rechtzeitig hatten sie es geschafft alles Notwendige aus den Randbezirken der Stadt zu verlagern. Wenn schon die Gebäude jenseits des Kanals kampflos dem Feind überlassen werden mussten, sollte sich nichts Wichtiges mehr darin befinden. Am Abend verkündete der Späher die Ankunft des feindlichen Heeres und nun hatte auch den letzten Furchlosen die Angst ergriffen. Es war soweit. Die Belagerung stand unmittelbar bevor.
Wieder trafen sich alle wichtigen Personen im Rathaus, für eine letzte taktische Besprechung. Jeder einzelne Beschluss wurde auf seine Umsetzung geprüft und als von Lendwutt endlich zufrieden die Sitzung schloss, war die Zeit schon weit nach Mitternacht vorangeschritten. Alle Beteiligten waren bereit für die Nachtruhe, denn der erste Angriff wurde in den frühen Morgenstunden erwartet, als plötzlich Unruhe den Saal ergriff.
"Was ist los?" schnauzte von Lendwutt die herbeigeeilte Wache herbei, die zitternd vor ihm stand und unfähig war Meldung zu erstatten.
"... des Kanals .... jemand .... in den Gassen.." er schlotterte und vergaß einige Wörter.
"Soldat. Reiß dich zusammen." forderte von Lendwutt und schüttelte ihn.
"Wir liefen Patrouille jenseits des Kanals, als wir jemand in den Gassen sahen. Wir hielten ihn für einen zurückgelassenen Einwohner, aber es war eine Kreatur von entsetzlicher Abscheulichkeit. Es tötete zwei unserer Leute mit nur einem Handstreich. Wir wehrten uns, aber es wurden immer mehr dieser Bestien. Sie sind da. Sie sind bereits in der Stadt."
"Jeder auf seinen Posten." brüllte von Lendwutt und stürmte aus der Rathaustür ins Freie. Sofort war der ganze Saal von wildem Durcheinander erfüllt. Das der Feind nach einem beschwerlichen Fußmarsch sofort in den Angriff überging, entfachte jede Menge Diskussionen und Panik. Der einzige, der ruhig blieb war von Tranje. Er musterte die verstörte Wache und wischte mit einem Tuch über den Harnisch. Eine dunkle Flüssigkeit färbte den Stoff schwarz.
"Was ist das?" fragte er und musste seine Frage wiederholen, da der Überbringer der schlechten Nachricht unempfänglich schien für jegliche Form der Kommunikation. Auch beim zweiten Mal wurde er ignoriert, aber die Antwort hatte er sich bereits selbst zusammengereimt. Er ergriff sein Schwert und stürmte ins Freie. Als er die Brücke über den Kanal erreichte, hatten sich bereits mehrere Dutzend Kämpfer postiert.
"Ich muss mich bei Euch entschuldigen." sagte er zu von Lendwutt, als er sich bis in die vorderste Reihe gedrängelt hatte.
"Ach ja." von Lendwutt starrte in die vor ihm liegende Dunkelheit. Bis auf ein paar Gebäudekonturen war nichts zu erkennen.
"Eure Strategie ist richtig." von Tranje hielt dem obersten Hüter das Tuch unter die Nase.
"Sie bluten, also kann man sie auch töten." verkündete von Tranje triumphierend. Ein Schatten huschte auf der anderen Seite der Brücke vorbei.
"Gut. Dann fangt mit denen da an. Ich will wissen was die vorhaben."
"Gebt mir eure besten Männer und ich finde es heraus." Wenige Augenblicke später passierte von Tranje gemeinsam mit einem halben Dutzend Männern die Brücke. Dunkel und verlassen lag die Stadt vor ihnen. Verlassen? Nein. Etwas Unheimliches schlich die Gassen entlang und es war definitiv zu groß für Utchas.
Azul konnte es nicht fassen. Die Geschehnisse in Koban hatten Spuren an ihrem schier unerschütterlichen Selbstbewusstsein hinterlassen. Die Übermacht ihrer Truppen, die Tatsache, dass ihre Soldaten unverwundbar waren, aber vor allen Dingen die begleitende Magie hatten ein Gefühl von Unbesiegbarkeit erzeugt, was jetzt in ihren Grundfesten erschüttert wurde. War gestern ihr Glaube an den Sieg noch unumstößlich gewesen, überwiegten jetzt die Zweifel an ihrem Unternehmen. Ein grausamer Zufall hatte ihnen diese Niederlage zugeführt und in der Konstellation wie sie auf dem falschen Fuß erwischt wurden, hätte selbst der beste Feldherr keinen Sieg davongetragen, aber die Art und Weise wie ihre Utchas vernichtet worden waren, verunsicherte die Gruppe gewaltig. Sie durften ihren Gegner nicht ein weiteres Mal unterschätzen. Darüber waren sich alle einig, als sie sich im Führungszelt in der Nähe von Koban trafen, um das weitere Vorgehen zu planen. Drei Tage hatte es gedauert, um ihre Streitmacht wieder zu vereinigen, die der Fluss Krum über so große Entfernung zerstreut hatte.
"Wir wussten, dass es nicht einfach werden würde." versuchte Legan das Geschehene zu relativieren.
"Der Dämpfer kam zur richtigen Zeit. Es herrschte viel zu viel Euphorie. Nun besitzen wir wieder die richtige Einstellung für die bevorstehende Schlacht." Wolka studierte die vor ihm liegende Karte.
"Die Greife sind jetzt permanent in der Luft. So eine Überraschung passiert uns nie wieder." steuerte Niska bei.
"Und was sagen uns die Aufklärer?"
"Die Stadt Koban ist vollkommen verlassen. Die Armee ist weiter Richtung Norden gezogen. Alle Einwohner sind geflohen."
"Verdammt." entfuhr es Legan.
"Damit dürfte unser Ziel bekannt sein. Wie weit sind sie vor uns?" wollte Wolka wissen.
"Fünf Tagesmärsche voraus. Es gibt ein weiteres Heer, das sich von Süden nähert. Es hat seinen Vormarsch gestoppt und lagert jetzt zwei Tagesmärsche südlich von uns." fuhr Niska fort.
"Sie wollen uns in die Zange nehmen. Vielleicht sollten wir erst die südliche Armee vernichten?" schlug Legan vor.
"Wir würden sie nur vor uns hertreiben. Inzwischen können die im Norden in aller Ruhe ihre Verteidigung planen. Wir müssen so schnell wie möglich nach Krumau. Mir gefällt es auch nicht, dass wir von zwei Seiten anfällig sind, aber wir sind ihnen immer noch weit überlegen, was die Truppenstärke betrifft."
"Dann ist es entschieden. Außerdem haben ihre Waffen keinerlei Wirkung auf uns. Ist doch so?" fragte Legan. Wolka schwieg. Er war sich nicht sicher, ob dieser Trumpf bis zum Eintreffen in Krumau erhalten blieb. Er spürte die Erschütterung der magischen Energie, die auch für ihre Unverwundbarkeit verantwortlich war. Etwas bekämpfte sie auf dieser Ebene und auch wenn bisher die Stabilität weiter gegeben blieb, konnte er eine Abnahme eben dieser Stabilität nicht leugnen. Zeit war zu einem ihrer Gegner geworden. Verdammt. Sie kamen einfach nicht schnell genug voran.
Die riesige Anzahl von Utchas wälzte sich Richtung Norden wie eine Plage Heuschrecken, die alles vernichtete, was an den Ufern des Flusses plante zu gedeihen. Nicht dass es viel zu vernichten gab, denn so ziemlich jedes lebendige Wesen hatte sein Heil in der Flucht gesucht. Die zerstörerische Gewalt von Askalan war schon lange kein Geheimnis mehr und so mutierte der geplante glorreiche Feldzug vorerst zu einem langweiligen Fußmarsch, der an seinem vierten Tag durch schwere Regenfälle stark beeinträchtigt wurde. Wolka fluchte abwechselnd über die Wolken, das Gelände oder den Regengott, was schlussendlich am fünften Tag wenigstens zum Stopp des elendigen Wassers führte. Vollkommen durchnässt befanden sich die Truppen keine Stunde mehr von Krumau entfernt. Sie waren nah und in weiser Voraussicht hatten sie die Krum bereits in Koban überquert, was zwar das Vorankommen erschwerte, da alle Wege sich linkseitig des Flusses befanden, aber ein riskantes Übersetzen von 90000 Utchas unnötig machte. Ihre Gegner hatten die einzige Brücke in mühevoller Meiselarbeit unbrauchbar gemacht und sich damit eine eigene Fluchtmöglichkeit verbaut. Dass sich die Angreifer bereits am rechten Ufer befanden, wurde wohl nicht erwartet. Die Stadt lag in offenem Gelände vor ihnen und wenigstens bis zur geschaffenen Insel sollte die Einnahme keine größeren Probleme darstellen.
"Morgen früh können wir die Stadt erstürmen." Rohan klang aufgeregt in der Vorfreude von der Verbreitung von Leid.
"Wir müssen Vorbereitungen treffen für die Belagerung der Festungsinsel. Das wird leider noch einen Tag in Anspruch nehmen, all die Belagerungswaffen zusammenzusetzen. Diesen Tag sollten wir nutzen, um die Angst vor uns zu verstärken. Die Aufklärung bestätigt, dass sich alle auf die Insel zurückgezogen haben. Die äußere Stadt ist verlassen. Schickt noch heute Nacht einen kleinen Trupp los. Ich will, dass die Häuser brennen. Den ganzen Tag über sollen sie die Flammen sehen, die auch bald den Rest der Stadt und die Festung erfassen werden." befahl Wolka und Rohan hatte dieses Glänzen in den Augen, dass ihn ausschließlich bei totaler Zerstörung erfasste.
Die Gruppe zog sich in das eilig aufgebaute Kommandozelt zurück und bildete ihre Gemeinschaft, die es ihnen erlaubte direkte Kontrolle über das Heer zu erlangen. Rohan entschied sich dieses Mal neben den drei dutzend Utchas auch fünf Eisriesen auf die Mission zu schicken. Sie brauchten nicht lange, bis sie den Stadtrand erreichten. Ihr Plan war es bis zum Kanal vorzudringen und von dort aus jedes einzelne Haus anzuzünden, bis die Feuersbrunst in unkontrollierbarer Weise über die ganze Stadt hinwegfegte. Sie rechneten mit keiner großen Gegenwehr und so beschloss Rohan den Trupp in drei Gruppen aufzuteilen, um in der Breite das vernichtende Inferno zu starten. Zu seiner Überraschung traf die zentrale Gruppe auf eine Patrouille von etwa einem Dutzend Kämpfern. Ihre Gegner waren so eingeschüchtert über die Größe der Riesen, dass sie unfähig waren auch nur ansatzweise eine Reaktion zu zeigen. Im Schein der Fackeln war das Entsetzen in den Gesichtern zu erkennen und als einer der Riesen zwei von ihnen mit einem Keulenschlag förmlich davon schleuderte, drohte sie die Angst zu überwältigen. Sie liefen einfach davon, genau in die Arme eines weiteren Riesen. Im Angesicht dieser ausweglosen Situation schien ihr Überlebensinstinkt die Oberhand zu gewinnen, denn nun wehrten sie sich. Lanzen stachen auf die Rüstung ein, ohne einen Schaden anzurichten. Der erste Riese hatte die Fliehenden jetzt eingeholt, die sich nun nach zwei Seiten wehren mussten. Eine Lanze flog durch die Luft und obwohl der Riese den Kopf zur Seite bekam, streifte die Spitze seinen Hals.
"Verdammt." entfuhr es Legan, als das dunkle Blut aus der getroffenen Halsschlagader floss. Ein Schrei erschütterte die Nacht und angespornt durch den Erfolg stürzten sich die Eingekesselten auf den Verletzten. Der hatte trotz seiner körperlichen Überlegenheit keine Chance gegen die Vielzahl an Angreifern, die ihre Schwerter in die Waden bohrten. Im Wanken schlug der Riese wild um sich und traf mehr durch Zufall einen der Kämpfer, dessen Schädel geräuschvoll barst. Der Schwung und die verletzten Beine machten einen Halt unmöglich und so stürzte die massige Kreatur kopfüber auf das Pflaster. Die Schwerter in seinem Kopf erlösten das Leiden des Gefallenen und obwohl sein Keule schwingender Kamerad ihm zur Hilfe eilte und zwei weitere Gegner erledigte, waren die Stadtwachen auch weiterhin in der Überzahl und so drohte auch dem zweiten Riesen das Schicksals des Todes. Überraschenderweise nutzten sie diesen Vorteil nicht und liefen einfach davon.
"Lass sie laufen. Konzentriert euch auf das Feuer." befahl Wolka. Ein paar Utchas hatten jetzt zu dem Riesen aufgeschlossen.
"Vielleicht sollten wir Verstärkung schicken, immerhin ist unsere Unverwundbarkeit scheinbar dahin." warf Legan ein.
"Nein. Sie sollen sich beeilen." Wolka klang kurz angebunden und seine Unsicherheit war für alle zu spüren. Der Trupp setzte sich in Bewegung und erreichte den Kanal. Sie fingen an Brandherde in den einzelnen Häusern zu legen und nach dem dritten Haus stießen sie erneut auf eine Schar von Gegnern. Im Gegensatz zu der ersten Patrouille waren diese frei von Angst und stellten sich sofort dem Kampf. Azul erkannte das Gesicht ihres Anführers. Sein ehemaliger Herr versenkte sein Schwert gerade in einem Kopf der Utchas.
"Keine Zeit für Nostalgie." ermahnte ihn Legan, denn Azuls Zweifel waren für alle deutlich zu spüren. Ihre eigenen Leute hatten der Schwertkunst der sechs nichts entgegenzusetzen und drohten blutig unterzugehen.
"Haltet sie hin. Die beiden anderen Gruppen sind gleich da." warf Niska ein. Azul veränderte seinen Fokus auf das Geschehen. Tatsächlich näherten sich von Norden und von Süden fast zeitgleich die anderen Brandstiftergruppen. In wenigen Augenblicken besaßen sie eine Überzahl, denen auch die besten Kämpfer nichts entgegenzusetzen hatten.
"Haha." frohlockte Rohan. Ihre Gegner waren jetzt nur noch zu fünft und komplett eingekesselt. Abwartend grunzten die Riesen leise vor sich hin.
"Möchtest du das Finale übernehmen?" wandte sich Rohan an Azul. War es wirklich so einfach? Reichte ein einziger Befehl und die Vergangenheit wäre für immer ausgelöscht?
"Du musst das nicht tun." warf Niska ein. Da lag sie falsch. Er musste. Die Zeit war reif für eine endgültige Entscheidung.
"Angriff." befahl er. In diesem Moment beerdigte er endgültig den alten Azul. Bisher hatte er ihn nur in den hintersten Kammern seines Verstandes versteckt, wie einen lästigen Verwandten, der zu peinlich war um ihn seinen Freunden vorzustellen. Immer wieder machte er auf sich aufmerksam mit seinem elendigen Zweifel an seinem Handeln. Jetzt versetzte er ihm den endgültigen Todesstoß und die Gewissheit nie wieder diese mahnenden Stimmen zu hören, brachten Erleichterung.
Es dauerte länger als erwartet, aber ein Gegner nach dem anderen fiel tot auf das Pflaster bis am Ende nur noch von Tranje stand. Gezeichnet vom Kampf konnte er kaum noch Gegenwehr leisten. Der Augenblick seines letzten Atemzuges rückte näher und als er einen gewaltigen Treffer eines Keulenschlags einsteckte, rutschte ihm das Schwert aus der Hand. Erschöpft sackte er auf die Knie. Beide Arme hingen unnatürlich an seinem Körper herab und deuteten auf mehrere Brüche hin. Selbst wenn irgendwo in diesem geschundenen Körper noch Energie für das Überleben stecken sollte, diese Hände waren unfähig auch nur irgendeine Waffe zu ergreifen. Von Tranje hob seinen Kopf und blickte zu dem einzig verbliebenen Eisriesen hinauf. Ein Lächeln zierte sein blutiges Gesicht und durch die lückenhaften Zahnreihen zischte er eine Aufforderung den finalen Schlag endlich anzusetzen. Zu seiner Überraschung senkte der Riese seine Waffe und ging einfach davon.
"Ich hab gewonnen." feixte von Tranje und spuckte dabei Blut. Er kniete jetzt allein auf dem von Leichnahmen gesäumten Platz.
"Was passiert hier?" fragte Wolka verwirrt. Noch nie hatte einer ihrer Kreaturen einen Befehl verweigert und eigenmächtig das Schlachtfeld verlassen. Ratlosigkeit machte sich breit. Ihr Opfer kniete weiter auf dem Pflaster und gab sich seinen Schmerzen hin. Als der Riese wiedererschien, bedachte ihn von Tranje mit Spot. Unbeeindruckt davon hievte dieser den Verletzten auf die Beine und jetzt geschah etwas, womit keiner gerechnet hatte. Ein zweiter und vollkommen unverletzter von Tranje betrat den Platz und steuerte auf das lädierte Original zu.
"Ihr schon wieder." begrüßte der Verletzte schwankend seine Kopie. Jedes Mal, wenn er zu stürzen drohte, stützte ihn der Riese.
"Die Zukunft ist zur Gegenwart geworden." antwortete er kryptisch.
"Ihr seid hier um mein Ableben zu bestaunen? Welch eine Ehre." Von Tranje spuckte sich selber einen blutigen Brocken vor die Füße.
"Tod ist eine zu geringe Strafe für eure Taten. In zu vielen Vergangenheiten habt Ihr meine Pläne vereitelt. Die neue Ordnung ist nah und ihr werdet Teil dieser Ordnung werden. Eine Trophäe meines Sieges, die jeden Tag in Unterwürfigkeit präsentiert wird, soll eure Strafe sein. Ihr sollt sehen, was Ihr nicht verhindern konntet. Ein Leben in Sklaverei und Abbitte steht Euch bevor." Der Blick blieb leer und emotionslos.
"An eurer Stelle würde ich den Haustierkäfig noch nicht bauen lassen. Wir werden Widerstand leisten. Wir haben Euch einmal besiegt und es wird..." von Tranje sackte zusammen, nachdem er an der Stirn berührt wurde. Bevor er fiel, fing ihn der Riese auf und schulterte ihn. Die Gestalt verschwand in den dunkeln Gassen der Stadt. Vom Kanal her griffen die gelegten Feuer langsam auf die umliegenden Häuser über und erhellten die Gegend. Ohne irgendwelche Anweisungen lief der Riese Richtung Brücke und ignorierte die Flammen.
"Da kommt etwas die Brücke entlang." brüllte einer der Soldaten in der ersten Reihe. Jessica stand jetzt neben von Lendwutt, der fluchend am Anfang der Brücke Schwert an Schwert mit seinen Kameraden in den immer dichter werdenden Qualm spähte.
"Diese verdammten Bastarde." entfuhr es ihm. Die halbe Stadt stand mittlerweile in Flammen. Obwohl alles in ihm dagegen rebellierte das Feuer einfach gewähren zu lassen, verweigerte er jegliche Hilfe jenseits der Brücke. Sie konnten ohnehin nur das Schlimmste verhindern. Viel wichtiger war, dass auf dieser Seite des Kanals keine Brandherde entstanden. Der Wind stand nicht günstig und der Funkenflug hatte bereits das ein oder andere Feuer entzündet, aber bisher konnten sie alle löschen, bevor sie unkontrollierbar wurden.
"Ich kann nichts erkennen." Vorsichtig ging von Lendwutt einen Schritt vorwärts auf die Brücke. Unmöglich, dass sich da etwas durch die Flammen näherte. Ob Mensch oder Bastard. Das Feuer machte in seiner Zerstörungswut keinen Unterschied.
"Nur nicht die Nerven verlieren." versuchte er seine Leute zu beruhigen, als ein gigantischer Flammenberg durch den Qualm auf ihn zu gerannt kam.
"Bei den Göttern." entfuhr es Jessica. Dieser Feuerturm blieb abrupt stehen und sackte in sich zusammen. Vorher gab er noch einen Körper Preis, der sich über das Pflaster der Brücke abrollte. Es war von Tranje, der von von Lendwutt aus dem Qualm gezogen wurde.
"Wir brauchen einen Heiler." brüllte er. Wenige Augenblicke später wurde der leblose Körper in das naheliegende Lazarett gebracht.
"Er lebt noch." verkündete der Medikus nach einer ersten Untersuchung. Jessica stand neben dem Feldbett und begutachtete ihren Feldherren.
"Eine Missgeburt des Feindes hat ihn durch die Flammen zu uns gebracht. Versteht Ihr das?" fragte von Lendwutt misstrauisch.
"Eine Art von Botschaft, nur weiß ich nicht welche." Sorge trübte ihre Worte. Sie wollte keinen weiteren Freund verlieren.
"Er ist schwer verletzt, eure Majestät." verkündete der Heiler voller Sorge.
"Verdammt, was haben diese Bastarde vor?" fluchte von Lendwutt hinsichtlich der Ungewissheit. Er blickte durchs Fenster und sah das nun schon stattliche Flammenmeer jenseits des Kanals. Wortlos verließ er den Krankensaal, um sich wieder der Verteidigung der Stadt zu widmen, die derzeit darin bestand die Feuer auf die äußere Stadt zu begrenzen. Jessicas sorgenvoller Blick verweilte auf von Tranje. Das ausgerechnet er eines der ersten Opfer dieser Schlacht wurde, versetzte sie in Angst.
"Es ist ungewiss, ob er überleben wird." antwortete der Heiler auf den fragenden Blick der Königin.
"Tut euer Bestes." befahl sie streng und verließ den Saal. Vor der Tür kämpfte sie mit den Tränen. Sasha erschien an ihrer Seite.
"Er darf nicht auch noch sterben. Nicht er. Ich habe so wenige Menschen, denen ich vertrauen kann." schluchzte sie.
"Er ist stark. Er wird es schaffen." Im Licht der Flammen wirkte Jessicas Gesicht um Jahrzehnte gealtert. Eine Wache störte sie in ihrer Verletzlichkeit. Von Lendwutt hatte zur Besprechung ins Rathaus gerufen. Die Königin atmete tief durch, setzte ihre gespielte Selbstsicherheit wieder auf und gemeinsam machten sie sich auf den Weg.
Trotz der neuen Situation hatte sich nicht viel verändert. Außer der Koordinierung der Löschtrupps bestand die Verteidigungsstrategie weiterhin darin die Brücke zu halten. So lange das Feuer wütete, mussten sie mit keinem Angriff rechnen. Trotzdem bestand von Lendwutt darauf, die volle Besatzung in den Türmen und an der Brücke zu haben. Wieder wurde alles doppelt und dreifach diskutiert, bis alle Anwesenden bei Tagesanbruch ermüdet in ihren provisorischen Lagern zu Bett gingen. Tagsüber fraßen die Flammen sich unaufhaltbar durch die Stadt jenseits des Kanals und erloschen erst in der folgenden Nacht. Gegen Mitternacht gab es nur noch vereinzelte Glutherde, die ihre Funken weiterhin Richtung Festung schickten. Die Löscharbeiter hatten gut zu tun die Stadt diesseits des Kanals vor dem Feuer zu schützen. Mit der Morgendämmerung hatte sich die Lage entspannt und die einsetzende Stille war die sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm. Die Bühne war bereitet für das geplante Inferno der Vernichtung. Zu Jessicas Überraschung passierte vorerst gar nichts. Weit oben auf dem höchsten Verteidigungsturm nahe ihres geschaffenen Brückenkopfes hatte sie den besten Überblick über das gesamte Geschehen. Die aufgehende Sonne verbreitete ihre Strahlen über die verkohlte Stadt zu ihren Füßen. Nicht eine Bewegung konnte sie in den Ruinen ausmachen.
"Worauf warten die?" fragte Jessica von Lendwutt, der an ihrer Seite stand.
"Sie zermürben uns. Wollen uns verunsichern, vielleicht sogar rauslocken. Beliebtes Spiel unter Belagerern." erwiderte er. Ein Bote erschien an der Treppe.
"Eure Majestät. Herr Zoran von Tranje ist bei Bewusstsein." verkündete er.
"Eine gute Nachricht." frohlockte Jessica.
"Das wird sich noch zeigen." erwiderte von Lendwutt misstrauisch. Beide stiegen herab und betraten das provisorische Lazarett.
"Wie geht es Euch?" Jessica war sichtlich gut gelaunt.
"Ich werde es wohl überleben, aber eine Hilfe in der bevorstehenden Schlacht werde ich wohl nicht sein." von Tranje klang schwach.
"Erklärt es mir." forderte von Lendwutt brüsk.
"Warum ich als einziger überlebt habe?"
"Nein, das ist nicht wichtig. Ich will wissen warum der Feind seine eigenen Truppen opfert, damit ihr am Leben bleibt." von Lendwutts Augen funkelten.
"Danke für eure offensichtliche Anteilnahme." begann von Tranje sarkastisch zu erklären.
"Ich bin diesem Wächter so oft auf die Füße getreten, dass er wohl beschlossen hat mich in seiner neuen Welt als Schoßhündchen zu halten. Eine sehr absurde Art der Demütigung."
"Trotzdem verstehe ich nicht, warum Ihr hier seid. Solltet Ihr nicht in irgendeinem Käfig dort drüben bei den Bastarden schmoren?" Von Lendwutts Misstrauen ging in Aggression über.
"Zu den Motiven fragt Ihr nun wirklich den Falschen. Wenn Ihr mich trotzdem zu einer Meinung drängt, würde ich sagen es ist eine Mischung aus Arroganz, Größenwahn und massiver Selbstüberschätzung. Vielleicht will er aber auch nur einfach Unfrieden zwischen uns säen." antwortete von Tranje ruhig. Von Lendwutts Misstrauen war weiterhin vorhanden.
"Ich werde Euch beobachten lassen." sagte er unumwunden.
"Das werde ich nicht zulassen." warf Jessica ein.
"Schon gut. Ich kann ein wenig Gesellschaft gebrauchen. Außerdem brauche ich Hilfe. Ich fürchte meine Arme sind etwas ungelenkig." Von Tranje hob seinen rechten Arm steif auf halbe Höhe. Die Schmerzen in seinem Gesicht waren unverkennbar. Mit dem linken schaffte er nicht mal annähernd eine Wiederholung.
"Seht Ihr. Keine Gefahr für Feind oder Freund." spottete er. Von Lendwutt verließ den Saal.
"Es freut mich Euch wohl auf zu sehen." sagte Jessica.
"Egal wie diese Schlacht verläuft. Für mich war es wohl mein letzter Kampf gewesen. Ich fürchte meine Knochen werden nicht vollständig genesen um jemals wieder ein Schwert führen zu können." von Tranje klang wehmütig.
"Wir werden eine neue Aufgabe für Euch finden." ermunterte ihn Jessica und begab sich wieder auf die Plattform.
Der Feind ließ weiter auf sich warten und während all diesem Nichtstun verfiel Jessicas Geist in eine ungeahnte Leere. Überwog am Anfang noch die Freude über von Tranjes Genesung, wechselten sich bald Gedanken über Vergangenheit und Zukunft ab. Vergessen geglaubte Erinnerungen an ihre Kindheit hatten nun alle Zeit der Welt sich ihren Weg in ihr Bewusstsein zu bahnen. Waren diese erschöpft wagten es die Zweifel über die ungewisse Zukunft ihre Bedenken anzumelden. Dieses Warten ließ Freiraum für die unmöglichsten Gedankenspiele und ermöglichte Perspektiven, die sonst in der Hektik der königlichen Verpflichtungen weites gehend unmöglich erschienen. Diese erzwungene Auszeit von Stress, Befehlen und königlichem Zwang befreite ihren Geist, so dass sie beschloss diesen Vorgang in Zukunft öfter ihrer Leid geplagten Seele zu gönnen.
"Der Tag ist vorüber. Die Nacht werden sie nicht nutzen um ihren Angriff zu beginnen." von Lendwutt an ihrer Seite machte sich bereit den Turm zu verlassen. Unter ihnen fand gerade der Wachwechsel an der Brücke statt.
"Wir sollten ruhen. Wer weiß wann wir das nächste Mal die Gelegenheit dazu haben." empfahl er. Tatsächlich war die Abenddämmerung bereits weit fortgeschritten, so dass auch Jessica beschloss ihr Lager aufzusuchen. Ein kleiner privater Raum, der ihr auf Grund ihrer königlichen Privilegien zustand.
Am nächsten Morgen stand sie wieder neben von Lendwutt und Sasha auf dem Turm. Erneut ließ sie Blick und Gedanken schweifen, aber dieses Mal gönnte ihr der Feind keinen gedanklichen Freiraum. In den verkohlten Überresten der Stadt waren eindeutig Bewegungen zu erkennen. Ein Horn erschallte als Warnung an die Verteidiger an der Brücke. War bisher eine halbwegs entspannte Stimmung dort unten zu vernehmen, versteiften sich jetzt alle auf Grund des drohenden Angriffs.
"Die linke Seite ist zu schwach besetzt." kommandierte von Lendwutt und seine Anweisung wurde sofort die Treppe hinunter gebrüllt. Eine Kette von Boten brachte die Befehle wenige Augenblicke später direkt an die Front. Jessica sah, wie sich der Schildwall ein wenig verlagerte. Nun war die Brücke komplett abgeriegelt. In fünf Reihen standen sie hintereinander. Bereit nicht mal eine Fliege in die Stadt zu lassen.
Eine unglaubliche Anspannung herrschte unter den Verteidigern. Niemand wagte sich auch nur zu rühren. Ganz im Gegenteil zu den Angreifern. Wie ein Fluss, der sich seinen Weg durch die abgebrannten Ruinen der Stadt bahnte, fluteten Utchas die Gassen der Stadt. Von oben sahen sie aus wie eine einzige riesige Masse, die sich vorwärts auf die Brücke zuwälzte und alles unter sich zu begraben drohte.
Die ersten Feinde stürmten die Brücke und das Horn erschallte abermals. Dieses Mal gleich doppelt und in einer anderen Tonart. Das Zeichen für die Bogenschützen ihr tödliches Werk zu beginnen. Der Himmel verdunkelte sich mit fliegendem Holz und ging auf die schreienden Utchas nieder. Die Pfeile senkten sich in die Körper der Bestien ohne großen Schaden anzurichten. Nur die Kopftreffer schickten die Angreifer zu Boden. Zu wenige nach dem Empfinden von von Lendwutt.
"Höher zielen." befahl er und wieder wurden seine Anweisungen in Treppenaufgang gebrüllt. Mit Erfolg. Die zweite Welle war wesentlich effektiver. Trotzdem gelang es einer Hand voll Utchas den Schildwall zu erreichen. In dem Gewimmel unter ihr konnte Jessica nicht alles erkennen, aber der metallische Klang der Keulen die auf Schilde trafen, zeugten von einer wirkungsvollen Verteidigung. Wenige Augenblicke später lagen alle Angreifer tot im Staub der Brücke. Soweit sie es überblicken konnte, hatten ihre Truppen keine Verluste erlitten.
"Ein erster Test unserer Verteidigung." kommentierte von Lendwutt. Da vorerst keine weiteren Utchas nachrückten, schien der Feind seine Erkenntnisse zu verarbeiten.
"Was ist das?" Jessica zeigte auf eine riesige Kreatur, die sich aus der Masse der Utchas hervortat.
"Bei den Göttern." entfuhr es von Lendwutt beim Anblick des Steinriesen. Er hielt vor sich einen gigantischen Schild hinter dem bestimmt ein Dutzend Utchas Schutz fanden. Extrem vorsichtig betrat die Gruppe die Brücke. Wieder gingen gefühlte tausend Pfeile auf einmal nieder, aber alle landeten in dem Stück Holz, was der Riese vor sich hertrug.
"Bogenschützen haltet ein." befahl von Lendwutt. Mit Schrecken sah er wie ein zweiter Riese mit Schild und Utchas dem ersten folgte. Vier weitere schlossen sich an. Sie würden den Schildwall ohne einen einzigen Verlust erreichen. Langsam rückten die Gruppen Schritt für Schritt vor.
Sie befanden sich jetzt in unmittelbarer Nähe des Walls. Der Riese hob seinen Schild an, schleuderte ihn auf die Verteidiger und rannte einfach zurück über die Brücke vorbei an seinen Artgenossen.
"Nicht der Mutigste." sagte Sasha trocken.
Das massive Stück Holz flog über den Wall und schlug in den letzten beiden Reihen der Verteidiger ein. Es richtete nicht nur verheerenden Schaden an, es blockierte auch den reibungslosen Nachschub an Truppen zur Verteidigung der Brücke.
"Räumt das weg." befahl von Lendwutt, aber die Anweisung war überflüssig, da bereits mehrere Kämpfer an dem Schild zogen.
"Pferde. Holt Pferde ran." brüllte er. Inzwischen hatten die Utchas, die im Schutze des Riesen die Verteidiger erreichten, ihren Angriff begonnen. Keine große Gefahr für den Schildwall, der trotz Schwächung immer noch stabil genug war um die wenigen Angreifer abzuwehren. Das eigentliche Problem offenbarte sich von Lendwutt wenige Augenblicke später. Die nachfolgenden Riesen hatten sich auf der Brücke verschanzt und ein nie versiegender Strom an Utchas schaffte es die schutzspendenden Schilde zu nutzen, um unbehelligt von Bogenschützen vorzurücken.
"Wir müssen die Riesen von der Brücke bekommen." Jessica klang panisch.
"Da habt Ihr wohl Recht. Schildwall auflösen. Angriffsformation." befahl von Lendwutt mit schneidiger Stimme.
Endlich war dieses elendige Riesenholz beiseite geräumt und die Truppen konnten ungehindert auf die Brücke stürmen. Jetzt war die Zeit für Schwerter und Jessica beobachtete wie geordnet sich die Schild- und Lanzenträger zurückzogen um Platz zu machen für den Gegenangriff.
Die Kämpfer stürmten auf die Brücke und ihre Schwerter erlegten die ersten Angreifer mühelos, aber im Schutze der aufgebauten Schilde schien der Nachschub an Utchas unendlich. Pfeile durchschnitten die Luft, doch ihre Wirksamkeit war begrenzt, so dass von Lendwutt den Beschuss einstellen ließ. Es lag jetzt an den Frontkämpfern und die Enge der Brücke war ein klarer Vorteil für die Schwerter, die gegenüber den riesigen Keulen weitaus präziser ihren Schaden anrichten konnten. Sie näherten sich dem ersten verschanzten Riesen und Jessica sah begeistert wie Feind um Feind niedergestreckt wurde, während ihre eigenen Truppen nur wenig Verluste hinnehmen mussten. Die Toten wurden von nachrückenden Einheiten einfach in den Kanal geworfen, so dass das Wasser sich mittlerweile dunkel vom Blut ihrer Gegner gefärbt hatte.
"Es läuft gut." äußerte sie sich, als die ersten Kämpfer von Osos nur noch wenige Schritte vom Riesen entfernt waren. Diesen ergriff plötzlich die Panik und er warf seinen Schild in den Kanal, um kurze Zeit später ohne Rücksicht auf eigene Verluste von der Brücke zu stürmen. Einige nachrückende Utchas konnten nicht mehr rechtzeitig ausweichen und wurden von dem panisch fliehenden Koloss ins Wasser gestoßen wo sie dann jämmerlich ertranken.
"Bogenschützen." brüllte von Lendwutt und nur wenige Augenblicke später flogen wieder unzählige Pfeile durch die Luft. Die fehlende Deckung richtete ein Blutbad unter den Utchas an und angesteckt von der Panik des fliehenden Riesen, wurden auch die restlichen Stellungen auf der Brücke aufgegeben. Triumphgeschrei erschallte und während die Frontkämpfer den ersten kleinen Sieg feierten, brüllte von Lendwutt schon die nächsten Anweisungen.
"Rückzug. Schildwall wiederaufbauen." Jessica schaute herab und sah wie diszipliniert die Befehle umgesetzt wurden. Sie hatten nur wenige Verluste zu beklagen, während unzählige Utchas tot auf dem Grund des Kanals lagen. Der Siegesrausch erlosch unmittelbar, als sie sah was sich am gegenüberliegenden Ufer abspielte.
"Diese verdammten Steinriesen." fluchte Legan. Der eigentlich furchteinflößende Anblick dieser Giganten wirkte wie purer Hohn gegenüber ihrem ängstlichen Wesen. Diese Kreaturen waren nur dann zu gebrauchen, wenn sie weitab jeglicher Feinde eingesetzt wurden. Wolka hatte es trotzdem probiert, aber die Verteidiger der Brücke sind zu einem überraschenden Gegenangriff übergegangen und hatten damit ihre erste Niederlage eingeleitet. Es war nicht schlimm zu verlieren. Wichtig war es die richtigen Schlüsse aus der Niederlage zu ziehen und das tat er. Das eigentliche Übel saß in diesen Türmen und ihre Pfeile waren eine ernsthafte Bedrohung. Zeit sich dieser Bedrohung zu entledigen.
Sie hatten die Steinriesen wieder unter Kontrolle und nun konnten sie sie für das einsetzten, für was sie ursprünglich vorgesehen waren. Riesige Massen zu bewegen und riesig waren die Katapulte, die in Einzelteilen mühselig über das westliche Meer bis nach Krumau hinauf transportiert wurden. Die letzten Tage nutzten sie, um diese gigantischen Waffen zusammenzubauen und jetzt schleppten die Riesen die Katapulte an das Ufer des Kanals. Ursprünglich wollte Wolka sie erst zur Erstürmung der Festung einsetzten, aber nun war es die perfekte Gelegenheit um seinen Widersachern eine Lektion zu erteilen. Sie lautete schlicht und einfach: Wehrt euch und ihr erhaltet die totale Zerstörung.
Die Kombination aus Steinriesen, haushoher Belagerungswaffe und massiven Felsgeschoß war der ideale Auslöser die naive Hoffnung ihrer Gegner auf Sieg schon im Ansatz zu zerstören. Legan wies die Riesen an mit ihrem Gebrüll die Aufmerksamkeit auf diese furchteinflößende Waffe zu lenken und als sie sich sicher waren, dass jedes Augenpaar der Verteidiger jetzt auf den Katapulten ruhte, flog der erste Planwagen große Fels über das Wasser.
Er verfehlte den anvisierten Turm voller Bogenschützen deutlich, aber der Kollateralschaden war beträchtlich. Der Aufschlag pulverisierte förmlich die Ziegel eines dahinterliegenden Wohnhauses und der Schwung des Geschosses beschädigte drei weitere umliegende Gebäude und machte sie für alle Zeit unbewohnbar. Für Azul war diese Zerstörungskraft einer einzigen Waffe neu und ungläubig begutachtete er den angerichteten Schaden. Begeisterung machte sich in der Gruppe breit. Im gleichen Maße wie die Euphorie bei ihnen wuchs, nahm die Zuversicht ihrer Gegner ab. Die Anzahl ihrer Geschoße würde reichen, um die ganze Stadt einzuebnen.
Sie hatten zwei dieser Superwaffen rechts und links des Brückenzuganges platziert. Eine dritte stand weiter nördlich, aber alle waren ausgerichtet auf die Türme jenseits der Brücke. Die Zerstörungskraft nahm verheerende Ausmaße an, aber die Trefferquote bei den ausgewählten Zielen glich einem Glücksspiel. Die ersten fünf Steinbrocken flogen alle samt vorbei und zertrümmerten Gebäude weit innerhalb der Stadt. Erst der sechste Brocken blieb auf halber Höhe im Gemäuer eines Verteidigungsturms stecken. Das Gewicht brach ein Großteil der dicken Außenmauer heraus und ein Steinregen plätscherte zu Boden, wobei er mehrere Gegner erschlug. Kurze Zeit später rutschte auch das Geschoß ab und hinterließ eine klaffende Lücke. Die Stabilität war nun nicht mehr gegeben und der obere Teil des Turms knickte ab wie eine gebrochene Kerze. Azul vernahm die Schreie, als die Steine im Ganzen auf die umliegenden Häuser stürzten, aber er verspürte keine Reue oder Schuld. Es war ihm egal das unschuldige Menschen starben. Diese eisige Gleichgültigkeit war das vorherrschende Gefühl innerhalb der Gruppe und selbst die mitfühlende Niska ließ sich mitreißen. Der gemeinsame Blutrausch unterdrückte alle anderen Emotionen.
Mit Hilfe dieser Katapulte schwächten sie die Verteidigung ihres Gegners Stück für Stück und setzten sie unter Zugzwang. Die Hälfte ihrer Verteidigungstürme hatte bereits Schaden genommen, als der Schildwall auf der anderen Seite der Brücke erneut aufgelöst wurde. Ein weiterer Gegenangriff stand unmittelbar bevor. Tatsächlich stürmten wieder die Ritter auf die Brücke, die schon den Steinriesen verjagt hatten.
"Ihre Verzweiflung ist groß." spottete Legan als die Angreifer die Hälfte der Brücke passiert hatten.
"Schlagen wir sie mit ihrer eigenen Strategie. Verschanzen." Die Utchas machten jetzt genau das, was am Morgen schon auf der anderen Seite der Brücke erfolgreich praktiziert wurde. Sie bildeten einen Schildwall um so ihre Gegner verzweifelt anrennen zu lassen. Doch diese taten ihnen nicht den Gefallen, sondern stoppten wenige Schritte vor der errichteten Verteidigungsfront.
"Da stimmt was nicht." Wolkas Gedanken überschlugen sich. Plötzlich wurden von den Gegnern Geschoße über den Kanal geschleudert.
"Die haben eigene Katapulte." entfuhr es Niska.
"Natürlich haben sie die, aber die sind kleiner und wir sind außer Reichweite ihrer Steine." erwiderte Wolka.
"Das sind keine Steine. Das ist Geschirr." stellte Niska fest. Einige Tongefäße schlugen scheppernd auf dem Pflaster unweit ihrer Superkatapulte in der Nähe der Brücke auf.
"Warum sollten die mit Krügen werfen?" fragte Legan erstaunt.
"Weil da etwas drin ist, was unseren Katapulten schaden könnte." schlussfolgerte Wolka.
"Brandwasser." kombinierte Azul.
"Angriff. Sofort angreifen." Die Utchas lösten ihren Verteidigungswall auf und stürmten auf die Kämpfer zu. Es reichte nicht. Die ersten Pfeile zischten bereits durch die Luft und die kleinen Flammen an ihren Spitzen entzündeten einen Moment später das von Brandwasser getränkte Pflaster.
"Holt die Katapulte zurück." Weitere Krüge zerschellten und schlugen auch am Holz der Belagerungswaffen ein. Es dauerte nicht lange und zwei riesige Scheiterhaufen hüllten das Flussufer in Rauch. Nur die nördliche Waffe konnten sie rechtzeitig aus der Reichweite des fliegenden Geschirrs holen.
Ein Brocken von riesigen Ausmaßen flog über ihre Köpfe hinweg und schlug irgendwo im Inneren der Stadt ein. Jessica rannte zur gegenüberliegenden Seite und erblickte von ihrer erhöhten Position aus das volle Ausmaß des Schadens.
"Bei den Göttern." entfuhr es ihr. Eine Schneise der Verwüstung zog sich durch die Häuserfront. Vier komplette Gebäude waren praktisch niedergewalzt worden und bestanden jetzt nur noch aus ihren Grundmauern. Schreie ertönten und zeugten von der verheerenden Wirkung des Einschlages.
"Tut etwas dagegen." fuhr Jessica von Lendwutt in ihrer Hilflosigkeit an, aber der ignorierte sie vollkommen. Es schien fast so als hätte er sich aus dieser Welt zurückgezogen, um den fliegenden Steinbrocken wenigstens mental zu entkommen. In Wirklichkeit vollbrachte sein Verstand Höchstleistungen und drei weitere Geschoße später kehrte er zurück in die Realität.
"Katapulte in Stellung bringen." brüllte er den Boten an der Treppe an.
"Wir sind außer Reichweite." stellte Jessica fest.
"Ich brauche eine mutige Bogenschützin? Seid Ihr das?" fragte von Lendwutt in Richtung Sasha und ignorierte die Königin. Die Angesprochene nickte.
"Dann geht mit meinen Männern auf die Brücke und wartet auf mein Zeichen." Ein weiterer Steinfels flog vorbei und schlug im Turm neben ihnen ein. Steine rieselten wie tödliche Regentropfen in die Gassen unter ihnen.
"Schnell." schrie von Lendwutt, aber Sasha war bereits auf dem Weg nach unten.
"Wir werden keine schweren Steine werfen. Für Krüge voller Brandwasser sollte die Distanz reichen. Allerdings brauchen wir jemanden an vorderster Front für die Entzündung." erklärte von Lendwutt kurz und sichtlich genervt. Jessica schaute nach unten und sah wie sich eine Gruppe von Kämpfern auf machte die Brücke zu überqueren. Die Stadt um sie herum glich mittlerweile einem Trümmerfeld. Es war nur eine Frage der Zeit bis auch ihr Turm getroffen wurde. Von Lendwutt gab die Befehle an seinen Boten und in längerer Abfolge als sonst wurden sie von den Soldaten vor Ort umgesetzt. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass die Kette zusammenzubrechen drohte.
Die Krüge flogen durch die Luft und zerschellten klirrend am anderen Ufer. Jubel brach unter ihr aus, als die gegnerischen Katapulte in Flammen aufgingen. Jessica war erleichtert. Obwohl ihre Verluste dieses Mal enorm waren, hatten sie einen weiteren Angriff abgewehrt.
"Daran werden sie erstmal eine Weile zu kauen haben." sagte der Hüter der Stadt trocken. Es war bereits später Nachmittag und Jessicas Hoffnung, dass der Feind sich erstmal zurückzog um seine Wunden zu lecken wurde erfüllt. Sie folgte den Stufen der Treppe nach unten und als sie ins Freie trat, überrollte sie die panische Stimmung auf den Straßen und tötete jegliches Triumphgefühl in ihr. Eine Mischung aus Wehklagen, Staub und Blut überforderte sie für den Moment. Sie blieb an der Tür stehen und kämpfte mit der Übelkeit. Verletzte Kämpfer waren ein gewohnter Anblick und eine gewisse Abstumpfung gegenüber dem Risiko in der Schlacht verletzt zu werden, hatte sich bereits in ihr festgesetzt. Hier allerdings waren es fast ausschließlich Zivilisten, die von den Trümmern der einstürzenden Gebäude getötet oder verletzt wurden. Menschen, die beschlossen hatten ihre Stadt nicht einfach aufzugeben und weit hinter den Kampflinien die Ritter unterstützten. Diese heimtückischen Waffen katapultierten sie buchstäblich mitten ins Geschehen. Heiler, Apotheker und Wasserträger, die auch nach dem Einsetzen des Bombardements nicht geflohen waren und nun selber Hilfe benötigten. Ihr Blick fiel auf einen halb verschütteten Körper. Die obere Hälfte wurde durch ein Trümmerteil verdeckt, welches vermutlich sämtliche Knochen pulverisiert hatte. Ein Zucken des linken Beines verriet, dass noch Leben in der armen Seele steckte.
Jessica kämpfte gegen den Schwindel an und stolperte in Richtung des Verschütteten. Dieser schwankende Zustand und die vielen Trümmerteile machten das Vorankommen schwierig, aber auf der Hälfte des Weges besann sie sich ihrer Stärke. Ein tiefer Atemzug gab ihr die nötige Entschlossenheit. Es war einfach keine Zeit für Zaudern und Zögern.
"Helft mir." forderte sie einen umherirrenden Bogenschützen auf, der zwar eine blutige Kopfverletzung besaß, aber ansonsten körperlich unversehrt schien. Er wirkte geistesabwesend und erste eine zweite Aufforderung brachte ihn dazu endlich zu helfen. Gemeinsam beseitigten sie die Trümmer. Zum Vorschein kam ein vollkommen zermalmter Oberkörper, aber wie durch ein Wunder hatte der Kopf keinerlei Schaden genommen.
"Eure Hoheit." hauchte die verletzte Frau. Jessica kannte das Gesicht. Es handelte sich um eines der Mündel des Apothekers, welches Arznei an die Kampflinien lieferte. An von Tranjes Krankenbett war sie eins der tausend Gesichter, die so schnell vorbeiflogen und nur eine flüchtige Erinnerung hinterließen. Sie musste jünger als sie selbst sein. Ihr Leben war im Begriff zu enden, bevor es richtig erblühen konnte.
"Psst..." hauchte Jessica und legte ihre Hand auf ihre Wange. Ihr Genick schien gebrochen und von daher wagte Jessica es nicht ihr Gesicht Richtung Himmel zu drehen. Sie selber stand schon an der Schwelle des Todes und die Angst konnte sie damals nur durch dieses unendliche Blau bändigen. Dieses Mädchen durfte nicht alleine sterben, also räumte sie alle Trümmer in ihrer Umgebung beiseite und legte sich neben die Todgeweihte. Sie lagen jetzt von Angesicht zu Angesicht und das Streicheln ihrer Wange zauberte ein Lächeln in das Gesicht der Sterbenden. Auch wenn es Jessica überkam, es war nicht die Zeit für Tränen. Dieses Mädchen brauchte Zuversicht für die letzten Augenblicke ihres Lebens, also riss sie sich zusammen und beschenkte sie mit all der Güte und Zärtlichkeit, welche die Umstände erlaubten. Erleichtert akzeptierte diese ihr Schicksal, schloss ihre Augen und gönnte sich einen letzten Atemzug.
"Sie ist tot." hörte sie in ihrem Rücken und die düstere Realität aus Tod, Leid und Zerstörung brachte die paradiesische und exklusive Blase, die sich die beiden für den Moment geschaffen hatten zum platzen. Jessica quälte sich hoch und sah in das Gesicht von Sasha.
"Wir brauchen Antworten." Jessica wollte weinen, aber ihre Augen gaben keinen einzigen Tropfen mehr her.
"Dieses Mal kann sie sich nicht winden. Dieses mürrische Weib wird reden, solange bis sie alles Wissenswerte erzählt hat." Trauer schlug in Wut um.
Gemeinsam liefen sie durch die zerstörte Stadt. Ihr Ziel war das Wirtshaus "Zum Unwissen", dessen Name allein schon als Rebellion gegen den Ort und ihre Einwohner aufgefasst werden konnte. Wie nicht anders zu erwarten, war es eines der wenigen Gebäude, die vollkommen unbeschädigt blieb. Es gab nur einen Gast in der großen Trinkhalle. Nicht einmal der Wirt hatte es hier ausgehalten und war mit seiner durstigen Kundschaft in die Festung getürmt.
"Setzt Euch. Ich fürchte auf Getränke müssen wir heute verzichten." wurden sie vom Orakel begrüßt. Die gespenstische Ruhe an einem sonst so belebten Ort wirkte bedrückend.
"Wir haben Fragen." kam Jessica ohne große Floskeln sofort aufs Wesentliche.
"Dann fragt." Die Alte wirkte müde.
"Ihr seht krank aus." warf Sasha ein.
"Meine Tage sind gezählt. Die letzten Kräfte verbrauchte ich, um die Unverwundbarkeit eurer Gegner aufzuheben." Die Alte wedelte mit der Hand, so als ob sie den unausgesprochenen Dank für wenig erwähnenswert hielt.
"Und das magische Siegel in der Bibliothek?" fragte Jessica. Das Orakel schüttelte den Kopf.
"Ich hätte es eh nicht ewig aufrecht erhalten können."
"Ihr seid eine von ihnen. Die Wesen von denen ihr uns erzählt habt."
"Das bin ich. Wir waren einst sogar zu dritt. Zurückgelassen um zu beobachten, aber selbst diese geringe Anzahl reichte schon für Streit. Der Wächter tötete den Dritten und wollte auch mich beseitigen. Ich war ihm nicht gewachsen, also floh ich, aber es gab nur eine Möglichkeit sich ihm dauerhaft zu entziehen." Das Orakel klang unheimlich müde.
"Ihr wähltet eine irdische Form." schlussfolgerte Jessica.
"Nur so konnte ich bis zum heutigen Tage überleben."
"Was hat er vor?"
"Auslöschung." Ein einziges Wort kam über ihre Lippen.
"Beherrschung funktioniert nur soweit, wie der Beherrschende auch beherrscht werden will. Diese Lektion lernte er schmerzhaft auf Askalan. Waskur war sein Handlanger. Seine Herrschaft scheiterte, weil der Freiheitswille der Menschen zu stark war. Also überleben dieses Mal nur die treusten Anhänger. Jene von denen er sich sicher sein kann, dass sie ihm bis in den Tod folgen. Alle Anderen werden ..."
"Ausgelöscht." vollendete Sasha den Satz.
"Aber von Tranjes Laufbursche war voller Zweifel. Kein folgsamer Vasall in den Tod." wandte Sasha ein.
"Die fünf Stabträger sind zum einen die Werkzeuge der Auslöschung. Sie dienen aber auch noch einem anderen Zweck. Sie sind auserwählt worden um seine irdische Form zu modellieren."
"Was sprecht Ihr?" fragte Jessica.
"Sein jetziger Zustand ist außerhalb jeglichen Begriffsvermögen seiner Anhänger. Die neue Gesellschaft braucht einen Gott aus Fleisch und Blut. Wie ein Schwert, das nur in diese eine Scheide passt, können bestimmte Teile dieser fünf in die Vorlage seines eigenen Wesens gepresst werden. Wie bei einem Festessen wählt er sich genau die Eigenschaften der Stabträger heraus, die ihn wieder spiegeln und manifestiert sie in diese irdische Form."
"Dafür braucht er das Buch?"
"Nicht nur dafür."
"Kontrolliere das Buch und du kontrollierst die anderen Wesen." schlussfolgerte Jessica.
"So lange er lebt, wird es vermutlich für sie keine Rückkehr geben."
"Dann holt Ihr sie zurück. Sie können uns helfen gegen diesen Wächter." schlug Jessica vor. Als Antwort bekam sie nur Schweigen.
"Ihr habt es bereits versucht." zog Sasha ihre Schlüsse aus dem Schweigen.
"Die Wahrheit ist: Euer Schicksal ist ihnen ziemlich egal. Sie sehen den eingeschlagenen Weg sogar als ziemlich vielversprechend an. Wenn der Wille zur Beherrschung zu der gewünschten Stabilisierung führt, würden sie sich ihm sogar unterwerfen." erklärte das Orakel traurig.
"Das kann unmöglich euer Ernst sein." Jessica klang resigniert.
"Geht jetzt. Ihr kennt nun die Umstände."
"Eine allerletzte Frage. Ihr seid am Sterben. Kann seine irdische Existenz ebenfalls vernichtet werden?"
"Wir haben zwei der Katapulte verloren." jammerte Legan. Die Gruppe hatte beschlossen den Angriff abzubrechen, nachdem ihre zerstörerischste Waffe teilweise in Flammen aufgegangen war.
"Verluste gehören dazu. Außerdem haben wir noch ein Drittes." versuchte ihn Wolka zu beruhigen.
"Hast du die Dicke dieser Mauern gesehen. Wie lange werden wir wohl brauchen, um sie mit nur einem Katapult zum Einsturz zu bringen?" Legan war jetzt in Rage.
"Es wird sich ein Weg finden. Unsere tödlichste Waffe ist noch nicht mal zum Einsatz gekommen." erklärte Wolka ruhig.
"Ohhh... Der ominöse Drache. Außer ihm hat ihn noch keiner gesehen. Vielleicht hat er auch einfach nur zu viel Kraut geraucht und dieser Drache existiert nur in seiner verschwommenen Fantasie." erwiderte Legan spöttisch.
"Er existiert." warf Azul ein.
"Wir werden morgen einen Frontalangriff starten. Fast sämtliche Verteidigungstürme wurden zerstört. Die Pfeile sollten uns kaum noch zusetzen können. Alles was wir haben wird gegen diesen Brückenkopf geworfen. Vikiner und Eisriesen an vorderster Front. Greife aus der Luft und die Utchas werden mit Flößen den Kanal überqueren. Es wird Zeit ihnen zu zeigen, zu welcher Vernichtung wir wirklich fähig sind. Beenden wir ihren Widerstand." Wolka klang fest entschlossen und riss die Gruppe mit sich.
"Sollen sie sich doch in ihr letztes Mauseloch zurückziehen. Wir werden sie dort schon rausbekommen und wenn wir sie aushungern müssen." vollendete Rohan Wolkas euphorische Ansprache.
Die Abenddämmerung brach herein und legte sich mit trügerischer Ruhe über die Ruinen der Stadt. Am Morgen würde das Inferno erneut losbrechen und Azul war sich sicher, dass dieses Mal die Verteidigungslinie durchbrochen würde. Was würde dann passieren? Während sie die Utchas halbwegs unter Kontrolle halten könnten, würden die Vikiner in ihrem Blutrausch die Stadt zu ihrer eigenen grausamen Spielwiese umgestalten. Er hasste diese Barbaren, die nichts mehr liebten als ihre Gegner auf perverse Art und Weise zu demütigen. Dabei würden sie nicht zwischen Soldaten oder Zivilisten unterscheiden. Viele Unschuldige sind heute gestorben und würden auch morgen ihr Leben lassen. Kurze Zweifel kamen in ihm auf, aber Opfer würde es immer geben. Ein notwendiges Übel für das endgültige Ziel. Revolutionen wurden nun mal mit Blut erkauft und wenn es am Ende eine bessere Gesellschaft hervorbringen würde, war dieser Preis vertretbar. Er gesellte sich zu Niska, die offenbar mit ähnlichen Gewissensbissen kämpfte.
"Was hatte es da zu suchen?" fragte sie ihn. Azul schaute nur ungläubig drein.
"Dieses Kind. Es hätte doch in der Festung seien sollen. Wieso haben sie denn nicht aufgepasst?" sagte sie sichtlich aufgewühlt. Jetzt erinnerte sich Azul. Während der Kämpfe gab es eine kurze aber heftige Erschütterung in ihrer Gemeinschaft, die von Niska ausging.
"Sie sind schuld. Sie haben nicht aufgepasst und nun ist es tot." rechtfertigte sie sich.
"Wie können die Eltern denn nur so verantwortungslos sein? Wissen sie denn nicht das da unten ein Krieg tobt?" Niskas Blick wanderte hektisch zwischen Azul und der Stadt hin und her.
"Sie sind schuld. Ganz allein sie. Nur sie." Die letzten beiden Worte brüllte sie Azul regelrecht entgegen und ihr Zeigefinger wippte nervös Richtung Stadt. Er blieb regungslos stehen und wusste nicht was er sagen sollte.
"Reiß dich zusammen." kam Wolkas Stimme aus der Dunkelheit.
"Du wirst lernen müssen damit zu leben. Das müssen wir alle." sagte Azul trocken. Niska fand keine Worte mehr.
"Reiß dich zusammen." wiederholte Wolka, aber jetzt schwang deutlich mehr Drohung mit. Niskas entgeisterter Blick wanderte zwischen den beiden hin und her. Sie wollte noch etwas sagen, zog es aber vor schweigend in der Dunkelheit zu verschwinden.
"Wir werden ihr schon die Stabilität geben, die sie braucht." Mit diesen Worten ließ Wolka Azul allein. Aufgewühlt begab er sich zu seinem Nachtlager. Sie brauchten Niska. Vor allen Dingen eine stabile Niska. Er hoffte, dass sie sich wieder fangen würde. Sie standen so kurz vor dem Ziel. Es durfte einfach nicht scheitern.
Am nächsten Morgen bildeten sie erneut ihre Gemeinschaft und Azul konnte sich nicht beherrschen ihren gemeinsamen Raum auf ungewollte Störungen zu untersuchen. Nicht das es ohnehin aufgefallen wäre, aber es gab ihm ein gutes Gefühl diese Extrakontrolle durchzuführen. Niska hatte sich tatsächlich wieder unter Kontrolle, denn es war nichts an Unsicherheit vom vorhergehenden Abend zu erkennen. Dem Triumph stand also nichts mehr entgegen und als die Utchas ihre Flöße ins Wasser ließen, waren bereits alle Sinne darauf ausgerichtet die Stadt so schnell wie möglich zu erobern.
Die Vikiner lechzten nach Blut. Das Kampfgebrüll übertönte alle anderen Kampfhandlungen und während sie im Blutrausch auf den feindlichen Schildwall zu stürmten, stürzten sich zwei Dutzend Greife aus der Luft auf die postierten Verteidiger. Die erste Welle Vikiner ging komplett im Pfeilhagel unter, aber das schien den Rest nur noch mehr anzuspornen. Streitäxte knallten auf Schilde und die Wucht riss tatsächlich kurzfristig eine Lücke in die Reihen der Verteidiger. Vier der Angreifer nutzten die Gelegenheit und richteten ein Blutbad innerhalb des Schildwalls an, bevor sie selber durch Lanzenkämpfer niedergestreckt wurden. Überraschend schnell hatten sich danach die Verteidiger wieder positioniert und sich dem Blutrausch getränkten Angriffstil der Vikiner angepasst. Denen war es unmöglich auch nur noch eine Lücke zu reißen. Mit Unterstützung der Bogenschützen in den hinteren Reihen hatte die königliche Armee den Brückenkopf weites gehend unter Kontrolle.
"Kümmert euch endlich um diese verdammten Bogenschützen." fluchte Rohan. Niska war jetzt in ihrer fliegenden Armee vollkommen aufgegangen. Die Greife selektierten ihre Angriffsziele dahingehend, dass alles was einen Bogen besaß als potentielle Opfer auserkoren wurden. Blitzschnell tauchten sie ab, dann versenkten sie ihre messerscharfen Krallen in das nächstgelegene Körperteil und erhoben sich wieder, um das Manöver bei dem nächsten Ziel zu wiederholen. Das alles dauerte nur wenige Augenblicke und nicht immer konnten sie Schaden anrichten, aber es dezimierte die Anzahl der abgeschossenen Pfeile erheblich und reduzierte die Verluste auf der Brücke und auf den Flößen. Die ersten Utchas landeten gerade an und wurden von einer Überzahl an Rittern attackiert. Ohne auch nur einen Gegner ernsthaft zu verletzen, wurden sie gnadenlos niedergemetzelt. Erst die nächste Welle, die gleich von mehreren Flößen ausgespuckt wurde schaffte es einen eigenen kleinen Brückenkopf am Ufer zu bilden.
Die Greife änderten nun ihre Angriffsstrategie. Jetzt zählten nicht mehr ausschließlich Bogenschützen zu ihren Opfern. Es galt diese kleine Oase von Utchas innerhalb einer riesigen Wüste von königlichen Rittern zu erhalten, also stürzten sie sich auf alles, was versuchte die Utchas am Ausbau ihres Brückenkopfes zu hindern. Azul sah von oben, wie immer mehr ihrer eigenen Kämpfer anlandeten. Jetzt waren auch Eisriesen darunter, die mit ihrer furchteinflößenden Größe für zusätzliche Angst sorgten. Wie ein Blase, deren innerer Druck kontinuierlich anstieg, verdrängte die ständig anwachsende Anzahl an Utchas das Meer an Rittern in die dahinterliegende Stadt.
"Nicht weiter." befahl Wolka, da er erkannte das eine weitere Ausdehnung unmöglich zu verteidigen war. Ziel war es jetzt das Erreichte zu verteidigen, bis genug Nachschub über den Kanal kam, um einen Durchbruch zum Schildwall an der Brücke zu starten. Die erste Reihe würde aus Eisriesen bestehen, die mit ihren riesigen Keulen sich den Weg frei schlagen würden.
Es war bereits Mittag als Wolka den Zeitpunkt endlich für gekommen sah den Durchbruch zu beginnen. Mehrere hundert Utchas und Eisriesen waren jetzt am anderen Ufer des Kanals und verteidigten das mühsam erkämpfte Terrain. Den königlichen Rittern war es unmöglich auch nur ein Stück des verlorenen gegangenen Uferbereichs zurückzuerobern. Zu ausgefeilt war die Zusammenarbeit zwischen Utchas, Eisriesen und Greifen. Eine gewisse Verzweiflung war bereits zu erkennen und genau diese Verzweiflung ermutigte Wolka endlich den Durchbruch zu starten. Wenn sie den Schildwall an der Brücke von zwei Seiten attackieren konnten, würde der endlich zusammenbrechen und dann wäre der Weg frei für die Erstürmung der Stadt.
Die feindlichen Ritter waren so mit ihren Angriffen auf das Bollwerk des Brückenkopfes beschäftigt, dass sie mit dem Start des Gegenangriffes völlig überrascht wurden. Gleich fünf Eisriesen schlugen eine Schneise aus Blut und gebrochenen Knochen in die Reihen der königlichen Verteidiger. Damit kamen sie unerwartet weit voran und Rohan sah sich gezwungen die Riesen zu bremsen, da er sonst befürchtete, dass sie abgeschnitten wurden, weil die nachfolgenden Utchas nicht schnell genug folgen konnten. Die Greife stürzten sich auf alles, was versuchte diese geschaffene Schneise wieder zu schließen. Tatsächlich war ihre Luftwaffe ein wesentlicher Vorteil, denn bisher fanden die Ritter kein probates Mittel sie abzuwehren. Nur einen einzigen Vogel hatten sie bisher als Verlust zu beklagen. Das dichte Federkleid war eine hervorragende natürliche Rüstung und ihre Agilität in der Luft machte es ohnehin schwierig für die Schwertkämpfer sie zu erwischen. Schritt für Schritt näherten sie sich der Brücke. Sie kamen gut voran und spätestens gegen Abend würde der Zugang frei sein. Dann würden sie alles wegspülen und mit einem unversiegbaren Strom aus Utchas die Stadt reinigen von allem menschlichen. Die wenigen Überlebenden würden sich wie Ratten in der Festung verkriechen und ihre verbleibende Zeit in Angst verbringen, bis sie das endgültige Schicksal des Todes dann doch ereilt. Azul genoss dieses Gefühl. Vollstrecker über Leben und Tod zu sein war die ultimative Macht. Vielleicht würde er die Königstochter um ihr Leben betteln sehen. Er gab sich dem Rausch hin, aber noch war es nicht soweit. Die Verteidiger waren noch nicht geschlagen, wie er in Kürze schmerzhaft erfahren sollte.
Der Tag würde trüb werden. Eine dichte Wolkendecke lag unheilschwanger über den verkohlten Resten der ehemals prächtigen Gebäude jenseits des Kanals und machte die Unterscheidung zwischen Dämmerung und Tageslicht unmöglich. Hoffentlich bleibt es trocken, dachte Jessica, als sie ihren Blick über die Ruinen der Stadt schweifen ließ. Sie stand schon geraume Zeit auf dieser Plattform, aber der Feind hatte ihnen den Angriff bisher verwehrt. Diese Anspannung wurde immer unerträglicher und insgeheim wünschte sie sich, dass das Unausweichliche endlich beginnen würde. Ihr war klar, dass sie diese Brücke nicht ewig halten konnten, aber heute sollte nicht der Tag sein, an dem die Stadt fallen würde. Denn heute war ihr Geburtstag. Sie gönnte sich den Luxus von Erinnerungen, die scheinbar tausend Jahre zurücklagen. Schöne Erinnerungen, die weniger durch Geschenke oder Aufwartungen zu dem wurden was sie waren. An diesen Tagen waren ihre Eltern weniger König und Königin, sondern mehr Mutter und Vater. Diese verdammten Regeln des Hofes galten an ihrem Geburtstag nur eingeschränkt und so bekam sie nicht nur regelmäßig eine extra Portion Zuneigung, sondern auch eine kleine Dosis Freiheit zum Geschenk. Zum ersten Mal musste sie diesen Tag allein verbringen und das machte sie traurig. Sie stand hier oben und verfluchte alles, was sich jenseits des Kanals befand. Da unten lag der Grund für den Verlust ihres Vaters. Durch diese Wahnsinnigen hatte sie Dinge erlebt, die lebenslange Narben hinterlassen hatten und nun würden sie auch noch diesen Tag entweihen. Es wurde Zeit diesem Treiben Einhalt zu gebieten.
Gebrüll erschütterte die Stille. Sie kannte dieses Geheul von Askalan. Sie sah, wie Vikiner auf die Brücke stürmten und in den Schildwall einbrachen. Nur kurz, dann war die Verteidigung wieder intakt. Von Lendwutt brüllte seine Befehle und erst jetzt bemerkte Jessica, wie mehrere dutzend Flöße versuchten den Kanal zu überqueren. Das alles war nebensächlich gegenüber dem, was sich am Himmel abspielte. Riesige Vögel kreisten über ihren Köpfen und stürzten sich in Intervallen auf die Soldaten am Boden wie Bussarde, die Kaninchen jagten.
"Was für Kreaturen kommen da noch auf uns zu." Der Hüter der Stadt wirkte sichtlich geschockt. Mit Luftangriffen hatte er wahrlich nicht gerechnet und sein umfangreiches Wissen an militärischen Taktiken stieß hier an seine Grenzen. Diese Biester waren ausschlaggebend, dass seine Leute kaum etwas gegen die Errichtung eines feindlichen Brückenkopfes ausrichten konnten. Als die Anzahl der übersetzenden Utchas immer größer wurde, drohte sich Panik in ihm breit zu machen.
"Ich muss darunter." entschied er nach kurzem Nachdenken.
"Ihr wollt an die Front? Wer koordiniert dann die Verteidigung?" fragte Jessica.
"Wenn wir wirklich etwas entgegen setzen wollen, muss ich mir ein Bild von diesen fliegenden Biestern machen. Sollte ich nicht zurückkommen, übernehmt ihr das Kommando. Soweit ich weiß, seid ihr ab heute erwachsen." kommentierte er trocken und machte sich an den Abstieg.
"Wie können wir sie töten?" fragte Jessica Sasha.
"Selbst wenn ich es wüsste, ich würde es dir nicht verraten. Sie sind gegen ihren Willen hier. Ihr Wille wird beherrscht durch die Stabträger." erklärt Sasha.
"Ihr spürt das?"
"Natürlich. Ihr Leid ist deutlich erkennbar." Sasha klang besorgt. Jessica blickte wieder nach unten. Die Anzahl der Utchas nahm kontinuierlich zu, aber sie hatten ihren Landgewinn nicht weiter ausgebaut.
"Sie wollen sich bis zur Brücke durchschlagen und den Schildwall angreifen." schlussfolgerte sie. Sie mussten diese Greife in den Griff bekommen, sonst würde die Sache nicht gut ausgehen. Hoffentlich fand von Lendwutt ein geeignetes Gegenmittel.
Es verging geraume Zeit bis der Hüter der Stadt wieder auftauchte. Sein Waffenrock war überseht mit Rissen als hätte sich eine Raubkatze an ihm ausgetobt. Blut zeugte davon, dass die Rüstung nicht alle Angriffe ohne Schaden wegstecken konnte.
"Geht es Euch gut?" fragte Jessica.
"Das solltet Ihr lieber einen der Vögel fragen." Eine blutige Narbe zierte seine rechte Wange. Offenbar ist er in den Nahkampf mit einem der Greife gegangen.
"Das Gefieder ist undurchdringbar für unsere Waffen. Die scharfen Krallen sind zugleich ihre Schwachstelle. Obwohl sie flink sind, können wir mit ein wenig Geschick genau dort ansetzen." erklärte er.
"Wie?"
"Langsensen. Es gibt nur noch ein paar wenige Kämpfer die daran ausgebildet wurden."
"Ich erinnere mich. Ein Beschluss des königlichen Dutzends diese Waffengattung nicht weiter zu unterstützen."
"Die moderne Kriegsführung braucht so etwas auch nicht. Das war allerdings vor diesen Vögeln."
"Du willst sie verstümmeln?" fragte Sasha.
"Was glaubst du denn, was sie da unten mit meinen Leuten anstellen."
"Das tun sie nicht freiwillig."
"Das ist mir so was von egal." kommentierte von Lendwutt trocken.
"Der Trupp ist einsatzbereit." schallte es von der Treppe.
"Dann bringt sie an die Front. Die Männer sind leider nicht mehr die Jüngsten. Hoffen wir, dass sie es hinbekommen." Es wurde tatsächlich Zeit für eine Gegenaktion, denn die Utchas, näherten sich langsam der Brücke.
Vorerst gab es keine Veränderung. Schritt für Schritt nahm das Unheil seinen Lauf und als schon alle Hoffnung begraben schien, änderte sich doch noch das Szenario. Die Vögel flogen einer nach dem anderen davon. Begleitet wurde ihr Abflug von spitzen Schreien, die auf Schmerzen hindeuteten.
"Dein Plan war erfolgreich." Sasha klang verbittert.
"Einkreisen." befahl von Lendwutt mit einer gewissen Genugtuung. Jetzt zeigte sich, wie wertvoll der Schutz der Greife für die Vorrückenden war. Die königlichen Kämpfer konnten nun, da sie nicht ständig aus der Luft attackiert wurden, ihr volles Kampfpotential ausspielen. Der Vormarsch wurde gestoppt und jetzt, wo es kein vor und zurück mehr gab, war es nur eine Frage der Zeit, bis der Stoßtrupp und auch der Brückenkopf eliminiert wurden.
Triumphierend beobachtete Jessica die Schlacht. Mit einem geschickten Manöver hatten sie die Angreifer in zwei Gruppen geteilt, an denen sich die zahlenmäßige Übermacht an königlichen Kämpfer abarbeiten konnte. Es fielen mehr Feinde, als auf Flößen nachkamen und so stand dem Sieg nichts mehr im Wege. Sie würden vermutlich einen weiteren Tag die Stadt verteidigen.
"Bei den Göttern. Nein." entfuhr es Sasha aus heiterem Himmel. Ihr Blick wanderte zum Himmel. Alle Augenpaare waren jetzt auf sie gerichtet.
"Was hast du?" fragte Jessica besorgt.
"Der Drache. Er kommt."
"Verdammt. Was sind das für Waffen?" Wolka spürte den Schmerz der Greife, die mit diesen langen Sensen erfolgreich attackiert wurden.
"Die Eisriesen. Die Eisriesen müssen sich um sie kümmern." schlug Azul vor. Es nützte nichts. Die feindlichen Ritter schirmten diese neue Waffeneinheit vor Angriffen soweit ab, dass nicht mal ein Riese in ihre Nähe kam.
"Ich muss die Greife zurückziehen." erklärte Niska und bevor Wolka Einspruch erheben konnte, brach ihre bisher erfolgreiche Angriffstrategie bereits zusammen. Er musste mit ansehen, wie einer der Eisriesen mit Schwertern durchbohrt wurde und im Fallen zwei Utchas unter sich begrub. Ohne den Schutz ihrer Luftwaffe kam nicht nur der Vorschub zum Erliegen, auch ihre Truppen wurden dezimiert. Es drohte ein erneutes Debakel.
"Was tun wir jetzt?" fragte Legan, aber Wolkas Hilflosigkeit verriet, dass er keinen wirklichen Plan für die neue Situation hatte.
"Zurück zum Brückenkopf." befahl er, aber in diesem Moment war es ihren Gegnern gelungen den Rückweg abzuschneiden. Während die anlandenden Utchas das Ufer noch halbwegs verteidigen konnten, schrumpften die eingekesselten Truppen, die sich Richtung Brücke aufgemacht hatten zusehends.
"Wir müssen sie da rausholen. Durchbrecht den Kessel von beiden Seiten." Ein letztes Aufbäumen war zu vernehmen, aber der Durchbruch scheiterte. Bevor Panik in ihrer Gemeinschaft das vorherrschende Gefühl werden konnte, durchbrach ein markerschütternder Schrei die dichte Wolkendecke und versetzte jeden Kämpfer in ungläubiges Staunen. Die Schlacht kam für einen Moment zum Erliegen und die Szenerie glich jetzt einem Stillleben, in dem sämtliche Köpfe himmelwärts gerichtet waren.
"Der Drache." entfuhr es Legan ehrfürchtig. In den tief hängenden Wolken war nichts auszumachen, was irgendwie nach fliegender Bestie aussah, aber ein zweiter Schrei bestätigte, dass da etwas Verheerendes auf sie zukam. Nur wenige Augenblicke später schoss die Kreatur aus den Wolken und die angelegten Flügel verliehen ihr das Aussehen eines gigantischen Pfeils, der mit unglaublicher Geschwindigkeit auf das Schlachtfeld zuraste. Über dem Kanal stoppte der Drache seinen Sturzflug und breitete die Flügel aus, die mit ihrer gigantischen Spannweite jedem einzelnen dort unten die Furcht ins Angesicht trieb. Ein paar Flügelschläge verharrte der Drache auf seiner fliegenden Position, um dann etwas aufzusteigen. Jetzt erkannte Azul den Reiter, der auf dem Rücken des Drachen scheinbar jedes noch so waghalsige Manöver problemlos meisterte. Einer der untoten Mönche kontrollierte die Kreatur und Azul erinnerte sich an den Rausch der Autorität, die diese Kontrolle in ihm auslöste, als er selbst Herr des Drachen war.
Immer noch waren sämtliche Kampfhandlungen eingestellt und alles blickte ängstlich in den Himmel. Ein einzelner Pfeil durchschnitt die Luft und prallte mit aller Lächerlichkeit der Welt am dichten Schuppenpanzer ab. Als hätte der Drachen dieses Signal gebraucht um sämtliche Vorahnungen zu bestätigen, plusterte er sich auf und schoss einen gigantischen Feuerstrahl über den Kanal, der genau dort seine verheerende Wirkung entfaltete, wo wenige Augenblicke vorher vergeblich versucht wurde aus dem Kessel auszubrechen. Die Streuung dieser vernichtenden Waffe war so extrem, dass nicht nur mehrere dutzend Feinde förmlich gegrillt wurden, sondern auch der klägliche Rest ihres Stoßtrupps den Flammen zum Opfer fiel.
"Bei den Göttern." entfuhr es Legan als er die brennenden Körper sah. Die Gefühle der Gruppe konnten jetzt nicht unterschiedlicher sein. Abscheu bei Niska. Zweifel bei Wolka und Ehrfurcht bei Rohan. Bei Azul machte sich Neid breit. Diese Kreatur zu beherrschen war schon unglaublich, aber zusätzlich noch diese Art von Tod zu verbreiten, musste der Inbegriff der Macht sein.
Mit dem Feuerstrahl hatte sich das Stillleben in panische Todesfurcht gewandelt. Sämtliche Ordnung bei ihren Gegnern war dahin. Dieses heillose Durcheinander wäre eigentlich die perfekte Gelegenheit für einen erneuten Durchbruchsversuch, aber auch die Utchas hatten mit den Nachwirkungen des Drachenangriffs zu kämpfen.
"Rohan. Bring deine Leute unter Kontrolle." befahl Wolka, aber noch behielt die Angst vor dem Feuer die Oberhand gegenüber der Beherrschung der Stabträger. Als alle mit einem zweiten Angriff rechneten, enttäuschte der Drache diese Erwartung, erhob sich in die Lüfte und drehte einfach ab.
"Was soll das?" kam es von Legan.
"Es bedarf einer gewissen Zeit, bevor er erneut angreifen kann." erklärte Azul, der die Kreatur besser kannte als alle anderen.
"Das macht ihn für uns unberechenbar, zumal er auch unsere eigenen Leute zu Grillfleisch verarbeitet." warf Legan ein. Die Utchas hatten sich jetzt wieder halbwegs unter Kontrolle, aber zu Wolkas Bedauern hatten auch die Gegner ihre Ordnung zurückgewonnen.
"Wir beschränken uns auf die Verteidigung am Ufer. Ich hoffe der Drachen erkennt, wo er den Knoten zerschlagen muss." Wolkas Blick fiel auf den Schildwall, der immer noch vergeblich von Vikinern attackiert wurde. Er zog sie ab, in der Hoffnung, dass der nächste Feuersturm diese Blockade ein für alle Mal beseitigen würde.
"Du musst die Zivilisten in die Festung zurückziehen." forderte Sasha, aber von Lendwutt gönnte ihr nur ein verächtliches Püff. Schon die persönliche Anrede beleidigte ihn zutiefst.
"Sie hat Recht. Es gibt einen Drachen. Ich habe ihn gesehen und glaubt mir wenn ich Euch versichere, dass er alles übertrifft, was Ihr bisher auf diesem Schlachtfeld gesehen habt." versicherte Jessica. Als Bestätigung durchbrach ein Schrei die Wolken. Von Lendwutt wurde kreidebleich.
"Zu was ist dieser Drachen fähig?" fragte er gedrückt. Er hatte Mühe die Fassung zu behalten. Bevor jemand antworten konnte, tauchte die Kreatur im Sturzflug vor ihnen auf. Wie vermutlich jedes Augenpaar auf diesem Schlachtfeld, blieb auch von Lendwutts Blick an der flügelschlagenden Bestie hängen.
"Nein." entfuhr es Jessica panisch, als sich das Feuer mit Druck eine Schneise in die Reihen ihrer Kämpfer schnitt.
"Welche Götter erschaffen solch grausige Kreaturen?" Mit versteinerter Miene blickte von Lendwutt auf den Brandherd hinab.
"Das ist nicht das Wesen dieses Drachen. Wie alles andere da unten wird es gezwungen, als Werkzeug seines Herrschers zu dienen." erklärte Sasha.
"Welche Beweggründe es auch immer haben mag, mich interessiert nur eine Frage. Wie kann ich es töten?" Er war jetzt voller grimmiger Entschlossenheit.
"Gar nicht. Tötet seinen Reiter und der Drache wird von deinen Truppen ablassen." entgegnete Sasha. Von Lendwutts Gedanken überschlugen sich. Unter ihm schienen sich seine Truppen der Panik hinzugeben.
"Die Zivilisten in die Festung." brüllte er und zog seinen Gurt an der Rüstung fest.
"So möge es geschehen. Töten wir den Reiter. Ich kann euer Hoheit keine Befehle erteilen, aber ich rate Euch sich ebenfalls in die Festung zurückzuziehen." Ohne eine Antwort abzuwarten verließ von Lendwutt die Plattform und stieg hinab, um seine Truppen an der vordersten Front anzuführen.
"Ein mutiger Mann." stellte Jessica fest.
"Er wird bald ein toter Mann sein. Nur wenige Waffen vermögen den Mönch zu töten." antwortete Sasha. Jessica musste an von Tranje denken, dessen Schwert eines der wenigen Waffen war.
Der Drache startete überraschenderweise keinen zweiten direkten Angriff und verschwand einfach in den dunklen Wolken, aus denen er so spektakulär erschienen war. Die königlichen Truppen stabilisierten sich und wäre nicht die dunkle angebrannte Schneise aus Asche gewesen, in der sich kleine Brandherde eingenistet hatten, würde man meinen, es hätte nie eine Unterbrechung der üblichen Kampfhandlungen gegeben. Die Utchas verteidigten ihren geschaffenen Brückenkopf und obwohl es viele Opfer unter ihnen gab, schien der Nachschub, der auf Flößen herangeschafft wurde, die Verluste auszugleichen. Das einzige was sich verändert hatte, waren die Angriffe auf den Schildwall am Ende der Brücke. Sie waren komplett zum Erliegen gekommen und das beunruhigte Jessica, denn sollte der Drachen zurückkehren, wäre die Brücke vermutlich das bevorzugte Ziel.
Es war gegen Mittag, als die Kreatur in bekannter Art und Weise aus den Wolken schoss und sich dieses Mal genau über der Brücke positionierte. Pfeile, Wurfäxte und Armbrustbolzen gingen auf den Drachen nieder, aber nichts schien eine erkennbare Wirkung zu erzielen. Wieder plusterte er sich auf und obwohl alles an greifbaren Schilden dem drohenden Flammenmeer entgegengestellt wurde, gab es wieder unzählige Tote. Der Schildwall wurde förmlich weggeblasen und der Feuersturm riss alles mit sich, was sich auf seinem Weg befand. Chaos machte sich breit, aber bevor die nachrückenden Vikiner dieses Chaos zu ihrem blutigen Vorteil nutzen konnten, hatten sich die Verteidiger jenseits der Brücke wieder gesammelt. Von Lendwutt persönlich musste die Verteidigung in Windeseile reorganisiert haben, denn obwohl die Vikiner endlich die Brücke passieren konnten, kamen sie auf der anderen Seite nicht sehr weit. Jetzt galt es Schwert gegen Streitaxt und die elegantere Waffe hatte in dieser Art der Auseinandersetzung ihre Vorzüge nur leider war die Übermacht der Angreifer zu erdrückend. Die Schlacht lief nicht gut und es war absehbar, dass die Verteidigungslinien trotz aller Gegenwehr irgendwann zusammenbrechen würden.
"Wir sollten in die Festung." schlug Sasha vor.
"Vielleicht sollten wir da runter." entgegnete Jessica.
"Zwei Kämpfer mehr werden den Ausgang dieser Schlacht nicht verändern. Wenn von Lendwutt weise ist und das ist er, wird er versuchen so viel wie möglich seiner Leute in die Festung zu bringen." Jessica erwiderte nichts. Als Königin empfand sie es als ihre Pflicht mit ihren Getreuen in der Schlacht Seite an Seite zu kämpfen, aber ihre beschränkten kämpferischen Mittel würden sie vermutlich nur zu einem Ärgernis auf dem Schlachtfeld machen. Trotzdem fühlte sie sich unwohl einfach nur hier oben zu stehen und auf die Niederlage zu warten. Sie zögerte und beobachtete weiter das Kampfgeschehen unter ihr.
Der Nachmittag brach an, als der Zusammenbruch ihrer Verteidigung unmittelbar bevorstand. Sie bemerkte, wie von Lendwutt immer mehr Truppen abzog und nur den nötigsten Widerstand Aufrecht erhielt. Wie ein Damm, dem permanent Baumaterial entzogen wurde, würde der Fluss an Utchas sich irgendwann seinen Weg bahnen und alles mit sich reißen was seinen Weg kreuzt. Es wurde höchste Zeit hinabzusteigen und Zuflucht in der Festung zu suchen, aber als der Drache erneut erschien, verharrte sie auf der Plattform.
"Wir sollten endlich gehen." drängte Sasha, aber Jessica ignorierte sie. Angespannt beobachtete sie, welche nächsten Angriffsziele der Drachen auserkoren hatte, denn mittlerweile war das Schlachtfeld so unübersichtlich geworden, dass es praktisch keinen Flecken mehr gab, der ausschließlich mit königlichen Truppen besetzt war.
"Los" schrie Sasha und jetzt bemerkte Jessica ihren Irrtum. Es gab einen Flecken, der zweifelsfrei nur königliche Opfer zur Folge haben würde. Es war die Plattform auf der sie stand. Sie drehte sich um und rannte los und das keinen Augenblick zu früh, denn sie spürte den Drachen in ihrem Rücken. Von Angesicht zu Angesicht hätte sie vermutlich vor Angst gelähmt keinen Schritt gewagt, aber nun war sie bereits in Bewegung und sie vernahm das Aufplustern hinter sich. Mit einem Hechtsprung stürzte sie in das Loch am Boden, wo die Treppe hinunter ihren Anfang nahm. Sie fiel auf Sasha und gemeinsam rollten sie die kalten Stufen hinab. Über ihnen entwickelte sich eine Hitze, die unerträglich wurde. Der Feuersturm verfehlte sein Ziel und blieb dieses Mal ohne Opfer.
"Das war knapp. Bist du in Ordnung?" fragte Sasha. Jessica spürte den Schmerz in ihrem linken Fuß.
"Nein." erwiderte sie kurz und hievte sich hoch. Kein Bruch, so viel konnte sie ausmachen.
"Ich werde dich stützen." Gemeinsam humpelten sie die Stufen hinab.
Auf der Straße herrschte das Chaos. Unzählige Soldaten hatten nur ein Ziel. Das große Tor zur Festung. Die einzig verbliebene Zuflucht, auf die alle in blanker Panik zusteuerten. Im Angesicht des Zusammenbruchs der eigenen Linien herrschte eine egoistische Atmosphäre aus Angst von Riesen oder Vikinern überrannt zu werden. Wer auf dieser überhasteten Flucht zu Fall kam, drohte zertrampelt zu werden, denn jegliche Form von Zusammenhalt war verloren gegangen im Ringen um das eigene Überleben. Mehrere Male strauchelten die beiden und nur mit Geschick und Glück konnten sie das Ertrinken im reißenden Strom der Fliehenden vermeiden. Vom Feuer entstellte Gesichter drückten sich an ihnen vorbei und der furchteinflößende Anblick beschleunigte die galoppierende Angst der Menschenmenge. Es war Sashas Agilität, die ihnen das Schicksal des Zertreten werden ersparte. Gemeinsam humpelten sie die Hauptstraße entlang, die als einziges nach dem Bombardement des Vortages notdürftig geräumt wurde. Bisher konnte Jessica einen klaren Kopf behalten und der sie umgebenden Panik trotzen, aber als die Nachricht des Durchbruches die Fliehenden ereilte, wurde sie Teil der riesigen Masse an Todesangst, die sich Richtung Festung aufmachte. Der Virus Panik hatte nun auch sie infiziert.
"Wir müssen runter von der Hauptstraße." schlug Sasha vor und ohne eine Antwort abzuwarten, zerrte sie Jessica in die abzweigende Gasse. Deren Verstand war nur noch ein einziges Chaos, in dem sich unmöglich rationale Entscheidungen treffen ließen. Selbst einfache Befehle wie einen Fuß vor den anderen setzen, hatten keine Chance das Wirrwarr zu durchdringen. Erst eine saftige Ohrfeige von Sasha brachte halbwegs die Stabilität zurück.
"Tief durchatmen." sagte sie und nahm selber einen Atemzug so als wollte sie Jessica beibringen nicht zu ersticken. Es half. Die Panik war zwar nicht besiegt, aber sie hatte sie soweit unter Kontrolle, dass sie wieder Herr über ihre eigenen Gedanken war.
Auf Grund der Trümmer war es zwar mühseliger in der Seitenstraße voranzukommen, aber wenigstens blieb ihnen die unkontrollierbare Masse an Mitflüchtenden erspart, welche die Hauptstraße mittlerweile verstopften. Mit den eindringenden Feinden im Rücken war dort jetzt endgültig sich jeder selbst der nächste. Die einsetzenden Schreie als die ersten Utchas die Fliehenden erreichten, ließ kurz die lähmende Panik in Jessica wieder aufflackern, aber der Überlebenswille siegte dieses Mal und ähnlich wie das kürzliche Chaos, dem sie als hilfloser Zuschauer ausgeliefert war, konnte sie auch jetzt nichts gegen die Abläufe in ihrem Verstand unternehmen. Das bewusste ich war zum Wohle ihres Überlebens ausgesperrt worden und das Handeln wurde einzig und allein ihren Instinkten überlassen. Fremd gesteuert folgte sie Sasha die Strasse entlang, als sie in ihrem Rücken ein tiefes Grunzen vernahm. Einer der Feinde hatte sie eingeholt und obwohl sie bisher keinen Blick zurück wagten, war sie sich sicher, dass dieser von enormer Größe sein musste.
In böser Vorahnung drehte sich Jessica langsam um. Vor ihr stand eine Kreatur, die dreimal so groß wie der übliche Kämpfer war und mindestens doppelt so breit. Sie hatte die Riesen bisher nur aus sicherer Entfernung wahrgenommen, aber jetzt, wo sie ihm praktisch gegenüberstand lähmte sie der furchteinflößende Anblick. Die baumstammdicke Keule in seinen Händen hätte vermutlich selbst der stärkste Mensch der Welt nicht anheben können, aber hier wippte sie schon fast spielerisch hin und her. Sollte das einen Gegner nicht bereits beeindrucken, würde dieses grimmige Antlitz in seiner dreifachen Vergrößerung mit Sicherheit den mutigsten Kämpfer verunsichern.
"Lauf." schrie Sasha und schickte einen Pfeil in Richtung des Eisriesen. Der Treffer ging in den rechten Oberarm. Wütend zog der Riese das Geschoß aus der Wunde und zog dabei einen nicht unerheblichen Fleischbrocken mit heraus. Trotzdem wirkte das Ganze als würde er sich nur einer Nähnadel entledigen. Er setzte sich in Bewegung und das war für Jessica der Moment, indem sie anfing Sashas Rat zu beherzigen.
Der Schmerz war da, aber ihr Fuß tat nicht wirklich weh. Er wirkte mehr wie eine lästige Fliege, die sich immer wieder in die Wahrnehmung drängen wollte, sich aber mit einem gezielten Wedeln erfolgreich verscheuchen ließ. Es gab gerade Wichtigeres als ihren Fuß und das war ihr Überleben. Also lief sie als gäbe es keine Verletzung. Ihre Zuflucht war einer dieser riesigen Felsbrocken, der von der anderen Seite des Kanals hinübergeschleudert wurde und die umliegenden Gebäude zu Ruinen gemacht hatte. Sie sah wie Sasha sich durch eine kleine Lücke zwängte und jenseits des Felsens wiederauftauchte. Hoffentlich war sie genauso agil, um dieses Hindernis auf diese Weise zu passieren.
Sie wagte es nicht zurückzuschauen, aber der Riese in ihrem Rücken musste schon sehr nahe sein, denn sie spürte wie sein Gegrunze immer näherkam. Der Spalt befand sich am Boden und so schleuderte sie sich in den Dreck und rutsche mit den Füßen voran in den einzigen Ausweg. Auf dem Rücken liegend war es unmöglich ihren Körper durch die Öffnung zu schieben, also drehte sie sich auf den Bauch und nun sah sie wie nah ihr Verfolger schon war. Die riesige Keule war bereits im Begriff auf sie nieder zu gehen, als Sasha ihre Fersen ergriff und mit einem gezielten Ruck hindurch zog.
Keinen Moment zu früh, denn die Keule verfehlte sie nur um Haaresbreite und schlug vor ihrem Kopf auf dem Pflaster ein. Der aufgewirbelte Staub setzte sich in ihren Augen fest und nahm ihr für einen Moment die Orientierung. Fast blind wurde sie auf der anderen Seite von Sasha auf die Beine gebracht.
"Lauf." wiederholte sie ihre Aufforderung. Jessica rieb sich die Augen und jetzt wo sie wieder klarsehen konnte, bemerkte sie, dass der Riese trotz seiner enormen Größe Probleme hatte über den Felsen zu kommen. Ungeschickt versuchte er hinüberzuklettern, aber seine Talente waren dahingehend begrenzt. Nach dem dritten Versuch gab er entnervt auf und fing an mit der Keule auf den Felsen einzudreschen.
Die Frauen waren wieder in Bewegung und die riesigen Mauern der Festung waren bereits in Sichtweite. Trotzdem lag das rettende Tor noch in weiter Entfernung. Genug Zeit für ihren Verfolger sie einzuholen und sein grausiges Vorhaben zu beenden. Jessica wagte einen Blick zurück und sah wie der Riese den Felsbrocken soweit eingeebnet hatte, dass er endlich hinüberklettern konnte. Wenigstens war das verwendete Werkzeug durch die Bearbeitung des Felsen soweit unbrauchbar geworden, dass er die Reste einfach davon schleuderte und nun unbewaffnet mit riesigen Schritten hinter ihnen herrannte. Ihr Vorsprung würde nicht reichen. Sie waren noch zu weit von der Festung entfernt.
"Ich werde ihn ablenken und du rennst zum Tor." schlug Sasha vor und schlug einen Haken nach rechts. Sie hatten jetzt den Platz vor der Festung erreicht und es wimmelte nur so von Flüchtlingen, die alle versuchten auf die andere Seite der rettenden Pforte zu gelangen. In der Menge hoffte Jessica vielleicht ihren Verfolger abhängen zu können, aber der schien sich ausgerechnet auf sie eingeschworen zu haben, denn selbst die Pfeile, die Sasha in seiner rechten Seite versenkte, konnten ihn nicht davon abringen ausgerechnet die Königin zu verfolgen. Genau im Zentrum kam es zum Aufeinandertreffen, nachdem sich der Riese seinen Weg durch die Menge auf rabiate Weise gebahnt hatte.
"Und nun?" brüllte Jessica ihrem Vollstrecker voller Trotz entgegen. Sie hatte es aufgegeben weiter zu laufen. Diesem unbedingten Willen des Riesen ausgerechnet sie zu erledigen, hatte sie nichts mehr entgegen zu setzen. Dieser ballte die Faust. So würde es also enden. Erschlagen von einer riesigen Pranke. Sie unterdrückte den Instinkt die Augen zu schließen und starrte auf das drohende Unheil. Er holte aus und setzte zum Schlag an, als sich mehrere Pfeile in seinen Kopf bohrten. Auch die hinderten ihn nicht daran die Bewegung zu vollenden und Jessica duckte sich ab, als könnte ihr Rückrat den Schlag leichter wegstecken.
Die geballte Faust schlug links von ihr ein und verfehlte sie damit knapp. Sie schaute auf zu ihrem Vollstrecker und bemerkte den Pfeil, der wie ein Käsespieß im linken Augapfel ihres Vollstreckers steckte und dessen räumliche Wahrnehmung so verschoben hatte, dass ihr das Schicksal eines blutigen Breis auf dem Pflaster vorerst erspart blieb. Wer immer auch diesen Pfeil im Auge des Riesen versenkt hatte, war in diesem Moment ihr Lebensretter. Sie schaute in die Richtung aus der ihr Heilsbringer abgeschossen wurde und entdeckte von Tranje, hinter dem ein gutes Dutzend Bogenschützen standen.
"Verteidigt die Königin." brüllte er und seine Leute attackierten jetzt den Riesen mit Schwertern. Mit der beeinträchtigten Wahrnehmung hatte dieser keine Chance gegen die Angreifer und lag schnell tot danieder.
"Ich bin froh Euch zu sehen." sagte Jessica mit zittriger Stimme erleichtert.
"Schnell in die Festung." kam es schwach als Antwort. Von Tranje war immer noch nicht gut zu Fuß. Trotzdem hatte er es sich nicht nehmen lassen auf dem Vorplatz nach der Königin Ausschau zu halten.
"Ich bin auch froh Euch zu sehen. Ich hatte nicht mehr viel Hoffnung." erwiderte er und hakte sich bei ihr ein. Gemeinsam stützten sie sich und steuerten auf das Tor zu. Die ersten Vikiner erreichten jetzt den Platz und richteten ein Blutbad unter den Flüchtlingen an. Sasha erschien jetzt und stützte sie von der anderen Seite und zu dritt stürzten sie auf die rettenden Tore der Festung zu, die schon längst geschlossen waren. Nur die eingelassenen Türen waren noch offen. Zu klein für die Menge an Flüchtenden, so dass sich eine Traube an panischen Menschen davor bildeten. Sie alle drückten Richtung Festung und behinderten damit den eigentlichen Einlass.
"Das dauert zu lange." stellte von Tranje fest. Er koordinierte die Verteidigung mit seinen wenigen Kämpfern die zur Verfügung standen. Sein Blick fiel wieder Richtung Einlass, aber dort ging mittlerweile gar nichts mehr voran.
"Es war mir eine Ehre." schickte er Richtung Jessica und seine Resignation war unüberhörbar. Der komplette Platz vor ihnen war jetzt voller Feinde. In ihrem Rücken versuchten immer noch mehrere Dutzend Menschen vergeblich durch die viel zu schmalen Türen in die Festung zu gelangen.
"Das ist nicht das Ende. Das darf es nicht sein." erwiderte Jessica voller Angst. Ein Rumpeln erklang in ihrem Rücken. Der rechte Flügel des gewaltigen Portals bewegte sich. Jemand hatte beschlossen das Tor zu öffnen.
"Nein. Diese Narren." entfuhr es von Tranje. Von einem Moment auf den Anderen war die Ansammlung von Menschen im Inneren der Festung verschwunden, als hätte jemand den Korken aus dem Flaschenhals gezogen.
"Schließt dieses verdammte Tor. Verteidigt die Festung." befahl er und rannte auf das halb geöffnete Portal zu, so schnell es ihm möglich war. Drinnen angekommen wiederholte er seinen Befehl das Tor zu schließen, aber noch kam man diesem nicht nach. Willkürlich wählte er ein paar Festungswachen aus und schickte sie nach draußen zur Verteidigung.
Es waren die Utchas, die die Gelegenheit sahen, welche so ein offenes Tor bot. Die wenigen Verteidiger davor stellten kein Problem da und wurden förmlich überrannt. Es dauerte nicht lange bis die ersten Angreifer die Pforte durchschritten und blankes Entsetzen innerhalb der Festung auslösten. Jessica und Sasha befanden sich mittlerweile ebenfalls im Inneren und versuchten mit ihren Waffen das Schlimmste zu verhindern. Endlich bewegte sich der massive Torflügel wieder und verengte wenigsten den Spalt für das Eindringen, aber die vollständige Schließung gelang nicht. Einer der Eisriesen hatte einen Felsen so positioniert, dass er als Keil zwischen den Flügeln lag. Von Tranje reagierte blitzschnell und ließ lange Holzstangen herbeischaffen, um den Fels mittels Hebelkraft zu beseitigen. Vergeblich. Immer wieder drangen Utchas ein und richteten verheerenden Schaden an, aber der ganz große Durchbruch konnte bislang erfolgreich verhindert werden. Jessica nahm eine der Stangen und rammte ihn unter den Felsen. Es klappte nicht. Dieser Fels schien unverrückbar. Es war nur noch eine Frage der Zeit, wann die Festung überrannt werden würde.
"Ja." frohlockte Legan, als der Drache endlich diesen verdammten Schildwall am Ende der Brücke förmlich in Asche verwandelte. Mit ungeahnter Schnelligkeit nutzten die Vikiner den vorhandenen Freiraum und stürzten sich auf die verängstigten Verteidiger. Mehr und mehr ihrer eigenen Leute passierten jetzt die Brücke und setzten den gegnerischen Kräften ordentlich zu. Es war ausschließlich dem feindlichen Anführer zu verdanken, dass sie nicht sofort durchbrachen. Dieser kantige Mann organisierte seine Truppen in solch routinierter Art und Weise neu, dass der Vorstoß der Vikiner schnell zum Erliegen kam. Egal. Jetzt, nachdem sie diese elendige Brücke endlich passiert hatten, gab es nichts Entscheidendes mehr, um sie aufzuhalten. Die Masse an Utchas würde einfach alles überrennen. Nicht mehr lange, dann würde auch der letzte Feind tot auf dem Pflaster liegen.
Azul beobachtete genüsslich das Kampfgeschehen und obwohl es den feindlichen Truppen immer noch gelang den Widerstand aufrecht zu erhalten, war es eine Freude den unausweichlichen Zusammenbruch zu verfolgen. Wolka koordinierte den Angriff, aber es war deutlich zu spüren, dass sein taktisches Verständnis dem des feindlichen Anführers um einiges unterlegen war. Nun konnte sich Waskurs Unterbewusstsein voll einbringen. Mit seiner Hilfe nahm die Schlacht ihren vorgesehenen Lauf und Azul musste sich eingestehen, dass ohne diese zusätzliche Erfahrung sogar eine Niederlage möglich gewesen wäre. Dieser mürrische Feldherr auf der gegnerischen Seite machte ihnen ordentlich das Leben schwer und einige der raffinierten Gegenangriffe hätten ohne Waskurs Hilfe zweifelsohne zu schwerwiegenden Verlusten geführt. Die ganze Gruppe lernte in diesen Stunden mehr über taktische Kriegsführung, als in all den Wochen bei Olmot.
Trotz aller Raffinesse ihres gegenüber war der Zusammenbruch der feindlichen Linien unausweichlich. Ein Fakt, den auch der oberste Feldherr der königlichen Verteidiger nicht leugnen konnte. Er dünnte seine Truppen soweit aus, das genug für den Widerstand blieben, aber gleichzeitig eine Vielzahl an Kämpfern den Rückzug in die Festung antreten konnten. Ein Ärgernis, das auch Wolka auffiel.
"Verdammt. Jeder Einzelne, der es in die Festung schafft, verlängert nur unnötig unsere Belagerung." fluchte er. Eine Lücke in den Verteidigungslinien tat sich auf, aber bevor auch nur einer ihrer Utchas diesen Vorteil nutzen konnte, wurde mit ein paar geschickten Anweisungen die Gelegenheit zu Nichte gemacht.
"Er ist das Übel." fluchte Legan. Ohne das Geschick des feindlichen Anführers hätten sie tatsächlich schon längst die Stadt eingenommen. Azul nahm sich die Zeit um ihn zu beobachten. Es ärgerte ihn, wie er mit sichtlich beschränkten Mitteln die Koordination einer ganzen Armee so eindrucksvoll gehandelt bekam. Sie hatten den Vorteil ihrer Gemeinschaft, mit der sie Befehle in Windeseile umsetzen konnten. Offensichtlich war die klassische Methode nicht weniger effektiv, denn schon wieder hatte Rohan ein halbes Dutzend Utchas bei einer gut umgesetzten taktischen Finte verloren.
"Der gehört mir, sobald wir durchgebrochen sind." Wie immer, wenn Rohan einige seiner wenigen Gedanken im Raum laut verbreitete, schwang ein gewisser Grad an Geisteskrankheit mit.
Es war später Nachmittag, als der Drache erneut erschien. Wolka hielt den Atem an, denn egal welchen Teil des Schlachtfeldes er für seinen nächsten Feuersturm auswählen würde, die Anzahl der eigenen Opfer würde die der feindlichen auf jeden Fall übersteigen. Eine Erkenntnis, die auch dem ominösen Reiter und Beherrscher gekommen seien musste, denn er richtete die tödliche Waffe auf ein spezielles Ziel außerhalb des Kampfgeschehens. Für einen kurzen Moment konnte Azul seine Sorge nicht komplett unterdrücken und es musste auch in der Gemeinschaft zu spüren gewesen sein, dass ihm das Schicksal der Königstochter nicht vollkommen egal war. In Erwartung einer spöttischen Bemerkung, von Legan legte er sich schon eine Ausrede zurecht, aber die Schlacht vereinnahmte alle so sehr, dass für die üblichen Spitzen keine Zeit blieb.
"Alles gut gegangen." war das einzige, was er von Niska vernahm und das gab sie auch nur so dezent von sich, dass es die Anderen in der Hektik der Schlacht vermutlich nicht wahrnahmen. Die entscheidende Phase stand nun unmittelbar bevor.
"Da ist die Lücke." frohlockte Rohan. Dieses Mal gelang es ihm ein paar Utchas zwischen die feindliche Abwehr zu bekommen.
"Nein nicht. Verdammter Mistkerl." Wolka durchschaute das Manöver. Rohan hatte durch das eigenmächtige Handeln eine eigene Lücke aufgemacht und die nutzten die Gegner um die eigenen Truppen nun endgültig abzuziehen. Offenbar plante der gegnerische Feldherr den unvermeidbaren Zusammenbruch der Verteidigung unter seinen persönlichen, gezielten Bedingungen zu gestalten.
Vollkommen überrascht über das plötzliche Rückzugsmanöver wusste Wolka mit dem Geschenk nicht sofort was anzufangen. Der Sieg war jetzt besiegelt. Es fehlte nur noch der letzte kleine Schritt. Einen Schritt, den die Vikiner bereits umsetzten, indem sie begannen die Stadt zu stürmen. Der Rest der Armee wartete auf Anweisungen. Der geeignete Zeitpunkt war nun gekommen die Kontrolle aufzugeben und die Utchas von der Leine zu lassen. Eine Art Belohnung der Meister für ihre Sklaven. Vollkommen unbeherrscht durften sie den Vikinern folgen. Die Gemeinschaft veränderte die Perspektive und beobachtete das Treiben entspannt und gelöst aus der Vogelperspektive. Es war vollbracht. Die Stadt wurde nicht nur erobert. Sie wurde regelrecht überrannt. Genugtuung machte sich breit, als die Utchas die panisch fliehenden Verteidiger vor sich hertrieben.
"Dort." Rohan klang aufgeregt, als er die fliehende Königstochter erblickte. Sofort übernahm er die Kontrolle des nächsten Eisriesen. Mit Erschrecken musste Azul feststellen, wie er nicht nur der Königstochter nachsetzte, sondern auch jemanden, den er an diesem Ort nicht erwartet hatte. Sasha. Sie war hier auf Osos und die Überraschung, aber auch die zwiespältigen Gefühle erschütterten die Gruppe.
"Wow. Die Kleine lässt dich ja ordentlich rotieren." spottete Legan jetzt wieder wie erwartet.
"Die ist von deiner Sorte. Schnapp sie dir, du Bluthund." ging er sofort zu Rohan über als er merkte, dass sie Etrakerin war.
"Wer ist sie?" fragte Niska und Azul bildete sich ein etwas Eifersucht in ihren Gedanken zu erkennen. Er kam nicht dazu etwas zu erwidern. Der Eisriese war im Begriff den Kopf der Königstochter zu zertrümmern.
"Daneben." feixte Legan und heizte damit Rohans Wut an. Vergeblich versuchte er den Eisriesen dazu zu bringen die beiden Frauen zu verfolgen. Dieser verdammte Felsbrocken stellte sich als unüberwindbares Hindernis da. Erst nachdem er den Klumpen mit der Waffe bearbeitet hatte, konnte sein beherrschter Riese wieder die Verfolgung aufnehmen.
"Töte sie." befahl Rohan, nachdem der Riese die Königstochter auf dem Vorplatz gestellt hatte. Obwohl mittlerweile mehrere Pfeile den Kopf des Vollstreckers zierten und die Schmerzen kaum auszuhalten waren, zwang Rohan ihn die geballte Faust auf sie niedergehen zu lassen.
"Und wieder daneben." Legans breites Grinsen über das erneute Versagen war zwar nicht sichtbar, aber für jeden in der Gruppe deutlich zu spüren.
"Klappe zu." fluchte Rohan als sein Riese durch Schwerter niedergestreckt wurde.
"Wie es aussieht, bekommst du eine weitere Chance." stachelte Legan ihn auf, als er sah, dass die Türen ins Innere der Festung so verstopft waren, dass keine Fluchtmöglichkeit mehr bestand. Jetzt bemerkte auch Azul, dass nicht nur Sasha und die Königstochter vor ihrem Ende standen. Sein ehemaliger Meister saß ebenso in der Falle.
"Da haben wir sie ja alle. Ein erhabener Moment, der..." mischte sich Wolka in den Triumph ein. Er brach ab, als er bemerkte, welche Möglichkeit sich ihnen gerade bot.
"Alles zum Tor. Sofort." Die Gruppe übernahm wieder die Kontrolle. Hektisch wurden Befehle vergeben und als Wolka sah, wie sich die einmalige Gelegenheit wieder zu verschließen drohte, reagierte er blitzschnell und wies einen der Eisriesen an, den Torspalt mit einem Felsbrocken zu verkeilen. Vergeblich versuchten die Torwachen dieses Hindernis zu beseitigen. Der Fels saß so fest, dass Wolka in Ruhe einen Sturm vorbereiten konnte.
Sein Plan sah vor, mit der Kraft von mehreren Eisriesen den Torflügel einfach aufdrücken, dann wäre der Weg frei für die Truppen die Festung zu stürmen. In Vorfreude dieses Triumphes auf einen Streich gleich den Endsieg einzufahren, wurde Wolka nachlässig. Im Überschwang der Gewissheit über den totalen Erfolg, erlaubte er Rohan seinen persönlichen Rachefeldzug zu vollenden. Die Utchas hatten den feindlichen Feldherren am südlichen Ende des Platzes auf seiner Flucht gestellt und eingekreist. Es gab für ihn kein Entrinnen mehr und das er noch lebte, war einzig und allein der sadistischen Neigung Rohans zu verdanken. Er wollte diesem Mistkerl persönlich bei seinem Ableben beobachten. Auch Azul war neugierig auf die letzten Atemzüge des Mannes, der ihnen an der Brücke so zugesetzt hatte.
"Ich bin Una von Lendwutt. Hüter der Stadt Krumau. Hiermit fordere ich euch auf diese Stadt sofort zu verlassen." Seine Worte waren voller Stolz und nicht eine Spur von Angst war zu vernehmen. Trotzdem wirkte es lächerlich. Fast tausend Utchas, Vikiner und Eisreisen säumten jetzt den Platz und er war der einzige noch lebende Mensch. Ausgerechnet er erdreistete sich, ihnen Befehle zu erteilen. Mit einer Fackel in der Hand stand er auf einer Art Bühne, die vermutlich am Marktag als Laientheater zur Belustigung der einfachen Leute diente. Der perfekte Ort für Rohans Rachefantasien, die jetzt das dominierende Gefühl in ihrer Gemeinschaft war.
Rohan würde ihn nicht einfach und schnell töten. Dafür bestand keine Notwendigkeit. Er hatte alle Zeit der Welt seinen Tod zu genießen und dem würden Folter, Verstümmelung und weitere Spielchen vorausgehen, die Azul nicht unbedingt erleben wollte. Er wandte sich ab, um seine Konzentration auf die Erstürmung der Festung zu richten, immerhin hatte Wolka bereits einen Trupp Eisriesen zusammengestellt, als er doch noch ein Mal zurückkehrte. Irgendwas störte ihn an diesem Bild. Warum die Fackel? Die Dämmerung war noch nicht angebrochen, also warum sollte er ausgerechnet bei seinen letzten Atemzügen eine Fackel in der Hand halten. Wenn ihn die vergangenen Stunden eins gelehrt hatten, dann war es die Tatsache, dass dieser Mann nichts ohne Grund tat. Die Erleuchtung kam ihm, als er die offene Luke im Boden der Bühne sah.
"Wenn ihr nicht gewillt seid dieser Aufforderung Folge zu leisten, dann bleibt euch nur der Tod." Der Blick des Feldherrn fiel auf das Loch neben ihm.
"Brandwasser." Nur dieses eine Wort brüllte Azul in den Raum ihrer Gemeinschaft. Unterhalb der Bühne befanden sich vermutlich die gesamten Reserven der Stadt. Mit Erschrecken sah er, wie die brennende Fackel in das Loch fiel. Eine Erschütterung zeriss die Bühne und zerfetzte sie und den Fackelträger in unendlich viele kleine Einzelteile. Wie Wasser das durch einen Steinwurf in Wallung gebracht wurde, übertrug sich die Erschütterung auf den kompletten Platz und riss sogar die Eisriesen von den Beinen. Holzstücke flogen angetrieben durch scheinbar unbändige Energie durch die Luft, aber das war nur ein kleines Ärgernis im Vergleich zu dem, was darauffolgte. Wellen aus Feuer breiteten sich aus, als hätten tausend Drachen beschlossen ihren tödlichen Atem in alle Richtungen gleichzeitig zu verbreiten. Mit einer unglaublichen Geschwindigkeit bahnten sich die Flammen ihren Weg über den Platz und zerstäubten alles zu Asche, was so töricht war dem Inferno im Wege zu stehen. Diese Feuersbrunst kroch am westlichen Ende die dicken Wände der Festung empor und färbte den hellen Stein in tiefes schwarz. Die offenen Seiten zur Stadt stellten dagegen kein Ernst zu nehmendes Hindernis da. Die arg geschundenen Gebäude taugten nicht einmal als Wellenbrecher und so schafften es die Flammen, angetrieben von der enormen Wucht der Explosion, bis in die kleinsten Winkel der Häuser vorzudringen. Nach dem Bombardement des Vortages suchte nun eine neue Katastrophe das Leid geplagte Krumau heim. Azul hörte die verzweifelten Schreie ihrer Truppen, die nach nur kurzer Zeit verstummten. Das Flammenmeer hatte Tausende ihrer Soldaten dahingerafft.
Der Holzstab krümmte sich und drohte zu brechen, als Jessica ihr komplettes Gewicht daran hängte. Nichts. Selbst mit der vereinten Kraft von drei weiteren Stäben schafften sie es nicht den Brocken auch nur einen Deut zu verschieben. Die Angriffe der Utchas hatten jetzt aufgehört, was trotz des offensichtlichen Vorteils nicht Gutes bedeuten konnte. Was immer sie auch dort draußen planten, es würde sie mit verheerender Wucht treffen. Ihr letzter Zufluchtsort drohte ein Inferno aus Utchas, Riesen und Vikinern. Ein letzter Versuch den Felsen zu verrücken scheiterte und bevor sie sich endgültig der Resignation hingab, erschütterte ein Donnerschlag die Luft.
"Was war.." weiter kam Jessica nicht mit ihrer Frage, denn der Torflügel, den sie so krampfhaft versuchten zu schließen, schleuderte ihnen entgegen. Welch ungeheure Kraft auch immer dort draußen gerade entfesselt wurde, sorgte dafür, dass all ihre bisherigen Bemühungen in der Kürze eines Wimpernschlages zu Nichte gemacht wurden. Instinktiv suchte sie Deckung, als der Torflügel auf die dahinterliegende Wand knallte und alles zertrümmerte, was dazwischengeriet. Jessica blieb keine Zeit die Dinge weiter zu hinterfragen, denn Feuer schoss durch die Öffnung und verbrannte diejenigen, die nicht geistesgegenwärtig genug waren Schutz zu suchen.
"Der Drache. Er ist da." hörte sie jemanden panisch schreien. Die ersten Torwachen ergriffen die Flucht und Jessica hatte Mühe diesem Reflex nicht selber nachzugeben. Sie schirmte ihre Augen ab, denn das helle Licht blendete sie. Das war kein Drachenfeuer. Viel zu hell waren die Flammen. Der Feind hatte sich eine neue Heimtücke einfallen lassen, nur um in die Festung zu gelangen. Vorsichtig wagte sie einen Blick, als die Hitze etwas abgeklungen war.
Die erwarteten Horden von eindringenden Utchas blieben aus, obwohl in diesem Moment die Einladung nicht offensichtlicher hätte seien können. Das schwere Holztor stand immer noch zur Hälfte offen, aber ansonsten schien es keinen großen Schaden genommen zu haben. Weder die Kraft, welche die rechte Seite gegen die Wand geschleudert hatte, noch das Feuer schien den robusten Flügeln nachhaltig etwas anhaben zu können. Jessicas Blick fiel auf den Felsen, der vor Kurzem noch so unverrückbar erschien. Was geballte Hebelkraft nicht vermocht hatte, schaffte dieses... Sie fand keine Worte. Bei den Göttern, was war dort draußen eigentlich passiert, dass es riesige Steinbrocken bewegen konnte. Sie wagte ein paar vorsichtige Schritte auf die Toröffnung zu. Immer bereit sich Deckung zu suchen, falls erneut irgendwelche Katastrophen auf das Tor treffen sollten. Ihre Neugier wurde weiter angefacht, durch die Ruhe, die auf der anderen Seite der Pforte herrschte. Es war nur wenige Augenblicke her, dass Unmengen an Feinden waffenklirrend versuchten auf dieses Tor zu stürmen. Und nun war da nichts mehr.
In der Gewissheit, dass die verankerte Pforte dem größten bekannten Angriff standgehalten hatte, presste sie ihren Rücken an das Holz. Es fühlte sich warm an. Offenbar hatte es einen Großteil des Feuers abgefangen. Schritt für Schritt näherte sie sich weiter der Öffnung. Sie wagte einen Blick über den Platz und erst jetzt sah sie das ganze Ausmaß des Infernos. Was immer auch passiert war, es hatte die ganze Stadt getroffen und sämtliche Angreifer in Aschehaufen verwandelt. Den Feind hatte es verheerend getroffen.
"Das war Brandwasserfeuer." hörte sie von Tranje in ihrem Rücken. Er sah furchtbar aus. Sein ohnehin schon lädierter Arm hatte jetzt auch noch Verbrennungen.
"Die Vorräte lagerten am südlichen Ende des Platzes. Sie müssen in Brand geraten sein." schlussfolgerte Jessica.
"Oder jemand hat sie entzündet." warf von Tranje ein.
"Von Lendwutt. Was für eine verrückte Tat." Gemeinsam standen sie jetzt in der Pforte und schauten auf die brennende Stadt. Ein furchtbarer Preis für ein paar Tage mehr Überleben.
"Wir sollten endlich dieses verdammte Tor schließen." Auch von Tranje war bedrückt über das was er sah.
Nachdem das eigene Überleben vorerst gesichert war, verweigerte ihr Körper die Aufrechterhaltung des Ausnahmezustandes. Bleierne Müdigkeit überkam sie, aber der Zeitpunkt für Schlaf lag noch in unendlicher Ferne. Der Schmerz forderte mit jedem Schritt sein Recht auf Aufmerksamkeit zurück und so wurde der Weg zur Bibliothek zur Tortur. Der große Lesesaal diente jetzt als provisorisches Hauptquartier, aber es gab kaum noch jemanden, mit dem sie sich beraten konnte. Neben von Lendwutt fielen auch die Könige Derold von Gamal und Julian von Hestos in der Schlacht. Nur der Bürgermeister und die beiden Dekane, die jetzt ohne Lehranstalt waren, saßen an dem viel zu großen Tisch.
"Wer von Ihnen hat befohlen das Tor wieder zu öffnen?" fragte Jessica müde. Ein Heiler rieb ihren Fuß vorsichtig mit einer Salbe ein. Wie sie vermutet hatte, war er nicht gebrochen, aber die Schwellung nahm enorme Ausmaße an.
"Ich war es, euer Hoheit." sagte der Bürgermeister stolz in Erwartung eines Kompliments, da er ihr Leben gerettet hatte.
"Das war töricht." enttäuschte Jessica ihn.
"Aber ich..."
"Schweigt." unterbrach sie ihn harsch. Eine der Wachen betrat den Saal und bat um das Wort.
"Sprecht." befahl Jessica. Die Müdigkeit sorgte dafür, dass jedes unnötige Wort unausgesprochen blieb.
"Eure Hoheit." begann er mit einer leichten Verbeugung
"Das große Tor ist unbeschädigt. Es wurde mit weiteren Brettern verstärkt. Ihr verfügt über etwa 2000 waffenfähige Männer. Weitere 200 erlitten Verletzungen die in wenigen Tagen heilen. Etwa 500 Männer sind auf Grund ihrer Verletzungen kampfunfähig." Er machte eine kurze Pause und war sich unschlüssig, ob er fortfahren sollte. Die gedrückte Stimmung machte es ihm schwer.
"Die Vorräte?" fragte Jessica.
"Bei ausreichender Rationierung können wir der Belagerung 7 Tage lang standhalten." Seine Worte steigerten die Resignation.
"Was ist mit der westlichen Brücke?"
"Wir konnten keinerlei Feinde sichten. Allerdings ist der Wald so dicht, dass wir uns dahingehend nicht sicher sind. Wir werden Späher aussenden." erwiderte er verlegen und wandte sich ab.
"Wir sollten Richtung Westen ausbrechen." schlug der Bürgermeister vor.
"Das ist das, was sie beabsichtigen. Sie eröffnen uns diese Fluchtmöglichkeit, aber ich bin nicht bereit das Buch kampflos auszuliefern. Wir werden diese Festung verteidigen" widersprach ihm Jessica.
"Ihr habt es vernommen eure Hoheit. Sieben Tage. Sie werden uns aushungern."
"Das werden sie nicht. Wir haben immer noch eine Armee dort draußen. Sieben Tage sind ausreichend Zeit für einen Gegenangriff. Veranlasst das Notwendige." befahl sie an eine der Stadtwachen. In Kürze würde ein weit sichtbares Feuer auf dem höchsten Turm der Festung brennen. Ein Späher, der sich in den umliegenden Bergen versteckt hielt, macht sich daraufhin auf den Weg. Drei Tage waren angesetzt für den Ritt zur Armee von Prinz Kosibion. Weitere vier Tage würden vergehen, bis die Truppen hier eintreffen. Ein sehr enger Zeitplan für die alles entscheidende Schlacht.
"Es ist entschieden und nun sollten wir ruhen." Alle Müdigkeit der Welt schien sie erdrücken zu wollen. Ihr Bett schien ihr die einzig unausweichliche Alternative. Müde erhob sie sich, als Sasha den Lesesaal betrat.
"Ich muss dir was zeigen." sagte sie.
"Das muss bis morgen warten."
"Unglücklicherweise kann es das nicht." Sasha hakte sich unter und führte sie ins Freie. Dunkelheit legte sich bereits über den Platz und das Licht der Fackeln flimmerte schon fast beruhigend. Langsam, fast andächtig, gingen sie über den Bibliotheksvorplatz in eines der Nebengebäude. Dort trafen sie auf von Tranje, der nicht weniger müde an einem Tisch saß. Auf einem Teller befanden sich drei Stück Kuchen.
"Alles Gute." sagte er aufrichtig gerührt und bat sie sich zu setzen. Durch die chaotischen Ereignisse hatte sie ihren Geburtstag vollkommen verdrängt. Jetzt fiel der schützende Vorhang, der sie vor den schrecklichen Erlebnissen des Tages bisher mehr oder weniger erfolgreich geschützt hatte. Dieser Geburtstag wäre beinahe auch zu ihrem Todestag geworden. Das dies nicht passierte, verdankte sie diesen beiden Personen. Mit Tränen in den Augen setzte sie sich auf einen der klapprigen Stühle.
"Danke." Sie legte von Tranjes Hand in ihre Hände und zeugte ihm mit dieser Berührung den größten Respekt, der zwischen ihren Ständen jemals möglich wäre. Mehr Intimität gestand sie sich bei Sasha ein. Sie bekam ihr Danke mit einer ausgiebigen Umarmung. Dieser furchtbare Tag endete mit einem der erhabensten Momente ihres Lebens und ihre Erinnerung daran würde all den Schrecken aufwiegen, der ihr heute widerfahren war.
Die Nacht war kurz für Jessica, aber vor allen war sie unruhig. Es gelang ihr nicht den Geist soweit zu befreien, dass eine Form von Schlaf möglich war. Riesen, Drachen und furchtbar entstellte Utchas erstickten jegliche Form der Regeneration und so war sie froh mit der einsetzenden Morgendämmerung endlich einen Grund gefunden zu haben, ihren nächtlichen Dämonen zu entkommen. Vollkommen übermüdet begab sie sich auf die höchste Zinne der Festung und ließ ihren Blick über die zerstörte Stadt schweifen. Wieder war der Himmel voller dunkler Wolken und untermauerte in seiner Trübsinnigkeit den furchtbaren Anblick der Ruinen, die vor wenigen Tagen noch prachtvolle Gebäude waren. Kein einziger Feind war in den verlassenen Gassen auszumachen und mit einer gewissen Genugtuung vermutete sie, dass von Lendwutts selbstmörderisches Ende, die Pläne ihrer Feinde für den Moment über den Haufen geworfen hatte. Irgendwo dort draußen saßen Massen an Utchas, die ängstlich darüber nachdachten, was tausenden ihrer Kameraden am Vortage passiert war. Vermutlich würde dieser Zustand nicht lange anhalten, aber für den Augenblick gab es Jessica ein gutes Gefühl.
Sie humpelte die Stufen der Zinne hinab. Die Schwellung an ihrem Fuß war deutlich zurückgegangen und sie hoffte mit einer weiteren Dosis der Wundersalbe, auf eine normale Größe ihres Fußes bis zum Mittag. Also suchte sie den Medikus auf, der am Vortag so heilende Hände besessen hatte. Der Weg dorthin führte sie durch Strassen, die überquollen von gepeinigten Kämpfern, welche die Nacht aus Mangel an Unterkünften unter freiem Himmel und bitterer Kälte verbracht hatten. Ehrfürchtig wurde ihr der Weg freigemacht, aber diese Ehrfurcht konnte die Resignation in den Gesichtern nicht vollkommen überdecken. Die Moral lag am Boden. Niemand glaubte noch an einen guten Ausgang des Krieges.
Nach der medizinischen Notwendigkeit standen die ersten Beratungen an und vorerst ging es nicht um die Verteidigung der Stadt. Die Verwaltung einer großen Menge an Menschen auf so engem Raum war eine logistische Herausforderung und schon die Verteilung an Nahrungsmitteln würde die Unzufriedenheit nähren, die derzeit noch unter dem Deckmantel der vergangenen Ereignisse auf kleinem Feuer vor sich hin kochte. Das spärliche Frühstück zeigte jedem auf, welche Rationalisierung notwendig war, um die sieben Tage halbwegs zu überstehen. Weitere Einschränkungen gab es bei der Wasserversorgung, bei Medikamenten und der Hygiene. Diese sieben Tage würden verdammt lang werden und Jessica hoffte, dass die Wut auf den Feind die Frustration über die aussichtslose Lage hier drinnen überlagern würde. Sie mussten unbedingt verhindern, dass die aufstauende negative Energie sich innerhalb der Mauern dieser Festung entlud. Zu ihrem Glück half ihnen der Feind und sorgte für die erwünschte Ablenkung. Am Nachmittag offenbarten sich die ersten Aktivitäten in den Ruinen der Stadt. Offenbar dauerte Aushungern ihren Gegnern zu lange, denn die Vorbereitungen für einen Angriff waren in vollem Gange.
"Ich fürchte wir müssen morgen mit der ersten Attacke auf die Festung rechnen." sagte von Tranje. Am späten Nachmittag wurde die erste militärische Beratung einberufen. Der einzig Überlebende mit militärischem Sachverstand war von Tranje und obwohl er nicht mehr in der Lage war ein Schwert zu führen, übertrug ihm Jessica die Planung der Verteidigung. Sein geschundener Körper machte jedes seiner Worte zur Tortur und sie bewunderte seinen unbedingten Willen durchzuhalten.
"Sie errichten ihr verbliebenes Katapult auf Höhe der alten Schmiede. Vermutlich wird ihr Angriff auf diesen Teil der Festung geschehen." Vor ihm lag eine Karte, in der mit Liebe zum Detail jedes einzelne Bauwerk der Stadt eingezeichnet war. Diese Unversehrtheit all der Gebäude hatte schon etwas Naives an sich. Sein Finger lag jetzt weit im Norden.
"Dort haben wir nur diesen einen Bergfried. Seine Mauern sind dick. Da brauchen sie schon eine Menge Felsen um den klein zu kriegen. Trotzdem liegt genau dort unsere schwächste Stelle an der gesamten Festung. Es gibt mehrere Mauerabschnitte, die nur schlecht einzusehen sind. Diese kleine Freifläche davor macht es den Angreifern leicht vorzudringen und die Zinnen sind so schmal, dass wir nur wenig Männer darauf postieren können." von Tranje grübelte über verschiedene Möglichkeiten der Verteidigung.
"Was ist mit dem Drachen?" warf der Bürgermeister ein.
"Was soll mit ihm sein?" kam es zurück.
"Wie gedenkt Ihr, den Drachen abzuwehren?"
"Ehrlich gesagt, weiß ich es nicht. Ich habe kein Mittel dagegen." erwiderte von Tranje trocken.
"Euer Schwert. Ihr sagtet, dass euer Schwert den Reiter töten kann."
"Dem ist so. Leider liegt es auf der anderen Seite des Kanals. Selbst wenn Ihr seiner irgendwie habhaft werden könntet, wird sich der Mönch hüten in seine Nähe zu geraten."
"Es ist aussichtslos." resignierte der Bürgermeister.
"Wir müssen unser Glück über die westliche Brücke versuchen. Ihr selber sagtet, dass uns der Feind diese Option offenlässt. Seht es doch ein. Wir können das Buch nicht ewig verteidigen." warf Rektor Hebot ein.
"Ich für meinen Teil werde mit jedem verfügbaren Kämpfer diese Festung verteidigen. Euch steht es frei die Festung zu verlassen, aber merket auf. Ich werde keinerlei Nahrung für eure Flucht entbehren. Die Späher sind nicht zurückgekehrt. Ihr wisst nicht, was Euch in den Wäldern erwartet. Selbst wenn ihr es hindurch schaffen solltet. Es ist ein weiter Weg bis Reichenberg." Jessica klang entschlossen.
"Wenn die Festung fallen sollte, wird die westliche Brücke sich ohnehin als letzte Option darstellen. Sieben Tage. Das ist der Zeitraum, den wir durchhalten müssen." erklärte von Tranje und löste damit die Versammlung auf.
Kurz vor Anbruch des nächsten Tages fanden sich die Königin, der Feldherr und die Bogenschützin auf der Plattform des Bergfriedes ein, der ihr Bollwerk für den erwarteten Angriff seien sollte. Die Parallelen zu von Lendwutt und dem Turm an der Brücke zum Kanal waren offensichtlich, aber dieses Mal erhoffte sich Jessica einen besseren Ausgang der Ereignisse. Es herrschte eine ungewöhnliche Betriebsamkeit vor den Mauern der Festung. Die ganze Nacht hindurch musste der Feind an den Vorbereitungen zur Erstürmung gearbeitet haben, denn die Fackeln der Utchas tauchten die Ruinen in ein gespenstiges Orange. Hämmern und Sägen erschütterten die sonst so absolute Ruhe und verkündeten das bevorstehende Unheil. Noch spielte sich alles außerhalb der Reichweite ihrer Katapulte ab, aber diese Riesen, die so ängstlich vor jedem Schwert davonrannten, würden selbst schweres Kriegsmaterial an die Front tragen können.
Die Dämmerung brach an und instinktiv ließ Jessica ihren Blick über den Himmel schweifen. Kein Drache war in den immer noch dunklen Wolken auszumachen. Seit Tagen verdüsterten sie die ohnehin schon finstere Umgebung. Vielleicht gab es ja heute Regen, dass würde die Angriffsbemühungen um einiges Erschweren, aber wieder weigerte sich der Himmel auch nur einen Tropfen abzugeben. Trostlos lag die ausgebrannte Stadt vor ihnen und es dauerte bis Mittag, ehe die Utchas sie mit hasserfüllter Bewegung erfüllten.
"Es beginnt." sagte von Tranje. Ihm fiel das lange Stehen immer noch schwer. Er brüllte ein paar Kommandos, die zeitnah umgesetzt wurden. Unter ihnen wurde dieses riesige Katapult in Stellung gebracht, dass schon auf der anderen Seite des Kanals so verheerende Auswirkungen gezeigt hatte.
"Sie werden den Bergfried anvisieren." Jessica sah wie die Riesen, gigantische Felsbrocken heranschleppten.
"Keine Angst. Die Mauern sind dick." beruhigte von Tranje sie. Der erste Brocken flog durch die Luft und schlug unterhalb ihres Turmes ein. Ein paar Steine regneten hinab, aber soweit es Jessica beurteilen konnte, gab es keinen großen Schaden. Um wirklich nachhaltig zu wirken musste die Stelle mindestens drei Mal getroffen werden. Bei der Streuung der vernichtenden Waffe fast unmöglich.
"Bogenschützen." brüllte von Tranje, als unter ihnen eine ganze Horde von Utchas bis an die Wand vordrangen. Nur wenige Pfeile trafen ihr Ziel. Leitern wurden herangebracht und obwohl einige der Träger den Pfeilen zum Opfer fielen, schafften es die restlichen Utchas sie an den Wänden aufzurichten. Wieder gab es Kommandos und nur kurze Zeit später versuchten die Soldaten auf den Zinnen die Leitern mit Hilfe von Haken abzustoßen. Mit Erfolg. Bevor auch nur ein Utcha das obere Ende der Leiter erreicht hatte, fielen diese zurück auf den Platz unter ihnen.
"Die werden schnell ihre Strategie ändern." kommentierte von Tranje den Erfolg. Wie zur Bestätigung seiner Vermutung tauchten ein paar Steinriesen auf dem Platz auf.
"Verscheucht sie." brüllte von Tranje, aber sein Befehl wurde übertönt von einem markerschütternden Schrei. Der Drache stieß aus den Wolken hervor und versengte mit seinem Feuerstrahl alles Leben auf der Mauer. Nur einen kurzen Moment später, erhoben die Steinriesen die Leitern erneut, aber dieses Mal klammerten sich bereits Utchas an den Sprossen fest, so dass diese nur einen Bruchteil eines Augenblicks benötigten, um die Zinnen zu erreichen. Pfeile gingen auf die Steinriesen nieder, aber sie hatten ihre unheilvolle Fracht bereits geliefert, als sie panisch davonrannten.
Der Drache hatte dafür gesorgt, dass die Utchas keinerlei Gegenwehr auf den Zinnen erwartete. Zwei Dutzend hatten mittlerweile die Leitern verlassen und machten sich daran in den Innenhof hinabzusteigen. Wieder gab es das Duell Schwerter gegen Keulen und obwohl die primitivere Waffe deutlich unterlegen war, sorgte der stetige Nachschub an Utchas für ein Ungleichgewicht auf dem Schlachtfeld.
"Wir müssen die Zinnen zurückerobern." von Tranje brüllte seine Befehle an die Boten und tatsächlich gewannen sie langsam die Oberhand gegenüber den einfallenden Utchas. Nach etwa einer Stunde erbitternden Kampfes standen sie kurz davor das verlorene Gebiet um die Zinnen wieder zu erlangen und diesen verdammten Nachschub über die Leitern zu stoppen.
"Nein." entfuhr es Sasha, als der Drache ihre sämtlichen Fortschritte zunichtemachte. Wieder wurden die Zinnen mit Feuer überzogen und damit zum Krematorium ihrer tapfersten Kämpfer. Damit war jetzt jeglicher Siegeswille bei den Verteidigern erloschen und die Utchas benötigten nicht viel Kampfgeschick für ihren erneuten Vormarsch. Wieder erstürmten sie den Innenhof und die Resignation ihrer Gegner erleichterte ihnen das Vorankommen. Es drohte ein Debakel innerhalb der königlichen Truppen.
Jessica ergriff die Wut. Sie zog ihr Schwert und verließ die Plattform. Angetrieben von unbändigem Zorn blendete sie Vernunft, Angst und das Wissen über fehlendes Kampftalent vollkommen aus. Angekommen in den Reihen ihrer Getreuen musste sie mit ansehen, wie Hoffnungslosigkeit die Arme ihrer Kämpfer schwermachte. Obwohl optisch noch eine Gegenwehr erkennbar war, hatten sich die meisten bereits aufgegeben.
"Kämpfer von Osos. Möge der Untergang auch nahe sein, ihr seid immer noch Ritter der königlichen Garde. Euch wurde nicht beigebracht wie Lämmer auf der Schlachtbank zu sterben. Selbst in der schwersten Stunde sind wir immer noch Wölfe." Der Blutrausch erfasste sie und mit einem Schrei, den sie sich selbst nie und nimmer zugetraut hätte, stürzte sie sich der ankommenden Flut von Utchas entgegen.
Sie bohrte ihr Schwert in den Hals des nächst besten Angreifers und als das dunkle Blut die Klinge hinab lief, blieb ihr nicht viel Zeit den Triumph zu genießen. Ein Keulenschlag schlug in ihre linke Schulter ein und schleuderte sie auf den Boden. Ihr Schwert rutschte ihr aus der Hand und als sie dem blutgetränkten Pflaster ihre persönliche Note hinzufügte, musste sie an Quatar denken. All die Dinge um ihn, die passiert waren oder eben nicht passiert waren oder hätten sein können. Ein Schwall an Erinnerungen überschwemmte ihr Bewusstsein und jede einzelne forderte ihr Recht ein als letztes den Verstand der Königin zu besetzen. Sie lächelte und erwartete den finalen Schlag, aber wieder zeigte der Todesgott kein Interesse an ihr. Ihr Blutrausch hatte ihre Getreuen infiziert und als sie die Kampfschreie und die Schwerter über sich hörte, erfasste sie neuer Lebensmut. Sie wurde nach oben gezogen und von irgendwo her wurde ihr das verloren gegangene Schwert in die Hand gedrückt.
"Wölfe." brüllte jemand vor ihr und wie auch schon der Blutrausch zuvor übertrug es sich auf alle Anwesenden. Aus unzähligen Kehlen wurde "Wölfe" gebrüllt und sichtlich eingeschüchtert von diesem einen Wort in tausendfacher Verstärkung war es jetzt an den Utchas Angst zu haben. Ihnen drohte das Schicksal Opfer dieses letzten Aufbäumens zu werden. Aufgeputscht durch neuen Kampfeswillen holten sich die königlichen Kämpfer das verloren gegangene Gelände zurück. Kein Utcha schaffte es dieser unbändigen Kraft etwas entgegenzusetzen und so dauerte es nicht lange bis die Zinnen wieder unter königlicher Kontrolle standen. Die erste Leiter fiel unter unbändigen Triumphgebrüll. Jessica stürmte auf die nächste zu, als unheimliche Stille ihre Getreuen ergriff. Sie drehte den Kopf nach links und sah wie der Drache in einiger Entfernung an ihr vorbeiflog. Majestätisch glitt er durch die Luft ohne einen einzigen Flügelschlag. Eine letzte Kehre, dann würde er frontal auf sie zukommen.
Im Angesicht des drohenden Unheils wagte es keiner der Utchas die Leiter nach oben hin zu verlassen. Panisch kletterten sie abwärts, so dass die Zinnen von einem Moment auf den anderen feindfrei waren. Jessicas Kopf verfolgte die Flugbahn und zu ihrer eigenen Überraschung war sie noch immer frei von Furcht. Sie wollte nicht davonlaufen, also warf sie ihr Schwert auf das Pflaster, richtete ihre Rüstung und ging mit trotzigem Stolz ein paar Schritte auf den drohenden Untergang zu. Der Drache vollendete gerade die Kurve und näherte sich im Gleitflug.
Eine Bewegung links von ihr lenkte sie kurz ab und mit einem flüchtigen Blick bemerkte sie Sasha an ihrer Seite, die mit gespannten Bogen auf den ankommenden Drachen zielte. Erst mit dem zweiten Blick erkannte sie den Pfeil. Ein Holz, dass so weiß war wie reinster Schnee. Sasha hatte den Pfeil des Thores aus den Katakomben der Bibliothek geholt. Mit unangenehmer Grausamkeit drängten sich die eigenen Erfahrungen in ihr Bewusstsein. Damals im tiefsten Dschungel von Askalan überkam sie diese Verführung das Falsche zu tun und nur mit aller Willenskraft konnte sie sich überhaupt beherrschen den Pfeil nicht zu berühren. Welch starker Wille musste vorhanden sein um damit auf einen Gegner zu zielen. Hatte Sasha diesen Willen? Nein. Es war eine Falle. Sasha kontrollierte nicht den Pfeil. Sie wurde kontrolliert, denn nicht der Mönch war das Ziel.
"Sasha. Nein." schrie Jessica sie an, aber es schien fast so, als wäre sie in einer fremden Welt gefangen. Eine Welt, die aus nur einem Gedanken bestand. Töte den Drachen. Lebenslange Reue wäre ihr Lohn. Jessica überlegte kurz, ob sie Sasha daran hindern sollte auf den Drachen zu schießen, aber was war schon ein Drachen gegen das Schicksal von Osos. Diese Kreatur war genauso unschuldig in diesen Konflikt geraten, wie jeder andere hier auf diesem Schlachtfeld, also konnte ihr auch das gleiche Ende jedes anderen hier ereilen.
Die anfliegende Kreatur entfaltete ihre Größe mit jedem Augenblick der verging und schon bald zeichneten sich die ersten Konturen ab. Die Flügel weit gespreizt, glitt er majestätisch auf die beiden Frauen zu. Das Gesicht war nun deutlich zu erkennen und die Augen spiegelten das Leid wieder, das Sasha mit ihren intuitiven Sinnen bereits erfasst hatte. Mitleid ergriff Jessica und in einem Bruchteil eines Augenblicks entschied sie sich dafür Sasha in den Bogen zu greifen. Zu spät. Der Pfeil war bereits unterwegs.
"Nein." schrie Sasha jetzt frei vom Einfluss des Pfeils die Tragödie erkennend. Sie warf den Bogen davon und presste ihre Hände an den Kopf. Das Ziel lag genau zwischen den Augen und mit der Genauigkeit, mit der Sasha ihre Pfeile darin versenkte, gab es keine Zweifel über den Erfolg des Schusses.
Der Drache glitt über die Zinnen dahin, dem unausweichlichen Schicksal entgegen, aber zu Jessicas Überraschung absolvierte er ein Manöver, das selbstmörderischer nicht hätte seien können. Er tauchte ab und schrammte mit seinem rechten Flügel über die steinernen Spitzen der Burgmauer. Die Eleganz seines Fluges ging verloren kurz bevor der Pfeil sein Ziel erreichen konnte. Mit einem letzten intuitiven Kraftakt senkte der Drache seinen Kopf, hob seinen massiven schuppigen Körper in die Lüfte und schleuderte mit dem Rücken voran auf den anfliegenden Pfeil zu. Diese Aktion war keine gezielte Anweisung des beherrschenden Reiters. Für den Bruchteil einer Sekunde raffte der Drache alle Energie für den Widerstand zusammen und lenkte seine Bürde in die Flugbahn des tödlichen Geschoßes. Mit Erfolg. Der Pfeil durchbohrte die Gestalt, die so unheimlich auf dem Rücken thronte und die Kreatur unter ihm zu scheußlichen Taten drängte. Diese befreiende und zugleich halsbrecherische Aktion sorgte für einen Überschlag. Die riesige Masse stürzte kopfüber auf den Bibliotheksvorplatz und zerquetschte nicht nur die Statuen, welche die Finger so ehrfurchtsvoll Richtung Himmel streckten, sondern auch etliche Kämpfer, die sich nicht schnell genug in Sicherheit bringen konnten.
"Was hast du getan?" Jessica stand immer noch ungläubig auf den Zinnen.
"Ich konnte ihn doch nicht töten." antwortete Sasha geistesabwesend.
"Gedanken sind schneller als Pfeile und du warst in der Lage ihm einen zu schicken." schlussfolgerte sie.
"Sich der Macht des Pfeils entgegen zu stellen war aussichtslos."
"Also hast du deine Energie darauf verwandt dem Drachen eine Warnung zukommen zu lassen. Du hast der Macht des weißen Pfeils des Thores zwar nicht widerstanden, aber du hast ihn überlistet." kommentierte Jessica den Erfolg. Jubelgeschrei aus tausend Kehlen drang an ihr Ohr. Der Sturz des Drachen wurde von jedem der Kämpfer frenetisch gefeiert.
"Niemand tut ihm etwas an." brüllte Sasha, aber ihre Drohung ging im Gebrüll unter. Sie stürzte die Stufen in den Innenhof hinab auf den riesigen leblosen Körper zu, der umringt war von Neugierigen. Allein der Kopf hatte ein mehrfaches ihres eigenen Gewichtes. Vorsichtig legte sie ihre Hand auf eine der Nüstern. Jetzt herrschte absolute Stille. Abwartend traute sich niemand auch nur ein unnötiges Geräusch von sich zu geben.
"Er lebt." sagte Sasha leise.
"Dann sollten wir das ändern." kam es von ihrer rechten Seite.
"Ja. Töten wir ihn." stimmten jetzt mehrere Stimmen mit ein.
"Niemand rührt ihn an." drohte Sasha, aber bevor es zur Eskalation kam, durchfuhr ein Zucken den massigen Körper. Instinktiv traten alle ein paar Schritte zurück.
"Wir müssen es schnell erledigen." Einer der Kämpfer zog sein blutgetränktes Schwert.
"Er ist keine Gefahr mehr für uns." stellte sich Sasha ihm in den Weg. Sie drohte einfach umgerannt zu werden. Der linke Flügel erhob sich und ließ alle zurückweichen. Allein Sasha blieb wenige Schritte vor dem Kopf stehen. Jetzt öffnete der Drache die Augen. Ein Raunen ging durch die Menge der Kämpfer. Mehrere hundert Schwerter waren bereit sich in den Schuppenpanzer zu bohren, sollte der Drache sie attackieren. Mühsam erhob sich die Kreatur und als sie ihre Flügel in voller Breite entfaltete, wichen die königlichen Kämpfer weitere Schritte ehrfürchtig zurück.
"Er wird uns nichts mehr antun." beschwor Sasha erneut. Sie verkürzte den Abstand zu dem Drachen und was immer auch sie jetzt in ihrer geistigen Verbindung an Empfindungen austauschten, es beruhigte die Panik des Drachen, der den königlichen Kämpfern nicht weniger ängstlich gegenüberstand.
"Utchas." brüllte jemand, als die ersten Feinde auf den immer noch unbemannten Zinnen auftauchten. In all der Euphorie den größten Widersacher vom Himmel geholt zu haben, hatten sie die Abwehr der über die Leiter eindringenden Utchas vernachlässigt.
Immer noch unschlüssig, wie sie mit dem Drachen verfahren sollten, traute sich keiner der Kämpfer ihn zu passieren, um sich den Feinden zu stellen. Mittlerweile hatten zwei Dutzend Utchas die Zinnen erklommen und waren bereit den Innenhof zu erstürmen, als Sasha ihre Verbindung löste. Die massige Kreatur drehte sich Richtung Burgmauer und wenige Augenblicke später zerstäubte ein gewaltiger Feuersturm alle Eindringlinge zu Asche.
"Yeahhh..." erklang es tausendfach. Obwohl immer noch Misstrauen vorherrschte wirkte der Drache jetzt weniger bedrohlich. Dieser erhob sich und verschwand in den Wolken.
Die Verteidiger erstürmten die Zinnen und bevor weitere Utchas in die Festung eindrangen, stürzten sie die Leitern in die Tiefe. Es folgten noch ein paar klägliche Versuche sie wiederaufzurichten, aber es gelang den Angreifern nicht mehr auch nur einen Fuß über die Zinnen zu bekommen. Gegen Abend wurde auch das Bombardement des Bergfriedes eingestellt. Sie hatten einen weiteren Tag überstanden.
"Ich hätte Euch nicht für so wagemutig gehalten." von Tranje hatte die abendliche Beratung einberufen, aber bevor es an die Planung der nächsten Tage ging, wollte er die vergangenen Ereignisse auswerten.
"Das war kein Wagemut. Das war Verzweiflung." antwortete Jessica.
"Was immer es auch war, diese Tat sich todesmutig den Utchas entgegen zu werfen, hat Euch den lebenslangen Respekt aller Soldaten eingebracht. Meinen eingeschlossen." erwiderte er ehrfürchtig.
"Wie lang ist dieses lebenslang. Ein paar Tage?" fragte Jessica. Auf dem großen Tisch in der Mitte des Lesesaals, befanden sich heute nicht nur Karten. Eine graue Kutte lag am Kopfende.
"Das bleibt übrig, wenn sie getötet werden?" fragte Jessica.
"Tot war er schon vorher. Es gab nur keine körperliche Hülle mehr. Diese Robe war das Gefäß." antwortete von Tranje.
"Haben wir seine Existenz ausgelöscht?"
"Ich weiß es nicht. Wir haben versucht dieses Stück Stoff zu verbrennen. Es fing einfach kein Feuer." erklärte der Bürgermeister.
"Dann tun wir es in die Kammer, wo auch das Buch lagert." schlug Jessica vor.
"Eine weise Entscheidung." sagte von Tranje. Sein Zustand hatte sich geringfügig verbessert, aber die Belastung war seinem geschundenen Körper deutlich anzusehen. Sein Anblick machte Jessica die eigenen Wunden bewusst. Der Zustand ihres Fußes hatte sich zwar verbessert, aber ihre linke Seite dagegen war ein einziges Meer aus Schmerzen. Ihre Rüstung hatte zwar das Schlimmste verhindert, trotzdem zierte ein riesiger Bluterguss ihren Oberarm.
"Mit dem Verlust des Drachens gehen dem Feind die Alternativen aus. Seine einzige verbliebene Möglichkeit ist die des Aushungerns. Es bleiben noch fünf Tage, bis die Truppen von Kosobion hier eintreffen. Es wird die alles entscheidende Schlacht werden. Wir sollten die Zeit nutzen und unsere Truppen regenerieren." erklärte von Tranje. Damit beendete er den militärischen Teil und es wurden ausschließlich logistische Aspekte erörtert.
Diese elendigen Diskussionen über Nahrungsverteilung, Fluchtmöglichkeiten über die westliche Brücke oder Privilegien für höher gestellte Adlige belasteten sie mehr als sämtliche Maßnahmen zur Abwehr der Utchas. Bei letzterem waren sich wenigstens alle einig, aber bei der Reihenfolge über die Essensverteilung gab es keine für alle zufriedenstellende Lösung. Mit dem Gefühl den sinnlosen Dingen des Krieges viel zu viel Energie geopfert zu haben schleppte sich Jessica vollkommen übermüdet in ihre kleine Kammer. Ein privater Rückzugsort, der Luxus war in diesen Tagen und an diesem Ort. Ihrem königlichen Blut verdankte sie dieses Privileg und auch wenn die spärliche Einrichtung alles andere als höfischem Standard entsprach, freute sie sich auf die weichen Federn in dem einfachen Bett. Der Abend war schon weit fortgeschritten und in dieser Nacht hoffte sie endlich auf etwas erholsamen Schlaf, aber als sie die Tür hinter sich schloss, wurde sie dahingehend sofort enttäuscht. Jemand hatte es gewagt in ihr Zimmer einzudringen und dieser Jemand saß schweigend in einer dunklen Ecke.
"Wer seid Ihr? Gebt Euch zu erkennen!" forderte Jessica den Unbekannten auf. Ins Licht trat das Orakel.
"Was tut Ihr hier?" fragte Jessica verärgert.
"Euch retten, dummes Kind. Oh ich vergaß. Ihr seid ja jetzt erwachsen." spöttelte die Alte.
"Verschwindet." forderte Jessica sie müde auf.
"Ihr glaubt, Ihr seid sicher in den Mauern der Festung. Ihr irrt. Bevor Euch das Brot ausgeht, wird die Burg gefallen sein."
"Ihr irrt. Es sind nur noch wenige Tage. Der Feind wird es nicht schaffen die Mauern zu erstürmen." wies Jessica sie zurecht.
"Welcher Vorhersage würdet Ihr eher Vertrauen? Der eines Orakels oder der einer einfältigen Königin?" konfrontierte die Alte sie mit der einleuchtenden Wahrheit.
"Dann sagt mir was passieren wird!" forderte Jessica sie auf.
"Das kann ich nicht, aber was ich kann ist Euch in Sicherheit zu bringen, sollte die Zeit gekommen sein." erklärte sie.
"Sollte die Burg wirklich fallen, ist unsere einzige Fluchtmöglichkeit die westliche Brücke."
"Ihr dürft nicht fliehen. Gegenüber der großen Bibliothek befindet sich der studentische Speisesaal. An ihn grenzen sieben separate Räume. Der letzte wird Eure Zuflucht. Begebt Euch dorthin, sollte alle Hoffnung verloren sein."
"Und dann? Was mache ich dann?"
"Ihr werdet es erkennen."
"Ich bin es leid Euren vagen Andeutungen zu folgen. Erzählt mir was passieren wird." forderte Jessica sie auf.
"Verrat wird das Schicksal beeinflussen. Habe ich Euer Vertrauen noch immer nicht verdient? Die Festung wäre längst gefallen ohne meine Hilfe."
"Das mag wohl sein, aber eure Absichten sind mir weiterhin ein Rätsel." Jessica bekam keine Antwort mehr. Schweigend verließ das Orakel das Zimmer und die Hoffnung auf erholsamen Schlaf erfüllte sich nicht. Verrat? Wer könnte ein Interesse an einem Sieg der feindlichen Kräfte haben. Würde der Bürgermeister im naiven Glauben verschont zu werden, irgendwelche Handel vereinbaren. Das ginge nur in öffentlicher Ablehnung der Krone. Oder vielleicht doch mit Hilfe von heimtückischer List. In den Chroniken fanden sich genug Beispiele für hinterhältigen Mord, um eigene Interessen durchzusetzen. War die Verzweiflung so groß, dass sich die Verantwortlichen der Stadt Krumau gegen sie wenden würden? Unmöglich. Noch besaß sie die Loyalität der Truppen und ihre selbstmörderische Aktion am heutigen Tag hatte diese sogar noch verstärkt. Dieses Gedankenkarussell raubte ihr den notwendigen Schlaf und sobald es die morgendliche Stunde erlaubte, erbat sie den Rat von Tranjes. Trotz aller beruhigenden Worte konnte auch er ihre Zweifel nicht zerstreuen. Sie suchte Ablenkung in den notwendigen Pflichten einer Königin, die in einer Festung belagert wurde und einen Krieg zu führen hatte, aber all die Versammlungen, Anweisungen und notwendigen Entscheidungen brachten die Prophezeiung des Orakels nicht zum Schweigen.
Der Tag flog dahin und obwohl es keinerlei Feindkontakt gab, gestaltete er sich nicht weniger anstrengend, als seine schlachtenreichen Vorgänger. Sie hatte jegliche Grenzen der Müdigkeit überschritten und zu ihrer Überraschung erwartete sie genau dort zusätzliche Kraft. Keine gesunde Kraft, dass war ihr durchaus bewusst, denn dieser letzte Schub an Energie würde zu Lasten ihrer Substanz gehen. Seit Tagen mied sie jegliche Form von Spiegelbild, denn ihr Anblick konnte nur um Jahre gealtert sein. Wieso sonst stand sie noch aufrecht. Nichts anderes als ihre Gesundheit konnte als Preis für diesen eigentlich nicht möglichen Zustand von Agilität herhalten. Sie war bereit weiter zu zahlen, auch wenn der Zusammenbruch sie unweigerlich irgendwann ereilen würde. Als die Dämmerung hereinbrach, versuchte sie gar nicht erst den Schlaf zu erzwingen. Rastlos durchstreifte sie die Festung, inspizierte die Truppen, hörte sich die Sorgen der Einheimischen an und kontrollierte die in den endlosen Versammlungen beschlossenen Vereinbarungen. Gegen Mitternacht war alles zur Ruhe gekommen. Nun gab es nur noch sie und die Gedanken fingen wieder an zu kreisen.
Das Orakel musste sich geirrt haben. Alles was sie an diesem Tag erlebt hatte, musste durch dieses Brennglas mit dem Namen "Verrat". Nichts. Keine verdächtigen Bemerkungen, keine geheimnisvollen Gesten, keine trügerischen Blicke. Da war einfach nichts, was den Verdacht des Verrates auch ansatzweise rechtfertigen würde. Ganz im Gegenteil. Der Sieg über den Drachen hatte neue Zuversicht verbreitet und die lethargische Stimmung innerhalb der Mauern wenigstens für diesen Tag unterdrückt. Warum stand sie also schon mehr als eine Stunde hier oben auf diesem Turm, starrte in die Dunkelheit und konnte das Misstrauen nicht endgültig ablegen. Dieses alte Weib hatte es geschafft ihren Verstand zu verseuchen. Es war gut all den mentalen Ballast auf dieser alten Vettel abzuladen und sie wollte gerade beginnen sich schnippische Bemerkungen über die Zuverlässigkeit bei Vorhersagen von Orakeln auszudenken, um sie dann beim nächsten Treffen ihr entgegenzuwerfen, als ihre Aufmerksamkeit auf die Dunkelheit vor ihr gelenkt wurde.
Sie sammelte ihren Geist und konzentrierte sich auf den Punkt, der sie aus den Gedanken gerissen hatte. Irgendeine Bewegung gab es dort draußen, da war sie sich ziemlich sicher, aber jetzt überdeckte die Dunkelheit wie ein schwarzer Schleier den Vorplatz vor dem Haupttor. Wieder. Dieses Mal weiter nördlich. Nur kurz und kaum zu erkennen für ein ungeübtes Auge wie sie. Anspannung überkam sie. Bildete ihr übermüdeter Verstand sich das nur ein? Es gab Berichte über Halluzinationen bei zu langem Schlafentzug. Was sie brauchte war eine zweite Meinung, also begab sie sich zur nächstgelegenen Wachstube. Wenn es dort draußen etwas gab, würde es einem erfahrenen Soldaten nicht entgehen. Sie betrat die kleine eingelassene Nische im Turm und zu ihrer Überraschung fand sie niemanden vor.
"Meldung Soldat." sagte sie laut in der Hoffnung, dass aus irgendeiner schlecht einsehbaren Ecke die Wache hervortrat. Nichts. Der Posten war unbesetzt. Eilig stieg sie die Treppen hinab und mit ungutem Gefühl passierte sie das Haupttor. Auch hier befand sich niemand. Normalerweise standen hier sogar zwei Soldaten. Aufregung machte sich in ihr breit, denn die nächste Wachstube war ebenfalls verwaist. Ihr Blick fiel wieder auf den Vorplatz und dieses Mal gab es keinerlei Zweifel. Unzählige Gestalten tummelten sich dort draußen und hier im Inneren gab es keinerlei Wachen. Das konnte nie und nimmer Zufall sein. Verrat. Hatte das Orakel doch Recht?
Es half nichts. Drei Tage war es nun her, dass dieser verdammte Drachen sie einfach im Stich gelassen hatte und jeden Morgen trafen sich Azul und die Anderen und diskutierten ihr weiteres Vorgehen. Sie mussten einsehen, dass sich ihre Möglichkeiten darauf beschränkten die Belagerung einfach auszusitzen und zu hoffen, dass den Verteidigern im Inneren die Nahrungsmittel ausgingen. Zu allem Unglück hielt das heutige Treffen für sie noch eine besondere Überraschung bereit. Von Süden näherte sich das bisher passiv gebliebene Heer und obwohl ihre Truppenstärke der feindlichen immer noch weit überlegen war, zwang der Gegner sie dazu eine eigene Abwehr zu organisieren.
"Wir sollten denen alles entgegenwerfen, was wir haben." schlug Legan vor. Ein Großteil ihrer Truppen war im Flammenmeer umgekommen und bisher hatte sich keine Möglichkeit der Rache ergeben. Besonders Rohan lechzte auf Vergeltung.
"Wir können auch einen Teil der Armee hierlassen." schlug Niska vor. Es war wie jeden Morgen. Fruchtlose Vorschläge, die jedes Mal verworfen wurden. Die einzige Einigkeit bestand darin, dass man sich uneinig war. Dieses Zelt wurde zum Symbol ihrer Unfähigkeit und während die fünf sich in immer absurdere Vorschläge hineinsteigerten, schritt eine weitere Person durch den Eingang und überraschte alle Anwesenden.
"Was zum..." Legan verstummte sofort als ihm bewusstwurde, wer da vor ihm stand.
"Versagen erfüllt den Raum." Olmots Stimme klang monoton und bewies damit, dass die Gruppe es nicht mit dem Original zu tun hatte. Niemand wagte etwas zu erwidern. Der Blick es Neuankömmlings war leer und die Gleichgültigkeit, die er ausstrahlte, schien sie zu verspotten. Nach einer gefühlten Ewigkeit an Respekt traute sich Wolka die Stille zu durchbrechen.
"Nur ein paar Tage, dann wird sie der Hunger schon hinaustreiben." sagte er mit viel zu leiser Stimme. Die fast einschläfernde Geschwindigkeit mit der sich der falsche Olmot an ihn wandte, hatte etwas Bedrohliches.
"Heute Abend wird das Ende der Menschheit besiegelt. Wenn die Nacht am dunkelsten ist, wird der Sturm beginnen." bekam er als Antwort.
"Wir sehen keine Möglichkeit ins Innere zu gelangen." erwiderte Wolka demütig. Wieder gab es eine lange Pause, bevor sich der falsche Olmot mit gleichgültiger Stimme herabließ zu antworten.
"Die Tore werden offen sein." sagte er und hielt es nicht für nötig seine Worte zu begründen. Genauso lautlos wie er erschien, verließ er das Zelt und hinterließ eine ratlose Gemeinschaft, die sich schwer tat das Gesagte einzuordnen.
"Was soll das denn heißen?" fragte Legan nach ein paar Augenblicken betretenden Schweigens.
"Die Botschaft war doch eindeutig." erklärte Niska.
"Offensichtlich. Also werden wir die Truppen in die Stadt verlagern." entschied Wolka und ließ es sich nicht nehmen, Rohan darauf hinzuweisen, dass dies möglichst geräuschlos passieren sollte. Dieses Mal gab es keine Diskussionen. Die Gottheit hatte ein Machtwort gesprochen und auch wenn gehörige Zweifel an der Anweisung bestand, gab es keine Alternative.
Es war bereits dunkel, als sie ihre mentale Gemeinschaft bildeten. Es glich schon fast einem Ritual, dass Legan versuchte sein Bewusstsein über die Mauern der Festung zu tragen und wie so oft zuvor scheiterte er an einer unbekannten Barriere. Was auch immer sie daran hinderte die feindlichen Truppen auf diese Weise auszuspionieren hatte ähnliche Macht wie ihr eigener Meister. Nicht zum ersten Mal erfüllten Diskussionen den Raum, ob ein ähnlich starker Gegenspieler die Geschicke ihrer Gegner leitete, wie es bei ihnen passierte. Azul versuchte sie jedes Mal davon überzeugen, dass er als Leibeigener ausschließlich irdischen Herrschern verpflichtet gewesen war, aber die Spekulationen flammten jedes Mal neu auf. Immerhin gab es hinreichend viele Hinweise auf Magie, die ihnen im Umfeld der Schlachten des Öfteren begegnete.
"Es gab immer einen ebenbürtigen Gegner." ließ Legan nicht locker.
"Die Legenden sind voll davon." Er stellte ein paar Namen gegenüber, mit denen außer ihm niemand etwas anfangen konnte. Niska beobachtete durch die Augen eines Greifes das Portal. Vor den Ruß geschwärzten Festungsmauern war bisher nichts auszumachen, also blieb viel Zeit die Diskussionen weiter zu vertiefen.
"Dann wären wir nur Spielbälle höherer Mächte. Allesamt wie sie dort unten auf dem Schlachtfeld sterben. Adel. Bauern. Utchas." warf sie ein.
"Es bedarf nur einer gut vorgetragenen Geschichte. So was in der Art von: Die Anderen, die provozieren andauernd und wollen uns nur Böses tun. Wir müssen sie vernichten bevor sie uns vernichten. Jeder Krieg beginnt auf diese Weise und wenn wir nur ganz fest dran glauben an diese Geschichten, dann haben wir einen Grund uns gegenseitig die Schädel einzuschlagen." fuhr Legan fort.
"Und erkennen dadurch nicht den wahren Feind." sinnierte Niska.
"Der wahre Feind? Mir ist der wahre Feind bewusst. Er lauert dort hinter diesen Festungsmauern. Jahrhunderte lang hat er sich auf sein Geburtsrecht berufen und sich luxuriösen Privilegien hingegeben, während andere im Angesicht ihres Schweißes für sie schufteten und als Dank nur Verachtung bekamen." Azul hielt sich für gewöhnlich aus den Diskussionen raus, aber heute überkam ihn das Verlangen sich rechtfertigen zu müssen.
"Damit kennen wir wenigstens deine Geschichte." warf Legan ein und traf damit voll ins Schwarze.
"Ruhe jetzt. Da tut sich etwas." unterbrach sie Wolka.
"Das ist verrückt. Jemand hat das Tor geöffnet." Legan fasste die Ungläubigkeit aller Anwesenden in Worte.
"Das kann nur eine Falle sein." zweifelte Niska.
"Wir haben doch die göttliche Bestätigung." widersprach Legan.
"Allerdings. Rohan. Überprüf das mal." wies Wolka an. Ein paar Utchas huschten jetzt über den Platz und verschwanden in der eingelassenen Tür im Portal.
"Verdammt. Ich sehe immer noch nicht, was dahinter passiert." fluchte Rohan.
"Wir haben keinerlei Kontrolle über die Utchas jenseits der Mauer." warf Legan ein. Die Utchas erschienen wieder und schienen ziemlich hilflos, angesichts der unterbrochenen Verbindung zu ihren Meistern.
"Offenbar ist das Portal unbewacht." schlussfolgerte Wolka. Seine Gedanken kreisten jetzt innerhalb des Raumes. Jedem war klar, dass es nur eine Anweisung geben konnte.
"Angriff." befahl er. In diesem Moment erschütterte der wilde Ton einer Glocke die mitternächtliche Stille. Offenbar waren die Eindringlinge doch bemerkt worden, denn im Inneren der Festung wurde Alarm geschlagen.
"Schnell." fühlte sich Wolka genötigt noch zu ergänzen, aber der ganze Vorplatz wimmelte bereits von Utchas. Nach und nach verschwanden sie in der offenen Tür und es machte nicht den Eindruck, als würden sie aufgehalten werden.
"Verdammt. Was geht da drinnen vor?" Legan versuchte erneut über die Mauern zu gelangen und obwohl es ihm wieder misslang, spürten alle, wie der Widerstand dieses Mal geringer ausfiel.
Die Glocke verstummte und das Kriegsgeschrei der Utchas erfüllte jetzt die Nacht. Vereinzelt hörten sie das Klirren von Schwertern, aber das waren nur kurze Misstöne im Widerhall des vorherrschenden Gebrülls. Neue Schreie mischten sich in die Kakophonie der Utchas. Panische Schreie, die den Opfern brutal mit dem Tod ausgetrieben wurden. Auch wenn die optische Bestätigung fehlte, konnte auf Grund der Laute nur eine Schlussfolgerung gezogen werden. Die Verteidiger wurden mit runtergelassenen Hosen erwischt. Wer immer auch die Türen öffnete, hatte dem Ausgang des Krieges die entscheidende Wendung gegeben.
"Dort drinnen findet der Endsieg statt und wir können nicht dabei sein." Wieder prallte Legan an der schwächer werdenden Barriere ab.
"Seht da." Niska lenkte die Aufmerksamkeit auf die westliche Brücke.
"Sie fliehen."
"Wir treiben sie hinaus. Genau in die Hände der Vikiner." frohlockte Rohan.
"Das sind Unschuldige. Wir können sie nicht diesen Barbaren überlassen." Niska war erschrocken. Wolka hatte etwa hundert Vikiner auf die andere Seite des Flusses übersetzen lassen. Ursprünglich war geplant den Westen für Fliehende offen zu halten, um der Angst der Belagerten ein Angebot zu machen und damit die Verteidigung zu schwächen, aber innerhalb der Vikiner hatte sich eine unberechenbare Gruppe als unkalkulierbares Risiko entpuppt. Um Unruhe in den eigenen Reihen zu vermeiden, hatte Wolka beschlossen diese Unruhestifter auszugliedern. Getarnt als taktische Maßnahme verlegte er sie in den Wald entlang der Strasse nach Reichenberg. Diese Strasse war jetzt die Fluchtroute der im Schlaf überraschten Bewohner von Krumau.
"Es befinden sich Kinder unter den Fliehenden. Wolka. Lass nicht zu, dass diese Barbaren sich an ihnen austoben." flehte Niska.
"Warum haben sie denn nicht die Kinder längst ins Hinterland geschafft? Sie hatten doch genügend Zeit." Wolka rang jetzt mit sich selbst. Auch ihm war das Schicksal der Unschuldigen nicht gleichgültig.
"Wolka. Wir haben gewonnen. Es wäre ein unnützer Tod." Niska klang verzweifelt.
"Bitte." schob sie wimmernd nach. Wilde Gedanken fluteten jetzt den Raum. Die Quelle war eindeutig Wolka und seine ganze Zerrissenheit manifestierte sich als Knäuel verschiedenster Empfindungen.
"Entscheide etwas, bevor wir hier alle in den Wahnsinn abgleiten." brüllte Legan, der wie alle anderen an der Unentschlossenheit seines Anführers litt.
"Schick an den beigestellten Utcha eine Nachricht, dass im Norden ein paar Späher gesichtet wurden. Die Vikiner sollen diese aufbringen und vernichten." befahl Wolka. Mit dieser falschen Order würde er die Vikiner in den Norden beordern und damit den Weg frei machen für die Flüchtlinge.
"Du lässt sie laufen?" fragte Rohan.
"Zweifelst du meine Entscheidung an?" beantwortete Wolka die Frage mit einer Gegenfrage. Jetzt war es an Rohan den Raum mit seiner Unentschlossenheit zu verseuchen.
"Es ist keine Zeit für diese Spielchen. Die Barriere ist gerade gefallen." warf Legan ein.
"Tu es." drohte Wolka jetzt Rohan.
"Nein." Im Gegensatz zu Wolkas Entscheidung einige Augenblicke zuvor, gab es dieses Mal keine Ruhe im Raum. Ganz im Gegenteil die Zwietracht war nie größer.
"Dann tu ich es." entschied Niska.
"Der Utcha nimmt nur Befehle von mir an." entmutigte sie Rohan.
"Es ist zu spät. Die Vikiner haben sie bemerkt." Azul beobachtete aus der Vogelperspektive wie die Vikiner unaufhaltsam auf die Flüchtlinge zusteuerten.
"Halt sie auf!" forderte Niska.
"Das sind Vikiner im Blutrausch. Die hält niemand auf. Wir sollten uns um die Festung kümmern." Der letzte Satz war Wolkas Ausgang, um Gesichts wahrend aus dem Konflikt mit Rohan zu kommen, aber auch er wusste, dass die ohnehin schon schwache Bindung endgültig zerrissen wurde. Er hatte gehofft, dass sie wenigstens bis zur letzten Schlacht an einem Strang ziehen würden, aber nun war ihre Gemeinschaft nichts weiter mehr als ein zerstrittener Haufen von Egoisten. Was immer sie auch verband und ihnen diese gemeinsame mentale Ebene ermöglichte, war nun dahin. Der Raum löste sich auf und alle Versuche ihn wieder gemeinsam zu betreten scheiterten. Sie waren jetzt nur noch Feldherren ohne magischen Bonus.
Ihrer Fähigkeiten beraubt, blieb ihnen nichts Anderes übrig, als sich zu Fuß auf den Weg hinunter zur Festung zu begeben. Deren Verteidiger erlitten gerade ihre finale Niederlage und ein gewisser Frust machte sich innerhalb der Gruppe breit diesen Erfolg nicht persönlich miterleben zu können. Der Morgen graute bereits, als sie die Brücke über den Kanal passierten, die sie zwar in jeder Einzelheit kannten, aber noch nie in der wahrhaften Form gesehen hatten.
"Seltsames Gefühl." kommentierte Legan die Stelle, an der der Schildwall sie Tage lang aufhielt. Unzählige verkohlte Leichen säumten das Pflaster und gaben einen Vorgeschmack auf das, was sie innerhalb der Festungsmauer erwarten würde.
"Fühlst du dich in der Lage, die Festung zu betreten?" fragte Wolka ein völlig apathische Niska. Er bekam nur einen leeren Blick als Antwort. Legan versuchte sie zu trösten, aber sie stieß ihn weg.
"Fass mich nicht an." zischte sie.
"Weiber." kommentierte er trocken, als sie außer Hörweite war.
"Geht es dir gut?" fragte Azul sie, aber auch er wurde ignoriert. Schweigend gingen sie nebeneinander her.
"Die unschöne Seite des Krieges." sagte er rechtfertigend. Niska blieb stehen und sah ihn wütend an.
"Unschön? Findest du es unschön, wenn deine grünäugige Freundin von wütenden Utchas im Schlaf niedergemetzelt wird. Zuckst du einfach so mit den Schultern, wenn Kinder gemeuchelt werden oder ist es unschön wenn die gesamte Menschheit von diesem wahnsinnigen Geist ausgelöscht wird."
"Das wird nicht passieren. Wir schaffen eine neue Ordnung, eine gerechtere Ordnung."
"Wer sagt dir, dass die Menschen diese Ordnung wollen."
"Sie werden die Vorzüge schon erkennen."
"Und wenn nicht? Enden sie dann, wie die Leute in der Festung?" Azul blieb stumm. Niska ging weiter, vorbei an Leichenteilen, die durch die Verbrennungen nicht mehr zwischen Mensch oder Utcha unterscheidbar waren. Sie kletterten über Trümmerteile, die vor wenigen Tagen noch zu stattlichen Gebäuden gehörten und als sie den Festungsvorplatz erreichten, öffnete der Himmel seine Schleusen und entleerte die dunklen, schwarzen Wolken über ihren Köpfen. Eiskalter Regen spülte die Asche von dem Pflaster und wusch den Ruß von den Festungswänden.
Das Portal stand jetzt weit offen und der Eintritt in die Stadt hatte etwas von einer Durchschreitung eines Triumphbogens. Die Euphorie währte bei Azul nur kurz, denn als er die ersten zerstückelten Leichen erblickte, überkam ihn Reue. Mehrere Tage hatten die Bewohner ihrer Übermacht getrotzt und so wie er die Königsgarde in Erinnerung hatte, konnte selbst die Belagerung ihren Kampfeswillen nicht erschüttern. In einem heroischen letzten Kampf wollten sie durch einen ehrenvollen Tod auf dem Schlachtfeld in die Geschichtsschreibungen von Osos eingehen. Ein Ende was ihnen versagt blieb. Im Schlaf erschlagen würde ihnen nur wenig Ruhm einbringen. Azul teilte nur wenig Gemeinsamkeiten mit den Rittern der Königsgarde, aber egal auf welcher Seite ein Soldat seine Pflicht erfüllte. Kein Kämpfer verdiente so einen tragischen Abgang. Sein Blick fiel auf ein paar Utchas. Ehre war ihnen unbekannt. Ihr einziger Antrieb war die Zerstörung.
"Komm rüber. Das wird dir gefallen." unterbrach Legan seine Gedanken. Er war umringt von einer Traube aus Utchas. Sie bewachten etwas und als Azul auf sie zusteuerte, bildeten sie eine Gasse um ihn zu dem geheimnisvollen Objekt vorzulassen.
"Na ist das was?" feierte Legan. Azul war unfähig auch nur ein vernünftiges Wort vorzubringen. Sein Herz raste, als er die Person in der Mitte erblickte.
"Hallo Bursche." begrüßte ihn von Tranje müde. Ein gebrochener Mann kniete auf dem feuchten Pflaster und die Regentropfen perlten von seiner Rüstung ab, als wäre er unwürdig nass zu werden.
"Ihr habt gewonnen. Glückwunsch." von Tranjes Sarkasmus hatte jeglichen Lebensmut verloren. Die Utchas hatten ausgerechnet ihn verschont. Warum? Weil er zum Spielball seiner Gottheit auserkoren wurde. Nein. Da musste mehr dahinterstecken.
"Ihr habt das Tor geöffnet." schlussfolgerte Azul. Er hatte Mühe sich das Übliche "mein Herr" zu verkneifen.
"Verärgere niemals eine Gottheit." antwortete von Tranje. Ihm drohte nicht nur das Schicksal eines lebenslangen Sklaven, der den Launen einer Gottheit ausgesetzt war, er musste jetzt auch damit leben an dem Ende der Menschheit einen entscheidenden Anteil zu besitzen.
"Warum tatet Ihr das?" fragte Azul.
"Eine Frage, die ich mir ein Leben lang stellen werde. Warum? Warum konnte ich diesem Verlangen nicht widerstehen. Er pflanzte mir diesen einen Gedanken in meinen Kopf und ich war zu schwach dagegen anzugehen."
"Der Kampf vor der Brücke. Deswegen wurdet Ihr verschont." Azul holte sich die passende Erinnerung zurück. Welcher Zauber auch immer zum Einsatz kam, in von Tranje wurde in jenem Moment der Verrat von seinem Ebenbild angesetzt. Vermutlich hatte er sich lange gewehrt, aber am Ende war die Magie nicht zu überwinden.
"Es tut mir leid." rutschte es Azul raus.
"Ich habe meinen Kampf verloren, aber du Bursche bis noch nicht besiegt. Lass dich nicht zum Narren halten." Das waren die letzten Worte, die er von seinem ehemaligen Meister hörte. Die Utchas ergriffen von Tranje und brachten ihn weg.
"Ihm wird nichts passieren. Vermutlich wird er bis ans Ende aller Zeiten als Schoßtier sein Dasein fristen." Wolka war jetzt an seiner Seite.
"Erinnerst du dich. Keine Könige, keine Gottheiten. Osos soll nach unseren Vorstellungen gestaltet werden. Wir haben gesiegt. Keine Herrscher mehr." raunte Azul leise.
"Es gibt einen Grund, warum wir ausgerechnet hier sind. Diese Mauern beherbergen ein Artefakt. An diesem wird sich unser weiteres Schicksal entscheiden." erwiderte Wolka.
"Was für ein Artefakt?" fragte Azul neugierig.
"Ich weiß es nicht. Wir werden es heute Abend erfahren."
"Das feindliche Heer wird um diese Zeit eintreffen."
"Das ist mir bewusst, aber offenbar hat unserer Meister Wichtigeres mit uns vor. Wir verschanzen unsere Truppen in der abgebrannten Stadt. Damit können sie auch ohne uns den Feind in Schach halten." Wolka wollte sich schon abwenden, als er doch noch ein paar Worte an Azul richtete.
"Heute Abend. Keine Herrscher mehr." sagte er leise.
Azul verbrachte den Tag damit die Geschehnisse des Morgens nachzuvollziehen. Nachdem von Tranje die Tore geöffnet hatte, bahnte sich die vernichtende Kraft der Utchas ihren Weg durch die Festungsmauern. Es konnte nicht viel Gegenwehr gegeben haben, denn die unzähligen Leichen in den engen Gassen waren fast ausschließlich menschlich. Er versuchte sein Gewissen damit zu beruhigen, dass er kaum Zivilisten vorfand, aber auf die würde er vermutlich jenseits der westlichen Brücke treffen. Die Vikiner sind zwar irgendwann von den Fliehenden aufgerieben worden, aber nicht bevor sie ihrer Blutgier freien Lauf gelassen hatten. Es war unklar, wie viele den Durchbruch nach Reichenberg geschafft hatten, aber ihre Anzahl konnte unmöglich eine ernstzunehmende Gefahr für sie darstellen. Der letzte menschliche Widerstand näherte sich aus Süden. Die Utchas waren erstmals in der Defensive und mussten zu ihrem Unglück auch noch ohne ihre Feldherren auskommen, die von ihrem Meister ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt für ein seltsames Artefakt abgezogen wurden. Bei den Göttern. Welchen Grund gab es im entscheidenden Augenblick des Krieges auf die Führung zu verzichten.
"Mir gefällt das nicht." Niska hatte nach betreten der Festung bisher kein einziges Wort von sich gegeben. Eine Art schweigender Zorn hatte sie ergriffen.
"Sei für alles bereit." ermunterte sie Azul.
"Bereit für was? Ihm zu trotzen? Wie naiv seid ihr denn? Wir sind Kinder und er ist eine Gottheit von wie viel tausend Jahren? Wir sollten einfach verschwinden und ihn mit seinem Artefakt alleine lassen."
"Das können wir nicht. Osos liegt am Boden. Wir können etwas vollkommen Neues erschaffen. Wir sind die Stabträger. Uns kann er nicht so einfach ignorieren. Er muss sich fügen oder er wird...." Azul wagte es nicht den Satz zu vollenden.
"Du glaubst wirklich noch die Welt verändern zu können. Ich weiß nicht, ob ich dich bewundern oder bemitleiden soll." sagte Niska und dieses Mal hatte sie keinen Zorn in der Stimme. Azul wollte etwas erwidern, als Legan sie unterbrach.
"Nichts. Keine Königin und auch keine grünäugige Versuchung unter den Leichen. Vielleicht liegen sie noch draußen im Wald, aber ich denke mal sie schlagen sich gerade Richtung Norden durch." Azul war das Schicksal der beiden Frauen mittlerweile gleichgültig. Was zählte war der kommende Abend. Niska hatte ihn ordentlich entmutigt, aber sie mussten ihren Meister auf die eine oder andere Weise von seinem Vorhaben der Vernichtung der Menschheit abbringen. Dieser eine Gedanke überlagerte alles andere. Sie durften nicht scheitern, denn dann musste er sich eingestehen, dass er betrogen wurde.
Am Abend betraten sie den großen Lesesaal der Bibliothek. Ein Hort unzähliger Bücher umgab sie. Bücher die dem Verderben preisgegeben wurden, denn die nasse Kälte des Nordens hatte bereits jeden Winkel des Saals erobert, denn all die Feuerkämpfer für die Erhaltung des Wissens waren tot oder geflohen. Eine kleine Insel aus spärlichem Licht zog sie magisch an und als sie auf den massiven Tisch im Zentrum zusteuerten sahen sie ein einzelnes Buch darauf liegen, dessen Einband weder auf den Inhalt noch auf den Autor schließen ließ.
"Die Luft knistert." Niska schüttelte sich leicht.
"Das bildest du dir ein. Hier knistert höchstens dein ..." Legan brach ab, weil die Haarspitzen von Niska eine unnatürliche Stellung annahmen. Auch Wolkas Langhaarfrisur machte sich selbstständig, als hätten unsichtbare Hände sie in die Höhe gehoben. Legan setzte gerade an eine spöttische Bemerkung zum Besten zu geben, als ein Schatten über den Tisch huschte. Anspannung machte sich unter den fünf breit und niemand wagte eine Bewegung.
"Der Zeitpunkt ist gekommen." ertönte eine Stimme, die von überall herzukommen schien und durch die Größe des Saals in scheinbar tausendfacher Intensität widerhallte.
"Geist wird zu Fleisch." Ein Knall untermauerte die letzten Worte und wie aus dem Nichts erschien der blaue Lichtstrahl, den sie schon aus Olmots Turm kannten. Dieser Fluss aus Azur hatte seinen Ursprung in der Deckenvertäfelung der Bibliothek und strömte senkrecht auf das Buch, das die unbändige Energie in sich aufzusaugen schien.
"Nun füllt das Gefäß." forderte die Stimme. Rohan begann seinen Kampfstab in die Richtung des Lichtstrahls zu führen. Sein Gesichtsausdruck verdeutlichte, dass dies gegen seinen Willen passierte.
"Nein." sagte er ängstlich. In Azul kam die Erinnerung an die geistige Vergewaltigung zurück, die ihnen in Olmots Turm widerfuhr. Damals versenkten sie aus Neugierde ihre Waffen in das gleißende Licht und wurden trotz anfänglicher Euphorie mit der Persönlichkeit von Waskur infiziert. Ein mehr als unangenehmes Gefühl, das keiner der Anwesenden ein zweites Mal erfahren wollte.
"Helft mir." flehte Rohan und obwohl seine Gegenwehr massiv ausfiel, näherte sich die Spitze des Kampfstabes langsam aber unaufhaltsam dem reißenden Fluss aus blauem Licht.
"Die Gaben Hass und Vernichtung." hallte es. Rohan schrie als der Kontakt zustande kam. Schmerz ergriff ihn und drohte ihn von den Beinen zu reißen. Eine unsichtbare Kraft hielt ihn in der Senkrechten. Weiße Energie umspielte den Stab und griff auf seinen Arm über. Ein Zittern erfasste jetzt den ganzen Körper und ließ die Schreie verstummen. Die übergreifende Energie hatte nun vollkommen Besitz von ihm ergriffen und saugte ihm die Seele förmlich aus. Ein durstiges Monster aus reinem Licht entzog ihm nach und nach den Lebenssaft. Angsterfüllte Augen prägten seinen letzten Gesichtsausdruck und nachdem der finale Tropfen Lebensenergie seinen Körper verlassen hatte, fielen sie ausgetrocknet in ihre Höhlen. Als die Energie von ihm abließ, fiel eine leere und wabbelige Hülle in sich zusammen. Der einst so kräftige Körper war nur noch eine Ansammlung von vertrockneter Haut und brüchigen Knochen.
Azul konnte nicht glauben, was er gerade gesehen hatte. Es musste sich um eine arglistige Täuschung gehandelt haben, denn nie und nimmer konnte sie die Gottheit dermaßen hintergehen. Was sollte der Grund sein für diese grausame Art von Tod? Warum mussten ausgerechnet die loyalsten Diener dieses Martyrium ertragen? War das der Preis für die aufwieglerischen Gedanken, die er mit den Anderen teilte? Die Panik stieg in ihm auf, denn jetzt drohte Legan dasselbe Schicksal.
"Wir müssen hier raus." schrie Wolka, aber genau wie alle Anderen war er unfähig sich zu bewegen. Ihn lähmte nicht die Angst. Hier waren größere Mächte am Werk. Magische Mächte.
"Füllt das Gefäß mit Mut und Eroberungswille." tönte die Stimme, aber jetzt war sie nicht mehr allumfassend im ganzen Saal zu hören. Ein Schatten stand jetzt am Tisch. Nur schemenhaft war er zu erkennen und obwohl keine Lippen oder ein Mund erkennbar waren, konnten die Worte nur von ihm stammen.
"Helft mir." flehte Legan, denn seine Gegenwehr war ähnlich erfolglos wie die von Rohan. Azul schloss die Augen in der irrigen Annahme damit seine wilden Gedanken zu bändigen. Dieser Schatten war das Gefäß, aber was bezweckte er? Jetzt dämmerte es Azul. Genauso wie sie in Olmots Turm die Eigenschaften von Waskur eingetrichtert bekamen, wurde ihnen jetzt andere entnommen. Nicht entnommen. Entrissen. Legans Schreie zwangen ihn die Augen zu öffnen. Er wollte nicht hinschauen, aber wenn er hier eine winzige Chance auf Überleben wahren wollte, musste er sich dem Ganzen stellen.
Legan sackte zusammen, wie auch Rohan wenige Augenblicke vor ihm. Eine schluchzende Niska weckte kurz Mitleid in Azul, aber seine Aufmerksamkeit galt jetzt dem Schatten, der so überraschend am Tisch erschienen war. Seine Form hatte sich verändert. Arme, Kopf, Beine. Alles was einen menschlichen Körper ausmacht, war jetzt zu erkennen. Undeutlich noch, aber die Konturen deuteten auf eine männliche Gestalt hin. Die Gottheit war dabei sich fleischlich zu manifestieren und die Gruppe der fünf Stabträger diente als Spender.
"Füllt das Gefäß mit Intelligenz und Ehrgeiz." sprach die gesichtslose Gestalt.
"Ist das der Dank?" fragte Wolka wütend. Sein Stab richtete sich Richtung Lichtstrahl aus. Auch er wurde förmlich ausgesaugt, aber im Gegensatz zu seinen Vorgängern legte er mehr Würde in seinen Abgang.
"Anmut und List." kam es jetzt von einem vollständig nackten Mann. Soweit es Azul überblicken konnte, bestanden keine körperlichen Mängel mehr. Die materielle Formung war abgeschlossen und was immer jetzt noch entrissen wurde, würde sich nicht mehr im Antlitz manifestieren.
"Wartet." forderte Azul. Der Mann würdigte ihn keines Blickes. Niskas Stab wanderte bereits in die Lichtfluten. Ihr verweintes Gesicht wandte sie Azul zu.
"Wir haben nichts Anderes verdient." hauchte sie und während die ersten Lichtblitze um die Stabspitze tänzelten, atmete sie tief durch und schenkte Azul ein Lächeln.
"Nein." kam es von Azul resignierend, als die Energie auf ihren Körper übergriff. Das Bild dieses kleinen Mädchens kam ihm in den Sinn und die Erinnerung an die Intimität ihrer ersten Verbindung, trieb ihm die Tränen in die Augen. So durfte es einfach nicht enden. Nicht bei Niska. Sie alle wurden betrogen und ihr endgültiges Schicksal war nur eine abschließende Form von ausgleichender Gerechtigkeit. Niska hingegen hatte nie darum gebeten die Verantwortung als Stabträgerin zu übernehmen. Durch den Tod ihrer Schwester wurde ihr ein Leben aufgezwungen, welches im totalen Gegensatz zu ihren Werten stand. Ihr Betrug umfasste weit mehr als falsche Versprechen. Sie wurde um ihr ganze Existenz betrogen.
Niskas Körper fing an zu zittern und obwohl alles in Azul sich dagegen wehrte zuzuschauen, konnte er seinen Blick nicht von ihr abwenden. Es war eine letzte Ehrenbezeugung ihrem Tod beizuwohnen, aber zu seiner Überraschung blieb der schnelle körperliche Verfall dieses Mal aus. Die Energie zog sich zurück und Niska sackte zwar in ähnlicher Manier zusammen wie ihre Vorgänger, aber soweit es Azul beurteilen konnte, trug sie keinerlei körperliche Schäden davon. Sein Blick fiel auf die Stelle, an der eben noch die selbst erschaffende Gestalt stand, aber da war nichts mehr. Irgendwas war schiefgelaufen und hatte vorerst sein Leben und das von Niska verlängert.
"Was ist passiert?" fragte er sie. Sie war zu schwach zum antworten. Azuls Blick fiel auf den blauen Strahl aus Licht. Zu viele Opfer hatte dieses trügerische Gebilde aus Anmut bereits gefordert. Warum auch immer die Zeremonie abgebrochen wurde, es war ihre Gelegenheit so viel wie möglich Distanz zwischen ihnen und dem Licht zu bringen. Er half Niska auf die Beine, damit sie gemeinsam die Bibliothek verlassen konnten, bevor die fleischgewordene Gottheit doch noch beschloss ihr Werk zu vollenden. Zu spät. Aus dem Schatten des Fackellichtes trat eine Gestalt.
Jessica wollte nicht glauben, was sich vor ihren Augen abspielte. Nachdem sie einen weiteren Wachturm vollkommen verlassen vorgefunden hatte, beschloss sie einen der schlafenden Kämpfer zu wecken, die so zahlreich die Gassen der engen Festung verstopften. Sie begab sich die Treppe hinab zum Tor, dessen eingelassene Tür gerade von einer Person geöffnet wurde, die sie an dieser Stelle nicht erwartet hatte.
"Was tut Ihr da?" fragte sie von Tranje in der bösen Vorahnung, dass die verlassenen Wachtürme und die offene Tür kein Zufall waren. Erschrocken drehte sich der Angesprochene zu ihr. In seinem Gesicht konnte sie pure Verzweiflung herauslesen.
"Flieht." forderte er sie auf. Bevor Jessica auch nur ein Wort erwidern konnte, durchschritten eine handvoll Utchas das Portal. Jessicas Atem stockte, als sie die furchtbaren Fratzen im Fackellicht erblickte. Nur zwei Stufen trennte die unbewaffnete Königin von den grunzenden Bestien aus Askalan. Knurrend wurde sie belauert. Ihre Gegner wirkten unentschlossen, so als hätte man ihnen auch den letzten Rest von Intelligenz entzogen. Sollten sie weiter vordringen oder doch über die wehrlose Königin herfallen. Vollkommen überfordert mit der Fülle ihrer Möglichkeiten, wählten sie eine dritte Variante. Sie verließen die Festung einfach wieder.
"Schließt die Tür." forderte Jessica einen vollkommen lethargischen von Tranje auf.
"Ich kann es nicht. Da ist die Stimme in meinem Kopf." so verzweifelt hatte sie ihren Mentor noch nie gesehen. Jessica stieg die letzten Stufen hinab und näherte sich der offenen Tür.
"Das kann ich nicht zulassen." drohte von Tranje. Jetzt war es offensichtlich, dass er nicht Herr seiner Sinne war. Sie stürmte an ihm vorbei und schlug die Alarmglocke. Zu spät. Utchas strömten jetzt durch die Tür und sie wirkten weitaus entschlossener als ihre Vorgänger.
Der Alarm erschütterte die Nachtruhe so lange es ihr möglich war. Ein halbes dutzend Utchas stürmte brüllend auf sie zu und zwang sie zur Flucht in die Gassen, die als nächtliche Lager von Soldaten genutzt wurden. Den verschlafenden Kämpfern blieb nicht genug Zeit sich auf die Angreifer einzustellen und so ereilte sie der Tod, bevor sie auch nur ansatzweise begriffen, was da über sie hereinbrach. Auf dem Bibliotheksvorplatz schaffte es Jessica mit Hilfe von ein paar Rittern eine notdürftige Verteidigung aufzubauen, aber mehr als eine geringe zeitliche Verzögerung der hereinbrechenden Katastrophe konnte sie auch damit nicht erreichen. Die meisten ihrer Getreuen hatten ein kurzes aber schreckliches Erwachen und segneten das Zeitliche bevor sie auch nur zu Waffe greifen konnten. Diejenigen, die schnell genug auf den Beinen waren, suchten ihr Heil in der Flucht über die westliche Brücke. Panik machte sich in Jessica breit, denn ihre provisorisch errichteten Verteidigungslinien standen kurz vor dem Zusammenbruch. Sie erblickte Sasha, die mit ihrem Bogen wenigstens für einen geringen Anteil an Verlusten bei den Angreifern sorgte.
In all dem panischen Durcheinander in ihrem Kopf schaffte es ein Gedanke sich in den Vordergrund zu drängen. Der Raum. Das Orakel hatte ihr diese Fluchtmöglichkeit aufgezeigt und obwohl jegliche Logik dagegen sprach ausgerechnet diese Option in Betracht zu ziehen, gab sie ausgerechnet jetzt ihrer rebellischen Antipathie gegenüber dem Orakel nicht nach. Sie rannte auf Sasha zu.
"Es hat keinen Sinn." brüllte sie über den Kampflärm hinweg und zerrte Sasha Richtung Speisesaal. Widerwillig folgte sie ihrer Freundin und als die ersten Utchas auf den Bibliotheksvorplatz stürzten, schlossen die beiden hinter sich die große Tür. Für einen Moment war all das Elend und der Tod ausgesperrt. Ein Zustand, der nicht lange anhalten würde.
"Und nun?" fragte Sasha ungläubig.
"Sie sagte der letzte Raum sei sicher. Hoffen wir mal, dass das Orakel nicht einen tragischen Sinn für Humor besitzt." Jessica inspizierte die Separees auf der gegenüberliegenden Seite. Sieben Türen, die sich in nichts voneinander unterschieden.
"Los." ermutigte sie Sasha. Gemeinsam durchquerten sie den Saal und standen nun vor der Tür des letzten Separees. Jessica zögerte.
"Sollten wir nicht dort draußen sein und kämpfen?" fragte sie.
"Das ist kein Kampf dort draußen. Das ist eine Hinrichtung." erwiderte Sasha. Etwas polterte gegen die Außentür des Speisesaals und riss Jessica aus den Gedanken. Sie betraten den Raum und nur wenige Augenblicke nach dem sie die Tür hinter sich schlossen, wurde der Saal erstürmt.
Sasha spannte ihren Bogen und richtete ihn auf die Tür. Es war unmöglich zu schätzen wie viele Utchas geräuschvoll eindrangen, aber dem Geräuschpegel nach zu urteilen waren sie in der deutlichen Übermacht. Stühle kippten um, Geschirr klapperte und verschiedene Grunztöne waren jetzt aus den Tiefen des Saals zu vernehmen. Eine Tür flog auf. Das erste Separee wurde gestürmt.
"Eins." sagte Sasha leise. Das Geräusch wiederholte sich dreifacher Ausführung.
"Zwei, drei, vier." zählte Jessica weiter. Die nächste auffliegende Tür war schon deutlich näher. Jetzt wurde der Nachbarraum durchsucht. Das Knurren der Uchtas war durch die dünnen Wände deutlich zu vernehmen. Vor ihrer Tür tat sich etwas und veranlasste Sasha ihren Bogen ein Stück weiter zu spannen. Ein paar Grunzer waren zu vernehmen, die man mit ein wenig guten Willen als eine Utcha-Diskussion deuten konnte. Was auch immer dort mit Urlauten besprochen wurde, sorgte dafür, dass die Tür geschlossen blieb. Die Utchas entfernten sich wieder.
"Bei den Göttern." Von Jessica fielen ganze Steinbrocken aus Anspannung ab. Sasha senkte ihren Bogen und atmete tief durch.
"Gab es noch mehr Anweisungen?" fragte sie nach einer kurzen Entspannungspause.
"Ich würde die Zeichen erkennen." antwortete Jessica.
"Dann warten wir. Auf was auch immer."
Gegen Abend trauten sich die beiden Frauen die Tür zu öffnen, nachdem sie sich vergewissert hatten, dass sich im dahinterliegenden Speisesaal kein Utcha, Vikiner oder Riese befand. Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt, als sie vorsichtig durch die Fenster auf den Bibliotheksvorplatz spähten.
"Nur ungefähr zwanzig von diesen Biestern kann ich entdecken." sagte Sasha.
"Sie haben alles abgezogen für die letzte Schlacht." schlussfolgerte Jessica.
"Ist das dein Zeichen?" fragte Sasha und überließ Jessica den winzigen Sichtschlitz am Fenster. Aus den Fenstern der gegenüberliegenden Bibliothek drang blaues Licht.
"Wir müssen da rein." Jessica war aufgeregt. Das Gefühl einen idealen Zeitpunkt zu verpassen überkam sie.
"Auch wenn dort draußen nur noch zwanzig Utchas sind, kommen wir nicht lebend an ihnen vorbei." schlussfolgerte Sasha.
"Wir müssen. Du bist geschickt mit dem Bogen. Bevor sie uns bemerken, hast du bereits zwei oder drei erledigt. Ich greife mir eins der Schwerter der gefallenen Kämpfer dort draußen. Wir können sie überraschen und..." Jessica brach ab, nachdem sie einsah wie aussichtslos ihr Vorhaben war.
"Eine Möglichkeit gibt es noch. Dort draußen ist noch jemand, der mir einen Gefallen schuldet." Sasha schloss die Augen und konzentrierte sich.
"Der Drache." hauchte Jessica. Es dauerte geraume Zeit bis Sasha die Augen wieder öffnete.
"Wird er uns helfen?" fragte Jessica.
"Der Hilfeschrei ist abgesetzt. Hoffen wir, dass er auch sein Ziel erreicht hat." sagte sie.
"Wir können nicht länger warten. Was immer auch da in der Bibliothek passiert, wir müssen dort hinein." forderte Jessica. Sasha zog ihr Kurzschwert und überreichte es der Königin.
"Bereit, wenn du es bist." sagte sie. Jessica schluckte. Dort hinauszugehen war Wahnsinn. Ohne die Hilfe des Drachen würden sie nicht mal in die Nähe der Bibliothek gelangen. Hier drin zu warten und vermutlich irgendwann entdeckt zu werden würde ihr endgültiges Schicksal allerdings auch nur herauszögern. Sich dem Unausweichlichem zu stellen gab ihr ein gutes Gefühl. Dummerweise linderte es nicht ihre Angst.
"Gehen wir." sagte sie mit zitternder Stimme. Sie öffneten die Außentür und traten ins Freie. Es dauerte nicht lange bis die Utchas in deutlicher Anzahl ihnen den Weg zur Bibliothek versperrten. Noch zögerten sie anzugreifen. Grunzend gingen sie ihre Optionen durch.
"Wir werden es nicht schaffen." schlussfolgerte Jessica resignierend.
"Vermutlich nicht." antwortete Sasha und Jessica bewunderte erneut die Gelassenheit ihrer Freundin im Angesicht des Todes. Frei und selbstbestimmt hatte sie ihr Leben bestritten und auf diese Art und Weise würde sie in wenigen Augenblicken auch den Göttern gegenübertreten. Ein Schicksal, das sie im Begriff war mit Jessica zu teilen und als dieser bewusstwurde, dass sie dieses Ende gemeinsam mit ihrer Freundin bestreiten würde, verflog die Angst. Ihr letzter Augenblick auf Erden würde einer der Größten werden. Sie schickten sich an den Tod um das Vergnügen seiner Unvorhersehbarkeit zu betrügen, indem sie in unendlicher Perfektion den Schlussakt ihres Lebens selbst gestalteten. Nie gekanntes Selbstbewusstsein durchflutete Jessica. Sie drehte ihren Kopf zu Sasha und lächelte sie an.
"Danke für alles." hauchte sie und bekam als Antwort das wärmste Lächeln, dass ihr je entgegengebracht wurde. Sasha schickte einen Pfeil in Richtung der Übermacht aus Utchas und beendete damit das Zögern ihrer Feinde. Ein Sturmlauf begann und erstarrte sofort wieder, als ein Schrei aus den Wolken ertönte. Vollkommen paralysiert verfolgten die Utchas den Flug des Drachens, der aus den tief hängenden Wolken stieß. Zu spät erkannten sie die einzige verbliebene Option der Flucht. Ein Feuerstrahl beendete ihr irdisches Dasein und diejenigen, die es nicht sofort von den Beinen gerissen hatte, rannten brennend davon, um in den Seitengassen ihr Leben auszuhauchen.
Euphorie ergriff Jessica, als ihr Tod wenigstens für den Moment verschoben wurde. Ehrfürchtig verfolgte sie den Flug des Drachen und als dieser wieder in den Wolken verschwand, fühlte sie sich wie neu geboren. Die letzten Augenblicke hatten eine Intensität besessen, die ihr komplettes Wesen von einem Moment auf den anderen geändert hatten. Erneut hatte sie sich bewiesen, dass sie bereit war auch ihr höchstes Gut zu opfern. Dieses wiederholte freiwillige Wandeln an der Schwelle des Todes hatte ihr ein Selbstvertrauen beschert, das nicht nur flüchtiger Natur war. Die Ereignisse der letzten Wochen zwangen sie zu Entwicklungsschritten, die manch anderer bestenfalls in Jahren vollbracht hätten. Noch nie zuvor in ihrem Leben fühlte sie sich der Berufung zur Königin gewachsen, wie in diesem Augenblick.
Sie überquerten den Bibliotheksvorplatz und durchschritten das Portal zum Lesesaal. Flackerndes blaues Licht überzog die unzähligen Schreibtische und erzeugte eine furchteinflößende Aura aus Magie. Die Quelle dieses unnatürlichen Lichtes erzeugte ein Zittern der Luft, das die beiden Frauen in jeder Pore ihrer Haut spürten. Vorsichtig steuerten sie auf einen Tisch zu, der das blaue Licht förmlich aufzusaugen schien.
"Ich habe nie etwas Imposanteres gesehen." Sasha hatte ordentlich Respekt vor dem Licht und behielt einen gebührenden Abstand zu dem Tisch. Auch Jessica schaffte es nicht ihren Blick von dem Wasserfall aus Licht abzuwenden.
"Was ist das?" hauchte sie ehrfurchtsvoll.
"Der Übergang in eine Welt, die Ihr unfähig seid zu verstehen." wurde ihre Frage beantwortet. Aus dem Schatten trat das Orakel in das Licht.
"Die Wesen. Er holt sie zurück."
"Um sie zu beherrschen. Nicht nur sie, auch die Menschen. Er will allen den Ausweg aus ihrem Leid zeigen. Aber er irrt. Was er als einzigen Weg zur Stabilisierung ansieht, ist in Wahrheit nur das Streben zur ultimativen Macht. Er ist verseucht von diesem einen Gedanken, die Menschen sowie ihre Schöpfer zu beherrschen. Als fleischgewordener Gott besitzt er die Voraussetzungen in beiden Welten zu wandeln. Noch ist dieser Prozess nicht abgeschlossen. Er ist in einem verletzlichen Zwischenstadium gefangen."
"Wo ist er?" fragte Sasha.
"Er ist nahe. Bereit die Wandlung zu vollenden. Doch er wird es nicht schaffen. So wie er alle seine Helfer betrogen hat, wurde er am Ende selbst betrogen." Eine weitere Gestalt trat aus dem Schatten. Eine Frau mit klassischer Schönheit, die getrübt wurde durch unfassbare Angst. In ihrer Hand hielt sie einen der Stäbe des Werekas.
"Wer seid Ihr?" fragte Jessica und richtete ihr Schwert auf die Fremde.
"Haltet ein." befahl das Orakel.
"Sie ist der Stachel im Fleische des Wächters." fuhr die Alte fort.
"Es wird Zeit die Sache zu beenden. Zeig dich." brüllte das Orakel und tausendfacher Widerhall verstärkte ihre Stimme und schmerzte in den Ohren der Frauen.
"Du kannst dich nicht verstecken. Hier und jetzt entscheidet sich unser aller Schicksal." Das Orakel wirkte fordernd. Es vergingen ein paar Augenblicke, bis zwei weitere Gestalten in das Licht traten.
"Azul. Bezwinger der Schattenwölfe." raunte Jessica. Er wurde von einem nackten kräftigen Mann vor sich hergeschoben. Der Knappe von von Tranje wirkte wie eine Geisel, denn der linke Arm des Unbekannten umschlang seinen Hals.
"Wer seid Ihr? Gebt Euch zu erkennen." forderte Jessica.
"Ich bin euer Gott. Kniet nieder." befahl er wütend. Obwohl jeder einzelne Gedanke in Jessica dagegen rebellierte, konnte sie nicht anders als auf die Knie zu sinken. Ihr Wille wurde von etwas Mächtigem unterdrückt. Eingesperrt in einer kleinen Zelle ihres Kopfes, beobachtete sie durch die Gitterstäbe, wie ihr Körper fremden Befehlen gehorchte. Sasha und der Unbekannten erging es nicht besser.
"Jahrhunderte sind vergangen." wandte sich der Fremde an das Orakel.
"Ihr besitzt nicht die Kraft mir zu trotzen, also was wollt Ihr?" fragte er mit unnatürlich lauter Stimme.
"Ihr könnt Eure Pläne nicht vollenden. Sie ist nicht das, was Ihr erwartet habt." Das Orakel zeigte auf die Unbekannte.
"Meine Herrschaft wird nicht weniger glorreich ohne Anmut und List." Der Wächter schob den Knappen in Richtung Licht.
"Loyalität und Gerechtigkeit." sagte er.
"Was Ihr unter Gerechtigkeit versteht ist nichts Anderes als Leid und Unterdrückung." spie das Orakel ihm voller Abscheu entgegen. Der Kampfstab des Knappen neigte sich langsam ins Licht.
"Ihr wollt unseresgleichen beherrschen? Ihr wisst das meine Meinung mehr Gewicht besitzt als Eure. Sie werden Euch nicht folgen, wenn ich ihnen davon abrate." sagte das Orakel. Der Stab des Knappen verharrte in seiner Bewegung. Die Wut des Wächters stieg deutlich.
"Ihr verweigert mir die Gefolgschaft?" fragte er sichtlich voller Zorn.
"Es ist nicht die Lösung." sagte das Orakel ruhig.
"Dann bleibt mir nur eine Wahl." Ein Blitz schoss aus seiner rechten Hand und ging auf das Orakel nieder. Energie hüllte die Alte jetzt ein und zwang sie auf die Knie. Die Wut des Wächters wandelte sich in Euphorie. Offenbar hatte er nicht damit gerechnet, sie schon mit der ersten Attacke zu bändigen.
"Ihr seid schwach geworden über die Jahre. Glaubtet Ihr wirklich mich besiegen zu können?" fragte er in einem Anfall von Hochmut. Er schob den Knappen zur Seite und ging siegessicher auf die Alte zu.
"Ich genieße es sehr Euch zu vernichten." Er verstärkte die das Orakel umhüllende Energie. Die Alte litt sichtlich.
"Obwohl die Sache durchaus mehr Reiz besäße, wenn Ihr Euch auch nur ansatzweise wehren würdet." sagte er arrogant.
"Wer sagt Euch denn, dass ich mich nicht wehre." zischte die Alte unter Schmerzen und deutete mit ihrem Kopf in Richtung der knienden Frauen. Sasha stand jetzt wieder und bewegte sich mit einem Dolch in der Hand auf von Tranjes Knappen zu.
"Ihr seid verschlagen." kommentierte der Wächter das Manöver des Orakels ihre Energie nicht auf die eigene Verteidigung zu konzentrieren, sondern auf die Wiedererlangung des freien Willens von Sasha.
"Und Ihr sehr hochmütig. Die Schwäche vieler von eurer Art." zischte die Alte mühsam.
"Ethraker-Weib. Was habt Ihr vor mit Eurem wiedererlangtem freiem Willen?" fragte er Sasha verächtlich.
"Es tut mir leid." richtete sich Sasha an Azul und gab ihm einen innigen Kuss.
"Nein." brüllte der Wächter, als er das Blut an ihrer Hand hinunterlaufen sah. Sie hatte ihren Dolch in seinem Herz versenkt. Langsam sackte der Knappe zu Boden. Zum ersten Mal sah Jessica ihre Freundin weinen.
"Unsere Seelen waren verwandter als ich es mir selber eingestehen wollte. Anstatt dir zu helfen, habe ich dich weggestoßen. Es tut mir so unendlich leid, dass die Dinge ihren Verlauf auf diese Weise nahmen. Ich kann meinen Fehler nicht wieder gut machen, aber ich kann dich erlösen." Sasha ging mit ihm gemeinsam zu Boden. Sie bettete seinen Kopf in ihren Schoß und streichelte sein Haar. Tränen benetzten seine Wangen. Sanft küsste sie ihn auf die Stirn, als er seinen letzten Atemzug aushauchte.
Die Bibliothek erzitterte unter seinem Wutgebrüll. Dem Wächter fehlten nun weitere Fähigkeiten seiner menschlichen Existenz und seinen Unmut darüber ließ er jetzt ungebremst am Orakel aus. Auf ein Mal hatte sie Mitleid mit der Alten und all der Hass und das Mistrauen ihr gegenüber waren verflogen. Sie spürte wie der lähmende Zauber schwächer wurde, aber noch war sie unfähig sich zu bewegen. Mit geschlossenen Augen leerte sie ihren Geist, bis nichts mehr in ihrem Inneren nach Aufmerksamkeit lechzte. Jegliches Verlangen war hinfort. Weder das Mitleid für das Orakel noch das Bedürfnis Sasha in ihrem Schmerz beizustehen oder die Wut über den Wächter schafften es ihre Energie zu verschwenden. Dieses mentale Gleichgewicht aus vollkommener Reinheit verlieh ihr eine Stärke, die sie in dieser perfekten Form bisher nie erlebt hatte. Sie ergriff ihr Kurzschwert, erhob sich und ging mit allem Selbstbewusstsein dieser Welt und aller Gelassenheit, die ihr diese reinste Form der Stärke erlaubte auf den Wächter zu und stach ihre Waffe in den Torso der Bestie, die sich gerade an der alten Frau austobte.
Mehr als Überraschung konnte Jessica in ihrem Opfer nicht ausmachen. Kein Schmerz. Kein Todeskampf. Nicht einmal Blut quoll aus der Wunde. Wie eine lästige Fliege wurde sie mit einem gezielten Schlag einfach von den Füßen gerissen.
"Welche närrische Idee mich mit dieser Waffe auch nur verletzen zu wollen." kommentierte der Wächter das misslungene Manöver und gönnte damit dem Orakel für einen Augenblick Entspannung. Die nutzte ihre Gelegenheit und legt ihre Hand auf die immer noch neben ihr kniende Fremde mit dem Kampfstab. Es machte fast den Eindruck, als würde sie sie trösten, aber für Trost war das Orakel nun wirklich nicht bekannt.
Jessica floss das Blut aus der Nase und die Wucht des Schlages machte es ihr schwer bei Bewusstsein zu bleiben. Der Wächter peinigte das Orakel wieder mit Energieblitzen. Ein unbändiger Zorn, der ihn seine Umgebung vergessen ließ. Bei dieser Intensität an Hass und Tötungswillen war der Zusammenbruch des Orakels nur eine Frage der Zeit. Als er spürte, dass ihr Ende gekommen war ließ er von ihr ab.
"Ihr bevorzugt den Tod, dabei wäre die Unterwerfung die logische Alternative gewesen." sagte er jetzt wieder im ruhigen Tonfall. Offenbar war seine Wut vorerst befriedigt worden. Für den finalen Schlag wollte er wieder bei klarem Verstand sein.
"Ihr irrt. Der Tod ist mir willkommener als eurer Lakai zu sein." provozierte sie ihn mit Erfolg.
"Dann soll es so sein." verkündete er und schleuderte erneut Blitze auf sie nieder. Jessica wollte aufstehen und sich mit aller Kraft auf ihn werfen, aber der Schlag hatte sie schwer getroffen. Sie sah in das Gesicht der leidenden Alten und bemerkte das breite Grinsen auf ihren Lippen. Was veranlasste sie ausgerechnet im Angesicht des Todes zu solch einer Reaktion. Jessica lenkte ihr Aufmerksamkeit auf die Fremde, die im Begriff war ihren Stab zu heben. Bevor dem Wächter auch nur bewusstwurde, was ihm da gerade drohte, bohrte sie ihre Waffe in seinen Brustkorb.
Dieses Mal war Überraschung nicht das einzige Gefühl, was den Wächter ergriff. Der Stab hatte eine weitaus verheerendere Wirkung als der klägliche Versuch mit dem Kurzschwert. Taumelnd stürzte er rückwärts gegen den Tisch und sah fassungslos auf das Buch, so als wollte er nicht glauben, was gerade passiert war.
"Das ist nicht das Ende." raunte er und der Körper zerfiel zu Asche. Jessica sah noch wie ein Schatten in Richtung Ausgang huschte, bevor sie ihr Bewusstsein verlor.
Als Jessica wieder zu sich kam, lag sie in einem dieser Feldbetten, die schon unzähligen Verletzten vor ihr Linderung verschafften. Jeder einzelne Teil ihres geschundenen Körpers schmerzte und vereinigte sich zu einem Ganzen aus reiner Qual. Unsicher darüber, was passiert war, versuchte sie sich das Vergangene in Erinnerung zu holen, aber noch fehlte ihr die notwendige Konzentration. Sie hatten das Schlimmste verhindert, aber die Anzahl der Opfer war enorm und das nicht nur in ihren eigenen Reihen. Erst Tage später konnte sie die Ereignisse richtig bewerten und so kam sie zu der Erkenntnis, dass selbst die Stabträger missbraucht wurden für die Ziele einer Gottheit, die auf Unterwerfung bis hin zur Auslöschung ausgerichtet waren. Sie empfand keinen Hass auf Azul, den Bezwinger der Schattenwölfe. Sein Schicksal machte sie traurig, denn die letzten Augenblicke seines Lebens offenbarten ihm den Betrug. Zu sterben in der Gewissheit, dass sein ganzes Handeln im Widerspruch zu seinen eigenen Überzeugungen stand, machte nicht nur seinen Tod, sondern auch sein kurzes Leben sinnlos. Wer sagte ihr, dass sie selbst nicht in solch einer Welt des falschen Seins unterwegs war? Wie konnte sie sicher sein dem richtigen Pfad des Lebens zu folgen? Vor Askalan gab es das Richtige und das Falsche. Eine Überzeugung, die auch von Tranjes Knappe teilte und trotzdem war er dem Seelenfänger ins Netz gegangen. Würde sie eines Tages im Angesicht des Todes merken, dass auch ihr ganzes Leben eine Lüge war? Ihr blieb nicht viel Zeit diesen Gedanken genug Aufmerksamkeit zu widmen, denn obwohl ihr körperlicher Zustand gefühlt ein Jahr Ruhe verlangte, forderte die königliche Verpflichtung ihre Anwesenheit.
Nach den Ereignissen in der Bibliothek verloren die Utchas ihren Kampfesmut, obwohl sie Kosobions Heer so gut wie aufgerieben hatten. Frei von jeglicher Beherrschung waren sie nur noch Tiere, dessen Überlebenswille keinen Sinn in epischen Schlachten sah. Sie flohen zu Tausenden in den Norden und Jessica befürchtete, dass sie dort in aller Ewigkeit ihr Unwesen treiben würden. Es war unklar, was mit dem Wächter passiert war. Die irdische Gestalt war vernichtet worden, aber der wirklichen Existenz schien die Flucht gelungen zu sein. Ein Ballast für kommende Generationen, die sie dank ihrer Unsterblichkeit begleiten würde. In ferner Zukunft drohten weitere Konfrontationen und ähnlich wie heute die Geschichten über Askalan, wird die Schlacht von Krumau zu einer Mischung aus Historie, Legende und verzerrter Wahrheit verkommen. Eines Tages wird sie ihren eigenen Erinnerungen misstrauen und obwohl sie bemüht war die fürchterlichen Ereignisse von Chronisten niederschreiben zu lassen, wird ein Großteil ihrer Erfahrungen im vergangenen Kampf gegen diese Mächte verloren gehen. Ihre Prioritäten lagen nicht in der Dokumentation des Kriegsverlaufes, viel wichtiger erschien ihr der Wiederaufbau der zerstörten Stadt Krumau. Ein Vorhaben, dass sich über Dekaden hinziehen würde und die eine oder andere schwere Entscheidung von ihr abverlangen wird. Die erste solcher Entscheidungen lag unmittelbar vor ihr.
"Bürger der Stadt Krumau." wandte sich Jessica an die zurückgekehrte Bevölkerung. Eine Woche war bereits vergangen und bisher hatte sie diesen Moment soweit hinausgezögert wie sie konnte. Nun stand sie hier auf dem Bibliotheksvorplatz, der voll war von Menschen, die alle nach Vergeltung lechzten.
"Das Verlangen nach Gerechtigkeit ist groß." begann sie ihre Ansprache. Sie schaute auf die drei Personen, die zu ihren Füßen knieten.
"Als Königin von Galatien steht es mir zu über die Verräter zu richten." Jessica schluckte kurz, denn was sie jetzt sagen würde, dürfte keinem der Anwesenden sehr gefallen.
"Wir alle sind betrogen worden." begann sie.
"Nicht nur die Feinde." Sie ging zu der knienden Niska hinüber und schaute in ein apathisches Gesicht.
"Auch Freunde." wandte sie sich an von Tranje. Ein gebrochener Mann, der nichts anderes als den Tod herbeisehnte.
"Am Ende sogar Familie." Ihre Schwester war die Einzige, der die Angst vor dem Tod anzusehen war.
"Die Stadt Krumau hat alles Recht der Welt das Blut der Angeklagten zu fordern. Doch noch mehr Tod wird die Verstorbenen nicht zurückbringen." Ein Raunen ging durch die Menschenmenge.
"Hier und jetzt endet das Töten. Ich verbanne die Angeklagten nach Askalan." sagte sie laut und versetzte die angespannte Bevölkerung in Unruhe. Erste Proteste drangen an ihr Ohr.
"Der Kreis des Leidens muss durchbrochen werden." sagte Jessica und obwohl die leisen Widerworte langsam verstummten, wusste sie, dass jeder dort unten glaubte von Tranje und ihre Schwester wurden nur verschont, auf Grund der Nähe zur Königin. Ruhe legte sich über den Platz. Es wurde Zeit für die wirklich wichtigen Worte.
"Ich bin eure Königin und hiermit gebe euch mein Versprechen, dass die Dinge in Galatien sich ändern werden." Zweifel machte sich in den Gesichtern der Bevölkerung breit und Jessica konnte ihnen das nicht verübeln.
"Mögen die Geschichtsschreiber mich daran messen." Ein letztes Mal nagten die Zweifel des richtigen Handelns an ihrem Verstand. Ihr Blick fiel auf ihre Freundin neben ihr. Welchen besseren Indikator konnte sie sich wünschen als Sasha. Nach all dem Leid stand dem Reich eine glorreiche Epoche bevor.
Tag der Veröffentlichung: 05.01.2019
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