Titel: Die Wiederbelebung
Niklas führt ein solides Leben. Er hat einen sicheren Job, eine schöne Freundin und ist finanziell gut aufgestellt. Die Illusion einer perfekten Biographie, die auf lange Sicht zu Ehe, Familie und spießigem Wohlstand führt. Sein Weg scheint vorbestimmt, aber die Routine eines Buchhalters lässt ihn regelmäßig in Fantasien von einem alternativen Leben fliehen. Die Sicherheiten seines geregelten Lebens für seine Träume aufzugeben, das wagt Niklas nicht, bis eines Tages, der von Eintönigkeit geprägte Alltag erschüttert wird. Plötzlich ist nichts mehr sicher. Kein Job, keine Ehe und vor allen Dingen kein vorgezeichnetes Schicksal.
Der Wecker klingelte und nötigte mich aufzustehen. Gnadenlose sechs Uhr zeigte das Display. Ich quälte mich aus dem Bett und wie jeden Morgen sorgte die frühe Stunde für miese Laune. Es fühlte sich gut an schlecht drauf zu sein. Ich genoss das täglich wiederkehrende Ritual, das mir die nötige Energie für den Tag verlieh. Der perfekte Start in den Morgen. Wer braucht schon Kaffee oder ein ausgiebiges Frühstück, wenn einem Überheblichkeit und Verdruss als Brennstoff zur Verfügung stehen?
Eine halbe Stunde brauchte ich für die notwendigsten Hygieneabläufe, dann war ich bereit für meinen persönlichen Murmeltiertag. In freudiger Erwartung meine negativen Schwingungen an die Umwelt zu senden, begab ich mich in die triste Welt herbstlicher Dunkelheit.
Es war Montag, aber es hätte auch jeder andere Tag sein können. Meine Reisegesellschaft in der Straßenbahn variierte nur in Nuancen und war kein zuverlässiges Werkzeug zur Wochentagsbestimmung. Meine Müdigkeit an jenem ersten Morgen in der Woche besaß diese spezielle Wehmut eines Wochenanfangs. Die Reue, die vergangenen 48 Stunden nicht effizient genutzt zu haben, befeuerte meine chronisch schlechte Laune zu dieser Tageszeit.
Ich ließ mich in den gepolsterten Sitz fallen und musterte unauffällig die anderen gutgeschmierten Rädchen der Tretmühle, die wie ich schon am ersten Tag der Woche den Freitagabend herbeisehnten. Mein Blick blieb mitleidig an Mireille Mathieu hängen, die irgendwann letzten Monat eine verhängnisvolle Wandlung vollzogen hatte. Der Morgen als Penelope Cruz zu Mireille Mathieu geworden war, war einer der schwersten Schicksalsschläge in der Historie der Bahnfahrten gewesen und ließ mich an der Berufsehre ihrer Friseurin zweifeln. Alle Fantasien um ihre ungezügelte Lebenseinstellung verloren sich mit den Haaren und raubten mir sämtliche Illusionen. Solche kleinen Erschütterungen des eingeschliffenen Alltags waren die bemitleidenswerten Abwechslungen, die mein Leben regelmäßig bereicherten.
„Dresden Mitte“ tönte die mechanische Stimme aus dem Lautsprecher und als wäre es das Startsignal für die Eröffnung des Büffets, kam plötzlich Bewegung in die träge Menschenmenge. Mireille Mathieu streifte mich und der süßliche Geruch der Verführung raubte mir für einen Augenblick den Verstand. Ich wagte einen Blick in ihr Gesicht und verschiedene Varianten ihres Charakters erschienen vor meinem geistigen Auge. Die Müdigkeit verhinderte die Entfaltung einer ordentlichen Fantasie und so unterwarf ich mich erneut dem Leidensdruck des Morgenmuffels.
Kaffee. Um näher an den Nullpunkt der Laune-Skala heranzukommen, brauchte ich Kaffee. Der gelobte Ort, an dem der Koffeinpegel sein gewohntes Niveau erreichen sollte, befand sich im Bahnhof Mitte. Dabei war der Kaffee arg gewöhnungsbedürftig und wie so vieles nur ein Zahnrad im Getriebe der Alltagsmaschinerie. Ein sinnloses, denn die Maschine würde sich auch dann weiterdrehen, wenn ich einen kalten Koffeinentzug wagte.
Zehn Minuten brauchte ich, um im Ansturm der Koffeinjunkies an das begehrte Getränk zu kommen. Es wurde Zeit, mit der Beute die Ruhe des Bahnsteiges zu suchen. Kein guter Plan, denn dort erwartete mich der Arbeitskollege, dem ich zu dieser frühen Stunde lieber nicht begegnen wollte.
Zu spät für den „Hab dich gar nicht gesehen“-Ausweg. Ein kurzer Händedruck, ein gequältes „Moin“ und dann harrte ich der Dinge, die da kommen mochten. Nach zwei Minuten belanglosem Austausch von Büronichtigkeiten wurde er plötzlich konkret.
„Wie sieht es aus mit den Abschlusszahlen?“
Michael Müller. Bedarf es einer weiteren Erklärung seiner Persönlichkeit als dieser Name? Der Prototyp eines Büroangestellten. Der Durchschnitt vom Durchschnitt. Sein Pech war jegliche fehlende Individualität seines Namens. Dazu Halbglatze und Brille bei einer Größe von eins siebzig. Das „Billy“-Regal im Großraumbüro. Praktisch, nützlich und überall anzutreffen.
„Die Zahlen?“, fragte das überteuerte Möbelstück nochmals nach.
„Wir sind dran“, hielt ich die Antwort so allgemein wie möglich, um damit meinem Gegenüber zu verdeutlichen, dass keinerlei Interesse an einer Fortführung dieser Unterhaltung vorhanden war.
„Wir müssen diesmal unbedingt den Termin halten.“
Billys Welt bestand aus Zahlen und Terminen. Ich hatte keine Lust, an einem Montagmorgen Teil dieser Welt zu werden. Erst recht nicht, wenn die Stechuhr noch nicht mal angefangen hatte, die zähen acht Stunden runterzuzählen.
„Ich hoffe, Sie schaffen das mit der Budgetplanung.“
Hatte ich bisher Skrupel, ihn hier am Bahnsteig stehen zu lassen, überkam mich auf einmal das Verlangen, ihn vor den nächsten anfahrenden Zug zu werfen. Ohne jegliche Reue und ohne große Mühe, meine Ausrede als notwendige Tatsache zu tarnen, ließ ich ihn unter dem Vorwand der Zuckersuche für meinen Kaffee einfach allein.
Erneut übernahm der morgendliche Miesepeter das Kommando. Der hatte leichtes Spiel, seine pessimistische Grundeinstellung wieder in den Vordergrund zu rücken. Billy hatte gute Vorarbeit geleistet und zu meinem Unglück zeigte sich dieser Novembermorgen von seiner schlechtesten Seite. Dicker Nebel und leichter Nieselregen dienten als Futter für das zarte Pflänzchen mit dem Namen Morgenmuffel. Ich nahm einen großen Schluck Kaffee und hoffte auf eine belebende Wirkung.
Das Sitzesuchen in der Bahn glich der „Reise nach Jerusalem“, doch keiner wartete das Ende der Musik ab. Ich hatte keine Lust das Spiel mitzuspielen und so blieb ich gleich am Eingang stehen.
Ein etwa siebzigjähriger Mann, der mich an einen hektischen Loriot erinnerte und trotz seines gebrechlichen Aussehens keinen Sitzplatz abbekommen hatte, schimpfte abwechselnd über die Verspätung, die Menschenmassen oder die Jugend. Dabei gab es den einen oder anderen bösen Blick für mich. Ich war mir keiner Schuld bewusst. Mein Gewissen war rein, immerhin hatte ich den Tanz um die Sitze gar nicht erst mitgemacht.
Loriot beruhigte sich erst, als ihm doch noch ein Sitz angeboten wurde und so nahm die Fahrt ihren gewohnten ereignisarmen Verlauf. Nur zwölf Minuten später verließ ich die Bahn und auf dem kurzen Fußweg ins Büro entfaltete das Koffein langsam seine aufbauende Wirkung. Ich hoffte auf einen gemächlichen Einstieg in die Arbeitswoche und da ich keinerlei Rückstände abzuarbeiten hatte, ließ ich mich entspannt in den ergonomisch unkorrekt eingestellten Bürostuhl fallen.
Der Blick in das elektronische Postfach sah vielversprechend aus, denn dort schlummerte tatsächlich nur eine neue Nachricht. Großer Besuch war für heute angesagt. Einer der Teilhaber schickte sich an, seine Untergebenen mit der Ehre seiner Anwesenheit zu beglücken.
Seit zwei Wochen wurde fiebrig auf diesen Tag hingearbeitet. Die Fahnen wurden gehisst, ein ausgeklügeltes Büffet bestellt und eine ausführliche Anweisung an die einzelnen Abteilungen verschickt, wie dieser Tag möglichst erfolgreich und ohne große Peinlichkeiten ablaufen sollte.
Der Inhalt war mir weitestgehend unbekannt, denn dieses Machwerk aus vorgefertigten Textbausteinen machte es einem schwer, bis zum relevanten Teil der Anordnung durchzuhalten. Ich beschloss, meine Zeit wichtigeren Dingen zu widmen, da die Wahrscheinlichkeit den finanziellen Heiland auch nur zu Gesicht zu bekommen verschwindend gering war. Ohne schlechtes Gewissen verschob ich die Anweisung dahin, wo sie meines Erachtens am besten aufgehoben war: in den virtuellen Papierkorb.
Das Großraumbüro füllte sich langsam. Nach und nach trudelten sie alle ein und vermittelten das Bild von Kühen, die in ihre Boxen getrieben wurden, um die Milch in Form von Arbeitsleistung abzugeben. Da war Frau Schawatzki, die Stubenälteste. Ihre genaue Anzahl der Jahre in diesem Unternehmen variierte je nach Quelle, aber es gab Gerüchte von dreißig plus x. Ich erinnerte mich vage an ihren spartanisch gefeierten 50. Geburtstag vor zwei Jahren hier in den heiligen Hallen der Buchhaltung. Ein kurzes Intermezzo von Selbstgebackenem und Billigkaffee. Das würde bedeuten, dass sie ihre Zahlenschieberei mit Anfang zwanzig begonnen hatte.
War das eine Alarmglocke, die da kurz in den Windungen meines Verstandes läutete? Ich war 25 und das mahnende Beispiel saß mir quer gegenüber und verhieß keine zufriedenstellende Zukunft. Das Bild der jungen Ursula Schawatzki ließ meine nicht jugendfreien Fantasien nur dadurch abkühlen, weil ich mit dem fünfzigjährigen Pendant fast täglich aneinandergeriet. Trotz Abzügen in der B-Note durch die Siebziger-Jahre Frisur. Wie konnte eine Frau, der ohne Frage ein Opferaltar zur Erhaltung ihrer Schönheit zustand, sich im Laufe der Zeit so zu ihrem Nachteil verändern? Es war weniger der körperliche Niedergang, der mich an der Gerechtigkeit des Alterungsprozesses zweifeln ließ. Es war ihre dermaßen spießige Einstellung zum Leben, die sie jeden Tag aufs Neue jedem in diesem Raum beweisen wollte.
Frau Schawatzki, wie sie offiziell für neunzig Prozent der Belegschaft hieß, bekamen dreißig Jahre exzessive Finanzbuchhaltung überhaupt nicht. Etwas, das mir noch bevorstand, aber ich war mir sicher, dass ich es besser machen würde. Nein, ich würde keine neue Schawatzki werden. Immerhin war mein Name Jakubowski. Niklas Jakubowski. Buchalter für Pollmen-Industries.
Einer der wenigen Privilegierten, die Ursula Schawatzki bei ihrem Vornamen nennen durften, war Ernest von Talle. Ein Name wie ein Glockenspiel voller Anstand und Moral. Sicherlich ein wesentlicher Grund für Ursula, ihre Prinzipien hinsichtlich der bevorzugten Art der Ansprache etwas aufzuweichen. Dabei war Ernest so weit weg von adligen Umgangsformen, wie ich von einem befriedigenden Sexualleben. Er hatte eine direkte Art, schaffte es aber mit Hilfe seines Charms, seine teilweise derben Wahrheiten galant zu garnieren. In den zwei Jahren in diesem Großraumkäfig erinnerte ich mich nicht an einen ernsthaften Disput hinsichtlich seiner Aussagen. Der wohlklingende Name, aber auch sein fortgeschrittenes Alter und vor allen Dingen die Tatsache, dass er niemanden persönlich anfeindete oder anschwärzte, verschafften ihm den nötigen Respekt von Ursula und den Anderen. Für mich war er das Licht in der Dunkelheit der Bilanzbuchhaltung und wäre er dreißig Jahre jünger, hätten wir sicherlich das eine oder andere Bier miteinander getrunken.
Mir direkt gegenüber saß Mandy. Lange blonde Haare, 26 Jahre alt und der fleischgewordene Traum eines Porno-Junkies. Mit ihren blauen Augen und der makellosen Figur erfüllte sie jeden einzelnen optischen Punkt des Anforderungsprofils einer idealen Partnerin. Trotzdem schwang das Pendel meiner Einstellung zu Mandy in die negative Richtung. Es ist ein Fluch solch perfekter Wesen, dass sie sich ihrer Perfektion bewusst sind und damit eine Arroganz an den Tag legen, die diese Perfektion in das komplette Gegenteil verkehrt.
Selbst bei härtestem Liebesentzug kamen mir nie unkeusche Gedanken zu Mandys Proportionen. Den Vorteil ihrer natürlichen Schönheit kompensierte sie durch ihren Charakter in ein Nullsummenspiel. Mein offensichtliches Desinteresse an ihrem Auftreten als verkante Schönheitskönigin, sah sie als Affront, den sie mit permanenter Verachtung bestrafte. In Mandys einfachem Weltbild, das sich im Wesentlichen nach dem gesellschaftlichen Status richtete, existierte ich als notwendiges Übel, das sie mit aller Überheblichkeit dieser Welt in die Kategorie Sozialhilfeempfänger einordnete.
Deutlich höher in Mandys Gunst stand Bernd Schumacher, Leiter des Commercial Department. Ein selbst ernannter Macher. Ein 16-Stunden-Schufter. Eine Lichtgestalt des mittleren Managements, der der Überzeugung war, dass ohne ihn die Firma längst in den Niederungen der Bedeutungslosigkeit verschwunden wäre. Trotz durchschnittlichen Talents in finanziellen Angelegenheiten erklomm er erfolgreich die Karriereleiter und die finalen Stufen zum Geschäftsführer für finanzielle Angelegenheiten von Pollmen-Industries sollten die Krönung seiner Karriere werden.
Hubert Wendler, derzeitiger CFO, würde dieses Jahr seinen 65. Geburtstag feiern und in den wohlverdienten Ruhestand gehen. Es wurde gemunkelt, dass die Stelle intern besetzt werden sollte, was Schumacher in den beruflichen Olymp bringen könnte. Dieser allmächtige Zustand würde Mandy zur endgültigen Jüngerin machen. „The winner takes it all“, schoss es mir durch den Kopf. Bevor ich mir eine ordentliche Fantasie über diese gewinnbringende Liaison für Schumacher ausmalen konnte, vibrierte mein Mobiltelefon.
Eine Kurznachricht von Peggy, Lebensabschnittsgefährtin von Niklas Jakubowski. Ein schöner Selbstbetrug, denn wenn es nach ihr ginge (und das tat es in der Regel), war die Beziehung zwischen uns kein zeitlich begrenztes Intervall. Für Peggy gab es nichts Geringeres als die gemeinsame Ewigkeit. Eine Perspektive, die jeden Mann in eine gewisse Panik versetzte, weil es die Endlichkeit der eigenen Jugend heraufbeschwor. Im Angesicht von Ehe, Kindern und Haus mit weißem Gartenzaun, überkam mich die Furcht, wesentliche Dinge aufgrund lebenslanger Verpflichtungen zu verpassen.
War ich nicht ein Kerl, der zu höherem berufen war? Sportstar oder Schauspieler. Vielleicht taugte ich ja sogar zum Unterwäschemodel? Verdammt, warum fühlte ich mich dann wie Al Bundy? Gefangen in einer Beziehung, obwohl ich eigentlich Football-Star sein könnte. Hieß dessen Frau nicht auch Peggy? Bevor ich weitere Gemeinsamkeiten aufdeckte, beschloss ich, mich der Nachricht zu widmen.
„Hi Schatz J… I komme heute A. später…. Friseurtermin wegen sa… muss mi ja schö machen lol… vergiss nich das geschenk zu hol… (; hdl“
Das eigentlich Schlimme war die unausgesprochene Regel, auf dieses Gemisch von Buchstaben zu antworten. Ein einfaches „Geht klar“ entsprach nicht Peggys Richtlinien einer Beziehungs-Nachricht. Da musste mehr kommen. Erschwerend kam hinzu, dass ich mit wenig graziösen Fingern gesegnet war, was den Zeitaufwand für ein fehlerfreies Schreiben mindestens verdoppelte. Ein echtes Problem in diesem Großraumdschungel. Lesen einer Nachricht war das Maximum an privaten Zulässigkeiten. Mein erwarteter Aufwand für das Schreiben einer Antwort würde den Eindruck erwecken, dass ich mit meinen Aufgaben nicht ausgelastet war. Die eigene Produktivität würde um einiges abgewertet. Also musste die Antwort warten, bis zur offiziellen Frühstückspause.
Schumacher betrat den Raum. Seiner Stellung angemessen war er schon geraume Zeit anwesend. Er ließ es sich nicht nehmen seinen Untergebenen zu vermitteln, dass Montagmorgen um sechs Uhr ein natürlicher Arbeitsbeginn war. Es war seine persönliche Art, auf die Standesunterschiede innerhalb dieses Büros hinzuweisen. Mit gehetzter Mine stand er in der Tür. Sein gestresster Eindruck erlaubte ihm nur ein kurzes allgemeines „Morgen“, dann verschwand er in seinem separaten Büro.
„Der arme Mann. Muss jeden Morgen so früh raus.“ Mandys Sorge um ihren Chef ging ins Leere und diente eigentlich nur als Mahnung dafür, dass wir (insbesondere ich) den Einsatz unseres Vorgesetzten nicht genug zu würdigen wussten. Ich blieb ihr die angemessene Anerkennung dahingehend erstmal schuldig und widmete mich meinen täglichen langweiligen Aufgaben. Ich spürte den bösen Blick, den mir das Ignorieren ihrer Bemerkung einbrachte.
Kurz vor der Frühstückspause passierte das Unausweichliche. Der eigentliche Höhepunkt des Tages wurde durch Schumachers hektisches Verlassen seines Büros angekündigt. Offenbar war der Teilhaber eingetroffen und der Hofstaat hatte nun seine Aufwartung zu machen. Ein elendiges Protokoll aus Small Talk, Schmeicheleien und Hoffnungen auf die nächste Stufe der Karriereleiter. Ein mögliches Schicksal, das auch mir drohte, sollte ich wirklich irgendwann mehr Ambitionen entwickeln als das Bearbeiten von Rechnungen.
Aus Mangel an Ehrgeiz ein eher unwahrscheinliches Szenario, aber Peggy hatte mir letztens unmissverständlich klargemacht, dass ein Buchhalter nicht unbedingt ihre Kriterien für einen Traummann erfüllte. Auf die Nachfrage, was denn ihr Traumprinz auf dem weißen Schimmel beruflich machen sollte, fiel ihr nichts Besseres ein als „Controlling“. Ich verkniff mir die Frage, was denn an einem Leben als Controller nun so viel aufregender sein sollte, als beim herkömmlichen Buchhalter. Ich vermutete, dass sie mich auf ihre eigene verschrobene Art auf einen Karrieresprung vorbereiten wollte. Dezente Andeutungen hinsichtlich möglicher Weiterbildungen oder sogar eines Studiums bestätigten meine Theorie. Alle ihre Freundinnen hatten Akademiker als Partner. Für ein Mädchen wie Peggy, das gesellschaftlichen Status an diversen Titeln festmachte, war ich damit ein nicht lange hinnehmbares Handicap.
Eine halbe Stunde verging und die eigentliche Frühstückspause fiel einer der Anweisungen zum Opfer, die in meinem virtuellen Papierkorb verrotteten. Offensichtlich war es nicht erwünscht, dass der Heiland die zahllosen Gehaltsempfänger ausgerechnet bei ihrer Pause zu Gesicht bekam. Die Fabelwesen von nimmermüden Angestellten würden einen nie wiedergutzumachenden Eindruck von Realität vermitteln, wenn sie sich in ungeahnter Menge zu der verdonnerten Pausenzeit in der Kantine drängten.
So galt für diesen Tag eine verlängerte Mittagspause, deren Beginn von der zweifelsfreien Abreise des finanziellen Heilsbringers abhing. Mein Blick fiel auf mein Telefon und die immer noch offene Antwort auf das Nachrichten-Kauderwelsch versetzte mich in Unruhe. Ein Vorbote drohenden Unheils. Ein prophetisches Talent, das sich selten irrte.
Es würde sogar legendär werden, aber das wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Mit wenig Tatendrang stürzte ich mich in die langweiligen Aufgaben eines Buchhalters, der seinen Büroalltag durch wilde Fantasien so erträglich wie möglich zu gestalten versuchte.
Mein Favorit handelte von Abenteuern in der Karibik, mit allem was dazugehörte. Sonne, Strand und jede Menge Frauen, die das Wort „Nein“ so selten verwendeten, dass eigentlich jede Bitte zur Selbstverständlichkeit wurde. Getrieben von medialen Einflüssen, surfte ich wie Patrick Swayze die höchsten Wellen oder diskutierte wie Robin Williams an exotischen Plätzen mit Reisenden aus der ganzen Welt tiefgründig über den Sinn des Lebens.
Heute drängte sich ein realistischerer Wunschtraum in den Vordergrund, der tatsächlich mit einfacheren Mitteln umsetzbar wäre, würde die Zahlenschieberei nicht meinen Geist so weit beanspruchen, dass ich nach Feierabend nur noch Konzentration für ein paar Artikel aus der Bildzeitung besaß. Das Erlernen einer neuen Sprache. In eloquentem Spanisch sah ich mich spannende Projekte in den hintersten Winkeln von Südamerika realisieren, um den gebeutelten Ureinwohnern wahlweise einen Brunnen oder eine Schule zu ermöglichen. Irgendwas Sinnstiftendes fiel mir immer mit dem Erwerb der neuen Sprache ein, das mich fernab von Rechnungen in idealisierten Vorstellungen nahe an die Heiligsprechung führte. In Wahrheit hielt meine Motivation höchstens bis zum Feierabend und die Freude auf die neuste Folge meiner Lieblingsserie schien mir dann wichtiger als irgendwelche Bildungserfolge am Amazonas.
Die Flucht klappte heute ohnehin nicht. Zu erdrückend war die Realität um Büro, Peggy und graue Tristesse vor dem Fenster. Statt Weltverbesserungsfantasien setzte sich das Elend der Zahlen durch, die ich bis an mein Lebensende in diesen verdammten Computer tippen würde. Ich schaute rüber zu Ursula, deren Historie als Vorbild für mein Schicksal diente. Pollmen-Industries drohte mein Lebensinhalt zu werden. Vernunft und Fleiß formten mich zum perfekten Buchhalter und meine Arbeitszeugnisse würden überquellen von Wörtern wie „gewissenhaft“ und „zufrieden“. Meine ganz persönliche Chiffrierung für die Personaler der anderen Pollmen-Industries dort draußen. Ein weiteres Rad im Getriebe, das für die gigantische Maschinerie namens Wirtschaft angepasst war.
Das Bürotelefon klingelte und der Name „Baumert“ zierte das Display. Leiter der IT. Ähnlich wie Schumacher, persönlich von Gott gesalbt. Die Tatsache, dass er sich herabließ, einen gewöhnlichen Angestellten anzurufen, bedeutete nichts Gutes. Im Geiste ging ich sie durch, die Möglichkeiten für den Ärger, den mir das Abheben des Telefonhörers gleich einbringen würde. Ich legte mich fest auf die Bezahlung der drei neuen Laptops für den Vertrieb, die ich am Freitagnachmittag abgelehnt hatte, da eine Begründung für die Verweigerung des deutlich billigeren Angebotes gefehlt hatte.
Natürlich kannte ich den Grund: Baumerts Schwager war praktisch der Hauslieferant für die IT und die sehr optimistische Preisgestaltung hatte in den letzten Wochen ungeahnte Ausmaße angenommen. Nicht, dass ich etwas gegen diesen Familienklüngel unternehmen konnte, aber es gab nun mal die Anweisung, solche Überteuerungen zu begründen.
„Willst du nicht rangehen?“, fauchte mich Mandy von der anderen Seite des Schreibtisches an. Ein Grund mehr, das verdammte Telefon bis in alle Ewigkeit klingeln zu lassen, nur um die Toleranzgrenze in Sachen Selbstkontrolle bei dem blonden Kurvenwunder zu ergründen. Es half nichts. Die Melodie des Klingeltons schien immer ungeduldiger zu werden.
„Jakubowski“, hauchte ich viel zu unterwürfig in den Hörer.
„Schumacher hier. Sofort ins Büro der IT.“ Das Knacken in der Leitung ließ keinen Widerspruch zu und die Kürze des Anrufes ließ nichts Gutes erahnen. Ich hatte Mühe, den Hörer nicht fallenzulassen, als ich ihn zurück auf das Telefon legen wollte. Was immer da oben an Ärger auf mich wartete, es würde doppelt unangenehm werden. Dass mir gleich zwei dieser Halbgötter aus der mittleren Managementebene den Kopf waschen wollten, war auch für mich neu. Meine Beine fühlten sich wie Blei an, als ich mich aus dem Bürosessel quälte.
„Da bekommt wohl jemand Ärger“, sagte Mandy feixend. Meine Unfähigkeit zu einer geeigneten Retourkutsche bedachte Mandy mit einem extra fiesen Lächeln. Normalerweise konterte ich mit einem personalisierten Blondinenwitz, aber mein Gehirn hatte bereits hundert Prozent seiner Rechenleistung für die bevorstehende Konfrontation in der IT freigeschaufelt. Trotzdem hatte es wohl noch Sinn für Humor, indem es mir diese Analogie zur Computertechnik darlegte. Blieb also nur Ignoranz für Mandy, was sie als Sieg auf ganzer Linie verbuchte. Egal. Der Montagmorgen steuerte auf seinen ersten negativen Höhepunkt zu.
In der festen Überzeugung, dass irgendwo aus den Untiefen des Archivs eine längst verschollene Guillotine nur für mich entstaubt und bereitgestellt wurde, stand ich vor Baumerts Büro. Noch immer war mir nicht ganz klar, warum ich mich auf dem Weg zum IT-Schafott befand. Auch wenn ich kein Freund von starren Regeln war, bei der Zurückweisung der Klüngelrechnung galten die Firmenprinzipien. In gutem Glauben, nichts Falsches getan zu haben, öffnete ich die Tür und betrat mit frischem Selbstvertrauen die Krypta der IT.
Natürlich gab es keine Guillotine, aber der Wunsch danach wurde übermächtig, als ich sah, was mich auf der anderen Seite der Tür erwartete. Ich hatte eigentlich zwei zähnefletschende Abteilungsleiter vor Augen gehabt, die alles daran setzen würden, mir die Dreistigkeit der Majestätsbeleidigung auszutreiben. Stattdessen überraschten sie mich mit einer Anhäufung von Schlipsträgern, die sich steif und bieder die technischen Hintergründe einer Serveranlage erklären ließen.
„Ich komme wohl besser später wieder“, stammelte ich und der Totalverlust des gerade erworbenen Selbstvertrauens ließ mich wie ein Guppy im Haifischbecken wirken.
„Kommen Sie rein“, forderte mich Schumacher auf. Seine Stimme klang eher besorgt als wirklich verärgert.
Krokodilssorge, hörte ich den Scherzkeks in meinem aufgewühlten Verstand, den ich glaubte, ganz tief in der Kiste der Vernunft verstaut zu haben. Er hatte recht. Die Sorge war geheuchelt. Das war unweigerlich auf die enorme Anzahl der Leistungsträger unserer Gesellschaft zurückzuführen, die hier ihre Anzüge zur Schau stellten, die locker den Gegenwert meines Monatsgehaltes hatten. Geschäftsführer, Teilhaber und andere Leute von ähnlicher Wichtigkeit ließen das an sich geräumige IT-Büro zu einem Hamsterkäfig schrumpfen.
„Ich bin enttäuscht von Ihnen“, rügte mich Schumacher. Er gab sich alle Mühe, dass seine Worte von der ansehnlichen Traube von Alphatieren gehört wurden. Offenbar vergeblich, denn die versteckten ihre Langeweile hinter einer Maske von geheucheltem Interesse an den Segnungen der Computertechnik. Da sein Versuch der Erhaschung von Aufmerksamkeit fehlschlug, baute er in die nächste Runde seiner Ansprache ein paar Schlagworte ein.
„Ich verlange mehr Teamwork von Ihnen. Ihre Arbeit ist nicht so ergebnisorientiert, wie ich mir das wünsche.“ Noch immer war Schumacher im Nachteil gegenüber den Bits und Bytes der Computer. Ich begriff langsam sein Vorhaben: Ich fungierte als Opferlamm, um bei den Mächtigen von Pollmen Industries zu punkten.
„Was ist denn das Problem?“, tat ihm ausgerechnet der Teilhaber-Häuptling den Gefallen, seiner kreativen Schelte Aufmerksamkeit zu widmen.
„Wir haben Geld verloren durch Bummelei in der Buchhaltung, Herr Vogeler.“ Baumert ergriff jetzt das Wort. Offensichtlich war ich potenzielle Beute von gleich zwei Raubtieren.
„Das ist nicht schön.“ Vogeler sah man die Reue über die Abkehr vom Computerkurs sichtlich an. Nun war er gezwungen, dem unwürdigen Schauspiel weiter zu folgen.
„Das ist meine Abteilung. Ich kläre das.“ Wild entschlossen, seine Zähne vor Baumert in meinem Nacken zu vergraben, kam Schumacher seinem Widersacher im Rennen um Anerkennung zuvor. Dieser wollte aber nicht zurückstecken.
„Fast vierhundert Euro Skonto hätten wir sparen können, wenn die Rechnung pünktlich letzte Woche bezahlt worden wäre.“, fuhr Baumert wichtigtuerisch fort.
„Das ist wirklich unschön“, wiederholte Vogeler seine Bemerkung, aber diesmal mit weniger Mühe, seine Langeweile zu tarnen. Das offensichtliche Desinteresse verhinderte meine Panikattacke. Dem Erhabenen war im Moment an Opfergaben nicht gelegen. Ich wäre vermutlich mit einem verlogenen Treueschwur á la „Ich habe meine Lektion gelernt“ aus der Sache herausgekommen, wenn nicht zwei Faktoren meinen Leichtsinn geweckt hätten.
Da waren einerseits diese unglaublichen Augen, die ich in dieser Intensität von Blau noch nie gesehen hatte. Ihre Besitzerin, ein Mädchen von höchstens zwanzig Jahren, wirkte so unplatziert zwischen den steifen Anzugträgern, dass sie mir bisher gar nicht aufgefallen war. Ich hatte sie in meiner Angst, als Spielball der Mächtigen permanent hin und her geworfen zu werden, ausgeblendet.
Mit der Gewissheit im Rücken, dass unser oberster Herr mich als unwürdig ansah, im Ränkespiel seiner Speichellecker als Bauernopfer zu fungieren, wurden die als Schutzfunktion deaktivierten Sinne wieder aktiv. Das Mädchen-Radar hatte dabei oberste Priorität. Das Echolot hatte dieses bezaubernde Wesen erfasst und versetzte meine Hormone in ungeahnten Aufruhr. Was mich aber wirklich veranlasste, meine defensive Haltung gegenüber Baumert in einen Angriff umzuwandeln, war ihr schelmisches Grinsen, das jede Menge Spott über meine derzeitige Situation beinhaltete. Mein Ziel war nicht der eigentliche IT-Chef, sondern diesen Hohn aus ihrem Gesicht zu bekommen.
„Vierhundert Euro mehr für Ihren Schwager. Vielleicht ist ja anteilig auch für Sie was drin?“, entgegnete ich Baumert mit einer Gelassenheit, die ich mir in dieser Lage nicht zugetraut hätte. Ein nichtssagender Blick war die Antwort. Als müsste er sich erst entscheiden, ob Entrüstung oder Rechtfertigung passender für diesen Affront wären. Ich hatte mir gerade einen Feind auf Lebenszeit geschaffen, was ich als wenig bedauerlichen Kollateralschaden abtat.
Jetzt zählte nur diese langhaarige Elfe, die mich vom ersten Moment an verzaubert hatte. Die dunklen Haare rahmten ihr makelloses Gesicht ein und die blasse Haut war der ideale Hintergrund für ihre strahlend blauen Augen. Ein perfektes Kunstwerk. „Natürlich schön“ waren die Worte, die dem Unbeschreiblichen am nächsten kamen.
„Herr Schumacher, lassen Sie zu, dass Ihre Leute so mit mir reden?“ Baumert hatte sich für Entrüstung entschieden und es war mir weiterhin egal, denn der Gesichtsausdruck dieser Göttin wechselte von spöttisch zu abwartend. Sie wollte mehr von meiner hormongesteuerten Rebellion und ich war bereit, zu liefern. Bevor ich einen weiteren Laut von mir geben konnte, hakte Vogeler ein.
„Herr Baumert, können Sie das nicht später klären? Meine Tochter möchte dringend mehr über Ihre Arbeit hier erfahren.“ Ein Machtwort, um dieses unsägliche Getue zu beenden.
„Natürlich“, duckte sich Baumert ab. Er gab sich geschlagen. Jetzt war ich derjenige mit dem spöttischen Lächeln. Noch nie hatte ich ihn so einknicken sehen. Ein Triumph mit begrenzter Halbwertzeit, denn die Nachwirkungen meiner Majestätsbeleidigung würden mich mit zeitlicher Verzögerung treffen. Für den Moment war es mir egal.
„Vielleicht mache ich ja mein Praktikum in der Finanzbuchhaltung.“ Die eigentliche Bedeutung ihrer Worte ging im Sirenengesang ihrer Stimme unter. Ein weiterer Baustein für die selbst erschaffene Illusion eines Fabelwesens von beeindruckender Perfektion.
„Dort wird es für eine angehende Ingenieurin wenig zu lernen geben.“, sagte Vogeler zu seiner Tochter.
„Ein wenig Finanzwissen kann auch einer Ingenieurin nicht schaden“, erwiderte die Göttin keck und allein der freche Tonfall gegenüber dem Allmächtigen ließ meine Begeisterung ins Unendliche wachsen.
„Deine Entscheidung. Dann brechen wir hier ab und begeben uns in die Buchhaltung. Herr Schumacher, bitte zeigen Sie uns Ihr Reich.“ Jetzt verschlug es Baumert endgültig die Sprache. Hatte er gerade noch die Möglichkeit gesehen, dank der Tochter des Teilhabers eine mehrwöchige Anus-Kriecherei zu zelebrieren, war sein Mittel zum Zweck offensichtlich abtrünnig geworden. Dass ich daran nicht ganz unschuldig war mit meiner Bemerkung zu den finanziellen Vorteilen über den Verwandtschaftsgrad zwischen Lieferanten und Kunde war einerseits Wunschdenken von mir und anderseits die feste Überzeugung von Baumert. Damit erhob er mich endgültig zum Todfeind auf Lebenszeit. Schumacher dagegen konnte sein vermeintliches Glück gar nicht fassen.
„Natürlich“, stammelte er und schaute mich panisch an. Der ungeplante Besuch in der Buchhaltung gefährdete den wochenlang ausgetüftelten Ablauf, der auf ein Minimum an Abweichungen ausgelegt war. Mit schlechtem Gewissen, nicht alles bedacht zu haben (vergleichbar nur mit einer unangemeldeten Steuerprüfung), fügte sich Schumacher in sein Schicksal. Er forderte den Besuch auf, ihm zu folgen.
Einer nach dem Anderen passierte meine ungewollt demütige Position nahe der Bürotür und als die weibliche Verwirrung an der Reihe war, trafen sich unsere Blicke. Nur ein kurzer Augenkontakt und ihr wissendes Lächeln, dass ich ihrem Fluch der natürlichen Schönheit verfallen war, verwandelte sich teilweise in Schadenfreude. Ich war Geisel meiner eigenen Hormone geworden, die allesamt ihre Antennen auf dieses langhaarige Naturwunder ausgerichtet hatten. Zu meinem Unglück zögerte sie nicht, unheilvolle Signale auszusenden.
Schumacher quasselte, als wir die Buchhaltung betraten. Es war weder Fachwissen noch hatte es irgendwelche relevante Substanz, was er da von sich gab. Worte von jemandem, der sich in die Enge getrieben fühlte und zur Ablenkung einfach drauf los redete.
Sie hatten ihn unvorbereitet erwischt. Dass er ausgerechnet heute bei einem unverfänglichen Treffen so in den Mittelpunkt geriet, überforderte ihn. Nie gab es Abweichungen vom Protokoll. Zu durchorganisiert waren die Termine der Leithammel von Pollmen-Industries. Gelegentlich eine Bemerkung über die reibungslose Funktion der Buchhaltung, mehr wollte er nicht beitragen zum üblichen Schaulaufen der Untergebenen.
Zu seinem Unglück war er übermütig geworden, indem er seiner Entschlossenheit gegenüber Missständen in der Abteilung vor der herrschenden Kaste hatte kundtun wollen. Ich hatte ihm unfreiwillig die Munition dazu geliefert und nun schien die ganze Sache zu einem Rohrkrepierer zu werden. Vielleicht blieb es ja nicht bei nur einem Todfeind am heutigen Tage.
„Herr von Talle, könnten Sie bitte kurz unser ERP-System erklären“, versuchte sich Schumacher, ein bisschen Luft zu verschaffen, in dem er Ernest mit einbezog. Er hoffte wohl mit der Überbetonung des „von“ in dessen Namens, ein wenig Aufmerksamkeit abzugeben.
„Als könnte ich das in fünf Minuten erklären“, erwiderte Ernest trocken und ließ Schumacher weiter verkrampfen.
„Fräulein Ewa Vogeler erwägt ein Praktikum in unserer Abteilung“, erklärte Schumacher gepresst. Der Name war ein weiterer Baustein ihrer Perfektion. Niemand Geringeres als die Frau aus dem Paradies würde dieses triste Büro erhellen.
„Das würde mal ein wenig Abwechslung in unsere Zahlenkolonnen bringen.“ Ernest war jetzt im Charmeur-Modus und trotz seines fortgeschrittenen Alters wirkte er nicht wie ein Lustgreis. Er wusste, wie er die Worte betonen musste, um Eindruck zu hinterlassen.
„Ernest …“, setzte Schumacher an und brach ab, als er merkte, dass in Anwesenheit der Alphatiere eine veränderte Etikette herrschte.
„Herr von Talle, bitte das ERP-System“, korrigierte er sich selbst.
Ernest meisterte die Sache souverän. Mit der Gelassenheit eines dreißig Jahre aktiven Buchhalters erklärte er der angehenden Praktikantin sogar die trockensten Abläufe als spannungsgeladene Aufgaben. Bestellvorgänge oder Inventarlisten, an sich durch Langeweile kaum zu überbietende Vorgänge des Rechnungswesens, wurden durch sein verbales Geschick zum verheißungsvollen Abenteuer. Er ignorierte die ihn umgebende Elite vollkommen und konzentrierte sich auf den persönlichen Kontakt mit seiner potenziellen Mitarbeiterin.
Für Schumacher blieb keine Zeit zum Durchatmen, da die verschmähte Ansammlung von Führungspersönlichkeiten sich erneut ihm zuwandte. Seine mangelnde Eloquenz schlug mit voller Härte durch, als er gebeten wurde, sein Reich so verständlich wie möglich zu erklären.
Das war der Moment, mich zurück auf meinen Stuhl zu zwängen und dem ganzen Treiben aus der Deckung meines Monitors zu folgen.
Da war Ursula Schawatzki, die es irgendwie hinbekommen hatte, ihre ohnehin steife Grundhaltung weiter zu perfektionieren. Mit gerecktem Hals und einer Brille, die allein zwanzig Jahre ihres fortgeschrittenen Alters ausmachte, erweckte sie den Eindruck eines kurzsichtigen Erdmännchens, das sofort Warntöne anschlagen würde, falls irgendwer unerlaubt einen Kugelschreiber mitgehen ließe. Ihr Blick verfolgte argwöhnisch jede kleine Bewegung und das Klicken ihrer Tastatur, über die die Finger hinwegsausten, bestätigte die weibliche Fähigkeit zum Multitasking.
An einem normalen Tag würde ich mir den Kopf zerbrechen, ob Ursula zusätzlich dazu die Rechnungen der vergangenen zwei Wochen alphabetisch ordnen konnte, aber heute waren die Umstände alles andere als normal. Dieses Mädchen stürzte in unseren Bürokäfig und versetzte einige der alteingesessenen Raubtiere in Alarmbereitschaft. Während bei Ernest und mir uneingeschränkte Zustimmung über die Erweiterung des Buchhaltungspersonals herrschte, zeigte die feminine Seite der Abteilung wenig Verständnis für die mögliche Verstärkung.
Für Mandy bedeutete das potenzielle Praktikum einen Angriff auf ihren unausgesprochenen Titel der Miss Buchhaltung und Ursula würde ihren Unmut über die zusätzliche Arbeitsbelastung durch das Anlernen von unkundigem Personal bis in alle Ewigkeit beklagen. Schumacher war nicht zu beneiden und die Tatsache, dass mein grauenvoller Montag hinsichtlich seiner Prognose der nächsten Wochen zu einem Festtag mutierte, gab mir eine gewisse Genugtuung, dass die Welt nicht frei von Gerechtigkeit war.
Ich war nun endlich wieder der Statist, der durch seine Anwesenheit das Gesamtkunstwerk mit dem Namen Buchhaltung zwar ergänzte, aber nicht mehr Aufmerksamkeit bekam als eine Büroklammer oder die Kaffeemaschine. Die Ereignisse der letzten halben Stunde überrollten meinen Geist und unterdrückten jegliche Form von Produktivität. Ich machte mich unsichtbar, lullte die Umgebung mit sinnlosem Klicken der Tastatur ein und starrte scheinbar geschäftig auf meinen Monitor.
Diese Illusion von Arbeit aufrechtzuerhalten, war in Anwesenheit dieses attraktiven Störfaktors ungemein schwer. Zum Glück fiel das dilettantische Manöver nicht weiter auf, denn sowohl Mandy als auch Ursula hatten ihre Antennen, die sonst jegliche Form von Ineffizienz gnadenlos detektierten, neu ausgerichtet. Obwohl das Fabelwesen noch keine fünf Minuten in dieser Bürohölle verbracht hatte und vollkommen unklar war, ob sie sich die Gewöhnlichkeit eines Praktikums überhaupt antun würde, hatte sie bereits verschiedene Instanzen von Pollmen-Industries verärgert. Die Kombination aus Perfektion im Aussehen und unbegrenztem Kreditlimit war der optimale Nährboden für Neid und diese aufkeimende Saat wurde von Mandy und Ursula in einem Gemeinschaftsprojekt gehegt und gepflegt.
Als ich mir sicher war, dass Mandy ihre volle Aufmerksamkeit auf potenzielle Schwachstellen ihrer zukünftigen Rivalin richtete und damit keinerlei Energie mehr für das Vorhalten meiner eigenen Verfehlungen zur Verfügung stand, wurde ich mutiger. Mein Blick wanderte immer öfter zu Ewa und als ich mir fünf Minuten lang ein Bild ihrer Bewegungen, ihres Lächelns, aber auch solcher Nebensächlichkeiten wie dem Fall ihres Haares gemacht hatte, kam ich zu dem Schluss, dass die Liebesgöttin persönlich zu uns herabgestiegen sein musste. In meiner Vorstellung war dieser Posten eigentlich mit einem langhaarigen Blondschopf in einer weißen Toga und mit elfenbeinblasser Haut besetzt, aber eine dunkelhaarige Schönheit mit stechend blauen Augen in einem schwarzen Kostüm war eine ebenbürtige Alternative.
Eine halbe Stunde herrschte geschäftiges Treiben in der sonst von Grabesstille ergriffenen Buchhaltung, die nur von den verschiedenen Klingeltönen der Telefone durchbrochen wurde. Schumacher wurde mit der Zeit souveräner und als er endlich zur gewohnten Form auflief, verließ der Besuch fast fluchtartig die Räumlichkeiten. Die streng getakteten Zeitpläne nötigten die Elite zum nächsten Termin. Einer nach dem anderen drängte sich durch die enge Bürotür und im verkrampften Lächeln meines Chefs konnte ich Erleichterung erkennen.
Das alles hatte keine Bedeutung für mich, denn ein wichtiger Moment stand unmittelbar bevor. Ich ließ das Objekt meiner Begierde keinen Augenblick aus den Augen. Lächelnd verabschiedete sie sich von Ernest und tatsächlich lieferte sie mir ein Signal, das meiner überzeugten Meinung nach keinerlei Zweifel zuließ.
Diese eine Nanosekunde, in der sie ihren Kopf in meine Richtung drehte, brachte mich zum Schweben. Ein kurzer, ungewollter Reflex, der sich als Abbild des Unterbewusstseins manifestierte und nur mit Verzögerung unterdrückt werden konnte. Viel zu oft war ich selbst Opfer dieser verfluchten Offenbarung uneingeschränkten Interesses am anderen Geschlecht geworden, von daher weiß ich um diesen verräterischen Umstand menschlichen Handelns.
Der Funke war also übergesprungen, doch ergab sich damit nicht zwangsweise die Möglichkeit eines lodernden Infernos. Peggy fungierte nicht nur aufgrund ihrer rotblonden Haare als Leidenschaft erstickender Feuerlöscher. Bei reichlicher Überlegung war mein derzeitiger Beziehungsstatus noch das geringste Problem, denn das Fischen im Teich der oberen Zehntausend (Ewa war da garantiert der Koi mit dem höchsten Restwert) konnte einem Schlimmeres als nur Paartherapie einbringen.
Ich beschloss, die Geschichte als „hätte, wäre, wenn“ meiner Fantasie zu überlassen und die ganze Sache neben den übrigen erträumten Abenteuern zu archivieren. Ein weiterer Konjunktiv für die Lagerfeuergeschichten eines gealterten Buchhalters, der sein Leben bei Pollmen-Industries verschwendet hatte. Wie falsch ich lag, konnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen, aber die kommenden Tage sollten mein Leben in ungeahnter Weise verändern.
Der Montag hatte also doch seinen Reiz gefunden und obwohl ich irgendwann in die Routine der grauen Arbeitswelt zurückfand, ging mir Ewa nicht vollständig aus dem Sinn. Nicht zum ersten Mal wurde mir auf diese Art und Weise der Kopf verdreht, aber dieses Mal erstaunte mich die Abweichung vom unerschütterlich geglaubten Beuteschema. Es gab eine Konstante bei meinen spärlichen Erfahrungen mit Frauen und das war ihre Haarfarbe. Dieses Mädchen erschütterte meine Grundsätze mit ihren langen, dunklen Haaren.
Nicht, dass ich Attraktivität nicht auch bei ihrer Art von Frauen zu schätzen wüsste, bisher allerdings gab es höchstens ein A- aufgrund falscher Farbwahl am Schopf. Die dunklen Abweichler von der blonden Norm schürten zwar Begierde, setzten aber kaum verwirrende Emotionen frei. Der heutige Tag warf dieses Naturgesetz über den Haufen und weckte berechtigte Zweifel an anderen Konstanten im Universum. Wer weiß, vielleicht wechselte der BVB-Fan Niklas Jakubowski als erster lebender Mensch ins Schalke-Lager oder die Schwerkraft stellte sich als gut gemachter PR-Gag der Physik-Lobby heraus. Durch diesen Zustand purer Verwirrung entglitten mir auferlegte Verpflichtungen, deren Konsequenzen mich als mittlerer Tsunami noch überrollen sollten. Wenigstens Baumert blieb mir für den Rest des Montags erspart und so begab ich mich früher als sonst auf den Heimweg, der traditionell zum Wochenanfang mit zwei Feierabendbieren begossen wurde.
Steffi war mein bester Freund. Was im ersten Augenblick nach weiblicher Bekanntschaft mit besonderen Vorzügen klang, stellte sich bei näherer Betrachtung als Bier liebender männlicher Kumpel und Fußballfan dar. Die Verniedlichung (für ihn war ich Nicki), die zugegebenermaßen an unserer sexuellen Ausrichtung zweifeln ließ, hatte ihren Ursprung in einem legendären Saufgelage. Wir hatten den Spaß über die Jahre beibehalten, aber mit zunehmendem Alter wurde die coole Darstellung der Verweiblichung unserer Vornamen immer problematischer und drohte, in Peinlichkeit umzukippen. Noch kaufte uns die Umgebung unsere extravagante Ausdrucksweise ab, aber spätestens mit den ersten grauen Haaren oder im Falle von Steffi mit dem Verlust seiner kompletten Haarpracht, sollten wir uns wohl Alternativbezeichnungen suchen. Steffi und Nicki trafen sich jeden zweiten Montag im „Madness“, um die Unzulänglichkeiten der Arbeitswelt und die Klippen monogamer Partnerschaften auszuwerten. Letzteres beschränkte sich ausschließlich auf mich, da Steffis Dogma sich an der Vielfältigkeit der Frauenwelt orientierte und damit im Gegensatz zu den Lehren einer erfüllten Beziehung stand.
„Was gibt’s Neues von Mandy?“, fragte Steffi. Ein Thema, das mit Regelmäßigkeit beim Warten auf das erste Bier zur Sprache kam. Verflucht sei der Montag, an dem wir an der Haltestelle auf Mandy und ihren Freund getroffen waren. Diese schicksalhafte Begegnung, die in meiner Erinnerung nicht länger als dreißig Sekunden gedauert haben konnte, hatte Steffi damals vollends um den Verstand gebracht. Eine zu kurze Zeitspanne, um das komplette Spektrum Mandy zu verstehen. Verhängnisvoll für jeden Mann, da ihre offensichtlichen Nachteile erst mit dem gesprochenen Wort so richtig zum Tragen kamen.
Ob ihre Herablassung, die sie eigentlich jedem fremden Kerl entgegenbrachte, Steffi von seiner Heiligsprechung abgebracht hätte, wagte ich zwar zu bezweifeln, aber wenigstens hätte es ein paar Kerben in dem Denkmal hinterlassen, das er sich aus den dreißig Sekunden erbaut hatte. Seine Fantasie war weit entfernt von der real existierenden Buchhalterin, die Selbstherrlichkeit zu ihrem Lebensmotto erkoren hatte. Obwohl ich immer wieder versuchte, ihn von diesem Fluch zu erlösen, konnte ihr böser Zauber nicht gebannt werden. Vermutlich würde nur eine Direktkonfrontation mit dem Übel zur Heilung führen, aber bis ich es schaffte die beiden für fünf Minuten in einen Raum zu bekommen, wiederholte sich das Ritual.
„Besonders zickig. Selbst für ihre Verhältnisse“, antwortete ich kurz, da es heute Wichtigeres gab als blonde Illusionen.
„Du weißt nur nicht, wie du mit solch speziellen Frauen umgehen musst. Die brauchen viel Verständnis und Hingabe.“
„Worte eines Frauenverstehers. Übersetzt heißt das Nachgeben und Energie aufbringen.“ Wir waren nun mittendrin in der Diskussion über Frauen und hatten noch nicht mal das erste Bier vor uns stehen.
„Das ist dein Problem. Du siehst es aus Sicht eines Mannes.“
„Ach so, und wie sollte ich es sehen?“, fragte ich schnippisch. Endlich kam das Bier und der erste Schluck war eine Erlösung.
„Es ist wie auf einer Jagd. Werde eins mit der Beute. Lerne zu denken wie sie“, vertrat Steffi konsequent seine Meinung. Er erinnerte mich an einen dieser Sitcom-Helden, der in jeder Folge seinem schüchternen Freund ungefragt die Regeln für effizientes Aufreißen aufdrängte. In absurdesten Situationen hatte dieser damit Erfolg, weil die Frauen aus dem Unterwäschekatalog nur den IQ einer Birne besaßen. Die Realität war weitaus komplexer, aber Steffis Ignoranz aller Naturgesetzte in Sachen Kontaktanbahnung schien trotzdem zu funktionieren.
„Aufschneider.“
Ich wollte die Diskussion beenden, da ich bei Abenteuern mit Frauen jedem Kerl gegenüber als Verlierer dastand. Meine Kapitulation veranlasste ihn zu einem extra fiesen Grinsen. Nicht zum ersten Mal überkam mich das Verlangen, meine Faust in seinem Gesicht zu versenken. Diese Überheblichkeit war unerträglich. Obwohl ich Steffi ein gewisses Talent im Umgang mit Frauen zugestehen musste, war ich mir sicher, dass Mandy ihn an seine Grenzen bringen würde. Egal, es wurde Zeit, das Gespräch auf andere Dinge zu lenken.
Das Thema Frauen war durch für diesen Abend und obwohl ich mit Ewa jede Menge Gesprächsstoff für drei weitere Runden Bier hätte bieten können, hielt ich mich zurück. Gegenüber den sexuellen Ansichten meines Freundes kamen mir die Wirrungen des heutigen Bürotages so furchtbar banal vor. Mein Pegel an Selbstvertrauen war tief im roten Bereich, während der von Steffi jegliche Skala zu sprengen schien. Es war eine Art Schutzfunktion meine Schwärmerei für Ewa durch dieses massive Ungleichgewicht nicht der Lächerlichkeit preiszugeben. So diskutierten wir den Rest des Abends lieber über fragwürdige Elfmeterentscheidungen vom Fußballwochenende. Wenigstens da befanden wir uns auf Augenhöhe.
In einer verhängnisvollen Mischung aus mangelndem Selbstvertrauen, verwirrenden Gefühlen und eindeutig zu viel Bier begab ich mich auf den Heimweg. Drei Voraussetzungen, die bei keiner Frau der Welt für Bonuspunkte sorgen würden, aber bei Peggy reichte allein der Alkohol. Meist kam ich mit einem Stirnrunzeln oder ein paar Anekdoten über schweren Alkoholmissbrauch davon. Der Schweregrad meines Ärgers korrelierte mit ihren eigenen negativen Erlebnissen des Arbeitstages. Heute kam die unbeantwortete Nachricht vom Vormittag hinzu, die ich aufgrund der Ereignisse zu beantworten komplett vergessen hatte. Der sprichwörtliche schwarze Montag steuerte auf sein großes Finale zu und wenngleich ich glaubte, die Auswirkungen längst erfasst zu haben, knallte mir Peggy eine Breitseite rein, die ich niemals hätte vorhersehen können.
„Hallo Schatz“, begrüßte sie mich in der Wohnungstür und gab mir einen flüchtigen Kuss auf die Lippen. Mein Geist weigerte sich, diesem Ritual auch nur einen Funken Aufmerksamkeit zu schenken. Die komplette Konzentration galt ihren Haaren und der auf den ersten Blick furchtbaren neuen Frisur.
„Und? Wie findest du es?“ Ein abwartendes Lächeln zierte ihr Gesicht. Eins von der Sorte, das nur eine Antwort erlaubte. Wahrheit war in diesem Moment nebensächlich. Jetzt zählte einzig und allein das Talent zur glaubhaften Improvisation.
„Ähem“, rutschte es mir raus, mit dem Ziel, Zeit zu gewinnen. Wie war das mit dem Alkohol und der verzögerten Reaktionszeit? Nur war ich hier nicht im Begriff, gegen einen Baum zu knallen. Was mich erwartete, war viel schlimmer.
„Interessant“, schob ich schnell hinterher. Ich hatte nicht das Gefühl, die Situation zu entspannen.
„Was soll denn das bedeuten?“ Ein erster Anflug von Unmut lag in ihrer Stimme.
„Schick.“ Endlich fand ich das richtige Wort, aber weder Zeitpunkt noch Überzeugungskraft passten.
„Dir gefällt es nicht.“
Damit war die Katze aus dem Sack. Ich musterte ihr Haupthaar und setzte einen möglichst neutralen Gesichtsausdruck auf. Ihre langen, rotblonden Haare, die herrlich wild fielen, wenn sie ihren Kopf bewegte, waren einem dunklen Kurzhaarschnitt gewichen, der ungleichmäßig geschnitten war. Während sich an der linken Seite ein Rasierer hatte austoben dürfen, war die rechte Seite länglich übers Ohr gekämmt. Eine pinkfarbene Strähne lag über ihrer Stirn und zog meinen Blick magisch an.
„Schick“, wiederholte ich mit einer ordentlichen Portion Hilflosigkeit in der Stimme, die am Wahrheitsgehalt der Aussage zweifeln ließ.
„Ich wollte mal was Flippiges. Die Friseurin meinte, das macht mich ein paar Jahre jünger“, rechtfertigte sich Peggy. Ich überlegte kurz, ob 23 wirklich ein dermaßen unerträgliches Alter für Frauen darstellte, konnte aber beim besten Willen keine Nachteile entdecken.
„Sag doch endlich mal was“, forderte sie mich erneut auf. Mein Verstand befand sich immer noch im Ausnahmezustand und in verhängnisvoller Kombination mit dem Alkohol fiel ihm nichts Besseres ein, als ein weiteres „Schick“ hinterherzuschicken. Keine Ahnung, ob es purer Überlebenswille war oder ein Rest an Vernunft, jedenfalls kam das Veto aus den Untiefen meines Unterbewusstseins noch rechtzeitig.
„Ich ... Ich …“, lallte ich und wollte so etwas, wie „bin begeistert“ anhängen, aber die Lüge schaffte es nicht über meine Lippen.
„Du hast getrunken.“ Mein erhoffter Rettungsring. Obwohl nicht wirklich schwimmfähig, konnte ich wenigstens den Untergang besser steuern. Mit der Cyberpunk-Frisur hatte sie mich unvorbereitet erwischt, aber meine vermeintlichen Alkoholexzesse gaben ständig Anlass zum Streit. Ein Schlachtfeld, auf dem ich mich auskannte. In der Hoffnung, das Haar-Debakel so weit zu umschiffen, bis ich wieder nüchtern war, lenkte ich sie mit den bekannten Streitigkeiten über den Alkohol ab.
„Ich trinke, wann ich will und wie viel ich will“, erwiderte ich nicht besonders kreativ, aber hier galt es keinen Preis für originelles Streiten zu gewinnen, sondern die Explosionskraft der Bombe mit dem Namen Peggy in die passende Richtung zu lenken.
Es ging ein paar Mal heftig hin und her und am Ende ließ sie mich trotzig stehen. Ich schleppte mich mit der Ungewissheit über den Ausgang unseres Streits ins Badezimmer, und als mich mein eigenes mitleiderregendes Spiegelbild empfing, erkannte ich die Routine meiner Schuld. Wie immer würde ich morgen ein paar Entschuldigungen heucheln und mindestens ein Dutzend Treueschwüre ablegen, die eine abstinente Beziehung garantieren sollten. Wenn das alles überzeugend genug wirkte, würde Peggy nach einigen Komplimenten über ihre neue Frisur den offiziellen Waffenstillstand verkünden.
Dann würde sie mich den ganzen Tag schmoren lassen, bis sie sicher war, dass sie den letzten Tropfen rebellischen Testosterons aus mir herausgequetscht hatte. Mein jämmerliches Ich aus dem Spiegeluniversum verriet mir, dass der Tank ohnehin auf Reserve lief. Im Laufe des Mittwochs würde irgendwann die Versöhnung anstehen und am Abend gab es vielleicht mehr als den üblichen Standardsex. Das Äffchen bekam sein Stück Zucker, weil es seine Zirkuslektion gelernt hatte. Steffi kam mir in den Sinn. Den dressierte niemand. Neid erfasste mich und vervollständigte meinen elendigen Zustand. Ein würdiger Abschluss für den Alle-gegen-Niklas-Montag.
Die Hoffnung, mein Selbstvertrauen durch eine ordentliche Portion Schlaf aufzuladen, erfüllte sich nicht. Meine Nacht war unruhig, denn Peggy, Steffi und Ewa sorgten in meinen Träumen dafür, dass ich die Ereignisse des Tages frisch in Erinnerung behielt. Es war grausam. Eine unheilvolle Allianz der drei raubte mir den Schlaf. Wechselten sie sich anfangs noch ab in dem Bemühen mich wachzuhalten, bildeten sie gegen Morgen eine Art Schimäre, wie sie Dr. Moreau nicht besser hätte erschaffen können. Vollkommen erschlagen kämpfte ich mich am Dienstagmorgen durch die übliche Aufstehroutine, bis ich wieder in der Buchhaltung von Pollmen-Industries saß, um meinen Beitrag zum Bruttosozialprodukt zu leisten. Ich wollte gerade anfangen mit den Zahlen zu jonglieren, als Schumacher die komplette Abteilung in den Konferenzraum „Lilie“ zitierte.
„Guten Morgen“, eröffnete er das Treffen nervös. Offenbar hatte er den gestrigen Tag genauso schlecht verarbeitet wie ich. Er begann mit den üblichen Floskeln, die irgendwo im Handbuch für gutes Management oder der Bibel für freundliche Personalführung in dem Kapitel „Wie gestalte ich ein Meeting“ hinterlegt waren. Mein Gehirn blendete dieses einleitende Geschwafel meistens aus und ging der Ergründung solch banaler Sachen auf den Grund, warum man die Konferenzräume nach Blumen benannt hatte, ohne die Mutter aller Blumen, die Rose, zu berücksichtigen. Neben „Lilie“ gab es, „Tulpe“, „Orchidee“ und sogar „Löwenzahn“.
Warum zum Teufel gab es ... Der Gedanke ging unter, denn plötzlich war jegliche Langeweile aus Schumachers Stimme verschwunden. Als hätte das Fernsehprogramm von Politdebatte auf Actionfilm gewechselt, wurde ich in seinen Bann gezogen.
„... bevor Gerüchte aufkommen“, bekam ich noch mit. Verdammte Rose! Ich hatte den interessanten Teil des Satzes verpasst und war nun gezwungen, aus den Reaktionen der Kollegen meine Schlüsse zu ziehen. Ursulas Gesichtsausdruck zeigte die übliche Empörung und war kein geeigneter Gradmesser für die Bewertung der eigentlichen Aussage. Ich schaute hinüber zu Ernest, der immer eine positive Grundstimmung an den Tag legte. Die Sorge in seiner Mimik machte mir die Tragweite der verpassten Mitteilung klar.
„Und was heißt das für uns?“, fragte Mandy nicht weniger besorgt.
„Durch die Übernahme erhofft sich die Gropius AG gewisse Synergie-Effekte im gemeinsamen Markt“, erklärte Schumacher kryptisch. Jetzt endlich offenbarte sich mir der relevante Teil der verpassten Botschaft. Offenbar wurde die Firma von einem größeren Konkurrenten übernommen.
„Ich kann mir schon vorstellen wie diese Effekte aussehen“, murmelte Ernest und sprach das aus, was alle umtrieb. Der genaue Sinn des Wortes Synergie-Effekt war mir nicht vollkommen klar, aber für alle Anwesenden klang es nach einem Synonym für Personaleinsparung.
„Was heißt das jetzt genau für uns?“, hakte Mandy hartnäckig nach.
„Erst mal nichts. Alles geht seinen gewohnten Gang.“ Schumacher hatte offensichtlich im Handbuch für freundliche Personalführung das Kapitel über Ängste durch mögliche Kündigungen überlesen. Sein nervöses Auftreten versprühte die Glaubwürdigkeit eines Politikers am Wahlabend, der trotz eines Debakels der ersten Hochrechnung von einem gelungenen Wahlkampf sprach. Sich dieses Makels bewusst, versuchte er sich in weiteren Parolen, die die Situation nicht wirklich entspannten. Wie immer diese Synergie-Effekte am Ende aussahen, seine eigenen Ambitionen auf die finanzielle Geschäftsführung hatten gerade einen gewaltigen Dämpfer bekommen. „Lilie“ wurde zur Bühne verschiedener beruflicher Unsicherheiten, die ordentlich Kopfkino bei den einzelnen Protagonisten verursachten.
Meine persönliche Sorge hielt sich in Grenzen, immerhin hatte ich den unschlagbaren Vorteil meines Alters. Zu viele andere Pollmens dort draußen gierten nach jungen Talenten der Zahlenkunde, als dass ich wirklich Befürchtungen haben musste, meine Dienste nie wieder ausüben zu müssen.
Ganz anders sah es bei Ursula aus. Ihr war der Schrecken förmlich ins Gesicht gemeißelt. Meine jugendliche Naivität gaukelte mir eine Parallelwelt jenseits der Buchhaltung vor, die voll war von unendlichen Möglichkeiten, die ich noch nicht genau definieren konnte. Irgendwann würde ich den Mut aufbringen und in dieses Paradies eintauchen. Bis dahin diente es als mentaler Gegenpol für all die nervigen Facetten der Arbeitswelt. Für Ursula dagegen war die Routine einer Buchhalterin zum einzigen Lebenszweck verkommen, und der drohte ihr gerade entzogen zu werden. Sollten in ihrem Verstand ähnliche Fantasien zu verlockenden Alternativen existiert haben, waren sie über die Jahre dermaßen verschlissen, dass am Ende nur Reue wegen verpasster Chancen übrig blieb. Wieder drängte sich mir ein Vergleich zu meiner eigenen persönlichen Zukunft auf. Ich durfte keine zweite Ursula werden. Auch wenn die reine Biologie dagegensprach, drohte mir die Lethargie eines selbstzufriedenen, trägen und satten Buchhalters/ Controllers, der seinen Selbstwert über seinen finanziellen Status definierte.
Der Weg zurück ins Büro glich einem Trauermarsch. Beerdigt wurde vorerst nur die Motivation, die an diesem Tag einen historischen Tiefststand verzeichnen sollte. Im Angesicht der drohenden Katastrophe, die in ihrer bisherigen Unbestimmtheit zu viel Raum für schlimme Fantasien zuließ, sprach niemand ein Wort und der Tritt war unüblich langsam. Ich vernahm einen Seufzer, als die gesamte Abteilung sich wortlos in ihren Bürosesseln niederließ, um das vertraute Klick-Klack der Tastatur wiederaufzunehmen. Mein Blick blieb an Mandy hängen, deren sorgenvolle Mine jeden einzelnen Aktenordner mit Wehmut zu bedenken schien, so als würde sie heute zum letzten Mal eine Rechnung abheften. Mit einer gewissen Genugtuung stellte ich fest, dass sie viel anfälliger für eine Ursularisierung ihres zukünftigen Lebenslaufes war als ich.
Ich hatte Post von der Personalabteilung in meinem elektronischen Postfach und für einen Moment befürchtete ich, dass die Nachricht mit den Worten „zu unserem Bedauern müssen wir Ihnen mitteilen“ begann. Die Ereignisse in Lilie hatten ihre Spuren hinterlassen. Ich zwang mich zur Entspannung, denn Pollmen-Industries war nicht für schnelles entschlussfreudiges Handeln bekannt und so öffnete ich die Nachricht mit der üblichen Routine. Formell wurde uns mitgeteilt, dass zum Ersten Tag des kommenden Monats Frau Ewa Vogeler ein Praktikum in der Buchhaltung absolvieren würde.
Damit zündete die zweite Bombe innerhalb des von langweiligem Alltag bestimmten Verstandes von Niklas Jakubowski und strapazierte die ereignisarm geprägte Psyche gewaltig. Verdammt. Ich hatte den emotionalen Tsunami des Vortages noch nicht vollständig verdaut. Nun überrollte mich die nächste Welle mit der Ankündigung, dass ich längere Zeit Land unter sein würde. Im Spektrum der Gefühle wechselten sich Vorfreude und Angst im Sekundentakt ab. So musste sich Schizophrenie anfüllen, denn da gab es nicht nur den kleinen, schüchternen Niklas, der sich über die attraktive Verstärkung freute. Nein, er konkurrierte mit dem egomanischen Niklas, der seine Pfauenfedern aufplusterte, um der ganzen Welt mitzuteilen, dass es da ein Mädchen gab, das nur für ihn dieses Praktikum in der langweiligsten Abteilung der Firma absolvieren wollte. In diesem gigantischen Schatten ging der warnende Niklas fast unter, aber eine letzte Warnung katapultierte ihn in den Vordergrund. Peggy.
Das Bild in meinem Kopf sorgte für Ordnung. Wie ein Feldwebel, der nur einen einzigen prägnanten Befehl brüllte, richteten sich all die chaotischen Gedanken in meinem Verstand nach Peggys Abbild aus. Ich ignorierte das Gefühl unterdrückter Männlichkeit und versuchte, mit Logik die kommenden Wochen zu skizzieren. Vergeblich. Ich kapitulierte vor den vielen Variablen, die eine Vorhersage unmöglich machten. Wie sollte ich die nächste Zeit überleben, wenn ich stundenlang dem Gesang einer dunkelhaarigen Sirene ausgesetzt sein würde? Und dann kam auch noch die Ungewissheit über meine Arbeitsstelle hinzu. Dieses verdammte Großraumbüro entwickelte sich mehr und mehr zu meinem persönlichen Martyrium.
Mandys Gesichtsausdruck verfinsterte sich hinter ihrem Monitor und trotz meiner beschränkten Auffassungsgabe bei der Einschätzung von Frauen, gab es nur eine Schlussfolgerung. Sie hatte ebenfalls die Nachricht über die zukünftige Praktikantin gelesen und schien wenig begeistert. Auch wenn ihre Motive grundsätzlich anderer Natur waren als bei mir, ordnete sie die Neuigkeit ähnlich verstörend ein wie ich. Im Gegensatz zu mir gab es bei Mandy keine verschiedenen Persönlichkeiten, die um die Deutungshoheit in ihrem Geist rangen. Die selbstgerechte Mandy hatte ihr vernichtendes Urteil gefällt, bevor Ewa überhaupt einen einzigen Nachweis über ihre Eignung als künftige Finanzfachkraft erbracht hatte. Ein Komet namens Ewa drohte in dieses Büro einzuschlagen und ängstigte alle Insassen in ihrem eingefahrenen Trott.
Ursula kämpfte weiterhin mit den Nachwirkungen von Schumachers dilettantisch verkündeten Neuigkeiten. Sie gab sich alle Mühe, souverän zu wirken, aber die Fassade zeigte nach über dreißig Jahren Buchhaltung erstmals erkennbare Risse. Ein ungewohntes Gefühl regte sich in mir, das ich höchstens mal für ein Waisenkind im Sudan oder einen Veteranen im Rollstuhl aufbrachte: aufrichtiges Mitleid. Mit einem geistigen Handstreich verscheuchte ich den ungebetenen Gast in meinem Kopf und widmete mich wieder meinen eigenen Problemen. Die Arbeitswelt war ein Haifischbecken und Ursula hatte sich schon öfter als eins der bissigsten Raubtiere im Bassin hervorgetan. Nun drohte sie selbst zum Futter zu verkommen. Trotzdem wollte sich keine Schadenfreude bei mir einstellen.
Die Müdigkeit machte mir weiter zu schaffen. Sie beschränkte nicht nur meine Tatkraft, sondern verschlechterte auch meine Laune. Ich ertappte mich dabei, wie ich Mandy anfuhr, die offenbar auf der Suche nach einem eigenen Ventil mich als bevorzugtes Opfer auserkoren hatte. Unsere negativen Energien kollidierten. Normalerweise konterte ich ihre Attacken mit einer süffisanten Bemerkung, die bei genauerer Betrachtung in den Graubereich weiblicher Diskriminierung ragte. Heute verweigerten meine grauen Zellen eine kreative Erwiderung, sodass ich ihr nur rüde über den Mund fuhr. Diese doch ruppige Variante unseres eigentlich harmlosen Rituals schockierte uns beide und so schlossen wir einen unausgesprochenen Waffenstillstand und mieden uns für den Rest des Tages vehementer als üblich.
Der Tag zog sich wie Honig. Das gut geschmierte Getriebe in der Maschine namens Buchhaltung schien ins Stocken zu geraten. Das morgendliche Treffen in der „Lilie“ hatte in allen Zweifel an der Sinnhaftigkeit ihres Tuns hervorgerufen. Unglaublich, wie sehr eine ungewisse berufliche Perspektive die Motivation lähmt. Die konzentrierten Abläufe einer halbwegs effizienten Abteilung vertragen keine Abweichung vom einstudierten Alltag. Es fiel mir schwer, das über die Jahre antrainierte Jonglieren der Zahlen mit der üblichen Routine an diesem Tag produktiv durchzuziehen.
Das Gedankenpendel schwang immer wieder Richtung Arbeitsplatzverlust, was zur Folge hatte, dass ich eine extra Portion Konzentration benötigte, um mich auf die einfachsten Aufgaben zu fokussieren. Dieser zusätzliche Energiefresser brachte mich an den Rand eines Wachkomas und als ich zum Feierabend zehn Minuten früher als sonst das Büro verließ (was normalerweise von Ursula auf ihrer mentalen Strichliste peinlichst vermerkt wurde), fiel ich in ein geistiges Loch.
Der Autopilot hatte die Kontrolle übernommen und das Schlimme war, dass ich ihm dafür unendlich dankbar war. Genau so musste sich Dummheit anfühlen. Mit der Seligkeit eines Hauptschülers, der froh war, dem kleinen Einmaleins zu entkommen, wandelte ich Richtung S-Bahn. Jede Sekunde Entspannung war kostbar, denn neue Herausforderungen warteten bereits auf mich.
Wieder manifestierte sich Peggys Bild in meinem Kopf und zu meiner Überraschung dominierte das schlechte Gewissen wegen der zukünftigen Zusammenarbeit mit der Femme fatale gegenüber der drohenden Arbeitslosigkeit. Hinzu kam der Streit des Vortages, der einer Aufarbeitung bedurfte, und da die Schuld gewohnheitsgemäß bei mir lag, fiel mir der Hauptteil der Arbeit zu. Der stressige Teil lag also noch vor mir.
Wie üblich erreichte ich die Wohnung eine halbe Stunde eher als Peggy. In der Regel genoss ich die paar Minuten, die ich allein mit Niklas Jakubowski verbringen durfte, aber heute wollte sich die Entspannung nicht so recht einstellen. Die Couch schickte Wellen der Verführung in meine Richtung und obwohl der Drang nach Schlaf gerade alles andere in meinem Inneren mit niedriger Priorität versah, widerstand ich der Verlockung. Eine Dosis Schlaf würde meinen trägen Zustand nur verschlimmern, also entschied ich mich für das Gegenteil meiner vorherrschenden Triebe.
Ich machte Kaffee mit einer ordentlichen Überdosis an Koffein und mein Verstand begann damit, die üblichen Entschuldigungsfloskeln an den gestrigen Streit anzupassen. Ich goss gerade hoffnungsfroh das Heißgetränk in eine Tasse mit der Aufschrift „Beste Freundin der Welt“, als ich die Haustür hörte. Warum zum Teufel forderte das schlechte Gewissen wieder erhöhte Aufmerksamkeit? Es gab keinerlei Taten die einem Verrat an unserer Beziehung entsprachen, also setzte ich ein gequältes Lächeln auf, als Peggy im Rahmen der Küchentür erschien.
„Hallo Schatz“, säuselte sie und gab mir einen flüchtigen Kuss.
„Was ist los?“, fragte sie nach einem kurzen Moment mit ungläubiger Miene.
Offenbar legte sie keinen großen Wert auf ein kreatives Schuldeingeständnis meines gestrigen Alkoholkonsums. Mir stand es ins Gesicht geschrieben, dass mich weitaus wichtigere Dinge beschäftigten. Mein schauspielerisches Talent war ohnehin bescheiden, aber in Gegenwart von Peggy war ich praktisch chancenlos im Verbergen von Unwohlsein. Mein Blick wanderte aus Verlegenheit zu ihrer angeblich verjüngenden Frisur.
„Nichts“, sagte ich mit der Überzeugung eines Erstklässlers nach seinem ersten Schultag.
„Mir müssen noch einkaufen“, floh sie sich in etwas Banales.
Offenbar war ich unbewusst auf einen Notausgang gestoßen. Mein Unvermögen ihre verhunzte Haarpracht zu ignorieren, hatte bei ihr zu falschen Schlüssen geführt. Es war nicht auszuschließen, dass sie im Laufe des Tages weitere negative Reaktionen bekommen hatte und am Ende einsehen musste, einen modischen Fauxpas begangen zu haben. Das würde sie nie zugeben, von daher war es für sie höchste Priorität, dieses Thema zu meiden.
Das Missverständnis hatte einen angenehmen Nebeneffekt. Meine eigenen kleinen Unannehmlichkeiten wurden zurückgestellt, was mir unverhofft etwas Luft verschaffte. So hatte die haarige Katastrophe ihre Vorteile und bescherte mir einen zukünftigen Joker, der zwar nicht beliebig einsetzbar war, aber in der einen oder anderen Situation vielleicht hilfreich sein könnte. Ein einziger Blick auf ihr Haupt und schon hatte ich sie buchstäblich am Schopfe.
Der nächste Morgen folgte im tristen Ablauf den vorangegangen beiden Tagen der Arbeitswoche. Dunkle Wolken färbten die Umgebung unangenehm grau und verhinderten, dass die Sonne ihre ohnehin spärlichen Strahlen zur Menschheit schicken konnte. Wieder begab ich mich unter die Herde der Arbeitstiere, wobei die Straßenbahn heute als außergewöhnlich schlecht riechender Einstieg in den Tag fungierte. Ich schaute in die gewohnten Gesichter, die diesen Morgen allesamt eine ungewöhnliche Abweichung aufwiesen. Peinlich berührter Ekel. Das Verlangen nach frischer Luft oder wenigstens einem Duftbäumchen war ihnen deutlich anzumerken und als ich mich umschaute, erblickte ich die vermeintliche Quelle ihrer geruchlichen Abneigung.
Die wenigen Zähne, die abgenutzte Kleidung, aber vor allen Dingen das leise Gemurmel, das das kleine Männlein für eine gepolsterte Zelle qualifizierte, machten ihn zum idealen Objekt, das eigene Selbstwertgefühl durch Empörung zu erhöhen. Normalerweise reihte ich mich ein in die Gesellschaft der überlegenen Gutverdiener, die diese Gelegenheit ausgiebig nutzten, die Verlierer unseres Systems mit gebührender Abneigung moralisch zu verurteilen.
Heute wollte sich das gute Gefühl auf der Sonnenseite des Lebens zu stehen, nicht so recht einstellen. Es war Mittwoch und für gewöhnlich war das der Tag, an dem die sonst spärlichen Gedanken ans kommende Wochenende konkreter wurden. Erste wiederkehrende Rituale nährten das zarte Pflänzchen und ließen es während der nächsten beiden Tage zur Vollkommenheit reifen. Der Schnitzeltag in der Kantine war ein Baustein dazu, die Laune zu bessern, aber viel wichtiger war der planmäßige Beischlaf mit Peggy, der in unausgesprochener Vereinbarung auf die Uhrzeit zwischen neun und zehn Uhr abends festgelegt war. Auch wenn ihre neue Haarpracht das Vergnügen deutlich minderte, war das Verlangen doch sehr ausgeprägt. Trotz all dieser ersten Vorboten des nahenden Wochenendes kam bei mir keine wirkliche Vorfreude auf. Verdammt. Diese dunkelhaarige Schönheit vom Montag ging mir nicht mehr aus dem Kopf und blockierte sogar liebgewonnene Rituale.
Die Stechuhr piepte und bestätigte ganz offiziell, dass ich für die nächsten acht Stunden Eigentum der Firma Pollmen-Industries war. Dieses verheerende Verhältnis nutzte Baumert schamlos aus und bevor ich in die Nähe meiner persönlichen Sklavengaleere kam, die auf den langweiligen Namen Buchhaltung getauft war, fing er mich ab. Er wollte den angestauten Ärger vom Montag endlich abladen. Vermutlich hatte er den ganzen Dienstag damit verbracht, sich demütigende Strafpredigten auszudenken, aber mit dem Verlust des Zornes über mein angeblich rebellisches Verhalten brachte er nur wenig passende Phrasen heraus, die jegliche Authentizität vermissen ließen. Wenig kreativ versuchte er, mir mein Fehlverhalten aufzuzeigen, das bei strengerer Prüfung nie als solches anerkannt werden würde. Ich erwiderte nicht weniger phrasenhaft ein paar verlogene Entschuldigungen und zu meiner Überraschung brachte ich sie trotz fehlendem Schauspieltalent sogar glaubhaft rüber. Mit einiger Verspätung gelangte ich endlich in die Buchhaltung.
Ich ignorierte Ursulas missbilligenden Blick, der mir meine mangelhafte Moral in Sachen Pünktlichkeit vorwarf, ließ mich in meinen Sessel fallen und startete den Rechner. Erneut hatte ich eine Nachricht der Personalabteilung in meinem elektronischen Postfach. Die verkündete mir, dass die Frau mit dem biblischen Namen ihr Praktikum zwei Wochen eher begann. Verdammt noch mal. Ließ man mir denn gar keine Zeit mehr zum Durchatmen? Schon nächsten Montag sollte das Verhängnis seinen Lauf nehmen. Das waren keine drei Werktage bis zur Apokalypse.
Die Aufregung hielt dieses Mal nicht lange vor und mit der Abgestumpftheit eines Leichenbeschauers, der zu viele Tote gesehen hatte, stürzte ich mich in die Arbeit. Das kleine Männchen in meinem Kopf, das in den letzten Tagen mehrfach den Panikknopf gedrückt hatte und meinen Geist in Ausnahmezustand versetzt hatte, brachte ich mit einer gesunden Portion Ignoranz erfolgreich zum Schweigen. Das Chaos in meinem Verstand konnte gebändigt werden und der gefestigte Niklas Jakubowski übernahm den Steuerknüppel. Ewa versuchte zwar öfter die selbstgeschaffene Ordnung zu erschüttern, indem sie sich mit idealisiertem Aussehen regelmäßig in den Vordergrund schob, aber vergebens. Ich blieb auf Kurs und erfüllte mein Arbeitspensum erwartungsgerecht. Die Alltagsroutine war zurück.
Punkt zwölf ging es in die Kantine und ich bestellte wie jeden Mittwoch ein Schnitzel mit extra viel Pommes. Die kleinen Sticheleien von Mandy, die im Durchschnitt zwei, drei Ermahnungen von Ursula und die zahlreichen verwegenen Kommentare von Ernest gaukelten eine heile Buchhalterwelt vor, die vollkommen frei war von Erschütterungen mit dunklen Haaren. Ich wusste, dass spätestens nächste Woche dieses Luftschloss platzen würde. Trotzdem gab ich mich der Illusion des gewohnten Alltags hin, der berechenbar und bis in alle Ewigkeit andauern würde.
Ich floh vor der zu erwartenden Katastrophe in mein eigenes kleines Refugium, das heute eine besonders abwegige Variante eines alternativen Schicksals hervorbrachte. Obwohl ich kaum Bücher las, sah ich mich berühmte Romane schreiben, die Ausdruck meiner ausschweifenden Fantasien waren. Auf Lesungen genoss ich die Verehrung meiner Fans, die reihenweise um signierte Bücher bettelten. Dieses unwahrscheinliche Szenario eines neuen Fitzeks oder sogar eines Stephen Kings, verdeutlichte mir das Elend meiner derzeitigen Berufswahl und trieb mich gewohnheitsmäßig in die Frustration. Dort draußen boten sich tausend bessere Möglichkeiten und ich tippte trotzdem weiter Rechnungsbeträge in einen Computer. Diese Erkenntnis schloss den Kreislauf aus Büroroutine, Fantasie und Desillusion, der sich scheinbar unendlich oft zu wiederholen schien.
Mit der Seligkeit, den langweiligen Alltag zurück erschwindelt zu haben, begab ich mich pünktlich zum Feierabend auf den Nachhauseweg. Ewas erfolglose Versuche dieses Gleichgewicht aus dem Tritt zu bringen ließen nach und tatsächlich schaffte ich es meinen Geist vollends vor ihren Angriffen zu schützen. Solange es keine Abweichungen vom Drehbuch meines berechenbaren Mittwochabends gab, befand ich mich in trügerischer Sicherheit. Ich betrat die Wohnung und wurde von einer aufgelösten Peggy empfangen. Spätestens jetzt war meine kognitive Dissonanz nicht mehr aufrechtzuerhalten.
„Wir müssen reden“, kam es sofort ohne jegliche Begrüßung. Drei Worte, die jeden Mann automatisch in Verteidigungsstellung brachten.
„Sag mir die Wahrheit. Findest du meine Frisur schrecklich?“, fragte sie dann.
„Äh. Nein“, stammelte ich. Da hätte sie auch fragen können, ob sie zugenommen hatte. Es gab keine Antwort, die mich in dieser Situation hätte retten können.
„Du kannst ruhig die Wahrheit sagen“, versprach sie, um mich in eine trügerische Falle zu locken.
„Na ja, ich …“ Ich brach ab, als sich Peggys Miene bei diesen harmlosen Worten zu verfinstern begann. Es gab kein Zurück mehr. Egal, was ich jetzt sagte, Peggy hatte den wahren Kern der Botschaft bereits erfasst.
„Du hasst sie?“, fragte sie mit verquollenen Augen.
„Hassen ist nicht das richtige Wort“, relativierte ich. Jetzt gab es kein Halten mehr. Die Schleusen in ihren Augen waren weit geöffnet.
„Es sind doch nur Haare und kein Krebs.“ Meine Bemühungen einer Entschärfung der Situation wurden erwartungsgemäß zum Rohrkrepierer. Ihr Blick machte mir unmissverständlich klar, dass die letzten Worte das Gegenteil von dem waren, das sie hatte hören wollen.
„Na gut, ich finde sie schrecklich“, platzte es undiplomatisch aus mir heraus. Unwillkürlich ging ich in Deckung, denn selbst ich musste einsehen, dass eine Ohrfeige in diesem Moment nicht ganz unangebracht wäre. Peggy verzichtete auf physische Gewalt. Vorerst jedenfalls. Stattdessen verließ sie unter einem Sturzbach an Tränen die Küche. Die ganze Szenerie erinnerte mich an einen dieser Rosamunde-Pilcher-Filme, die in ihrer Einfachheit unübertrefflich waren. Der Protagonist war dazu verpflichtet, möglichst kreativ seinen Fauxpas wiedergutzumachen, damit nach 90 Minuten Herzschmerz der Versöhnungskuss ein glückliches und vorhersehbares Ende offenbarte. Die verdammte Realität war weitaus komplizierter als diese klischeebeladenen Frauenfilme, in denen der ideale Mann Ähnlichkeit mit einem Eunuchen hatte.
Ich wollte nicht zu Kreuze kriechen, weil ich eine unangenehme Wahrheit ausgesprochen hatte. Mein rebellisches Testosteron, das definitiv durch Ewa angeheizt wurde, gewann heute die Oberhand gegenüber dem pflichtbewussten Niklas. Letzterer würde reuig eine stümperhafte Entschuldigung heucheln, dann irgendwas Verlogenes über Haare säuseln und brav auf Versöhnungssex hoffen. Aber nicht heute. In einem ungewöhnlichen Anfall von unangebrachtem Wagemut verweigerte ich Peggy die Unterstützung und verließ wütend die Wohnung. Sie hatte sich ohne Rücksprache diesen verrückten Haarschnitt zugelegt, der jedem in ihrer Umgebung ein ungläubiges Kopfschütteln abrang. Nun sollte ich dieses selbstgeschaffene Elend mit dem geschrumpften Rest meiner Männlichkeit ausgleichen, indem ich ihr tagelang in falscher Überzeugung das Fiasko schönredete. Niemals! Heute Abend würde Niklas Jakubowski erstmals Rückgrat zeigen. Auf der Straße fielen die ersten Regentropfen auf meine Stirn. Ich weiß nicht, warum, aber irgendwie fühlten sich meine Zeugungsorgane heute viel schwerer an. So musste sich James Bond fühlen, nachdem er sich den Weg durch ein Dutzend übermächtiger Feinde freigeschossen hatte, um am Ende das Bondgirl zu freien.
Was nun? Dieser ungewöhnliche Schub an Männlichkeit führte mich unweigerlich zu Steffi und als ich eine halbe Stunde später an seiner Türe klingelte, öffnete ein sichtlich überraschter Freund. Er bat mich herein und der unverkennbare Charme einer Junggesellenwohnung stieg mir in die Nase. Während ich überlegte, welche Mahlzeit diesen seltsam süßlichen Geruch erzeugt haben mochte, fiel mir das Chaos ins Auge: eine unfassbare Menge Papier, Flaschen und Geschirr stapelten sich um einen Laptop. Bei meinen bisherigen Besuchen, die durch weniger Spontanität geprägt gewesen waren, hatte ich immer eine für männliche Verhältnisse saubere Zweiraum-Wohnung vorgefunden. Offenbar benötigte Steffi eine gewisse Vorlaufzeit, um den Schein eines anständigen Bewohners zu erzeugen.
„Komm rein“, sagte er kurz. Offensichtlich war ihm mein Besuch unangenehm.
„Ich habe Krach mit Peggy“, rechtfertigte ich mich für meinen Überfall. Damit fütterte ich seine Überzeugung, dass das Singleleben die einzig wahre Option für echte Männer war. Mit einem wohlfeilen Lächeln schloss er die Tür hinter mir.
„Was ist denn passiert?“, fragte er in einem Tonfall, der eigentlich meinte: „Wusste ich doch schon immer, dass du arm dran bist.“
„Sie hat Mist gebaut und ich bin der Böse“, erklärte ich wenig vielsagend.
„Weiber“, bestätigte er seufzend und reichte mir ein Bier. Ich zögerte mit dem Zugreifen. Peggy und Alkohol im Atem war eine Kombination, die mich regelmäßig in Schwierigkeiten brachte. Andererseits, konnte es noch schlimmer kommen? Ich schaute in Steffis Gesicht, das mich als Pantoffelheld zu verspotten schien. Zum zweiten Mal an diesem Abend rebellierte ich gegen die eingeschliffene Unterwürfigkeit und griff zu.
„Hierher schleppst du deine Frauen ab?“, fragte ich ketzerisch. Ich wollte weg von meinen Beziehungsproblemen, die mich gegenüber Steffis Aufreißerqualitäten als extrem minderwertig erscheinen ließen.
„Nein. Frauen mögen eine gewohnte Umgebung, also gehen wir meist zu ihr“, erwiderte er überheblich, um seine Überlegenheit im Umgang mit dem anderen Geschlecht zu demonstrieren. Mir kamen erste Zweifel, ob es eine gute Idee war, in Frauendingen ausgerechnet Steffi aufzusuchen. Ähnlich wie bei meinem Dilemma mit Ewa ein paar Tage zuvor verzichtete ich auf weitere Details und wir gaben uns banaleren Dingen wie Fußball oder Computertechnik hin. Bei Letzterem diskutierten wir fast zwei Stunden, ob nun Playstation oder X-Box die bessere Wahl war. Bei diesen tiefgründigen Fragen der Menschheit überschritt ich meine übliche Verträglichkeit an Alkohol und als ich gegen elf vor der heimischen Wohnungstür stand, begann sich meine Umgebung in erschreckendem Ausmaß zu drehen.
„Verdammt noch mal, du bist ein Kerl und die trinken nun mal viel“, tönte es irgendwo aus den vernebelten Tiefen meines Verstandes und erdrückte damit den üblichen Reflex, vor Peggy in Buckelstellung zu verfallen. Theatralisch schob ich meine Brust raus, kramte nach meinem Schlüssel und beim dritten Versuch traf ich das schwankende Schlüsselloch.
Der Flur war dunkel und erst nachdem ich ein paar Mal vergeblich versucht hatte meine Jacke aufzuhängen, kam mir buchstäblich die Erleuchtung, dass Licht meine Chancen erheblich verbessern würde, den Kleiderhaken zu treffen. Ich verpasste dem Schalter einen männlichen Hieb und als die Energiesparlampe begann, ihr spärliches Licht zu verbreiten, bemerkte ich Peggys fehlende Jacke. Sie war nicht zu Hause, eine Erkenntnis, die sämtliche Anspannung von mir abfallen ließ. Meine Männlichkeit würde an diesem Abend auf keine neue Probe gestellt werden und mit dem Entzug von Adrenalin übernahm die Müdigkeit das Kommando. Irgendwie schaffte ich es, mich meiner Kleider zu entledigen und ohne jedwede Abend-Hygiene stürzte ich ins Bett.
Es waren die Kopfschmerzen, die mich am nächsten Morgen weckten. Die zerwühlten Laken neben mir zeugten von Peggys Anwesenheit in der vergangenen Nacht, die mir irgendwie entgangen war. In der Regel war ich der Erste, der aus dem Bett musste und die Abweichung von dieser Norm ließ nur eine Schlussfolgerung zu: Ich hatte verschlafen.
Mein panischer Blick auf den Wecker bestätigte diese Vermutung und als ich hochschnellte, schlugen die Nachwirkungen des Alkoholexzesses des gestrigen Abends voll durch. Wie ein Kirmesbesucher, der es mit dem Karussellfahren übertrieben hatte, drehte sich meine Umgebung in atemberaubender Geschwindigkeit. Mein Magen rebellierte und schickte erste Kostproben seiner Säure die Speiseröhre hinauf.
Ich stürzte durch die Schlafzimmertür auf den Flur und steuerte auf das Bad zu. Dort versagten mir meine Sinne die Zielgenauigkeit und ich blieb mit der linken Hand an der Klinke hängen. Der Schmerz war nebensächlich gegenüber dem Schwall an Flüssigkeit, der gerade eine Grußbotschaft meines Magens per Eilpost nach oben schickte. Noch war der Toilettendeckel nicht hochgeklappt, aber das Gemisch aus Bier und Chips hatte bereits die obere Etage erreicht. Es galt den Mund so lang geschlossen zu halten, bis die Schüssel offen vor mir lag. Leider gelang es mir nur eingeschränkt, das Unheil zu kontrollieren und so verwandelte ich das Bad in einen Zustand unendlicher Widerlichkeit. Konnte ein Tag ekliger beginnen?
Bilder des letzten Abends durchdrangen den Dunst in meinem Verstand. Steffi mit seinem importierten Bier aus Fernost, das mit seinen 6,9 Umdrehungen von echten Kerlen am besten mit Whiskey genossen wurde. Mein Testosteron kochte in Anwesenheit von Steffi ohnehin auf niedriger Flamme und um dieses zarte Feuer nicht endgültig zu ersticken, hatte ich dieses ultimative Herrengedeck gleich in mehrfacher Ausführung getrunken. Das Ergebnis dieser Mutprobe lag jetzt in kleinen Brocken im Badezimmer verteilt.
Ich rekapitulierte. Meine Freundin hielt es nicht für notwendig, mich zu wecken. Dadurch kam ich zu spät zur Arbeit, bei der ich sowieso nichts Brauchbares zustande bekommen würde. Das Putzen des Bades würde bei meinem Talent für Hausarbeiten Stunden dauern und wie ich Peggy kannte, verlangte sie heute Abend ein klärendes Gespräch, bei dem sie meine Schuld an unserem Streit ausgiebig belegte. Ich brauchte dringend eine Abkühlung und so steckte ich meinen Kopf unter die eiskalte Dusche. Verdammt, tat das gut! Die Kälte unterdrückte sämtliche anderen Empfindungen wie Schmerz, Reue oder Übelkeit und so spürte ich den Nachschlag nicht kommen. Toll. Jetzt musste ich die Dusche auch noch reinigen.
Mein morgendlicher Unfall hatte nicht nur halb verdaute Chipsreste zurück ans Tageslicht befördert, sondern auch den Nebel in meinem Verstand etwas gelichtet. Die einsetzende Klarheit zeigte mir auf, dass ich die Firma benachrichtigen musste. Während mir verschiedene Ausreden für mein Zuspätkommen durch den Kopf gingen, schaffte es ein Begriff, die bleierne Langsamkeit meiner Gedanken zu durchdringen: K.o.-Tag. Die erste nützliche Errungenschaft unseres Betriebsrates, auch wenn damit eigentlich keine Alkoholexzesse gerechtfertigt werden sollten.
Sei es drum. Das Jahr neigte sich dem Ende entgegen und ich hatte diesen Joker bisher nicht in Erwägung gezogen. Ich ergriff das Telefon und wählte Ernests Nummer. Nach dem dritten Klingeln meldete sich eine weibliche Stimme.
„Ursula Schawatzki in Vertretung von Ernest von Talle“, erklang eine strenge, disziplinierte Stimme. Verdammt, ich hatte kein Glück an diesem Morgen.
„Niklas Jakubowski hier“, krächzte ich fast unkenntlich in das Telefon. Erst jetzt fiel mir auf, dass meine Stimmbänder noch nicht in Form waren und ich wie ein Papagei im Stimmbruch klang. Ich wartete einige Momente auf irgendeine Reaktion von Ursula, aber offenbar war sie selbst in Erwartung einer Entschuldigung.
„Ich muss mich für heute K.o. melden“, sagte ich zittrig, in der Hoffnung, dass man mir meinen Restalkohol nicht anhörte.
„Junger Mann, es ist Monatsende. Wir können Ihre Arbeit nicht auch noch mitmachen“, kam es vorwurfsvoll zurück. Sie setzte zu einer längeren Predigt an, aber ich fiel ihr ins Wort.
„Ich bin morgen wieder da. Bitte sagen Sie den anderen Bescheid.“
Bevor sie zu der altbekannten Empörung ansetzen konnte, drückte ich Auflegen. Ich konnte förmlich spüren, wie Ursula begann, sich minutenlang über mich zu entrüsten. Damit brachte sie die Buchhaltung zum Beben und Mandy würde irgendwann einfallen. Nachdem sie ausgiebig meine Unzulänglichkeiten diskutiert hatten, würden sie missmutig ihre Arbeit fortsetzen.
Damit hatte ich dem Morgen endlich etwas Gutes abgerungen. Mit der offiziellen K.o.-Meldung gehörte der Tag mir. Keine Arbeit, keine Verpflichtungen und auch keine Peggy. Mit diesem perfekten Zustand wusste ich zunächst nichts anzufangen. Da hatte ich endlich mal einen Jackpot, auch wenn der teuer erkauft war, und dann brummte mir der Schädel, als hätte Thor ihn persönlich als Amboss missbraucht. Primäres Ziel war es, den mentalen Normalzustand wiederherzustellen. Das ging am besten mit einer Dusche und einem anschließenden Kaffee.
Das Chaos im Badezimmer brachte Ernüchterung und die Nachwirkungen meines Alkoholkonsums verhinderten vorerst eine ausgiebige Dusche. Der Blick in den Spiegel offenbarte mir mein äußerliches Elend. Oberste Priorität bestand jetzt darin, mein Aussehen halbwegs der gesellschaftlichen Norm anzupassen.
Der Kamm brauchte zehn Minuten für das kurz geschnittene Haar. Während ich grübelte, ob exzessiver Alkoholkonsum zu Wildwuchs auf dem Kopf führen konnte, begann mein auf Effizienz getrimmtes Gehirn, einen Tagesplan zu erstellen. Ich musste unbedingt das Malheur in Dusche und Toilette beseitigen, bevor die eklige, aber halbwegs flüssige Konsistenz in etwas Getrocknetes überging, das nur mit dem Spatel zu bearbeiten war. Mein Magen rebellierte weiterhin und ich befürchtete, dass er einen neuen Anreiz für eine Entleerung bekommen könnte, wenn mir die Widerlichkeiten in die Nase stiegen. Zu meiner Überraschung zeigte er eine Robustheit, die ich ihm in dieser Umgebung nicht zugetraut hätte und tatsächlich schaffte ich es, das Bad in relativ kurzer Zeit in seinen ursprünglichen Zustand zurückzuversetzen.
Der hammerschwingende Kerl in meinem Kopf wurde langsam müde und ich hoffte, dass eine Tasse Kaffee ihn endgültig dazu animierte, diese sinnlose Qual einzustellen. In Vorfreude auf das Heißgetränk betrat ich die Küche und erblickte mit einem unguten Gefühl den Brief auf dem Küchentisch.
Peggy hatte also beschlossen, ihren Unmut in schriftlicher Form darzulegen, was mir etwas Zeit bis zur unausweichlichen Konfrontation verschaffte. Trotzdem ging mir die Frage durch den Kopf, warum sie mir ihre ganzen Argumente offenbarte, damit ich bei unserem unvermeidlichen Nahkampf heute Abend gut vorbereitet einen Vorteil hatte. Es musste mehr dahinterstecken und so öffnete ich in böser Vorahnung den Brief.
Die Fülle der Vorhaltungen war das kleinere Übel. So ziemlich jede meiner Verfehlungen der letzten drei Jahre wurde mit unheimlicher Präzision wiedergegeben und tatsächlich um den einen oder anderen Punkt erweitert, der mir in dieser Form gar nicht klar gewesen war. Die Abarbeitung von Peggys angestauter Frustration benötigte allein zehn Minuten Lesezeit. Irgendwann überflog ich die einzelnen Passagen und erfasste nur das Wesentliche. Natürlich war da der Alkohol, sowie meine fehlende Bereitschaft zur Leistung von Beistand in schwierigen Situationen und mangelnde Aufmerksamkeit. Wiederkehrende Aspekte, die sie nicht müde wurde, immer wieder zu betonen.
Diese schwerwiegenden Defizite meinerseits waren gestern Abend geballt aufeinandergetroffen und wenn ich sie richtig einschätzte, war sie nach unserem Streit zu ihrer besten Freundin gelaufen. Die wechselte regelmäßig, da aufgrund von Banalitäten die ewige Freundschaft am Ende meist weniger lang als ewig dauerte. Derzeit hatte Sylvia die Rolle der besten Freundin inne und bei ihr holte Peggy sich Rat zu unseren Beziehungsschwierigkeiten.
In meinen Augen war Sylvia eine männerhassende Lesbe, die mich zu ihrem neuen Feindbild aufgebaut hatte. Vielleicht eine etwas übertriebene Einschätzung, aber Fakt war, dass unser Verhältnis ähnlich unterkühlt war wie unser Eisschrank. Die Vermutung lag nahe, dass Sylvia die ohnehin angespannte Situation weiter verschärft hatte. Damit brachte sie Peggy dazu, sich mitten in der Nacht an den Küchentisch zu setzen, um diesen elend langen Brief zu verfassen, der eigentlich nur eine kurze und prägnante Aussage enthielt: Es ist vorbei.
„Se acabo“, schoss es mir durch den Kopf, als wäre es auf Spanisch weniger unheilvoll. Peggy hatte tatsächlich Schluss gemacht und das auf eine feige Art und Weise und in einem Zustand unnatürlicher Erregung, die jegliche Logik vermissen ließ. Mein männliches Ego forderte Vergeltung, aber die Überraschung machte mich vorerst ratlos.
Es herrschte ordentliches Durcheinander in meinem Verstand und das Erschreckende war, dass ich unfähig war, zu unterscheiden, ob der Alkohol oder Peggy mit ihrer feigen Flucht aus unserer Beziehung als Ursache herhalten musste. Ein lächerlicher Streit wegen einer Frisur konnte unmöglich eine mehrjährige Partnerschaft beenden! Vermutlich hatte sich da die letzten Wochen etwas angestaut, das sie mir dezent zu sagen versuchte. So dezent, dass selbst Frauenversteher mit jahrelanger Erfahrung es überhört hätten. Anstatt einer klaren Ansage ging sie gleich ins andere Extrem. War es nur ein Hilfeschrei? Die meisten Selbstmordversuche hatten mehr Aufmerksamkeit zum Ziel.
Dieser verwegene Vergleich war zwar zutreffend, aber selbst für meine Verhältnisse ziemlich geschmacklos. Trotzdem entschärfte es die eigentliche Botschaft und zwang mich für heute Abend zu einer extra unterwürfigen Haltung. Ich müsste dem Alkohol endgültig abschwören und einen heiligen und vor allen Dingen überzeugenden Eid ablegen, in kritischen Situationen uneingeschränkt zu ihr zu stehen, auch wenn jegliche Vernunft gegen sie sprach. Die üblichen Versprechungen, nur potenziert. Zweifel ergriffen mich, ob das die Beziehung retten oder unser beider Leiden unnötig verlängern würde. Ich hatte etwa acht Stunden, das herauszufinden und beging einen Fehler, den ich im Nachhinein auf die Nebelmaschine in meinem Kopf schob.
Peggy betrat die Wohnung gegen fünf Uhr und wie wir dastanden, unfähig, auch nur ein „Hallo“ herauszupressen, wurde mir mein erster Minuspunkt in dem sich anbahnenden Konflikt bewusst. Den ganzen Tag über hatte ich nichts von mir hören lassen. Kein Anruf, keine Nachricht, nicht einmal einen Wut-Smiley. Dass ich diesen morgendlichen Tiefschlag erstmal verdauen musste, indem ich mich in meine eigene kleine Gedankenwelt zurückzog, um halbwegs Struktur in die Ereignisse zu bekommen, passte nicht in Peggys krude Denkweise. Für sie stand Kommunikation an erster Stelle und die hatte ich ihr verweigert.
„Hast du meinen Brief gelesen?“, fragte sie sichtlich verunsichert.
„Natürlich“, antwortete ich mit derselben Verunsicherung. Wie konnte es sein, dass wir uns nach drei Jahren Beziehung und gefühlten Milliarden Worten so wortkarg gaben? Peggy sagte nichts, ein Umstand, der mir mehr Angst machte als tausend verbale Vorwürfe. Der Ball lag bei mir und ich wusste, was zu tun war. Reue, Unterwerfung und vor allen Dingen überzeugende Demut waren gefragt. Trotz dieser Erkenntnis kam mir das viel zu oft zelebrierte Ritual heute nicht über die Lippen.
„Du willst also Schluss machen?“, fragte ich stattdessen und die Überraschung über die Abweichung der Konstante unserer Beziehung war ihr deutlich anzusehen.
„Ich habe dir doch geschrieben, was mich stört.“ Ihre Verwirrung steigerte mein Selbstvertrauen.
„Das hast du ziemlich ausführlich getan.“ Ich versuchte, die Provokation aus der eigentlich nichtssagenden Aussage rauszuhalten. Verdammt, was war mit mir los? Wo kam auf einmal das ganze Testosteron her? Normalerweise rutschte ich auf Knien und freute mich innerlich auf den Versöhnungssex.
„Und? Was sagst du?“, gab sie mir eine letzte Chance zur Unterwerfung um den üblichen Ablauf der Dinge doch noch einzuleiten.
„Etwas Abstand tut uns gut“, stieß ich zitternd hervor. Wo war die feste Stimme, wenn man sie mal brauchte? Die Worte klangen wenig überzeugend, zeigten dennoch Wirkung. Peggy machte für einen Moment den Eindruck einer von Medusa versteinerten Statue.
„Liegt dir denn gar nichts an unserer Beziehung?“ Noch rollte keine Träne, aber die Augen waren schon randvoll.
„Du hast doch Schluss gemacht“, platzte es aus mir heraus, mit genau der festen Stimme, die mir kurz vorher noch versagt geblieben war.
„Aber du …“, setzte sie an und fand keine Worte. Offenbar war sie mit der Situation überfordert.
„Bin ich für dich wirklich nur ein frauenfeindlicher, unsensibler Trinker?“
„Das habe ich doch gar nicht gesagt.“ Peggy in der Defensive zu sehen, spornte mich weiter an.
„Doch. Das habe ich sogar schriftlich“, erwiderte ich. Jetzt kippte Peggys Stimmung in Wut um.
„Sylvia hatte recht. Du bist nicht besser als die anderen. Ich habe dich immer verteidigt, aber jetzt zeigt sich, wie du wirklich bist.“
„Ach ja? Und wie bin ich?“
„Du bist… Du bist ein Arsch.“ Peggy rannte weinend in den Flur und griff nach ihrer Jacke.
„Warte“, rief ich ihr in einem Anflug von Reue hinterher. Tatsächlich verlangte mein schlechtes Gewissen nach Aufmerksamkeit. Peggys Antennen hatten meine Schwäche aufgefangen und ihre ureigenen Instinkte hofften auf das ultimative Zukreuzekriechen. Erwartungsvoll wandte sie sich mir zu. Als sie dastand, mich dezent auffordernd möglichst kreativ meine Fehler einzugestehen, übernahm wieder der kleine Revolutionär in meinem Kopf das Steuer und verscheuchte die unangebrachte Reue.
„Wer zieht jetzt aus?“, fragte ich. Peggy knurrte nur und warf mir einen Blick zu, der selbst Vin Diesel Pipi in die Hose getrieben hätte. Ich schaffte es nicht mal ansatzweise, diesem Ausdruck der ultimativen Verachtung etwas entgegenzusetzen, und so verzog ich mich zurück in die Küche. Das Knallen der Haustür diente als großes Finale und erst jetzt wurden mir die Konsequenzen meines Handelns bewusst. Ab diesem Donnerstag im November war Niklas Jakubowski wieder solo.
Es kam weder Freude noch Bedauern auf, denn mein von Buchhaltung geprägter Verstand diente als idealer Schutzschild, sich emotionalen Befindlichkeiten zu stellen. Statt Wut oder Trauer beschäftigte ich ihn mit der Berechnung der rationalen Nachwirkungen meiner Entscheidung. Die gemeinsame Wohnung und deren Miete. Das Sparkonto, das wir eingerichtet hatten, um irgendwann den spießigen Traum eines Eigenheims zu leben. All die kleinen Gimmicks, die meist von Peggy je nach Jahreszeit zur Neudekoration unserer Behausung angeschafft worden und schließlich in Kisten im Keller verschwunden waren. Das alles zuckte wie Blitze in meinem Verstand und täuschte über die dunklen Wolken in meinem Kopf hinweg.
Ich war noch nicht bereit, mich der Endgültigkeit unseres Beziehungsaus zu stellen, sodass mir die Zugehörigkeit eines Joghurts im Kühlschrank derzeit wichtiger erschien als die Trennung an sich. Verdrängung war das oberste Gebot, aber selbst der Meister seines Faches konnte sich nicht ewig drücken. Irgendwann würden mir die Ausreden ausgehen und dann würde die Reue mit gnadenloser Brutalität zuschlagen. Die Erinnerung an den letzten Großeinkauf offenbarte mir, dass ich 88,56 Euro mit meiner Karte bezahlt hatte. Mit der Gewissheit, rechtlich auf der sicheren Seite zu sein, öffnete ich den Kühlschrank und verputzte einen Viererpack Pudding.
Die Überdosis Zucker betäubte die Verwirrung und ließ mich für den Moment schweben. In diesem Augenblick fühlte ich mich männlicher denn je. Leider nicht lange, denn eine halbe Stunde später offenbarte mir mein Unterbewusstsein erste Ansatzpunkte, wie ich unsere Beziehung doch noch retten konnte.
Wollte ich das überhaupt? Der frisch geborene Niklas, dessen geschlechtstypische Merkmale gerade kilometerweit auf dem Boden schliffen, hatte nicht vor, schon wieder abzutreten und dem ängstlichen, verweichlichten und vor allen Dingen unterwürfigen Dauergast in meinem Verstand kampflos das Feld zu überlassen. Der Konflikt spitzte sich zu und nahm schizophrene Züge an. In einem Moment, erinnerte ich mich wehmütig an unseren glücklichen Urlaub auf Rhodos, wenige Minuten später war ich froh, ihre Nörgelei über unzureichende Hausarbeit nicht mehr ertragen zu müssen. Dieses Schwanken zwischen den Extremen von reumütigem Bedauern auf der einen und der Überdosis an Testosteron auf der anderen Seite, drohte den bei Pollmen-Industries geformten Buchhalter in seinen rationalen Grundfesten zu überfordern. Ich musste mir meine Unfähigkeit eingestehen, den emotionalen Ausnahmezustand zu beherrschen.
Es wurde sogar noch schlimmer. Die nächsten Tage erlebte ich das komplette Spektrum der Gefühlsskala zwischen Pantoffelheld und Macho. Verdammt. Wenn ich nicht irgendwann in ein mit Schaumstoff verkleidetes Einzimmerapartment mit medikamentöser Ganztagsbetreuung eingewiesen werden wollte, musste ich eine Entscheidung treffen.
Am Sonntagabend drohte die geistige Krise in Wahnsinn zu kippen. Fest entschlossen, die Sache zu klären, nahm ich das Telefon in die Hand und wollte Peggys Nummer wählen, als mich eine Nachricht von ihr ansprang.
„Um deine Frage zu beantworten: Ich werde ausziehen.“ Der Text war verziert mit einigen anzüglichen Smileys, von denen ich nicht mal wusste, dass es sie überhaupt gab und die meinen Wutpegel wieder in den roten Bereich trieben. Hatte ich gehofft, in halbwegs stabilem emotionalen Zustand das weitere Vorgehen unserer Trennungsphase zu klären, verursachte eine Anhäufung von exotischen Satzzeichen erneut ein mentales Chaos im Kopf.
Ich verzichtete auf den geplanten Anruf und schickte einen „Daumen nach oben“-Smiley als Antwort, was prompt mit dem Mittelfinger quittiert wurde. Dass das Ende meiner Beziehung von vulgären Gesten begleitet werden würde, hätte ich nie für möglich gehalten. Es machte mich traurig.
Dieser Akt der primitiven Kommunikation trieb mich früher als gewöhnlich in die Federn. Es fiel mir schwer, das riesige Bett für mich alleine zu haben. Irgendwie fehlten die gewohnten Aktivitäten von der rechten Seite, die mir aufzeigten, dass da jemand war, der mir so viel Vertrauen entgegenbrachte, die Schlafstätte mit mir zu teilen. Wehmut überkam mich, als mir bewusst wurde, dass es keine spontane sanfte Umarmung mehr geben würde, keinen „Gute-Nacht-Kuss“ oder einfach nur Kuschelei. Trotz meiner eigenen Körperwärme fühlte sich das Bett kalt und unvollständig an. Ich rollte mich in die Kissen und ließ dem Gedankenkarussell freien Lauf. Die einzelnen Bilder der Erinnerung kamen mir wie Dias eines Projektors abwechselnd in den Sinn. Das alles würde sich nie wiederholen und als mir klar wurde, dass das Kapitel Peggy endgültig geschlossen war, kamen mir die Tränen.
Verdammt. Nun hatte ich endlich meinen Testosteronspiegel auf ein vernünftiges Maß angehoben und dann das. Es war mir unmöglich, die Sintflut zurückzuhalten, und so tränkte ich das Kissen mit einer salzigen Brühe aus Trauer und Wehmut. Zehn Minuten ließ ich die Schleusen offen, dann hatte ich mich so weit unter Kontrolle, dass ich tatsächlich ein wenig Erleichterung verspürte. Als hätte ich den ersten Schritt auf einem neuen Pfad gemacht und registriert, dass da gar nichts Schlimmes auf mich wartete. Klar würde sich einiges entscheidend ändern und klar würde mich des Öfteren aus Mangel an Erfahrung der eine oder andere peinliche Moment gerade in der Partnersuche ereilen. Aber wer sagte denn, dass am Ende des Weges nicht sogar etwas Besseres auf mich wartete? Das Weinen hatte tatsächlich meinen Optimismus zurückgebracht und verschaffte mir eine halbwegs entspannte Nacht.
Selten war ich so ausgeschlafen wie an diesem Montagmorgen. Mein Verstand gaukelte mir die Illusion vor, dass dort draußen tausend bessere Peggys nur darauf warteten, einem Niklas Jakubowski zu verfallen. Mit überschwänglich guter Laune verließ ich das Haus und für einen Moment überkam mich der übermütige Drang, mich in der Straßenbahn neben Mireille Mathieu zu setzen und ein belangloses Gespräch zu beginnen. Eine Verbrüderung meiner Vernunft mit meiner ausgeprägten Schüchternheit hielt mich davon ab. Mal abgesehen davon, dass sicherlich nichts Gutes dabei herumgekommen wäre, musste die fehlgeleitete Zuversicht über meine Qualitäten gegenüber dem anderen Geschlecht nicht am erstbesten Opfer bestätigt werden. Immerhin erwartete mich an diesem Morgen jemand, bei dem meine Chancen deutlich besser standen, und so erhielt ich mir das Gefühl, unbesiegbar zu sein, indem ich Mireille Mathieu ignorierte.
Gefühlte tausend Mal hatte ich die Buchhaltung von Pollmen-Industries betreten, die speziell am Montag dem Klischee eines schlechtgeölten Hamsterrads alle Ehre machte, das endlose fünf Tage lang betrieben werden wollte. Die Wehmut über das vergangene Wochenende und die trostlose Ferne des Samstags drückte die Motivation aller Anwesenden normalerweise in den Minusbereich. Heute gab es eine Abwechslung, die die Tristesse eines Wochenanfangs entscheidend entschärfte. Ewa Vogeler würde ihr Praktikum beginnen und damit für die nächste Zeit meinen von Zahlen und Logik geprägten Verstand an den Rand des Chaos bringen.
Angespannt betrat ich den Schauplatz zukünftiger Herausforderungen und wusste nicht, ob ich enttäuscht oder erleichtert sein sollte, als sich mir der übliche Anblick bot. Ursula knurrte mir ein unverständliches „Morgen“ entgegen, das sie mit einer Note nachtragender Schuld würzte. Offenbar hatte das Wochenende nicht ausgereicht, um über meinen Totalausfall vom Donnerstag hinwegzukommen. Ernest war schon wieder in seiner eigenen kleinen Buchhalterwelt gefangen und bemerkte mein Eintreten gar nicht und Mandy schickte mir die üblichen abwertenden Blicke.
Die antrainierte Ignoranz ihr gegenüber wollte sich heute nicht so richtig einstellen, denn ihre modische Aufmachung hatte etwas von verkappter Laiendarstellerin, die verzweifelt auf den Klempner wartete, der unbedingt ein Rohr verlegen musste. Während ich grübelte, warum sie bereits am Montag die ganze Wochenration Make-up aufgelegt hatte, wanderte mein Blick zu ihrem hautengen Shirt, das jede Rundung ihres Oberkörpers viel zu vorteilhaft darstellte. Die überschüssigen Hormone, die ich normalerweise jeden Mittwochabend mit Peggy in einer funktionierenden Beziehung abbaute, hatten sich so weit angestaut, dass sie mir das Blut aus dem Verstand in den Schoß trieben.
Auch wenn Mandy diese Aufmachung zur erwartenden Konkurrenz auffuhr, um weiterhin Schumachers beste (nicht fleißigste) Mitarbeiterin zu bleiben, verursachte dieser Akt der Anbiederung einen Kollateralschaden, der insbesondere mich traf. Erst ein strafender Blick von ihr – denn ich prüfte das dargebotene Gewölbe einen Tick zu lange – beendete die peinliche Situation. Obwohl der Drang nach einer kalten Dusche übermächtig wurde, verzog ich mich hinter meinen Monitor und wartete auf den eigentlichen Höhepunkt des Tages.
Es fiel mir schwer, die eingefahrene Routine mit der nötigen Konzentration durchzuziehen. Jeden Moment konnte die Göttin niederschweben und Niklas Jakubowski den Rest Verstand rauben.
Verdammt. Alles in mir wollte, dass sie mich als Vin Diesel der Buchhaltung wahrnahm. Mit der rebellischen Einlage in der IT-Abteilung hatte ich einen ersten vielversprechenden Schritt gemacht, nun allerdings galt es, das erschaffene Bild zu halten oder wenn möglich sogar auszubauen. Aber wie sollte das funktionieren? Normalerweise war ich der Typ, der sich so tief wie möglich hinter seinen Monitor verzog und jede Form von Aufmerksamkeit mied. Der Max Mustermann unter den Büroangestellten. Das Abziehbild eines tüchtigen, fleißigen und vor allen Dingen unterwürfigen und nie aufmüpfigen Deutschen.
Mir kamen Peggy und unser Kennenlernen in den Sinn, als sich genau diese Eigenschaften am Ende ausgezahlt hatten. Während ich sie vom ersten Moment an anschmachtete, existierte ich in ihrer Wahrnehmung zunächst als eine Art Mond, der wie viele andere um sie kreiste in der Hoffnung, die Umlaufbahn verkürzen zu können. Sie genoss das Selektieren und trotz meiner Unerfahrenheit schaffte ich es irgendwie in die Endrunde, in der mir das Glück hold war. Ein kurzes, enttäuschendes Intermezzo mit einem Nebenbuhler trieb sie in meine Arme und da ich zum richtigen Zeitpunkt und am richtigen Ort auf ihre Verletzlichkeit traf, wurden wir am Ende doch ein Paar.
Wahrscheinlich mochte sie an mir das zweifelhafte Talent unangenehme Dinge zu schlucken, wie die Tatsache, dass ich nicht ihre erste Wahl war. In der Folge reizte sie diese Eigenschaft von mir voll aus und wir führten eine eingespielte Beziehung, in die sie ihr gutes Aussehen einbrachte und ich meine Überzeugung, alles für sie zu tun, bis zur Selbstaufgabe verfeinerte. Beides hatte sich letzte Woche geändert und zum Bruch geführt. Ich hatte mich dem Modell Peggy angepasst und nun bestanden erhebliche Zweifel, ob meine spärlichen Erfahrungen überhaupt auf Ewa anwendbar waren.
Es fiel mir schwer nicht auf dem Stuhl hin und her zu rutschen, als ich Geräusche auf dem Flur vernahm. Der große Augenblick kam näher und selbst Mandy auf der anderen Seite des Schreibtisches verspannte etwas. Auch sie schien aufgeregt. Die Möglichkeit, dass sie ihren Status als Schönheitskönigin der Buchhaltung verlieren könnte, war das geringere Übel. Jemanden in seinem Umfeld zu haben, der einer elitären Kaste angehörte und jegliches Fehlverhalten an höchste Stelle melden konnte, wog da deutlich schwerer.
„Und da wären wir“, kam es von Schumacher an der Tür. Sein ausgestreckter Arm forderte Ewa zum Eintreten auf. Mein Puls raste und als sie durch die Tür trat (eigentlich ging sie nicht, sie schien über den Boden zu gleiten), setzte mein Herz für einen Moment aus. Zwei Sekunden klinischer Tod, in denen ich mich lebendig fühlte wie nie. Wie schaffte es eine Person, mich so dermaßen in einen Ausnahmezustand der Ekstase zu versetzen?
„Ernest von Talle wird Sie betreuen“, erklärte Schumacher und die sichtliche Freude von Ernest wurde erwidert. Ihr Lächeln wirkte elfengleich und ich musste gestehen, nie Schöneres gesehen zu haben.
Nach und nach wurden ihr die weiteren Mitglieder der Buchhaltung vorgestellt, wobei das Lächeln in seiner Intensität abnahm und im Falle von Mandy aufgesetzt wirkte. Ein erster Vorgeschmack auf die sagenumwobene Stutenbissigkeit, von der ich in meinem bisherigen Leben verschont geblieben war. Dann war ich dran. Meine Vorfreude auf ein herzliches „Hallo“ wurde enttäuscht.
„Hi“, kam es ziemlich kühl und der flüchtige Blick untermauerte die Unwichtigkeit meiner Person. Da hatte ja selbst Mandy mehr Aufmerksamkeit bekommen. Diese unerwartet frostige Begrüßung warf mich dermaßen aus der Bahn, dass ich unfähig war, überhaupt etwas zu erwidern. Allerdings ließ sie mir auch nur ein Zeitfenster von einer Nanosekunde, in der ich es selbst mit einem Maximum an Selbstsicherheit schwer gehabt hätte, die Vorgabe für cooles Antworten zu erfüllen. Der Tag schien sich an die schlechteste Agenda halten zu wollen und mit der mutwilligen Zerstörung meines ohnehin arg geschundenen Selbstvertrauens kippte auch meine Zuversicht, die kommenden Stunden mit halbwegs rationalem Geisteszustand zu überstehen.
Den Rest des Vormittages fiel es mir schwer, den Blick auf den Monitor zu fixieren. Immer wieder ertappte ich mich dabei, wie ich die dunkelhaarige Versuchung musterte, die das von Ernest dargebotene Wissen in sich aufsaugte. Es war unmöglich, sich auf das eigentliche Übel der Arbeit zu konzentrieren. Ich geriet ordentlich in Rückstand, was Ursula die einmalige Chance bot, ihr in der vergangenen Woche entstandenes Bild von mir weiter zu festigen.
Da war es auch unerheblich, dass ich jahrelang zuverlässig gute Ergebnisse abgeliefert hatte. Die letzten Tage, die geprägt gewesen waren von der Trennung und dem unerwarteten Auftauchen einer neuen Herausforderung, bestätigten Ursula in ihrer Vermutung, dass ich wenig tauglich war für harte Arbeit jeglicher Art.
Ewa ignorierte mich weiter und der hohe Anteil an weiblicher Verachtung in diesem Büro, der in verschiedenen Formen Niklas Jakubowski zu erdrücken schien, machte mich kurzfristig zu einem misogynen Einzelgänger. Peggy, Ewa, Ursula und Mandy. Mein direktes Umfeld suggerierte mir, dass alle Frauen dieser Welt sich einig waren in ihrer Abneigung gegen mich. Der geborene Fußabtreter für Pumps und High Heels aller Art. Das Selbstmitleid drohte mich zu ersticken und so steuerte ich auf die Mittagspause zu, nicht weit davon entfernt, der holden Weiblichkeit für immer abzuschwören. Genau in diesen Moment größter Selbstaufgabe platzte Ewas Einladung zum Essen.
„Gehen wir essen?“, fragte sie gespielt beiläufig und überraschte mich dermaßen, dass ich unfähig war zu antworten.
„Die anderen haben keine Zeit und allein will ich nicht gehen“, rechtfertigte sie die unerwartete Einladung. Mein Puls raste und ich hatte Mühe eine halbwegs selbstsichere Ausstrahlung aufrechtzuerhalten.
„Klar“, presste ich mit dem Gefühl, alle Unsicherheit dieser Welt in dieses kleine Wort verfrachtet zu haben, heraus. Ich packte meine Jacke und war froh nicht vor lauter Zittern danebenzugreifen.
„Wie heißt du eigentlich?“, fragte sie. Die Verärgerung darüber, dass sie sich meinen Namen nicht gemerkt hatte, dämpfte paradoxerweise meine Aufregung.
„Niklas“, antwortete ich.
„Schöner Name“, erwiderte sie und schickte mich auf den nächsten Loop der emotionalen Achterbahn. Ich wusste nicht genau, welches Gefühl mich hier ergriff, aber die Unsicherheit war wieder vollständiger Herrscher über meinen Verstand.
„Die Straße runter gibt es eine Kantine.“ Die Freude darüber diese einfachen Worte ohne Stottern aneinander gereiht zu haben, musste mir deutlich anzusehen gewesen sein, denn sie quittierte es mit einem kleinen Lächeln.
„Klingt gut“, erwiderte sie kurz und erst jetzt merkte ich, dass die vorherrschende Unsicherheit auf Gegenseitigkeit beruhte. Um die Sache etwas zu entkrampfen, probierte ich es mit Small Talk.
„Und? Wie gefällt dir die Firma?“, fragte ich.
„Ist okay. Alle sind ganz freundlich“, erwiderte sie und gab mir damit wenig Ansatzpunkte, das Gespräch unverfänglich weiterzuführen.
„Na ja. Ursula ist in Sachen Freundlichkeit wenigstens stets bemüht“, rutschte es mir überraschend lässig heraus. Lästern lag mir eigentlich gar nicht, aber ungewollt hatte ich damit das Eis gebrochen.
„Ja, sie ist schon etwas spooky“, fiel Ewa mit ein. Jetzt hatten wir eine Gemeinsamkeit und auch wenn Ursula – oder Frau Schawatzki, wie sie für uns hieß – nicht unbedingt das beste Thema war, musste es derzeit als Notnagel gegen stockende Kommunikation zwischen Mann und Frau herhalten. Wir verweilten eine Weile in der Lästerrunde und ich bekam irgendwie den Bogen hin, einen Großteil der Firma vorzustellen. Beide gewannen wir in unserer Konversation an Selbstsicherheit und am Ende der Mahlzeit schenkte sie mir das erste Mal ein aufrichtiges Lächeln.
Ewas Arbeitstag endete bereits am frühen Nachmittag und als sie das Büro verließ, hatte ich das Gefühl, dass jemand tonnenweise Hinkelsteine von meinen Schultern nahm. Die Verabschiedung war im Gegensatz zur Begrüßung deutlich wärmer, obwohl immer noch eine gewisse Distanz zu spüren war. Trotzdem verfestigte sich mein Eindruck, dass wir uns ein paar Schritte angenähert hatten.
Den Heimweg absolvierte ich in einer Stimmung, die zu gleichen Teilen aus Verwirrung, Unsicherheit und Euphorie bestand. Wahnsinn, wie mich diese Frau in einen angeregten Zustand versetzte! Diese Mischung aus Emotionen wurde durch einen neuen Konkurrenten vollkommen verdrängt, als ich die Wohnung betrat.
Eine böse Vorahnung überkam mich, während ich die Jacke aufhängte. Die verwaisten Kleiderhaken dienten als Beweis eines unangekündigten Besuchers, der sich offenbar über Peggys unzählige Jacken hergemacht hatte. Dabei blieb es jedoch nicht. Entweder hatte sich ein modebewusster Einbrecher ausgerechnet in den Kleiderschränken meiner Wohnung ausgetobt, oder Peggy hatte keinen großen Wert auf die Unterscheidung zwischen ihren Skinny-Jeans und meinen Shorts gelegt und einfach alles eingesackt, was ihr irgendwie tragbar erschienen war. Einzig meine Unterwäsche schlummerte unangetastet in der mir zugewiesenen Schublade im Schlafzimmer. Ansonsten war bis auf ein paar abgetragene Shirts so ziemlich alles an Kleidung verschwunden. Unter den kläglichen Überresten fand sich ein Slayer-Shirt, das ich mir in rebellischem Übermut in einem schwachen Moment zugelegt hatte. Dank Peggy war es bis zum heutigen Tag ungetragen und würde als Notnagel für morgen dienen. Ein riesiger Adler zierte die Front und würde mich zum Mittelpunkt der von trister Einheitskleidung geprägten Buchhaltung machen.
Peggy hatte zu ihrem ersten Schlag ausgeholt und war dabei in der Auswahl ihrer Beute wenig zimperlich vorgegangen. Vermutlich rechtfertigte sie das Einsacken meiner Jeans mit der Ausrede, dass am Tag des Erwerbs ihre Kreditkarte zum Einsatz gekommen war. Ähnlich wie ich bei meinem Zuckerschub aus Pudding einige Tage zuvor, befand sie sich auf der rechtlich sicheren Seite.
Reflexartig begann mein Gehirn, Gegenstände unseres Haushalts dahingehend zu katalogisieren, aber mangelndes Erinnerungsvermögen zwang mich schnell zur Kapitulation. Peggys weiblicher Verstand, der solch scheinbar unwichtige Dinge ein Leben lang abspeicherte, war hier deutlich im Vorteil. Sollte sie sich tatsächlich mal irren, würde es mir schwerfallen, irgendwelche Gegenbeweise anzubringen.
Mein Blick fiel auf die Fotobücher, die einen optischen Abriss über die Chronologie unserer gescheiterten Beziehung lieferten. Die Tatsache, dass sie nicht Peggys erste Wahl gewesen waren, machte mich traurig. Am Ende war es ihr wichtiger, vermeintliche Kostbarkeiten zu sichern, um bei Online-Auktionen ein paar Extra-Euros für getragene Hosen zu ergattern.
Diese Nacht schlief ich im Gegensatz zu ihrem Vorgänger deutlich unruhiger und dementsprechend unausgeruht betrat ich am nächsten Morgen die Straßenbahn. Das verknitterte Gesicht von Mireille Mathieu verriet mir, dass ich nicht der Einzige mit Schlafdefizit war. Diese traurige Gemeinsamkeit rang mir gegenüber meiner Leidensgenossin ein gequältes Lächeln ab, das sie umgehend mit einem eigenen Lächeln quittierte. Dieser kurze Austausch von unwillkürlichen Freundlichkeiten besserte meine Laune und tatsächlich erschütterte diese zarte Geste der Annäherung mein eingefahrenes Bild einer langweiligen Schlageranhängerin mit entsprechender Frisur, die zu Hause in Endlosschleife „Weiße Rosen aus Athen“ hörte.
Dieses unerwartete Doping für meinen eingeschlafenen Verstand schob einen anderen Aspekt wieder in den Vordergrund, den ich aufgrund von Peggys gestrigem Beutezug verdrängt hatte. Ewa und all ihre unheilvollen Signale, die sie auch heute mehrere Stunden ausschließlich in meine Richtung senden würde.
Ich betrat die Buchhaltung und im Übermut des Erfolges in der Straßenbahn versuchte ich mit dem gleichen Ritual auch ein Lächeln auf Ursulas Gesicht zu zaubern. Vergeblich. In den letzten Jahrzehnten hatte sich Ursula auf eine einzige Variante zur Begrüßung der Kollegen festgelegt, die ihrer Meinung nach den nötigen Fleiß vermissen ließen. Ihr Gesicht hatte die Mischung aus leichter Verachtung und Widerwillen, sich überhaupt mit solch unwürdigen Kreaturen abgeben zu müssen so perfektioniert, dass jegliche Alternative von vornherein ausgeschlossen wurde. Alle anderen Gesichtsmuskeln waren ohnehin aus Mangel an Verwendung bereits abgestorben und so holte ich mir auch an diesem Morgen meine Portion einstudierter Missachtung ab.
Es dauerte eine Stunde, bis Ewa eintraf. Heute fiel die Begrüßung deutlich freundlicher aus, obwohl sie mir ein Lächeln weiterhin verweigerte. Die verlängerte Aufmerksamkeit gegenüber der gestrigen Nanosekunde zeigte mir, dass das gemeinsame Mittagessen durchaus fruchtbar gewesen war und wir uns tatsächlich etwas nähergekommen waren. Noch lagen gefühlte Lichtjahre zwischen uns, aber die Richtung stimmte und damit beflügelte sie mich trotz des meines Erachtens viel zu spärlich ausgefallenen Begrüßungsrituals.
Dieser minimale Fortschritt in Sachen Kontaktanbahnung gab mir eine Extramotivation, das ERP-System mit den richtigen Zahlen zu füttern. Die Vorfreude auf die Mittagspause ließ meine Finger über die Tastatur fliegen und hätte mich Ursula genau an diesem Morgen einem Leistungscheck unterzogen, wäre selbst sie nicht umhingekommen, mir wenigstens ein „bemüht“ zu attestieren. Dieser Anfall von übermütigem Arbeitswahn brachte mich in die Situation, dass ich schon am Vormittag mein tägliches Arbeitspensum geschafft hatte und kurz vor der Mittagspause ins Leere lief. Der Kopf war frei für allerlei Fantasien über die halbe Stunde Nahrungsaufnahme, die ich hoffentlich nicht allein würde vollziehen müssen.
Die Uhr zeigte zwölf und zu meiner Enttäuschung blieb Ewas Einladung zum Essen heute aus. Ein kurzer Blick von ihr enthielt die prägnante Mitteilung, dass es an mir wäre, die Initiative zu ergreifen. Nachdem ich mein bisschen Selbstvertrauen in Mut umgewandelt hatte, ging ich zu ihr und warf ihr ein kläglich klingendes „Wollen wir essen gehen?“ auf den Schreibtisch.
„Klar“, erwiderte sie und saugte mir mit diesem kleinen Wort den ohnehin spärlichen Rest an Souveränität aus den Gliedern. Schweigend machten wir uns auf den Weg in die Kantine und die Anspannung zwischen uns hätte nicht größer sein können. Mit der Zuversicht eines Pfarrers, der in einem Freudenhaus Enthaltsamkeit predigte, versuchte ich, dieses unsägliche Schweigen durch Konversation zu durchbrechen, aber jedes Wort schien den Strudel der Peinlichkeit zu beschleunigen.
Die Mittagspause entwickelte sich zu meinem ganz persönlichen Fiasko, und als ich mich endlich wieder auf meinem Bürostuhl niederließ, war ich der festen Überzeugung, dass jemand ein leuchtendes „L“ in meine Stirn geritzt haben musste. Die Kläglichkeit meiner ersten Werbungsversuche im Post-Peggy-Zeitalter wurde mir so richtig bewusst, als ich Ewas Dunstkreis aus Pheromonen für eine halbe Stunde entkam, weil sie organisatorische Dinge im Personalbüro erledigen musste. Wie sollte ich jemals eine vernünftige Beziehung führen, wenn ich in Gegenwart von potenziellen Kandidatinnen die Wörter wie ein Kleinkind aneinanderreihte? In sicherem Glauben meine Pole-Position bei Ewa für alle Ewigkeit verspielt zu haben, überraschte sie mich kurz vor ihrem Feierabend.
„Wollen wir heute Abend was trinken gehen?“, fragte sie mich. Zum Glück saß ich fest auf meinem Bürostuhl, denn ich war mir sicher, dass es mir im Stehen die Füße weggezogen hätte.
„Gerne“, erwiderte ich mit aller Gelassenheit, die ich zusammenkratzen konnte. Ihr Lächeln enthielt eine Note der Erleichterung. Offenbar tat sie sich ähnlich schwer wie ich bei meiner Einladung zum Mittag. Aufgeregt machten wir einen Treffpunkt in der Innenstadt aus.
Sie schwebte aus dem Büro und ich war mir sicher, das Grinsen in meinem Gesicht würde ein Leben lang anhalten. In Wirklichkeit schaffte ich es nicht mal zehn Sekunden, denn Mandy warf mir einen misstrauischen Blick zu. Sie war offenbar der festen Überzeugung, dass ich über Ewa meine Aufstiegschancen verbessern wollte, indem ich mich bei der Elite anwanzte. Dass ich mit zwei Mittagessen mehr Erfolg hatte, als sie in all den Jahren mit ihren Investitionen in überteuertes Make-up und enge T-Shirts, katapultierte mich schlagartig auf der Liste potenzieller Konkurrenz nach oben.
Bisher war ich der ungeliebte Nerd gewesen, der ohne Ehrgeiz brav hinter seinem Monitor hockte und höchstens als nerviges Ärgernis auffiel, weil ein Blondinenwitz die Büroetikette verletzte. Ein harmloses Treffen in Zeiten drohender Arbeitslosigkeit machte mich schlagartig zum Nebenbuhler auf der engen Karriereleiter und das brachte mir erhöhte Aufmerksamkeit von Mandy ein.
Ich schaute zu Ursula, der als ungekrönter Herrscherin der Buchhaltung unmöglich unsere Verabredung entgangen seien konnte. Nichts. Die perfekte Fassade der Gleichgültigkeit war unerschütterlich, aber ich war mir sicher, dass es auch in ihrem Inneren brodelte.
Die Aufregung über das bevorstehende Treffen erschwerte meine Arbeit für den Rest des Tages. Zu meinem Glück erforderte die restliche Stunde nicht viel Buchhaltergeschick und selbst im Vollrausch hätte ich die jahrelang antrainierte Routine fehlerfrei hinbekommen.
Fantasien über den Ablauf der Verabredung trübten meine Zuversicht. Drei Jahre Peggy hatten meine ohnehin spärlich vorhandenen Möglichkeiten, ein Date halbwegs frei von Peinlichkeiten zu halten, auf ein Minimum verkümmern lassen. Jetzt überforderte mich Ewas Einladung, die ich euphorisch angenommen hatte, die aber bei näherer Betrachtung vermutlich in einer Katastrophe enden würde. Mit einem Selbstvertrauen weit unter dem Gefrierpunkt verließ ich die Buchhaltung und näherte mich mit ordentlich Blei im Magen dem vereinbarten Treffpunkt.
Ich achtete darauf, nicht zu früh zu kommen. Einer von Steffis Ratschlägen, der seiner Meinung nach nicht nur im Bett Anwendung fand. Ein zu frühzeitiges Erscheinen zeugte von übermäßigem Interesse an der potenziellen Beute, was den eigenen Status als potenter Liebhaber ankratzte. Lass sie zappeln, erinnerte ich mich an seine Worte, die er mir regelmäßig ungefragt aufdrängte, wenn sich das Thema an unseren berüchtigten Montagabenden zu seinen neusten Eroberungen zuwandte. In einer Mischung aus Herablassung und unerschütterlichem Selbstvertrauen in Kombination mit seinem privilegierten Beziehungsstatus erklärte er mir die Datingwelt, die noch letzte Woche für mich irgendwo außerhalb unserer Galaxie zu existieren schien.
Auf dem Weg in die Innenstadt steigerte sich meine Aufregung, je näher ich unserem verabredeten Treffpunkt kam. Meine Hände fingen an zu schwitzen und mein Puls raste, als würde ich im Vollsprint einen Marathon absolvieren. Keine guten Vorraussetzungen für ein selbstsicheres Auftreten, aber alle Versuche der Entspannung zeigten kein Erfolg. Erst als ich akzeptierte, dass Panik mich direkt in die Katastrophe führen würde, bekam ich wenigstens die Kontrolle über die wichtigsten Körperfunktionen zurück. Mit fünf Minuten Verspätung erreichte ich das Café Europa, das damit warb, 24 Stunden am Tag offen zu sein. Toll. Damit wären die Aneinanderreihungen meiner künftigen Peinlichkeiten zeitlich unbegrenzt.
„Hi“, begrüßte sie mich und gab mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Das kam überraschend und dieser unerwartete Vertrauensbeweis milderte meine Aufregung.
„Hi“, gab ich zittrig zurück. Diese einfachen zwei Buchstaben überforderten das Gesamtsystem Niklas Jakubowski erneut. Die Kernschmelze meines Geistes wurde wieder deutlich wahrscheinlicher, aber ihr verlegenes Lächeln, das darauf hindeutete, dass auch sie nicht gerade vor Selbstvertrauen strotzte, verhinderte vorerst das Schlimmste. Geteilte Aufregung ist halbe Aufregung, variierte mein Verstand das ursprüngliche Sprichwort.
„Wie war dein Arbeitstag?“, erstickte ich das aufkommende peinliche Schweigen mit etwas Banalem.
„Gut“, antwortete sie kurz und ließ mir damit kaum Zeit zur Entspannung. So ging es ein paar Mal hin und her, bis sie diesen fragilen Wortwechsel mit einer persönlichen Frage erschütterte.
„Hast du eigentlich eine Freundin?“, fragte sie, während ich eher mit einem „Super“ als Antwort über die Ausstattung der Buchhaltung gerechnet hatte.
„Ja“, kam es gewohnheitsmäßig heraus. Das Ende meiner Beziehung zu Peggy hatte mein Verstand noch nicht der Alltagsroutine angepasst. Vergleichbar mit dem morgendlichen Zähneputzen übernahm der Autopilot namens Unterbewusstsein, ohne groß nachzudenken. Doch hier ging es nicht um mangelnde Zahnhygiene. Meine unmittelbare Zukunft stand auf Messers Schneide, weil ich nicht im richtigen Moment das Steuer an mich riss.
„Eigentlich nein“, schob ich korrigierend hinterher und Ewas Gesichtsausdruck wechselte von Enttäuschung zu subtiler Verachtung. Offenbar interpretierte sie meinen Sinneswandel als kläglichen Versuch, mit einer erbärmlichen Lüge die Situation zu retten.
„Also, bis letzte Woche hatte ich die noch“, erklärte ich hektisch. Jetzt konnte ich Neugierde bei ihr ausmachen, war aber unsicher, ob über meinen Beziehungsstatus oder auf die nächste Windung über das unglückliche Ja auf ihre Frage.
„Sie hat Schluss gemacht nach drei Jahren.“ Der schnelle Takt der Worte klang wie sinnloses Geplapper eines Sechsjährigen. Verdammt. Warum sagte sie denn nichts mehr? Die Ungewissheit, ob ich den Guinessrekord für ein vermasseltes Date geknackt hatte, raubte mir das letzte bisschen Selbstvertrauen. Sie wartete auf weitere Erklärungen und so blieb mir nichts übrig, als die komplette Geschichte zu erzählen.
„Wegen ihren Haaren?“, fragte sie anschließend. Offenbar hatte ich den Teil mit der missratenen Frisur zu ausgiebig beschrieben.
„Das war nur der Auslöser.“ Ab da wechselte unser Gespräch auf die emotionale Ebene. Ich erklärte Ewa all die Probleme, die sich in drei Jahren Zusammenleben angehäuft hatten und die wir uns zu klären geweigert hatten. Aufgrund der Tatsache, dass ich Peggy nicht die alleinige Schuld zuschanzte, blieb ich vorerst im Rennen. Ewa streute eigene Erfahrungen über Beziehungen ein und durch das vereinte Klagen über die Tücken und Hindernisse, die eine erfüllte Partnerschaft verhinderten, kamen wir uns tatsächlich näher. Wir entwickelten ein zartes Band, das gehalten wurde von der Gemeinsamkeit unserer Unfähigkeit, eine glückliche Beziehung zu führen.
Zwei Stunden vergingen, die sich anfühlten wie knappe zehn Minuten. Unweigerlich kam mir der Krampf in den Sinn, den ich mit Peggy bei unserem ersten Treffen veranstaltet hatte. Trotz mangelnder Übereinstimmung in den wichtigsten Charaktereigenschaften waren wir damals ein Paar geworden. Ich hatte meine vorgesehene Rolle als Lucky Loser akzeptiert, der bereit war seine Seele zu opfern, um den Jackpot zu knacken. Heute Abend eroberte ich mir eine bessere Ausgangslage im Rennen um eine potenziell gleichberechtigte Partnerschaft. Noch war es nicht so weit, aber die Zuversicht war grenzenlos.
Auf dem Weg zur Haltestelle tauschten wir wieder die üblichen Büronichtigkeiten aus, die bei mir regelmäßig im Spamfilter meines Gedächtnisses landeten. Dieses Mal speiste ich sie mit Standardantworten ab, denn meine Aufmerksamkeit hatte sich von ihren Worten auf ihr Äußeres verschoben. Diskret musterte ich ihr Haar, das irgendwie bei jeder Bewegung zu perfekt zu fallen schien. Die blauen Augen zogen mich magisch an und ich ertappte mich, wie ich ihre blasse Gesichtshaut nach Verunreinigungen absuchte. Da gab es nichts, was ihre Perfektion erschüttern konnte. Ihre übrigen körperlichen Vorzüge wie Brust oder Hintern wagte ich nicht auszukundschaften. Eine der unausgesprochenen Regeln für ein erstes Date, wenngleich sie dem normalen menschlichen Verhalten widersprach.
War es überhaupt ein Date oder nur ein zwangloses Treffen zwischen Arbeitskollegen? Meiner Auffassung nach Ersteres, und als Ewa abgelenkt von einem hupenden Auto kurz den Kopf abwandte, nutzte ich die Gelegenheit gegen die sinnlose Vorschrift zu verstoßen und wagte einen Blick auf ihre Hinterseite. Dieser Bruchteil einer Sekunde und die hautengen Jeans erschufen eine Fantasie, die mit keiner Realität vergleichbar war.
„Rufst du mich an?“, fragte sie, als wir dabei waren, uns zu verabschieden.
„Wir sehen uns doch morgen.“ In dem Moment, da die Worte meinen Mund verlassen hatten, donnerte die Erkenntnis über die Dummheit dieser Antwort in meinen Verstand.
„Klar. Tauschen wir Nummern?“, übermittelte ich die richtige Botschaft, die darin bestand, dass meinerseits ebenfalls Interesse an einer Fortführung unserer ungelenken Annäherungsversuche vorhanden war. Verdammt. Solche kleinen Missgeschicke konnten alles ruinieren. Zum Glück schien Ewa in dieser Beziehung toleranter zu sein als Peggy.
Ihre Bahn kam zuerst und als sie davonfuhr, fiel sämtliche Anspannung von mir ab. Wie eine Antilope, die trotz ihrer Unterlegenheit dem Geparden entkommen war, freute ich mich, das Date lebend überstanden zu haben. Ich hatte mich den Widrigkeiten eines ersten Treffens gestellt und das ganze Übermaß an negativen Vorahnungen hatte sich nicht bewahrheitet. Es gab zwar die eine oder andere grenzwertige Situation (besonders bei der Geschichte über Peggys Frisurendebakel bewegte ich mich auf dünnem Eis), aber im Gesamtergebnis stellte ich mir eine positive Note aus.
Euphorisch begab ich mich nach Hause, und da mein Verstand die Trennung von Peggy ganz weit nach hinten geschoben hatte, stürzte ich unvorbereitet in das Verhängnis.
Ich öffnete die Tür und das Fehlen des Schuhschrankes verscheuchte das Triumphgefühl über das bestandene Date. Der Blick in das Wohnzimmer brachte dann Gewissheit, die darin bestand, dass sich Peggy sämtlicher Möbel bemächtigt hatte. Irgendwie musste sie es geschafft haben, eine Armee von Möbelpackern zu mobilisieren, denn allein die rustikale Schrankwand brauchte mindestens vier Mann, um sie von der Stelle zu bewegen. Den ganzen Hausrat innerhalb eines Tages an einen mir unbekannten Ort zu schaffen, bedurfte nicht nur jeder Menge Muskelkraft, sondern auch logistischer Finesse.
Wütend griff ich zum Telefon, um nach dem fünften Ton frustriert aufzulegen. In drei Jahren Beziehung hatte ich sie nie ohne ihr Handy gesehen. Sie war praktisch verwachsen mit dem Teil und dass obwohl sie eigentlich selten wirklich telefonierte. Ihre wesentliche Kommunikation bestand im Versenden von Nachrichten, die durch filigrane Fingerfertigkeit scheinbar in Lichtgeschwindigkeit eingetippt wurden. Also ignorierte sie meinen Versuch, den heimlichen Raub unserer gemeinsam angeschafften Einrichtung verbal zu klären. Ich war gezwungen, mich auf ihr Kommunikationsniveau zu begeben. Es kostete mich alle Mühe, die viel zu kleinen Buchstaben in meinem Telefon zu erwischen, aber irgendwie bekam ich es hin, eine halbwegs wütende Nachricht abzusenden.
„Was soll die Scheibe?“, entschärfte die Autokorrektur meinen Ärger und machte das Ganze zum Gespött.
„Scheide“, korrigierte ich, aber mein Telefon schien einen vorgefertigten Filter gegen Schimpfwörter installiert zu haben.
„Scheiße“, klappte es endlich beim dritten Mal. Nur zehn Sekunden später erhielt ich eine Nachricht, für die ich selbst bei gebändigter Autokorrektur den halben Tag benötigt hätte.
„Du hast die Wohnung bekommen. Das heißt nicht, dass dir die Möbel zustehen. Wir sollten schon gerecht teilen.“ Dann folgte eine stattliche Ansammlung von Zwinker-Smileys und abgeschlossen wurde das Ganze mit einer Aufzählung meiner Verfehlungen, die offenbar als Rechtfertigung dienten. Ich überlegte mir eine gepfefferte Antwort, aber die benötigte Zeit für das Tastaturrodeo ließ meine Wut verfliegen. Ich brach ab, da ich bei dieser Wahl der Waffen ohnehin gnadenlos unterlegen war. Viel wichtiger war die Überlegung, was noch zur potenziellen Beute Peggys werden konnte.
Ich brauchte einige Versuche, um das viel zu kleine Icon unserer Konto-App auf dem Display zu erwischen. Mein von Buchhaltung geprägter Verstand war bereits dabei, die Verluste durchzurechnen, sollte es Peggy tatsächlich gewagt haben, den Kontostand auf null zu drücken. Dafür benötigte er sämtliche Kapazitäten und so fehlte die nötige Konzentration für die Feinmotorik, die solch ein Smartphone nun mal erforderte. Irgendwann landete ich den benötigten Zufallstreffer und stellte erleichtert fest, dass unser gemeinsames Konto nicht komplett leer geräumt war.
Die letzten zwei Jahre hatten wir Teile unseres Gehalts hier geparkt, um erstens unserem Konsumwahn die finanzielle Basis zu entziehen und zweitens in ferner Zukunft den spießigen Traum von Haus, Kind und Rauhaardackel zu leben. Offenbar hatte Peggy auf den Cent genau ihren eingezahlten Beitrag abgezweigt und mir den Rest inklusive Gebühren hinterlassen. In ihrer Wut über unsere gescheiterte Beziehung hatte sie anscheinend beim Finanziellen ihre Grenzen gezogen. Ob diese Grenzen in Ewigkeit bestand haben würden, war vollkommen unklar und so ging ich auf Nummer sicher und überwies den Rest auf mein Girokonto.
Die Erleichterung über die gütliche Einigung hinsichtlich unseres gemeinsamen Kontos täuschte nicht über die Tatsache hinweg, dass ich heute Abend kein Bett zum Schlafen hatte. Isomatte und Schlafsack schimmelten im Keller vor sich hin, es sei denn, Peggy hatte diese Antiquitäten aus den Ferienlagern meiner Kindheit für besitzwürdig befunden. Die bessere Option schien Steffis Couch zu sein, aber der Versuch ihn zu kontaktieren, schlug fehl und so widmete ich mich schöneren Dingen.
„Ich fand das Treffen schön“, tippte ich mit aller Geduld in mein Telefon und sendete die mühsam erkämpften Buchstaben an die Nummer, die ich erst seit einer Stunde besaß.
„Fand ich auch“, kam es umgehend zurück, was ich als gutes Zeichen deutete. Ich versuchte mich an einer weiteren Nachricht, aber meine Fingerfertigkeit und die Autokorrektur verhinderten umfangreiche Botschaften und so beschränkte ich mich auf eine Anfrage zum Telefonieren. Wenige Sekunden später klingelte mein Telefon.
„Hi“, begrüßte ich sie. Mein Puls war wieder im Rallye-Modus. Dieses Mal gab es keine krampfhaften Phrasen über den Büroalltag. Ewa kam gleich zur Sache.
„Wie stehen wir jetzt zueinander?“, fragte sie und überraschte mich mit ihrer Direktheit. Blitzschnell ging ich die möglichen Antworten durch, aber meine Vernunft stufte alle als nicht hilfreich ein und so rechnete ich es mir hoch an, dass ich unter diesem Stresslevel mit einer Gegenfrage antwortete.
„Was meinst du?“, erkämpfte ich mir ein paar Sekunden Zeit, die ich hoffentlich verwenden konnte, um die Frage zu verdauen.
„Na ja, was ist nun mit deiner Freundin? Ist das nun vorbei oder nicht?“, fragte sie. Offenbar hatte ich mich bei der Erörterung meiner Beziehungsprobleme im Café Europa missverständlich ausgedrückt.
„Mal sehen. Sie hat meine Klamotten eingesackt, sämtliche Möbel aus der Wohnung geräumt und unser gemeinsames Konto geplündert. Also ich würde sagen, es ist vorbei“, erklärte ich ihr in sarkastischem Tonfall. Am anderen Ende der Leitung blieb es ruhig.
„Ich habe nicht mal ein Bett zum Schlafen“, schob ich nach. Wieder keine Antwort. Jetzt gingen auch mir die Sätze aus.
„Du kannst bei mir übernachten“, kam es sehr überstürzt, so als hätte sie sich überwinden müssen, es so klar auszudrücken. Ich musste mich setzen, denn dieses meiner Meinung nach unmoralische Angebot zog mir fast die Füße weg. War es das wirklich? Ein Angebot für was? Das konnte nicht sein. Nicht nach dem ersten Date. Das Tempo unserer Kennenlernphase hatte sich gerade auf Lichtgeschwindigkeit erhöht.
„Sag doch was“, forderte sie mich auf.
Ich musste souverän wirken. Vielleicht ein zweideutiger Spruch wie James Bond oder Charlie Sheen. Das klang im Film verdammt cool, aber in der Realität konnte einem das eine Klage wegen sexueller Belästigung einbringen.
„Okay“, brachte ich gerade so heraus, in der Hoffnung, nicht zu ängstlich zu klingen. Sie gab mir ihre Adresse durch und ich war ihr überaus dankbar, dass ich keine große Konversation mehr betreiben musste. Meine zittrigen Lippen hätten kaum was Nützliches hervorgebracht.
„Bis gleich“, hauchte ich ins Telefon und legte auf.
Die unklare Situation, ob ich heute Abend Sex haben würde oder nicht, raubte mir den Verstand. Wieder und wieder ging ich die Worte ihrer Einladung zur Übernachtung durch. Ich ergründete jede Nuance ihrer Stimme, und das eine Mal glaubte ich einen balzenden Unterton erkannt zu haben. Die ganze Angelegenheit drohte, meinen Geist zu überlasten, und ich musste mir eingestehen, dass der Abend nicht planbar geworden war. Wenn ich durch ihre Wohnungstür schritt, blieb nur die Improvisation und die gehörte nicht unbedingt zu den Talenten eines Buchhalters, der die Verlässlichkeit von Zahlen zu seinem Lebensinhalt erkoren hatte. Verdammt. Warum konnte ich nicht mehr sein wie Steffi?
Um einen Hauch von Kontrolle zurückzuerlangen, fing ich an, Vorkehrungen zu treffen. Duschen war mein erster Gedanke. Es war nie verkehrt, in Gegenwart schöner Frauen gut zu riechen. Dummerweise hatte Peggy nicht nur alle Handtücher eingesackt, sie war sich auch nicht zu fein gewesen sämtliches Duschgel als ihr Eigentum anzusehen.
„Saubere Unterwäsche“ kam es irgendwo aus den Tiefen meines Verstandes. „Sexy Unterwäsche“ korrigierte es sich. Der Blick auf die Hinterlassenschaften brachte Ernüchterung: Alles, was irgendwie erregend auf Frauen wirken konnte, war verschwunden. Peggy hatte damals die Shorts und Slips besorgt, in der Hoffnung, unser Sexleben etwas aufzupeppen. Mit wenig Erfolg. Die immer gleichen Stellungen blieben auch mit exotischer Unterwäsche Routine. Das restliche Zeug, das lieblos über den Teppich verstreut lag, erinnerte an Großmutters Zeiten, in denen kalte Winter dreilagige Baumwollslips erforderten.
Ich sprach mir Mut zu. Immerhin hatte ich das Date gut gemeistert und war damit schneller in die nächste Runde eingezogen, als ich erträumt hatte. Die kam früher als gedacht und als ich kurze Zeit später vor ihrer Tür stand, war die Notwendigkeit einer Dusche nicht mehr nur eine Frage des Gutriechens.
Irgendwie hatte ich es geschafft bei miesestem Novemberwetter zu schwitzen, als würde ich bei dreißig Grad Schwerstarbeit verrichten. Ich schaute auf meine Finger, bevor ich den Klingelknopf drückte und zu meiner Überraschung gab es kein Zittern. Die Aufregung hatte sich also in einem Maximum an Schweißproduktion entladen und in der Hoffnung, dass ich damit den Tank entleert hatte, klingelte ich.
„Dritte Etage“, forderte eine fremde Stimme mich auf. Verwirrt öffnete ich die Tür und steuerte auf den Fahrstuhl zu. Offenbar war Ewa nicht allein. Auf dem Weg nach oben ging ich die Gespräche im Café Europa durch, aber über ihre Wohnverhältnisse gab es keinerlei Erkenntnisse. Ich betrat ihre Wohnung und tatsächlich erwartete mich die doppelte Anzahl an Weiblichkeit.
„Das ist Elisabeth. Die Mitbewohnerin, von der ich dir erzählt habe“, wurde ich der Fremden vorgestellt. Verdammt. Offenbar hatte ich während des Dates Blackouts gehabt, denn in meinen Erinnerungen existierte niemand mit dem Namen Elisabeth.
„Schön, dass wir uns mal persönlich kennenlernen“, heuchelte ich überzeugend. Sie schenkte mir ein Lächeln, das einstudiert wirkte. Ihre ganze Körpersprache ließ jegliche Authentizität vermissen.
„Hallo“, sagte sie steif und reichte mir vorsichtig die Hand, als hätte sie Angst, sich mit einem Virus anzustecken. Ich zögerte, denn ihre Geste erinnerte mehr an eine Aufforderung zum Handkuss als an eine wirkliche Begrüßung. Schüchtern drückte ich die äußeren Finger zusammen und hoffte, damit nicht gegen eine unausgesprochene Etikette zu verstoßen.
„Setz dich“, rettete Ewa den sich zur Peinlichkeit entwickelnden Moment. Erst jetzt konnte ich die Einrichtung begutachten, die förmlich nach viel Geld schrie.
„Schicke Wohnung“, versuchte ich mich in Small Talk.
„Alles Designermöbel“, versicherte mir Elisabeth.
„Tolle Couch.“ Ich strich vorsichtig über das Polster, um meine Bemerkung zu untermauern.
„Ist ein Unikat von Dalgado.“
„Schön“, brachte ich wenig überzeugend rüber, denn meine fehlende Anerkennung veranlasste Elisabeth zu einem herablassenden Stirnrunzeln. Nicht nur, dass ich nicht wusste, wer oder was Dalgado war. Mein mangelndes Interesse an dem Preisschild machte mich in ihren Augen zu einem unwürdigen Couchsitzer.
„Schön, dass sie dir gefällt, denn darauf wirst du diese Nacht schlafen.“ Mit diesen Worten begrub Ewa meine letzte Hoffnung auf abendlichen Sex. Ein wenig Erleichterung konnte ich nicht leugnen, denn meines Erachtens war unsere Beziehung noch nicht reif für den Austausch von Körperflüssigkeiten.
„Danke. Ich hätte sonst auf der Isomatte in meiner leer geräumten Wohnung schlafen müssen“, erklärte ich in der Hoffnung, etwas Mitleid zu erhaschen.
„So ein Biest“, tat mir Ewa den Gefallen. Wieder peinliches Schweigen und das erdrückende Gefühl, von Elisabeth wie ein Zootier ausgiebig gemustert zu werden.
Erneut durchbrach Ewa die Stille, indem sie anfing, ihre persönliche Beziehung zu ihrer Mitbewohnerin zu erläutern. Offenbar waren beide Freundinnen aus Kindheitstagen. Aus offensichtlich reichen Kindheitstagen.
Wie auch Ewa war Elisabeth Spross einer wohlhabenden Unternehmerfamilie, die ihre Kinder auf die teuersten Schulen schickte. In einer Art Rebellionspackt hatten sie beschlossen, gemeinsam den vorgesehenen Weg von Einser-Abitur, Business-School und Managerposten wenigstens zeitweise zu unterbrechen, um auch außerhalb der Wohlstandsblase die exotische Welt des Normalbürgers bemitleiden zu können. Da bot sich der undankbare Osten an, der nach Ansicht Elisabeths hauptsächlich aus Sozialhilfeempfängern und Rechtsradikalen bestand, die das Geschenk der Einheit auch Jahrzehnte später nicht zu würdigen wussten.
Ausgerechnet hier in Dresden startete ihr Abenteuer der elterlichen Emanzipation, das mithilfe von Designermöbeln und unbegrenzter Kreditkarte ihre Unabhängigkeit von ihren Erzeugern beweisen sollte. Zwölf Monate Gnadenfrist wurden den beiden eingeräumt, bevor sie in den Eliteunis dieser Welt zu internationalen Spitzenkräften geformt werden sollten. Ewas Vater hatte ihr als Bedingung ein dreiwöchiges Praktikum abgerungen, das mich als unerwarteten Nebeneffekt auf diese Couch brachte.
Seit zwei Wochen bewohnten sie diese Dreizimmerwohnung, für deren Miete selbst mein Buchhaltergehalt unzureichend wäre. Mit der Überlegenheit ihres Scheckbuches erkundeten sie das neue Biotop namens Dresden, und ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, eines ihrer ersten Studienobjekte zu sein. Vor allen Dingen Elisabeth urteilte herablassend über die Ureinwohner, die bisher keine zufriedenstellende Vorstellung geliefert hatten und ihren nach englischer Aristokratie klingenden Namen eher verspotteten als bewunderten.
Zum Glück dauerte es nicht lange und ich wurde Elisabeth langweilig. Vermutlich war sie es nicht gewohnt, mit Leuten weit unter ihrem Kontostand zu reden, denn sie machte keinen Hehl aus ihrer Gleichgültigkeit mir gegenüber. Pikiert ließ sie uns allein und brachte damit die Spannungen zwischen Ewa und mir zurück.
„Willst du was trinken?“, fragte sie verlegen. Ich schüttelte den Kopf und stellte ihr die Frage, mit der sie mich kurz zuvor am Telefon überrascht hatte.
„Wo stehen wir jetzt?“
Ihr Gesichtsausdruck war ein Spiegelbild dessen, was mir in meiner Wohnung passiert war. Ich brachte sie in Verlegenheit und die drei Jahre Beziehung mit Peggy spülten meine unterwürfigen Programme wieder an die Oberfläche, die mich regelmäßig zu einer Entschuldigung drängten. Da nützte es nichts, dass eine von Steffis Regeln dagegenzuhalten versuchte. „Sei souverän und selbstbewusst und zeige keine Schwäche durch unnötige Entschuldigungen.“
Ich kam nicht an gegen meine Natur. Aber in dem Moment, in dem ich mich diesem anerzogenen Verhalten ergeben wollte, überraschte sie mich mit einem Kuss.
Meine Reaktion war nicht ganz, was sie erwartet hatte. Verdammt, es war nicht mal das, was ich erwartet hatte. Wie eine Art Schutzreflex über den unerwarteten Angriff zog ich meinen Mund zurück, bevor sie auch nur ansatzweise irgendetwas tun konnte. Warum musste sie mich derart überfallen? Das Fernsehen lebte es doch vor in all den Serien und Filmen. In Zeitlupe näherten sich die Lippen der Protagonisten, die von der ersten Szene an füreinander bestimmt waren. Rhett Butler und Scarlett O'Hara. Han Solo und Prinzessin Lea. Susi und Strolch. Sie alle ließen sich enorm Zeit, bis der Kontakt endlich zustande kam. Manchmal passten ganze Werbepausen dazwischen. Hatte Ewa niemals diese Bedienungsanleitungen für erste Küsse im TV gesehen?
„Tut mir leid.“ Ewa sprang vom Sofa auf und wirkte verwirrt.
„Nein. Ich ... “ Was wollte ich eigentlich sagen? Irgendwas Verworrenes über meine Schuld. Aber ging es überhaupt um die Schuldfrage? Es war keine Zeit für Worte. Ich ging zu ihr und was folgte, war die verwegenste Tat in meinem Leben. Ich drückte meine Lippen auf ihre und obwohl ich die Geschwindigkeit dieses Mal ordentlich drosselte, bemerkte ich ihre Überraschung.
Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie sich dem Angriff ergab. Als sie ihre Verteidigung endgültig aufgab und aktiv an der Mission erster Kuss mitarbeitete, schien die gesamte Welt für einen Moment stillzustehen. Mein ganzes bisheriges Leben erschien sinnlos im Glanze dieses Augenblickes.
Verdammt, warum hatte ich so viel Zeit mit langweiligen Frisurenpunks verbracht, die Küssen als notwendiges Übel betrachteten, wenn hier draußen solche Göttinnen der Lust willig herumliefen?
Mit Wehmut trennten wir uns und in diesen wenigen lippenfreien Sekunden reifte in uns die Erkenntnis, dass wir uns viel zu früh gelöst hatten. Wieder feierten wir diesen einmaligen Moment des Universums und dieses Mal schien er stundenlang anzudauern. Ich vergaß, dass ich seit Mittag nichts gegessen hatte und mein Magen knurrte. Ich vergaß, dass ich in einem Rosenkrieg steckte, in dem ich sämtliches Mobiliar und sämtliche Bekleidung eingebüßt hatte. Ich vergaß, dass ich in einem langweiligen Hamsterrad hing, in dem ich ein Leben lang sinnlose Energie verschwenden würde. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich glücklich und gemeinsam kosteten wir dieses Gefühl die ganze Nacht aus.
Ich erwachte in ihrem Bett und der Morgennebel in meinem Hirn gaukelte mir falsche Erinnerungen über eine ausschweifende Nacht vor. Trotz der angestauten Hormone waren wir letzte Nacht nicht den entscheidenden Schritt gegangen und als Beweis dienten unsere Sachen, die weder wild verstreut im Zimmer lagen noch von Ekstase zerrissen an uns herabhingen. Tatsächlich hatten wir uns wild knutschend und vollkommen angezogen irgendwann hier her zurückgezogen und waren trotz aller Leidenschaft schließlich eingeschlafen.
Es war Mittwoch und dieser Morgen würde schon aufgrund der Rahmenbedingungen für alle Ewigkeit als einer der ungewöhnlichsten einer möglichen Biografie herausstechen. Ich lag in einem fremden Bett, in dem ich vollkommen bekleidet die Nacht neben einer Göttin verbracht hatte, deren Lippen ich besser kannte als meine Eigenen und bei der es trotz anbetungswürdiger Körperrundungen nicht zu sexuellen Handlungen gekommen war. Charles Bukowski würde sich im Grabe umdrehen bei dieser verpassten Gelegenheit, aber ich redete mich damit raus, dass die Zeit kommen würde, in der er und Hugh Heffner stolz auf mich herabblickten. Sanft küsste ich Ewa auf die Wange und ihr verschlafenes Lächeln war der perfekte Start in den Tag.
„Morgen“, säuselte sie nicht ganz munter. Ich küsste sie und als wir uns trennten, sprach sie eine der unangenehmsten Wahrheiten aus.
„Du brauchst eine Dusche.“
„Und frische Klamotten“, ergänzte ich, wobei sie mir nur bei Ersterem wirklich helfen konnte. So widerlich es auch war, ich kam nicht drumrum mich nach der Dusche wieder in das müffelnde Slayer-Shirt zu quetschen. Wenigstens waren die Socken noch nicht auffällig und über die Unterwäsche verhängten wir ein unausgesprochenes Schweigegelübde. In diesem undefinierten Zustand zwischen halbwegs vernünftigem Körpergeruch und nach einer Waschladung schreiendem Outfit begab ich mich zur Arbeit.
Mein Morgengruß war an diesem Tag so voller Energie, dass selbst Ernest kurz aus seiner Zahlenwelt auftauchte und mir ein abschätzendes Lächeln schenkte. Bei Mandy weckte meine übermäßig gute Laune Misstrauen und da sie unsere Verabredung am gestrigen Tage mitbekommen hatte, zog sie ihre eigenen Schlüsse, die sicherlich erschreckend nah an der Realität waren.
Als eine Stunde später Ewa im Büro erschien, machte Mandy es sich zur Tagesaufgabe, verräterische Signale zwischen uns zu entdecken, um ihre aufgestellte These zu bestätigen. Es fiel uns schwer, aber diszipliniert vermieden wir bis zur Mittagspause selbst den kleinsten Augenkontakt. Erst als Mandys Aufmerksamkeit etwas nachließ, schenkte ich Ewa ein kurzes Lächeln, das sie umgehend mit einem eigenen Lächeln beantwortete und mir damit eine Motivationsspritze verabreichte, die mich mein Tagespensum in Rekordzeit erledigen ließ.
„Was machen wir heute Abend?“, fragte ich, als wir zusammen Mittag aßen.
„Dir Klamotten kaufen“, enttäuschte sie meine Hoffnung auf eine neue Runde Knutschen.
„Und danach?“ Wo zum Teufel kam dieser balzende Unterton her? Ich kannte sie nicht gut genug, um diese unausgesprochene Anfrage für Sex so unverblümt anzubringen.
„Wer weiß“, erwiderte sie nicht weniger balzend. Den Rest des Arbeitstages fuhr meine Fantasie Achterbahn.
Wir trafen uns am Abend in der Innenstadt. Zwischen all den Konsumtempeln der modernen Welt wollten wir Niklas Jakubowski ein neues Outfit besorgen. Aus Gewohnheit steuerte ich auf die lokale Primark-Filiale zu, was Ewa zu einem ungläubigen Stirnrunzeln veranlasste. Nach einem Vortrag über pakistanische Kinderhände, die für einen Hungerlohn die Schule schmissen, um für uns Billigklamotten zu nähen, überredete sie mich, ihr in eine Edelboutique zu folgen.
Hier durften die Kinderhände edle Stoffe zu Designermode verarbeiten, die dann privilegierte Jugendliche mit der Kreditkarte ihrer Eltern überteuert erwerben konnten. Ein sündhaft teures Hemd, eine Hose deren Stoff auf der Haut fast einen Orgasmus garantierte und zwei Slips, die aus so wenig Material bestanden, dass ich das Gefühl hatte, unten ohne unterwegs zu sein, brachten mich nah an mein Kreditkartenlimit.
„Zieh es an“, forderte sie mich noch im Laden auf. Offenbar war ich nicht der einzige, dem die Mischung aus Slayer-Shirt und Billigjeans peinlich war.
Es war unglaublich. Als ich in die triste Novemberrealität aus nassgrauer Dämmerung und windiger Tristesse schritt, fühlte ich mich der vorbeihuschenden Primark-Kundschaft überlegen. Die Kleidung machte mich zu einem besseren Menschen und ich ertappte mich dabei, wie ich mitleidig auf einen Mittfünfziger herabblickte, der stolz seine C&A-Tüte vor sich hertrug.
Dieser Rausch eines eleganten Kleidungsstils machte hungrig und dieses Mal vermied ich es, von mir aus auf die nächste Burger-King-Filiale zuzusteuern. Mein knurrender Magen musste sich noch eine Weile gedulden, denn Ewa wollte unbedingt in dieses angesagte Café in der Neustadt, dass aufgrund regionaler Kost ökologisch unbedenklich war. Eine halbe Stunde später saß ich vor einer Speisekarte, die anscheinend alles Unbekannte dieser Welt offerierte.
„Was ist denn Bulgur?“, fragte ich. Diese mir unbekannte Substanz hätte locker zur Namensfindung des Cafés dienen können, denn praktisch alles auf der Karte war bulgurhaltig.
„Ein Getreide aus der Türkei“, erklärte mir Ewa und nach meinem skeptischen Blick hinsichtlich der Regionalität, erklärte sie mir schnell, dass ein Bulgursalat am besten mit heimischen Tomaten schmecke.
„Verstehe“, murmelte ich und ließ weiter meinen Blick über die Karte schweifen, in der Hoffnung, etwas Substanzielles wie Cheeseburger oder Steak zu finden. Vergeblich. Am Ende zwängte ich mir ein paar Nudeln rein, deren Soße durch eindeutig zu viel Curry jeden italienischen Koch in den Suizid getrieben hätte.
Das Essen wurde mehr und mehr zur Nebensache und obwohl ich es bereute, das Schnellrestaurant mit der Krone von vornherein ausgeschlossen zu haben, entwickelte sich dieser Abend zu einem Höhepunkt in Sachen Interaktion in weiblicher Gesellschaft. Wir quatschten über Gott und die Welt und merkten gar nicht, wie die Zeit rannte. Erst als uns der Kellner höflich herauskomplimentierte, wurde uns bewusst, dass vier Stunden verdammt kurz sein konnten, wenn man das Zusammensein genoss.
Eine halbe Stunde vor Mitternacht betraten wir ihre Wohnung und mit dem Durchschreiten ihrer Wohnungstür war die lockere Stimmung dahin. Wo kam dieser Elefant im Raum auf einmal her? Die Frage, ob wir heute weitergehen würden als am Abend zuvor ließ uns verkrampfen.
„Du musst nicht auf der Couch schlafen“, sagte sie schüchtern und verstärkte damit die unangenehme Verklemmung.
Als Antwort bekam ich nicht mehr als ein „Okay“ heraus und als wir uns tief in die Augen sahen, bemerkte ich eine Unsicherheit, die auch ich verströmte. Ein paar Momente standen wir uns wortlos gegenüber, bis sie auf mich zukam und mich leidenschaftlich küsste. Nur kurz dieses Mal, aber als sie von mir abließ, nahm sie meine Hand und führte mich schweigend in ihr Schlafzimmer. Ich stand vor ihrem Bett und wie sie so dasaß und begann, ihr Oberteil auszuziehen, war die Entscheidung endgültig gefallen.
Die erste gemeinsame Nacht konnte einem im Monopoly des Kennenlernens entweder die Schlossallee einbringen oder ein Zurück auf Los bedeuten. All die geglückten Anstrengungen, die Angebetete in zahlreichen Dates von den eigenen Qualitäten zu überzeugen, konnten an einem Abend zunichtegemacht werden. Der Leistungsdruck war enorm, aber ich war keine 17 mehr und trotz meiner mangelnden Erfahrungen mit dem weiblichen Geschlecht gab es ein paar Routinen, die universell eingesetzt werden konnten.
Eine dieser Routinen war das Öffnen des BHs. Eine kurze Rückblende hinsichtlich der Erfolgsquote ließ mich erneut verkrampfen. Vorn oder hinten? Die Lage des Verschlusses war nicht sofort ersichtlich, aber Ewa deutete mein Zögern als Unentschlossenheit und kam mir weiter entgegen, indem sie ihre Brüste von sich aus freilegte.
Jetzt war alles Unsichere wie weggefegt. Der Anblick drückte Vernunft, Zweifel und falsche Scheu in die mentale Ablage mit der Kennung „unwichtig“. Was blieb, war der Urinstinkt an sich und der hatte die letzten Wochen einen beängstigen Pegel erreicht und wollte unbedingt abgebaut werden. Die Triebe übernahmen mein Handeln und bei dieser Art von Autopilot war der vernünftige Niklas höchstens Zaungast.
Ich musste raus aus dieser animalischen Schleife, um nicht auf besagtes Los zurückzufallen, denn hier hatte ich keine von Steffis typischen Eroberungen vor mir, die unabhängig vom Gelingen des eigentlichen Aktes am nächsten Tag für immer verschwinden würde. Ewa war ein Langzeitprojekt und auch wenn es mir schwerfiel, ich musste meinen egoistischen Hunger nach männlicher Befriedigung ihren Bedürfnissen anpassen.
Ironischerweise sandte mir mein Unterbewusstsein ein Bild von Peggy mit ihrer Steampunk-Frisur, um mich wieder auf Linie zu bringen. Mit Erfolg. Ich war zurück in der Realität und die offenbarte mir, dass ich keinerlei Schimmer hatte, wie ich Ewas Flamme der Leidenschaft weiter anheizen sollte. Erneut musste eine der Universalregeln herhalten und so ging ich auf sie zu und begann sie wild zu küssen.
Jetzt bekam die Sache eine Eigendynamik, die uns beide in Ekstase versetzte. Ich ließ dem Trieb wieder mehr Leine, was dankbar angenommen wurde. Das stachelte sie an, ihre eigene Zurückhaltung weiter zurückzufahren, und so tasteten wir uns gegenseitig an die Grenzen der Verträglichkeit heran.
Es war an mir, sie zu überschreiten, aber zu meiner Überraschung gab es keine Empörung oder schlimmer noch eine vorgetäuschte Akzeptanz des ungewollten Manövers. Ein kurzer, subtiler Seufzer, dass ich mich gerade vergriffen hatte, reichte aus, und die Lektion war verinnerlicht. Auch sie war nicht fehlerfrei, aber die unausgesprochene Vereinbarung, die ganze Sache als „Learning by doing“ zu behandeln, perfektionierte unser Handeln. Tatsächlich schafften wir es noch vor dem eigentlichen Finale, uns so weit aufeinander einzustimmen, dass ich bei unserem ersten Sex größere Befriedigung erlangte als in drei Jahren Beziehung mit Peggy.
„Das war schön“, säuselte sie, als wir aneinander gekuschelt die Nachwehen genossen.
Ich fühlte mich erschöpft, aber nicht das Körperliche hatte mich ausgelaugt. Diese Abstimmung auf unsere jeweiligen Bedürfnisse war schwere mentale Arbeit, die zwar zu ungeahnter Befriedigung führte, aber auch geistig ermüdete.
Ich rekapitulierte das Erlebte und kam zu dem Schluss, dass ich zum zweiten Mal entjungfert worden war. Meine bisherigen Erfahrungen glichen dem Abarbeiten einer Bedienungsanleitung. Punkt für Punkt wurde das Möbelstück zusammengesetzt und mit dem Anziehen der letzten Schraube überkam uns, so Gott wollte, der gemeinsame Höhepunkt. Der Weg dorthin glich einem notwendigen Übel um die Freuden des Orgasmus zu erfahren. Ewa zeigte mir, dass dieser bisher als unausweichliches Ritual abgestempelte Ablauf seine ganz eigenen Reize besaß. Voraussetzung war ein Agieren auf Augenhöhe. Die gegenseitige Wertschätzung führte zu Vertrauen und am Ende zu Intimität, welche den abschließenden Höhepunkt zu einem bedauerlichen Abschluss degradierte. Diese neuen Wesenszüge einer möglichen Beziehung begannen, meine Verliebtheit in Ewa langsam in Liebe zu wandeln.
Ewa war bereit für eine zweite Runde und die Zweifel, ob mein Körper die notwendigen Bedingungen dafür wiederbelebt hatte, verscheuchte sie mit einem leidenschaftlichen Kuss. Ein kurzer, bestätigender Impuls zwischen meinen Beinen verriet, dass die Ampel definitiv auf grün stand. Mit dem neu erworbenen Einfühlungsvermögen für den jeweils anderen konnten wir das Erlernte aus dem ersten Versuch gewinnbringend umsetzen und so befanden wir uns von der Sekunde null an in Ekstase. Was folgte, war der unglaublichste Abend in meinem bisherigen Leben und wir perfektionierten unsere Zuneigung in zwei weiteren Runden. Die Pausen dazwischen nutzten wir für ausgiebige Zärtlichkeiten und so bildeten wir die ganze Nacht eine Vereinigung, die sich abwechselte zwischen Begierde und Befriedigung.
Der Mangel an Schlaf machte es mir schwer, den Donnerstagmorgen in der üblichen Art und Weise abzuarbeiten. Ich verzichtete vorerst auf die Dusche und steuerte nur mit dem Designer-Slip aus Nichts auf der Haut Richtung Kühlschrank. Der erhöhte Energieaufwand der letzten Nacht verlangte nach Nahrung, aber irgendwie enttäuschte mich die mit viel zu viel Gemüse überladene potenzielle Energiequelle. Aus Mangel an brauchbaren Alternativen biss ich in eine Karotte und durchsuchte die Schränke nach einem Kanten Brot.
Der hohe Pegel an Zufriedenheit und Selbstvertrauen unterdrückte aufkommende Gefühle von Scham. Immerhin konnte Elisabeth jeden Moment auftauchen und ihr vorgefertigtes Bild eines peinlichen Ossis um den Punkt „Isst nackt in der Küche Karotten“ erweitern. Ich hatte das Gefühl, als würde pures Testosteron durch meine Adern pulsieren. Nach viermaligem Akt konnte mich nichts vom Goldmedaillenpodest für den ausdauerndsten Liebhaber stoßen. Schon gar nicht eine versnobte Mitbewohnerin, die jeden außerhalb ihrer Blase verachtete.
Nach einer ausgiebigen Dusche verabschiedete ich mich von Ewa und obwohl die Buchhaltung von Pollmen-Industries uns in knapp zwei Stunden wiedervereinigen würde, tat ich mich schwer mit der vorübergehenden Trennung. Ein leidenschaftlicher Kuss weckte kurz das Verlangen auf eine fünfte Runde, aber Elisabeth zerstörte den Moment, als sie uns ungefragt mit ihrer Anwesenheit beglückte, um ihre Herablassung im ganzen Raum zu verbreiten.
Eiskaltes Wasser fiel aus den dunklen Wolken, als ich ins Freie trat, aber am heutigen Morgen schien für mich die Sonne nie heller. Nass, durchgefroren, aber glücklich betrat ich die Buchhaltung und verzichtete dabei auf die üblichen Kabbeleien mit Mandy. Der Entzug von Aufmerksamkeit spornte sie zu einer Extrarunde Sticheleien an, die ich gekonnt ignorierte. Die Tretmühle mit ihren nervigen Ticks war mir an diesem Morgen egal und voller Elan stürzte ich mich in die Arbeit.
Der Blick in den Terminkalender bestätigte das ungute Gefühl, dass heute ein unangenehmes Ereignis bevorstand. „Außerordentliche Betriebsversammlung“, erinnerte mich ein Extrafenster auf dem Monitor. Es verkündete, dass in 15 Minuten über den Zusammenschluss mit der Gropius AG und die Personalsituation allgemein informiert wurde. Noch wirkte das Dopamin der letzten Nacht, und meine Überzeugung, dass nichts meine gute Laune für die nächsten zehn Jahre mindern würde, war unerschütterlich.
„Guten Morgen“, begrüßte der Geschäftsführer das versammelte Kollegium. Peter Neumann, eingetragener CEO von Pollmen-Industries. Trotz fehlenden Doktortitels und ohne Verwandtschaft zum Geldadel hatte er es aus den Niederungen der Belegschaft bis ganz nach oben geschafft.
An die Spitze der Pyramide hatte ihn sein ausgeprägtes Verkaufstalent gebracht, das nicht nur bei der Kundschaft reihenweise die Scheckbücher zum Glühen brachte. Mit dieser gesegneten Gabe hatte er ein weitverzweigtes Kontaktnetz aufgebaut, das ihn bis in die Chefetagen von Ämtern, Institutionen und Politik führte. Wichtige Bausteine zu diesem Erfolg bestanden in seinem smarten Auftreten, dem immens teuren Kleidungsstil und vor allen Dingen der lässigen Langhaarfrisur, die je nach Anwendungsfall entweder als cooler Manager oder guter Kumpel interpretiert werden konnte.
Er war einer dieser Menschen, denen man allein wegen seiner Ausstrahlung uneingeschränkt Vertrauen entgegenbrachte und diese Eigenschaft öffnete so manche Herzen und noch mehr Geldbeutel. Als wäre das nicht ungerecht genug, besaß er ein rhetorisches Talent, mit dem er jedem Eskimo in der Arktis die Notwendigkeit eines zweiten Kühlschrankes erklären konnte. Es gab keinen Besseren, um unangenehme Wahrheiten zu verkünden, und für die hatten wir uns schließlich versammelt.
Es begann mit der Vorstellung der Gropius AG. Neumann schaffte es, den vorherrschenden Eindruck eines international agierenden Kraken, der nichts anderes im Schilde führte, als kleine Firmen aufzukaufen, um ihre Mitarbeiter zu entlassen, in einen glorreichen Konzern zu wandeln, dem nur das Wohl von Menschen, Umwelt und jeglichen Minderheiten am Herzen lag. Er entwarf eine glorreiche Zukunft für die Firma Pollmen-Industries, die mit den zusätzlichen finanziellen Mitteln in unerforschte Märkte vordringen könne und der sich ungeahnte Möglichkeiten ergaben.
Balkendiagramme wurden vom Beamer an die Wand geworfen, welche von links nach rechts anwuchsen. Kurven wurden präsentiert, die steil nach oben zeigten, und Zahlen in Millionenhöhe scheinbar wahllos in den Raum geworfen. Es war mir nicht immer klar, was das jeweilige Diagramm verdeutlichen sollte, aber der Grundtenor war eindeutig: Wir würden bis in alle Ewigkeit wachsen und unsere Produkte gäbe es bald in den hintersten Winkeln der Welt.
Die Gropius AG war ein Heilsbringer, neben dem selbst Jesus Christus oder Mutter Theresa kriminell wirkten. Neumann begeisterte sein Publikum mit Visionen, die nah an eine Weltherrschaft in Sachen Schraubenbedarf heranreichten. Am Ende gab es keine Zweifel mehr: Mit der Gropius AG brachen goldene Zeiten an. Neumanns Euphorie schien auf die Belegschaft überzuspringen, so dass das nachfolgende „aber“ nur halb so schrecklich wirkte.
Wieder tauchte dieser schwer verständliche Begriff auf, der getarnt als Wortungetüm den eigentlichen Zweck überdeckte. Synergieeffekte. Von Einsparungen im gemeinsamen Einkauf der Rohstoffe über bessere Konditionen von Krediten bis hin zu neuen Vertriebswegen begeisterte er das Publikum, um dann auf dieser selbst geschaffenen Welle der Euphorie eine Personalanpassung zu offenbaren.
„Es wird einige Aufgaben geben, die in Zukunft teilweise von der Gropius AG übernommen werden“, umschrieb er das Wort „Einsparung“.
„Wir werden versuchen, das freigewordene Personal in anderen Abteilungen unterzubringen, um betriebsbedingte Kündigungen zu vermeiden.“ Der Beamer zeigte jetzt eine schlichte Excel-Tabelle, die jede Abteilung mit ihrem Einsparpotenzial präsentierte.
„Zum Beispiel Buchhaltung. Vorgesehen ist die Reduzierung um eine Stelle. Der Vertrieb ist sicherlich interessiert an einem Assistenten mit Kenntnissen in Rechnungswesen“, brachte er ausgerechnet mein mögliches Schicksal als Beispiel an.
„Außerdem offenbaren sich für die betroffenen Mitarbeiter Chancen ihre Fähigkeiten in der Breite zu verbessern.“
Peggy kam mir in den Sinn, die solche Pläne schon immer für mich vorgesehen hatte. Es war nicht lange her, da hätte mir eine vage Zukunft als Vertriebsmitarbeiter den ein oder anderen Beziehungsbonus eingebracht. Vermutlich einen sehr kurzlebigen Bonus, der sich bei einem Scheitern im neuen Terrain mit Sicherheit in eine Katastrophe verwandelt hätte.
Auch wenn Peggy mich gerne als 24-Stunden-Macher gesehen hätte, der Kunden am Telefon von Höchstpreisen überzeugte und der mit leistungsabhängigen Boni die S-Klasse finanzierte oder den Malediven-Urlaub bezahlte, lag mir das Verhandeln überhaupt nicht. Auf jedem Markt war ich ein gern gesehener Kunde, da ich Feilschen als unhöflich empfand und jeden Preis sofort akzeptierte. Ich passte genauso wenig in die Vertriebsabteilung wie Neumann in ein Schweigekloster. Es war einfach nicht meine Natur.
Es ging zurück ins Büro, aber bevor wir das ganze Excel-Tabellen- und ERP-Formulare-Ausfüllen wieder anschieben konnten, versammelte Schumacher seine Untertanen für eine persönliche Ansprache. Er befreite sich von seinem Schlips, den er im Büro eigentlich nie ablegte. Was immer dieses ungewöhnliche Manöver auch bezweckte, der rebellische Akt gegen die Kleidervorschriften für Vorgesetzte machte ihn tatsächlich zehn Jahre jünger. Ich musste mir eingestehen, dass er damit einiges an Vertrauen bei mir erhaschte. Sicher eine nützliche Nachwirkung eines Führungskräftetrainings, die der Belegschaft bei unangenehmen Botschaften die Angst nehmen sollte.
„Leider betreffen die Einsparungen auch unsere Abteilung“, zerstörte er das erworbene Vertrauen gleich wieder. Erstens war das Wort „leider“ negativ besetzt und sollte vermieden werden – etwas, das man vermutlich im Grundkurs für gute Personalführung lernte – und zweitens hatten sich Pollmen-Industries und die Gropius AG auf den verharmlosenden Begriff „Synergieeffekte“ geeinigt.
„Wir sollten die ganze Sache auf Freiwilligenbasis klären.“ Schumacher verfrachtete sein Hinterteil auf Ursulas Schreibtisch und täuschte mit dem Kreuzen der Beine Lässigkeit vor.
„Also ich bin zu alt für eine neue Stelle“, rechtfertigte sich Ursula in der gewohnten Empörungstonlage, mit der sie jegliche Diskussionen im Keim erstickte.
„Dito“, grummelte Ernest.
„Außerdem habe ich keine Lust, mich mit den Vertriebsjüngelchen über hippe Buchführung zu streiten“, ergänzte er. Damit lag der Ball bei Mandy. Die hatte es verpasst, sich eine passende Ausrede zurechtzulegen, sodass sie ins Stottern kam.
„Also ich ... “, fing sie an und wusste nicht, wie sie den Satz beenden sollte. Schumacher half ihr aus der Klemme und schaute zu mir rüber.
„Äh ... “ Ich fühlte mich ähnlich überrumpelt wie Mandy. Da die sich noch nicht verbal festgelegt hatte, musste ich die Gelegenheit nutzen. Ich entzog mich gerade rechtzeitig dem Druck des Übriggebliebenen, von dem erwartet wurde, dass er sich für die Abteilung aufopferte.
„Kein Bedarf“, schoss ich hervor, bevor Schumacher wieder seinen Blick auf Mandy richten konnte. Die saß nun in der moralischen Zwickmühle, denn alle hofften im Geheimen, dass sie das Dilemma mit einer Zusage unkompliziert aus der Welt schaffte. Von vier Seiten wurde sie ins Visier genommen, aber alles hoffnungsvolle Anstarren half nichts.
„Ich will auch nicht“, erwiderte sie unsicher. Schumacher stöhnte auf und für einen Moment war ich mir sicher, dass er seinen Schlips aufgrund von Misserfolg wieder anlegen würde.
„Das ist nicht schön“, sagte er stattdessen.
„Wenn keiner in eine andere Abteilung wechseln möchte, bleibt nur eine betriebsbedingte Kündigung“, erklärte er in der Hoffnung, mit dieser subtilen Drohung einen seiner Angestellten doch noch von den Vorteilen einer Vertriebsstelle zu überzeugen. Vergebens. Alle duckten sich weg, sodass Schumacher gezwungen war, konkreter zu werden.
„Die Alternative wäre Entlassung.“ Seine Stimme hatte etwas Flehendes. Es herrschte Grabesstille und keiner wagte sich zu bewegen. Im Mikado der Personalanpassung war es wichtig jegliche Aufmerksamkeit zu vermeiden.
„Gut, dann melde ich der Personalabteilung, dass niemand gewillt ist in den Vertrieb zu wechseln. Die Konsequenz ist dann halt die Streichung der Stelle durch betriebsbedingte Kündigung“, verkündete er trotzig.
Ein undefinierbares Geräusch kam aus Ursulas Richtung. Soweit ich es zuordnen konnte, war es ein Seufzer aus Panik und böser Vorahnung. Jetzt ging es nicht mehr um die Unannehmlichkeiten einer Versetzung. Ihr ganzer Daseinszweck stand auf dem Spiel. Dabei würde sie von solch einer Entscheidung sogar profitieren. Das ausgeklügelte Punktesystem bei betriebsbedingten Kündigungen würde sie auf der Liste der Streichkandidaten ganz nach unten rücken. Ernest schien sich dieser Tatsache bewusst.
„In dem Fall würde es zwischen euch beiden ablaufen“, sagte er und deutete auf mich und Mandy. Der Meister der unverblümten Wahrheit hatte recht. Allein die Anzahl der wenigen Jahre bei Pollmen machte die Sache zu einem Duell zwischen mir und dem blonden Kurvenwunder. Mandy starrte mich an und meine mangelnde Deutungsgabe hinsichtlich weiblicher Empfindungen schlug voll durch. War das Kampfgeist oder Solidarität, in schweren Zeiten zusammenzuhalten?
Wohl das Erste. So wie ich Mandy einschätzte, entwickelte sie bereits Pläne, um Pluspunkte bei Schumacher zu sammeln. Der hatte zwar keine Entscheidungsgewalt, konnte sie aber als unersetzlich einstufen. Auch wenn es mich interessiert hätte, wie weit sie für dieses Privileg gehen würde, nahm ich ihr die intrigante Vorfreude.
„Gut. Wenn es einen treffen muss, dann mich“, verkündete ich tapfer. Hatte ich das wirklich laut gesagt? Ich schaute in überraschte Gesichter. Die bestätigten mein Kurzschlusshandeln.
„Sicher?“, fragte Schumacher und gab mir die letzte Chance auf ein „April,April!“
„Klar.“ Verdammt. Wer sprach da andauernd? War das schon Wahnsinn oder nur kalte Berechnung? Fakt war: Die Gropius AG hatte beschlossen, dass unsere Buchhaltung in Zukunft mit einer Stelle weniger klarkommen sollte, und die Wahrscheinlichkeit war hoch, dass ausgerechnet auf meine Zahlenkünste verzichtet werden würde. Meine Bereitschaft, dem notwendigen Übel einer betriebsbedingten Kündigung entgegenzukommen und allen Protagonisten eine peinliche Auslese zu ersparen, würde mir einen halbwegs heroischen Abgang ermöglichen. Gegen Mandys Waffen wäre ich ohnehin chancenlos.
Vielleicht war es aber auch das Ergreifen einer einmaligen Gelegenheit? Unter dem Vorwand der Einsparung/Synergieeffekte entging ich dem gesellschaftlichen Stigma keiner geregelten Arbeit nachzugehen. Hier bot sich die Chance, der Tretmühle für eine überschaubare Zeit zu entkommen und vielleicht einen der Wunschträume aus diesen endlos langen Bürotagen im Neonlicht zu realisieren.
War das der eigentliche Grund für meine vermeintliche Kurzschlussentscheidung? Hatten irgendwelche mysteriösen Kräfte meines Unterbewusstseins für genau diesen Moment das Heft des Handelns übernommen und die Vernunft überrumpelt? Mein Verstand überschlug sich und ich musste ihn regelrecht bremsen bei der Einordnung der Situation. Die Entscheidung war gefallen. Ich hatte meinen Instinkten vertraut, statt der Vernunft zu folgen und es fühlte sich verdammt gut an.
„Gut. Dann werde ich Ihre Bereitschaft der Personalabteilung und dem Betriebsrat mitteilen.“ Schumachers Erleichterung war ansteckend, denn sowohl Ursula als auch Mandy atmeten tief durch. Nur Ernest schien wenig begeistert.
„Lässt mich mit den Grazien ganz allein“, grummelte er und verzog sich hinter seinen Monitor. Ich ließ mich in meinen Bürostuhl fallen und nach ein paar Minuten mit mir selbst wurde mir das ganze Ausmaß meiner Entscheidung bewusst. Die Gedanken kreisten und versetzten mich in eine aufgewühlte Stimmung.
„Alles in Ordnung?“, fragte Ewa. Ich hatte ihr Eintreten nicht bemerkt. Es war noch nicht lange her, da hatte das ganze Universum aus ihrem Duft bestanden, ihren Bewegungen und ihrem alles überstrahlenden Anblick. Trotz dieser offensichtlich einseitigen Ausrichtung meines Verstandes hatte sie es irgendwie geschafft, sich wie ein Indianer an mich anzuschleichen. Ihr Anblick setzte eine Welle von Dopamin frei, die das gerade Erlebte hinwegspülte.
„Könnte nicht besser sein“, sagte ich und grinste sie wie ein Schuljunge an. Sie quittierte den peinlichen Auftritt mit einem verlegenen Lächeln und begab sich an ihren Arbeitsplatz. Mein Blick blieb an Mandy hängen, die wohl gerade die einzelnen Puzzleteile zusammensetzte. Was solls, meine Tage in dieser Bürohölle waren ohnehin auf ein Minimum zusammengeschrumpft.
Vielleicht würde Mandy ja für mein Vermächtnis sorgen. Niklas Jakubowski. Dieser Name würde ehrfurchtsvoll durch die Flure wabbern. War das nicht der Hengst aus der Buchhaltung, der was mit der Praktikantin angefangen hatte? Ehrfürchtig würde dann ein Ja gehaucht werden. Mein Testosteron quoll über und machte es mir noch schwerer, die üblichen Zahlen zu schieben. Ohnehin war mir der Sinn abhanden gekommen. Schließlich hatte mir mein Arbeitgeber verständlich gemacht, dass er eine Zukunft ohne mich plante. Auch wenn mein Gehaltsscheck mich dazu verpflichtete, weiterhin Rechnungen mit der vorgeschriebenen Sorgfalt zu behandeln, schaffte ich es nicht, meine Motivation mit diesem Abhängigkeitsverhältnis in Einklang zu bringen. Ich hangelte mich bis zum Mittag und beim gemeinsamen Mahl überraschte ich Ewa mit der Neuigkeit meiner drohenden Arbeitslosigkeit.
„Du hast dich freiwillig gemeldet?“, fragte sie ausdruckslos. Das machte es mir schwer, ihre Reaktion passend zuzuordnen. War ich jetzt der Rebell, der sich dem System widersetzte, indem er auf einen regulären Job verzichtete, oder war ich der Verlierer, der in Zukunft auf Kosten anderer leben musste, indem er Stütze schnorrte?
„Ja“, antwortete ich mit der gleichen Ausdruckslosigkeit. In Wahrheit war es Unsicherheit über den emotionalen Kurs, den Ewa bevorzugte.
„Du bist echt seltsam“, nährte sie meine Unsicherheit weiter.
„Seltsam gut oder seltsam schlecht?“, fragte ich.
„Seltsam eben.“ Offenbar war sie sich unsicher, wie sie mein Verhalten einordnen sollte. Der Flow des Morgens war jedenfalls hinüber. Eine unnatürliche Verkrampfung machte sich zwischen uns breit. Ein Knoten, den wir erst am Abend würden entwirren können und so gingen wir schweigend ins Büro zurück.
Schumacher fing mich ab, bevor ich meinen vollkommen demotivierten Körper in den Bürosessel verfrachten konnte. Gemeinsam betraten wir den Beratungsraum „Lilie“, wo uns der Betriebsratsvorsitzende Herbert Scheinhäbel mit aufgesetzter Sorge empfing.
„Wie geht es Ihnen?“, fragte er. Er wirkte wie ein Laiendarsteller, der Probleme hatte seinen auswendig gelernten Text fehlerfrei aufzusagen.
„Gut“, erwiderte ich. Jetzt dämmerte es mir. Diese überraschende Zusammenkunft hatte meine freiwillige Kündigung zum Thema.
„Wie ich hörte, lehnen Sie die angebotene Stelle im Vertrieb ab?“ War das überhaupt eine Frage oder wollte er nur eine Rechtfertigung für mein überstürztes Verhalten? Wie sollte ich meine Beweggründe einem Angestellten wie Herbert erklären? Gesetzestexte waren seine Leidenschaft. Täglich acht Stunden unverständliche Paragrafen reiten. Ich musste ihm wie ein Exot vorkommen, da ich beschlossen hatte, auf ein ähnliches Vergnügen im Vertrieb zu verzichten. Die Alternative war eine unsichere berufliche Zukunft und da hörte Herberts Verständnis endgültig auf.
Ich hatte keine Erklärung für ihn, denn auch mein eigener Verstand hatte die Entscheidung vom Vormittag noch nicht richtig einordnen können. Irgendeine rebellische Eingebung hatte sich aus den Tiefen meines Unterbewusstseins erhoben, und mich auf diesen Pfad gezwungen. Auch wenn ich nicht wusste, wo dieser Pfad hinführte, besaß die Verlockung dem geregelten Alltag für eine gewisse Zeit zu entkommen, ihren Reiz. Selbst der vernünftige Niklas musste einsehen, dass meine Berufswahl jederzeit einen Notausgang bereithielt, sollte dieser Reiz sich als Fehler erweisen. So unterwarf ich mich dem immer dominanter werdenden Freigeist.
„Das ist korrekt“, erwiderte ich ohne große Erklärungen.
„Sind Sie sich sicher, Herr Kowalski? Immerhin bleibt Ihnen dann nur die betriebsbedingte Kündigung.“ Jetzt wurde seine vorgetäuschte Sorge endgültig lächerlich. Schumacher räusperte sich.
„Falsche Akte“, warf er vorsichtig ein. Herbert versuchte, die peinliche Verwechslung mit Ignoranz zu überspielen. Er kramte einen weiter untenliegenden Ordner hervor.
„Sind Sie sich sicher, Herr .... “ Sein Blick huschte auf der Suche nach meinem Nachnamen über die erste Seite.
„Jakubowski“, schob er rasch hinterher. Sein ganzes Auftreten wirkte sichtlich überfordert. Vermutlich hatte meine schnelle Absicht die Alternative einer Kündigung vorzuziehen seine behäbige Beamtenmentalität außer Tritt gebracht.
„War mir nie sicherer.“ Die Arbeitswelt mit all ihrer Heuchelei und gespielten Pflichterfüllung manifestierte sich gerade in dem kleinen Männchen vor mir und bestärkte mich in meiner Entscheidung.
„Es ist schade fähige Mitarbeiter zu verlieren, Herr Kowalski.“
Dieses Mal verzichtete Schumacher auf einen korrigierenden Hinweis. Stattdessen griff er nach dem Telefon und bestellte eine Mitarbeiterin der Personalabteilung in den Beratungsraum. Erst jetzt erschloss sich mir der Sinn dieser ganzen Aktion. Es war die Pflicht des Betriebsrates, Niklas Kowalski vom Bleiben zu überzeugen und Herbert Scheinhäbel hatte tatsächlich nichts unversucht gelassen, einen fähigen Mitarbeiter zu binden.
Uta Ziervogel betrat den Raum und eine weitere Akte mit hoffentlich richtigem Namen lag jetzt auf dem Konferenztisch. Die Ursula Schawatzki der Personalabteilung. Auch wenn ihr ein paar Jahre Erfahrung bis zur perfekt inszenierten Empörung á la Ursula fehlten, hatte sie die Arbeit über die Zeit zu einem Wesen geformt, das ihrem Buchhalterpendant den Pokal für die steifste Büroangestellte irgendwann streitig machen würde.
Sie ließ es sich nicht nehmen, den ungeplanten Termin mit aller Entrüstung zu beklagen, und nachdem sie allen unmissverständlich klargemacht hatte, welche Arbeit liegen bleiben würde, widmete sie sich der eigentlichen Aufgabe. Offenbar hatte ich nicht nur Herbert aus dem Tritt gebracht. Auch die eingefahrene Routine in der Personalabteilung wurde durch den selbstlosen Akt meiner Bereitschaft zur Kündigung durcheinander gewirbelt. Die halbe Firma hatte darunter zu leiden, denn offensichtlich wollte man mich schnell loswerden, bevor ich irreparablen Schaden anrichten konnte oder schlimmer noch meine fehlende Motivation auf andere übersprang.
„Wir bieten Ihnen pro geleistetem Jahr in unserer Firma ein Monatsgehalt als Abfindung an“, eröffnete sie mir nach ein paar allgemeinen Floskeln und der erneuten Nachfrage, ob ich mir das alles wirklich gut überlegt hätte, ein Angebot.
„Ab heute sind Sie freigestellt. Ihre Kündigungsfrist beträgt drei Monate. Für diese Zeit werden wir Ihnen das Gehalt weiterzahlen.“ Ich hörte einen leisen Ton der Verachtung in ihrer Stimme. Offenbar hatte sie ein Problem mit der Tatsache, für keinerlei Arbeit auch noch Geld zu bekommen. Ich wollte zu einer Rechtfertigung ansetzen, immerhin war die ganze Sache nicht meine Idee gewesen. Bevor ich ein Wort herausbekam, legte sie mir einen Zettel zur Unterschrift hin.
„Wenn Sie damit einverstanden sind, unterschreiben Sie hier.“ Ich zögerte. Das Alles drohte mich zu überrollen. Heute Morgen war ich mit einer Überdosis Glückshormonen und der festen Überzeugung, dass ich den besten Tag meines Lebens vor mir hatte aus dem Haus gegangen. Nun unterschrieb ich eine ungewisse Zukunft.
„Sie müssen das nicht tun, Herr Kowalski“, führte Herbert seine schlecht gespielte Rolle des besorgten Betriebsrates weiter fort.
„Ich heiße Jakubowski“, blaffte ich ihn an. Es war, als hätte er mit dem falschen Namen meine Handbremse gelöst. Plötzlich hatte ich keinerlei Bedenken mehr das Ende unseres Arbeitsverhältnisses zu besiegeln.
Begleitet von Schumacher betrat ich ein allerletztes Mal die Buchhaltung. Ich wollte meinen Rechner ordnungsgemäß herunterfahren, aber die IT hatte meinen Zugang bereits gesperrt. Vermutlich ließ es sich Baumert nicht nehmen, höchstpersönlich die DEL-Taste zu drücken, um mich auch digital zu feuern. Ich gönnte ihm die späte Genugtuung, denn während er die nächsten drei Monate damit beschäftigt sein würde, Bits und Bytes voneinander zu unterscheiden, beschloss ich in diesem Moment, meine zukünftige Freiheit ausgiebig zu genießen. Auch wenn mir die Vorstellung fehlte, welche Möglichkeiten ein Regenmonat wie November zu bieten hatte, war ich voller Vorfreude auf kommende Abenteuer.
Nun ging es an die Verabschiedung. Ein letztes Mal Heuchelei, jedenfalls für die weibliche Belegschaft der Buchhaltung. Ich stand Mandy gegenüber und peinlich berührt wich sie meinem Blick aus.
„Machs gut“, sagte sie leise und hielt mir die Hand hin. In diesem Moment wurde mir bewusst, dass das unsere erste Berührung überhaupt war. Mal abgesehen von Peggy gab es niemanden, mit dem ich die letzten Jahre so viel gemeinsame Lebenszeit verbracht hatte. Wir hatten gemeinsam die Tücken des ERP-Systems verflucht, uns über zu spät eingereichte Rechnungen echauffiert und über die Urlaubstage gestritten, die wir seltsamerweise immer zur gleichen Zeit nehmen wollten. Das alles war vollkommen kontaktlos abgelaufen und ein wenig Wehmut ergriff mich, weil ich es versäumt hatte, die Mandy hinter der Buchhalterfassade zu ergründen.
Stattdessen hatten wir täglich über Kleinigkeiten gestritten, die im Lichte meines Abschiedes vollkommen banal wirkten. Wir waren im selben Alter, teilten dieselben Interessen und trotzdem hatten wir den Durchbruch auf die persönliche Ebene nie geschafft. Vierzig Stunden die Woche hatten wir diesen Schreibtisch geteilt und ich hatte keine Ahnung, wann ihr Geburtstag war oder was sie in ihrer Freizeit unternahm. Reue machte sich in mir breit, weil wir nicht mal versucht hatten, den Eisblock zwischen uns zum Schmelzen zu bringen. Wir hatten im selben Hamsterrad gestrampelt und uns trotz allem gegenseitig Knüppel in die Beine geworfen. Dabei kaschierten wir nur unsere Unsicherheit über die Herausforderungen des Berufsalltags. Niemand hatte uns eine Alternative aufgezeigt, als wir von der Schulbank in die Arbeitswelt gestolpert waren. Unsere kleingeistigen Konflikte wurden zur Blaupause eines alltäglichen Berufslebens. Ich wollte noch etwas Bedeutungsschwangeres sagen, brachte aber nur ein klägliches „Tschüss“ heraus.
Ich ging zu Ernest und hielt ihm die Hand hin, aber er überraschte mich, indem er mich herzlich umarmte. Dieses Manöver hatte ich nicht kommen sehen, und so wirkte die Verabschiedung in ihrer Herzlichkeit ziemlich einseitig. Er versicherte mir, dass die Zusammenarbeit ihm immer Freude bereitet hatte, und wünschte mir alles Gute für die Zukunft.
Jetzt war Ursula an der Reihe und tatsächlich schaffte ich es, ihre allgemeingültige Körperhaltung aus steifer Spießigkeit zum Wanken zu bringen. Nervös rutschte sie auf ihrem Sessel herum und wirkte überfordert. Der Zwiespalt zwischen gesellschaftlicher Verpflichtung, etwas Aufbauendes zu sagen und ihrer Einstellung überlegener Arroganz gegenüber einem jüngeren Mitarbeiter war unmöglich in Einklang zu bringen. Der kleinste Hauch von Mitleid mir gegenüber würde einen Verlust an Respekt vonseiten Mandy oder Ewa bedeuten. Andererseits wollte sie sich nicht nachsagen lassen, dass sie der üblichen Praxis einer Beileidsbekundung für den geschassten Mitarbeiter nicht folgte. Sie wirkte verärgert über die Unlösbarkeit dieses Dilemmas und ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie mir und meiner spontanen Entscheidung die Schuld dafür gab.
„Also, junger Mann“, fing sie mit der typischen Anrede an und hoffte offensichtlich, dass ich ihr mit ein paar Worten entgegenkam. Ich verweigerte ihr den Gefallen und ließ sie zappeln.
„Na ja, ich ... “, zwei Worte, die einen dezenten Unterton von Vorwurf enthielten. Offenbar schaffte ich es nicht mal in den letzten Minuten, ihren Vorstellungen zu entsprechen.
„Ich wünsche Ihnen alles Gute und viel Glück bei der Arbeitssuche“, sagte sie gequält und ein Dolmetscher für verlogene Phrasen würde das sicherlich mit „Geben Sie sich nächstes Mal mehr Mühe, denn Sie finden schwer was Neues mit dieser Arbeitseinstellung.“ übersetzen. Ich hauchte ihr ein dezentes „Danke“ entgegen und steuerte auf die Bürotür zu.
Ein letztes Mal umdrehen, forderte der melancholische Niklas in mir, aber er wurde überstimmt vom rebellischen Niklas, der vollgetankt mit neuem Selbstwertgefühl diese mitleiderregende Geste unterband. Mit einem Lächeln im Gesicht ging ich auf den Haupteingang zu, flankiert von Schumacher, der mir letztes Geleit gab.
„Tut mir leid, dass es so gelaufen ist“, versicherte er mir, als ich ihm meine Zugangskarte überreichte. Er drückte mir zum Abschied die Hand und verschwand in diesem kahlen Betonbau, der mir nie so hässlich wie heute vorgekommen war.
Ich atmete tief ein, so als würde ich einen letzten Atemzug Pollmen-Industries nehmen. Mit dem Abstieg der großen Eingangstreppe würde ich dieses Kapitel meines Lebens endgültig hinter mir lassen. Noch wagte ich keinen Schritt, denn zu viele Gedanken kreisten in meinem Kopf. Was waren das doch für verrückte Wochen!
Peggy war weg, ich hatte eine leere Wohnung und keine Arbeit mehr. In Kombination mit dem tristen Novemberwetter drohte eine handfeste Depression, aber eine andere Aussicht bot jede Menge Sonnenschein. Ewa überstrahlte alles, trotz der Befürchtung, dass meine Kündigung ihr wohlwollendes Bild von mir ankratzen könnte. Nicht zu vernachlässigen war der finanzielle Aspekt. Mit der Abfindung schwang sich mein Kontostand in ungeahnte Höhen auf und da ich weiterhin auf der Gehaltsliste stand, waren die nächsten Monate abgesichert. In diesem Wissen wagte ich den ersten Schritt, und mit jeder weiteren Stufe verfestigte sich die Ansicht, dass eine glorreiche Zukunft vor mir lag.
Was nun? Es war Donnerstagnachmittag und ich stand in einer Stimmung an der S-Bahn Haltestelle, die zwischen Wehmut, Erleichterung und Abenteuerlust schwankte. Bei Letzterem beschränkten sich die Aktionen vorerst auf solche gewagten Sachen wie Ausschlafen, an einem Werktag mittags die Einkaufszentren unsicher machen oder den Fernseher schon um neun Uhr einschalten. Eine Welt voller Möglichkeiten lag vor mir und umso erstaunlicher war es, dass meine Fantasie nichts Besseres zu bieten hatte, als das Ausleben eines Hartz-4-Alltags. Da musste es mehr geben. Mein Verstand wusste mit den neugewonnenen Freiheiten nichts anzufangen. Ich steuerte auf die Innenstadt zu, um die Parallelwelt eines Wochentags zu ergründen und meinen unerwarteten Reichtum in Konsum umzuwandeln.
Gegen halb drei enterte ich die Fußgängerzone, die mit ihren Ladenketten und Schnellrestaurants den typischen Standard einer deutschen Innenstadt verkörperte. Offenbar hatten die Stadtplaner unserer Republik alle denselben Gestaltungskurs belegt, denn es ergaben sich kaum Unterschiede und so lohnte sich ein Blick auf die Karte oder das Ortseingangsschild, um herauszufinden, ob man sich nun in Dresden, Dortmund oder Berlin befand.
Die Glitzerwelt aus Werbeversprechen und Hochglanzprospekten hatte heute keine Chance gegen das deprimierende Novembergrau. Die dunklen Wolken färbten selbst das leuchtende Rot eines Telefonanbieters in einen Farbton, der wenig einladend wirkte, und der schöne Schein einer perfekten Konsumwelt wollte sich bei mir nicht einstellen. Ich beschloss, meine hart erworbenen Geldscheine nicht in den Registrierkassen multinationaler Großkonzerne zu versenken, und schlenderte einfach Richtung Elbe. Dieser kurze Spaziergang durch das Konsumwunderland endete abrupt, als ich auf eine Person stieß, die ich weder an diesem Ort noch zu dieser Zeit und schon gar nicht in Begleitung erwartet hätte.
„Peggy.“ Der antrainierte Reflex, bei etwas Verbotenem erwischt worden zu sein, machte meine Stimme brüchig.
„Hallo Niklas“, sagte sie sichtlich verlegen. Ein peinlicher Moment der Stille legte sich über alle Anwesenden, bis ein kurzes Räuspern ihrer unbekannten Begleitung Peggy aus der Starre holte. Erst jetzt fiel mir auf, dass sie sich bei ihm untergehakt hatte. Offensichtlich hatte auch Peggy bei der Neuorientierung in der Partnerschaft keine Zeit verschwendet.
„Das ist Helmut“, stellte sie mir eines der ersten Opfer der altmodischen Namensgebung vor. Ein gesellschaftlicher Trend der letzten Jahre, der die Pauls und Walters zu Trendsettern machte.
„Nur t. Kein h“, schob der Vorgestellte vorsorglich nach. Der fehlende Konsonant schien ihm wichtig.
„Niklas. Auch ohne h“, fiel mir keine bessere Antwort ein. Peggys Gesicht verfinsterte sich und ich ertappte mich dabei, wie mein Verstand an einer Entschuldigung feilte. Es würde Jahre dauern, diesen eingeschliffenen Reflex abzulegen. Wenigstens kam das Veto für eine verbale Formulierung dieses Mal noch rechtzeitig.
„Was suchst du denn hier?“, fragte sie mehr aus Verlegenheit. In drei Jahren Beziehung hatten wir eine vertrauliche Kommunikation entwickelt, die als getrenntes Paar nicht mehr anwendbar war. Dementsprechend groß war unsere gegenseitige Verunsicherung, wie wir uns als Expartner unterhalten sollten. Während Peggy auf unverfängliche Fragen setzte, versuchte ich es mit latenter Provokation.
„Möbel. Irgendwie sind mir die Alten abhanden gekommen“, antwortete ich und versenkte den ersten Treffer. Peinlich berührt schaute sie nach unten.
„Wie kann man denn Möbel verlieren?“, stellte Helmut die unpassende Frage auf meine Bemerkung.
„Auf die gleiche Art und Weise wie Wäsche oder Duschgel“, ergänzte ich und entfachte einen Funken der Wut in Peggy. Noch war der Vulkan nicht ausgebrochen, aber der Druck schwoll gefährlich an.
„Und wie?“, schob Helmut mit einer Naivität nach, die Peggy explodieren ließ.
„Halt die Klappe“, fuhr sie ihn an, aber schnell änderte die Richtung auf den eigentlichen Empfänger.
„Du hast die Wohnung. Ich habe mir nur genommen, was mir zusteht“, rechtfertigte sie sich. Für einen Moment waren sämtliche Blicke der Umgebung auf uns drei gerichtet. Die ungewollte Aufmerksamkeit ließ Peggys Wut etwas abkühlen.
„Oh, der Niklas“, setzte Helmut das Puzzle über unseren Beziehungsstatus zusammen.
„Der sieht gar nicht aus wie ein ... “ Helmut brach ab, als Peggy ihm einen dieser Blicke zuwarf, die auch mich regelmäßig zum Schweigen gebracht hatten. Ein ungewollter Anflug von Wehmut ergriff mich. Obwohl ich es hasste, dass sie dieses unheilvolle Ritual gefühlte tausend Mal vollzogen hatte. Es zeigte mir, dass drei Jahre Zweisamkeit nicht innerhalb von wenigen Tagen abgehakt werden konnten.
„Und wo wohnst du jetzt?“ Ich kopierte Peggys Strategie der unverfänglichen Fragen.
„Bei mir“, kam es stolz von Helmut. Dieses Mal erfolgte der Schweigeblick zu spät.
„Oh.“ Jetzt fing ich an zu puzzeln. Peggy war nicht der Typ, der spontan mit wildfremden Leuten zusammenzog. Selbst ich hatte ein halbes Jahr Probezeit über mich ergehen lassen müssen, bis sie mir einen Wohnungsschlüssel anvertraut hatte. Auch die Not eines spontanen Auszugs rechtfertigte kein Couchsurfing-Abenteuer bei einem Helmut. Die beiden mussten sich länger kennen und das wiederum bedeutete, dass sie mir diese Bekanntschaft verschwiegen hatte.
„Wie lange kennt ihr euch denn schon?“, fragte ich mit viel zu brüchiger Stimme.
„Erst seit Kurzem“, überschlugen sich Peggys Worte. Helmut wollte zu einer Korrektur ansetzen, aber dieses Mal hatte er seine Naivität in Sachen sorgloser Kommunikation im Griff.
„Ehrlich jetzt? Mit ihm? Mit einem Helmut?“, rutschte es mir ohne Rücksicht auf irgendwelche Höflichkeitsformen raus.
„Eyyy“, beschwerte sich Helmut und verschaffte damit Peggy ein paar Sekunden für eine passende Rechtfertigung.
„Es war deine Schuld“, platzte sie heraus. Diese Behauptung war so absurd, dass ich unfähig war, irgendwas zu erwidern.
„Du hast mich nie verstanden und du hast mir nie beigestanden. Und dann war da ... da ... “ Peggy stotterte, weil ihr bereits nach zwei Sekunden die Argumente ausgingen.
„... da die Sache mit dem Trinken“, vervollständigte sie den Satz in der Freude, endlich was Handfestes gefunden zu haben.
„Helmut trinkt nie“, schob sie bestätigend hinterher. Vielleicht war es Einbildung oder auch nur eine falsche Zuordnung in meiner Erinnerung, aber ich glaubte, gesehen zu haben, wie Helmut seine Brust vorschob.
„Ich glaub’s nicht. Du hast mich betrogen“, erwiderte ich fassungslos.
Diese einfache Feststellung machte Peggy sprachlos. In meinem Kopf fuhren die Gedanken Achterbahn. Wie? Wie lange? Wann? Das alles schrie nach einer Antwort, aber das Gedankenchaos in meinem Verstand verhinderte eine brauchbare Analyse. Wenigstens war das Wer klar und hier zog ich mich aus dem Sumpf des drohenden Wahnsinns. Ich weiß nicht, welche Gehirnregion den Marschbefehl gab, aber irgendwas Rationales versetzte mich in Bewegung. Ich ließ die beiden wortlos stehen und wie ein Zombie, der von frischen Gehirnen angezogen wurde, steuerte ich unbewusst auf die nächste Straßenbahnhaltestelle zu. Durch einen dummen Zufall erwischte ich die Linie zu Ewas Wohnung und fand mich einige Minuten später vor ihrer Eingangstür wieder. Erst hier übernahm ich wieder den mentalen Steuerknüppel über mein Bewusstsein.
Eigentlich hatte ich die letzten drei Jahre bereits als lehrreiches Missverständnis abgehakt, aber Peggy hatte mir eine weitere Breitseite verpasst und dieses Mal drohte sie mich endgültig zu versenken. Der Schmerz des Verrats übertraf alles bisher Erlebte und ließ mich an meiner eigenen Persönlichkeit zweifeln. Die Naivität der letzten drei Jahre kam mir auf einmal so ungeheuer peinlich vor. Mein Selbstvertrauen fiel wie ein Stein vom höchsten Berg mit dem Namen „bester Liebhaber der Welt“ in Lichtgeschwindigkeit in das Tal vom „gehörnten Freund der nichts ahnte“.
Wie konnte eine Göttin wie Ewa sich nur mit einem Verlierer wie mir abgeben? Diese Erkenntnis und das eklatante Defizit an Selbstvertrauen, verdeutlichten mir, dass mein Unterbewusstsein mich in die Irre geführt hatte. Ich befand mich am falschen Ort, um den Verrat mental zu verarbeiten. Bevor ich meine Entscheidung korrigieren konnte, traf ich auf die Person, die ich in diesem Augenblick absolut nicht sehen wollte.
„Geht es dir gut?“, fragte mich Ewa, die scheinbar aus dem Nichts an meiner Seite auftauchte.
„Ja klar. Warum denn nicht?“, erwiderte ich mit wenig Überzeugungskraft. War es wirklich schon so spät? Ich wagte einen Blick auf die Uhr.
„Stör ich dich bei irgendwas?“, fragte sie. Mein mangelndes Selbstbewusstsein hatte in Kombination mit der Zeitabfrage zu falschen Schlüssen bei Ewa geführt. Dieses Misstrauen löste eine Kettenreaktion in meinem Verstand aus. Wie Dominosteine kippten Vernunft, Gelassenheit und Selbstachtung über die Reling meiner geistigen Zurechnungsfähigkeit. Niklas Jakubowski befand sich im Panikmodus, also übernahm sein Unterbewusstsein das Reden. Dahingehend stellte es sich nicht besonders clever an.
„Ich muss weg“, formte es die Empfindung in Worte, die alles Rationale in meinem Geist in Chaos versetzt hatte. Ich ließ sie einfach stehen. Meine Furcht vor allem Weiblichen wurde übermächtig und so kannte ich nur eine Antwort: Flucht. Auch wenn Ewa keine Schuld traf, ihre Gesellschaft würde unweigerlich zur emotionalen Kernschmelze führen. Ich musste dahin, wo ich die Herrschaft über meinen Verstand zurückerlangen konnte und wo das Testosteron in Strömen floss.
Es dauerte nicht lange und ich fand mich vor der Eingangstür von Steffis Wohnung wieder. Eigentlich keine gute Alternative, um mein Selbstwertgefühl in den grünen Bereich zurückzubekommen, aber die Verzweiflung überlagerte jeglichen rationalen Gedanken.
„Sie hat mich betrogen“, feuerte ich Steffi entgegen, als er die Tür öffnete. Unglaublich, wie diese einfachen Worte sofort eine gewisse Grundordnung schafften. Das Aussprechen der unangenehmen Wahrheit verdrängte einen Großteil der Panik.
„Scheiße“, antwortete Steffi und sorgte damit für weitere Stabilität. Die nächste Frage brachte mich endgültig in den Normalzustand zurück.
„Willst du ein Bier?“, fragte er und bat mich herein. Die Unordnung einer Junggesellenbude wirkte beruhigend. Klamotten lagen wild auf der Couch, das Geschirr stapelte sich im Abwasch und der Geruch ließ auf keine regelmäßige Lüftung schließen. Diese unkonventionelle Art der Wohnungsgestaltung war genau das, was ich gerade brauchte. Die letzten Jahre hatte ich in einer sterilen Atmosphäre aus Sagrotan und Duftspendern verbracht. Hier befand ich mich in Männerland. Auch wenn die Gefahr einer Sepsis nicht von der Hand zu weisen war, fühlte ich mich geborgen. Dieses Gefühl wurde noch verstärkt, als ich den ersten Schluck aus der Flasche nahm.
„Das tut gut“, bestätigte ich mit einem lauten Rülpser.
„Bier heilt alle Wunden.“ Steffi schaffte es, mich in Lautstärke und Länge zu übertreffen.
„Gutes Gespräch.“ Ich hatte mich wieder im Griff. Die verdammte Panik war wie weggeblasen. Die Vernunft eroberte den gekaperten Verstand zurück und zeigte mir in gnadenloser Härte mein überstürztes Verhalten gegenüber Ewa auf.
„Scheiße, ich muss mich entschuldigen“, stellte ich fest.
„Bei Peggy?“
„Quatsch. Bei Ewa.“
„Wer zum Teufel ist denn Ewa?“, fragte Steffi überrascht.
„Meine neue Freundin“, verkündete ich stolz.
„Boah. Respekt. Du steigst aber schnell wieder in den Sattel“, sagte er anerkennend. Damit erhob sich mein Selbstvertrauen aus den Tiefen der Verzweiflung. Die Anerkennung eines anderen Mannes gegenüber weiblichen Eroberungen ist der Booster schlechthin.
„Und hattet ihr schon?“, wollte Steffi wissen.
„Viermal in einer Nacht“, prahlte ich und durch Steffis respektvolles Pfeifen durchschlug mein Selbstvertrauen die Schallmauer.
„Masel tov.“ Er hielt mir die Hand zum Abklatschen hin. Freudig schlug ich ein.
„Was für ein Tag. Erst die vierfache Kür im Bett, dann die Kündigung und obendrauf noch Peggys Geständnis, dass sie mich mit einem Helmut betrogen hat“, rekapitulierte ich den verrücktesten Tag meines Lebens.
„Du bist arbeitslos?“, fragte Steffi erstaunt. Er hatte Schwierigkeiten dem Tempo der Neuigkeiten zu folgen.
Ich schaltete einen Gang runter und schilderte meinen Tag in allen Einzelheiten. Es tat unheimlich gut, mir alles von der Seele zu reden. Steffi streute ab und an ein paar zweideutige Grunzer ein, die mich dazu verleiteten, einige Passagen der letzten Nacht in künstlerischer Freiheit zu übertreiben. Die Flasche war leer, als meine Schilderung mit der panischen Flucht in diese sich gegen Sauberkeit sträubende Wohnung endete.
Nach ein paar Dutzend wenig vertrauenswürdigen Ratschlägen von Steffi und zwei weiteren Flaschen Bier stand ich wieder an der Haltestelle und ging mögliche Strategien durch, die meinen peinlichen Auftritt vor Ewas Haustür irgendwie erklärbar machten. Da gab es nichts Glaubwürdiges, außer der Wahrheit und so beschloss ich, mit der Schande eines gehörnten Freundes auf Verständnis für mein seltsames Verhalten zu hoffen.
Ich stand wieder vor Ewas Tür und offenbar schien der Ort mit einem speziellen Fluch belegt zu sein. Genau in dem Moment, indem ich den Klingelknopf drücken wollte, offenbarte mir mein Körper, dass er gar nicht einverstanden war mit den drei Bier in Steffis Wohnung. Leichter Schwindel zwang mich, das Projekt Türklingel vorerst auf Eis zu legen.
Ich brauchte ein paar Minuten, bis ich mich wieder unter Kontrolle hatte. Ein paar tiefe Atemzüge gaukelten mir volle Körperkontrolle vor und so wagte ich den ersten Schritt auf dem Pfad der reumütigen Entschuldigung.
Es dauerte eine Ewigkeit, bis der Summer die Eingangstür freigab. Diese Verzögerung hätte mir eigentlich Warnung genug sein müssen, aber mein Geist war vollends damit beschäftigt, eine glaubhafte Geschichte zu ersinnen. Die Wahrheit war ja schön und gut, trotzdem durfte ich nicht zu verletzlich oder sogar weinerlich rüberkommen. Die Variante des harten Machos, der die Seitensprünge seiner Ex mit verwirrender Coolness erklärte, war dabei mein Favorit. Bevor ich ein Wort anbringen konnte, überrollten mich die Ereignisse erneut. Dieser seltsamste aller Tage war bereit für einen weiteren legendären Höhepunkt.
Die Fahrstuhltür öffnete sich und als ich Ewa in der Eingangstür stehen sah, wirkte sie wenig erfreut über mein Eintreffen. Verdammt. Diese ablehnende Körpersprache entzog mir den Rest an Mut, aber Umkehren war unmöglich, denn ich hatte den „point of no return“ bereits überschritten. Mit einer Entschuldigung auf den Lippen wollte ich die Eiseskälte zwischen uns wenigstens auf Zimmertemperatur bringen, aber eine tiefe, männliche Stimme aus der Wohnung erstickte die zaghaften Ansätze im Keim.
Sie hatte Männerbesuch und unter dem Einfluss der Enthüllungen des Nachmittags blieb meinem Verstand nur eine Schlussfolgerung: Niklas Jakubowski wurde erneut betrogen.
Ewa verschwand in der Wohnung und die offenstehende Tür schien mich zu verspotten. Die „Willkommen“-Fußmatte war purer Hohn und der weiß gestrichene Türrahmen gaukelte trügerische Unschuld vor. Alles in mir schrie nach der rettenden Oase von Steffis Zuflucht, aber irgendwo aus den Tiefen meines Verstandes tauchte das viel gepriesene Zitat über echte Kerle auf: „Ein Mann muss tun, was ein Mann tun muss.“
Dieser Extraschub an Testosteron drückte mich Richtung Eingangstür und als ich das Wohnzimmer betrat, überkamen mich Erleichterung, Überraschung, aber auch Angst. Natürlich gab es keinen Liebhaber, der zwischen Vesper und Abendbrot auf ein Schäferstündchen vorbeikam. Als ich den teuren Anzug erblickte, erklärte sich die eisige Begrüßung. Der Überraschungsbesuch ihres Vaters kollidierte mit dem alkoholgeschwängerten Versuch meiner Entschuldigung und brachte Ewa gleich mehrfach in Erklärungsnot.
„Willst du mir den jungen Mann nicht vorstellen?“, forderte Vogeler streng. Mein mitleiderregender Anblick erinnerte an einen Schuljungen, der im Direktorzimmer auf die Verkündung seiner Strafe wartete. Den Blick gesenkt und die Schultern auf Kniehöhe erwartete ich die verbale Formulierung unserer Beziehung.
„Das ist Niklas. Mein neuer Freund“, verkündete sie trotzig. Diese direkte Bestätigung gab mir neuen Mut.
„Angenehm“, sagte ich mit fester Stimme.
„Sie mögen wohl Alkohol.“ Der Schuljunge war zurück.
„Papa“, intervenierte Ewa.
„Tut mir leid. Setzen wir uns und reden miteinander“, forderte er mich auf. Hatte ich genug Energie für ein Kreuzverhör? Selbst mit voller Ladung und aller Selbstsicherheit der Welt hätte ich bessere Chancen, zwölf Runden gegen Mike Tyson zu überstehen. Ich ging in den Nahkampf mit einem Mann, der für jeden Tag der Woche eine eigene Rolex besaß. Wie konnte ich so jemanden von meiner Tauglichkeit als potenzieller Schwiegersohn überzeugen?
„Also Niklas. Sie kennen meine Tochter von Pollmen-Industries?“ Ein einfaches „Ja“ als Einstieg brachte etwas Entspannung, die mit der nächsten Frage sofort wieder dahin war.
„Als was arbeiten Sie?“
„Ich bin Buchhalter“, säuselte ich und erntete ein Stirnrunzeln. Eigentlich war ich sogar ein arbeitsloser Buchhalter, aber es schien mir aus mehreren Gründen nicht angebracht, ausgerechnet in diesem Moment so viel Wert auf Details zu legen.
„Ich verstehe“, kombinierte Vogeler. Die Tatsache, dass Ewa und ich am langweiligsten Ort der Welt zueinandergefunden hatten, schien ihn irgendwie zu beruhigen. Er verzichtete auf weitere Fragen und prüfte mich schweigsam mit einem abschätzenden Blick. Fast eine Minute brauchte er, um ein abschließendes Urteil über mich zu fällen.
„Gut. Sie sind nicht der Erste und Sie werden auch nicht der Letzte sein.“ Mit diesen kryptischen Worten war ich schneller vom Haken, als ich gehofft hatte. Vogeler wandte sich an seine Tochter.
„Du bist jung und ich verstehe deine Neigung zur Rebellion, doch irgendwann wird es Zeit erwachsen zu werden. Ich bin hier, um dich daran zu erinnern, dass wir am nächsten Wochenende eine Dinner-Party in unserem Anwesen geben. Buchhalter werden da vermutlich nicht sein, aber jede Menge Söhne von einflussreichen Leuten“, ermahnte er Ewa.
„Papa.“ Dieses Mal war es keine Empörung. Es klang eher nach Rechtfertigung garniert mit einer Prise Trotz.
„Sei pünktlich“, sagte er abschließend und gab seiner Tochter einen flüchtigen Abschiedskuss auf die Wange. Ein kurzes Nicken in meine Richtung, das mein vernebelter Geist mit einer Überdosis an Missachtung interpretierte, dann verließ er die Wohnung. Zurück ließ er eine bloßgestellte Tochter mit einem nicht weniger bloßgestellten Freund.
„Was war das denn?“, fragte ich.
„Nichts“, kam es zaghaft zurück. Ich hatte die Wohnung mit dem Vorhaben betreten, eine brauchbare Erklärung für mein merkwürdiges Verhalten zu liefern, aber nun hatte ich das Gefühl, dass Ewa mir in dieser Hinsicht viel mehr schuldete.
„Was meinte er denn mit: Ich wäre nicht der Erste?“
„Das hat nichts zu bedeuten“, antwortete sie kurz und hektisch. Dieser verdammte Alkoholnebel erschwerte mein Denken. War ich nur ein Spielzeug für eine verwöhnte Göre aus reichem Hause, das irgendwann seinen Reiz verlor und beliebig austauschbar war? Unmöglich. Ewa war kein „eiskalter Engel“. Trotzdem drängte ich auf eine Erklärung.
„Wie stehen wir zueinander?“, fragte ich direkt. Offenbar schien die ständige Abfrage unseres Beziehungsstatus ein zentraler Bestandteil zu werden. Ich brauchte Gewissheit. War es tatsächlich nur eine Affäre oder war da mehr? Aufgrund ihres Vaters war Ewa in einem angeregten Zustand und so konfrontierte ich sie mit einer direkten Frage.
„Bin ich für dich nur ein weiterer Kerl in einer langen Liste von Liebhabern?“ Ich hatte einen wunden Punkt getroffen, denn Ewa setzte zu einer Rechtfertigung an. Bevor ein Wort ihren Mund verließ, wechselte ihre Stimmung zu Ärger.
„Was erwartest du denn nach zwei Tagen? Willst du ein Versprechen auf ewige Liebe, Hochzeit und jede Menge Kinder? Ich bin 19, verdammt. Du hast meinen Vater gehört. Ich habe mir ein teures Jahr Freiheit erkauft. Danach besteht mein Leben aus Elite-Unis, Praktika und Dinner-Partys und wehe, ich bekomme das nicht hin. Ich will dieses verdammte Jahr genießen. Ich mag dich, aber ich kann dir nichts versprechen.“ Die erste Träne rollte ihr Gesicht hinab.
Mit diesem emotionalen Ausbruch hatte ich nicht gerechnet und dementsprechend überfordert war mein rational geprägter Verstand mit der ungewohnten Situation. Dieser verdammte Alkohol sorgte als Brandbeschleuniger meiner Unfähigkeit, eine Entscheidung über die passende Reaktion zu treffen. Ich war verärgert. Sie war verletzlich. Zwei Gemütszustände, die unvereinbar waren. Einer musste nachgeben und Ewa hatte mich mit ihrer emotionalen Offenbarung in die Defensive gebracht.
Hatten wir nach all den Erkenntnissen der letzten Minuten die nötige Beziehungstiefe für einen tröstenden Moment? Besaß ich überhaupt die Berechtigung zu einer aufmunternden Umarmung? Apathisch beobachtete ich ihr Gesicht, über das mehr und mehr Tränen flossen.
„Ich, äh …“, stammelte ich. Ihre Beherrschung schien mit jeder weiteren Träne abzunehmen und ich war weiterhin hilflos meiner Unentschlossenheit ausgeliefert. Ihr großer Zusammenbruch stand unmittelbar bevor. Ein letzter Blick in meine Richtung, der viel zu viel Interpretationsspielraum für einen männlichen Verstand offen ließ, dann verschwand sie in ihrem Schlafzimmer.
Ich schaute zur Wohnungstür und der Feigling in mir wollte dem Fluchtreflex uneingeschränkt nachgeben. Noch gab es Widerstand, aber der bröckelte mit jeder Sekunde. Ich drehte meinen Kopf Richtung Schlafzimmertür und neuer Mut erfasste mich, der mich sofort wieder verließ, als die Ausgangstür erneut in mein Blickfeld geriet.
Als würde ich ein Tennismatch beobachten, wiederholte ich diesen genickstrapazierenden Zwiespalt, bis ich endlich zu der Entscheidung gekommen war, dass ich eine Entscheidung treffen musste.
Es gab tausend Argumente, in dieses Zimmer zu gehen und wenigstens ein paar aufbauende Worte an Ewa zu richten. Dem gegenüber gab es keinen rationalen Grund, einfach die nächste Straßenbahn zu nehmen und mich in meiner leer geräumten Wohnung in Selbstmitleid zu wälzen. Trotzdem war ich bereit, dieser süßen Versuchung nachzugeben. Alles war so simpel. Der Tag bot genug Erlebnisse, um die böse Welt um mich herum als Sündenbock für all die nervigen Facetten des Lebens verantwortlich zu machen. Ich war ein Opfer widriger Umstände geworden, auf die ich keinerlei Einfluss hatte. Sich in seinen eigenen kleinen Kokon zurückzuziehen und all die Grausamkeiten auszusperren, war die logische Konsequenz.
Ich hatte bereits die Türklinke der Wohnungstür in der Hand, als mir bewusst wurde, dass ich mir höchstens ein wenig Zeit erkaufen würde. Unser unklarer Beziehungsstatus, meine Vorgänger in Ewas Liebesleben und die ungewisse berufliche Perspektive, das alles würde nicht einfach verschwinden. Wie konnte ich meinen elenden Zustand aus Resignation und Selbstmitleid richtig genießen, wenn im Hintergrund die Unklarheiten über die unmittelbare Zukunft meines Lebens einer Antwort bedurften? Die Liste war mittlerweile so lang geworden, dass ich keine Zeit verschwenden durfte, wenigstens die wichtigsten Punkte anzugehen. Ich drehte um und nachdem ich mir mit einem tiefen Atemzug etwas Mut verschafft hatte, betrat ich Ewas Schlafzimmer.
Ich hätte anklopfen sollen, aber diese Erkenntnis ereilte mich erst, als Ewa mir einen ärgerlichen Blick zuwarf. Kein guter Start für ein versöhnliches Gespräch.
„Was willst du?“, fuhr sie mich mit verweintem Gesicht an. Offenbar hatte sie die Minuten meiner Unentschlossenheit für den unvermeidbaren Zusammenbruch genutzt.
„Reden“, brachte ich wenig vielsagend hervor.
„Über was denn?“, funkelte sie mich an. Eine gute Frage. Immerhin hatten wir genug offene Punkte, um mehrere Folgen einer Seifenoper damit zu füllen.
„Über dich.“ Das war weiterhin sehr unkonkret, aber zumindest hatte ich jetzt ihre volle Aufmerksamkeit. Ihre ganze Körperhaltung änderte sich von ablehnend zu abwartend. Ein erster Schritt in die richtige Richtung, aber ich musste aufpassen. Ich begab mich auf unerforschtes Gelände. Bei Peggy war es einfacher. Je nach Schwere unserer Konfrontation musste ich meinen Testosteronspiegel runterregeln. Eine simple Lösung, die hier nicht funktionieren würde.
„Du sagtest: Es liegt an mir, ob wir … Na ja … Du weißt schon.“ Dieses verdammte Gestammel war nicht ausschließlich auf den Alkohol zurückzuführen. Ich war auch im nüchternen Zustand kein eloquenter Schöngeist und wenn es um tiefgreifende emotionale Momente ging, besaß ich zusätzlich noch das Handicap meiner männlichen Veranlagung.
„Ich mag dich auch, aber die letzte Stunde hat gezeigt, dass ich eigentlich nichts über dich weiß. Nichts Wesentliches jedenfalls.“ Endlich schaffte ich es, die Worte fehlerfrei aneinanderzureihen. Jetzt musste ich noch an der richtigen Betonung arbeiten, denn meinem Zuneigungsbekenntnis fehlte die emotionale Würze.
„Ich mag dich wirklich“, schob ich mit der passenden Tiefe hinterher.
Die Feinjustage meiner Aussprache zeigte Wirkung. Ich war mir unsicher über die genaue Zuordnung ihrer vorherrschenden Emotion. Aber egal, ob Erleichterung, Hoffnung oder Zuneigung, die positive Grundausrichtung war unübersehbar und ließ meine Zuversicht wachsen.
„Vielleicht hattest du ja recht und ich habe zu viel erwartet. Lass uns die Sache ruhig angehen“, sagte ich bedeutungsschwanger.
„Okay“, sagte sie nur. Irgendwie hatte ich den Zauber zerstört. Was immer sie an meinen Worten falsch verstanden hatte, unser geschaffener Optimismus war dahin. Dieses eine unscheinbare Wort erzeugte mehr Verwirrung als all die Gefühlsausbrüche davor. Hatte ich eigentlich einen großen emotionalen Moment erwartet, der im besten Fall meine sensible Seite würdigte, gab sie mir ein nichtssagendes „Okay“.
Sie saß da und schaute mich an. Das Gefühl, unerwünscht zu sein, wurde übermächtig. Hatte ich die Signale falsch gedeutet? War Sensibilität in diesem Moment nicht angebracht?
„Soll ich gehen?“, fragte ich verunsichert. Die simple Auswahlmöglichkeit zwischen ja oder nein schien Ewa zu überfordern. Offenbar war sie sich bei der Antwort selbst nicht sicher.
„Wir reden morgen.“ Definitiv ein Ja, dass sie mit einem flüchtigen Kuss auf meine Lippen in Watte packte. Sie legte sich zurück in ihr Bett und ließ mich allein in meinem Gedankenkarussell. Das drehte gerade Extrarunden mit gefühlter Lichtgeschwindigkeit, aber am Ende lief es auf ein Problem hinaus, das seit Jahrhunderten die Menschheit beschäftigte: Was wollen Frauen eigentlich?
Mit dieser Frage im Kopf verließ ich ihre Wohnung. Um solche grundlegenden Anomalien des Universums zu ergründen, bedurfte es eines Don Juans oder eines Casanovas. Ich rangierte eher in der Kategorie Steve Urkel. Also kapitulierte ich, wie viele Männer vor mir und widmete mich den übrigen Ereignissen des Tages.
Da war Peggy mit ihrem Geheimnis, das mit dem lächerlichen Namen Helmut gepeinigt war. Mit Hilfe von Steffi und ausreichend Bier hatte ich diesen Verrat bereits zur Nebensächlichkeit degradiert, aber in Angesicht von Ewas widersprüchlichem Verhalten kochte das Gefühl des Versagens wieder auf größerer Flamme.
Verrückterweise bot der Tag eine weitere Option, die eine Aufarbeitung brauchte. Leider war meine Arbeitslosigkeit ebenfalls ungeeignet für den Wiederaufbau meines ruinierten Selbstwertgefühls und so schleppte ich mich im Gefühl größter Selbstgeißelung zur Straßenbahn.
Zwanzig Minuten später und mit dem gedemütigten Selbstvertrauen eines Eunuchen nach einer verlorenen Vaterschaftsklage, betrat ich meine Wohnung. Ich entrollte die Isomatte und den Schlafsack, die Peggy im Keller tatsächlich übersehen hatte, und legte mich ohne große Abendhygiene ins leere Wohnzimmer. Die weitere Aufarbeitung des Tages überließ ich meinem Unterbewusstsein und das lieferte chaotische Bilder anhand von Träumen.
Offenbar war es sich selbst nicht sicher, wie es die missglückten Erfahrungen bei der holden Weiblichkeit einordnen sollte. Vom chauvinistischen Macho, der sich alle Ewas und Peggys dieser Welt zu willigen Liebessklavinnen untertan machte, bis hin zum eingeschüchterten Nerd mit der Brillenstärke von Aschenbechern, lieferte es mir das gesamte Zuordnungs-Spektrum. Die Fragezeichen des vergangenen Tages wurden nicht weniger und so kämpfte ich mich mit einer Mischung aus Halbschlaf und verrückten Träumen durch die Nacht.
Am nächsten Morgen haderte ich nicht nur mit den seelischen Auswirkungen meiner entarteten Traumwelt. Die Nacht auf dem Boden des Wohnzimmers hatte meinen Nacken in steifen Beton verwandelt. Ich brauchte eine halbe Stunde, bis ich in der Lage war, meinen Kopf schmerzfrei zu drehen. Eine weitere Nacht würde ich rein körperlich nicht überstehen. Ein Grund mehr, die Widersprüche in Sachen Ewa zu klären. Im Laufe des Tages musste ich den Mut aufbringen und mich meinen Dämonen stellen. Die Aussicht auf ein weiches Bett diente als gute Motivation und würde dem zögerlichen Niklas hoffentlich den notwendigen Tritt in den Hintern verpassen.
Mit meinem ersten Tag als Arbeitsloser konnte ich nicht wirklich was anfangen. Ich frühstückte ausgiebig in einem Café und überlegte mir verschiedene Herangehensweisen für das unausweichliche Gespräch mit Ewa. Dabei schaute ich gefühlt jede Minute auf das Display meines Telefons, aber noch verwehrte sie mir die Kommunikation. In meiner männlichen Logik betrachtete ich den Rauswurf der letzten Nacht als untrügliches Zeichen dafür, dass sie den nächsten Schritt einleiten würde, sobald sie dafür bereit war. Allerdings war ich mir unsicher, ob diese Regeln in einem Universum aus weiblicher Unlogik überhaupt gültig waren. Peggy hatte mich dahingehend konditioniert, dass sie genau das Gegenteil von dem erwartete, was ich für richtig hielt. Die Zeiger der Uhr standen noch nicht mal auf zehn und ich war bereits in einem Zustand vollkommener Verwirrung. Die Beziehung zu Ewa kostete mich Unmengen an Energie. Hoffentlich war es das am Ende wert.
Den Tag verbrachte ich mit Stadtbummel, Zeitung lesen und Spaziergängen durch diverse Fußgängerzonen. Unglaublich, wie langsam die Zeit verging, wenn eine sinnhafte Tätigkeit fehlte. Das Telefon verweigerte mir weiterhin eine Nachricht von Ewa und da die Unruhe über unser ungeklärtes Verhältnis mich in den Wahnsinn zu treiben schien, beschloss ich, in die Offensive zu gehen.
Für mein eigenes Seelenheil war es notwendig, schnellstmöglich ein klärendes Gespräch zu führen. Ich hatte ihren Tagesablauf verinnerlicht und so wusste ich, dass sie gegen halb vier nachmittags nach der Arbeit in ihrer Wohnung auftauchen würde. Ob sie bereit war oder nicht, wir mussten reden.
Es war Punkt drei, als ich vor ihrer Wohnung stand. Eindeutig zu früh und so blieben mir zwei Optionen, die beide nicht zur Beruhigung meines aufgewühlten Gemütszustandes beitragen würden. Ich entschied mich gegen das Warten vor ihrer Haustür, denn meine Ungeduld hätte ich keine halbe Stunde mehr zügeln können. So blieb das kleinere Übel, das auf den viktorianischen Namen Elisabeth getauft war.
„Ja?“, tönte es durch die Gegensprechanlage, nachdem mein rechter Zeigefinger mit aller Schwäche dieses Universums den Klingelknopf gedrückt hatte. Ich brauchte unbedingt mehr Mumm, um dem zu erwartenden Hochmut erfolgreich etwas entgegenzusetzen.
„Hier ist Niklas“, überdosierte ich meine Männlichkeit und brüllte die Gegensprechanlage an.
„Kann ich hochkommen?“ Nun passte die Lautstärke, aber Elisabeth ließ es sich nicht nehmen, eine Kostprobe ihrer Herablassung die Leitung herabzuschicken.
„Ich kann gut hören“, ließ sie mich unnötigerweise wissen. Intuitiv reagierte mein Verstand mit Sarkasmus und setzte damit den ersten Stein für das Bollwerk gegen weitere Pfeile der Verachtung.
„Schön. Dann brauche ich ja meine Frage nicht zu wiederholen“, erwiderte ich und verbuchte den ersten Teilerfolg.
„Ewa ist nicht da.“ Der blecherne Ton der Gegensprechanlage verstärkte Elisabeths Hilflosigkeit, auf meine Bemerkung ebenbürtig zu antworten.
Ich unterdrückte den Drang nachzulegen, immerhin war es keine passende Antwort auf meine Frage. Stattdessen entschied ich mich, ihr einen Waffenstillstand anzubieten.
„Ich würde gern auf sie warten.“ Die Dosierung von Freundlichkeit passte auf Anhieb. Ein angehängtes „Bitte“ hätte mein Anliegen zur Bettelei degradiert und ihrer Arroganz neues Futter verschafft. Zum Glück verzichtete ich darauf und als der Summer die Eingangstür freigab, war ein großer Teil meiner Unsicherheit verschwunden. Sie hatte meinen Waffenstillstand akzeptiert. Nun galt es, diesen fragilen Zustand eine halbe Stunde lang aufrechtzuerhalten.
„Hi“, begrüßte ich sie mit einem Lächeln, das jegliche Authentizität vermissen ließ. Wir standen uns in der Wohnungstür gegenüber und kollidierten mit unseren gegensätzlichen Ansichten zu Kontoständen, Umgangsformen oder der Welt vor der Tür. Obwohl wir der gleichen Spezies angehörten, benahmen wir uns wie zwei Außerirdische, die von unterschiedlichen Planeten stammten. Ewa fungierte in den wenigen Momenten unseres Aufeinandertreffens normalerweise als Dolmetscherin, aber dieser stabilisierende Faktor fehlte für den Augenblick.
„Kaffee?“, fragte sie schroff.
„Ja. Gerne“, erwiderte ich mit einem immer noch wenig glaubwürdigen Lächeln. Elisabeth verschwand in der Küche, während ich mich auf der Couch niederließ. Mein Blick fiel auf die digitale Uhr des Designerschrankes. 15:02 Uhr verkündete das Möbelstück, das genauso nötig eine Zeitanzeige brauchte, wie der Kühlschrank eine Überwachung für jeden Milliliter Milch. Offenbar der neuste technische Trend im Land der Elfenbeinturmbewohner ohne Kreditkartenlimit. 28 Minuten, in denen mein künstliches Lächeln und Elisabeths Zurückhaltung in Sachen moralischer Überlegenheit für vorgetäuschte Harmonie sorgen mussten.
Es funktionierte durch diverse Höflichkeitsfloskeln, jede Menge verkrampften Small Talks und gefühlter tausend Nachfragen hinsichtlich meines Getränkebedarfs. Der Schrank verkündete 15:37 Uhr, als Ewa in der Wohnungstür erschien und für Erleichterung bei den überschaubaren Mitgliedern des Kaffeekränzchens sorgte. Bei mir hielt dieser Zustand höchstens eine Millisekunde an, denn ich ging nahtlos über in die nächste Herausforderung menschlicher Interaktion.
„Hi“, begrüßte sie mich. Ich konnte Verlegenheit, Ablehnung aber auch Überraschung bei ihr ausmachen.
„Wir müssen reden“, platzte es aus mir heraus. Ich musste meine Ungeduld zügeln, denn es war nur wenige Tage her, dass genau diese Worte mich selbst in den Panikmodus versetzt hatten.
„Natürlich nur, wenn du willst.“ Verdammt. Erst der Überfall und jetzt die mehr als fragwürdige Gesprächseröffnung, die jegliches Selbstvertrauen vermissen ließ. Ich war auf dem Weg in ein Desaster.
„Okay“, ergab sie sich in ihr Schicksal. Wider Erwarten entpuppte sich der erste Schritt als geringe Hürde. Trotz meines stümperhaften Auftritts hatte sie mich nicht sofort rausgeschmissen. Was jetzt? Wir gingen in ihr Zimmer. Zehn Sekunden, in denen ich mir eine weitere Strategie überlegen konnte. Dummerweise vergeudete ich die kostbare Zeit mit Vorwürfen über die verpassten Stunden des Tages, die offenbar trotz der Fokussierung auf das Treffen keine passende Variante für diese Situation hervorgebracht hatte. So stand ich vollkommen planlos vor ihr und hoffte, dass sie entgegen meines spontanen Eindringens mit einer eigenen Einleitung begann.
„Dann rede“, zerstörte sie meine Hoffnung.
„Ich muss mich entschuldigen“, improvisierte mein Verstand und traf damit aus Zufall ins Schwarze. Jetzt galt es, nachzulegen und ein passendes Ereignis des gestrigen Tages zuzuordnen. Meine freiwillige Arbeitslosigkeit? Nicht wichtig genug für Ewa. Der alkoholgeschwängerte Auftritt vor ihrem Vater? Mit Sicherheit mehr als eine Entschuldigung wert, aber ungeeignet für den Einstieg. Ich entschied mich für die Panikattacke, die dafür gesorgt hatte, dass ich sie ohne große Worte gestern Abend vor der Tür hatte stehen lassen.
„Gestern Nachmittag, als ich ...“ Wieder misslang der Beginn.
Vielleicht wurde es wirklich mal Zeit für einen Rhetorikkurs an der Volkshochschule. Zeit genug hätte ich dafür. Mein Verstand drohte, abzudriften, als er die Kosten abschätzte. Erst Ewas ungeduldiger Blick nötigte mich, mit dem derzeitigen Knowhow weiterzumachen.
„Ich hätte nicht einfach gehen sollen. Das war Mist“, schoss es wie ein Maschinengewehr aus mir heraus. Tempo und Lautstärke passten überhaupt nicht und ich rechnete es ihr hoch an, dass sie nicht hinter dem Bett Deckung suchte.
„Das tut mir leid und ich will es dir erklären“, sagte ich endlich mit der nötigen Ruhe. Ich holte tief Luft und begann, die verhängnisvolle Begegnung mit Peggy darzulegen. Ungefähr zehn Minuten versuchte ich, ihr stotternd das Dilemma zu erläutern. Ich packte alle relevanten Informationen in meinen Vortrag, aber in diesem emotional angeregten Zustand brachte ich die zeitliche Abfolge mehr als einmal durcheinander. Aufregung, Demütigung und Scham verhinderten einen vernünftigen Wortfluss. Obwohl ein Dreijähriger mit begrenztem Wortschatz verständlicher gewesen wäre, erkannte Ewa den wahren Kern der Botschaft von Peggys Betrug.
„Das erklärt einiges“, sagte sie mitfühlend und gab mir als Akzeptanz meiner Entschuldigung einen kurzen Kuss auf die Lippen. Mit diesem unerwarteten Manöver verscheuchte sie jegliche Unsicherheit. Ein erhabener Moment, den wir beide teilten und ich rechnete es mir hoch an, dass ich ihn nicht mit einem „Danke“ ruinierte.
„Jetzt bin ich dran“, sagte sie. Wir tauschten die Rollen und es war weitaus angenehmer, auf der Zuhörerseite zu stehen.
„Ich will dir erklären, was mein Vater gestern meinte.“ Ich beneidete sie um die Ruhe, mit der sie den Einstieg meisterte.
„Es gab genau drei Jungs vor dir“, offenbarte sie mir ihre quantitative Erfahrung in Sachen Beziehungen. Das war nicht so viel wie ich erwartet hatte, aber auch nicht so wenig wie erhofft.
„Keiner war annähernd wie du. Es waren Fehlgriffe“, versuchte sie sich an einer Relativierung.
„Für meinen Vater kommen nur Jungs aus gutem Hause infrage. Alle anderen sind für ihn ...“ Sie verzichtete auf eine verbale Beschreibung, die wenig schmeichelhaft gewesen wäre, legte eine längere Pause ein und obwohl meine Ungeduld über die nächsten Worte jegliche Skala sprengte, ließ ich ihr Zeit, sich zu sammeln.
„Ich mag dich. Ich mag dich wirklich. Diese Gefühle habe ich noch nie für jemanden empfunden.“ Dieses Geständnis fiel ihr sichtlich schwer und das perfekte Weiß ihrer Gesichtshaut bekam einen Rotstich. Ihr Blick bestand aus Verlegenheit, Erleichterung und Aufforderung.
Letztere galt mir und ich war am Zug, eines der wichtigsten Ereignisse in meinem Leben zur perfekten Vollendung zu bringen. Ich hatte meine Lektion gelernt, dass Worte ungeeignet für jegliche Art von emotionalen Momenten waren. In einem Anfall von Wagemut ging ich auf sie zu und küsste sie leidenschaftlich. Mit der Erwiderung bestätigte Ewa, dass sie genau diesen Abschluss erwartet hatte. Wir fielen auf ihr Bett und küssten uns, als gäbe es kein Morgen.
Mir reichte diese Art der gegenseitigen Versöhnung, aber Ewa wollte mehr. Sie löste sich, kniete jetzt auf der linken Seite des Bettes und begann ihre Bluse aufzuknöpfen, ohne einen Blick auf ihre Knöpfe zu werfen. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt mir und ihr Gesicht hatte etwas von einem Raubtier, das keinerlei Mitleid mit der Beute zeigte. Sie wollte mich mit Haut und Haaren.
Diese Facette der Weiblichkeit war mir bisher unbekannt gewesen und tatsächlich verunsicherte sie mich einen Moment. Den Zwiespalt zwischen Flucht und Aufgabe löste ich dadurch, dass ich meinen eigenen Urinstinkten das Handeln überließ. Wie sich im Nachhinein herausstellte, die richtige Entscheidung. Dieses Mal verzichteten wir weitestgehend auf Zärtlichkeiten und nutzten die Überreste unseres emotionalen Ausnahmezustandes, um ein Maximum an Lust in den Liebesakt einzubringen.
„Wahnsinn. Wir sollten öfter streiten“, scherzte ich, als die Vernunft nach dem Akt ihr Recht auf Vorherrschaft zurückgefordert hatte. Die hatte sich die letzte Stunde nicht nur bei mir vollkommen zurückgezogen und uns damit ein Erlebnis verschafft, das sich mit Sicherheit als historisches Großereignis im persönlichen Geschichtsbuch von Niklas Jakubowski wiederfinden würde.
„Ich bin sonst nicht so“, rechtfertigte sich Ewa. Offenbar haderte sie mit ihrem eigenen Verhalten. Nichts war mehr von der entfesselten Liebesgöttin zu erkennen. Im Gegenteil. Mit der Rückkehr des rationalen Denkens schien Reue sie heimzusuchen.
„Bitte geh jetzt“, forderte sie mich auf.
„Was?“, fragte ich ungläubig. Sie sah mich voller Scham an und war unfähig ihre Aufforderung zu wiederholen.
„Ihr Frauen seid irgendwie unberechenbar“, sprach ich dummerweise meine Gedanken laut aus.
„Versteh doch. Das war nicht ich“, versuchte sie sich an einer Erklärung.
„Ach ja. Wen habe ich denn sonst gerade zweimal zum Beben gebracht?“ Meine Stimme wurde lauter und zu meinem Glück merkte ich noch rechtzeitig, dass ich mich auf den falschen Weg begab. Ärger war nicht angebracht und so probierte ich es mit Sensibilität. Trotz der negativen Erfahrung vom Vortag schien mir das sinnvoll.
„Das ändert gar nichts an meiner Einstellung zu dir. Ganz im Gegenteil. Ich wollte dich doch besser kennenlernen. Das zeigt mir, dass du eine leidenschaftliche, aber auch verletzliche Persönlichkeit bist.“ Das war verdammt viel Schmalz für den Moment, aber offenbar war es genau das Süßholz, das Ewa gerade brauchte. Sie schien sich emotional zu fangen.
„Ich weiß auch nicht, was da passiert ist.“ Damit war die Sache für sie offenbar abgehakt. Mit einer letzten Bemerkung beendete sie ihre eigene Krise.
„Mit dem Beben? Bist du da sicher?“ Jetzt war ich verunsichert.
Dieser Höhepunkt an Ekstase brachte mir paradoxerweise drei enthaltsame Tage ein. Während bei Ewa weiterhin eine gewisse Unsicherheit gegenüber ihrem zügellosen Verhalten herrschte, war es bei mir die böse Vorahnung, dass die Normalität mich langweilen könnte. Ich hatte Ambrosia gekostet und bezweifelte, ob gewöhnliches Brot meinen Appetit noch befriedigen konnte. In dieser Zeit der Askese entwickelten wir eine Art Vertrautheit, die uns bisher in der Kürze unserer Beziehung gefehlt hatte.
Tatsächlich lernten wir uns nicht nur an der Oberfläche kennen, sondern erkannten die Marotten und Ticks des jeweils anderen. Meine schlampige Art, Dinge zum gegebenen Zeitpunkt zu erledigen, kollidierte mit ihrer Erziehung, alles Notwendige sofort abzuarbeiten. Die rosa Wolken verhinderten ausgiebige Streitigkeiten über solche Kleinigkeiten, wie ob ein Abwaschen sich erst lohnte, wenn sich genug dreckiges Geschirr angesammelt hatte. Wir arrangierten uns mit Kompromissen und erst am folgenden Dienstag konnten wir die natürlichen Triebe nicht weiter ignorieren. Die befürchtete Langeweile stellte sich nicht ein, aber der legendäre Freitag würde mit Sicherheit einmalig bleiben.
Der Rest des Novembers folgte einer eingefahrenen Routine. Mein Tag begann gegen halb zehn und nach einem ausgiebigen Frühstück geriet ich nicht selten mit Elisabeth aneinander, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, mir regelmäßig den Morgen zu vermiesen. Es prallten zwei Charaktere aufeinander, die aus Mangel an Betätigung den Tag damit verbrachten, den eigenen Morgenmuffel mit gezielten Stänkereien zu besänftigen. Keine Minute dachten wir daran, die Langeweile in friedlicher Eintracht mit gemeinsamen Tätigkeiten zu vertreiben.
Gegen Mittag verloren wir die Lust daran, uns gegenseitig zu quälen. Ich zog mich entweder in Ewas Zimmer zurück, um meine kostbare Jugend im Internet zu verschwenden, oder ich verbrachte meine Zeit in den Einkaufszentren der Stadt, um meine von Peggy dezimierte Garderobe wieder aufzufüllen.
Gegen 15:30 Uhr erschien Ewa und tatsächlich begann für mich erst zu dieser Stunde der Tag.
Wir genossen die gemeinsamen Stunden mit Spaziergängen, Cafébesuchen oder Treffen mit Freunden. Bei Letzterem hatte ich ein wenig Angst, Steffi und Ewa zusammenzubringen. Ich zögerte, ihr goldenes Universum aus elitärer Herkunft durch meine proletarischen Bekanntschaften mit nichtssagendem Job zu kontaminieren. Irgendwann bestand sie auf einer Vorstellung und da mir die Ausreden ausgingen, entweihte ich unseren regelmäßigen Montagabend für eine erste Zusammenkunft.
Obwohl ich gegen die unausgesprochene Regel verstieß, die jegliche Weiblichkeit bei unseren Treffen verbot, zeigte sich Steffi von einer ungewöhnlich zuvorkommenden Seite. Vielleicht hatte diese Regel mit Beendigung meiner Beziehung zu Peggy ihre Gültigkeit verloren, denn seine wenigen Berührungspunkte mit meiner damaligen Freundin zeugten von gegenseitiger Abneigung, sodass wir dieses Abkommen als eine Art Schutzfunktion zur Vermeidung unnötiger Konflikte eingeführt hatten.
Obwohl wir jeden zweiten Montag die Tücken im Umgang mit dem anderen Geschlecht ausführlich diskutiert hatten, ließ Steffi sich nie zu einer persönlichen Meinung über Peggy hinreißen. Vermutlich verkniff er sich aus Höflichkeit eine umfangreiche Beurteilung ihres Charakters. Dementsprechend groß waren meine Befürchtungen, dass Ewa aufgrund ihrer elitären Herkunft vielleicht einen ähnlichen Status als unausgesprochene Peinlichkeit erhalten könnte.
Wir verbrachten den Abend in verkrampfter Atmosphäre und am Ende versicherte mir Steffi, dass mir mit Ewa ein Upgrade gelungen wäre. Auf der anderen Seite urteilte Ewa mit einem ernst gemeinten „Interessant“ über meinen besten Freund. Nach dieser an Neutralität nicht zu übertreffenden Aussage würde es keine weiteren Montagabende zu dritt geben. Damit blieb eine Konstante meines alten Lebens vorerst erhalten und die unzähligen Geschichten über Eroberungen des Hengstes Steffi würden die Stabilität meines Selbstvertrauens weiterhin regelmäßig strapazieren.
Die Verflechtung von alten Gewohnheiten mit der neuen Beziehung nahm ihren Lauf, bis etwas dazwischenkam, das den natürlichen Ablauf durchkreuzte.
Es geschah an Ewas letztem Arbeitstag, als mein Leben einen Richtungswechsel vollzog, der in einer möglichen Autobiografie sicher als ein dramatischer Wendepunkt beschrieben werden würde.
Der Tag begann mit einer dieser E-Mails, die mit den heuchlerischen Worten „zu unserem Bedauern“ eingeleitet wurden und mit der ungenügend aufbauenden Phrase „Wir wünschen Ihnen viel Erfolg für Ihre berufliche Laufbahn“ endete. Meine halbherzige Suche nach einer neuen Arbeitsstelle hatte mir bisher nur Absagen eingebracht und der stetige Misserfolg begann erste Stücke meines Selbstvertrauens abzuknabbern. Noch war ich zuversichtlich, aber allzu viele Zurückweisungen drohten meine Psyche zunehmend zu belasten.
Das Nichtstun verlor langsam seinen Reiz. Mein Tagesablauf beschränkte sich darauf, die Langeweile nach dem Aufstehen bis zu Ewas Ankunft zu überbrücken. An diesem schicksalhaften Tag wurde mir bewusst, dass ich die letzten Wochen gegen meine ureigensten Interessen gehandelt hatte. All die Fantasien, die als Gegenpol für die Tristesse des neonbeleuchteten Großraumbüros und der eingefahrenen Alltagsroutine hatten herhalten müssen, verloren ihren Zauber dadurch, dass ich bis zum heutigen Tag nicht mal begonnen hatte, Teile davon umzusetzen. Hatte ich nicht genau deswegen die Kündigung vorgezogen? Wann in den letzten Wochen hatte ich meinen Willen für die Durchführung all der erträumten Heldentaten eingebüßt? Zweifellos hemmten die rosa Wolken unserer Liebe meinen Entdeckergeist, aber die Ausrede konnte ich nicht ewig vorschieben.
In Wahrheit hatte ich meine Zeit damit verschwendet, den Tagesablauf eines Hartz-4-Empfängers zu perfektionieren. Damit nicht genug. Meine Bewerbungen waren Zeugnisse für Bestrebungen die alten Zustände aus Exceltabellen und ERP-System wiederherzustellen. Ich musste die in endlos langen Bürotagen entworfenen Fluchtalternativen endlich angehen. Zeit und Geld würden vermutlich nie wieder in dieser perfekten Konstellation auftreten. Mit jeder Menge Motivation startete ich an diesem Freitag in den Morgen und rief mir die einzelnen Punkte in Erinnerung.
Ganz oben auf meiner Liste standen natürlich die Frauen. Das Vorhaben, möglichst viele Exemplare des anderen Geschlechts zu verführen, würde gleich an mehreren Problemen scheitern. Der Beziehungsstatus allein sprach dagegen, aber auch mein mangelndes Talent, der holden Weiblichkeit selbstsicher entgegenzutreten, machten den ersten Punkt zur Unmöglichkeit.
So kramte ich weiter in den Erinnerungen, die meist von sonnendurchfluteten Stränden geprägt waren. Das regnerische Wetter vor der Tür erstickte auch diese Fantasie. Warum musste ich ausgerechnet im Herbst meinen Freiheitsjoker bekommen? Blieb nur noch das Leben eines ungezügelten Partyhengstes, der jede Nacht durchfeierte und die Abende mit seiner Anwesenheit zur Legende machte. In dieser Angelegenheit hatte ich etwas Vorarbeit geleistet, aber Ewa hatte mich zu Veranstaltungen überredet, deren Realität nicht entfernter von meiner Fantasie hätte seien können. Das elitäre Verhalten auf den privaten Feiern stand im Gegensatz zu meiner ausartenden Vorstellung von Sex, Drugs und Rock and Roll, die zugegebenermaßen mehr Fantasie als Wirklichkeit beinhalteten.
Mir gingen die Optionen aus und in dieses Vakuum aus ideenlosen Oberflächlichkeiten platzte Ewa mit einem Vorschlag, den sie zu keinem besseren Zeitpunkt hätte anbringen können.
„Hi“, begrüßte sie mich ungewöhnlich schüchtern. Ihr flüchtiger Kuss auf meine Lippen wirkte wie das Ritual einer Angetrauten nach dreißig Jahren Ehe. Irgendwas stimmte nicht. Hatte ihre Zurückhaltung mit der Anwesenheit von Elisabeth zu tun? Ungewöhnlicherweise betraten sie gemeinsam ihr Zimmer.
„Wir müssen reden“, sagte sie zaghaft. Wieder diese drei Worte, die erhöhte Vorsicht verlangten. Offenbar hatte die Frauenwelt damit den Schlüssel für hundertprozentige Konzentration eines Männerhirns gefunden.
„Heute war mein letzter Tag bei Pollmen und ich fand es sehr schön und auch sehr lehrreich“, begann sie. Es folgten ein paar Anekdoten aus dem Büroalltag. Da hatte sie meine volle Aufmerksamkeit und dann verschwendete sie sie mit Belanglosigkeiten.
„Was ist los?“, unterbrach ich sie, als sie dazu überging jeden einzelnen Tag unserer Beziehung überschwänglich zu glorifizieren. Wollte sie etwa mit mir Schluss machen?
„IchwerdeDresdenverlassen“, feuerte sie mir den Satz als ein Wort entgegen.
„Habe ich das richtig verstanden?“, fragte ich sicherheitshalber nach.
„Ja. Ich werde Dresden verlassen.“
„Du machst Schluss mit mir?“ Diese Frage triefte vor Panik. Hatte ich vor lauter Liebestaumel die Anzeichen einer Trennung übersehen? Unmöglich. Die letzte Nacht zeugte vom Gegenteil.
„Das habe ich doch gar nicht gesagt“, rechtfertigte sie sich und ersetzte meine Panik durch Verwirrung. Erwartete sie, dass ich ihr nach wenigen Wochen Beziehung in ihre Heimat tief im Westen folgte?
„Hä?“ Eine erbärmliche Zusammenfassung für die tausend Fragen, die mir gerade durch den Kopf gingen. Ich musste präziser werden.
„Was meinst du dann?“ Mehr Worte, aber nicht wirklich konkreter. Mein Verstand feilte an etwas Greifbarem, das ihre Antwortmöglichkeiten auf ein ja oder nein beschränkte. Ewa kam mir zuvor.
„Wir werden eine Weile verreisen“, rückte sie endlich mit dem Wesentlichen raus.
„Verreisen? Wie lange denn? Wohin?“ Auch wenn die wirre Vielzahl an Fragen etwas anderes vermittelte, beruhigte mich diese Offenbarung etwas. Jetzt, wo die Katze aus dem Sack war und sich gegenseitige Entspannung einstellte, offenbarten mir die beiden ihre Pläne in mehr Details. Offenbar wollten sie ihre letzten zehn Monate Freiheit nutzen, um die Welt kennenzulernen. Ein Vorhaben, das sogar von ihren Eltern gebilligt wurde. Blieb nur die Unbekannte mit dem Namen Niklas Jakubowski.
„Und was wird mit mir?“, demaskierte ich den Elefanten im Raum, der von Anfang an ignoriert worden war. Offenbar hatte Ewa bereits eine Antwort auf diese Frage, aber irgendwas hatte sie bisher daran gehindert, sie auszusprechen.
„Komm doch einfach mit“, schlug sie vor. Jetzt war Elisabeth in Panik. Vermutlich der Grund für Ewas bisherige Zurückhaltung. Bevor Elisabeth irgendwelche Vetos einbringen konnte, überraschte ich sie mit einer Entscheidung.
„Klar.“ Ein Reflex, dessen Konsequenzen ich nicht mal im Ansatz bedacht hatte, aber Ewa hatte ungewollt eine Lösung für mein Dilemma geliefert. Angenehmer Nebeneffekt war die Tatsache, dass Elisabeth zur verärgerten Statue versteinerte.
„Cool. Ich zeige dir, wo es hingeht.“ Wir versammelten uns vor ihrem Laptop und als die komplette Weltkarte den Bildschirm zierte, fing sie an, einen Kontinent zu separieren.
„Das ist unser Ziel.“ Bilder öffneten sich, die exotische Gebäude zeigten, vor denen Menschen in verrückten Sachen seltsame Tänze aufführten.
„In zwei Wochen geht es los“, offenbarte sie den Terminplan.
„Bin dabei“, bestätigte ich ohne irgendwelche Abwägungen. Ein paar Tage All-Inclusive würden mir guttun, aber dahingehend hatten die beiden andere Pläne.
„Ein paar Sachen zusammenpacken, in den Flieger setzen und los“, stichelte Elisabeth. Offenbar hatte sie mir das Vier-Sterne-Hotel bereits angesehen. Es war ihr eine Genugtuung, meine Träume von opulentem Luxus zu zerstören.
„So wenig Organisation wie möglich“, bestätigte Ewa.
„Äh, klar.“ Ich wollte die abenteuerliche Stimmung nicht ruinieren, obwohl ich wahrlich nicht der Typ war, der nur mit einem Rucksack als Gepäck in exotische Länder reiste.
„Und wie lange?“, fragte ich.
„Das ist ja das Spannende. Wir fliegen einfach ohne Rückflugticket.“ Das überforderte meinen Verstand, der es gewohnt war, die eingefahrene Routine mit allen notwendigen Vorkehrungen gegen Überraschungen abzusichern. Normalerweise schätzte ich die Verlässlichkeit eines geregelten Alltages und wenn doch mal etwas Unvorhergesehenes wie Jahresurlaub dazwischenkam, wurde bereits drei Monate vorher alles bis ins kleinste Detail organisiert.
Anderseits war es genau dieser berechenbare Alltag, der mich regelmäßig in Fantasien von Aufregung und Abenteuer getrieben hatte. Vielleicht wurde es wirklich Zeit, ohne Auffangnetz auszubrechen und zu beweisen, dass in Niklas Jakubowski mehr steckte als ein ängstlicher Buchhalter, der sein Leben ausschließlich mit verrückten Träumen bereicherte.
„Na dann los“, erwiderte ich voller Tatendrang. Ich schaute erneut auf den Monitor und mein begrenztes Wissen über das Ziel unserer Reise steigerte meine Abenteuerlust. Es wurde Zeit, meine Vorstellungen über exotische Länder mit der Realität abzugleichen. Ich war bereit für ein neues Kapitel meines Lebens.
Dem Verlangen nach Abenteuer durch spontanes Besteigen eines Fliegers nachzugeben, ging eine Unzahl an organisatorischen Notwendigkeiten voraus. Durch den mangelnden Gebrauch meines Reisepasses wurde das Ablaufdatum zu einer unkalkulierbaren Überraschung und hätte meinen Ambitionen in Sachen draufgängerischer Weltenbummler schnell ein Ende setzen können. Ich hatte mir das weinrote Dokument vor Jahren zugelegt, in der festen Absicht soviel Einreisestempel wie möglich zu sammeln, aber die Jungfräulichkeit hatte er sich bis heute erhalten. Peggy konnte ihre hysterische Angst vorm Fliegen nur ein einziges Mal überwinden, aber für die zwei Wochen Pauschalurlaub auf Mallorca, hätte vermutlich auch der Büchereiausweis gereicht.
Voller Spannung öffnete ich die Eintrittskarte in die Welt und stellte erleichtert fest, dass ich damit ein ganzes Jahr meinem Drang nach Freiheit nachgehen könnte. Endlich stand ich vor der Verwirklichung der kreativ entworfenen Vorstellungen, die unter kaltem Neonlicht in den quälenden Stunden bei Pollmen-Industries als Ausweg für die Lethargie des Alltags herhalten mussten. Jedes Mal stieg ein verwegener Buchhalter in den bereitgestellten Flieger, um am exotischen Ziel mit einem Übermaß an Selbstvertrauen die Einheimischen zu beglücken. Hier gab es bereits die erste Abweichung von der sicher geglaubten Vorstellung.
Den Mangel an Verwegenheit konnte ich verschmerzen, aber das fehlende Selbstvertrauen entpuppte sich als wahrhafte Spaßbremse. Ich ertappte mich dabei, wie ich an Ausreden für einen Ausstieg an der Unternehmung feilte. Meine Favoriten handelten von aufgebauschten Krankheiten oder irgendwelchen Verpflichtungen, wie Einladungen zu Hochzeiten oder Beerdigungen. Irgendwas Banales würde sich schon finden. Dummerweise würde es nicht über die entlarvende Wahrheit hinwegtäuschen. Ich hatte die Hosen voll.
„Alles in Ordnung mit dir?“, fragte mich Ewa am Vorabend der großen Unternehmung. Wir lagen gemeinsam im Bett und genossen die Nachwirkungen des regelmäßigen Beischlafs. Wir kuschelten uns aneinander und meine klägliche Dynamik beim vorangegangenen Liebesspiel nötigte sie zu der Frage meines Befindens.
„Alles gut“, log ich. Tatsächlich hatte ich die nötige Konzentration vermissen lassen, um meinen Teil des gemeinsamen Aktes zufriedenstellend einzubringen. Ohnehin brannte das Feuer der Leidenschaft nicht mehr so heiß wie in unseren Anfangstagen, aber immerhin hatten wir eine gewisse Routine entwickelt, die ein endgültiges Erlischen der Flamme verhinderte. Heute Abend allerdings übertrug sich meine Nervosität auf die eingefahrenen Handlungen und mein Unterbewusstsein drängte auf ein vorzeitiges Ende, um sich ganz und gar den möglichen Widrigkeiten des morgigen Tag widmen zu können.
„Das ist mir noch nie passiert“, kamen mir die peinlichsten Worte über die Lippen, die ein Mann gegenüber einer Frau aussprechen konnte. Das nagte weitere Stücke meines Selbstvertrauens ab, zumal Ewa keinerlei Anzeichen von Aufregung ausstrahlte. Ganz im Gegenteil. Sie genoss diese Vorfreude, die in meinen Fantasien eigentlich mir vorbehalten war.
Sie tat mir den Gefallen und vermied eine verbale Antwort auf die offensichtliche Lüge. Mit einem innigen Kuss beendete sie das Thema, kuschelte sich an mich und schlief irgendwann ein. Wie konnte sie nur so abgebrüht in den morgigen Tag schlafen? Trotz aller Bemühungen schaffte ich es höchstens eine halbe Stunde Schlaf am Stück zu bekommen. In diesen vermeintlich erholsamen Zeiten zeigte mir mein Verstand in wilden Träumen episodenhaft mehrere Varianten eines möglichen Versagens auf. In der Harmlostesten scheiterten wir an der Grenzkontrolle, weil irgendein Formular für die Einreise fehlte. Andermal wurden wir festgenommen, da ich aus einem unerfindlichen Grund ein weißes Pulver in einem Plastiktütchen mit mir führte. In einer weiteren Version überfielen uns hinterhältige Einheimische noch am Flughafen. Mein Verstand fuhr Achterbahn und beraubte mich dadurch des notwendigen Schlafes.
Diese Vielfalt an Horror war erschreckend und ich beschloss den Rest der Nacht freiwillig wach zu bleiben, um halbwegs die Kontrolle über meine Gedanken zu behalten. Vergeblich, denn das Thema Scheitern bekam ich nicht aus dem Kopf, aber ich konnte mich auf einen Kompromiss mit meinem aufgewühlten Bewusstsein einigen.
Das Szenario, dass mir einigermaßen Ruhe verschaffte, ging folgendermaßen. Trotz aller Anstrengungen pünktlich zum Flughafen zu gelangen, verpassten wir den Flug und kehrten niedergeschlagen in Ewas Wohnung zurück. Dort beschlossen wir die Reise auf unbestimmte Zeit zu verschieben und als krönenden Abschluss bewunderte Ewa meine Ausdauer in einem tröstlichen Akt über das verpasste Abenteuer. Dieses Konstrukt aus fehlender Courage und maßloser Selbstüberschätzung beruhigte mich soweit, dass ich in einen traumlosen Schlaf überglitt.
Der Wecker holte mich aus dem Tiefschlaf und wie immer in diesem Zustand aus Desorientierung brauchte mein Geist länger als mein Körper, um in den aktiven Zustand überzugehen. Diese rabiate Art in die Realität zu stürzen, überforderte mich jedes Mal und ich benötigte in der Regel den halben Tag, um die Wetterbedingungen in meinem Kopf von nebelig auf halbwegs sonnig umzustellen. Keine gute Vorraussetzung mit eingeschränkter Sicht in ein Abenteuer zu starten, aber der aufgewühlte Geist der vergangenen Nacht verursachte diese Nachwirkungen. Was blieb war die Hoffnung mit einer Überdosis an Koffein möglicherweise schneller in den Normalbetrieb überzugehen.
Ich bekam einen flüchtigen Kuss und bevor mein träger Verstand verarbeiten konnte, wer mich da so beiläufig begrüßte, sprang Ewa aus dem Bett. In ihrem hauchdünnen Schlafanzug verschwand sie im Badezimmer. Ich erinnerte mich, dass dieses Stück Stoff mit dem Gewicht eines Kronkorken genau den Gegenwert meiner Miete ausmachte. Vermutlich würde ich für lange Zeit auf diesen kostspieligen Anblick verzichten müssen, denn der Plan für die nächsten Wochen lautete in möglichst einfachen Unterkünften zu campieren. Schlafsäle statt Luxussuite wurde mir mehr als ein Mal als wesentlicher Teil des Abenteuers von Elisabeth vorgehalten. Eine dieser Sticheleien, mit der mich meine Mitreisende die letzten Wochen aufgezogen hatte.
Ich hatte 45 Minuten um den Schlaf aus den Knochen zu bekommen. Das war die durchschnittliche Zeit, die Ewa benötigte, um sich mit Hilfe von duschen, teuerem Make-up und perfektionistischem Sinn für Stil in dieses makellose Wesen zu verwandeln, das mir dann mit edlem Parfüm den Kopf noch vor dem Frühstück verdrehte. Für mich der Höhepunkt jedes Vormittages und eine gewisse Vorfreude ließ sich schwer leugnen, aber heute enttäuschte sie mich dahingehend.
„Bad ist frei“, verkündete sie nach nicht mal zehn Minuten. Sie hatte ihr Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und auf sämtliche irreführenden Schminkutensilien verzichtet. Meiner Meinung besaß sie ohnehin eine natürliche Schönheit und all das Pudern Eyelinern und Kaschieren waren eine massive Geld- und Zeitverschwendung. Jetzt stand eine Frau vor mir, die auch ohne diesen Kram von Swiss Color und Konsorten jeden Kerl um den Verstand bringen konnte.
Neid machte sich in mir breit. Wir waren noch keine Minute unterwegs und Ewa hatte mit ihrer Transformation von Ally McBeal in Tombraider einen wahrhaften coolen Start in das Abenteuer vorgelegt. Die Hoffnung, eine ähnliche Verwandlung in eine Art Indiana Jones hinzulegen, zerstörte ein Blick in den Spiegel. Was hatte ich mir nur dabei gedacht? Ich war Buchhalter. Diese Gattung, die ihre Erfüllung normalerweise in der Anreihung von Zahlen sah. Verdammt. Alles in mir schrie nach der Sicherheit eines Computers, dessen einzige Spannung darin bestand, ob das neuste Update des ERP-Systems fehlerfrei funktionierte. War das nur Aufregung oder regelrecht Panik? Unwichtig. Es gab ohnehin kein Zurück mehr. Wenn ich jetzt kneifen würde, wäre ich nicht nur in Ewas Augen ein Feigling. Ich befand mich in meinem personalisierten Männlichkeitsritual. Auch wenn es keinen Stammesältesten gab, der mich beauftragte ein Mammut mit bloßen Händen zu erlegen, musste ich die nächste Stufe auf der Treppe zum Erwachsen werden nehmen.
Zur Aufmunterung wollte ich mein Spiegelbild mit einem Urschrei beglücken, aber das hätte nur unangenehme Fragen von Ewa zur Folge gehabt. So beschränkte ich mich auf ein Brusttrommeln, das tatsächlich einen großen Teil meiner Aufregung minderte. Mit frischem Mut ergriff ich die Waschtasche, verließ das Bad und war bereit für meine Träume.
Soweit war es noch nicht, denn vor uns lagen eine Stunde Flug nach Frankfurt, zwei Stunden Aufenthalt und dann elendige zwölf Stunden Flug nach Kapstadt. Die erste Etappe unsere Reise, die für mich absolutes Neuland war. Noch nie war ich soweit weg von der Sicherheit eines verlässlichen Alltags gewesen.
Auf dem Weg zum Flughafen erfrischte uns Elisabeth mit skurrilen Geschichten über das Land. In meiner Einbildung tat sie das ausschließlich um mich zu verunsichern, aber ich glaube in Wahrheit freute sie sich ernsthaft auf die Rückkehr in bekannte Gefilde. Sie hatte in ihrer Schulzeit dort ein halbes Jahr als Austauschschülerin vollbracht. Damals blieb wenig Zeit das Hinterland zu erkunden und genau dass wollte sie mit ihrer besten Freundin nachholen. Die hatte freudig zugestimmt, aber zu Elisabeths Bedauern einen männlichen Störfaktor in ihre Unternehmung mit einbezogen. Die Reise würde also nicht nur auf Grund des exotischen Landes spannungsgeladen werden.
Meine Flugerfahrungen beschränkten sich auf jeweils zwei Stunden Mallorca und zurück. Aus diesem Grunde stellte sich bereits der Flug nach Frankfurt als erste Herausforderung da. Mein Vorhaben, die Stadt auf dem Luftweg zu verlassen, strapazierte nicht nur die Geduld meiner Mitreisenden, sondern auch die Leidensfähigkeit der Sicherheitskontrollen. Trotz des Credos so wenig wie möglich zu planen, ließ ich es mir nicht nehmen gewisse Vorkehrungen zu treffen. Allein die Anzahl an Elektrogeräten überforderte das Röntgengerät, so dass mein Handgepäck eine Extra-Runde drehen durfte, nachdem ich Tablet, Laptop und Telefon entfernt hatte.
Damit nicht genug. In Unkenntnis der medizinischen Versorgung vor Ort hatte ich mir ein „Erste Hilfe Set“ besorgt. Damit wurde mein Rucksack zur besonderen Untersuchung auserkoren. Offenbar waren Scheren nicht erlaubt, selbst wenn das Gerät in Händen von rumtollenden Dreijährigen keinen Schaden anrichten würde. Im Rahmen dieser Untersuchung büßte ich meine Zahnpasta, mein Deo und mein Shampoo ein, weil sie die erlaubte Höchstmenge um das zehnfache überschritten. Die Mädels auf der anderen Seite des Detektors wurden langsam ungeduldig und Elisabeth hatte sich mit Sicherheit bereits eine herablassende Bemerkung über mein mangelndes Talent zeitnah eine Kontrolle zu passieren bereit gelegt. Doch sie musste warten, denn mein unwürdiger Auftritt zog weitere Beamte an, die mein Handgepäck als potentielle Bombe im Verdacht hatten und mit Klebezetteln nach Resten meiner explosiven Untaten suchten. Nachdem wir endlich wieder vereint waren, erhielten meine Zweifel der ganzen Sache gewachsen zu sein neue Nahrung.
Ich brauchte Kaffee. Ein flüchtiger Blick auf die Preisliste ließ mich zu der Überzeugung gelangen, dass ich den Tag ohne weiteres Koffein meistern müsste. Mischen die da Goldstaub mit rein? Anders konnte ich mir den Gegenwert eines kleinen Capuccinos nicht erklären. Mit Erschrecken musste ich feststellen, dass ich anfing die Gewinnspanne zu berechnen. Es beruhigte mich gewohnte Dinge zu tun, doch ich war nicht hier um die Profitabilität eines mir fremden Geschäftes zu ergründen. Ich musste den inneren Buchhalter endlich abschalten und dem Reisenden mehr Raum geben. Der brauchte all meine Konzentration, denn die Zukunft würde größere Herausforderungen als eine Sicherheitskontrolle bereit halten.
Eine halbe Stunde später saß ich im Flieger. Fensterplatz mit freier Sicht auf die Tragfläche. Die Stadt von oben zu sehen hatte sich damit erledigt. Vielleicht beim Rückflug, aber da gab es noch nicht mal ein Ticket. Eine Unsicherheit, mit der ich lange zu kämpfen hatte. Ewa war der Meinung jegliche terminlichen Zwänge zu vermeiden, um ein Maximum an Spontanität zu haben. Das beinhaltete auch die Möglichkeit einer schnellen Rückkehr, obwohl sie diese Option sicher nicht im Sinn hatte. Für mich wirkte die Möglichkeit eines direkten Rückfluges nach der Ankunft beruhigend.
Der Flieger hob ab und kaum waren die Anschnallzeichen erloschen, bildete sich eine ansehnliche Traube von Menschen mit voller Blase vor der Bordtoilette. Menschliches Verhalten war mir schon oft suspekt, aber hier stapelten sich regelrecht die Fragen? Welchen Reiz hat so eine Flugzeugtoilette? War es unmöglich eine Stunde ohne Entleerung jeglicher Art klarzukommen? Wenn nicht, warum wurden nicht die viel sauberen Aborts am Flughafen benutzt? Eine willkommene Ablenkung die Gewohnheiten fremder Menschen zu hinterfragen.
Die zwei Stunden Aufenthalt in Frankfurt wollten wir für ein ausgiebiges Frühstück nutzen. Ich kam nicht dazu mich über die Preise zu ärgern, denn Ewa nutzte ihre Kreditkarte mit dem Limit jenseits der Schallmauer um alle einzuladen. Der erste Test, wie denn zukünftig gemeinsame Aktivitäten abgerechnet werden sollten. Ich hatte die letzten Wochen festgestellt, dass unsere Vorstellung vom Wert einer Sache extrem auseinander klafften. Dieses kleine Stück Plastik in der Brieftasche meiner Gefährtinnen machte keinen Unterschied zwischen dem Brötchen beim Bäcker und dem Mieten einer Luxusjacht. Einfach auflegen und schon waren sie stolzer Besitzer eines Schinken-Baguettes oder haben aus Versehen Microsoft gekauft. Meine Sparkassenkarte dagegen, wirkte in ihrem spöttischem Rosa eher wie eine Einweggegenstand, der bei zu hoher Belastung sofort in Flammen aufgehen würde. Wir hatten das Thema Geld nie angesprochen, aber ich fürchtete, dass irgendwann auf unser Reise mein begrenztes Budget zu peinlichen Momenten führen könnte.
Mich überkam Respekt mit einer nicht unwesentlichen Note von Angst, als ich sah welches Transportmittel uns auf die andere Seite des Planeten bringen sollte. So ein riesiges Ungetüm aus Stahl konnte mit seinem Gewicht von einer Million Tonnen doch niemals in die Luft gehen. Zum ersten Mal in meinem Leben empfand ich ehrfürchtige Demut über die technischen Errungenschaften der Menschheit. Ingenieure haben in komplizierten Formeln an Reißbrettern den Prototyp entwickelt. Mechaniker fügten die einzelnen Bauteile mit speziellen Werkzeugen zusammen und Piloten werden dieses Monster aus verschraubten Blech fliegen. Sicherlich gab es auch irgendwo einen Buchhalter, der fleißig Rechnungen für eingekaufte Tragflächen abgeheftet hatte, aber deren Zutun änderte nichts am beeindruckenden Endprodukt. Die wirklich spannenden Sachen erfolgten außerhalb des Rechnungswesen. Konnte es sein, dass Arbeit tatsächlich erfüllend war? Ich stellte mir vor, wie der verantwortliche Ingenieur an einem dieser mannshohen Räder stand, lächelnd seine Hand über das Gummi gleiten ließ und solche epischen Worte wie „eine kleine Idee von mir, eine große Entwicklung für die Menschheit“ vor sich hin murmelte. Die Welt bestand aus tausend beruflichen Möglichkeiten und ich bin bei der Schussfahrt des Arbeitslebens freiwillig in den zuverlässigen Volvo eingestiegen ohne auch nur Porsche oder Lamborghini zu testen. Noch war es nicht zu spät für einen Upgrade. Verrückt. Ich hatte jahrelang in diesem Büro gesessen, um von Abenteuern ohne Tretmühle zu träumen und kaum verwirkliche ich nach elendigem Zaudern die lang gehegten Fantasien, grübelte ich über berufliche Perspektiven. Nicht die Wege Gottes waren unergründlich, sondern der menschliche Geist.
Am Einstieg wurden wir begrüßt von adrett gekleideten Stewardessen. Elisabeth nutze meinen verbalen Fauxpas, um mich auf die falsche Bezeichnung des Personals hinzuweisen. Gereizt maßregelte sie mich, dass Flugbegleiterin die korrekte Ausdrucksweise darstelle und ich ein gewisses Maß an Peinlichkeit in die kleine Gruppe bringen würde, sollte ich mich nicht an die vorgesehene Ansprache halten. Wir waren gerade mal drei Stunden unterwegs und ihre von Ewa erzwungene Toleranz hinsichtlich meines ungeschickten Verhaltens zeigte erste Risse. Die nächsten zwölf Stunden würden zur ernsten Herausforderung für sie werden, denn auf Grund meiner Unerfahrenheit auf Reisen galt es als gesichert, dass ich mit weiteren Peinlichkeiten Aufsehen erregen würde, zu mal ihre Toleranzgrenze mit jeder gemeinsamen Minute nach unten verschoben wurde.
In den ersten 9 Stunden des Fluges verbrachte ich die Zeit mit guten Gesprächen, regelmäßigen Mahlzeiten und dem Unterhaltungsprogramm an Bord. In der verordneten Ruhephase versuchte ich vergebens die Defizite der vorhergehend Nacht nachzuholen, aber nach mehreren gescheiterten Ansätzen die geschlossenen Augen in gewinnbringenden Schlaf umzuwandeln, beschloss ich „Harry Potter und der Feuerkelch“ eine Chance zu geben. Mein müder Geist hatte mittlerweile Probleme irgendeinen Zusammenhang in Fremdsprachen zu erkennen und so blieb unter den wenigen deutschen Filmen nur der bebrillte Hogward-Absolvent oder der Bondage-Klassiker „Fifty shades of Grey“.
Zu meinem Bedauern funktionierte die Ablenkung nicht mehr und so blieb die Frage offen, welches Trinkgefäß namens gebend für den Film stand. Ich schaltete ab und war froh die paar Vokabeln für eine Colabestellung bei der Stewardess/Flugbegleiterin fehlerfrei zusammen zu bekommen. Nach fast 10 Stunden in dieser Blechkiste wurde der Drang nach offenen Weiten unbändig und erstickte jegliche Konzentration für banale Unterhaltung. Ewa, Bordprogramm oder Erfrischungsgetränke konnten meinen Verstand nur unzureichend aus dem mentalen Tunnel holen, der befeuert von klaustrophischen Schüben jede runter gezählte Minute am Monitor mit einem Freudenfest bedachte. Nichts anderes galt mehr als endlich die Null hinter dem Wortfetzen „estimated arrival time“ zu sehen.
Noch stand da eine grausam hohe Zahl und offensichtlich war ich nicht der einzige, der mit den engen Verhältnissen zu kämpfen hatte. Die anfänglich ausgelassene Stimmung drohte mehr und mehr zu kippen. Selbst das Bordpersonal hatte Mühe die verordnete Freundlichkeit glaubwürdig an die Passagiere weiterzugeben. Ein Maximum an aufgesetzten Lächeln war bei allen Beteiligten des Fluges notwendig, um die letzte Essensausgabe ohne größere Eskalation zu Ende zu bringen. Dieses zivilisatorische Hilfsmittel, dass in der Menschheitsgeschichte ganze Kriege verhindert hatte, verfehlte seine Wirkung nicht und so brach nach Vollendung der erfolgreichen Nahrungsaufnahme die finale und mit Sicherheit längste Stunde des Fluges an.
Eine Welle der Erleichterung waberte über die Passagierreihen, als der Flugkapitän über den Bordfunk die bevorstehende Landung verkündete. Das Martyrium neigte sich dem Ende entgegen und mein Drang irgendwas außerhalb dieses Stahlvogels tun zu müssen, wurde abgelöst durch Aufregung über das Betreten einer vollkommen fremden Welt. Ich schaute auf meine Begleiterinnen, die mit ihrer ruhigen Ausstrahlung Neid in mir hervorriefen. Wie war es möglich so abgebrüht in das Abenteuer Afrika zu starten? Wahrscheinlich machte ich mir viel zu viel Gedanken, denn auch dort unten würden gewisse Regeln der Zivilisation gelten und solange die Grundbedürfnisse wie Nahrung oder Unterkunft befriedigt wurden, kämen wir schon irgendwie zurecht. Ewas unbegrenztes Kreditkartenlimit beruhigte mich dann endgültig und so erfasste mich eine gewisse Vorfreude, als die Räder des Fliegers ruppig auf dem Asphalt des Flughafen aufsetzten. Ich war bereit die an unendlich langen Tagen in der Buchhaltung von Pollmen-Industries entworfenen Fantasien zu verwirklichen.
Das Betreten der Ankunftshalle wurde begleitet mit einem Übermaß an Freiheit. Einerseits waren wir froh der bedrückenden Enge des von außen so riesig wirkenden Fliegers zu entkommen und anderseits lag eine Welt voller neuer Möglichkeiten und Endeckungen vor uns, die voller Neugierde erkundet werden wollten. Eine letzte Hürde galt es noch zu meistern. Die Passkontrolle.
Unter dem Vorwand des Anstandes überließ ich den Mädels den Vortritt. In Wahrheit hatte ich Angst in irgendeiner Weise den uniformierten Beamten in seinem Glaskasten zu verärgern, nur weil ich mich nicht verhielt, wie Millionen andere Passagiere vor mir. Ich erhoffte mir eine Art Lerneffekt von Ewa, aber ich stand soweit weg, dass der Erkenntnisgewinn überschaubar war. Drei Minuten blieben mir, dann galt es die Autorität von der Würdigkeit meines Besuches zu überzeugen.
Mit vorgetäuschter Souveränität näherte ich mich dem Glaskasten und übergab meinen Pass und das sorgfältig ausgefüllte Einreiseformular. In Letzterem musste ich Antworten über meine Herkunft eintragen oder solch absurde Fragen beantworten, ob ich Drogen einführen wollte oder plane einer Arbeit nachzugehen. Beides hatte ich vorsichtshalber mit nein beantwortet und in der Hoffnung damit meine Rechtschaffenheit nachgewiesen zu haben, hoffte ich auf einen reibungslosen Zutritt. Der kleine Beamte ignorierte mein Leumundszeugnis und warf den Zettel ungelesen in eine Ablage. Toll, da hatte ich gefühlte tausend Mal kontrolliert, ob ich bei solchen heiklen Geschichten wie den Drogen das Kreuz an der richtigen Stelle platziert hatte und dann wurde dieser Aufwand mein tugendhaftes Verhalten zu beweisen mit keinem Blick gewürdigt. Geräuschvoll knallte er den Einreisestempel aufs Papier und brummte mir ein gelangweiltes „Welcome“ entgegen. Das alles passierte ohne Blickkontakt und als ich nach dreißig Sekunden offiziell das Land Südafrika betrat, konnte ich eine gewisse Enttäuschung nicht leugnen, dass meine Einreise mit einem Minimum an Aufmerksamkeit bedacht wurde.
Egal. Hier galt es keine unterbezahlten Beamten mit meinem Erscheinen zu beeindrucken. Ich wollte Abenteuer und nach einem kurzen Abstecher zum Gepäckband schulterten wir den Rucksack und zum ersten Mal fühlte ich mich ein wenig wie Albert Schweitzer oder Jaques Coustau. Neue Welten mit neuen Spezies galt es zu erkunden.
Und ich sollte nicht enttäuscht werden. Der Weg zum Ausgang wurde begleitet von Wortfetzen in einer mir unbekannten Sprache, die mich stark an eine Mischung aus Berliner Dialekt und ins lächerlich verstümmeltes Holländisch erinnerte. Elisabeth hatte mir im Vorfeld dahingehend in ihrer unnachahmlichen Weise aus Missfallen und Herablassung geraten ein paar Worte Africaans zu lernen, um wenigstens ein Grundwissen an lokaler Sprache zu besitzen. Bedauerlicherweise erschöpfte sich mein Wortschatz erschöpfte bereits mit den Worten „Dankie“ und „Lekker“.
Wir verließen die Eintönigkeit des Flughafens, die überall auf der Welt als Blaupause für effizientes Verreisen mit dem Flieger kaum Variationen beinhalteten. Ich nahm einen tiefen Atemzug afrikanische Luft, die mich eher an einen Superstau auf der A4 erinnerte als an wilde Savannen voller exotischer Tiere. Der Verkehr glich einem Wimmelbild aus den 90er Jahren, bei dem der Künstler aus Zeitnot eine Komponente offensichtlich unendlich wiederholt hatte. Die einheimische Bevölkerung war nicht nur in der Modelpalette wenig variabel. Die altertümliche Variante des VW Golf gab es ausschließlich in weiß und verlieh dem stinkendem Trubel eine unschuldige Note.
„Was jetzt? Taxi?“, fragte ich unsicher. Eigentlich wollte ich eine gespielte Gelassenheit gegenüber Elisabeth vortäuschen, aber meine Aufregung war zu dominant. Meine Begleiterinnen dagegen schienen die Ruhe selbst. Für Elisabeth war es vertrautes Gelände, aber Ewa hatte ebenfalls Neuland betreten und obwohl ich sie mittlerweile ganz gut einschätzen konnte, überraschte mich ihre stoische Einstellung gegenüber dem afrikanischem Unbekannten.
„Besser. Raúl holt uns ab.“ Dieser Name passte genauso wenig in meine Vorstellung vom wilden Afrika, wie die altertümlichen Relikte aus Deutschland im Straßenverkehr. Was mich aber viel mehr überraschte war Elisabeth selbst. Bisher kannte ich sie nur als eine Spaß vermeidende Pedantin, die jeden Satz auf politische Korrektheit überprüfte, um keine Möglichkeit von Empörung zu verpassen. Zum ersten Mal erkannte ich in ihr mehr, als eine Aktivistin gegen unpassendes Vergnügen.
„Endlich werde ich den Raúl kennenlernen“, sagte Ewa neckisch und brachte ihre Freundin in leichte Verlegenheit.
„Ja. Du wirst ihn mögen“, antwortete sie.
„Wer zum Teufel ist Raul?“, fragte ich meine Freundin leise.
„Er stammt aus Kolumbien. Sie hat ihn in den letzten Wochen ihres Aufenthalts hier kennengelernt. Er nimmt wohl gerade eine Auszeit als Tanzlehrer und will ein wenig surfen“, flüsterte sie mir ins Ohr.
Die Verlegenheit auf Elisabeths Gesicht lähmte meinen Hang irgendwas unpassendes zu der verkappten Romanze beizusteuern. Mein Gehirn lief nach zwölf Stunden Flug ohnehin nur im Schonwaschgang und würde in Sachen kreativen Necken kläglich versagen. Die Batterie war leer, aber für ein Beklagen kratzte es einen Rest an Energie zusammen.
„Nicht besonders pünktlich, dein Raul“, rutschte es mir genervt heraus. Das brachte die bekannte Elisabeth zurück, aber auch sie hatte Probleme ihre Fassade aus geringschätzender Gleichgültigkeit mir gegenüber aufrecht zu erhalten.
„Sein Name ist Raùùùl. Raùùùl. Nicht Raul“, fauchte sie mich lautstark mit langgezogenen Us an. Sie hatte ihre Contenance verloren und zeigte damit erste Anzeichen von Schwäche. Gut zu wissen, dass auch bei ihr zwölf Stunden Flug nicht spurlos vorbei gingen.
„Er wird jeden Moment auftauchen“, versuchte sich Ewa als neutrale Friedensstifterin.
Eine halbe Stunde später war es dann soweit. Einer der unzähligen weißen Golfs kam mit quietschenden Reifen vor uns zum Stehen. Die Beifahrertür öffnete sich und heraus sprang ein Latino, bei dem ich auch ohne Kenntnis seines Namens als erstes auf Raúl getippt hätte. Das wallende dunkle Haar war durchzogen mit dunkelblonden Strähnen und der tief dunkle Hauttaint ließ auf jede Menge Muskeln unter dem Shirt schließen. Seine Bewegungen glichen einem athletischem Schwimmer, der vor lauter Kraft Mühe hatte geradeaus zu gehen. Theatralisch warf er seine Mähne nach hinten und legte eines dieser Lächeln auf, die Elisabeths Einstellung zu ihm ohne Worte erklären konnten.
Mein Selbstwertgefühl schien mit diesem Auftritt aus einer Protein-Shake Reklame ins Bodenlose zu sinken. Wie gelang es einem Menschen so perfekt auszusehen. Mein müder Geist ließ sich dazu hinreißen einen Vergleich der Oberarmmuskulatur durchzuführen, nur um mir am Ende mein klägliches sportliches Niveau vorzuwerfen. Das war nicht hilfreich in dieser Situation und überforderte das gepeinigte Gesamtsystem Niklas Jakubowski. In einem Anfall von Trotz gaukelte mir mein Verstand ein wenig schmeichelhaftes Bild von unserem Chauffeur vor. Er suggerierte mir, dass die männliche Ausstattung unterdurchschnittlich wäre oder sich gleich ein furchtbarer Sprachfehler entfalten würde. Wunschträume die aus Neid erbaut wurden. Die Wahrheit war: Der Buchhalter strotzte nur so vor öder Fadheit gegenüber dem surfenden Tanzlehrer aus Kolumbien, der mit dem Aussehen eines der Milli-Vanilli Zwillinge gesegnet wurde. Der Neid schlug mit jeder seiner Bewegungen in Abneigung um. In diesem geistigem Nebel aus mangelndem Selbstvertrauen bewertete ich seine Begrüßung gegenüber Ewa als unverholenen Werbeversuch. Bei klarer Sicht wäre es vermutlich ein alltägliches Kennenlernenritual, aber in Kombination mit den Nachwirkungen des langen Fluges setzte sich bei mir die Saat der Eifersucht fest.
„Hola chicas“, begrüßte er zuerst die Mädels und fiel Elisabeth um den Hals. Damit war er vermutlich der einzige Mann auf diesem Planeten, der das ungestraft tun durfte. Ewa streckte ihm zaghaft die Hand entgegen, aber Raúl forderte das Recht einer Umarmung gnadenlos ein. So überrumpelt ergab sie sich ihrem Schicksal und als er sie am Rücken leicht streichelte, brauchte es viel Beherrschung meinerseits, um nicht dazwischen zu gehen.
„Hallo Chuck“, begrüßte er mich in Armdrückerpose. Ich schlug ein und in Erwartung eines gewaltigen Druckes, überraschte er mich mit einem normalen Maß an Kraft. Mein von Minderwertigkeit geprägter Verstand interpretierte das als Rücksichtnahme. Verdammt ich musste unbedingt aus den Niederungen meiner Existenz aufsteigen.
Es war an Elisabeth uns gegenseitig vorzustellen.
„Das ist Raúl.“ Sie betonte das u mit einem Übermaß an Wichtigkeit.
„Hier haben wir meine beste Freundin Ewa.“
„Qué bien, .... Ein wunderschöne Name“, antwortete er in nicht ganz fehlerfreiem Deutsch. In diesem Moment wusste ich nicht was schlimmer war. Diese Unverfrorenheit ihr einfach ein Kompliment zu machen, das peinlich berührte Gesicht von Ewa, dass trotzdem eine gewisse Freude nicht verbergen konnte oder dieser unglaublich sexy klingende Akzent, der selbst mich auf besorgniserregende Weise scharf machte. Nie klangen deutsche Worte verführerischer und dieser Klang ließ sogar Elisabeth wohlwollend über die falsche Grammatik hinwegsehen.
„Achja. Das ist Niiiklas“, stellte sie mich gespielt beiläufig vor und nutzte dabei die Möglichkeit für eine passende Retourkutsche.
„Hola Niiiklas.“
„Eigentlich Niklas“, versuchte ich eine Korrektur, bevor der Schaden langlebig werden würde.
„no importa. OK. Wir mussen fahren.“ Ich interpretierte diese geringe Anzahl an Worten aus drei Sprachen als Aufforderung das Flughafengelände endgültig zu verlassen. Das Gepäck wurde im spärlichen Kofferraum verstaut und Elisabeth bekam das Privileg auf dem Beifahrersitz Platz zu nehmen. Dieser befand sich bei unserem fahrbaren Untersatz im Gegensatz zur Tradition seines Herstellerlandes auf der linken Seite. Das erklärte auch den Ausstieg Raúls auf der vermeintlichen falschen Seite. Offenbar gab es hier einige Regeln, die das komplette Gegenteil von den Gewohnheiten aus der Heimat darstellten. Im Winter herrschte hier Sommer, links wurde zu rechts und laut einer alten Simpsonsfolge floss hier das Wasser sogar in umgekehrter Richtung ab. Für einen übermüdeten Europäer wie mich war das Außerkraftsetzen von Naturgesetzen die erste wirkliche Herausforderung.
Der erste Eindruck der Stadt war durch die umgebenden Slums geprägt. Die Autobahn teilte die Ansammlung von Wellblechhütten in zwei unendlich erscheinende Areale aus Elend. Wie funktionierte so ein Leben von tausenden Menschen in diesem Wildwuchs aus Strommasten und Altmetall? Ich wollte die allwissende Datenbank mit dem Namen Elisabeth anzapfen, aber Raúl hatte ihre hundertprozentige Aufmerksamkeit erobert und selbst die Freude mir meine Unwissenheit aufzuzeigen, hatte keine Chance gegen den Latinlover. In fließendem Spanisch unterhielten sie sich über alte Freunde, die jetzt an ungewöhnlichen Orten auf der ganzen Welt verstreut lebten. Meine rudimentären Sprachkenntnisse und die Müdigkeit erlaubten ein gewisses Maß an Verständnis, aber irgendwann war die Banalität der Gesprächsthemen es nicht mehr wert, meine Energie auf verräterische Details ihres Beziehungsstatus zu verschwenden.
Am Horizont erhob sich der mächtige Tafelberg und sein majestätischer Anblick erweckte Neugierde. Ich hatte meine Vorbereitungen auf die neue Umgebung sträflich vernachlässigt, aber das Massiv entlang der Küste war nur schwer zu ignorieren gewesen. Ich durchforstete im Vorfeld den Wikipedia-Eintrag, um ein Mindestmaß an Kenntnissen vorzuweisen, wenn die Frage über die örtlichen Gegebenheiten unseres Reiseziel zur Sprache kamen. Ein Plateau von etwa 1000m Höhe, dessen gigantischer Ausblick über das Kap einen wahrlich demütig werden ließ. Auf der Liste der Sehenswürdigkeiten belegte der Besuch mit Abstand den ersten Platz, auch wenn Elisabeths Idee den Berg zu Fuß zu erklimmen mit jedem Meter der Annäherung meine Begeisterung schwinden ließ. Offensichtlich waren tausend Höhenmeter eine nicht zu unterschätzende Anstrengung.
Wir umfuhren das Massiv auf der Nordseite und im Stadtteil Green Point verließen wir die Autobahn. Hatten wir bisher eher flache Bauten von zweifelhafter Architektur gesehen, beherrschten hier mehrstöckige Wohnblocks die Kulisse. Raúl versuchte uns im gebrochenen Deutsch die Eigenarten der einzelnen Wohngegenden zu erklären. Offensichtlich lebte hier die Mittelschicht und auch viele Studenten teilten sich Zimmer, für die sie teilweise bis zu 400€ hinlegen mussten. Er selber wohnte als Untermieter im benachbarten Seapoint.
Seine Worte gingen unter, als sich vor uns das unendliche Blau des Meeres auftat. Es war nicht mein erster Kontakt mit der Unendlichkeit von Wasser, aber das Mittelmeer oder die Ostsee waren kein Vergleich mit einem waschechten Ozean. Hinter diesem Horizont war wirkliche Weite. Neue Kontinente warteten am anderen Ende und mit ihnen neue Welten mit neuen Bewohnern. Zum ersten Mal wurde mir bewusst wie viel Unbekanntes es auf diesem Planeten gab, dass es sich zu erkunden lohnte. Mein Endeckergeist erfuhr neue Höhen und die Reue die letzten Jahre in der steril beleuchteten Atmosphäre einer Buchhaltung vergeudet zu haben, war nie größer.
Tag der Veröffentlichung: 20.10.2016
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