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Kapitel 1

 

Sie wusste nicht wie alt sie zu jenem Zeitpunkt war. Acht, neun, vielleicht schon zehn. Das Wissen darüber ging in dem Schrecken der nächsten Jahre verloren. Es war nicht wichtig. Ein kleines verängstigtes Mädchen, das nicht begriff, was da gerade passierte. Sie wollte nicht glauben, dass ihr Vater im Begriff war sie allein zu lassen. Schuld kam in ihr auf. Erst ihre Mutter, die ihre Geburt nicht überlebte und nun ihr Vater, der den Folgen einer heimtückischen Krankheit erliegen würde und dass alles nur, weil sie eine unartige Tochter war. Der verwirrte Geist eines Kindes, welches keine andere Erklärung für das Schicksal hatte, als die eigene bösartige Existenz, welche ihr durch ein allwissendes übernatürliches Wesen nun als Rechnung in Form dieser Krankheit vorgelegt wurden. Weinend und bettelnd gelobte sie Besserung und trotz der Versicherung ihres Vaters, dass Dina keinerlei Schuld an der Tragödie hätte, biss sie sich fest an dem Gedanken, dass alles wieder gut werden würde, solange sie jetzt und in alle Zukunft die vorbildliche Tochter geben würde. Sie verfluchte den Kummer, den sie ihm bereitet hatte und in einem Meer von Selbstgeißelung gab sie sich jeden Abend Gebete hin, die das unausweichliche Sterben verhindern sollten. Für sie hatte das Schicksal nur eine Richtung und das hatte nichts mit Tod zu tun. Den stetig verschlechternden Gesundheitszustand ihres Vaters ignorierte sie in einer Hartnäckigkeit, die ihr die Genesung als einzig mögliche Alternative zur unwiderruflichen Gewissheit werden ließ.

Das Unausweichliche passierte an einem Abend. Ihr Kindermädchen war bereits zu Bett gegangen und ihre üblichen Gebete gaben ihr die Kraft an eine positive Zukunft zu glauben. Als könne sie einen Teil der gerade erfassten Energie auf ihren Vater überleiten, schlich sie sich in sein Schlafzimmer. Ausgezerrt von der Krankheit, war das Bild des starken Mannes, der er einmal war, in die hintersten Winkel ihres Gedächtnisses abgelegt worden. Sie kannte nichts Anderes mehr, als die abgemagerte Gestalt und es tat ihr weh ihn so zu sehen. Selbst jetzt glaubte sie noch, dass es nur ein schmerzhafter und notwendiger Abschnitt dieser furchtbaren Krankheit hin zur vollständigen Genesung war.

Sie spürte seinen schwachen Atem, als sie seine Hand in ihre nahm. Sie war überrascht, wie wenig Mühe sie dafür aufwenden musste. Er schlug seine Augen auf und sofort überfiel sie das Gefühl der Reue, weil sie ihn in der notwendigen Ruhe störte. Mit fast unmenschlicher Anstrengung schenkte er ihr ein Lächeln und strich ihr übers Haar. Ein letztes Mal vernahm sie die Wärme eines geliebten Menschen. Ihren Kopf auf seiner Brust, spürte sie wie das Leben ihn verließ. Weinend, sich der Gewissheit stellend, dass sie nun allein war, verbrachte sie die Nacht neben dem Körper ihres toten Vaters. Sie konnte nicht glauben, dass die Energie, die sie in die Gebete steckte, keine Wirkung hatte. Bei soviel Reue musste ihre Schuld doch mehr als beglichen worden sein. Zum ersten Mal hatte sie das Gefühl der Ungerechtigkeit. Sie war betrogen worden vom Leben.

In diesem Gefühlschaos aus Trauer und Schuld wurde sie am nächsten Morgen von ihrem Kindermädchen gefunden. Sie erhaschte noch einen letzten Blick auf den mittlerweile erkaltenden Leichnam und wurde dann mit der Anweisung auf ihr Zimmer geschickt, sie möge ihre Sachen packen, da sie noch heute in ihr neues Zuhause wechsle. Die Routine, mit der das Ableben ihres Vaters verarbeitet wurde, zeigte wie vorausschauend ihre Umgebung diesen Moment plante. Es gab keine Verwandten, die sich um sie kümmern konnten, nur gesichtslose Behörden, die streng nach Vorschrift ihr weiteres Schicksal in die Hand nahmen. Niemand war bereit sich um sie zu kümmern und so blieb ihr nur das örtliche Waisenhaus, welches bereits ihr Ankommen erwartete.

Das Waisenhaus in der Hauptstadt von Eyak wurde ihr Zuhause für die nächsten Jahre. Mit einem Rucksack voller Trauer, Verwirrung und Einsamkeit war es ihr anfangs unmöglich die neuen Gegebenheiten mit der notwendigen Aufmerksamkeit zu bedenken. Ein Außenseiterdasein war praktisch mit dem ersten Tag vorprogrammiert und die teilweise schon pubertierenden Mädchen ließen sie das jeden Tag spüren. Hatte man ihr zu Beginn noch die Gelegenheit gegeben den Verlust ihres Vaters in vereinzelten Therapierunden zu bewältigen, stellte man diese Versuche schnell ein, da Dina unwillig schien die Trauer in geeignete Worte zu verfassen. Es war nicht ihre Art mit Fremden über solch private Erlebnisse zu reden. Sie wollte alleine klar kommen mit dem Verlust und die hochnäsigen Betreuer waren alles andere als geeignet, um das Andenken ihres Vaters mit ihnen zu teilen. In gegenseitigem Einvernehmen verzichteten sie auf die gemeinsame Verarbeitung und so handelte sich Dina das Ansehen eines bockigen unwilligen Mädchens ein, welches zwingender Ruhigstellung durch Medikamente bedarf. Ein Leben als Spielball zwischen dem Frustabbau der anderen Waisen und den Launen der Betreuer.

Diese Einsamkeit inmitten der andern Mädchen im Waisenhaus nahm ihr lange die Orientierung. Es gab niemanden, mit dem sie ihren Kummer teilen mochte. Keine Freunde, die ihr Halt gaben, keine Betreuer, die ihr zuhörten. Sie lebte in ihrem eigenen Mikrokosmos und versuchte die Umgebung aus ihrer kleinen Welt heraus zu halten. Etwas, was ihr erstaunlich gut gelang, denn ein kleines rotblondes Mädchen, was ruhig vor sich hinlebte und immer brav die Anweisungen befolgte um sich jeglicher Aufmerksamkeit zu entziehen, passte in das Bild des idealen Waisenhauskindes und gab damit ihren Betreuern wenig Anlass sich um sie zu kümmern. Ein Nichtangriffspakt von beiden Seiten. Mach uns keinen Ärger und wir lassen dich in Ruhe.

So wuchs sie heran in ihrem Schneckenhaus. Mürrisch, trotzig und vollkommen fremd unter ihresgleichen. Nichts, was irgendjemanden Sorgen machen würde, gab es doch die stille Vereinbarung ruhig nebeneinander her zu leben. Erst mit dem Übergreifen des Trotzes auf die üblichen und notwendigen Verpflichtungen, die so ein Waisenhaus nun mal mit sich brachte, verstieß sie gegen die unausgesprochene Regel der friedlichen Koexistenz. Harmlose Routine, wie Geschirr abwaschen oder Stube aufräumen, wurden anfangs mürrisch kommentiert und später dann nur noch unzureichend durchgeführt. Die Lethargie, welche unmittelbare Folge der Trauer war, schlug nach und nach um in Rebellion, was ihr irgendwann die Mitgliedschaft in der Gruppe problematischer Heranwachsender einbrachte. Eine Therapiergruppe, die mangels finanzieller Ressourcen nur einmal monatlich für eine Stunde stattfand und mehr einer Belehrung mit erhobenem Zeigefinger glich, als wirklich konstruktiver Aufarbeitung der Probleme Heranwachsender. So hatte die Entwicklung ihrer rebellischen Persönlichkeit freie Bahn und die Betreuer waren immer öfter gezwungen sie ruhig zu stellen. In einer Umgebung, in der die Pubertät chemisch bekämpft wurde, entwickelte sie sich zu einem ansehnlichen Mädchen mit mürrischem Gemüt und einer rebellischen Seele. Gerade dieses gute Aussehen sollte ihr im Laufe ihres Lebens zum Verhängnis werden und den Lauf der Dinge nicht immer zu ihrem Vorteil bestimmen.

Eyak war ursprünglich ein Fels in den Weiten der Galaxie. Was ihn unterschied von den Milliarden anderen Felsen war seine Lage und sein übernatürlich reiches Vorkommen an Rohstoffen. Damit geriet er ins Blickfeld der Vorfahren. Die Durchschnittstemperatur von etwa 20 Grad und die minimale Abweichung von der Standardschwerkraft machten Eyak zum idealen Objekt für Terraforming. Meere, Kontinente und Vegetation entstanden innerhalb weniger Jahre und verwandelten den einst trostlosen Felsen in eine blühende Landschaft. Die ersten Siedler versuchten Getreide anzubauen, aber bestimmte Mineralien im Boden ließen die Ernte ungenießbar werden. Eine ungeplante Störung in der Entwicklung dieser neuen Welt und da auch Tiere elendig verhungerten, stand ein Scheitern der Besiedlung unmittelbar bevor. Gentechnisch verändertes Getreide sollte die Fehlinvestition verhindern, aber die notwendigen Experten auf Lassik sahen nicht ein, warum sie potentiellen Kunden diesen Vorteil überlassen sollte. Am Ende war es Eyaks natürliches Erbe, was den Fortgang der Geschichte doch noch positiv gestalteten sollte. Die reichhaltigen Rohstoffe verbreiteten eine Goldgräberstimmung und mit dem einsetzenden Profit konnte das Nahrungsmittelproblem gelöst werden. Der Bevölkerungszuwachs nahm Schwindel erregende Ausmaße an und die regelmäßigen Lieferungen Getreide von Lassik verwandelten den Planeten schnell in eine florierende Welt. Eine Abhängigkeit, die aus den Gewinnen der Rohstoffförderung bezahlt wurde. Hauptabnehmer dieser Bodenschätze war Yuma, ein industrielles Zentrum, was fast 90% der Rohstoffe ankaufte. Noch eine Abhängigkeit, die Eyak Jahre später an den Rand des Ruins treiben sollte, denn mit der Entwicklung des Alucores änderte sich die Nachfrage nach Rohstoffen grundlegend.

Alucore war ein Werkstoff auf Basis von Aluminium, welches sich durch ein geringes Gewicht auszeichnete. Ein Vorteil für die Werkstofftechnik, denn in Kombination mit dem harten und faktisch schmelzsicheren Trusium gab es ungeahnte Anwendungsmöglichkeiten. Trusium war nicht nur äußerst selten, sondern auch äußerst unwillig in der chemischen Reaktion mit anderen Elementen. In jahrelanger Forschung konnte ein Prozess entwickelt werden, mit dem es möglich wurde eine Legierung namens Alucore herzustellen. Ein Quantensprung in der Werkstofftechnik, der übliche Werkstoffe ersetzte und damit Eyak fast den Todesstoß versetzte, denn weder Aluminium noch Trusium waren in nennenswerter Menge auf dem Planeten vorhanden. So zog die Karawane der Glücksritter weiter, auf eine Welt namens Makah, wo Getreide, Trusium und Aluminium reichlich vorhanden waren und die Vorfahren einen weiteren Felsen in eine blühende Landschaft verwandelt hatten.              

Die goldenen Zeiten waren vorbei und Eyak beschränkte sich auf die Förderung weniger gefragter Rohstoffe. Über Jahre hinweg schrumpften die einst so stolzen und zahlreichen Minen auf ein Minimum zusammen. Trotz Verknappung des Angebotes verfielen die Preise und mit der Abnahme des Fördervolumens erhöhten sich die Transportkosten erheblich. Es wurde fast unmöglich profitabel zu fördern und so entschieden sich die Behörden der untergehenden Welt mit einem gewaltigen finanziellen Kraftakt in die Produktion von Konsumgütern direkt auf Eyak zu investieren. Obwohl damit eine direkte Konkurrenz zu Yuma entstand, immer noch ein wichtiger Abnehmer der Erze, war dieser Schritt notwendig geworden für das Überleben des Planeten.

Zwei Dinge begünstigten den gewagten Einstieg in das Produktionszeitalter von Eyak. Erstens war Alucore mittlerweile selbst Opfer der Entwicklung in der Werkstofftechnik geworden, was zur Folge hatte, dass plötzlich wieder mehr Rohstoffe von Eyak nachgefragt wurden, was wiederum größeren finanziellen Spielraum ermöglichte und zweitens befand sich die Menschheit in einer Phase rasanten Bevölkerungswachstums, so dass die Nachfrage von Konsumgütern mit dem Angebot nicht mithalten konnte. Fabriken schossen wie Pilze aus dem Boden und Eyak sah einer rosigen Zukunft entgegen. Die Kombination von Rohstoffen direkt vor der Haustür und Fabriken auf höchstem technischem Niveau sollte den Wohlstand zur Normalität werden lassen. Die große Katastrophe setzte dem Ganzen ein Ende.

Wie alle anderen Welten auch, konnte sich Eyak der Entvölkerung nicht entziehen. Aus Millionen wurden Tausende und die gingen auf Grund der Nahrungsmittelabhängigkeit fremder Welten irgendwann aufeinander los. Die modernen Fabriken stellten zwar nichts mehr her, waren aber trotzdem heiß umkämpft, da die Technik in ihrem Inneren ein Garant auf Nahrungsmittel war. Der Bürgerkrieg tobte über Jahrzehnte und bald waren nicht nur Lebensmittel gefragt, sondern auch Waffen. So schwächte die einheimische Bevölkerung sich gegenseitig und hatte damit dem verheerenden Angriff einer auswärtigen Macht nichts entgegen zu setzen. In einem grausamen Genozid wurden die Menschen von Eyak praktisch hingerichtet und so ziemlich jedes Quantum an Technik geplündert. Die wenigen Überlebenden wurden versklavt und mussten über Jahre an der Ausblutung ihrer Welt mitarbeiten, um dann dem unausweichlichen Tod entgegen zu sehen oder im besten Fall ihr Sklavendasein auf anderen Welten weiter zu führen. Eyak entwickelte sich von einer modernen industriellen Welt voller Wohlstand, zu einem abgebrannten Selbstbedienungsladen für die gerade tonangebende Macht in der Galaxis und wurde damit zu einem weiteren Beispiel für den Verfall der Zivilisation der Vorfahren. Wenigstens blieben dem Planeten Schicksale aller Lassik oder Yuma erspart, denen man die Lebensgrundlage auf Jahrtausende entzog.   

Nach dem Abzug der Invasoren galt Eyak als frei von Technik und Bevölkerung. Beides sollte sich im Nachhinein als falsch herausstellen. Es gab tatsächlich Einwohner, die sich den Säuberungen der Eindringlinge entziehen konnten. Zu groß war der Planet, als dass man jedes Gebirge oder jede Mine nach ihnen absuchen konnte. Die Besatzer verließen sich in solchen Fällen auf die fehlenden Nahrungsmittel, unterschätzte aber die Anpassungsfähigkeit der Vertriebenen. Die ungenießbaren Früchte reduzierten die Anzahl der in die Berge geflüchteten Einwohner weiterhin, aber es gab eine nicht unbedeutende Menge, die nach tagelangem Kampf eine Resistenz aufbauten und dadurch mit Hilfe der einheimischen Flora dem Hungertod entkam. Denjenigen, die dem Vergiftungsritual trotzten, gehörte nach dem Abzug der Invasoren der Planet. Die technischen Werkzeuge, die sie den Aggressoren vorenthalten konnten, dienten zum Wiederaufbau. Unbemerkt von der Galaxie erholte sich die Bevölkerung, aber das entbehrungsreiche Leben hielt das Wachstum in Grenzen. Nie mehr als ein paar Tausend lebten im Zentrum der ehemaligen Hauptstadt, immer abhängig von der Herausforderung, vor die sie der Planet stellte. In der Annahme die letzten Menschen zu sein, wurden sie eines Tages mit der neuen Macht konfrontiert.

Mit der Machtergreifung durch den Liberator, kam Eyak wieder in den Fokus der neu gegründeten Gemeinschaft. Nach über siebenhundert Jahren betrat ein auswärtiges Pionier-Corps den verlassen geglaubten Planeten. Eine genaue Dokumentation der ersten Begegnung ist nicht überliefert, aber in der Aussicht dem harten Dasein durch Fortschritt in Form von automatischen Personentransportern und Computern zu entkommen, wurden die Fremden willkommen geheißen. So begann erneut die technische Aufrüstung von Eyak, alles zum Zwecke der Förderung der Rohstoffe. Vereinzelte Minen wurden wieder in Betrieb genommen und mit dem Abbau der Erze und der Aussicht auf sichere Arbeit begann der Zuzug von Externen und damit die Durchmischung der einheimischen Bevölkerung, die drohte aus Mangel an genetischer Vielfalt zu degenerieren. Ein langsamer stetiger Zuwachs der Bevölkerung, deren Grundlage der Abbau von Erz war. Das änderte sich auch nicht nach den Zeiten des Liberators, zu unabhängig war Eyak bereits geworden. Als Dina geboren wurde betrug die stolze Einwohnerzahl zwei Millionen. Eine trügerisch sichere Welt, unter der es brodelte.

Was außerhalb des Waisenhauses passierte, drang selten durch die Gemäuer. Zu sehr waren die Betreuer darauf bedacht ihren selbst geschaffenen Kosmos rein zu halten. Die einfache Formel war: Draußen ist es gefährlich, hier drinnen herrscht Sicherheit. Natürlich war Dina neugierig auf die Welt vor der Tür und die wenigen Informationen, die sie besaß, stillten diese Neugierde nicht mal annähernd. Mit den zunehmenden Verwerfungen zwischen ihr und den Betreuern stieg das Verlangen, die Außenwelt als geeignete Alternative zu dem mehr und mehr einem Gefängnis gleichendem Waisenhaus in Erwägung zu ziehen. Es wäre nicht schwer der vermeintlichen Sicherheit zu entkommen, aber noch zögerte sie, hatte Angst sich dem Unbekannten dort draußen zu stellen, bis zu jenem Ereignis, was ihr die nötige Entschlossenheit geben sollte.

Am Anfang maß sie der ganzen Sache keine große Bedeutung bei. Mädchen verschwanden für eine Stunde und tauchten apathisch wieder auf. Nichts, was ihre eigene kleine Welt beeinflussen würde. Aber die Befürchtung selbst Teil dieses ominösen Rituals zu werden, ließ sie dann doch immer unruhiger werden. Durch Dinas Abgeschiedenheit gegenüber ihren Mitinsassen, vernahm sie nur aus Gesprächsfetzen, was mit den Mädchen passierte. Zwei Worte konnte sie nicht zuordnen, aber sie tauchten fast in jedem der Gespräche auf. „weißes Wasser“. Die Angst, die jedes Mal in den Worten mitschwang, ließ nichts Gutes erwarten. Welche Medikamente auch immer an den Opfern getestet wurden, die Nachwirkungen waren für alle verheerend.

Als ihr Name fiel, war die Furcht dementsprechend groß. Sie befand sich im Klassenraum und die Schulstunde hatte gerade erst begonnen. Nachdem sie erwählt wurde, fühlte sie die Blicke sämtlicher Mädchen auf sich. In der hintersten Ecke vernahm sie ein Tuscheln, was ihre Beunruhigung weiter steigerte. Langsam schlürfte sie nach vorn. Sie wurde angewiesen sich im Betreuerzimmer zu melden. Bleischwer schleppte sie sich über den leeren und halbdunklen Flur. Ihr Ziel lag am Ende des Ganges und eine Gestalt in der Tür verfolgte jeden ihrer Schritte, immer bereit einzugreifen, sollte sie die Richtung ändern. Wo konnte sie auch hin? Ihr Universum der letzten Jahre beschränkte sich auf die wenigen Räume des Waisenhauses.

Außer Brenda, der Betreuerin, war niemand zu sehen. Beunruhigend, denn normalerweise tauchten sie immer zu zweit auf. Dinas Angst stieg. Sie mochte Brenda nicht. Ein gemeines Luder, was heimtückisch die Mädchen schikanierte. An sich nichts Ungewöhnliches unter den Betreuern, aber Brenda hatte diese Verschlagenheit im Gesicht. Dieser Ausdruck der sagt: Wartet nur, ich habe für euch noch ganz andere Dinge vorbereitet.

Schweren Schrittes kam sie Dina entgegen. Die kräftige Gestalt wirkte einschüchternd. Das faltige Gesicht ließ sie alt wirken, jedenfalls in der Welt einer Sechzehnjährigen. Das schulterlange, schwarze Haar wippte bei jedem Schritt vor und verlieh ihr eine unheimliche Entschlossenheit. Sie drängte Dina ab und schob sie in den Gang, der in den medizinischen Bereich führte. Vor einem der Behandlungszimmer blieben sie stehen. Also doch Experimente, ging es ihr durch den Kopf, als Brenda mühsam den Schlüssel vor kramte. Eine gefühlte Ewigkeit verging, bis sie endlich in den Raum geschoben wurde.

Eine einzige Liege stand mittig im Raum. Kalkweiße Wände versprühten den sterilen Charme eines Behandlungszimmers. Sie war schon einmal hier gewesen. Der Tag, an dem ihre Blutung einsetzte und sie verängstigt das erste Mal einen der Betreuer benötigte, war zwar lange her, aber die Erinnerung war frisch, als wäre es gestern gewesen. Damals wurde sie untersucht und aufgeklärt, dass sie jetzt monatlich mit diesem Blutsturz rechnen musste und sich sofort melden sollte, würde dieser ausbleiben. Aber heute war kein Arzt hier und auch keine Instrumente.

„Ausziehen.“ Brenda grinste sie gemein an, als wäre das alles nur ein perfides Vorspiel für neue Gemeinheiten. Ängstlich entkleidete sich Dina. Auf den Rücken liegend wurde ihre Jungfräulichkeit überprüft und für gut befunden. Es klopfte an der Tür.

„Immer zu früh. Das scheint in euren Genen zu liegen.“ begrüßte Brenda einen hageren Mann, der sich scheu umsah. Seine Halbglatze verriet sein fortgeschrittenes Alter und sein Schnurrbart ließ ihn bieder wirken. Sein steifes Auftreten passte nicht zu der Art der Angestellten im Waisenhaus. Da Dina ihn vorher nie gesehen hatte, musste er zwangsläufig aus der unbekannten Welt außerhalb stammen.

Neben der Angst stieg die Scham in ihr hoch. Nackt vor einer wildfremden Person zu stehen, war das Peinlichste, was ihr in ihrem jungen Leben bisher passierte. Mit dem einen Arm bedeckte sie ihre Brüste, den anderen hielt sie sich in den Schritt.

„Sie ist schüchtern.“ kommentierte Brenda die komische Pose.

„Wie viel?“ fragte der Unbekannte erregt.

„Sie sind nicht das erste Mal hier. Sie kennen den Preis. Diesmal muss ich noch 50% draufschlagen, da sie noch Jungfrau ist.“ antwortete Brenda genervt.

„Gut.“ brachte er gerade noch heraus und kramte ein paar grüne Jetons aus seiner Tasche.

„Danke. Eins noch. Wäre gut, wenn du ihn rausziehst bevor du, …na du weißt schon. Eine Schwangerschaft wäre für alle Beteiligten unangenehm. Nun lass ich euch Turteltäubchen mal allein.“ Brenda verließ den Raum.      

Die Angst, die Dina durchfloss, übertraf alles bisher Erlebte. Sie wollte mit diesem Mann nicht allein in diesem Raum sein und auch das lieblos Hingeworfene „keine Angst“ konnte die aufkommende Panik nicht unterdrücken. Was immer er mit ihr vorhatte, es würde sie verändern. Die Galerie von den Gesichtern der apathischen Mädchen würde um ein Bild erweitert werden. Sollte sie schreien? Sie konnte es nicht, selbst wenn sie wollte. Langsam öffnete er ihre Arme. Die Blöße war nun wieder komplett. Er berührte ihre Brüste und die kalte knochige Hand fühlte sich an wie ein Schraubstock. Keinerlei Gefühl für so was Zerbrechliches wie ihre Brust. Er fuhr mit seiner Hand über den Bauch hin zu ihrem Schritt. Reflexartig ging sie einen Schritt zurück. Sein Missfallen darüber war unüberhörbar.

„Zier dich doch nicht so.“ Er öffnete seine Hose und das frei gelegte ekelte sie an. Da war es also, das Teil, was einen Mann ausmachte. Unglaublich abstoßend. Es passte zu dem Eindruck, den dieser Widerling hinterließ.

Von da an war es, als verließe sie ihren Körper. Ein genetisch verankerter Schutzmechanismus, der Seele von Fleisch trennte. Ihr Geist floh in einen eigens erschaffenen Raum und nun war es an ihr diesen zu gestalten. Als er sie auf die Liege bugsierte, kreierte sie gerade die Wände ihrer Zuflucht. Einfach gehalten bekam der Raum eine quadratische Form. Mit Gewalt spreizte er ihre Beine, aber das bekam sie nicht mit, da sie beschäftigt war die passende Farbe zu erwählen. Zitronengelb schien ihr als geeignet und als er in sie eindrang, überlegte sie sich einen passenden Kontrast dazu. Grün. Ihre Lieblingsfarbe. Die Ausstattung der Inneneinrichtung erforderte ihre volle Aufmerksamkeit, so konnte sie die Stöße in ihrem Unterleib ignorieren. Keine Spiegel war das Einzige, wo hundertprozentige Klarheit herrschte, ansonsten konnte die karge Einrichtung des Waisenhauses ihre Fantasie nicht beflügeln. Aber das war auch nicht notwendig. Hauptsache sie war in diesem Raum. Hauptsache sie war in Sicherheit.

Die Lösung um das Geheimnis der Worte „weißes Wasser“ war unspektakulär. Kein in Flüssigkeit aufgelöstes Medikament, was man ihr zu schlucken gab. Das Ende ihres Martyriums endete ähnlich eklig, wie die vorhergehenden Abschnitte und komplettierte endgültig den Gesamteindruck, den dieser Kerl hinterließ. Was immer er da auch in der Nähe ihres Bauchnabels abgeladen hatte, sie wollte es beseitigen. Sie griff nach einer ihrer Socken und wischte das „weiße Wasser“ von ihr ab. Erst jetzt bemerkte sie das Blut und das Verlangen nach einer Dusche wurde übermächtig. Der Dreck der letzten halben Stunde würde vermutlich nie wieder abgehen, aber sie würde alles dransetzen, um ihr bestmögliches zu versuchen.

Diese Abart männlicher Machtdarstellung gab ihr die nötige Konsequenz ihren Fluchtplan in die Tat umzusetzen. Sie wollte nur noch raus. Am selben Abend verließ sie das Waisenhaus. Was immer sie da draußen erwartete, es konnte nicht viel schlimmer werden, als in den Wänden dieses Gemäuers. Ein letzter Abstecher über die Küche, um nicht sofort dem Hungertod zu erliegen, dann passierte sie die Außentür, deren Schloss defekt war und die durch die Diensthabenden Betreuer nicht in letzter Konsequenz bewacht wurde. Es war dunkel und der Triumph über die gelungene Flucht wurde förmlich erstickt in der miefigen Realität von Eyak. Ein Fluss von sauerer Milch musste in unmittelbarer Umgebung fließen, anders war dieser Gestank nicht zu erklären. Sie hatte keine Ahnung wohin sie sollte und wie sie dastand, total verängstigt, ohne Orientierung, ohne Plan, was nun passieren würde, war sie drauf und dran ihre Flucht zu bereuen. Noch war es nicht zu spät, sie konnte zurück und niemand würde ihren Ausflug bemerken. Mutig schritt sie einen Schritt voran und das Gefühl ihre Angst überwunden zu haben und damit ihren Weg in eine selbstständig bestimmte Zukunft einzuschlagen, verlieh ihr eine ungeahnte Kraft. Fest entschlossen einen neuen Abschnitt ihres Lebens zu beginnen, folgte sie dem Straßenverlauf, ohne zu wissen, was sie an der nächsten Ecke erwartete.

Das Licht am Ende der Gasse zog sie magisch an. Mit der Naivität einer Heranwachsenden betrachtete sie die Dunkelheit als Bedrohung und die Lampen der Stadt als Zuflucht. Die vermeintliche Sicherheit sollte sich als trügerisch erweisen und ihre Erwartungen an die unbekannte Stadt auf den Kopf stellen. Eine neue Welt lag vor ihr und voller Zuversicht und mit ordentlichem Respekt, war sie bereit sich dem neuen Leben zu stellen.

Die vielen blinkenden Lichter überforderten sie anfangs. Es war unglaublich, wie viel Leben in den Straßen tobte. Sie schaute zurück in die Gasse und konnte nicht glauben, dass keine dreißig Meter entfernt eine beschauliche Welt aus Schulklassen und langweiligen Verpflichtungen aller Stube aufräumen existierte. Plötzlich war sie sich sicher die richtige Entscheidung getroffen zu haben und sie verfluchte sich, nicht eher diesen Schritt gegangen zu sein. All die Geschichten der lauernden Verführungen, die durch die Mauern des Waisenhauses drangen, wollte sie testen. Alkohol, Party und Drogen. Jedes einzelne Argument der Betreuer die böse Welt außerhalb ihres Kokons zu meiden, bedurfte einer ausführlichen Untersuchung.

Die Grenzen dieses Experimentes wurden ihr schneller aufgezeigt, als ihr lieb war. Ohne einen einzigen Jeton in der Tasche drohte ihr der Hungertod. Von Party oder Alkohol war sie weiter entfernt als je zuvor, denn erstmal ging nur darum satt zu werden. Zum Glück strotzte die Stadt nur so von Geld. Die umliegenden Minen ermöglichten der Bevölkerung ein ordentliches Einkommen und da die Arbeit hart war, wurde der Verdienst meist sofort in Glücksspiel, Alkohol und Frauen umgesetzt. Wer sein Geld nicht unmittelbar von einer der Minengesellschaften bekam, lebte gut von der Vergnügungssucht der Minenarbeiter.

Für ein gut aussehendes Mädchen, das lesen und schreiben konnte, fand sich schnell eine geeignete Arbeit. Ihre erste Tätigkeit als ungelernte Bedienung in einem der zahlreichen Casinos sicherte ihr zwar Essen, Unterkunft und die notwendige Akklimatisierung an die rauen Verhältnisse von Eyak, aber diese Selbstverständlichkeit, die sie aus dem Waisenhaus kannte, bedurfte dringend einer Steigerung, denn zwölf Stunden Arbeit standen null Stunden Spaß gegenüber, was ihre Pläne von einem ausschweifenden Leben in weite Ferne rücken ließ.

Wirkte Dina am Anfang wie die Unschuld vom Lande, passte sie sich schnell an die örtlichen Gegebenheiten ihrer Arbeitsstelle an. Die permanenten frauenfeindlichen Sprüche der überwiegend männlichen Kunden waren dabei noch das geringste Problem. Ihre waisenhausgeprägte Naivität machten sie zu einem leichten Ziel für Möchtegern-Machos, unsittlichen Berührungen und unmoralischen Angeboten. Es dauerte eine Weile, eh sie die nötige Härte gegenüber aufdringlicher Kundschaft erlernt hatte und damit die Saat für die sarkastisch und verbittert wirkende zukünftige Dina legte. Und noch etwas bekam Nahrung in den Mauern des Casinos. Für sie waren Männer primitive, und widerliche Geschöpfe, die es nicht wert waren, dass Frauen sich ihnen freiwillig hingaben. Das ewige Streben nach Macht, Geld und Sex stellte sie auf eine Stufe mit Tieren, die einzig und allein lebten, um ihren angeborenen Trieben zu folgen. Nicht ein Exemplar widersprach der vorherrschenden Meinung, die sie sich bisher gebildet hatte und ihren Ursprung in dem Widerling aus dem Waisenhaus hatte, der sich an ihr vergangen hatte. Frauen dagegen hielt sie für geistig weiterentwickelt und die körperliche Überlegenheit ihrer männlichen Artgenossen sah sie als einziges primitives Instrument an, um diese Überlegenheit in Form von Machterhalt zu wahren. Alles in ihr widerstrebte diesem gottgegebenen Zustand und sich einem Mann hinzugeben käme einer Kapitulation gleich. So bündelte sie ihre sexuellen Interessen in Richtung ihres eigenen Geschlechtes.

Es war eine der Show-Tänzerinnen, der sie verstärkte Aufmerksamkeit zukommen ließ. Schüchterne Blicke am Anfang folgte eine zaghafte Erwiderung ihres Blickkontaktes. Bedienungen standen im Ansehen weit unter dem von Tänzerinnen, aber Dinas Schönheit und die ständige Zunahme ihres Selbstvertrauens, verwischten die gesellschaftlichen Schranken des Casinos. Eine gewisse Vorsicht war geboten. Homosexualität galt auf Eyak als Makel und so bestand eine gewisse Gefahr durch ungeschriebene Gesetze in eigenmächtige Bestrafungsaktionen der verhassten Männer zu geraten.

Sie schafften es auf den Status einer geheimen Beziehung, allerdings hielt dieser Zustand nur begrenzt. Moya stellte sich als Irrlicht in der Dunkelheit ihres männerhassenden Verstandes heraus. Für Dina war der Körper ihrer Partnerin verbotenes Gelände für jegliche Annäherung von Y-Chromosomen. Daher verstand sie nicht die freiwillige Hingabe an jenen Teil der Menschheit, der ihrer Meinung nach jeglichen Anspruch auf Leben verwirkt hatte. Es gab nie Liebe zwischen den Beiden, dazu war Dina nicht fähig, aber eine gewisse Seelenverwandtschaft war die verbindende Kraft, die meist in körperlicher Hingabe gipfelte. Umso enttäuschter war sie über den Verrat durch sexuelle Verbrüderung mit dem Feind und trotz aller Beteuerungen seitens Moya, dies alles diene nur der Aufbesserung des schmalen Gehalts, beendete sie die Beziehung.

Von da an beschränkte sie private Kontakte. Es war einerseits schwierig gleich gesinnte Frauen zu finden und anderseits war es aus Gewohnheit einfacher alleine klar zu kommen. Sie war wieder die Einzelkämpferin aus dem Waisenhaus und das obwohl diese Phase ihres Lebens bereits mehr als zwei Jahre zurücklag. Zeit, die sie mit einer frustrierenden Arbeit in einer von Männern beherrschten Welt zubrachte. Im Grunde war das Casino ihr Universum, denn obwohl sie die Freiheit besaß nach einem anstrengenden Tag voller Arbeit die Welt außerhalb zu erkunden, nahm sie die Gelegenheit äußerst selten wahr. Zum einen war es gefährlich für Frauen in der Nacht von Eyak, zum anderen besaß sie keinerlei nennenswertes Vermögen, um es bei den zahlreichen vorhandenen Vergnügungsangeboten zu verjubeln. Es gab auch keine Party-Gelüste mehr, denn die raue Realität hatte sie längst eingeholt. Nach und nach setzte sich die Erkenntnis durch, dass das Leben ein Überlebenskampf werden würde.

Sie begriff schnell das System auf Eyak. Der große finanzielle Kuchen, den die Minenarbeiter in die Hauptstadt brachten, wurde größtenteils in wenig legalen, dafür aber in den zahlreich vorhandenen illegalen Vergnügungen durchgebracht. Drogen, Prostitution, Glücksspiel, Schutzgeld. Alles stand unter separater Verwaltung, so dass es einzelne „Geschäftszweige“ in der organisierten Kriminalität gab. Den einzelnen Clans war nicht daran gelegen in blutigen Revierkämpfen die alleinige Vorherrschaft auf Eyak zu erlangen. Zu geschäftsschädigend hatte sich dieser Fehler in der Vergangenheit erwiesen, so dass man eine wacklige Vereinbarung über die Nichteinmischung in die jeweils andere Branche erreichte. Das alles wurde geduldet durch die örtlichen Behörden, die mit üppigen Bestechungsgeldern ihr klägliches Gehalt aufbesserten. In Sachen Korruption stand Eyak der restlichen Galaxis in nichts nach. Es war ein Teil des Alltagslebens geworden und niemand machte sich groß die Mühe die offensichtlichen Gesetzesverstöße zu ahnden.

Es war nur eine Frage der Zeit, wann Dina in die Mühlen dieser Kartelle geraten würde. Frauen waren Handelsware und damit ausschließlich Verhandlungssache. Das Casino war ein Glücksfall für sie gewesen, aber mit der Zunahme ihrer Attraktivität geriet sie in das Visier anderer „Geschäftszweige“. Lenny, der Geschäftsführer des Casinos war leicht beeinflussbar, aber sie war schlau genug zu wissen, dass sie ihn nicht ewig manipulieren konnte. Es gab größere Fische im Teich von Eyak als Lenny und sollte eines Tages der Preis stimmen, drohte ihr das gleiche Schicksal, wie vielen Frauen vor ihr. Sie wollte keine dieser Zombies werden, die Nächte lang die wildesten Perversionen der Männer befriedigte und sich anschließend dem Methrausch hingaben, um den Mist, den sie jede Nacht erfahren, zu ertragen. Als sie noch grübelte wie ein alternatives Schicksal aussehen könnte, kamen sie ihr zuvor.

Der Tag an dem sich alles ändern sollte war regnerisch. Keinerlei Abkühlung folgte dem Schauer, zu fest genagelt war die Temperatur von 20 Grad. Wenn man sich auf eins verlassen konnte auf Eyak, war es die Wärme, die selten größere Abweichungen aufwies. Lenny kam schlecht gelaunt auf sie zu und betraute sie mit einem Sonderauftrag. Eine fade Ausrede dafür, dass er sie gerade verkauft hatte. Obwohl sie nie sein Eigentum war, bekam er Geld für sein Stillschweigen. Unter einem fadenscheinigen Vorwand sollte sie zwei Männer begleiten, die weder in Aussehen noch im Auftreten vertrauenswürdig wirkten. Dina konnte die Gesichter nicht zuordnen, aber ihre prollige Art und das egomanische Getue, ließen die Herkunft im Rotlicht-Milieu vermuten. Damit hatten sie Dina kalt erwischt, die glaubte sich durch die letzte Charmeoffensive mehr Zeit für ein Alternativszenario erschmeichelt zu haben.

Ihr größter Albtraum schien Realität zu werden, aber das angeeignete Selbstbewusstsein und der einhergehende Mut sollte ihr dieses Schicksal am Ende ersparen. Scheinbar bereitwillig folgte sie den Beiden und mimte die Naive, die immer noch glaubte einen Auftrag von Lenny auszuführen. Die grell beleuchteten und überfüllten Straßen boten genau die Gelegenheit zur Flucht, die sie brauchte. Sie wusste zwar nicht wohin, aber alles schien vorerst besser, als den beiden Zuhältern zu folgen.

Die täglichen Zwölf-Stunden Schichten im Casino gaben ihr die notwendige Fitness, um ihren Fluchtplan in die Tat umzusetzen. Ein unschlagbarer Vorteil gegenüber ihren satten und trägen Begleitern, die durch den schnellen Antritt vollkommen überrumpelt wurden. Die Masse an Menschen gab ihr die Deckung, die sie brauchte und so geriet das eigentlich komplizierte Unterfangen zu einer leichten Übung. Trotzdem gab sie sich keiner Illusion hin, denn der schwierige Teil würde noch vor ihr liegen.  

Sie hatte keine Bleibe mehr und kein Einkommen, um sich notwendige Dinge wie Essen leisten zu können. Dazu kam die Flucht vor den Zuhältern, die kein Vergleich zum Ausbruch aus dem Waisenhaus darstellte, welches eher froh war einen Mund weniger durchfüttern zu müssen. Hier war Geld geflossen und Dina war sozusagen eine Investition, die ihnen einfach davongelaufen war.

Die nächsten Tage glichen einem Drahtseilakt. Einerseits musste sie Geld für Nahrung erbetteln, was fast ausschließlich bei weiblichen Spendern ging, da von Männern immer eine gewisse Gegenleistung erwartet wurde, anderseits durfte sie nicht auffallen, um nicht an die Zuhälter verraten zu werden. Das zwang sie zu einem Wechsel ihres Äußeren, denn gerade die rotblonden Haare waren ein unverwechselbares Erkennungsmerkmal. Eine brünette Kurzhaarfrisur schien eine gute Tarnung, da sie das vorherrschende Erscheinungsbild auf Eyak war. Dazu noch ein paar Piercings und schon war sie ein Bestandteil des kollektiven Aussehens der Einwohner, die täglich die Straßen der Hauptstadt bevölkerten. Sie musste dafür ein paar mühsam erbettelte Jetons entbehren, aber lieber hungerte sie ein paar Tage, als dass sie ihre Zukunft in einem Bordell verbrachte. Das Fehlen jeglicher Hygiene machte die Täuschung perfekt und so begann ihr Leben auf der Straße.

Der Abstieg machte ihr nur kurz zu schaffen. Wieder dauerte es nicht lange, bis sie sich an die neuen Gegebenheiten angepasst hatte. Die harten Sitten in der Schattenwelt von Eyak verstärkten ihr mürrisches, männerhassendes Gemüt. War ihr neues Äußeres am Anfang nur Mittel zum Zweck, brachte es ihr die Anonymität gegenüber dem männlichen Geschlecht ein, die sie sich erhofft hatte. Keine begehrenswerte junge Frau mehr. Sie war jetzt eine von Vielen und praktisch unsichtbar in der Masse, was sich allerdings nachteilig auf ihr Tagesgeschäft auswirkte. Das erbetteln von Jetons glich einer täglichen Demütigung, so dass sie sich irgendwann anderen Möglichkeiten der Beschaffung zuwandte. Sie zeigte ein gewisses Talent für das Diebeshandwerk und so waren es nicht ihre Opfer, meist angetrunkene spielsüchtige Minenarbeiter, die ihr in ihrem neuen Gewerbe Probleme machten, sondern die zahlreich vorhandene Konkurrenz. Sie wird nie den Tag vergessen, als sie durch das Wildern in fremden Revieren ihre erste ordentliche Tracht Prügel erhielt. Drei Kerle, die ihren Frust an ihr ausließen und nur ihrem mittlerweile elendigen Aussehen hatte sie es zu verdanken, dass sie sich nicht an ihr vergingen. Dieses Ereignis brachte sie zum ersten Mal mit der Person in Berührung, die ihr weiteres Leben entscheiden beeinflussen sollte.

Es kostete eine Menge Überwindung den Ort aufzusuchen, den sie für den Inbegriff von Schwäche hielt und alles was schwach war, wurde von ihr normalerweise mit Ignoranz und Vergessen bestraft. In dem Moment, nach dem ihr die schmerzhafteste Lektion ihres Lebens eingeprügelt wurde, hielt ihr das Unterbewusstsein genau jenen Ort der Schwäche wieder vor. Ob nun aus Demuth oder Notwendigkeit, jedenfalls schleppte sie sich stark verletzt in die Mission, von der sie wusste, dass sie niemanden Hilfsbedürftigen abwies. Blutend stand sie in der Tür und als ihr Starrsinn fast die Oberhand gewann und sie schon im Begriff war wieder umzukehren, um die Sache auf ihre gewohnte eigenbrötlerische Weise auszusitzen, verweigerte ihr geschundener Körper ihr die Unterstützung. Sie brach zusammen und zum ersten Mal seit langer Zeit bekam sie uneigennützige Hilfe.

Als sie wieder zu sich kam, fühlte sie sich wie in einem Traum. Allein die Tatsache in einem weichen Bett zu liegen, schien ihr unwirklich. Nach einem halben Jahr auf der Straße, hatte sie vergessen, wie sich alltägliche Sachen anfühlten. Eine Selbstverständlichkeit war für sie zum reinen Luxus verkommen und obwohl die rebellische, niemals Hilfe akzeptierende Dina in ihr alles dafür tat diese Annehmlichkeiten zu verteufeln, da sie der Gnade von diesen Schwächlingen aus der Mission ausgeliefert war, genoss der unterdrückte rational denkende Teil ihrer Persönlichkeit, der für Hilfe von außen weit zugänglicher war, den Komfort, den ihr das Schicksal zugestanden hatte.

Als er das erste Mal vor ihr stand, konnte sie die Erscheinung nicht so Recht zuordnen. Das Bild des typischen Mannes von Eyak variierte nur zwischen großem und sehr großem Ego. Die Abwertung, mit der Frauen normalerweise betrachtet wurden, konnte sie nicht mal ansatzweise erkennen. Verwirrt über die Abweichung von der Norm, war sie gezwungen eine weitere Kategorie ihres Feindbildes zu erstellen. Schon das gepflegte und angenehme Äußere bedurfte einer Neueinschätzung. Dieses unbekannte Wesen vor ihr hatte kurzes lockiges Haar, dessen braun schon vereinzelt mit grauen Strähnen durchsetzt war, was ihn aber überhaupt nicht alt wirken ließ. Die Gesichtszüge waren weich und freundlich, etwas, was sie das letzte Mal in verschütteten Erinnerungen an ihren Vater gesehen hatte. Seine Bewegungen waren ruhig, durchdacht und verliehen ihm eine gewisse Weisheit. Die Ausstrahlung, die sich daraus ergab, ließ ihr aufgebautes Bollwerk gegen Männer ordentlich wanken.

„Wie geht es dir?“ fragte er mit einer Stimme, die den Eindruck einem Außerirdischen gegenüber zu stehen weiter verstärkte. Keinen abwertenden Unterton nur aufrichtige Sorge. Unfähig auf solch ungewohnte Worte einzugehen, blieb sie die Antwort schuldig.

„Du bist hier in Sicherheit. Niemand tut dir etwas. Du kannst bleiben, bis du wieder gesund bist.“ Soviel Fürsorge drohte sie förmlich zu erdrücken. Das Verlangen aufzustehen und in die gewohnte Umgebung der Straße zurückzukehren, wurde durch Schmerzen in der Leistengegend zu Nichte gemacht.

„Wie du siehst, ist es noch ein weiter Weg zur Genesung. Ruh dich einfach aus und genieß die Annehmlichkeiten unseres Etablissements. Ach ja. Mein Name ist Ned.“ Die Angst schwächlich zu wirken, ließ Dina in die Offensive gehen.

„Ich muss hier raus.“ erwiderte sie trotzig. Wieder Schmerzen, als sie versuchte aufzustehen.

„Was zum Teufel habt ihr mit mir gemacht?“ sie fasste sich an die Leiste.

„Wir haben dir was eingepflanzt, damit du Schmerzen hast sobald du versuchen solltest weg zu laufen.“ Für einen Moment erschrak Dina, erst das aufrechte Lächeln auf seinem Gesicht verriet ihr, das er scherzte.

„Nein nur Spaß. Die Schmerzen, die du spürst kommen von einer Rippenverletzung. Die Milzruptur ist zwar schmerzhaft, muss aber nicht operativ behandelt werden. Jedenfalls glauben wir das. Allerdings sollte jede unnötige Bewegung vermieden werden.“ So hilflos hatte sich Dina noch nie gefühlt. Sie wollte hier einfach nur raus. Unwillkürlich ging ihre Hand an den linken Oberbauch. Ein Fehler, der sofort mit erneuten Schmerzen quittiert wurde.

„Keine Angst. Ich weiß es ist schwer jemanden zu vertrauen, aber du kannst dir sicher sein, dass dir hier nichts passiert.“ Die warmen Worte beruhigten sie etwas, aber das Misstrauen, dass sie diesem Ort entgegenbrachte, war weiterhin vorhanden. Sie schaute auf ihren Arm und das Weiß ihrer Haut überraschte sie. Wann war sie das letzte Mal so sauber? Fragend schaute sie Ned an.

„Schwestern.“ zerstreute er ihre Zweifel. Als Bestätigung, dass es wirklich sowas wie weibliches Pflegepersonal gab, betrat eine resolut wirkende Frau in weißem Kittel den Raum. Sie jonglierte ein Tablett mit Essen vor sich her und ließ es auf einem Tisch neben Dina nieder. Bei dem Anblick von Nahrung knurrte dieser der Magen vor Vorfreude. Der Hunger war stärker als der Stolz. Gierig verschlang sie das Brot und ein halbes Dutzend unbekannter Früchte. Der bittere Geschmack deutete auf etwas hin, was hier auf Eyak gedieh und die Tatsache, dass ihr Magen nicht rebellierte, hatte sie ihren Vorfahren zu verdanken, die damals gezwungen waren ihr Verdauungssystem an die örtlichen Umgebungen anzupassen.

„Ein wahres Kind von Eyak.“ kommentierte Ned die Kunst die Früchte zu verdauen.

„Dina.“ gab sie endlich ihren Namen preis.

„Schön dich kennenzulernen.“ lächelte er sie an. Damit hatte die rebellische, misstrauische Dina ihre erste Niederlage gegenüber der vernünftigen Seite ihrer Persönlichkeit einstecken müssen.

Die sah ihre Chance gekommen um in den nächsten Tagen weiter Boden gut zu machen. Wieder war es notwendig sich anzupassen und diesmal sollte es in eine Richtung passieren, die nicht unmittelbar einen sozialen Abstieg zur Folge hatte. Einzige Notwendigkeit war es, ihre Isolation ein Stück aufzugeben. Ein Vorhaben, zu dem sie mehr und mehr bereit war. Es schien unglaublich, wie einfach ihr das gelang. Keine zwei Wochen war es her, dass sie Männern generell nicht mehr Aufmerksamkeit schenkte, als einem Stein am Straßenrand. Nun führte sie ganze Gespräche mit Ned, der es ihr leicht machte sich zu öffnen.

Ihre Wunden heilten und das Misstrauen und die Abneigung gegen die vermeintliche Schwäche dieses Ortes schwanden zunehmend. Nach ein paar Tagen konnte sie das Bett verlassen und da sie nicht gleich zur Tür raus rannte, musste Ned auch nicht viel Überzeugungsarbeit leisten, um eventuelle Nachwirkungen ihrer Verletzung weiter unter Beobachtung zu halten.

Die Mission bestand im Wesentlichen aus einem großen Saal, einer kleinen Küche und einer Krankenstation, welche für kleinere Blessuren aller Art ausgelegt war. Zweimal die Woche kamen verschiedene Ärzte vorbei, um die Befindlichkeiten der Obdachlosen zu behandeln. Die Tatsache, dass sie dafür keinerlei Gegenleistung verlangten, irritierte Dina anfangs, denn sowas wie uneigennützige Hingabe hatte sie bisher nicht kennengelernt. Ehrenamtlich war das neue Element, was ihren Wortschatz erweiterte und obwohl das bedeute, dass praktisch jeder ohne Bezahlung arbeitete, waren Gelder für Essen und Medikamente rar gesät. Es gab zwar öffentliche Mittel, aber die Kosten waren um ein vielfaches höher. So war Ned und sein Personal auf private Spenden angewiesen, etwas was Dina überhaupt nicht begriff, denn bisher waren ihr nur Leute auf Eyak begegnet, die selbst ihren letzten Jeton in Glücksspiel, Drogen oder Frauen investierten.  

Um nicht endgültig der Langeweile zu erliegen, spannte sie Ned für die täglich anfallenden Dinge ein. Anfangs tat sie sich schwer mit der täglichen Routine, zu sehr hatte das Leben auf der Straße sie geprägt. Mit der Zeit gewöhnte sie sich an ihre Arbeit als Küchenhilfe oder Putzkraft und als sie an der Essensausgabe das Leid der Bedürftigen direkt minderte, wurde ihr der tiefere Sinn des Wortes ehrenamtlich bewusst. Ein Lebenszweck, der ihrem eigensinnigen Lebensstil konträr war, aber immerhin verstand sie jetzt die Motive von Ned und den Anderen. Sie fanden ihre Erfüllung in der uneigennützigen Hilfe Bedürftiger und zum ersten Mal sah Dina nicht zwangsläufig ein Zeichen von Schwäche, für die ihrer Meinung nach verschwendete Zeit. Sie respektierte Ned und das war mehr, als sie je einem Mann zugestanden hatte.   

Einer ehrenvollen Tätigkeit nachzugehen und sein täglich Brot nicht durch Diebstahl oder betteln zu ergaunern, gab Dina ein lang vermisstes Gefühl zurück. Selbstachtung. Etwas, was sie nicht vermisst hatte, aber jetzt, wo es wieder da war, konnte sie nicht glauben, wie sie die letzten Wochen das Fehlen so ohne weiteres ignorieren konnte. Die Umgebung tat ihr gut und die freundliche Atmosphäre, die zweifelsohne ihren Ursprung in dem Personal hatte, versetzte sie in gute Laune. Ihr letztes Lachen lag soweit zurück, dass ihr das ungewohnte Gefühl anfangs peinlich war, aber Sayas Lachen war so ansteckend, dass sie ihre Zurückhaltung schnell aufgab. Gemeinsam in schallendes Gelächter zu verfallen, war ein emotionaler Höhepunkt ihres bisherigen traurigen Lebens und so schloss sie die Krankenschwester von dem Moment an in ihr Herz. Ein Platz, der bisher unbesetzt blieb.

Saya war eine herzensgute Seele. Ihre resolute, aber stets freundliche Art faszinierte Dina. Mit ihren knapp fünfzig Jahren versprühte sie einen Charme, dem sich nur Wenige entziehen konnten. Immer die passende Antwort parat, erlebte man sie kaum sprachlos und der Humor, den sie in ihre stets schlagfertigen Bemerkungen legte, traf genau Dinas Geschmack. In ihrer Gegenwart musste sie unweigerlich lächeln und so wurden die lange vernachlässigten Muskelgruppen zeitweise ordentlich überanstrengt. Gemeinsam hatten sie eine schöne Zeit und das Gefühl von Unterdrückung, dass normalerweise Dina überkam sobald sie irgendwelche Anweisungen ausführen musste, änderte sich in Vorfreude auf die Zusammenarbeit mit Saya.

Wenn sie Saya nicht bei Wäsche, putzen oder kochen half, unterstützte sie Ned bei Besorgungen, Reparaturen oder was sonst noch so anfiel. Es herrschte eine gewisse Verklemmtheit von ihrer Seite aus, was ihrer angeborenen Abneigung gegen Männer zuzuschreiben war. Ned hingegen wirkte souverän im Umgang mit ihr und die Tatsache, dass er ihr den gleichen Respekt entgegenbrachte wie Saya oder den Anderen, steigerte ihre Unsicherheit. Männer waren normalerweise berechenbar und Dina wusste was sie tun oder zu lassen hatte. Ihre Regeln fanden bei Ned keine Anwendungen und so musste sie ihre Vorgehensweise im Umgang mit dem anderen Geschlecht erstmals anpassen.

Unweigerlich rückte der Tag näher, an dem sie für gesund erklärt wurde. Die Wehmut, die sie erfasste als Ned ihr erklärte sie wäre vollkommen geheilt und sie könne die Mission verlassen, überraschte sie dann doch. Es gab nun keinen Grund mehr morgens mit Saya das Frühstück vorzubereiten oder nachmittags Ned bei den Einkäufen zu assistieren. Die gespielte Gleichgültigkeit über das Ende in der Mission war nicht sehr geschickt, so dass das Angebot einmal wöchentlich zu helfen dankbar angenommen wurde. Die letzten drei Wochen hatten ihr ein bis dahin ungewohntes Gefühl vermittelt. Gemeinschaft. Zum ersten Mal in ihrem Leben sah sie in ihrer selbstgewählten Isolation keinen Schutz, sondern ein Hindernis diesem glücklichen Zustand nahe zu kommen. Sie hatte gekostet von der Droge Kameradschaft und das hatte zur Folge, dass sie bereit war andere Menschen nicht mehr nur als notwendiges Übel ihres Einzelkämpferdaseins zu sehen.

Dina war wieder auf der Straße und die Normalität aus Gewalt und Verbrechen verdeutlichte ihr den desaströsen Zustand, in dem sie sich befand. Bisher war jede einzelne Veränderung ihres Lebens mit einem sozialen Abstieg verbunden und die Bestreitung ihres kargen Unterhaltes stellte sich mit jedem Schritt als schwieriger heraus. Die Zeit in der Mission hatte ihr den Spiegel vorgehalten, dass der Weg den sie beschritt, zwangsläufig in einer Sackgasse endete. Sie musste unbedingt runter vom Pfad des Verderbens und so war Ergaunern und Betteln keine Option mehr. Die Alternativen waren spärlich und nicht frei von Risiko, aber die Zeit im Casino und das harte Leben auf der Straße hatten ihr den nötigen Biss verschafft. Sie war bereit für größere Herausforderungen, als der bloßen Nahrungsbeschaffung und in einem Umfeld, wie dem von Eyak, ging das nur auf der gesellschaftlichen Schattenseite. Ironischer Weise fand die Illegalität sie, bevor sie ihre Anstrengungen für eine Suche intensivieren musste, so dass eines Tages das vermeintliche Glück ihr in den Schoß fiel.

Cooper sprach sie einfach an, als sie aus der Schwebebahn stieg, um im belebten Zentrum auf Nahrungssuche zu gehen. Ein Kleinganove, der vermutlich einen viel langweiligeren Namen besaß. Ein kleines Licht im Schatten der Kartelle, welches Krümel vom riesigen finanziellen Kuchen auf Eyak aufklaubte, welche für Andere nicht der Mühe wert waren. Ein Einkommen, was ihm seine Drogensucht finanzierte und ihm einen halbwegs gefährlichen Ruf einbrachte. Dieser kleine Mann, abgemagert und mit eingefallenen Gesichtszügen, kam auf Dina zu und nur der Anzug, der verriet, dass er Geld besaß und sein Essen nicht in der Gosse besorgen musste, ließ sie die Ignoranz, mit der sie normalerweise solche Gestalten bedachte, vergessen.   

„Hallo meine Kleine. Du machst den Eindruck, als bräuchtest du Hilfe.“ Wieder wurde ihr Hilfe angeboten, aber der unweigerliche Vergleich mit Neds Worten vor ein paar Wochen ließ wirkliche Anteilnahme vermissen. Ihr erbärmliches Aussehen hatte sich bereits wieder der Umgebung angepasst. Nach zwei Tagen auf der Straße hatte sie wieder den typischen Geruch der Gosse angenommen. Ihre blonden Haare wucherten mittlerweile an den Wurzeln und in Kombination mit den immer noch sichtbaren Blessuren ihrer Prügelei, wirkte sie dämonisch.

„Mir geht’s gut.“ war das Einzige, was sie ihm als Antwort zugestand und das auch nur aus Höflichkeit auf Grund des Hilfsangebotes. Eine Nachwirkung ihres Aufenthaltes in der Mission, denn gewöhnlich würdigte sie Junkies keines Blickes. Die Sache schien für sie damit erledigt, aber da hatte sie die Hartnäckigkeit ihres gegenüber unterschätzt.

„Du hast sicherlich Hunger. Ich lade dich ein und wir unterhalten uns ein wenig.“ Noch überwog Dinas Skepsis gegenüber ihrem Hungergefühl. Trotzdem war sie nicht bereit, ihn einfach stehen zu lassen.

„Keine Angst. Das wird kein bizarres Sex-Ding. Ich bin Geschäftsmann. Du isst. Ich rede. Hast du Lust bei mir einzusteigen. Schön. Wenn nicht, kannst du gehen und das mit vollem Magen.“ Nun siegte doch der Hunger und da er beabsichtigte in eines der zahlreichen überfüllten Schnellrestaurants zu gehen, verlor sie ihre Vorsicht und folgte ihm.

Natürlich kannte sie Orte wie das „Kowert“. Zu tausenden gab es Restaurants mit schnellem und billigem Essen. Hungrige Minenarbeiter stillten hier ihren Hunger nach einer anstrengenden Schicht und da sie jeden Jeton für die Vergnügungen von Eyak benötigten, war die sättigende, kalorienreiche Anmischung von Nahrung ein beliebtes und preiswertes Mittel zur schnellen Hungerbekämpfung. Als sie noch Kellnerin im Casino war, bestand ein Teil ihres Lohns in regelmäßigen Mahlzeiten, so dass sie nie gezwungen war solche Lokalitäten zu besuchen. Trotzdem investierte sie einmal aus Neugierde einen Jeton in ein Sparmenü, welches als unbedingtes Schnäppchen angepriesen wurde. Sie schaffte zwei Bissen und die Reue, dass sie mit dem Geld was weitaus Besseres hätte anstellen können, plagte sie geschlagene zwei Wochen. Das „Kowert“ hatte ein zusätzliches Angebot, welches auf Leute mit noch vorhandenen Geschmackssinnen ausgelegt war und genau dazu wurde sie von Cooper eingeladen.

„Probiere es. Du wirst es lieben. Ich esse das jeden Tag.“ Dina hatte noch nie in ihrem Leben Fleisch gegessen und nun hatte sie etwas vor sich liegen, was eingebettet in zwei Brothälften als Burger bezeichnet wurde. Etwas zu essen, was ein Bewusstsein hatte, ließ sie zögern.

„Wo kommt das her? Es gibt doch keinerlei Tiere auf Eyak.“ fragte sie skeptisch.

„Wen interessierts von welchem Planeten das kommt. Das Zeug ist scheiße teuer, also lass es nicht kalt werden.“ Cooper war leicht gereizt, da Dina das wertvolle Essen nicht wirklich zu schätzen wusste. Er wollte sie beeindrucken und sie grübelte, ob sie Fleisch wirklich essen sollte. Vorsichtig nahm sie den Burger zwischen die Finger und als sie den Saft auf ihrer Zunge schmeckte, entschied ihr Unterbewusstsein im Bruchteil einer Sekunde, dass Fleisch etwas Widerliches darstellte und nur im äußersten Notfall zum Verzehr geeignet war.

„Gut oder?“ erwartete Cooper eine mehr als dankbare Antwort.

„Also. Was ist dein Angebot?“ lenkte sie vom Thema ab.

„Stell dir vor, du könntest das jeden Tag haben.“ Er zeigte auf den Burger immer noch in der Annahme, ihr damit eine kulinarische Leckerei vorgesetzt zu haben. Er wirkte richtig begeistert, als er fortfuhr.

„Oder anderen Luxus. Drogen, Glücksspiel, Party. Einfach das Leben genießen.“ fütterte er sie weiter an und traf genau den Nerv bei ihr, der derzeit offen lag.

„Das Einzige, was du tun musst, ist ab und an ein Päckchen zu liefern oder abzuholen.“ sagte er mystisch.

„Und warum ich und nicht der Paketservice?“ spielte sie die Naive. Sie wusste ganz genau, dass ihre Tätigkeit darin bestehen sollte als Drogenkurier zu arbeiten.

„Scheiße man. Was soll die blöde Fragerei? Kann dir doch scheißegal sein warum. Ich kann jede beliebige Schlampe von der Straße nehmen, aber ich hab dich ausgesucht. Du wirkst clever und das ist genau das, was man braucht für den Job.“ Seine Begeisterung schlug urplötzlich in Jähzorn um, eine Wandlungsfähigkeit, die sie noch öfter überraschen sollte.

„Also. Was ist?“ fragte er ungeduldig. Dina wusste nicht, ob es Abenteuerlust oder die Aussicht auf schnelles Geld war, jedenfalls zögerte sie nicht mit ihrer Zusage. Sie mochte diesen großmäuligen, selbstgefälligen Typ nicht, aber auf Eyak waren bis auf Ned alle Männer vom Schlage Coopers und daher ergriff sie die Möglichkeit. Selbstzufrieden bestellte dieser ein Bier und besiegelte damit ihre verhängnisvolle Beziehung, die für beide kein gutes Ende nehmen sollte. Speziell für Dina war die Entscheidung richtungsweisend für ihr ganzes Leben und das Übel ihrer Zukunft wartete bereits keine zweihundert Meter weit entfernt.

Coopers Stimmungsschwankungen erfolgten mit einer Frequenz die atemberaubend war. Gerade noch jähzornig legte er den Schalter sofort wieder auf euphorisch um. Während sie auf das Bier warteten, zog er sich auf der Toilette einer dieser neumodischen Drogen rein. Dass es mehr als gewöhnliches Meth gab, war die erste Lektion, die Dina in ihrer neuen Position lernen musste. „purple rain“ war der Burger der Drogenküche und ähnlich wie sein fleischliches Vorbild, war es extrem teuer gegenüber allen anderen Varianten. Die Schwierigkeit war neben der Herstellung, die passenden Zutaten zu bekommen. Wenigstens für Ersteres hatte Cooper einen Spezialisten, der auf Grund seiner Begabung naturgemäß Begehrlichkeiten beim ortsansässigen Drogenkartell weckte. Die Vereinbarung zu der sie Cooper zwangen, ermöglichte ihm eigene Geschäfte mit „purple rain“, solange er regelmäßige Anteile aus seiner Küche für Vorzugspreise an das Kartell ablieferte. Dass alles erzählte er Dina, während er sein Bier leerte und mit einer Mischung aus Meth und Alkohol, führte er sie zu seiner Wohnung. Ein verwahrlostes Dreckloch abseits der grellen Lichter der Stadt. In einer jener Seitengassen, die dunkel und bedrohlich wirkten und die Dina während ihrer aktiven Zeit auf der Straße mied, denn zu viele Gerüchte über Personen, die in solchen Gassen verschwanden, machten die Runde.

Mit ordentlich Angst im Bauch betrat sie das Gebäude. Der Hausflur wirkte verwildert. Niemand machte sich die Mühe den Boden oder die Wände auf ein erträgliches hygienisches Niveau zu bringen. Ein paar vereinzelte Flurlampen warfen ein gespenstisches Licht in den Gang und all der Dreck und Müll wurde in ein unterschiedliches Spektrum zwischen hell und dunkel getaucht. Ihre verselbstständigte Fantasie zeigte verschiedene Szenarien der kommenden Dinge auf. Von freundlichem Empfang bis zum Tod durch einen Kochlöffel schwingenden Meth-Junkie war alles dabei. Cooper führte sie in die dritte Etage, in der es vier Wohnungen gab und nur die stabile Eingangstür verriet, dass jemand besonderes dahinter wohnte. Jemand, der auf seine Privatsphäre Wert legte.

Zu ihrer Überraschung war niemand in der Wohnung. Cooper hatte so viel auf dem Weg vom Restaurant von seinem Koch erzählt, dass Dina automatisch davon ausging sie würden ihn hier treffen. Der Zustand der Inneneinrichtung konnte ohne weiteres den Vergleich zum Hausflur standhalten. Auch hier lagen die Prioritäten eindeutig nicht im Erhalten von Sauberkeit. Die Toilette schrie förmlich nach einer Infektionskrankheit und in der Küche wäre schon das Zubereiten von Kaffee gesundheitsgefährdend. Diese Wohnung verstrahlte einen Trübsinn, dass sich Dina regelrecht nach dem Trubel der Straße zurücksehnte.

Die erste Nacht verbrachte sie auf einer ausgelegenen Matratze. Das fahle Licht verhinderte eine genaue Inspektion des Zustandes, aber als sie am Morgen sah, worauf sie genächtigt hatte, beschloss sie nie wieder in die Nähe dieses stinkenden Etwas zu gehen. Selbst eine gründliche Reinigung gab ihr nicht das Gefühl sauber zu sein. Sie hörte Cooper in der Küche hantieren und hoffte, dass er an diesem Ort nicht sowas wie Frühstück zubereiten würde. Als sie ihn sah, war ihr klar, dass er an diesem Morgen sein erster Kunde war. Der verdreckte Löffel lag auf dem Küchentisch und ein sichtlich entspannter Cooper mit glasigen Augen begrüßte sie überschwänglich. Eine halbe Stunde saß er einfach nur da und gab sinnlose Bemerkungen von sich und in dem Moment, als Dina glaubte, er würde endgültig den Verstand verlieren, stand er auf und sprach mit einer klaren Stimme, die sie so von ihm nicht erwartet hätte.

„Zuerst gehen wir frühstücken, dann machen wir dich schick und dann stell ich dich den Jungs vor.“ Bevor Dina etwas erwidern konnte, verschwand er schon in der Eingangstür. Endlich froh dieses Drecksnest verlassen zu können, folgte sie ihm bereitwillig.

Zum Glück gab es nicht wieder Fleisch zum Frühstück. Ein paar Rühreier, etwas Toast und ein Kaloriengetränk gaben ihr die nötige Kraft für den Tag. Cooper dagegen knapperte nur an einer Scheibe Brot. Er bezog seine Energie aus den Wundern der Chemieküche. In all der Zeit ihrer Geschäftsbeziehung, sah sie ihn nie mehr als ein paar Bissen Brot essen und mehr als einmal fragte sie sich, wie er mit der konsequenten Verweigerung von Nahrungsaufnahme so robust den Tag überstehen konnte. „Purple rain“ wirkte sich vermutlich negativ auf den Appetit aus, so dass sowas lästiges wie Mahlzeiten, zur reinen sozialen Angelegenheit verkamen.

Nach dem Frühstück wurde sie rund erneuert. Zuerst bekam sie einen neuen Haarschnitt und eine neue Haarfarbe. Dunkelblond stand ihr nicht wirklich, aber es passte zu der Aufgabe, die Cooper für sie vorgesehen hatte. Mit vollkommen neuer Haarpracht betrat sie eines der besseren Geschäfte und wurde mit dezenter aber stilgerechter Kleidung versorgt. Drei paar Schuhe und ein Ring komplettierten ihr neues Äußeres und die Weigerung Schmuck zu tragen, brachte Dina wieder einen dieser Stimmungsumschwünge von Cooper ein. Sie durfte nicht wirken wie eine billige Kellnerin. Es war wichtig, dass sie als Mädchen der Mittelschicht angesehen wurde, denn genau da lag ihre Kundschaft.

Bis dahin war der Tag leicht. Friseurbesuch und Einkaufsbummel gaukelten ihr Normalität vor. Das, was aber vor ihr lag, war alles andere als heile Welt. Sie verschwanden wieder in einer dieser Seitengassen und obwohl es Nachmittag war, drang kaum Sonnenlicht in die Schlucht aus verfallenen Hochhäusern. Vor einer unscheinbaren Tür legte Cooper ein genetisch gesichertes Schloss frei. Eingelassen ins Mauerwerk wusste er genau, welchen Stein er zu entfernen hatte. Nachdem er seine Hand auf die Konsole legte, öffnete sich mit einem Klick die Tür. In großer Erwartung betrat Dina das Haus und war überrascht über die Sauberkeit, die sie darin vorfand.

„Eine unserer Produktionsstätte. Hier kochen wir „Crystal“. Das Reinste auf dem ganzen scheiß Planeten.“ verkündete Cooper stolz. Sie standen vor einer Glaswand und im dahinterliegenden Labor sah sie einen schmalen hageren Mann im Schutzanzug mit Reagenzgläsern und Kolben hantieren. Dina war überrascht, dass Cooper ihr so offenherzig das Labor zeigte, immerhin kannten sie sich keine vierundzwanzig Stunden. Offenbar wollte er einfach nur angeben ihr gegenüber. 

„Seit wann machen wir denn Touristenführungen?“ tönte eine Stimme aus dem Hintergrund. Die offenstehende Tür in ihrem Rücken hatte sie beim Betreten gar nicht gemerkt. Jetzt stand da ein Mann von hagerer Gestalt und brutaler Ausstrahlung. Sein Gesicht zierten ein paar Narben. Seine ungewaschenen Haare und sein schlechtes Gebiss verliehen ihm eine Aura des Bösen. Den ersten Eindruck, den er bei Dina hinterließ, war vergleichbar mit Abscheu und Widerwertigkeit. Waren Männer für sie eine Horde von primitiven, verabscheuungswürdigen Kreaturen, stand sie gerade ihrem Anführer gegenüber. Dieser Mann war der Inbegriff ihrer männerhassenden Einstellung. Ein Grund mehr dankbar zu sein, dass sie eine Frau war.

„Red. Die Neue.“ stellte Cooper die beiden gegenseitig vor. Wie sich herausstellen sollte, war Reds Aufgabe in der Organisation die Durchführung von Drecksarbeiten. Er trieb Schulden ein, hielt Cooper ungewollte Kundschaft vom Leibe und war Verbindungsmann zum Drogenkartell. Eine Berufung, die er mit gewisser Hingabe erfüllte und so mancher Klient von ihm fand sich auf der Intensivstation oder in einem Grab wieder.

„Hoffen wir, dass sie länger durchhält, als die Nutte vor ihr.“ gab er noch zurück, bevor er die beiden stehen ließ. Damit endete die erste aber kurze Begegnung zwischen Dina und ihrem weiteren Schicksal. Damals war ihr nicht bewusst, dass Red ein entscheidender Teil ihres weiteren Lebens werden sollte.    

 

 

 

 

Kapitel 2

Ein neues Kapitel ihres Lebens lag vor Dina und wie sich herausstellen sollte, war es von ungeahnter Qualität. Ihr Alltag bestand zwar aus langen Nächten, dafür reichte ihr Verdienst erstmals für privaten Konsum. Nicht das es auf Eyak viel zu kaufen gab, aber allein das Wissen nicht jeden Tag hungern zu müssen, hob ihre Lebensqualität enorm an. Seit der Flucht aus dem Waisenhaus war ihr Magen in ständigem Aufruhr, immer nach Nahrung verlangend, die sie ihm nicht ausreichend geben konnte. War satt sein anfangs ein Luxus, gewöhnte sie sich schnell daran und nahm es als Selbstverständlichkeit hin. Im festen Glauben daran nie wieder hungern zu müssen, gab sie sich den Annehmlichkeiten ihres neuen Daseins hin. Das Leben war das erste Mal gut zu ihr.

Etwa zehn Botengänge musste sie am Tag machen. Der Vorgang lief immer gleich ab, nur die Lokalitäten wechselten und führten sie an die exotischsten Orte. Angefangen von normalen Hotels, über Casinos und Bordellen, bis hin zu Sado-Masoclubs war alles dabei. Hatte sie am Anfang vor Letzteres die meiste Angst, stellte sich schnell heraus, dass in Hotelzimmern die eigentliche Gefahr lauerte. Die Abarten, die sie gelegentlich zu sehen bekam, überstiegen die Vorstellungskraft einer Anfang zwanzigjährigen gewaltig. Das gelieferte Meth diente als Stimmungsverstärker für Orgien mit einer eins zu zehn Frauen-Männer-Verteilung oder steigerte den Höhepunkt von Perversen, die sich von bezahlten Dominas erniedrigen ließen. Immer wenn sie glaubte es könne nicht schlimmer werden, wurde sie eines Besseren belehrt. War es zu Beginn nur leichtes Missfallen über die Unannehmlichkeiten ihrer Tätigkeit, steigerte sich die Ablehnung über ihren Broterwerb mit der Zeit. Mit dem Geld konnte sie ihre Zweifel abtöten, aber der Selbstbetrug ging nicht lange gut. Schon nach drei Wochen fing sie an „Crystal“ zu nehmen und die Euphorie und das Selbstbewusstsein, welche sie jedes Mal durchfluteten, ließ sie die Ereignisse des Tages schnell vergessen. Irgendwann brauchte sie es und es dauerte nicht lange, bis es den Status einer regelmäßigen Mahlzeit einnahm.

Gemeinsam mit Cooper lebten sie in seiner Wohnung. Dina schaffte es einen halbwegs vernünftigen und sauberen Zustand herzustellen. Eine der ersten Anschaffungen war eine neue Matratze mit entsprechender Bettwäsche. Das Einzige, was er ihr zugestand, denn vorgeschlagene Veränderungen, selbst wenn sie zu seinen Gunsten wären, wurden mit Wutausbrüchen förmlich niedergebrüllt. Frauen hatten ihm zu gehorchen und nicht umgekehrt und so wurde es zu seinem Ritual, bei jedem Betreten der Wohnung die Unveränderlichkeit der Innenausstattung zu kontrollieren. Er fühlte sich wohl im Dreck und die regelmäßige Dosis „purple rain“ ließ ihn den Saustall wie das Paradies vorkommen.

Praktisch lebten sie wie ein Ehepaar, nur das der Streitanteil weitaus höher lag, als in jeder hoffnungslosen Ehe. Ein typisches Nebeneinander ohne viele Worte. Es bestand kein Interesse an sexuellen Gefälligkeiten und Dina vermutete eine leichte homosexuelle Neigung ihres Mitbewohners, denn mehr als einmal musste sie sich Kommentare über die androgynen Körper anhören, die täglich auf den Straßen von Eyak zu sehen waren. Eine perfekte Ergänzung zu ihren eigenen Vorlieben.

Ein typischer Tag begann mit dem Aufstehen am späten Vormittag, gefolgt von einem Minimum an hygienischer Körperreinigung, denn die Vorfreude auf die erste Dosis Rauschmittel und der Zustand des Badezimmers verhinderten eine ausführliche Morgentoilette. Dina nahm das herkömmliche „Crystal“ und jeglicher Versuch an die purpurne Luxusvariante ranzukommen, wurde ihr von Cooper verweigert. Zu verdanken hatte Dina dieses Verbot ihrer Vorgängerin, die von dem Stoff extrem abhängig wurde und irgendwann ihre eigentliche Arbeit so sehr vernachlässigte, dass sie durch notwendige Nebenverdienste im Rotlichtmilieu praktisch unbrauchbar geworden war. Red kümmerte sich um das Problem, indem er sie einfach an einen schmierigen Zuhälter verkaufte.

Frühstück gab es fast immer in jenem „Kowert“, in dem sie ihren vermeintlich leckeren Burger aß. Mit der Zunahme ihres Drogenkonsums nahm ihr Appetit ab. Immer am selben Tisch saßen sie in einer Umgebung von hungrigen Arbeitern und die Menge an Brot, die sie gemeinsam vertilgten, war den Aufwand nicht wert, den sie für das Frühstücksritual jeden Morgen aufs Neue betrieben. Während Cooper ohne ersichtliches Ende auf sie einredete, saß Dina meist nur schweigend da und versuchte die abklingende Wirkung ihres „Crystals“ so weit wie möglich rauszuzögern. Als gebe es ein für sie nicht hörbares Signal, sprang Cooper irgendwann auf und gemeinsam begaben sie sich zu der Gasse, in der sich das Labor zur Herstellung ihres neuen Grundnahrungsmittels befand. Angeberisch schwärmte Cooper von weiteren Labors innerhalb der Hauptstadt, da aber die Anzahl in jeder seiner Geschichten variierte und Dina immer nur in die gleiche schäbige Gasse geführt wurde, hielt sie es für eine Wahnvorstellung, die durch übermäßigen Konsum der lila Droge zur Selbstverständlichkeit wurde.

Angekommen im Labor wurde sie mit ihren Tagesaufgaben vertraut gemacht. An einem schäbigen Tisch wurde die von Cooper getaufte „Mittagsrunde“ abgehalten. Neben den Kunden wurden ihr Preis, Menge und Art der Drogen eingebläut. Eine Gedächtnisleistung, die ihr mit zunehmendem Drogenkonsum immer schwerer fiel, aber noch hatte sie nichts durcheinandergebracht. Anwesend waren auch der Koch, dessen Namen sie sich nie merken konnte und der so sparsam mit Worten war, dass Dina zuerst glaubte er wäre stumm und natürlich Red, der ihr jedes Mal eine gehörige Portion Angst einflößte. Auch er war nicht besonders gesprächig, rang er sich allerdings zu Worten durch, stand das, was er zu sagen hatte, unweigerlich mit zahlungsunwilligen Kunden oder brutalen Aktionen des Drogenkartells im Kontext. Die Freude, die er allen Anwesenden vermittelte nachdem er wieder einen Schuldner krankenhausreif geschlagen hatte, ließ Dina jedes Mal schaudern. Dieser Mann hatte Spaß daran anderen Menschen größtmöglichen Schaden zuzufügen und da er jeden in seiner Umgebung als unwürdig ansah mit ihm die Luft zum Atmen zu teilen, war es nur eine Frage der Zeit, wann sie ihm den passenden Grund liefern würde seinen sadistischen Trieb an ihr auszuleben. Noch vergrub sie diese Gefahr in den tiefsten Winkeln ihres Meth verseuchten Verstandes, aber die rational denkende Dina, die bisher alle Hände voll zu tun hatte die betäubende Wirkung des „Crystals“ abzuwehren, war im Hinterstübchen ihres Geistes noch präsent und bereit entsprechende Gegenmaßnahmen einzuleiten.

Nach den Lieferungen trafen sie sich wieder im Labor. Mit den Taschen voller Geld wurde sie von einem nervös wirkenden Cooper in Empfang genommen. Er beruhigte sich erst, als die ersten Jetons zum Vorschein kamen. Fiebrig zählte er sein Einkommen und fast jeden Tag ergab sich eine Fehlsumme, die Cooper in Rage versetzte und ihn in endlose Monologe über die Unzuverlässigkeit der Menschheit verfallen ließ. Das Repertoire an Schimpfwörtern beeindruckte Dina ungemein und die ungeahnte Kreativität, die er in Kombination mit Satzbau an den Tag legte, überstieg eigentlich seinen geistigen Horizont, aber offenbar hatte er ein verstecktes Talent als Wortakrobat bei Wutausbrüchen. Nun war es an Red seine Qualitäten auszuspielen und den säumigen Kunden eine Warnung zu überbringen. Im Falle einer ersten Mahnung beließ er es bei ein paar blauen Flecken. Richtig Spaß hatte er erst bei hartnäckigen Verweigerern, die mit gebrochenen Gliedmaßen einen Tag Zeit bekamen die fällige Summe aufzutreiben. Auch Red stieß gelegentlich an seine Grenzen und für den Fall, dass er trotz aller Muskelkraft und unbändigem Willen jemanden Weh zu tun an stärkere Parteien geriet, hatte er eine Verstärkung von weiteren Reds im Hintergrund, die bereit waren ihm die nötige Unterstützung in seinem Eifer zu gewährleisten. Cooper beruhigte sich meistens, nachdem sichergestellt war, dass diesen miesen Betrüger ihre gerechte Strafe ereilen würde. Er nahm den Großteil der Jetons und ging sie in dem nächstgelegenen Casino umtauschen, nicht ohne vorher die Funktionsfähigkeit seiner Pistole zu überprüfen. Zurück kam er mit wenigen, schwarzen Jetons, die den Gegenwert seiner Einnahmen widerspiegelten, aber nun deutlich handlicher im Tresor verstaut wurden. Für Dina war ihr Tagewerk damit ebenfalls vollbracht und der Abend endete meist in einem Rausch von „Crystal“, bis sich der Tag am nächsten Morgen wiederholte. Nur selten durchbrach sie diesen Alltag, wenn ihr nach körperlichem Verlangen war. Die Auswahl an Nachtclubs war riesig, aber nur wenige entsprachen ihren Vorlieben. Zu elektronischen Rhythmen tanzend und mit einem falschen Gefühl von Freiheit, gab sie sich der Ekstase hin und fast immer verließ sie den Club in weiblicher Begleitung. Unter dem Einfluss von Meth glichen ihre Orgasmen einer Erschütterung des Universums. Das alles konnte trotzdem nicht die Leere in ihr füllen und die Illusion von einem guten Leben, nur weil sie keinen Hunger mehr litt, verschwamm langsam in der Realität ihres Alltages. Sie war allein und konnte sie diesem Zustand vor ein paar Jahren noch was Gutes abgewinnen, sah sie es immer mehr als Bürde an. Zum Glück hatte sie das richtige Heilmittel dagegen. Sie brauchte nur einen Löffel und ein Feuerzeug.

Cooper gönnte Dina einen freien Tag in der Woche. Da sie keinerlei soziale Kontakte besaß mit der sie ihre Freizeit sinnvoll gestalten konnte und der Konsum von wenig notwendigen Produkten ihr nur bedingt Befriedigung verschaffte, nutzte sie das Angebot der Mission einmal wöchentlich auszuhelfen. Es war der Tag, auf den sie sich die ganze Woche freute und der ihr die Möglichkeit gab, ihren gewohnten Alltag aus Cooper, Drogen und perversen Kunden zu entfliehen. Saya begrüßte sie mit der herzerfrischenden Freundlichkeit, die Dina regelmäßig ein Lächeln ins Gesicht zauberte. Gemeinsam kümmerten sie sich ums Essen, tauschten die neusten Geschichten über Personal, Nachbarn und Notdürftige aus und verbrachten den Tag damit in vergangenen Erinnerungen über längst verstorbene Familienangehörige von Saya zu verfallen. Dina verzichtete an diesen Tagen auf ihre Drogen, was ihr sichtlich schwerfiel, aber das Gefühl durch „Crystal“ Ned, Saya und die Anderen zu enttäuschen, war so übermächtig, dass ein Verzicht die einzig mögliche Vorraussetzung für ein Besuch in der Mission war.

So lebte Dina ihr Leben aus sechssiebentel künstlicher Euphorie durch Meth und einsiebentel ehrlicher Freundschaft mit den Angehörigen der Mission. Ein Ungleichgewicht, was unbedingt einer Korrektur bedarf, aber selbst die immer kleiner werdende rational denkende Dina kannte keinen Ausweg aus dem Dilemma. Cooper würde sie nie gehen lassen, dafür wusste sie zuviel über seine Geschäfte. Nicht das die örtlichen Behörden Interesse an einer Stilllegung seines Gewerbes hätten, zu üppig waren die Bestechungsgelder, die er ihnen zukommen ließ. Die wirkliche Gefahr bestand aus der Konkurrenz, die nur zu gern das lukrative Geschäftsfeld übernehmen würde. Noch hatte Cooper die Rückendeckung des Kartells, aber dem war es gleich von wem sie ihr „purple rain“ bezogen. Red war eine gute Abschreckung, aber seine Loyalität Cooper gegenüber war nur gesichert, wenn er bereit war immer etwas mehr als künftige potentielle Nachfolger zu bezahlen. Coopers Leben war geprägt durch Misstrauen gegenüber jeden und alles, aber in seinem Geschäft hatten Einzelkämpfer nur geringe Überlebenschancen, so dass ein gewisses Maß an Vertrauen nötig war, um weiterhin die üppigen Profite seines Gewerbes zu gewährleisten.

Eine dieser Vertrauensoffensiven traf Dina. Vielleicht war es nur Coopers verwirrter Geist, der seine Mitbewohnerin als Teil seiner eigenen Persönlichkeit ansah oder sie war das kleinste Übel, was ihm zur Auswahl stand. Eines Morgens im „Kowert“ wich sein übliches Gefasel unter dem Einfluss der Drogen von der Normalität ab. Dina wollte eigentlich schon wieder abschalten und gedanklich in ihre heile Welt aus Ned und der Mission abgleiten, als der vernünftige Teil von ihr sie zwang deutlicher zuzuhören.

„Schau her, was ich hier habe, Schätzchen.“ Die Bezeichnung „Schätzchen“ verriet, dass er in guter Laune war. Er packte zwei Jetons auf den Tisch. Einen Weißen und einen Schwarzen. Während der Schwarze den Gegenwert eines gut funktionierenden Sturmgewehrs hatte, war der Weiße praktisch wertlos. Außer der Farbe bestand kein physischer Unterschied zwischen den beiden. Größe, Gewicht und Material waren bei den kreisrunden Jetons identisch.

„Was meinst du? Welcher ist wertvoller?“ fragte Cooper. Hatte sich Dina getäuscht? War das nur eine neue Kehrseite der Drogen? Fragen kamen in seinen morgendlichen Monologen nie vor.

„Ich tippe mal auf schwarz.“ antworte Dina gelangweilt.

„Falsch.“ grinste er sie an. Die Farbe war das entscheidende Merkmal für die Wertigkeit eines Jetons, aber naturgemäß kein besonders Zuverlässiges. Ohne weiteres war das Ändern der Farbe nicht möglich, aber es gab Tüftler, die es hinbekamen. Ein zweites, nicht ganz so offensichtliches Merkmal, war da deutlich schwieriger zu fälschen. Ein Transponder, innerhalb des Jetons, gab die Wertigkeit vor. Ausgelesen wurde es mit speziellen Geräten, die zwar selten im Besitz von Privatleuten waren, aber jede Organisation oder jedes Geschäft in dem ein reger Geldwechsel stattfand, sah dieses Gerät als notwendige Investition an. Die offizielle Bezeichnung ist längst aus dem üblichen Sprachgebrauch verschwunden. Das Wort Indikatoren war lange Zeit gebräuchlich, aber die menschliche Natur Dinge zu vereinfachen machten daraus ein Indika und vermutlich wird es nicht lange dauern bis daraus ein Indi wird. Indikas sind einer der wenigen technischen Produkte, die nach der Zeit der Vorfahren entwickelt wurden. Eine vereinfachte Abwandlung weitaus komplexerer Geräte, die ursprünglich in der Logistik das damals enorme Aufkommen von Frachtgut verwaltete. Gemeinsam mit den Jetons wird das Geldsystem durch eine Organisation namens „Goliath Invest“ verwaltet. Auch hier greift der genetisch verankerte Vereinfachungszwang, denn die umgangssprachliche Bezeichnung ist GI. Deren Produktionsstätte liegt in den Weiten der Galaxie und der GI liegt wenig daran den Standort publik zu machen.

„Schau her und staune.“ Cooper zog seinen Indika aus der Tasche und hielt ihn über den schwarzen Jeton. Ein flaches, zwei Finger breites Gerät. Ein kleiner Bildschirm war auf der Oberfläche, den Cooper mit dem Zeigefinger leicht berührte. Die Farbe änderte sich von weiß in schwarz. Langsam entfernte er sich von dem Jeton, bis der Bildschirm wieder weiß war. Dann hielt er das Indika über das weiße Gegenstück und als er erneut den Bildschirm berührte, verfärbte sich die Anzeige sofort wieder schwarz. Jetzt hatte er Dinas volle Aufmerksamkeit.

„Scheiße. Bin ich der Macher oder was?“ Coopers Jubel war so laut, dass er ein paar Blicke auf sich zog.

„Booh.“ schickte er in die Richtung eines kleinen Mädchens, was ihn ungeniert anstarrte. Ängstlich verkroch es sich hinter seiner Mutter.

„Stroh zu Gold.“ feixte er Dina an. Die schaute ihn ungläubig an.

„Scheiße. Kennst du die Geschichte nicht? Wo bist du denn aufgewachsen?“ Seine Stimmung drohte wieder in Zorn umzuschlagen.

„Vergiss die Strohnummer. Wie hast du das hinbekommen?“ fragte sie sichtlich beeindruckt. Jetzt, wo er die Anerkennung hatte, die er brauchte, gab er bereitwillig Informationen weiter.

„Die Wichser von der GI denken ihr System ist perfekt. Da haben sie aber nicht mit Cooper gerechnet.“ begann er einleitend und betonte seinen Namen, als wäre er der Liberator höchst persönlich.

„Jedes dieser kleinen Dinger wird mit einer Identifikationsnummer versehen. Mit der Kiste wird die Nummer ausgelesen und der bekackten Farbe zugeordnet. Aber woher hat dieses Ding den Vergleich?“ Cooper machte sich schlauer als er war.

„Von der GI natürlich. Du kennst die Dreckshütte im Zentrum, die sie Eyakfiliale nennen. Da müssen wir jedes Jahr die aktuelle Liste aller im Umlauf befindlichen Jetons holen. Das Indika zwei Sekunden ranstöpseln an den Rechner und schon bist du wieder auf dem Laufenden. Und woher haben die Wichser die Liste? Von den größeren Wichsern aus der Zentrale. Einmal im Jahr kommt einer dieser zentralen Handschleudern hier her in unser Paradies, bringt neue Jetons mit neuen IDs mit und ersetzt die verschissenen alten nicht mehr zu gebrauchenden Jetons. Das alles ist so scheiße geheim, dass keiner was davon mitbekommt. Jedenfalls keiner, der nicht genug Grips hat.“ Cooper drängte es regelrecht seine Geschichte zu erzählen.

„Vor drei Wochen waren sie hier und Bestie, du kennst Bestie, das ist der Typ, der am Raumhafen arbeitet, gab mir einen Tipp. Jedenfalls wollten sie sich wohl mal ordentlich einen blasen lassen, denn im „French Kiss“ habe ich sie aufgestöbert. Einer dieser Wichser war dann ziemlich zugänglich für einen Vorschlag von mir, die Zuordnung der weißen IDs in schwarze umzuwandeln. Hundert Nummern habe ich ihm gegeben.“ Der Stolz war unüberhörbar.

„Du hast die Liste manipulieren lassen?“ fragte Dina ungläubig.

„Jepp. Ich muss nur noch Weiß in Schwarz verwandeln und da kommst du ins Spiel.“

„Was soll ich machen? Die Dinger anpinseln?“ Dina gefiel die Sache gar nicht.

„Die manipulierte Liste gilt nur für Eyak. Sobald einer der Jetons den Planeten verlässt fliegt der Schwindel auf. Die Kartelle verstehen da keinen Spaß. Irgendwann kommen die drauf, wer dahintersteckt.“ fuhr sie fort.

„Quatsch. Niemand verlässt diesen Drecksplaneten mit schwarzen Jetons in der Tasche. Selbst wenn. Das Weltall ist so groß, dass die nie rausfinden, wo die Blüten herkommen. Wir haben drei Monate Zeit, um die Dinger unters Volk zu bringen, dann setzt sich die Liste automatisch auf den richtigen Zustand zurück und alle Spuren sind verwischt. Erst nach einem Jahr, wenn die neue Version der Liste da ist, fallen die Blüten auf und von da an gelten sie als schlechte Kopie von Amateuren. Ich habe alles bedacht. Vertraue mir. Du bekommst zwanzig Prozent. Wir sehen goldigen Zeiten entgegen Schätzchen.“ Der Wutausbruch der normalerweise auf Dinas Zweifel folgte, blieb diesmal aus, zu groß war seine Euphorie. Eine Euphorie, von der sie sich anstecken ließ, denn zwanzig von diesen schwarzen Jetons versetzten sie in einen Traum von einem Leben ohne Drogengeschäfte und ohne Cooper.

Der Plan sah vor, dass sie sich um die physische Veredelung der Jetons kümmern sollte. Weiß zu schwarz. Cooper hatte verschiedene Kontakte, denen er es zutraute eine vernünftige Arbeit abzuliefern. Über Strohmännern stellte er lose Anfragen. Er war clever genug nicht sofort mit der Tür ins Haus zu fallen, denn ein Versuch Falschgeld herzustellen, würde nicht lange ein Geheimnis bleiben. So tarnte er seine Anfrage als Service für Gastronomiebedarf, der auf der Suche nach einer Veränderung seines weißen Plastikzubehörs in schwarz war.

Ein ungutes Gefühl erstickte ihre anfängliche Euphorie. Zu viele unbekannte Variablen standen dem Erfolg entgegen. Noch nie hatte jemand derart dreist versucht Falschgeld in Umlauf zu bringen. Einen Mitarbeiter der GI zu bestechen, hatte denselben Effekt, wie durch ein Glas Wasser den Meeresspiegel zu erhöhen. Also konnte es sich nur um Erpressung handeln. Was auch immer Cooper gegen seinen Helfer in der Hand hatte, es musste so verheerend gewesen sein, dass er seine wohl situierte Stellung in Gefahr brachte. Schon allein deswegen schrillten bei Dina alle Alarmglocken und selbst eine Extradosis Meth hätte die Zweifel nicht abtöten können.

Vorerst blieb alles beim Alten. Obwohl die Delegation der GI den Planeten längst wieder verlassen hatte, gab es keine Aufforderung an die Bevölkerung die vorhandene Bestandsliste zu erneuern. Dina konnte sich die Verzögerung nur damit erklären, dass die GI eine Galaxie weite Koordination der Umstellung plante. Jeder noch so entfernte Winkel, in dem die Jetons als gültiges Zahlungsmittel dienten, sollte zu einem bestimmten Zeitpunkt die überall gleiche Liste veröffentlichen. Nur auf Eyak würde es diesmal eine Ausnahme geben und dass gerade ein kleiner Gangster wie Cooper diese mächtige Organisation austricksen würde, erschien ihr von Tag zu Tag unwahrscheinlicher.

Auch die geplante Farbveränderung verzögerte sich. Offenbar war Cooper mit keiner der Muster, die ihm verschiedene Handwerker offerierten zufrieden. Dina mied das Thema bei ihren täglichen Frühstücksrunden, so dass geschlagene vier Wochen kein Wort über die geplante Gaunerei verloren wurde. Durch die Schweigsamkeit und den Mangel an Erfolg bei der Umwandlung der weißen Jetons, schien das ganze Projekt zu scheitern und da Scheitern im Denken von Cooper nicht vorkam, hoffte Dina, dass er einfach durch totschweigen des Versagens seinen Ruf nicht schädigen wollte. Gerade als sie glaubte die Sache wäre erledigt, sollten sie die Ereignisse überrollen.

Das Meth war zu einem stetigen Begleiter geworden. Die kurzen Beschaffungswege und der Vorzugspreis, den ihr Cooper einräumte, trieben Dina unaufhaltsam in die Abhängigkeit. Noch schaffte sie es ihren freien Tag ohne Drogen zu verbringen, trotzdem war der Konsum ihr anzusehen. Saya, eine ehrliche und nie mit der Wahrheit zurückhaltende Frau, stellte sie vor vollendete Tatsachen. Dina schämte sich, als sie versuchte die grausame Wahrheit mit halbherzigen Lügen zu verbergen. Die Frau, die sie versuchte anzuschwindeln, stand als Inbegriff der Herzlichkeit und Dina, eine Meth vertickende Straßengöre, die ihren eigenen Drogenkonsum damit verdiente, dass sie andere in die Abhängigkeit trieb, war es nicht wert mit dieser Heiligen in einem Raum zu sein. Damals kannte sie Coopers Falschgeld-Pläne noch nicht und ihr Schicksal schien gefangen in einer Endlosschleife aus Einsamkeit und Drogenverkauf. Die Befürchtung nie wieder einen Fuß in die Mission setzen zu dürfen und damit ihren letzten Halt in einer grausamen Welt zu verlieren, zerstreute Saya mit einer herzlichen Umarmung. Wieder brauchte sie Hilfe und wieder waren Ned und die Anderen bereit ihr diese zu gewähren.  

Der Versuch eines kalten Entzuges hielt keine zwei Tage. Die traurige Gewissheit über ihre Abhängigkeit ließ Dina in ein tiefes Loch fallen. „Crystal“ würde ihr Begleiter bleiben, ein Leben lang und so wie sie die Droge einschätzte war das lang extrem kurz. Die zahlreichen Beispiele entlang des Bordsteins der Hauptstadt, zeigten ihr eine Zukunft auf, die typisch für die Einwohner von Eyak waren. Ein kurzes entbehrungsreiches Leben, geprägt von Drogen und Gewalt. Die wenigen Alternativen zu diesem Lebensstil gab es außerhalb der Stadt, auf einzelnen Bauernhöfen oder kleineren Ansiedlungen. Verschlafene kleine Gehöfte, die fast ausschließlich von den eher ungenießbaren Früchten des Planeten lebten. Frei von unnötiger Technologie und Vergnügungen, aber mit einem Gemeinschaftssinn der notwendig war fürs Überleben. Verspottet als inzuchtgetriebene Landeier standen sie bei den Stadtbewohnern auf einer gesellschaftlichen Stufe mit den Obdachlosen, die zu tausenden die Gassen verstopften. Einziger Gradmesser für Erfolg war der Besitz von möglichst vielen Jetons und da auf dem Lande ein Handel von Naturalien und Dienstleistungen verbreiteter war als die Bezahlung durch Jetons, galten die Bauern als soziale Unterschicht und das obwohl ihre körperliche Arbeit, der der Minenarbeiter in nichts nachstand. Dina hatte nie eine dieser mitleiderregenden Kreaturen getroffen, aber immer wenn ihr mentales Loch besonders tief schien, gaukelte ihr ihre Fantasie ein noch größeres Elend vor, dass ihr glücklicherweise erspart blieb. Neid entsteht fast immer durch den Vergleich und auf demselben Prinzip beruht der Selbstbetrug. Während ersteres als Antrieb auf Verbesserung der eigenen Lage ausgenutzt werden kann, dient der Selbstbetrug als Verschleierung der elendigen Existenz. Der bequemere Weg sich notwendigen Veränderungen zu entziehen. Sollten sich die Zweifel trotzdem nicht unterdrücken lassen, half eine Dosis Meth die Unbeirrbarkeit des eingeschlagenen Weges zu untermauern. Es war Ned, der ihr die Sackgasse aufzeigte und ihr damit vermutlich das Leben rettete.

Die Erkenntnis der Abhängigkeit kam von ihr selbst. Ein gutes Zeichen dafür, dass ihre Intelligenz noch nicht komplett im Drogennebel untergegangen war. Der missratende Versuch des kalten Entzuges und die Umgebung der Mission, die ihr aufzeigte, dass dreimal täglicher Konsum von Meth nicht die Regel, sondern eher die Ausnahme war, konnte selbst Dina nicht ignorieren. Jeder in ihrem Alter hatte ein Laster und es gehörte zu ihrer jugendlichen Freiheit und untermauerte ihren individuellen Lebensstil. Es war ihre persönliche Art gegen die Gesellschaft zu rebellieren, sich abzugrenzen von den vermeintlich biederen Strukturen die Eyak ausmachten. Das diese Abhängigkeit ein Problem darstellte, war ihr nie wirklich bewusst gewesen und so bedurfte es einer brutalen Konfrontation, um das drohende Schicksal zu vermeiden. Seit sieben Monaten konsumierte Dina Meth mit einer Selbstverständlichkeit, wie andere Wasser tranken und nur allein die Reinheit des Stoffes verhinderte einen körperlichen Verfall. Ein weiterer Schleier, der die Problematik ihrer Abhängigkeit gut verbarg. Erst als ihr Nicole vorgestellt wurde, eine abhängige Prostituierte, die ab und an auf eine kostenlose Mahlzeit in der Mission angewiesen war und Dina glaubhaft versichert wurde, dass Nicole noch keine zwanzig Jahre alt wäre, ließen die ersten Zweifel an der Sorglosigkeit ihrer Abhängigkeit aufkommen. Ned machte die beiden bekannt und unter einem Vorwand zwang er Dina zu einer ausgiebigeren Betreuung.

Das eingefallene Gesicht, die ersten Falten und die unreine Haut verleiteten Dina zu der Annahme mit einer weitaus älteren Person zu tun zu haben. Ihre dünnen ungewaschenen Haare weckten Erinnerungen an Dinas eigene Zeit auf der Straße. Nur die Gestik und die Art wie Nicole zu ihr sprach, passten nicht zu ihrem vermuteten Alter. Sie hatte etwas Kindliches in ihren Bewegungen, was geistige Reife und geschätztes Alter unpassend machte. Die körperliche Zersetzung hatte eine Geschwindigkeit angenommen, mit der ihre mentale Entwicklung niemals Schritt halten konnte. Achtzehn Jahre verkündete Nicole stolz ihr Alter, als wäre ihre Jugend etwas, an das sie sich festhalten konnte. Die offene, redselige Art überraschte Dina und ließ ihre gewöhnliche isolierte Haltung gegenüber Fremden etwas bröckeln. Schnell bemerkten die beiden ihre Gemeinsamkeiten und so dauerte es nicht lange, bis sie ihre Lebensgeschichten austauschten.

Nicole war die Tochter eines dieser Landeier, die sich mit mühseliger Hingabe ihren Unterhalt auf einem dieser Bauernhöfe erarbeitete. Früh erlag sie den Verlockungen der glitzernden Großstadt und ähnlich wie Dina zog sie naiv, den Kopf voller Vorstellungen von Glück und Reichtum, in das vermeintliche Paradies. Sie brach mit ihren Familientraditionen für den Traum vom schnellen Geld und überschäumenden Luxus. Doch die Realität belehrte sie eines Besseren. Ehe sie sich versah, war sie in den Fängen skrupelloser Zuhälter und obwohl sie es nur andeutete, begann ihre Karriere als Prostituierte mit einer brutalen Vergewaltigung. Ein übliches Mittel, um die angeborene Reserviertheit von Frauen gegenüber der Dienstleistung Sex zu überwinden. Die Gleichgültigkeit mit der Nicole ihre aufgezwungene Berufswahl darstellte, konnte nur eine Nebenwirkung des übermäßigen Konsums von schlechten Meths sein. Selbst in dem tiefsten Nebel des reinsten „Crystal“ konnte sich Dina nicht vorstellen, dem Gewerbe der Prostitution ohne große Abneigung zu verfallen. Dieses Mädchen hatte ihre persönliche Hölle zu ihrem normalen Alltag gemacht und unweigerlich stellte sich Dina die Frage, ob sie in einer ähnlichen Illusion gefangen war. War der eigene Albtraum ihr gar nicht mehr bewusst? Ihre Wege wiesen so viele Gemeinsamkeiten auf. Warum sollte gerade jetzt ein Unterschied zu erkennen sein?

Nicole fuhr fort mit ihrer Geschichte. Der Griff zu den Drogen, weil sie die elendige Realität nicht mehr ertrug war eine weitere erschreckende Gemeinsamkeit. Die Abhängigkeit sich als notwendiges Lebensgefühl einzureden, verstärkten Dinas Zweifel. Seit drei Jahren frönte Nicole den Drogen und ihre Geschichten über die Beschaffung in den dunkelsten Ecken der Hauptstadt, zeigten Dina eine eigene Zukunft auf, sollte sie es sich je mit Cooper verscherzen. Auch wenn diese Begegnung sie nicht sofort ihr ganzes Leben überdenken ließ, rührten sich erste Zweifel über die Richtigkeit ihres Handelns. Wie aufs Stichwort kam ihr die Vergangenheit im Casino und auf der Straße wieder hoch und zeigten ihr unweigerlich die Nachteile von Hunger, Dreck und Gewalt auf. Ihr jetziger Lebensstil hatte seine Vorzüge und erstickte die aufkommenden Zweifel geschickt.

Einen ersten Erfolg hatte die Konfrontation mit ihrem zukünftigen Ich allerdings. Sie reduzierte ihren Drogenkonsum, was ihr das Misstrauen von Cooper einbrachte. Dieser befürchtete, Dina würde sich bei einem seiner Konkurrenten eindecken oder schlimmer noch, sie würde gegen sexuelle Gefälligkeiten das Meth erkaufen. Zum ersten Mal legte er Hand an sie an und nur die Notlüge, sie hätte gesundheitliche Probleme, da das Meth Wechselwirkungen mit eines ihrer Medikamente hervorrufen würde und damit ihre Arbeitsleistung beeinflusst, bewahrten sie vor einem Krankenhausaufenthalt. Von da an erwarb sie wieder die übliche Menge bei Cooper, was den Frieden zwar wiederherstellte, sie aber neuen Versuchungen aussetzte. Sie hatte es sich angewöhnt nur noch morgens dem „Crystal“ nachzugeben, als Beweis für Cooper, dass alles beim Alten wäre. Die Nachmittags- und Abendsration in ihrer Tasche entwickelten sich zur unberechenbaren Verlockung, was einem Junkie auf teilweisen Entzug das teilweise unendlich schwermachte. Nach dem üblichen „Mittagstisch“ entsorgte sie ihr privates Meth in einem Abfluss und die Wehmut über den finanziellen Verlust wurde mit der Erinnerung von den Geschichten über Nicoles Schicksal abgefedert.

Der Weg zum vollständigen Entzug war lang und die morgendliche Dosis machte Dinas Vorhaben naturgemäß unmöglich. Ein paar Mal schaffte sie es Cooper etwas vor zu machen, aber in der Regel saßen beide an ihrem vom Drogenkonsum gezeichneten Tisch und gaben sich gemeinsam ihren jeweiligen Dämonen hin. Bis Dina eines Tages auf die Idee kam Cooper den Vortritt zu lassen, welcher dann im Rausch keinerlei Aufmerksamkeit mehr für irgendwas in seiner Umgebung hatte. In der festen Annahme Dina verfiele ihrem gewohnten Ritual, ging diese auf vollständigen Entzug.

Eine Woche dauerte es, ehe sie die Entzugserscheinungen halbwegs im Griff hatte. Der Zufall spielte ihr in die Karten, denn Cooper war für ein paar Tage geschäftlich verhindert. Die ersten Vorboten der angehenden Jeton-Fälscherei. Das Zittern und die Schweißausbrüche wären ihm sicherlich nicht verborgen geblieben und hätten ihren Fortschritt auf die Eine oder Andere Weise zunichtegemacht. Da auch der „Mittagstisch“ entfiel, bestand keine Gefahr bei Red oder dem Koch aufzufallen. Sie holte einfach die Ware ab, prägte sich ihre Zielorte ein und begann mit ihrer Verkaufsrunde. Allein die Geldübergabe am Abend erforderte etwas Geschick, was sie wieder erwarten gut meisterte. Erst am siebenten Tag besserte sich ihre Laune, ihre Schweißausbrüche gingen zurück und ihr Geist erwachte in ungeahnter Weise. Sie hatte es geschafft und den Stolz über diese Leistung wollte sie unbedingt mit jemandem teilen.

Es war Dinas freier Tag und die Vorfreude auf die Mission hatte lang nicht mehr die Qualität, wie an diesem sonnigen Vormittag. Das Sonnenlicht wirkte heller als sonst, die Leute freundlicher und der Gestank nach saurer Milch wurde überdeckt von angenehmen Gerüchen unbekannter Herkunft. Ein Tag, wie für sie gemacht und mit einem Hochgefühl aus Stolz und neu erworbenen Selbstbewusstsein betrat sie die Mission. Sie scherzte mit Saya, half ihr bei den Vorbereitungen fürs Mittagessen und war höchstpersönlich verantwortlich für die Essensausgabe an die Bedürftigen, die diesmal aus einem großen Anteil Kindern bestand. Zehnjährige, die in den grauen Vororten der glitzernden Stadt lebten, in Häusern, die nichts gemeinsam hatten mit den blinkenden Fassaden der Casinos oder Bordellen. Eine warme Mahlzeit am Tag war Organisationen wie jene von Ned eine Herzensangelegenheit und so wurden sie abwechselnd verköstigt. Kinder bedurften einer gesonderten Betreuung und waren daher jedes Mal ein Höhepunkt, sobald sie die Mission besuchten. Es blieb nicht nur beim reinen Essen, es gab eine Rundumversorgung für den ganzen Tag. Ned verlud sie in einen Sammeltransporter und gemeinsam mit Dina verließen sie die Stadt.

Schon allein der Anblick von Kindern wirkte surreal. Dina sah sie selten in der Innenstadt und schon gar nicht in den Kreisen, in denen sie gewöhnlich verkehrte. Jetzt war sie in Begleitung mit einem Dutzend von ihnen auf dem Weg in die freie Natur. Noch so etwas, was sie kannte aber bisher nie gesehen hatte. Die Farbe grün war rar in der Innenstadt und zierte höchstens ein paar Werbeschilder. Hier draußen schien sie das vorherrschende Merkmal. Bäume, Gras und Sträucher hatten die verschiedensten Grün-Töne. Der blaue Himmel, der sanfte Sonnenschein und die reine Luft machten die Illusion von einem Paradies perfekt. Sie konnte ihre Augen nicht von der ungewohnten Umgebung abwenden. Unweigerlich kam ihr Nicole in den Sinn und sie konnte nicht verstehen, warum sie das alles für den Drogensumpf im Zentrum aufgegeben hatte. Hier draußen schien die Zeit stillzustehen und Dina bereute es, diese kurze Entfernung nicht früher zurückgelegt zu haben. Reisen erweiterten den Horizont, auch wenn es nur wenige Kilometer entfernt lag.

Ihre Fahrt endete auf einem Bauernhof. U-förmig erstreckten sich die drei Seiten des Haupthauses, das aus massivem Stein erbaut wurde. Ein paar kleinere Holzgebäude in glänzendem Braun komplettierten die typisch ländliche Atmosphäre. Eingerahmt wurde der gesamte Komplex von Plantagen, auf denen die verschiedensten Früchte wuchsen. Im Hintergrund erhob sich ein Gebirge und gab dem ganzen Anblick die perfekte Note. Dina war noch nie in so idyllischer Umgebung und dementsprechend sprachlos folgte sie den Kindern auf den Hof. Dort trafen sie auf den Bauern, einen bärtigen, leicht untersetzten Mittfünziger, dessen einfache schmutzige Kleidung auf einen harten Broterwerb hinwies. Seine beiden Töchter ergänzten die eh schon ansehnliche Kinderschar und die Frau des Hauses hatte Mühe die aufgebrachten Zehnjährigen an den Tisch zu bekommen, der wie aus einem Werbeprospekt gedeckt mit reichlich Früchten im Glanze der Sonne dargeboten wurde. Wieder wurden sie verköstigt und obwohl das Obst aus einheimischem Anbau bitter schmeckte, gab es kein halten bei den Kindern.

Zehn Minuten vergingen, um das Gemisch aus Beeren, Äpfeln und Bananen zu vertilgen. Eine ordentliche Leistung, die auf permanente Unterernährung zurückzuführen war. Dina aß einen Apfel und trotz des bitteren Geschmacks war sie vorerst gesättigt. Auch wenn es einem praktisch die Eingeweide zusammenzog und die fehlende Süße das Essen zur Tortur verkommen ließ, war der Nährstoffgehalt einer Frucht Eyaks dreimal so hoch, wie das normale Gegenstück anderer Welten. Vermutlich hatte sie gerade mehr Kalorien zu sich genommen, als in zwei Wochen Methabhängigkeit und so ordnete sie den zurückgekehrten Appetit als gutes Zeichen ein, auf dem Weg zurück in ein Leben ohne Drogen.

Nach dem üppigen Mahl half sie Ned eine gewisse Grundordnung in die Kindermenge zu bekommen und nachdem alle bereit waren dem nächsten Abenteuer in der Natur entgegen zu fiebern, machte sich die Gruppe daran den Hof zu verlassen.  

Ihr Weg führte sie quer durch ein Feld voller Mais. Die Form der Kolben wirkte unnatürlich, so als würde sich das Getreide nicht entscheiden können zwischen eigentlichem Mais oder halbrunder Zitrone. Eine weitere Wirkung des Minerals, welches den Boden von Eyak vergiftete. Ned versprach eine Menge Spaß, ohne dass er den Kleinen verriet, was denn am Ende des Feldes auf sie wartete. Dementsprechend groß war die Neugierde und mehr als einmal musste er die Gruppe zügeln, so dass er Mühe hatte alle beisammen zu halten. Die Freude bei ihrer Ankunft war riesig. Ein See erstreckte sich über ein paar hundert Quadratmeter. Das Wasser war so klar, dass man keine Mühe hatte bis auf den Boden zu schauen. Die Tiefe von höchstens einen Meter machte ihn zwar eher zur Pfütze, war aber ideal für Kinder, die nicht schwimmen konnten. Ohne zu zögern riss sich die Horde ihre verlumpten Kleider vom Leib und stürmte in das kühle Nass. Zurück blieben Ned und Dina, die das Treiben im See überwachten.

„Ich habe seit sieben Tagen kein „Crystal“ mehr genommen.“ begann Dina, endlich froh ihren Erfolg jemanden mitteilen zu können.

„Das ist fantastisch.“ Ned wirkte aufrichtig begeistert. Da war noch etwas, was Dina sehr gut tat. Anerkennung.

„Nicoles Geschichte hat mir den nötigen Anstoß dafür gegeben. Du hast das eingefädelt. Danke dafür.“ Eine weitere Premiere an diesem Tag, denn noch nie hatte sie sich bei jemandem bedankt.

„Ich fädele nicht. Ich gebe höchstens mal einen Schub in die richtige Richtung.“ scherzte er. Ein kurzer Moment des Schweigens, dann trafen sich ihre Blicke. So hatte Ned sie noch nie angeschaut. Es glich diesem Gesichtsausdruck aus diesen uralten Filmen, die sie manchmal gemeinsam mit den Mädels im Casino nach einer harten Schicht geschaut hatte. Es endete fast immer mit einem Kuss, es sei denn irgendwas Unerwartetes unterbricht die Szene. Sie musste sich irren. Dass solch ein Heiliger wie Ned auch nur mit ihr sprach, glich einem Wunder, dass er sie dann auch noch an einen Ort wie diesen mitnahm, war ein einmaliger Glücksfall. Sie war die Drogen verkaufende, Männer hassende und in einer kriminellen WG hausende Ex-Drogenabhängige, wobei das Ex gerade mal eine Woche alt war. Kein Vergleich zu dem aufopferungsvollen, liebevollen Alleskönner, den er verkörperte. Ein weiterführendes Interesse war außerhalb jeglicher Logik. Hatte sie unbeabsichtigt Signale an ihn versendet? Er wusste nicht, dass ihr Interesse dem eigenen Geschlecht galt, was zwar ausschließlich den schlechten Erfahrungen mit Männern geschuldet war, aber ein Überdenken ihrer einseitigen Philosophie begann nach dem ersten Zusammentreffen mit Ned und bekam jetzt neues Futter. War sie bereit sich einem Mann zu öffnen? Sein Gesicht näherte sich ihrem. Ein Moment zögerte sie und war sich unsicher, wie sie dem Ganzen begegnen sollte. Nichts, was diesen Kuss aufhalten könnte. Kein Kind was schreit, nur ihre eigene Abneigung kann das Unausweichliche verhindern. Ihre Entscheidung stand. Ned drückte seine Lippen auf ihre und da er keinen Widerstand verspürte, wurde er mutiger. Unzählige Frauen hatte sie geküsst und trotzdem verunsicherte sie die Situation und verhinderte große Emotionen.

„Tut mir leid. Ich bin aus der Übung.“ entschuldigte sich Ned unnötigerweise.

„Nein. Es liegt an mir.“ nahm Dina die Schuld auf sich und startete einen zweiten Versuch. Einen Mann zu küssen, bedurfte der Beseitigung einiger Vorurteile. Ein Schritt, zu dem sie bereit war und den sie nicht bereute, denn nun gab es auch die bisher fehlenden Emotionen. Der Höhepunkt unter den neuen Dingen dieses Tages. Die Welt war auf einen Schlag freundlicher geworden. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie glücklich.

Es war nicht von Anfang an Liebe. So ein mächtiges Gefühl hätte die damalige Dina vermutlich überfordert. Seit jenem sonnigen Tag trafen sie sich regelmäßig. Zu Beginn zwei bis dreimal die Woche, aber es dauerte nicht lange bis Dina jeden Abend bei Ned auftauchte. Küsse gingen in Streicheleinheiten über und die wiederum in Sex. Dina gab ihre Zurückhaltung nur zögerlich auf, zu sehr war sie geprägt durch ihr einziges Erlebnis mit einem Mann, aber Ned ließ ihr Zeit und langsam, Schritt für Schritt, öffnete sie sich ihm immer mehr. Im gleichen Maße wie ihre Zurückhaltung abnahm, legte die Intensität ihrer Gefühle zu. Sie liebte Ned und er liebte sie. Eine perfekte Zusammenführung zweier Schicksale und ginge es nach ihr, gab es nur einen gemeinsamen Weg für die Zukunft. Einer Zukunft, ohne Cooper, ohne Drogen, aber mit jeder Menge Grün. Tatsächlich malte sie sich einen Traum aus, indem Sie mit Ned in einem Dreiseitenhof lebte. Sie würden eine Hand voll Kinder bekommen und natürlich würden die in einem See spielen, der höchstens einen Meter tief wäre. Ned war die Perfektion eines Partners. Sein Humor brachte sie zum Lachen, seine Zuneigung gab ihr Kraft und seine gutmütige Art kompensierte den Abschaum, mit dem sie tagtäglich zu tun hatte. Wieder mal war sie gezwungen ihr Leben zu ändern, denn die Lichtgestalt die Ned verkörperte, wurde deutlich gedämmt durch ihre dunklen Machenschaften. Es wurde Zeit das Kapitel Cooper zu beenden.

Es würde wieder auf Flucht hinauslaufen, denn mit einer herkömmlichen Kündigung war es nicht getan. Zu viel wusste sie über Coopers Verbindungen, als dass er sie einfach gehen lassen würde. Ihre Fluchtpläne waren halbherzig und unausgegoren. Zu groß war die emotionale Ablenkung durch Ned. Die Veränderung ihres Wesens, einerseits durch das Absetzen der Drogen, anderseits durch die Liebe zu Ned, blieb von Cooper weites gehend unbemerkt. Zu sehr war er abgelenkt von einer neuen Geschäftsidee, welche seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Gerade in jenem Moment, als sie die Option einer friedlichen Trennung doch in Erwägung zog, eröffnete er ihr den Plan mit den gefälschten Jetons. Nun war Flucht die einzige Möglichkeit, denn die Ungereimtheiten in Coopers Unterfangen ließen sie misstrauisch werden.

Mark oder Mike, es war unmöglich zu sagen wie denn der richtige Name lautete, jedenfalls war es die Person, die die Ereignisse in eine völlig neue Richtung leiten sollte. Ein nuschelnder Mann, dessen schäbiges Äußeres seine Vertrauenswürdigkeit gegen null driften ließ. Sein herausragendes Talent war neben dem übermäßigen Konsum von Alkohol, die handwerkliche Geschicklichkeit im Umgang mit Kunststoffen. Nach einer langen Suche war er der Auserwählte, den Cooper für würdig erachtete, seine weißen Jetons in gewinnbringendes schwarz umzuwandeln. Als getarnte Assistentin der Geschäftsleitung fuhr Dina mit hundert Jetons in der Tasche in einer dieser Vororte, die in so krassem Gegenteil zu der bunten und hell erleuchteten Fassade der Innenstadt stand. Die vorherrschende Farbe war grau und hatte sie nach dem Ausflug in die ländliche Idylle grün zu ihrer endgültigen Lieblingsfarbe erkoren, stand dieses trostlose Grau für das genaue Gegenteil. Alles schien sich dieser Farbe unterzuordnen. Die Häuserfassaden, die Kleidung der Menschen, selbst die Farbe des Himmels, alles schien als Naturkonstante in dem gleichen Farbton zu existieren und erdrückte jegliche Hoffnung auf Zufriedenheit oder sogar Glück. Wer hier lebte existierte nur. Eine unbedeutende Variable im unendlichen Kosmos des Seins, dazu verdammt, als unnützes Beiwerk das kurze Kapitel der Menschheit zu ergänzen. Geburt, Elend und Tod. Ein Lebenslauf, der die Regelmäßigkeit unnützer Existenzen wieder spiegelte.

Unter der Vorraussetzung, dass jeder für den richtigen Preis seine Skrupel über illegale Geschäfte überwinden würde, enthüllte Cooper seinen Plan gegenüber Mark. Letzterer war sich seines handwerklichen Geschickes bewusst und so stellten sich die Preisverhandlungen als Herausforderung für Cooper da. Nachdem man sich einigen konnte, verfiel dieser wieder in die üblichen Monologe über die Verkommenheit der menschlichen Gesellschaft und selbst eine extra Dosis „purple rain“ ersparte Dina nicht ausführliche Erläuterungen über Gier und Habsucht. Geschlagene zwei Stunden ertrug sie tapfer seinen Frust und erst nachdem er sich so weit abgekühlt hatte, dass er den Profit wieder in den Mittelpunkt seines Denkens schob, war er fähig die weiteren Abläufe zu planen.

Angekommen in der tristen Vorstadt musste Dina wieder in eine dieser schäbigen Seitengassen. Eine scheinbare Gesetzmäßigkeit für illegale Geschäfte. Der Gestank von Exkrementen überlagerte den vorherrschenden Geruch von saurer Milch und verstärkte die Abneigung, die sichere Hauptstraße zu verlassen. Ein paar finstere Gestalten wühlten in einem Berg von Müll, ignorierten sie aber vollends. Das Absetzen der Drogen, verbunden mit der Entscheidung ihre Haare wieder länger zu tragen und dem eigenen Körper wieder mehr Hygiene zukommen zu lassen, steigerten ihre Attraktivität gegenüber dem anderen Geschlecht. Die Unsichtbarkeit, mit der sie einst die Straßen durchstreifte, verlor sich mehr und mehr. Noch hatte sie nicht die Häufigkeit der Blicke wildfremder Männer wie zu Zeiten ihrer Arbeit im Casino, aber sie erregte wieder deutlich mehr Aufmerksamkeit. Einen Fluch, den sie in Kauf nahm, denn Ned war der neue Mittelpunkt ihres Lebens und die Minderwertigkeitskomplexe, die sie in die Beziehung mit einbrachte, wollte sie mit ihrer natürlichen Schönheit kompensieren. Die tägliche Angst, Ned würde sie verlassen, weil sie unwürdig war seinem geistigen Niveau zu folgen, wollte sie mit ihrem angeborenen Trumpf entgegenwirken. Erst Jahre später wurde Dina bewusst, welchem Irrglauben sie auferlegen war. Ned liebte sie mit all ihren Unzulänglichkeiten und die waren zu jenem Zeitpunkt in der zahlenmäßigen Überzahl zu ihren Vorzügen. Wäre es ihr damals schon bewusst gewesen, hätte sie ihre Zeit nicht auf die Verbesserung ihres Äußeren verschwendet.

Ihr erster Besuch war kurz. Ein unverständliches Nuscheln von Mark, was wohl die Konturen ihrer Brust beurteilte, dann noch die Übergabe von hundert weißen und zwei schwarzen Jetons, letzteres war die Ursache für den Wutausbruch über die Preisverhandlungen von Cooper und schon war sie wieder in jener schäbigen Gasse, die so aufdringlich nach Erbrochenem roch. Das Verschwinden der Müllsucher gab ihr den nötigen Antrieb den Weg zur Schwebebahn schnellst möglich und sicher hinter sich zu bringen. Erst als sie auf der harten Bank der Bahn saß, entspannte sie sich, um gleich wieder zu verkrampfen, als ihr bewusst wurde, dass sie am nächsten Abend erneut dieses Glücksspiel mit den Taschen voller schwarzer Jetons hinter sich bringen müsste. Vierundzwanzig Stunden, in denen sich Dinas Schicksal entscheidend verändern sollte.

Der Tag begann wie die gefühlten Millionen Tage davor. Gemeinsam begannen sie ihr morgendliches Ritual am Drogentisch. Cooper war im Rausch und Dina simulierte ihre Methabhängigkeit, indem sie einfach nur dasaß und beobachtete, wie er sich dem chemischen Betrug hingab. Das Frühstück fiel wie immer kläglich aus und der einzige Unterschied war die Zurückhaltung Coopers in seinen üblichen Monologen über die Zusammenhänge in der Gesellschaft von Eyak. Ein erstes Anzeichen dafür, dass es auch für ihn ein Tag außerhalb des üblichen Alltages werden würde. Sie standen kurz vor der Vollendung ihres Coupes, denn gestern kam die offizielle Aufforderung die Indikas auf den neusten Stand der GI zu bringen. Ein paar Tage noch, bis sie sicher waren, dass alle Casinos die aktuellen Listen besaßen und dann würde ihre Umtauschaktion starten. Eine Aufgabe, die wieder hauptsächlich Dina zukommen würde und die sichtlich Unbehagen bei ihr auslöste, denn würde etwas schieflaufen, wäre sie das Bauernopfer.

Die ersten Anzeichen, dass etwas nicht stimmte, ergaben sich bei ihrer gewöhnlichen Mittagsrunde. Red war unnatürlich guter Laune, was meist durch Vorfreude auf knochenbrecherischen Spaß hervorgerufen wurde. Sie hatten keine säumigen Zahler, von daher konnte nur ein auswärtiger Auftrag ihn in diesen Zustand versetzen. Diese Vermutung dämpfte Dinas übermäßiges Misstrauen etwas, denn ihre Vorsicht vor Red war eh kaum steigerbar. Eine permanente Bedrohung bedurfte einer ständigen Aufmerksamkeit und so gab sie sich ohne zusätzliche Bedenken den anstehenden Aufgaben hin.

Ihre Runde würde sie an alt bekannte Punkte bringen. Drei Casinos, zwei Clubs, zwei Restaurants und ein Zuhälter, der seine Angestellten mit einem lukrativen Nebengeschäft motivierte. Einzig der letzte Punkt auf ihrer Route sorgte für etwas Missfallen, denn das „Bayreuth“ war eines jener Hotels, die für diskrete Treffen aller Art standen. Dort passierten Dinge, die selbst jahrelange Erfahrungen auf der Straße, wie Kindergeburtstag wirken ließen. Mit einer dieser Vorahnungen, die einen überfallen, wenn eigentlich alles zu glatt gelaufen war und man auf das Unausweichliche wartet, das einen den Tag versauen wird, klopfte Dina an die Tür des Raumes 22 im „Bayreuth“ und wurde konfrontiert mit einem Kapitel ihres Lebens, welches sie Unmengen an Energie gekostet hatte, um es in die tiefsten Abgründe ihres Gedächtnisses zu vergraben.

Sie war sich sofort sicher, dass sie keinem Unbekanntem gegenüberstand, als das Gesicht hinter der geöffneten Tür erschien. Die feigen Gesichtszüge, der Schnurrbart, der als Aushängeschild für die Perversion stand, die die hagere Gestalt verkörperte, aber vor allen Dingen die Stimme, die einem unweigerlich klarmachte, das jeder in seiner Umgebung sich seinem Trieb unterzuordnen hatte, das alles kam in einer Flut von verschütteten Erinnerungen sofort wieder hoch. Die Angst, die Scham und nicht zu letzt der Ekel waren Begleiterscheinungen des ungewollten Rückfalls in verdrängt geglaubte Ereignisse aus dem Waisenhaus. Dieser Bastard hatte sie vergewaltigt und nun stand sie ihm gegenüber und sollte ihm Meth verkaufen. Zum ersten Mal hoffte sie, dass der Koch sich in seiner Rezeptur geirrt hatte und dieser Mistkerl in einem endlosen Höllentrip nicht zurückkommen würde aus einer Welt, in der er als Sexspielzeug von Dämonen diente. Die Realität sah leider anders aus.

„Na endlich. Du bist zu spät.“ Jedes Wort wirkte wie ein Peitschenhieb auf ihrer verletzten Seele. Sie hatte ihn sofort wiedererkannt, aber offenbar war sie aus seinen Erinnerungen verschwunden. Ein leichtes Wimmern drang aus der Tiefe des Raums. Ein Anzeichen dafür, dass er nicht allein war.

„Na los. Gib her.“ forderte er sie auf das Meth auszuhändigen. Dina rührte sich nicht. Noch hatte sie den Schock des unerwarteten Treffens nicht verdaut. Gefangen in einer Zeitschleife aus Erinnerungen war sie unfähig etwas zu erwidern.

„Was ist los mit dir? Bist du behindert?“ fragte er sichtlich verärgert. Dina schaffte es nicht ihn anzusehen. Das war auch nicht wichtig. Längst übergegangen in den Autopiloten, ergab sie sich den Abläufen, die sie nicht mehr kontrollieren konnte. Wie in Trance drückte sie sich an dieser widerlichen Gestalt vorbei ins Zimmer. Ihr Ziel war das Wimmern, was sie anzog wie einen Magneten. Als würde es das Programm bestimmen, was den Automatismus in ihr steuerte. Der Anblick dieses kleinen Mädchens, was weinend und verängstigt neben dem Nachttisch kauerte, versetzte Dina in einen Ausnahmezustand und ließ den Autopiloten an seine Grenzen stoßen. Ihr Inneres glich einem Chaos aus ängstlichen Erinnerungen, Mitleid, Hass, aber auch Entschlossenheit. Sie musste sich für eines davon entscheiden, denn nebeneinander würden diese widersprüchlichen Emotionen sie durchdrehen lassen. In einem Anflug von Mut ging sie weiter auf die Achtjährige zu und umarmte die zittrige kleine Gestalt. Willig ließ diese sich auf den Arm nehmen und als sie merkte, dass Dina keine Gefahr für sie war, umschlang sie sie so fest, als würden sie für alle Ewigkeit miteinander verwachsen bleiben.

„Hey. Was soll das?“ Die Hand auf ihrer Schulter brachte ihr die drohende Gefahr ins Bewusstsein zurück.

„Sie kommt mit mir.“ Sie bereute diese Worte sofort, denn damit vermittelte sie ihm, dass sie ihn wahrgenommen hatte. Er war es nicht wert, auch nur ein Wort an ihn zu verschwenden.

„Hast du dir so gedacht.“ war er sichtlich verblüfft. Sein Tonfall verriet Dina seine Absichten. Er war drauf und dran sie gewaltsam von ihrem Vorhaben abzubringen.

Der Nackenschlag war nicht besonders hart, verfehlte aber seine Wirkung nicht. Dina schaffte es noch auf dem Bett abzurollen, denn mit dem klammernden Mädchen hätten sich beide schwer verletzten können, wären sie auf dem dreckigen Hotelboden aufgeschlagen. Bevor sie irgendeine Gegenreaktion starten konnte, wurde ihr die Kleine entrissen. Nach ihr greifend bekam Dina den Ellbogen des Angreifers eher unabsichtlich ins Gesicht. Auch dieser Treffer war nicht besonders hart, zwang sie aber zu einer kurzen Pause, um den Schmerz zu verarbeiten. Gelegenheit für ihren Aggressor über sie zu kommen. Der hatte das Mädchen förmlich in die Ecke geschleudert, um sich zeitnah der aufdringlichen Lieferantin zu widmen. Ihre Arme festhaltend, saß er rücklings auf ihr und durchsuchte ihre Taschen.

„Was soll denn das Ganze? Ich will doch bloß das Meth. Verdammt noch mal, jetzt muss ich euch beide ruhigstellen.“ Er keuchte, solche Anstrengungen war er nicht gewohnt. Immer noch mit der linken Hand die Arme festhaltend, war er auf der Suche nach den kleinen Päckchen mit dem glitzernden Inhalt. Dina schaffte es bisher nicht sich seinem Griff zu entziehen. Erst die Bemerkung, das kleine Mädchen mit dem von ihr gelieferten Meth ruhig stellen zu wollen, gab ihr neue Kraft. Es reichte nicht für eine Befreiung.

Sie konnte nicht genau sehen was in ihrem Rücken passierte, aber scheinbar hatte die Achtjährige für eine Ablenkung gesorgt, die ihr die Möglichkeit gab den rechten Arm frei zu bekommen. Diesen kurzen Moment seiner Unaufmerksamkeit nutzte Dina, um nach der Nachttischlampe zu greifen und sie wild kopfüber zu schleudern. Das Klirren verriet ihr, dass sie was getroffen hatte und als der Griff an ihrem Arm nachließ wusste sie, dass ihr ungezielter Wurf ein Erfolg war. Sie schüttelte den auf ihr sitzenden, mittlerweile jammernden und blutenden Peiniger ab und atmete erstmal tief durch. Ihr Gegner hielt sich die Hände vors Gesicht und das rausquellende Blut gab ihr eine gewisse Genugtuung. Die Kleine stand weinend in der Ecke und als sie merkte, dass Dina wieder freigekommen war, stürzte sie umgehend auf sie zu. Erneut umklammerte sie Dina, als würde sie sie nie wieder loslassen wollen.

„Verdammt noch mal.“ brüllte der Verletzte. Ungläubig schaute er auf seine blutverschmierten Hände. Ein tiefer Schnitt zierte seine Stirn und schon allein die Tatsache, dass diese Narbe als lebenslanges Mahnmal bei jedem Blick in den Spiegel ihn an diesen Tag erinnern würde, gab Dina ein kleines Gefühl des Triumphes. Aber es war noch nicht vorbei.

„Jetzt reichts mir.“ Mit neuer Tatkraft steuerte er auf den einzigen Stuhl im Raum zu. Über der Lehne hing seine Jacke. Eine Waffe, schoss es Dina durch den Kopf. Mit ungeahnter Agilität sprang sie vom Bett auf. Ein Kunststück, denn der eiserne Griff der Kleinen gab keinen Millimeter nach. Den kleinen Körper auf die linke Seite verlagernd, griff sie nach den Resten der Nachttischlampe und stürzte auf ihn zu. Ihr Ziel hatte die Waffe bereits in der Hand und dem drohenden Angriff ausgesetzt, beschleunigte er seine Bewegungen. Ein Fehler, wie sich herausstellen sollte. Er riss den Arm nach oben und die Geschwindigkeit, mit der er seine Pistole in Position bringen wollte, wurde zu seinem Verhängnis. Das Blut an seiner Hand wirkte als Schmiermittel und so entglitt ihm die Waffe. Mit großen Augen sah er die Glaszacken der zerbrochenen Lampe auf sich zukommen. Diesen Ausdruck in seinem Gesicht würde sie nie vergessen und in der Gewissheit, dass jede einzelne Zelle sich ängstlich auf seinen Tod vorbereitete, ließ sie ihren Hass freien Lauf. Die Angst ihres Opfers und ihr eigener Hass versetzte sie für den Bruchteil einer Sekunde in einen nie da gewesenen Rausch. Keine Droge der Welt könnte dieses Gefühl simulieren. Genüsslich versenkte sie die Lampe in seinem Hals.   

Es gab kein dominierendes Gefühl nach der eigentlichen Tat. Nachdem wegrutschen seiner Waffe, hätte sie ihn nicht zwangsläufig töten müssen. So war Reue ein Teil des Gefühlspektrums, was auf sie einschlug. Da war aber auch Triumph, einhergehend der Rache Genugtuung verschafft zu haben. Seit sich diese Tür geöffnet hatte und die ganzen schlechten Erinnerungen sie überwältigten, war Vergeltung ein wesentlicher Bestandteil ihres Handelns geworden. Auch wenn sie diesem Antrieb ziemlich schnell nachgeben konnte, war es ein Vorgeschmack dessen, was ihr weiteres Leben bestimmen sollte. Die Angst vor sich selbst, denn eine gezielte Tötung hatte sie sich nie zugetraut, wurde ebenso ausgeblendet, wie das ungute Gefühl etwas Falsches getan zu haben. Der Emotion, der sie uneingeschränkt trauen konnte, war die Überzeugung ein junges Leben vor traumatischen Erlebnissen bewahrt zu haben. Gemeinsam weinend lagen sie sich in den Armen und teilten die Erleichterung über den entgangenen Schmerz. Diese Extremsituation hatte zwei Seelen zueinander geführt, die in alle Ewigkeiten verbunden bleiben würden. Leider hält auch die Ewigkeit nicht für immer.

Dieses ungeplante Ereignis brachte Dinas Zeitplan ordentlich durcheinander und stellte sie vor neue Herausforderungen für den Abend. Es war anzunehmen, dass die ganze Sache nicht unbemerkt blieb. Normalerweise war das „Bayreuth“ ein Ort, an dem sich niemand um die Geschehnisse einen Raum weiter kümmerte. Diese Regel war schwer zu vereinbaren mit Leichen, aber dummerweise war genau das das Ergebnis ihres Aufenthaltes in Raum 22. Sie versuchte zwar alle Fingerabdrücke zu beseitigen und nahm vorsichtshalber die Pistole an sich, konnte sich aber nicht sicher sein hundertprozentig alle Spuren verwischt zu haben. Zu zweit verließen sie das Hotel, was auch nicht unbemerkt blieb und weitere Fragen aufwarf. Diese Leiche würde ihr irgendwann zum Verhängnis werden, denn dieser Mistkerl war kein Penner von der Straße. Wenn sie Pech hatte, war er ein hoher Beamter und so wären sämtliche Polizisten der Stadt hinter ihr her.

Zu dem Zeitpunkt, als sie eigentlich im Labor von Cooper erwartet wurde, stand sie vor der Mission. Ned war nicht da, was sie in ein kurzes Gefühl von Bedauern versetzte. Gerade jetzt hätte sie seine Unterstützung gebraucht und seine stets vernünftigen Ratschläge hätten die Ereignisse vielleicht in eine andere Richtung lenken können. Sein Fehlen war nur ein Bruchstück dessen, was das fragile Gebäude, welches Dinas Leben darstellte, zum Einsturz bringen sollte. So übergab sie die Kleine der treuen Saya, die ohne große Nachfragen sich ihrer annahm, wie sie es vermutlich mit jeder verletzlichen Seele getan hätte. Der Abschied stellte sich als schwerer da, als erwartet. Wieder gab es Tränen und das untrennbare Band, was die beiden verband wurde schon eine Stunde nach seinem Entstehen auf eine harte Probe gestellt. Dina würde wiederkommen. Noch heute Abend, nachdem sie Cooper zu diesem Mark begleitet hatte, die hundert schwarzen Jetons abgesahnt waren und sie endlich die Geschehnisse des Tages verarbeitet hätte. Gemeinsam würden sie den Tag ausklingen lassen und dann würde sie mit Ned sprechen, der immer wusste, was zu tun war.

Mit einer Stunde Verspätung erreichte sie das Labor. Wie erwartet war Coopers Stimmung auf dem Tiefpunkt und er war drauf und dran Red nach ihr suchen zu lassen. Der wäre unweigerlich auf die Leiche im Hotel gestoßen, was für sie unangenehme Erklärungen zur Folge hätte. So reichten ein paar Ausreden, die zwar Coopers Laune nicht verbesserten, aber ihn wieder auf das Wesentliche fokussierten. Mit einem Personentransporter fuhren sie durch die Nacht von Eyak und hielten erst an der Gasse, die zu Marks Werkstatt führte. Der vertraute Gestank von diversen Körperflüssigkeiten war an diesem Abend kein Deut weniger, als die Nacht zuvor. Mit dem gleichen Ekel ging Dina die Gasse entlang, während Cooper an der Ecke auf ihre Rückkehr wartete. Diesmal gab es keine Penner, die im Müll wühlten, trotzdem wollte sich das Gefühl von Sicherheit nicht so richtig einstellen. Vorsichtig klopfte sie an der Eingangstür zur Werkstatt. Nach der üblichen Standpauke ihres Zuspätkommens, die sie nun den Abend schon zum wiederholten Male ertragen musste, führte ihr Mark die Ware vor. Wieder ein kurzes Nuscheln über ihre Brüste, dann zog sie ihr Indika und prüfte mindestens fünf Jetons. Noch zeigte der Bildschirm weiß an, was Mark nicht müde wurde in seiner eigenen Sprachweise zu betonen. Aber es ging nicht um die Wertigkeit, die würde sich mit der neuen Liste erledigen. Cooper hatte in seiner Paranoia die Befürchtung, nicht die Jetons zurückzubekommen, die er geliefert hatte, aber alles schien in Ordnung. Dina zwang sich die Sache zu beschleunigen, denn erstens wollte sie zurück zur Mission und zweitens gab es angenehmere Orte, als diese dreckige Werkstatt. Sie überreichte Mark zwei schwarze Jetons, die gewissenhaft geprüft und mit unverständlichen Kommentaren akzeptiert wurden. Danach war sie froh den fauligen Gestank der Gasse zu riechen und mit eiligen Schritten Richtung Lichter und wartendem Cooper zu gehen. Der versicherte sich selber über die Richtigkeit seiner gelieferten Jetons und machte sich zur Überraschung von Dina auf den Weg zurück in die Werkstatt. Zehn Minuten wartete sie auf seine Rückkehr und als sie in das zufriedene Gesicht blickte, war ihr klar, dass er sich auf seine eigene Art bei Mark bedankt hatte. Die Tatsache, dass er vier weitere schwarze Jetons bei sich trug, untermauerte die These des geplanten Ablebens und so war Dina gleich an zwei Tatorten in dieser Nacht.

Quer durch die Stadt ging es zurück ins Labor. Paradoxerweise wirkten die grellen Lichter des Casinos eher beruhigend auf Dina. Ein falsches Gefühl von Sicherheit, was gegenüber dunklen Seitenstraßen trügerisch wirkte. In Coopers Gesicht hatte sich das Grinsen eingebrannt. Für ihn lief es nach Plan. Die neuen Listen waren kurz vor der Veröffentlichung und spätestens in einer Woche gab es ein lukratives Zusatzgeschäft, was Cooper in Fantasien von unendlich viel Drogen, Frauen und Alkohol abtauchen ließ.

„Schätzchen, du bist ne Granate. Heute gibt’s das „purple rain“ und zwar auf meine Kosten.“ Dina hatte Cooper noch nie in so guter Laune gesehen. Sie standen vor der Eingangstür des Labors. Um diese Zeit waren weder Red noch der Koch anwesend, umso erstaunter war Cooper über das Licht, was nach dem öffnen der Tür aus dem Inneren kam.

„Scheiße, da stimmt was nicht.“ Cooper zog seine Waffe. Zu spät wie sich herausstellen sollte, denn aus dem Dunkeln traten zwei bewaffnete Gestalten auf sie zu und drängten sie in das Labor, in dem Red schon auf sie wartete.

Mit einer übertriebenen Gelassenheit empfing er die beiden. Das Pad in seiner Hand enthielt mit hoher Wahrscheinlichkeit einer dieser Comics, die er so gern las. Die einzige „Literatur“, die er seinem Geist gönnte, denn weder elektronische Bücher noch Zeitschriften interessierten ihn wirklich. Der anfänglichen Ignoranz folgte ein grausiges Lächeln, welches Dina nur zu gut zuordnen konnte als Vorfreude auf Gewalt gegenüber Unterlegenen. Die Erkenntnis ein Teil dieser Geschichten zu werden, die Red in gelegentlichen Redeanfällen von sich gab, versetzte sie in Angst. Was immer auch schief gegangen war an Coopers Plan, ihr stand in jeder Hinsicht ein rotes Finale bevor. Ein blutrotes.   

Kapitel 3

Dina sah ihrem Ende entgegen. Der Absprung aus dem entgleisenden Zug des Lebens kam zu spät. Ähnlich wie damals im Waisenhaus, würde ihr Zögern zum Verhängnis werden. Ein letztes Mal würde sie diesen Fehler begehen, denn hier stand am Ende der Tod. Gerade als sich ihr Dasein in eine vernünftige Richtung bewegen sollte, stürzte das fragile Kartenhaus zusammen. Einer allerletzten Karte hätte es zur Stabilisierung bedurft, aber der Stapel schien zu hoch. Nun saß sie da, gefesselt an den Stuhl und einem sadistischen, Comic lesenden Mistkerl hilflos ausgeliefert.

„Für das Kartell war es verdammt schwierig raus zu finden, wer denn da einen auf große Hose macht. Zum Glück sah es Mark als gesünder an deinen Fälscherplan nicht als sein Geheimnis zu behalten. Ich war ziemlich überrascht, als Frago auf mich zukam und gerade dich als den Drahtzieher ausmachte. Das du nicht besonders helle bist, war mir schon immer klar, aber sich mit der Unterwelt anzulegen, damit hab selbst ich nicht gerechnet.“ Er machte eine kurze Pause, um das Elend, was da an den Händen gefesselt vor ihm stand, zu begutachten. Coopers Tod war außerhalb dieser Wohnung geplant und so war ihm der Stuhl erspart geblieben.

„Frago hat natürlich ein paar Fragen an dich.“ Wieder zuckte Cooper zusammen, als er den Namen des Oberhauptes des Kartells hörte.

„Wenn wir genau wissen welche Scheiße hier ablief, kannst du dir denken was danach kommt. Deine Schlampe hat das Glück wenigstens ein Teil ihrer Schulden durch körperlichen Einsatz abarbeiten zu können. Das sichert ihr Überleben. Ich würde dich ja auch gern in einer dieser Homo-Puffs sehen, aber ich befürchte selbst die Schwuchteln nehmen nicht alles. Also überlegen wir uns was Kreatives für dein Ableben. Je kooperativer du bist, umso angenehmer wird dein Tod. Ich hoffe ja schon aus persönlichem Interesse, dass du dich ordentlich wehrst beim Verhör.“ Damit wurde Cooper abgeführt und nun stand Dina im Mittelpunkt des Geschehens.

„Wenn es dir ein Trost ist. Von all den Weibern, die dieser Junkie angeschleppt hatte, warst du eine wirkliche Abwechslung. Vielleicht gönne ich mir mal ein paar Jetons und besuche dich an deinem neuen Arbeitsplatz. Verstehe sowieso nicht, warum du nicht schon längst in der Branche dein Geld verdienst. Bei dem Körper sollten die dich überschütten mit Trinkgeldern.“ Red griff unter ihr Oberteil und streichelte ihre Taille.

„Leider keine Zeit für Spaß. Du bleibst vorerst hier. Wenn uns nicht gefällt, was diese wandelnde Meth-Apotheke von sich gibt, werden wir gezwungen sein auf dich zurückzugreifen. Alonso dort drüben wird ein Auge auf dich haben. Morgen Abend sehen wir uns wieder.“

Damit ließ er eine vollkommen verängstigte Dina zurück. Die Fesselung war nur ein Teil des Zahnrades ihrer Angst, welches unerbittlich vorangetrieben wurde. Die Kabelbinder zerschnitten die Haut ihrer Handgelenke, aber den Schmerz nahm sie nur als unangenehme Nebenerscheinung war. Das Gefühl absoluter Hilflosigkeit war die Basis ihrer Furcht und die war schon jenseits ihrer Vorstellungskraft. Dieser Typ, der keine zwei Meter vor ihr saß, sie angrinste und mit undefinierten Gesten zu verunsichern versuchte, war genauso Vorschub des Angstrades, wie die Androhung von Gewalt durch Red oder die Aussicht auf ein Ende im horizontalen Gewerbe zwischen Freiern und Zuhältern. In diesem Zustand hätte sie alles getan für den erlösenden Kopfschuss und nur eine Sache glimmte als kleines Leuchtfeuer in diesem Meer aus Angst. Ned, oder besser gesagt, die Liebe zu ihm. Erst in dieser Extremsituation, lernte sie die Zeit mit ihm richtig einzuordnen und die Reue, nicht mehr dieser erhabenen Momente in ihrem viel zu kurzen Dasein erlebt zu haben, erstickte dieses Fünkchen Zuversicht endgültig. Sollte diese Steigerungsrate der Furcht in diesem Tempo weitergehen, würde sie dem Wahnsinn verfallen.

Vielleicht war es eine Schutzfunktion des Gehirns oder es war das harte Training des Lebens, jedenfalls schaffte es Dina ihre Angst nach dem Abwehren einer Panikattacke zu kontrollieren. Sie zwang sich das rationale Denken wieder in den Vordergrund ihres Geistes zu schieben und so machte sich Ernüchterung breit, als gerade jenes rationale Denken die Ausweglosigkeit ihrer Situation darstellte. Sie würde vermisst werden von Ned, dass war ihr einziges Plus, aber das hatte dem negativen Übergewicht der Waage ihrer Chancenverteilung nichts entgegenzusetzen. Niemals hatte sie Ned im Detail ihr Leben dargelegt. Zu groß war die Furcht vor den Heldentaten ihres Liebsten im Schatten zu stehen. Sie hatte ihm nichts entgegenzusetzen und so blieb sie schwammig mit den Aussagen über ihren Broterwerb oder das Zusammenleben mit Cooper. Ned sollte niemals zu der Erkenntnis kommen, dass sie eigentlich nicht zusammenpassten und Millionen andere Frauen auf Eyak besser geeignet wären ihre Position einzunehmen.

Sie versuchte zu schlafen, aber die schmerzhaften Folgen ihrer Fesselung verhinderten eine Erholung. So konzentrierte sie sich auf die Drosselung ihrer Furcht und tatsächlich schaffte sie es die Angst auf ein Maß zu reduzieren, welches ihr vernünftiges Denken ermöglichte und trotzdem genug Adrenalin zur Verfügung stellte, um eventuelle Möglichkeiten einer Flucht zu nutzen. Sie hatte das Optimum ihrer misslichen Lage erreicht und nun lag es am Schicksal, ihr doch noch einen Abzweig ihres vorgefertigten Pfades zu ermöglichen.

Die Sonne war bereits wieder untergegangen und Dina schätzte, dass sie bereits mehr als achtzehn Stunden auf diesem Stuhl saß. Das mittlerweile ungewohnte Gefühl des Hungers machte sich in ihr breit und mehr als einmal war sie gezwungen, die üblichen Körperfunktionen nicht an gewohnter Stelle verrichten zu dürfen. Als Red sie dann endlich befreite und ihr die Möglichkeit gab frische Kleidung anzuziehen, fühlte sie sich für einen Moment nicht als Gefangene. Ein Luftschloss, was sofort wieder zerstört wurde.

„Du hast Glück. Unser Singvogel hat zu unserer vollsten Zufriedenheit geträllert. Also geht’s direkt ab zum Schuldenabbau für dich. Zieh dir was Schönes an, denn deine Einreiter gilt es zu beeindrucken.“ Red grinste in sich hinein und wieder berührte er ihre Taille, wanderte diesmal aber noch etwas tiefer zu ihrer rechten Pobacke. Dina schoss Nicoles Lebenslauf wieder in den Sinn. Trotz all der traumatischen Erlebnisse, hatte diese ziemlich offen über Drogen, perverse Freier und Jetonbeschaffung gesprochen. Nur bei dem gefügig machen für die Ware Sex, schwieg sie sich aus. Offenbar reichte selbst der Deckmantel der Drogen für dieses Trauma nicht aus.

Ihr neues „Zuhause“ war keine 400 Meter weit entfernt von Coopers Wohnung. Einer der etwas feineren Stripclubs auf der hell erleuchteten Flaniermeile. Bei einer ihrer abendlichen Zerstreuungen, hatte sie Raya kennen gelernt, die in einem ähnlichen Etablissement ihre Jetons als Animierdame verdiente. Daher wusste Dina was dort ablief. Während Raya auf kunstvoll gestalteten Bühnen das ausschließlich männliche Publikum förmlich aufheizte, waren weniger privilegierte Mädchen dafür vorgesehen den angestauten Testosteronspiegel zu senken. Wie aus einem Katalog, konnte sich die Kundschaft gegen ein gewisses Entgelt aus einer scheinbar unendlichen Vielfalt an Prostituierten genau die gerade auf der Bühne erzeugte Fantasie raussuchen. Ein lukratives Geschäft, denn nichts war zahlungswilliger als ihrem Trieb nachgebende Männer.

Da Dinas Tanz- wie auch Verführungskünste gegen Null tendierten, drohte ihr das Schicksal ein weiterer Posten des Katalogsangebotes zu werden. Für eine optimale Kundenzufriedenheit war das so genannte „Einreiten“ vorgesehen. Eine brutale Vergewaltigung, die das rebellische Gemüt von Dina abtöten soll. Zu genau diesem Zweck schleppte sie Red quer über Hauptstraße.

„Lass dir ja nichts Komisches einfallen.“ drohte Red ihr, als sie die hell erleuchtete Straße betraten. Ein drei Meter hohes Werbeschild verkündete Sondertarife eines Casinos beim Einsatz von mindestens fünf blauen Jetons, ein anderes zeigte einen roten Damenschuh, wieder ein anderes machte Werbung für die abendliche Vorstellung. Wie damals, als sie aus dem Waisenhaus floh, überforderten sie die Eindrücke aufs Neue. Sie würde sich nie an diese Vielzahl von Lichtern gewöhnen.

Zur Untermauerung seiner Drohung zeigte Red Dina seine geladene Pistole. Er hakte sich mit seinem linken Arm bei ihr unter und hielt die Waffe mit der rechten Hand auf sie gerichtet. Eisenhart war sein Griff und so schob er sie durch die feiernde Menge. Es war die letzte Möglichkeit für Dina ihrem Schicksal zu entkommen und sei es durch die Waffe von Red.

Sie kamen gut voran und jedes Mal, wenn einer dieser feiernden Minenarbeiter auf sie zukam, verstärkte Red seinen Griff und erstickte damit jegliche Hoffnung auf ein Entkommen.

„Ganz brav Süße. Wir haben es gleich geschafft.“ raunte Red in ihr Ohr. Tatsächlich war der Schriftzug des Clubs schon in Sichtweite. Zwischen ihnen und dem Ziel befand sich nur eine Gruppe Jugendlicher, die überschwänglich brüllten, geräuschvoll mit Bierflaschen anstießen und zeitweise Passanten anpöbelten. Als einer dieser Halbstarken das ungleiche Paar erblickte, richtete sich die Aufmerksamkeit auf Red.

„Gott bist du hässlich. Wie kommt denn ein Penner wie du zu so einer Granate.“ schrie der Anführer über den allgemeinen Lärm hinweg.

„Verpiss dich.“ zischte der zurück.

„Jungs. Hier brauch einer mal eine Lektion in gutes Benehmen.“ Wie eine Wand stellten sich sechs Halbstarke vor den beiden auf. Drohend standen sie da, bereit Red Anstand einzuprügeln. Bevor auch nur einer eine Aktion starten konnte, ging dieser in die Offensive. Mit einem Schlag auf die Brust brachte er die nächststehende Bedrohung zu Fall. Ein blonder Kerl mit vielleicht 60kg Körpergewicht kippte rücklings nach hinten. Bevor Red sich seinem nächsten Opfer widmen konnte, hatten ihn die anderen fünf eingekreist. Die zwei Mutigsten gingen Red an, was diesen Zwang seinen linken Arm frei zu machen. Die Gelegenheit nutzte Dina und zu ihrer Überraschung hielt sie keiner der Halbstarken auf, als sie mit großen Schritten in den Trubel der Menge rannte. Sie hörte noch das Brechen einer Nase und die Beschwerde des zerstörten Riechers, dass dies nicht Teil der Abmachung wäre, schenkte dem ganzen aber keine große Bedeutung. Für sie zählten nur die Freiheit und die Aussicht endlich in Neds Arme zu gleiten.

Ihr Ziel war nicht sofort die Mission. Sie musste erstmal ihre Gedanken ordnen. Sie hatte verdammt viel Glück gehabt, zu viel Glück. Die rational denkende Dina hielt ihr das vor, aber das Verlangen nach Neds Nähe und einem seiner wahnsinnig guten Küsse, ließ sie diesen Zufall als Teil ihres gemeinsamen glücklichen Schicksals wirken. Das Einzige, was sie ihrem eigenen Misstrauen zugestand, war den Weg zur Mission mit möglichst vielen Umwegen zu gehen. Warum sollte sie jemand verfolgen? Ihr fiel kein rationaler Grund dafür ein, also hakte sie die Zweifel an der geglückten Flucht unter Paranoia ab und freute sich auf Ned, Saya und die Kleine, deren Namen sie noch nicht einmal kannte.

Nach Betreten der Mission war es das kleine Mädchen, das zuerst auf sie zu rannte. Als hätte sie die letzten 24 Stunden damit verbracht im Speisesaal auf Dinas Rückkehr zu warten. Freudestrahlend fiel sie Dina um den Hals und ähnlich wie damals im Hotel, vermittelte ihr Griff, dass sie nicht gewillt war jemals wieder los zu lassen. Die genoss sichtlich die emotionale Wärme, zumal sie vor einer halben Stunde dem Abgrund aus Gewalt und Sex viel näher war, als dem jetzt erlebten. Dieses kleine Mädchen weckte Gefühle in ihr, die in solch extremen Gegensatz zu dem bisherigen Spektrum ihrer Emotionen stand, dass es ihr unmöglich war, die Achterbahn ihres seelischen Auf und Ab auf geraden Kurs zu bekommen. Vielleicht war dieses Extrem noch am ehesten vergleichbar mit der Liebe zu Ned, nur das Verlangen, Lust, aber auch mentale Stabilität fehlten, die nur er ihr geben konnte. Dafür weckte die Kleine Schutzinstinkte in ihr und das Verantwortungsgefühl für jemanden zu handeln, der nicht Dina hieß. Dies verwirrte sie, machte sie aber erwachsener, als alle Taten zuvor und zum ersten Mal hatte sie das Gefühl mit ihrer Errettung aus diesem Hotelzimmer auf einer Stufe mit Ned zu stehen.  

Dieser kam mit sorgenvollem Gesicht aus der Küche. Er wirkte so herrlich unperfekt, dass es Dina den Atem verschlug. Sie hatte immer Angst davor gehabt, dass seine Perfektion sich irgendwann als Illusion herausstellen würde und der wahre Ned ein Trugbild ihrer eigenen naiven Vorstellung der Liebe wäre, aber nun wusste sie, dass genau diese kleinen Dinge das ganz große Gefühl ausmachten. Sie wollte alles über ihn wissen, vor allen Dingen jene Sachen, die an seinem Heiligenschein kratzten und sie war bereit alles über sich zu offenbaren. War seine Liebe genauso groß wie ihre, würde er sie akzeptieren, mit all ihren Fehlern und mit ihrer dunklen Vergangenheit.

Die ruhige Ausstrahlung, die Ned normalerweise umgab, war vollkommen dahin. Er wirkte nervös, angespannt und vor allen Dingen besorgt. Er ging Dina entgegen und mit jedem Schritt nahm seine Erleichterung zu, als würde er den Ballast der Sorgen beim Laufen verlieren. Ein kurzes Zögern, bevor er sie umarmte und für alle drei war dieser Moment der Innbegriff des Lebens. Nichts in Vergangenheit oder Zukunft hatte diese Intensität von Liebe. Der Sinn ihres Daseins fokussierte sich auf diesen einen Augenblick und das sie ihn zu dritt teilen konnten, verstärkte diesen Effekt ins Unendliche.

„Versprich mir, dass du das nie wieder tust.“ Ned war den Tränen nahe.

„Ich kann es nicht Ned.“ Sie wollte ihn nicht belügen, verweigerte ihm damit aber auch den Halt. Sofort waren seine Sorgenfalten wieder da.

„Was hast du? Ich habe vierundzwanzig Stunden nichts von dir gehört. Ich war krank vor Sorge und nun…“ Er war unfähig den Satz zu Ende zu bringen.

„Verzeihe mir. Ich werde dir alles erzählen. Auch über sie. Ich habe schreckliche Dinge getan und wenn du mich für immer verstößt, nachdem ich dir alles erzählt habe, verstehe ich das. Ich kann mit meinen Geheimnissen nicht mehr leben. Ich brauche einen Neuanfang. Ich wünschte ich könnte alles bis zu diesem Augenblick löschen. Auf null setzen.“ Jetzt flossen bei Dina die Tränen.

„Nein. Kein Tabula Rasa. Egal was du getan hast, die Summe dieser Erfahrungen steht vor mir und ich will nichts Anderes. Das ist die Dina, in die mich verliebt habe. Habe keine Angst, ich werde dir helfen. Du kannst mir alles erzählen, aber das hat Zeit. Wir haben einen Gast, um den wir uns kümmern müssen.“

Dina schaute in die braunen Augen des kleinen Mädchens und sofort sprangen ihre Schutzinstinkte wieder an. Sie wirkte so zerbrechlich, so unschuldig und verängstigt. Sie erinnerte sich an ihre eigene Vergewaltigung und die Vorstellung, diese braunhaarige Unschuld in den Händen dieses Perversen zu sehen, versetzte ihr einen Schauer. Die Welt von Eyak war krank und fraß ihre eigenen Kinder, ob sie nun Dina, Nicole oder Kira hießen. Der Name der Kleinen, den sie erst in Anwesenheit von Dina offenbarte.

Nachdem emotionalen Feuerwerk, das Ned und Kira für sie entzündeten, meldeten sich die essentiellen Grundbedürfnisse zurück. Dina verschlang ein halbes dutzend einheimische Früchte, was ihr trotz der Resistenz eine ordentliche Magenverstimmung einbrachte. Nach einer Dusche und frischen Sachen fühlte sie sich erstmals wieder als Angehöriger der Gattung Mensch. Sie war nun bereit für ihre Beichte gegenüber Ned, aber Kira entfernte sich keinen Zentimeter von Dina, so dass ihr Gespräch erst nach dem Einschlafen der Kleinen stattfinden konnte. Selbst das Angebot der gutmütigen Saya wurde ausgeschlagen, zu sehr fühlte sich Kira an Dina gebunden. Da sie schon einmal für längere Zeit getrennt wurden, ging das Mädchen auf Nummer sicher und wich keinen Schritt mehr von Dinas Seite.

Es war ein unglaubliches Gefühl von Geborgenheit, was Dina erfuhr, als sie Kira ins Bett brachte. Gemeinsam lagen sie in einem der Krankenbetten. Die kleine Hand hielt ihren linken Zeigefinger, gedacht als Absicherung dafür, dass auch nach dem Einschlafen gewährleistet war, das Dina sie nicht allein ließ. Mit der rechten Hand blätterte Dina in einem Märchen, indem es um einen schrulligen alten Troll ging, der das Kind der Königin forderte, weil er ihr bei einer Zauberei geholfen hatte. Stroh zu Gold war der Trick und Dina erinnerte sich an die Worte Coopers, als er genau diesen Ausspruch als Metapher anwendete, um seine weißen Jetons in Schwarze umzuwandeln. Wie auch im Märchen ging die Sache für den Erpresser nicht gut aus. Was wohl aus Cooper geworden war? Vermutlich weilte er nicht mehr unter den Lebenden und Red hatte sich einen extra Spaß aus seiner Hinrichtung gemacht. In diese Gedanken versunken, glitt sie mit Kira an der Brust in erlösenden Schlaf über.

 

Er konnte ihn nicht leiden, diesen hochnäsigen, selbstverliebten Meth-Junkie. Eigentlich konnte er niemanden leiden, nicht mal sich selbst. Die Welt bestand aus Hass und der schloss seine eigene armselige Existenz nicht aus. Der Trick war einfach jeden in seiner Umgebung das Leben zu einer größeren Hölle zu machen, als seine eigene. Eine Lebensweisheit, die ihren Ursprung in seiner Kindheit hatte. Sein Vater war ein Meister darin und damit das ideale Anschauungsobjekt. Wenn dieser auftrat, hielt seine Umgebung den Atem an. Jeder hatte Angst vor ihm und der Respekt, als natürliche Folge dieser Angst, war für den kleinen Arthur ein lohnenswertes Lebensziel. Trotz Prügel, Demütigung und Entzug jeglicher Form von Vaterschaftsliebe, war es für Arthur der einzige Weg seine Zukunft sinnvoll zu gestalten. Er sah, wie sein Vater diese erzeugte Furcht in seiner Umgebung förmlich aufsog. Die Saat der Gewalt ging über in eine erfolgreiche Ernte aus Respekt und nährte seine Stärke. Arthur war Teil dieser Nahrungskette und in seinem Ehrgeiz begnügte er sich eines Tages nicht mehr damit seine regelmäßige Ration an ihn abzutreten. Er wollte an die Spitze und seinem Vorbild folgend, verdrängte er eines Tages den vermeintlichen König allen Übels. Die Genugtuung über die jahrelange Demütigung war nur kurz, als er sein Messer im Schädel seines Vaters versenkte. Viel mehr Zufriedenheit brachte ihm die Freude über die Zerstörung eines Lebens. Diese Zufriedenheit ging schnell über in Genuss, aber selbst in einer runtergekommenen Welt wie Eyak, konnte er diesem Spaß nicht uneingeschränkt frönen, zu Mal eine Leiche ihm das vorenthielt, was er für sein Geburtsrecht hielt. Ehrfurcht. Also beschränkte er seine Neigung auf das Brechen von Knochen. Schnell merkte er, dass die Mischung aus Schmerz und Unterwerfung ihn in einen Rausch versetzte, den selbst das reinste Meth nicht erzeugen konnte. Nicht das er es nicht probiert hätte, aber Drogen verwässerten mit ihrer künstlichen Euphorie die Natürlichkeit des Triumphes, wenn wimmernd vor ihm jemand um Gnade flehte. Täuschung war Schwäche und schwach sein wollte er nicht. So blieb es bei einem einmaligen Versuch von Meth, was in der Welt von Eyak als Spitze der Selbstbeherrschung galt.

Mit seinem Faible für Brutalität war Eyak das ideale Nährbecken. Schnell kam er in Kreise, die sein Talent zu würdigen wussten und seine Gier nach Anerkennung erfüllten. Eine unverwechselbare Karriere stand ihm bevor, doch zu seinem Unglück gab es zwei beschränkende Faktoren, die einen unaufhaltsamen Aufstieg in den Reihen der Kartelle verhinderten. Zum einen war da sein Name, der bieder und so gar nicht Furcht einflößend klang. Eine Lösung war schnell gefunden, da man Registrierungen eher an den Genen festmachte, als an Namen. Arthur geriet schnell in Vergessenheit und all die verbreitete Angst, die von der Anhäufung von Aminosäuren ausging, hatte nun die Bezeichnung Red. Kurz und prägnant stand dieser Name für seine Lieblingsfarbe, deren Ursprung unweigerlich im Aussehen von Blut lag und damit nicht unwesentlich in die Namensfindung einfloss. Der wesentlich schwerwiegendere Hinderungsgrund in die Belletage der Unterwelt aufzusteigen, lag in der Struktur der Kartellanordnung. Die Zersplitterung in einzelne Geschäftsbereiche machte es unmöglich die großen Ambitionen von Red zu verwirklichen. In seinen Comics gab es immer den Überschurken, der Gotham-City oder Metropolis im Würgegriff hatte. In Reds Augen das weitaus bessere Geschäftsmodell, als sich den Kuchen auf mehrere Anführer aufzuteilen. Eine Vision, die er mit God teilte und die sie gemeinsam umsetzen wollten. Der Versuch ging gründlich schief und trotz des scheinbar unsterblichen Namens, brachte eine gemeinsame Aktion der Kartellführer God den Tod. Red als Handlanger überlebte den Umsturzversuch schwer verletzt und die Narben in seinem Gesicht, dienten als Abschreckung für weitere Gods, die versuchen würden die Kartelle unter ihre gemeinsame Führung stellen zu wollen. Die Demütigung, als Mahnmal gescheiterer Putschversuche sein Dasein zu fristen, nagte von da an jede Minute in ihm und es verging kein Tag, an dem er nicht Pläne ersann, um seine Zukunft wieder in die für ihn angebrachte Richtung zu lenken. Vorerst war er abgeschoben zu diesem Cooper. Offiziell sollte er dessen Geschäfte unterstützen und ihn überwachen bei der Produktion des „purple rain“, aber eigentlich wollte man ihn nur von wichtigeren Dingen des Drogenkartells fernhalten. Einen Vorteil hatte dieser Posten allerdings. Es gab eine Unzahl an Gelegenheiten seinem Schmerzverbreitungstrieb nachzugehen, denn die Vielfalt an zahlungsunwilligen Kunden schien nicht abzureißen und so konnte er dem Übel seiner Abschiebung etwas Gutes abgewinnen.

Das dieses Miststück anders war, als ihre Vorgängerinnen war Red vom ersten Moment an klar gewesen. Cooper hatte sie wie üblich im belebten Zentrum aufgegabelt, nach dem Red die Schlampe, die üblicherweise die Botengänge machte, im „Titties“ „untergebracht“ hatte. Frauen hatten für ihn nur einen Zweck. Die totale Unterwerfung dem stärkeren Geschlecht und nur die Tatsache, dass sie ebenfalls reden konnten, machte sie nicht zwangsläufig gleichberechtigt. Es war immer nur eine Frage des Aufwandes, bis man sich eine Frau dahingehend erzogen hatte, dass sie dem von ihm entsprechenden Weltbild entsprach. So wie er diese schlecht gefärbte Blondine einschätzte, würde es hier auf eine Sonderschicht hinauslaufen. Die rebellische Art war ihr deutlich anzusehen und das lodernde Feuer in ihr bedurfte dringend einer Löschung. Er hoffte, dass sich die Gelegenheit ergeben würde sie zu bändigen, denn je größer die Herausforderung war, umso gewaltiger würde sich der Triumph darstellen.

Die neue Mannschaft rund um ihren florierenden Drogenhandel funktionierte von Beginn an fast reibungslos. Als Kurier machte die Neue eine gute Arbeit und dass trotz der perversen Orte, die sie gleich als Einstieg aufgedrückt bekam. Eine gewisse Intelligenz war ihr nicht abzusprechen, einzig ihre Jugend ließ sie manchmal naiv wirken. Im Vergleich zu ihren Vorgängerinnen hatte sie die Art von Cleverness, die sie aus brenzligen Situationen halbwegs schadfrei herausbrachte. Sie hatte ein Gespür dafür, wann es notwendig war eine Drohung gegenüber ihren Kunden anzubringen oder es besser wäre die ganze Sache Red zu überlassen. Die Anzahl der säumigen Zahler verringerte sich unter ihren Botengängen um Einiges und zum Leidwesen von Red, beschränkte es damit auch seine Arbeit. Für eine Frau hatte dieses dunkelblonde Weib ungeahnt viel Grips, was ihr durch ihn erhöhte Aufmerksamkeit einbrachte.

Mit ihrem beginnenden Konsum von Drogen, schien sich alles wieder in die vorgegebenen Gesetzmäßigkeiten zu fügen. Ein paar Wochen, dann wäre sie so abhängig, dass ihre Cleverness durch das Meth komplett abgetötet würde. Dann entspräche sie dem Standard eines Meth-Junkies. Red kannte diese Geschichten zu Genüge. Es begann immer mit dem normalen „Chrystal“ und die Frequenz des Konsums erhöhte sich irgendwann in unbefriedigendes Verlangen. Das war der Zeitpunkt, wo stärkere Substanzen notwendig wurden und am Ende verschiedener Stufen von Meth stand das „purple rain“. Die Edelvariante überstieg das Gehalt der Botin um ein Vielfaches und spätestens da waren zusätzliche Einnahmen nötig. Bei Frauen endete das immer in Prostitution und da unter den Freiern die Anzahl der Ehrenmänner überschaubar war, endeten viele Geschäfte mit Ärger. Ärger, der auch dem Rotlicht-Kartell irgendwann auffiel und da diese keinerlei Konkurrenz duldeten, beanspruchen sie die Angestellte für ihre eigenen Zwecke. An diesem Tag würde Cooper losziehen, um den Kreislauf mit Frischfleisch aus dem Zentrum am Leben zu erhalten.

Die Tage gingen dahin und für Red schien Cooper sein unweigerliches Schicksal. Jeder Versuch dem Traum von uneingeschränkter Macht näher zu kommen, entpuppte sich als Fehlschlag. Dementsprechend stieg sein Frust, den selbst eine Gewaltorgie am unwilligsten Schuldner nicht beseitigen konnte. In diesen Momenten, wo sein selbst auferlegter Anspruch von uneingeschränktem Respekt seiner Umgebung in unerreichbare Ferne zu schwinden droht, muss er seine eh schon niedrigen Toleranzen in Sachen Gewalt vollends auflösen. Das Verlangen über Leben und Tod zu entscheiden, drängt sich dann unweigerlich in sein Bewusstsein. Seine innere Bestie reißt an der Kette, die sie normalerweise davon abhält wahllos zu töten. Wie ein nach Fleisch verlangendes Raubtier, muss er ihr ein Opfer bringen, damit diese Kette nicht unkontrolliert reißt. Wenn er in dieser Stimmung ist, hilft nur Rob. Eine Gestalt, dessen Kontakte so zwielichtig sind wie sein Auftreten. Genau das Richtige, um den Tötungshunger in Red zu befriedigen. Nicht zum ersten Mal muss eine dieser für Meth alles tuenden Strichmädchen in einem gnadenlosen Ritual ihr Leben lassen. In Aussicht auf besonders viel Geld wird sie dann zu Red gelotst, der sich brutal an ihr vergeht und im Höhepunkt seines sadistischen Schaffens erwürgt. Je näher sein Abgang und der letzte Hauch seines Opfers beieinanderlagen, umso befriedigter ist sein inneres Untier. Der Blick in die Augen eines Sterbenden verleiht ihm die Macht, die ihm die Realität vorenthält. Das Meth eines Sadisten und wie alle Drogen verlangt es ständigen Nachschub. Nachschub, dem ihm Rob jederzeit bieten kann.

Endlich wieder ausgeglichen, bemerkte er die Veränderung an Coopers Meth vertickender Schlampe. Sie war auf Entzug. Die Schweißausbrüche und das Zittern waren zuverlässige Anzeichen. Im Nebel seines angestauten Frustes konnte er die Anzeichen nicht eindeutig zuordnen, aber jetzt, wo er wieder klar denken konnte, war es deutlich erkennbar. Schon die ganze Woche war sie in diesem Zustand und Cooper blieb das nur verborgen, weil er sich die ganze Zeit mit wichtigeren Dingen beschäftigte. Sie trafen ihn nur am Abend und die Neugierde über seine geheimen Nebengeschäfte ließen den Entzug schnell in den Hintergrund treten. Irgendwas war im Gange und vielleicht ergaben sich neue Möglichkeiten Pluspunkte beim Kartell zu sammeln. Das Gefühl, das sich die Dinge wieder zu seinen Gunsten entwickeln würden, versetzte ihn zusätzlich in gute Laune.

Mit gespielter Gleichgültigkeit beobachtete er das Verhalten von Cooper. Es war nicht immer einfach Abweichungen von seinem üblichen Alltag zu erkennen, aber die Geheimniskrämerei, mit der er sein neues Projekt abschirmte, war unübersehbar. Natürlich gab es Geschäfte, die ohne Reds Wissen abliefen, aber das war Kleinkram, der meist darauf abzielte eine gewisse Diskretion seiner Kundschaft zu wahren. Das, was hier ablief, war schon vom zeitlichen Umfang größer, als alles bisher Geschehene. So verstärkte er seine Aufmerksamkeit gegenüber Cooper und merkte sofort, dass mittlerweile auch die immer mehr auf besseres Aussehen bedachte Methlieferantin eingeweiht wurde. Sie hatte sich wirklich zu ihren Gunsten verbessert. Nicht nur die Optik wurde ansprechender, auch ihr rebellisches Wesen erwachte zu neuen Höhen. Unglaublich, dass Cooper es nicht bemerkte. Was immer ihn auch ablenkte, es machte ihn blind gegenüber Veränderungen in seiner Umgebung.

Die Nervosität der Beiden stieg mit jedem Tag. Sie versuchten zwar alles, um einen routinierten Tagesablauf vorzutäuschen, aber in Kleinigkeiten verrieten sie sich dann doch. Nichts, was einem Ahnungslosen aufgefallen wäre, aber die gespielte Gleichgültigkeit von Red war perfekt, so dass er sie in trügerische Sicherheit wiegte. Durch einen Zufall erfuhr er von einer Anfrage durch Cooper an verschiedene Leute, ob sie denn in der Lage wären aus weißem Plastikbesteck Schwarzes zu machen. Ein scheinbar sinnloser Baustein seines geheimen Plans, aber der einzig greifbare Anhaltspunkt seiner Geheimniskrämerei.   

Der wirkliche Zweck der geplanten Farbveränderung wurde Red durch einen „Künstler“ mit dem Namen Mark zugetragen. Ein Säufer, der ein Geschick für filigrane Veredelung aufwies. In Aussicht auf zusätzliche bunte Jetons verriet er den Besuch von Coopers Laufmädchen an Red und dieser erfuhr nun den wahren Grund für die scheinbar sinnlose Änderung des Plastikbestecks. Pure Geldfälscherei steckte dahinter und die Dimensionen dieses Vorhabens bestätigten Red in seiner Meinung über den naiven Cooper. Wildern im Revier des ansässigen Kartells, nur dass Cooper nicht ein paar Fleischbrocken mitgehen ließ, sondern ganze Tierherden erlegte. Unausweichlich würde dieser dreiste Versuch auffliegen, wenn nicht durch Red, dann durch jemand Anderen, der in der Lage war, den offensichtlich schlampig getarnten Brotkrumen zu folgen. Die Freude über das bevorstehende Ende als Lakai dieses Meth-Junkies, zauberte Red ein Lächeln ins Gesicht bei ihrer üblichen Mittagsrunde. Er hatte bereits Kontakt mit Frago aufgenommen und dieser zeigte sich erstmals weniger herablassend gegenüber dem Verstoßenen, was Red dazu veranlasste in Fantasien über eine bessere Zukunft in den Reihen des Kartells zu verfallen. Noch war es nicht soweit und er musste sich zusammenreißen, denn nicht Cooper war das Problem, sondern das nüchternde Anhängsel, was sich anschickte ihre eigenen Pläne zu verfolgen. Wie immer die auch aussahen? Sie waren nicht annähernd so offensichtlich, wie Coopers plumper Versuch als Trittbrettfahrer des Kartells. Der hatte den wunden Punkt der GI entdeckt. Ein kleiner, Mitleid erregender Beamter, der durch seine perversen Neigungen gegen die Regeln seines Arbeitgebers verstieß. Eine lukrative Einnahmequelle für Frago, der die Kuh vorsichtig melkte und nicht gleich wie Cooper das Schlachtbeil schwang. Ein ausgeklügelter Plan brachte Frago mit jeder neuen Liste ein kleines Vermögen ein, ohne das die GI davon Wind bekam. Ein fragiles Finanzgebilde, welches jede kleine Störung zum Einsturz bringen würde. So war Cooper zum Kartellfeind Nummer 1 aufgestiegen und die Tatsache, dass Red ihm das in seiner unvergleichlichen Praktik demnächst klarmachen würde, versetzte diesen in ungeahnte Vorfreude.

Die Anweisungen kamen gegen Abend. Frago hatte es Red überlassen, wie er die Sache anging. Wichtig war nur, dass Cooper noch an diesem Tag flehend um sein Leben bettelte. Die Auswertung der täglichen Geschäfte stand unmittelbar bevor und so hatte Red sie beide praktisch auf dem Serviertablett. Zwei Schläger aus Fragos Gefolge sollten ihn dabei unterstützen, die eigentlich banale Festsetzung von zwei unfähigen Missgeburten durchzuziehen. Gemeinsam würden sie den Junkie abliefern, vielleicht ein wenig Spaß mit der Schlampe haben und am nächsten Tag würde Frago ihm einen neuen Posten im inneren Kreis des Kartells anbieten. Das Leben nahm endlich seinen vorgeschriebenen Verlauf. Nur er selber konnte seinen Plan noch verhindern und zu seiner eigenen Überraschung änderte er dann tatsächlich die Ereignisse in eine Richtung, die er später selbst nicht mehr kontrollieren konnte.

Es war die Verspätung der Botin, die ihn seinen ursprünglichen Plan überdenken ließ. Total überdreht, gelang es ihr diesmal so gar nicht ihre Aufregung zu überspielen. Cooper in seinem Rausch bemerkte es nicht, aber irgendwas war passiert, dass sie nicht ausschließlich durch die zukünftigen Ereignisse unruhig war. Mittlerweile kannte er sie gut genug. Die Verspätung hatte eine unangenehme Ursache und als er Blut auf ihrer Kleidung wahrnahm, entschied er aus einer Eingebung heraus, die Dinge noch ein wenig laufen zu lassen. Es gab keinen rationalen Grund dafür. Hier und jetzt sollte er diesen Junkie konfrontieren mit seinem Verrat, ihm vielleicht die Nase brechen und ihn blutend Frago vor die Füße werfen. Doch er tat es nicht, denn sein Spieltrieb gewann die Oberhand. Ein kleiner Mann in seinem Geist, der immer dann den Hammer schwang, wenn weiterer Schmerz am Horizont zu erwarten war. Dieses blonde Miststück hatte ein Geheimnis und es würde vermutlich mehr Spaß machen dahinter zu steigen, wenn er dieses in vermeintlicher Sicherheit gedeihen ließ. In Vorfreude auf Genusssteigerung, ließ er sie abziehen, nicht ohne die Beobachtung von einem seiner Leute. Er wusste, dass sich Coopers Vermögen in seinem Safe in diesem Labor befand, von daher war eine schnelle Flucht ohne diese Jetons unwahrscheinlich. Niemals würde er es zurücklassen und so war sich Red sicher, dass Cooper nach vollbrachtem Coup hier wiederauftauchen würde. Mit dem Beweis in seinen verängstigten Händen, gäbe es keine Ausflüchte mehr.

Sein geänderter Plan ging auf. Voller Freude sein Dasein als Befehlsempfänger dieses Junkies endlich zu beenden, führte er den gefesselten Cooper in Fragos Reich. Ein Strip-Club, wie es ihn vermutlich tausendfach auf Eyak gab. Ein standesgemäßes Hauptquartier für Fragos Geschäfte. In einem herunter gekommenen Büro empfing sie ein gut genährter Endfünfziger, dessen Ausstrahlung nicht vergleichbar war mit dem brutalen Ruf, dem die Stadt ihm verpasst hatte. Der füllige Leibesumfang, der den Sessel verstopfte, zog jegliche Gewaltandrohung ins Lächerliche. Erst der Blick in die Gesichter seiner Begleiter verbreitete die Angst, die jeden noch so Hartgesottenen weich werden ließ. Auch Red bekam diese Prozedur schon zu spüren, damals als er God in den Umsturzversuch folgte. Ein vernünftig wirkender Frago war nur die Vorstufe für die Brutalitäten, die die beiden Gestalten im Hintergrund planten. Es war unwichtig, ob Cooper sofort zu singen begann oder in einem Anfall von Mut sich zierte mit seinen Machenschaften rauszurücken. Die beiden Schläger bekamen auf jeden Fall die Gelegenheit ihre Talente anzuwenden, auch wenn der Zweck schon längst hinfällig geworden war. Eine Art Belohnung für die Loyalität gegenüber Frago.

„Soso. Ich hörte du hast deine Geschäfte ein wenig ausgeweitet.“ begann Frago in ungeahnt zivilisierten Tonfall.

„Lass mich das erklären.“ Coopers Stimme war ungewohnt unterwürfig. Schon allein deswegen stellte sich ein Triumphgefühl bei Red ein. Ihn so wimmern zu sehen, steigerte seine gute Laune.

„Dafür haben wir noch Zeit genug. Was ich dich zu aller erst fragen will ist Folgendes. Glaubst du wirklich so ein jämmerliches Stück Scheiße wie du kann solche Geschäfte durchziehen, ohne dass das Kartell etwas davon mitbekommt?“ Frago erntete nur verlegendes Schweigen.

„Du bist nicht der Erste, der das probiert. Hat es dir denn gar nichts gebracht, dass ich dir dieses Narbengesicht als abschreckendes Beispiel jeden Tag zur Seite gestellt habe? Hat dir das „purple rain“ so sehr den Verstand vernebelt, dass du glaubtest mich ficken zu können?“ Frago quälte sich aus dem viel zu engen Sessel und ging jetzt rüber zu Red.

„Zu was bist du gut, wenn selbst solche Penner keine Angst mehr vor dem haben, was ihnen blüht. Sein Vergehen ist dein Versagen. Vielleicht helfen ja noch ein paar Narben mehr oder ich schneide dir die Nase ab, steche dir ein Auge aus. Was auch immer?“ Red schluckte an Hand dieser Worte. Langsam machte sich die Erkenntnis breit, dass keinerlei Beförderung in Aussicht stand. Ganz im Gegenteil. Er war immer noch auf Bewährung und so wie sich die Sache darstellte, würde dieser Zustand ein Leben lang andauern. Der missratende Umsturz in seinem Lebenslauf erstickte jegliche Ambitionen auf Eyak.

„Aber du bist heute nicht das Thema. Lasst uns allein.“ Frago wandte sich wieder an Cooper, der sein Wimmern weiter verstärkte. Obwohl ihm noch kein nennenswerter Schmerz zugefügt wurde, war diese jämmerliche Gestalt an Elend kaum zu überbieten.

Red verließ das schäbige Zimmer und setzte sich an die Bar. Kein Triumph mehr, nur Resignation über sein unwiderrufliches Schicksal. Er war der Gnade der Kartelle ausgeliefert und sobald die ihren Spaß an ihm verloren, würden sie sich seiner entledigen. In diesem dreckigen Hinterzimmer wurde ihm sein Platz in der Gesellschaft von Eyak aufgezeigt. Sie hatten ihn nicht nur als Mahnmal für potentielle Nachahmer am Leben gelassen. Nein. Sie wollten ihn demütigen. Ein Kampfhund, der sein Leben an der Leine verbringt, höchstens mal losgelassen zum Vergnügen seiner Herren und dann, wenn er nicht den gewünschten Spaß verbreitete, wie angedroht weiter verstümmelt und verachtet wird. Red musste eine Entscheidung für sein weiteres Leben treffen, denn sein Anspruch hinkte der Wirklichkeit um Lichtjahre hinterher. Vorerst sah er keine Alternative. Vielleicht ergab sich im Vollrausch eine Idee und sollte der nicht helfen, würde er Rob kontaktieren, sich eine blonde Nutte von der Straße bestellen und sich seine Zufriedenheit erzwingen.

Der Alkohol steigerte seine Wut, aber ein geeignetes Ventil bot sich nicht an. Die Bar war um diese Zeit brechend voll, trotzdem mied ihn jeder Gast, zu sehr eilte ihm sein Ruf als Schläger voraus. So blieb ihm nichts Anderes übrig, als bis zur Bewusstlosigkeit zu trinken. Ein Zustand, den es normalerweise zu vermeiden galt, denn zu viele Feinde gab es, die gerne diesen Moment der Schwäche in Form von Prügel an ihm ausleben würden. Nicht nur auf Grund seiner Frustration verlor er seine Vorsicht, auch die Tatsache, dass er innerhalb des Clubs vor Ärger sicher war, ließ ihn hemmungslos zulangen. Vollkommen betrunken war er keine Gefahr mehr für seine Umgebung und schließlich trug man ihn zum Ausnüchtern in eines der schäbigen Hinterzimmer. Am Mittag des nächsten Tages kam er zu sich und wollte eigentlich da weitermachen, wo ihn die physischen Grenzen seines Körpers am Abend zuvor unterbrachen. In dem Moment, wo er den ersten Schluck Hochprozentigen bestellen wollte, wurde er angesprochen.

„Kann ich Ihnen ein Getränk ausgeben? Sie sehen aus, als könnten Sie einen „ordentlichen“ Gebrannten vertragen.“ kam eine eindeutig männliche Stimme von links. Auf Eyak war das Brennen von Alkohol ein einträgliches Geschäft, aber durch die vielen unsauberen Destillen konnte man sich schnell die verschiedensten gesundheitlichen Probleme holen. Ein „ordentlich“ gebrannter dagegen war speziell geprüft und zertifiziert. Den Preis für solch ein Getränk überstieg den Wert des herkömmlichen Fusels um ein Vielfaches und war daher nur der gehobenen Schicht von Eyak vorbehalten.

„Verpiss dich.“ raunte Red zurück. Das ihn überhaupt jemand ansprach, war schon unwirklich. Das ihm auch noch jemand ein edles Getränk ausgeben wollte, verstärkte seine Abneigung. Wahrscheinlich jemand auf der Suche nach dem schnellen Sex, mit besonders perverser Neigung für entstellte Stricher. Red wollte ihm gerade klarmachen, dass die Verwechslung schnell in einem Nasenbeinbruch enden könnte, als ihm wortlos ein Pad vor die Nase gehalten wurde. Das Foto auf dem Bildschirm zeigte die zukünftige „Mitarbeiterin des Monats“ in Fragos Amüsierbetrieb. Offenbar wurde sie bei einem von Coopers Botengänge gefilmt.

„Ich suche sie.“ sagte der Unbekannte nach einer kurzen Pause. Erst jetzt viel Reds Blick vorbei am Pad zur Figur des Störenden. Eindeutig niemand von der Straße, zu gut war sein Kleidungsstil. Die spärlich verbliebenen Haare wirkten gepflegt und die Hände mit samt den Nägeln waren sauber. Vor ihm stand jemand, der sein Geld nicht mit körperlicher Arbeit verdiente. Ein Polizist schätzte Red. Keine andere Spezies auf Eyak würde sich ihm in dieser selbstsicheren Art und Weise nähern. Nach einem abwertenden Blick, wandte er sich wieder dem wartenden Barkeeper zu. 

„Ich nehme was „Ordentliches“. Unser Freund und Helfer hier drüben bezahlt.“ gab er seine Bestellung auf.

„Schön. Kommen wir zu meinem Anliegen.“ sein Gönner war ungeduldig. Red gaffte ihn ungeniert an.

„Sehe ich aus wie ein Zuhälter? Wenn es unbedingt so was sein muss, die haben hier bestimmt was Ähnliches im Angebot.“ Sein Gegenüber war kein gewöhnlicher Streifenpolizist. Alles an ihm schrie nach höherer Beamtenebene. Die steife Haltung, seine Ausdrucksweise und vor allen Dingen die Überzeugung, dass alles nach seinen Vorstellungen zu laufen hatte.

„Mein Name ist Andrin. Ich bin leitender Kommissar der Mordkommission hier in Eyak.“ stellte sich der Fremde vor.

„Ich verkneife mir das salutieren.“ antwortete Red gelangweilt. Ein gutes Schauspiel, denn mittlerweile war seine Neugierde geweckt.

„Ich bin nicht in offizieller Mission hier, sondern brauche Ihre Fähigkeiten als Privatperson.“ behielt er seine steife Art zu reden bei.

„Unsere Unterhaltung wird hier bestimmt von tausend Augen beobachtet. Jedes weitere Wort verstärkt unseren Ärger mit dem Hausbesitzer. Geschissen auf die Privatperson. Ich helfe keinen Bullen. Bin doch nicht lebensmüde.“ Obwohl Red vor Neugierde fast platzte, siegte sein Überlebenswille. Schon jetzt musste er sich vermutlich rechtfertigen, dass er überhaupt drei Worte mit Andrin gesprochen hatte. Dieser wandte sich überraschenderweise an den Barkeeper und ignorierte Red vorerst.

„Ich würde gern Herrn Frago sprechen.“ das kam so steif rüber das Red unbeabsichtigt prusten musste. Die Antwort des Barkeepers versetzte ihn in ungläubiges Staunen.

„Einen Moment bitte.“ erwiderte dieser und tippte auf dem Monitor vor sich. Nach einem kurzen Moment drehte er den Bildschirm in Richtung des Polizisten und nun konnte Red das Gesicht von Frago vor sich sehen.

„Herr Kommissar. Ich hoffe Sie genießen die Annehmlichkeiten unserer Einrichtung. Ich würde Ihnen ja gerne etwas ausgeben, aber Sie wissen ja, dass kann man mir als Bestechlichkeit auslegen. Wir wollen doch beide keinen unnötigen Ärger.“ begrüßte Frago den Polizisten überschwänglich. Nur der letzte Satz hatte eine unüberhörbare Drohung.

„Ich versichere Ihnen, ich will keinen unnötigen Ärger. Was ich brauche, sind die Dienste einer ihrer Männer. Es bestehen gewisse Vorbehalte, aber ich bin sicher sie können seine Zweifel zerstreuen.“ Damit drehte er den Bildschirm zu Red. Mit kurzen knappen Worten wurde dieser regelrecht verdonnert Andrin zu helfen. Eine weitere empfundene Demütigung.

„Sind Sie jetzt bereit zu kooperieren?“ fragte Andrin, nachdem Frago sich wieder verabschiedet hatte.

„Schätze ich habe keine andere Wahl. Dem Haufen Jetons, den Frago für euch regelmäßig ausscheißt, kann ich wohl nichts entgegensetzen. Was hat die Schlampe angestellt?“ fragte Red ohne wirklich eine Antwort zu erwarten. Ein weiteres Bild auf dem Pad wurde ihm unter die Nase gehalten. Eine blutige Leiche.

„Das war sie? Respekt.“ Den hatte er wirklich. Die Bereitschaft zu töten, war ein Zeichen von Stärke und steigerte das Ansehen bei Red um Einiges.

„Es geht hier nicht um die Frau und schon gar nicht um die Leiche.“ Bei dem letzten Wort war ein kurzes Schütteln von Andrin zu erkennen.

„Das nenne ich wahre Trauer für den Verblichenen. Wessen Liebhaber er auch immer gewesen war, jemand bekommt da wohl kalte Füße. Ein leitender Kommissar für diese Kleinigkeit. Ach ja. Ich vergas. Privatperson.“ Eine gewisse Verachtung war nicht zu überhören.

„Diese Angelegenheit muss mit einer gewissen Diskretion bearbeitet werden.“ Andrin war nicht gewillt mehr Informationen zu verraten.

„Diskretion ist auch mir wichtig und hat natürlich einen gewissen Preis. Ich kann liefern, nur hat sie einen doppelten Wert. Neben der Bezahlung von meinen diskreten Fähigkeiten, will auch Frago seinen Anteil, denn sie ist sein Eigentum.“ Die Aussicht auf leicht verdiente Jetons milderte seine Frustration.

„Ich sagte ja bereits, dass es nicht um diese Frau geht. Frago kann mit ihr machen, was er für angebracht hält. Wirklich wichtig ist dieses kleine Mädchen.“ Zum dritten Mal wurde Red ein Bild gezeigt.

„Erst, wenn wir sie haben, ist der Fall für uns abgeschlossen.“ Andrin wirkte noch steifer.

„Uns? Ich bin mir sicher, es gab schon oft Fälle, die auf diese Art und Weise abgeschlossen wurden, aber ein kleines Mädchen? Da reicht wohl der Tötungswille eines leitenden Kommissars nicht aus. Das wird wohl meine Aufgabe. Wenn ich mir die Geschichte richtig zusammenreime, wird das für die Kleine eine Erlösung, bei der kranken Scheiße, die sie durch den perversen Liebhaber eines hohen Tiers ertragen musste.“ Red provozierte mit seinen Aussagen gleich auf mehrfache Weise und hatte zum Leidwesen von Andrin auch noch Erfolg.

„Bruder. Kein Liebhaber.“ rutschte es ihm wütend heraus.

„Mein Fehler. Hey, ich verurteile Niemanden. Wir haben doch alle unsere Laster.“ grinste Red, mit der Gewissheit ihn aus der Reserve gelockt zu haben.

„Sie denken zu viel. Das kann ein böses Ende nehmen.“ Andrin hatte sich noch nicht endgültig beruhigt.

„Keine Drohung. Da haben schon mutigere korrupte Scheißhaufen sich die Zähne ausgebissen.“ drohte Red zurück.

„Diese Frau weiß, wo sich das gesuchte Mädchen befindet. Sie müssen sie beobachten, das Mädchen aufspüren und am Ende den Fall abschließen.“ Andrin verwendete jetzt seine eigene Kreation für den unausweichlichen Tod der einzigen Zeugin. Dieser Red hatte Recht. Er hatte nicht den Mumm ein Kind zu töten, schon gar nicht eins, was durch den Drecksack von Bruder des Polizeipräsidenten missbraucht wurde. Immer wieder hatte der seinen Trieben nachgegeben und immer wieder musste Andrin die Nachwirkungen seiner Handlungen korrigieren. Das Alles tat er für die Möglichkeit eines Nachrutschens auf den Posten des Polizeipräsidenten, wenn der jetzige Inhaber höhere politische Ämter angetreten hatte. Dieser pädophile Mistkerl würde nicht nur seinem Bruder das Amt kosten, sondern auch die Karriere von Andrin beenden. Ein letztes Mal musste er den Scherbenhaufen beseitigen, den diese widerwärtigen Gelüste hinterlassen hatten. Nie wieder würden Kinder unter seinen Karriereplänen leiden müssen. Endlich konnte er diese Perversionen verdrängen, ohne Gefahr zu laufen, erneut diesem kranken Mistkerl helfen zu müssen.

„Meine Dienste haben ihren Preis.“ Red hatte seine eigenen Vorstellungen für eine angemessene Bezahlung. Die Summe wurde gleich mit dem ersten Angebot von Andrin deutlich überboten und so kam eine Übereinkunft zügig zu Stande. Jetzt galt es nur noch den Aufenthaltsort der Kleinen ausfindig zu machen.

Red saß wieder alleine an der Bar und überlegte seine Möglichkeiten. Zum einen gab es da die bewährte Methode einfach in das Labor zu gehen und sie windelweich zu prügeln. Noch nie hatte diese Art der Informationsgewinnung versagt, zu ausgefeilt waren Reds Mittel der Überzeugung. Alles eine Frage der angewendeten Brutalität. So, wie er sein Opfer einschätzte, waren eher außergewöhnliche Maßnahmen notwendig. Eine schöne Herausforderung, das rebellische Gemüt zu zerstören. Vor seinem geistigen Auge malte er sich schon die verschiedenen Versuche aus, musste aber feststellen, dass jeglicher Spaß die Weiterverwertung als Amüsierdame unmöglich machte. Erneut stellte sich Frust ein, den er nun mit dem gewöhnlichen Fusel ertränken musste. Kurz überlegte er, ob es einen triftigen Grund gab, dass Frago auf die Dienste der Blondine auf Grund von Verstümmelungen verzichten konnte, entschied dann aber seiner eigenen Gesundheit zu Liebe, dieses Risiko nicht einzugehen. Ein anderer Plan musste her, auch wenn der weniger seinen Vorstellungen entsprach.

Andrin hatte ihm ein Pad mit Informationen überlassen, so dass er wenigstens ein Teil der Geschehnisse rekonstruieren konnte. Offenbar hatte Coopers Laufmädchen ihr Gewissen entdeckt und dem Bruder von irgendeinem hohen Tier ordentlich den Spaß verdorben. Mehrere Fotos zeigten sie gemeinsam beim Verlassen des Hotels. Damit erklärte sich auch die Verspätung im Labor, die Red damals misstrauisch werden ließ. In dieser halben Stunde hatte sie die Kleine irgendwo untergebracht. Die Vielzahl an Möglichkeiten ließen keine genauen Rückschlüsse zu. Wieder machte sich Frust breit und wieder überlegte er kurz auf seine zuverlässigen Talente der Informationsgewinnung zurückzugreifen. Da kam ihm die rettende Idee.

Er bezahlte sein Getränk und verließ die Bar. Es war früher Nachmittag und die Straßen waren zu dieser Zeit nicht vollends überlaufen. Die Sonne schien grell vom Himmel und die sonst so aufdringlich wirkenden Leuchtreklamen verblassten anhand des hellen Lichtes. Für Red war das die unwirklichste Zeit des Tages, denn die Fassade von uneingeschränktem Vergnügen wich dem tristen Alltag. Reinigungskolonnen säuberten mühselig die Straßen, Kinder spielten auf den Gehwegen und die Anzahl der Nüchternen überstieg die der Betrunkenen um ein Vielfaches. Dieses Eyak war bieder und spießig und zum Glück endete dieser Zustand spätestens mit dem Sonnenuntergang. Dann wurden die Straßen wieder von den rechtmäßigen Herrschern bevölkert. Leute seines Kalibers, die in unendlicher Gnade den Sklaven die Stadt tagsüber überlassen haben, um sie von Unrat und Müll beseitigen zu dürfen. Zielsicher steuerte er auf einen der Elektroläden in einer der Seitengassen zu, dessen Schaufenster mit Schrott jeglicher Art verstopft waren. Der Inhaber hatte ein gut gehendes Geschäft und selbst die regelmäßigen Schutzgelderhöhungen der Kartelle verhinderten kein angenehmes Leben. Schon allein diese Tatsache, ließ den Besitzer eine Sonderstellung auf Reds übervollen Feindseligkeitsliste einnehmen. Mit der gebührenden Herablassung kaufte er einen Peilsender und kombinierte diesen mit einer anästhetischen Nadel. Nicht größer als eine Stecknadel war das ganze Gebilde. Der einfachere Teil seines Plans war geschafft.

Die biedere nachmittägliche Klientel auf den Straßen war vollkommen ungeeignet für den zweiten Teil seines Vorhabens, also betrat er wieder Fragos Club und als er hörte, dass Cooper sämtliche schändliche Details seiner Falschgeldunternehmungen gestanden hatte, gönnte er sich ein weiteren „ordentlich“ Gebrannten. Frago würde ihm eine neue Aufgabe zuweisen und trotz der Demütigung, die er am letzten Abend über sich ergehen lassen musste, war er zuversichtlich, mehr als das Kindermädchen eines Methhändlers zu werden. Er trank genau soviel, dass sein Geist klar blieb und als die Sonne endlich unterging, fand er die notwendigen Vorraussetzungen für die Umsetzung seines Plans.

Eine gewisse Aufregung war nicht zu leugnen. Sollte der Plan schiefgehen, würde seine eigene Lebenserwartung drastisch fallen. Red musste sich unbedingt beruhigen, denn eine gute Täuschung war wesentlicher Bestandteil seines Vorhabens. Mit Hilfe von Alkohol erreichte er genau die Gelassenheit, die als Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Umsetzung notwendig war. So betrat er wieder das Labor und stellte sich vor die nach Urin stinkende Gestalt, die so dumm war, sich auf den Idioten von Cooper einzulassen. Er gestattete ihr sich umzuziehen und als sie dann halbwegs zivilisiert wieder vor ihm stand, platzierte er seinen Peilsender an ihrer rechten Pobacke. Eine Erregung war eigentlich nicht geplant, aber die aufziehenden Bilder von Sex und Strangulation ließen sich nur schwer ignorieren. Der Drang ihr zu zeigen, dass sie nur eine Majornette in seinem sadistischen Spiel war und das er über ihr Wohl und Übel entscheiden würde, konnte nur mit zusätzlicher Selbstbeherrschung unterdrückt werden. Er war sich sicher, dass er in naher Zukunft seine Überlegenheit ihr gegenüber vollends präsentieren würde. Noch war die Erniedrigung nicht auf ihrem Tiefpunkt. Erst, wenn er ihr das Mädchen entrissen hatte und sie danach in Fragos Dienstleistungsgesellschaft übergangen war, erst dann würde Red einen grünen Jeton investieren, um sie in ihrem neuen Gewerbe zu testen. Dann wäre der perfekte Zeitpunkt für die vollständige Demütigung. Geduld war nie einer seiner Tugenden, aber er hat gelernt das Ungeduld zum Scheitern führte, gerade in so einem heiklen Unterfangen wie diesem.

Wie geplant griff ihn die vorher engagierte Truppe an. Die Zweifel, ob der Überfall authentisch genug inszeniert wurde, zerstreute Red mit dem glaubwürdigen Brechen einer Nase. Der Plan ging auf und als er auf sein Ortungsgerät schaute, sah er wie der Punkt auf dem Display durch die Gassen hetzte. Erst nach Norden, um dann auf der Hauptstrasse wieder südwärts zu laufen. Scheinbar ziellos bewegte sich der Punkt durch die Stadt. Eine Stunde lang verfolgte Red das Treiben auf dem Bildschirm. Zum Stillstand kam die Verfolgte erst an einem Punkt, den Red gut kannte. Er hatte befürchtet, dass die Kleine an einem Ort untergekommen wäre, an dem vielleicht ein nicht so wohl gesonnenes konkurrierendes Kartell die Vorherrschaft hätte, aber das, was er sah, ließ ihn frohlocken. Eine Mission voller verweichlichter Angestellter stellte kein nennenswertes Problem da. Zwei Unterstützer mit ähnlich niedriger Toleranzschwelle gegenüber Gewalt würden reichen, um den Auftrag von Andrin zu erledigen. In Vorfreude auf ein Maximum an Brutalität, gepaart mit einem Minimum an Aufwand, kontaktierte er Andrin und zu viert machten sie sich auf den Weg zur Mission.

Es war bereits weit nach Mitternacht, als sie in die Gasse einbogen, die an Dreck und Unrat in nichts den anderen Abzweigungen der Hauptstraße nachstand. Als würde das Heer an Straßenreinigern den Müll einfach nur in die nicht sichtbaren Bereiche der Stadt schieben. Red wusste, dass es nicht so war, denn der Müll von Eyak war bares Geld und nur die Aufteilung der Stadt auf die verschiedenen Kartelle verhinderte die Maximierung des Profites. Alba war der Name jenes Kartelloberhauptes, der über eine Recyclinganlage und eine Müllverbrennungsanlage verfügte. Der fast ausschließlich organisch anfallende Müll lieferte ein Teil des Stromes für all die blinkenden Lichter dieser Stadt. In komplizierten Abkommen beschränkten die anderen Kartelle Albas Beschaffung an Brennstoff, denn der Status Quo durfte durch erhöhten Profit aus Müll nicht gefährdet werden. So ergab sich dieses traurige Bild aus Dreck in den Gassen und nur mit Zustimmung aller Kartelle konnte diese Vereinbarung geändert werden. Erneut trauerte Red der gescheiterten Vereinigung aller Kartelle nach.

Der Angriffsplan war an Einfachheit nicht zu übertreffen. Die Eingangstür hatte bereits bessere Zeiten gesehen und stellte kein nennenswertes Hindernis da. Mit einem Sturmlauf würden sie die spärlich besetzte Mission einrennen. Jeder hatte zwei Pistolen, die nur zum Einsatz kämen, wenn jemand in einem Anfall von Mut Widerstand leisten würde, aber niemand rechnete wirklich damit, denn Waffen waren an solchen Orten verpönt. Raum für Raum würden sie durchgehen und die gesuchten Personen mitnehmen. Red hatte sich schon einen Platz für das Unausweichliche ausgesucht. Keine hundert Meter Entfernung lagen zwischen hier und dem Ort, an dem die Kleine das Zeitliche segnen würde. Alles schien so einfach.

„Ich habe einen Plan der Mission besorgt.“ Andrins Pad leuchtete karg in der Dunkelheit. Der Bildschirm zeigte einen großen Saal, an dessen Ende sich verschiedene Räume befanden. Red glich seine Ortung mit dem Plan ab.

„Der Raum muss es sein. Ich könnte wetten da finden wir auch die Kleine. Werden beide friedlich schlafen. Sollte einfach werden.“ Red klang gelassen.

„Mir macht der Hinterausgang Sorgen.“ warf Andrin ein.

„Deswegen müssen wir schnell sein. Wir machen die Sache zu dritt. Amateure kann ich nicht gebrauchen.“ Damit war Andrin zum zuschauen verdammt.

„Ihre Entscheidung.“ war sein einziger Kommentar.

„Kann dann hinterher keiner den leitenden Kommissar wiedererkennen.“ frozelte Red.   

„Ganz einfach. Wir rennen quer durch. Einer bleibt an dieser Ecke stehen und sichert damit den Saal und den Gang. Wir zwei Anderen holen uns die beiden, bevor die überhaupt mitbekommen was los ist.“ Red tippte mit seinem Zeigefinger auf den ruhenden Punkt seiner Ortung.

„Süße. Jetzt bist du fällig.“ flüsterte er noch und trat mit voller Wucht gegen das Schloss der Eingangstür. Gleich im ersten Versuch sprang sie krachend auf. Ohne ein weiteres Wort stürmten die drei Gestalten in den Speisesaal.

Sie hielten nur den Bruchteil einer Sekunde inne. Gerade soviel Zeit, um eventuelle Hindernisse zwischen ihnen und den Räumlichkeiten auszumachen. Da war nichts, also rannten sie in Richtung Räumlichkeiten. Keine zehn Sekunden brauchten sie für die Durchquerung des Saals. Wie geplant blieb einer von Reds Gehilfen am Anfang des Ganges stehen. Bisher hatten sie niemanden getroffen, aber nun war die Zeit, wo unweigerlich jemand aus den Räumen kommen musste, um dem Krach im Saal nachzugehen. Nichts. Red schaute wieder auf die Ortung. Der Punkt hat sich keinen Millimeter bewegt.

„Vorwärts.“ trieb er seinen Partner an. Gemeinsam kamen sie vor der Tür zum Stehen. Diesmal wollte sich sein Gehilfe an dem Schloss gewaltsam vergehen.

„Warte.“ hielt ihn Red zurück und betätigte die Klinke. Er stieß die Tür auf und starrte ins Dunkle. Tastend suchte er den Lichtschalter und als er ihn endlich fand, war er überrascht über das, was die Lampe beleuchtete.

„Hier ist niemand.“ schlussfolgerte sein Partner. Ein Bett stand mittig an der Wand gegenüber. Die zerwühlten Laken ließen auf kürzliche Benutzung schließen. Red durchwühlte die Kissen und fand das, was er nicht finden wollte. Den Peilsender.

„Verdammt.“ Wütend schmiss er den Sender gegen die Wand. Kurze Hoffnung kam in ihm auf, als er unter das Bett schaute, aber auch da war niemand. Wieder griff er in die noch warmen Laken und fand den ersehnten Funken Hoffnung.

„Du heißblütiges Miststück kannst noch nicht weit sein. Los suchen wir alles ab.“ Ein Schuss unterband ihren Tatendrang für den Moment. Ihre eigene Bewaffnung bestand aus Relikten grauer Vorzeit, dessen Wartung und Munitionsnachschub sich im Dauerzustand des Mangels als relativ unproblematisch darstellte. Keine präzise geräuschlose Waffe mit magnetischem Antrieb, also war die Wahrscheinlichkeit hoch, dass ihr Wachposten im Speisesaal den Schuss abgab.

„Verdammt, wieso schießt dieser Idiot?“ Red war jetzt wütend. Seine Wut wurde verstärkt durch ein Wimmern im Speisesaal. Er wollte auf den Flur, als ein Geräusch ihn zurückhielt. Zuerst konnte er es durch das Gewimmer nicht richtig zuordnen, zu unscheinbar war es. Adrenalin setzte ein und bevor es ihm wirklich bewusstwurde, erkannte sein Instinkt die Gefahr. Dieses „Plopp“ war tödlich und gehörte nicht zu einer ihrer Waffen. Sie saßen in der Falle.     

Vorsichtig riskierte Red einen Blick den Flur entlang. Ted oder Tod, trotz der Kürze hatte er Probleme sich den Namen seines Handlangers zu merken, war nicht mehr auf seinem Posten. Wer immer ihn auch dazu brachte die Position zu ändern, er war mit Sicherheit bewaffnet. Ein Umstand, der den schmalen Flur zu einer Todesfalle werden ließ. Es gab keinerlei Deckung für die paar Meter zum Speisesaal und so wirkte die vermeintliche Einfachheit seines Plans vom Stürmen der Mission, im Nachhinein doppelt so naiv.

„Was nun?“ fragte ihn sein Begleiter.

„Wir gehen raus auf den Flur und schießen auf alles, was so dämlich ist vor unsere Flinte zu rennen.“ Red zeigte keinerlei Angst. Etwas, womit er bei seinem Partner nicht rechnen durfte.

„Und Tom?“ schob dieser den Dritten ihres Sturmtrupps als Zweifel an Reds Plan vor.

„Ist vermutlich schon tot.“ entgegnete Red trocken und schob den Zweifler auf den Flur, um ihm kurz darauf zu folgen. An die jeweilige Wand gepresst, machten sie sich so schmal wie möglich, um eine geringe Angriffsfläche für heranfliegende Projektile zu bieten. Nichts passierte und die beiden gönnten sich einen extra tiefen Atemzug zur Entspannung. Im Saal war mittlerweile das Licht gelöscht worden, so dass Red keine zwei Meter weit hineinschauen konnte.

„Na klasse.“ bestätigte sein Partner die lebensgefährliche Situation. Während sie im hell beleuchtenden Gang versuchten sich so klein wie möglich zu machen, konnte ihr Gegner in der Dunkelheit des Saales beruhigt Maß nehmen. Sie würden das Unheil nicht mal kommen sehen.

„Vorwärts.“ trieb Red sie an, denn zu ihrem Glück lauerte da niemand im Dunkeln. Nur wenige Sekunden und sie waren am Ende des Ganges. Immer noch war nichts im Saal zu erkennen. Die Stille war nicht vollkommen. Etwas raschelte rechts von ihnen. Vorsichtig tastete Red nach dem Lichtschalter, aber es war unmöglich ihn zu erreichen, ohne einen Teil der Deckung aufzugeben. Verdammt. Wie konnte er nur so blöd sein und allein auf das Überraschungsmoment setzen? Er hatte sie unterschätzt und nun saß er ordentlich in der Scheiße. Dieses Miststück stellte sich als größere Herausforderung da, als ihm lieb war.

Kapitel 4

Saß sie an dem Tisch? Dina war sich nicht sicher. Eigentlich war es unmöglich, war der Tisch, der unweigerlich für ihre Drogenexzesse stand, doch furchtbar weit weg von ihr. Vielleicht doch, denn diese Gestalt auf dem Stuhl, mit ihren kunstvoll gebundenen Haaren kam ihr sehr vertraut vor. Die Bewegungen, die Stimme und der routinierte Umgang mit Cooper, der ebenfalls am Tisch saß. Es war verwirrend. Sie beobachte ihr eigenes Handeln, unfähig auch nur den geringsten Einfluss zu nehmen. Eine fliegende Kamera, einzig und allein dafür da, ihr Leben aufzuzeichnen. Träumte sie? Nein, denn war man sich des Traumes bewusst, würde man unweigerlich aufwachen. War sie tot? Schon wahrscheinlicher. Hieß es nicht, das ganze Leben würde an einem vorbei ziehen im Augenblick des Todes? Aber warum dann gerade nur diese langweilige Episode? Als würde man ihre Bedenken ernst nehmen, änderte sich die Einstellung. Die Zuschauerin Dina hatte nicht mal die Gewalt über die Kamera. Egal wie das weitere Programm aussah, es gab keine Möglichkeit den Sender zu wechseln oder abzuschalten. Sie schwebte jetzt über dem Tisch. Eigentlich unmöglich nicht aufzufallen, aber weder die handelnde Dina noch Cooper registrierten die Schwindel erregende Änderung der Perspektive. Ein bedrückendes Gefühl beschlich sie, als sie sich selber ins Gesicht schaute. Keinen Meter entfernt war sie sich jetzt selbst. Ein naives junges Mädchen, das an Coopers Lippen hing. „Nein.“ brüllte sie sich selbst an. Kein Ton war zu vernehmen.

„Traue ihm nicht. Er ist dein Verderben.“ versuchte sie es erneut ohne Erfolg. Nur ein verehrendes Lächeln huschte über das schöne Gesicht.

„Trink das.“ hörte sie Cooper in ihrem Rücken und mit Schrecken sah sie sich selber mit Freude einen Becher Gift hinter schütten. Sofort verfiel ihr Gesicht in Falten. Red erschien wie aus dem Nichts und hielt ihr ebenfalls ein Getränk hin. Wieder gab es kein Zögern von ihrem fleischlichen Ich und wieder verfiel ihr Gesicht umgehend. Die Perspektive änderte sich erneut. Von oben herab, sah sie sich einen Becher nach dem andern leeren. Unmengen von Leuten standen Schlange, nur um ihr Gift eimerweise zu servieren. Brenda aus dem Waisenhaus, ihr Chef im Casino, der Koch aus dem Labor und natürlich ihr Schänder, der mit einer offenen Fleischwunde am Hals ihr eine extra große Portion bereitstellte. Jedes Mal trank sie freudig und jedes Mal verfiel ihr Körper um eine weitere Stufe. Ihre Gäste zerrten an ihr und bedienten sich ihrer Körperteile. Mit Schrecken war sie gezwungen sich ihrem eigenen Verfall zu stellen. Am Ende saß eine kahle und zahnlose Dina mit nur noch einem Arm auf dem Stuhl. Erst jetzt bemerkte diese ihren Zustand und das naive glückliche Lächeln war verschwunden. Die Gesellschaft zog ab mit ihrer Beute und nur noch eine Person stand neben dem einarmigen Geschöpf. Ned. Leuchtend und Respekt einflößend stand er neben ihr und musterte das Elend. Hilfe suchend, versuchte sie mit ihrem verbliebenen Arm ihn zu erreichen, aber er stieß sie weg. Immer wieder schob er die nach ihm greifende Dina weg. Jetzt war sie nicht mehr Zuschauerin. Sie spürte jeden einzelnen Schlag und in der Verzweiflung, dass nichts Ned umstimmen könnte ihr zu helfen, erwachte sie endlich aus ihrem Albtraum.

Kira erlöste sie ungewollt aus ihrem Martyrium. Dina war nicht die Einzige, die traumatische Erlebnisse in ihrem Unterbewusstsein verarbeiten musste. Offenbar hatten sich die Höhepunkte ihrer Albträume synchronisiert, denn auch Kira strampelte gerade schlafend wild um sich und trat sie an verschiedenen Stellen am Körper.

„Psst. Ist ja gut.“ versuchte sich Dina als Trösterin.

„Nana.“ kam es zärtlich zurück und obwohl Dina wusste, dass sie nicht die eigentliche Empfängerin der Zuneigung war, genoss sie es. Langsam kamen beide aus ihren persönlichen Albträumen in die nicht weniger schreckliche Realität zurück.

„Wir müssen dir unbedingt die Zehennägel schneiden.“ hauchte Dina vorsichtig, als sie merkte das einer von Kiras Tritten ihr eine leichte Kratzwunde an der rechten Pobacke einbrachte.     

„Ich werde mir ein Pflaster holen.“ sagte sie, als sie das Blut an ihrer Hand sah, dass unweigerlich aus der Wunde quoll.

„Hast du Hunger? Wollen wir nachschauen, ob Saya noch was Leckeres in der Küche hat?“ fragte sie Kira, als sie den ängstlichen Blick sah, über die erneute Trennung der beiden. Der freudige Gesichtsausdruck auf Kiras Gesicht ersetzte die Antwort.

Gemeinsam betraten sie das Behandlungszimmer. Dina war erstaunt über die Tiefe der Wunde. Als hätte Kira mit ihren Tritten etwas heraus gerissen. Sie maß der ganzen Sache keine große Bedeutung bei, zu sehr war sie geblendet von der süßen Ungeduld von Kira. Sie mochte die Kleine mehr als sie sich selber eingestehen wollte. Ein Spiegelbild der verwaisten Dina, die in diesem Alter in den Kreislauf aus Einsamkeit und Verzweiflung geraten war. Auch wenn es ihr nicht so wirklich bewusst war, ihr Unterbewusstsein wollte Kira dieses Schicksal ersparen.

Nach der Verarztung ging es voller Vorfreude in die Küche. Es gab einen Kühlschrank, von dem keiner wusste wie viele hundert Jahre er schon vor sich hin rostete. Das abgegriffene Äußere verschleierte den Inhalt aus süßen Leckereien von den verschiedensten Planeten der Galaxis. Es war Dina ein Rätsel, wie Saya an Pfirsiche oder Himbeeren kam, denn die galten auf Eyak als purer Luxus. Gerüchte über einen heimlichen Verehrer aus der Raumfahrerzunft machten die Runde, aber dahin gehend hatte sich die sonst so redselige Saya nie aus der Reserve locken lassen. Sie machten sich gerade gemeinsam über ein Stück Pfirsichkuchen her, als Ned zu ihnen in die Küche kam. Die Pistole in seiner Hand, erschreckte die beiden kurz.

„Zum Teufel. Was macht ihr denn hier?“ fragte er erleichtert keinen Einbrecher vor sich zu haben.

„Wir stehlen Sayas Pfirsichkuchen. Bitte erschieß uns nicht.“ erwiderte Dina gut gelaunt. Wenn er den Raum betrat verwandelte sie sich in einen anderen Menschen. Als könne er mit seiner bloßen Anwesenheit die ganzen schlechten Empfindungen vertreiben.

„Wo hast du denn die Waffe her? Macht dich anziehend.“ Sie begutachtete die Pistole. Ein wertvolles Stück, soweit reichte ihre Ahnung von Waffen.

„Auch für mich gab es ein Leben vor dieser Mission und dummerweise glauben immer noch Leute, es gäbe hier was zu holen.“ rechtfertigte er seine Bewaffnung. In diesem Moment erschütterte ein Knall den großen Speisesaal, als bedurfte es eines weiteren Beweises der ausgesprochenen Worte.

„Was war das?“ fragte die kleine Kira schüchtern. Ned war blitzschnell an der Küchentür und löschte das Licht.

„Einbrecher?“ fragte Dina.

„So wie die vorgehen, sind das eher Räuber.“ Er sah drei Gestalten durch den Speisesaal stürmen.

„Was immer die wollen. Auf abgelaufene Medikamente sind die nicht aus.“

„Die sind hinter mir her.“ Dinas Gedanken überschlugen sich. Sie war entkommen, aber die Einfachheit ihrer Flucht hatte sie bisher vollkommen ausgeblendet. Warum sollten sie sie laufen lassen? Wegen Kira. Das war der einzige vernünftige Grund. Dina ging zu Ned an die Küchentür.

„Sie ist der Grund.“ flüsterte sie leise in sein Ohr.

„Wir müssen uns wirklich unterhalten.“ erwiderte er unter Spannung. Dinas Albtraum spülte wieder an die Oberfläche, als Sinnbild für das unausweichliche Gespräch über die Sünden und Verfehlungen der letzten Jahre. Würde er sie weg stoßen? Ned riss sie aus den Gedanken.

„Ich schieß euch den Weg frei. Wenn ich es sage, rennt ihr Richtung Ausgang.“ Ned wirkte wenig aufgeregt. Was immer auch seine Vergangenheit war, solche Krisensituationen versetzten ihn nicht in Panik. Eine weitere Politur für Dinas erschaffenen Heiligenschein.

„Los.“ Ned schob die Tür auf und fing sofort an zu feuern. Das „Plopp“ war praktisch nicht zu hören, zu viele Umgebungsgeräusche überlagerten die Schüsse.

Dina hatte Kira bereits auf dem Arm und rannte los. Während sie durch die Tür stürmte, leistete sie sich den Luxus die Umgebung in Augenschein zu nehmen. Den Weg zum Eingangsportal hatte sie so oft zurückgelegt, dass sie ihn auch mit erhöhter Geschwindigkeit, praktisch blind meistern würde. Eine Person nahm sie wahr, die am Zugang zu den Unterkünften gerade in Deckung ging. Das bestätigte ihre Vermutung, dass nicht Medikamente oder Nahrungsmittel der Grund für den Überfall waren, sondern das Interesse an Personen bestand. Da außer ihnen nur noch ein gebrechlicher alter Mann sich in den Zimmern befand, war die Absicht eindeutig zuzuordnen.

Auf der Hälfte ihres Fluchtweges vernahm sie den lauten Knall einer abgefeuerten Waffe. Ned, ging es ihr durch den Kopf. Sie schossen auf Ned. Wie falsch sie damit lag, zeigte der Einschlag eines Projektils in einem Stuhl vor ihr. Die Kraft des Aufschlages pulverisierte förmlich seine Holzlehne und wie sie die Splitter vor sich fliegen sah, konnte sie nicht anders, als in die Richtung des Schützen zu schauen. Der nahm sich gerade mehr Zeit für einen gezielten Schuss und als Dina noch überlegte, welches Ausweichmanöver denn die gezielte Hinrichtung noch verhindern könnte, nahm sie den Einschlag am Oberarm des vermeintlichen Henkers wahr. Wimmernd ließ der die Waffe fallen und die Entscheidung zurück in die Deckung des Ganges zu flüchten, kam für ihn einen Moment zu spät. Der Einschlag der nächsten Kugel erfolgte in der rechten Hälfte seines Schädels und mit einem letzten Seufzer fiel er vorn über in den Saal. Ned hatte ihn erledigt.

Voller Adrenalin stand sie am Ausgang und schaute zurück zur Küche. Ned stand in der Tür und machte eine ausladende Bewegung, die ihr bedeuten sollte endlich zu verschwinden. Das Letzte, was sie von ihm sah, war das Hämmern auf den Lichtschalter, so dass der Saal in tiefe Dunkelheit getaucht wurde. Sie wünschte sich so sehr, dass er ihr folgen würde, aber er war nicht der Typ Mensch, der etwas aufgeben würde. Der Schuss in der Mission würde unweigerlich die Bürgerwehr alarmieren und bis dahin würde Ned die Eindringlinge davon abhalten weiteren Schaden anzurichten.

Dina trat hinaus in die ungewohnt kühle Nacht von Eyak. Ohne Plan wo sie hinsollte, zögerte sie kurz in ihrem weiteren Vorgehen. Trotz der fortgeschrittenen Stunde war die Hauptstrasse noch bevölkert von partywilligen Minenarbeitern. In der Masse unterzutauchen war immer ein geeignetes Mittel um Verfolgern zu entgehen, zu ihrem Leidwesen war das gerade beim letzten Mal schief gegangen. Trotz aller Irrläufe, die sie auf dem Weg zur Mission auf sich genommen hatte, wurde sie aufgespürt. Aus Mangel an Alternativen steuerte sie trotzdem auf die Lichter der Flaniermeile zu, mit Kira im Arm, die sie erneut umklammerte und nicht willig war je wieder los zu lassen.

Der Schmerz hatte keine Gelegenheit seine volle Intensität zu entfalten. Nach dem Schlag auf den Hinterkopf glitt Dina in eine Art Nebel, der einige ihrer Sinne betäubte. Während die Kopfverletzung weites gehend ausgeblendet wurde, war das Schreien von Kira, die ihr gewaltsam entrissen wurde, deutlich zu vernehmen. Sie spürte auch die fremde Hand auf ihrer Schulter und den Aufschrei eines fremden Mannes, als er von Kira gebissen wurde. Trotzdem war sie unfähig sich gegen den Angriff zu wehren. Ihre Beine versagten ihr den Dienst und kurz vor der Ohnmacht stehend, sank sie auf die Knie. Mit der linken Hand hielt sie sich an der Außenwand eines dieser verfallenen Häuser fest, die den verfallenen Charme der Gasse ausmachten. Unter enormen Anstrengungen hob sie ihren Kopf und sah den Angreifer die Gasse entlang rennen, auf seinen Schultern die ruhig gestellte Kira. Auf ein Mal ließ sich der Schmerz nicht mehr bändigen und mit einem Schrei, den sie sich selber nicht zugetraut hätte, entfesselte sie ihr angestautes Leid.

In dem Gemisch aus Schmerz, Frust und Trauer war es für Dina unmöglich die Zeitdauer ihrer erzwungenen Auszeit zu erfassen. Wie erwartet kam die Bürgerwehr ihr irgendwann zur Hilfe und erst in diesem Augenblick setzte ihr rationales Denken wieder ein. Angeführt von der mutigen Saya, erklärte sie ihren Helfern die Situation und als sie auf die Entführung der kleinen Kira zu sprechen kam, liefen bei ihr die Tränen. Niemand hatte auf den Weg hier her einen Mann mit einem kleinen Mädchen auf der Schulter wahrgenommen. Kira schien für immer verloren und das ungewisse Schicksal versetzte sie nicht nur in Sorge. Wut war das vorherrschende Gefühl. Wut über den unbekannten Entführer, Wut über Eyak und Wut über ihr Leben, das erneut einen Rückschlag hinnehmen musste. Sie war verdammt dazu in Unglück zu verharren. Dass die Grenzen dieses Unglückes noch nicht ausgereizt waren, sollte sie in naher Zukunft erfahren.       

Ned. Schoss es ihr durch den Kopf. Auch er war in Gefahr und im Gegensatz zur kleinen Kira war schnelle Hilfe möglich. Die gerade empfundene Sorge wurde sofort umgeleitet. In einem unmenschlichen Kraftakt erhob sie sich. Ein kurzer Moment des Schwindels, dann siegte ihre Entschlossenheit über die Unzulänglichkeiten ihres Körpers. Adrenalin verlieh ihr die Kraft für die eigentlich unmögliche Handlung. Die blutende Wunde an ihrem Hinterkopf, die Kopfschmerzen, aber vor allen Dingen die mentalen Nachwirkungen auf ihren Geisteszustand konnten dadurch kurzfristig ausgeblendet werden. Ein Zustand, der nicht ewig anhalten würde, also beeilte sie sich zurückzukommen in Richtung Mission.

Die Bürgerwehr bestand aus Saya, einem hageren und ängstlich wirkenden Mann namens Peter und einem entschlossenen, kräftigen Kerl, deren Name Dina entfallen war. Sie hatte ihn nur ein oder zwei Mal getroffen, aber die direkte und raue Art die Dinge anzusprechen, untermauerten seinen resolutes Auftreten. Zu viert näherten sie sich der geschundenen Eingangstür. Der Saal war hell erleuchtet und ein erster kurzer Blick ins Innere offenbarte nur die am Zugang liegende Leiche. Ansonsten war kein Geräusch zu vernehmen und die fehlende Erfahrung für solche Krisensituationen ließ die Gruppe in ihrem weiteren Vorgehen zögern.

„Wie viele?“ fragte der Kräftige. Er hatte die Führung übernommen, was dankbar von den Anderen angenommen wurde.

„Mindestens zwei.“ Dina war sich unsicher über die genaue Anzahl der Eindringlinge. Ihr Geist hatte nicht die nötige Klarheit für präzise Informationen.

„Ich habe Schüsse gehört, also müssen wir vorsichtig sein. Wenn wir da rein gehen, sollten wir sofort Deckung suchen. Das geht nur hinter den Säulen. Ich habe als einziger ein Gewehr, also gehe ich zuerst und dann kommst du Peter. Ihr beiden wartet hier draußen.“ Peter wurde kreidebleich. Die Aussicht in eine Schießerei zu geraten und das nur bewaffnet mit einer stumpfen Axt, nahm ihm den letzten Mut.

Ihr Anführer ging leise durch die Tür und das Ausbleiben von Schüssen verkündete den Erfolg für den ersten Teil seines Planes. Das gab Peter die notwendige Konsequenz mit einem Sturmlauf in die Mission zu rennen und da wieder nichts passierte, hielt es Dina nicht mehr aus, nur unbeteiligt die Dinge zu akzeptieren. Ihr Verstand war immer noch nicht vollends klar, aber die Tatsache, dass sich eine Kommode gleich links neben der Eingangstür befand und ihr damit vermeintliche Deckung garantierte, drängte sich als klarer Gedanke durch die Flut von Verwirrung in ihrem Geiste. Zu spät kam ihr die Erinnerung über den berstenden Holzstuhl, der versehentlich bei ihrer Flucht getroffen wurde und erst als sie bereits den Saal betreten hatte, wurde ihr der Fehler über die Einschätzung der Kommode als geeignete Deckung bewusst. Vorsichtig riskierte sie einen Blick und blanke Panik stieg in ihr auf, als sie die Gestalt am anderen Ende erkannte. Der Teufel persönlich hätte nicht dämonischer grinsen können, aber das war nicht der Teufel. Dieser Mann war weitaus schlimmer und sie stand ihm praktisch zur freien Exekution gegenüber. Trotzdem machte sie sich keine Sorgen über ihr Leben, denn etwas Anderes fokussierte ihre Angst. Etwas, was sie in einen Ausnahmezustand versetzte und sie jegliche Vorsicht vergessen ließ.

 

Der dunkle Saal lag vor ihnen und das bedrückende Gefühl immer noch auf dem Präsentierteller zu hocken, drängte Red zu einer schnellen Entscheidung. Nichts war bisher passiert, also waren sie vermutlich nicht in der Schusslinie. Ein Umstand, der sich jederzeit ändern konnte. Angestrengt lauschte er in die Schwärze vor ihm. Nichts. Kein einziges Geräusch, was auf einen Schützen hinwies. Wo verdammt war dieser Tom? Tot. Das war ziemlich sicher. War nur die Frage, ob er vor seinem Ableben irgendwelchen Schaden anrichten konnte. Verdammt er musste die Schlampe wieder heil bei Frago abliefern. Nicht das dieser auf sie verzichten könnte, aber wenn herauskommen sollte, dass Red wieder auf eigene Faust an ihm vorbei seine Geschäfte macht, würde er diesmal nicht mit ein paar Narben davon kommen.

Red konzentrierte sich wieder auf die Gegenwart. Kein Licht. Noch waren sie in der Defensive und da war oberste Regel nicht gesehen zu werden. Mutig rannte er in die vor ihm liegende Dunkelheit und wenn er sich richtig erinnerte, gab es eine Säule keine drei Meter vor ihm. Das „plopp“ vernahm er nur am Rande, aber der Luftzug der vorbei sausenden Kugel bestätigte seine Theorie von dem Schützen, der in der Ecke lauerte und auf alles feuerte, was dumm genug war seine Deckung aufzugeben. Verdammt war das knapp. Wer immer da auch hockte, hatte eine verdammt kurze Reaktionszeit. Egal. Von nun an herrschten ausgeglichene Spielregeln. Kein Gejagter mehr. Ein Duell auf Augenhöhe.

Angestachelt von dem Erfolg seines Chefs, versuchte Reds Partner das geglückte Manöver zu wiederholen. Auch er suchte eine geeignete Deckung innerhalb der Dunkelheit des Saales, aber zu seinem Unglück entschied sein Gegner den abgelaufenen taktischen Vorteil eines unbeleuchteten Saales just in jenem Moment aufzugeben, als dieser auf halber Höhe zu seiner neuen Stellung war. Die erste Kugel verfehlte sein Ziel noch, aber die Präzision, mit der die zweite und dritte Kugel im Schädel einschlugen, deuteten auf eine gute militärische Ausbildung hin. Red reagierte blitzschnell. Nach dem ersten Fehlschuss sah er seine Chance gekommen. Er wirbelte hinter der Säule hervor und brauchte nur einen kurzen Moment, um sich zu orientieren. Da hockte der Bastard keine zehn Meter entfernt vor dem was die Küche sein musste und schickte gerade weitere Kugeln in Richtung seines Partners. Keine Zeit für eine genaue Anvisierung seines Opfers. Drei Schüsse in die grobe Richtung und mindestens einer musste getroffen haben, denn die unnatürliche Reaktion des Körpers verhinderte eine Gegenwehr. Die Waffe fiel zu Boden und Red musste sich beherrschen nicht weitere Kugeln in diesen Penner vor ihm zu pumpen. Dieser Scheißkerl hatte seine Pläne zu Nichte gemacht und obwohl jede Faser seines Körpers darauf drängte seinen Frust an ihm abzubauen, zwang ihn das letzte bisschen Quantum an Rationalität dazu, seinem Trieb nicht sofort nachzugehen. Noch hatte er nicht was er wollte und in der Aussicht seine unnachahmlichen Überzeugungskünste anwenden zu können, ging er selbstsicher auf den vor ihn liegenden Verwundeten zu.

„Scheiße muss das wehtun.“ selbstgefällig starrte er auf die Wunde in der rechten Schulter. Wütend trat er dem Hilflosen in den Magen.

„Das ist für Tom.“ rechtfertigte er den unnötigen Tritt, um gleich noch einen weiteren Tritt nachzulegen.

„Und das ist für …“ Red stockte kurz.

„…für den anderen Typen, den du gerade umgelegt hast. Ist die Nutte das alles wert? Ist sie es wert dafür gleich zu sterben?“ Red versuchte weitere Angst zu schüren.

„Sie ist es.“ kam es überraschend selbstsicher von der sich auf dem Boden krümmenden Gestalt.

„Na dann hätten wir das ja geklärt. Bleibt nur die Frage, wie wir deinen Abgang gestalten. Ich hätte da im Angebot langsam und schmerzhaft oder schnell und angenehm. Für Letzteres brauche ich aber eine gewisse Gegenleistung. Versteh doch. Deine kleine Hure schuldet meinem Chef noch jede Menge Geld und die muss sie nun mal abarbeiten. Musst du doch selbst einsehen, dass sie ihre Talente nicht nur allein an dir verschwenden sollte. Warum sollte nicht jeder, der es sich leisten kann die Gelegenheit bekommen seine Neigungen an ihr zu befriedigen.“ Die Provokation zeigte umgehend Wirkung. Einen Tritt mit dem Ziel sein Bein zu treffen, konterte Red mit einem schnellen Schritt zur Seite.

„Hoho. Da habe ich wohl einen wunden Punkt getroffen.“ grinste er über die Reaktion.

„Gut ich bessere mein Angebot nach. Du sagst mir wo sie ist und ich verspreche mich dafür einzusetzen, dass sie in den gehobenen Kreisen ihre Schuld begleicht. Ist das was?“ Red war jetzt in seinem Element. Er liebte es vor der eigentlichen Folter seine Opfer mit Worten zu quälen. Als Antwort wurde er mit Blut bespuckt.

„Offensichtlich nicht.“ In Vorfreude seine Qualitäten als Folterknecht anwenden zu dürfen, steckte er die Pistole weg und zog sein Messer. Normalerweise blendete er seine Umgebung vollkommen aus und gab sich ganz der Aufgabe hin, aber ein Geräusch aus der Mitte des Saales lenkte ihn ab. Jemand war hereingekommen und hinderte ihn vorerst an seinem Schaffen. Ein Gewehrlauf zeigte auf ihn. Verdammt. Seine sadistische Hingabe hatte ihn unvorsichtig werden lassen. Jetzt war er ein leichtes Ziel für den wild entschlossen wirkenden Neuankömmling.

Es war genau jene Ablenkung, die es bedurfte um Reds unwiderruflichem Schicksal doch noch eine Alternative aufzuzeigen. Ein weiterer Störenfried stürzte in den Saal und das so auffällig, dass sich für Red die Gelegenheit ergab seine eigentlich aussichtslose Position zu verbessern. Für einen Moment war sein potentieller Vollstrecker abgelenkt. Zwar hatte Red nicht die Zeit um seine Pistole zu ziehen, aber es gab ihm die Möglichkeit sich zwischen Gewehrlauf und Verwundeten zu bringen. Mit dem Messer in der Hand hatte er nun einen Schutzschild.

Eine dritte Person betrat den Raum und die Sorge über die anwachsende Übermacht wich der Erleichterung, dass das Objekt seiner Begierde noch am Leben war. Ein Grinsen konnte er sich nicht verkneifen.

„Schön, dass du doch noch auftauchst. Irgendwie haben wir uns heute immer verfehlt.“ begrüßte er sie. Halb versteckt hinter einem Schrank, erkannte er Coopers kleines Laufmädchen.

„Das ändert deinen Zustand von „tot“ auf „vielleicht überlebst du es, wenn alle vernünftig bleiben“.“ wandte sich Red an seinen Schutzschild. Das Messer wanderte hoch zu der Kehle seiner Geisel.

„Tja. Wie geht’s weiter?“ fragte Red in die Runde. Noch immer zeigte der Gewehrlauf in seine Richtung. Der Eindringling, der die notwendige Ablenkung verursachte, kauerte hinter einer Säule und stellte keine große Gefahr dar. Soweit es Red beurteilen konnte, war er bewaffnet mit einer Axt, die für Feuereinsätze vorgesehen war. Auch das Auftreten stank vor Angst, so dass er seine Priorität wieder dem Gewehrbesitzer zukommen ließ.  

„Leg alle Waffen ab und verpiss dich. Dann ergeht es dir heute Abend besser als deinen Kumpanen.“ lautete der Vorschlag hinter der Gewehrmündung.    

„Kein vernünftiger Vorschlag, denn ich kann nicht ohne sie gehen.“ Red nickte in Richtung Schrank. Jetzt verließ sie ihre lächerliche Deckung und kam auf ihn zu. Zwei Meter vor ihm kam sie zum stehen. Sie wirkte verwirrt, nicht Herr ihrer Sinne.

„Gut. Ich komme mit dir, aber lass ihn in Ruhe.“ sagte sie zittrig.

„Schön. Da sind wir einer Meinung. Jetzt gilt es bloß noch diese Dödel mit den Waffen zu überzeugen.“

„Bitte legt die Waffen nieder.“ Ihre fast flehentliche Bitte versetzte Red in unangebrachte Überlegenheit. Nachdem die Waffen auf dem Boden lagen frohlockte er innerlich. Die Sache ging vielleicht doch noch gut aus. Kurz überlegte er, ob er nach der Kleinen fragen sollte, aber ihr Schicksal war ihm egal. Wichtig war nur, dass dieses blonde Miststück unversehrt und frisch poliert morgen in Fragos Casino den Umsatz steigern würde. Sein Überleben war davon abhängig und zum ersten Mal bereute er es, so blauäugig auf Andrins Plan eingegangen zu sein.

„Tu es nicht.“ flüsterte die Geisel.

„Du hast hier kein Mitspracherecht.“ Red verstärkte seine Umklammerung.

„Vielleicht überleben unsere Körper diesen Abend, aber die Gewissheit, dass deine Seele jeden Abend ein bisschen mehr stirbt, tötet auch mich. Lass uns nicht gemeinsam Stück für Stück sterben, bis wir nur noch Hüllen ohne Gefühle und Empfindungen sind.“

Wieso kann dieser Penner nicht einfach die Klappe halten? Red versuchte mit der Hand seines umklammernden Armes an den Mund zukommen. Vergeblich. 

„Klappe halten, Romeo.“ fauchte er ihn an.

„Dina, ich liebe dich. Und weil ich dich liebe, ermögliche ich dir ein Leben ohne das Elend, was diese Missgeburt für dich vorgesehen hat.“ Red nervte dieses Geschwafel und damit sah er das Übel nicht kommen. Diese Kraft hatte er nicht mal ansatzweise erwartet und dementsprechend überrascht war er, als sich die Geisel vor ihm anschickte sich aus dem Würgegriff zu befreien. Seine Instinkte erkannten die Gefahr, bevor das Minimum an Vernunft, was Reds bestialische Triebe gelegentlich im Zaum hielt, einschreiten konnte. Wie ein Reflex zog er die Klinge quer den Hals entlang und das warme Blut auf seinem Arm, zeugte von dem Erfolg seines Handelns.

Der Schrei keine zwei Meter vor ihm holte ihn aus dem automatischen Ablauf des Tötens zurück. Erst jetzt registrierte er, was sein Unterbewusstsein ohne sein wissentliches Zutun angestellt hatte. Das Bedauern, den Genuss des Tötens durch einen antrainierten Reflex nicht vollkommen ausgekostet zu haben, musste warten, denn aus den Augenwinkeln sah er, wie der Gewehrlauf erneut auf ihn zielte. Der Knall war ohrenbetäubend und der Einschlag einen halben Meter neben ihm in der Wand, brachten ihm die unmittelbare Gefahr nahe. Wieder schaute er in den Lauf der Waffe und mit Schrecken sah er die Korrektur des Schützen, die ihm diesmal mehr als einen Gehörsturz einbringen würde. Seine Instinkte übernahmen erneut das Handeln und wie von Geisterhand schleuderte er seinen Körper nach rechts. Zu spät. Die Schrotladung streifte seinen linken Arm und einige der Kügelchen bohrten sich schmerzhaft in sein Fleisch. Er rollte sich über seinen rechten Arm ab und suchte Deckung, aber da war nix hinter dem er sich verstecken konnte. Sein Blick fiel auf den Schützen und anstelle eines weiteren Schusses, bemerkte Red, wie dieser sich bemühte seine zweiläufige Schrotflinte nachzuladen. Wie ein Cowboy zog er seine Pistole und feuerte blind in die Richtung der Säule, hinter dem sich der Gewehrschütze verbarg. Die Kugeln bohrten sich in den Beton und erschrocken über den Angriff ließ sein Gegner die Patronen fallen. Fluchend über das Missgeschick zog der sich weiter zurück.

Red wollte Richtung Haupteingang, aber ein Schatten in den Lampen der Außenbeleuchtung hielt ihn zurück. Verdammt sie umzingelten ihn oder war es vielleicht Andrin, der ihm Feuerschutz geben würde. Er entschied, dass das Risiko zu hoch war und rannte in den Gang zu den Unterkünften. Auf dem Weg dorthin feuerte er jeweils einen Schuss in Richtung Eingang und Versteck des Gewehrschützen, was diesen veranlasste sich weiter zurückzuziehen. Mit Erreichen des Flures hörte er einen weiteren Knall hinter sich. Kein Schmerz diesmal, so verfehlten sie ihn erneut in dieser Nacht. Sein Ziel war die Hintertür am Ende des Ganges und da die Wahrscheinlichkeit sehr hoch war, dass diese verschlossen sein würde, jagte er die restlichen Kugeln in vollem Lauf in die Nähe des Schlosses. Den Rest musste sein Gewicht erledigen und als er spürte, dass er erneut aufs Korn genommen wurde, beschleunigte er seine Schritte. Wie ein Weitspringer sprang er ab und legte sein komplettes Gewicht in den vorgebeugten Oberkörper. Zu spät merkte er, dass er mit der verletzten linken Seite voraus auf die Tür treffen würde. Der ohnehin schon schmerzhafte Aufprall verstärkte sich damit, aber das freigesetzte Adrenalin kaschierte das Schlimmste vorerst. Die Tür gab nach und als er mit ihr gemeinsam in die Nacht stürzte, vernahm er den nächsten Knall aus der Schrotflinte. Wieder kein Schmerz, aber das zerfetzende Fleisch an seiner rechten Schulter war ein untrügliches Zeichen für einen Treffer. Zu seinem Glück hielt er den Kopf tief, so dass der größte Teil der Schrotladung über ihn hinweg flog.

Kopfüber stürzte er in die Gasse und nun war es egal, ob er sich rechts oder links abrollte. Sie hatten ihn gleich zweimal erwischt und der Fakt, dass er immer noch in der Lage war zu fliehen, zeigte ihm die Menge an Glück auf, die er diese Nacht scheinbar in Unmengen gepachtet hatte. Als er sich in die Dunkelheit von Eyak schleppte, wurde ihm bewusst, dass sein Tod nur aufgeschoben wurde. Der vermeintlich einfache Plan war durch den hauseigenen Tellerwäscher ordentlich schief gelaufen und hatte damit absehbare Auswirkungen auf seine kurze Zukunft in den Reihen der Kartelle. Wer konnte schon ahnen, dass die Mission bewaffnetes Putzpersonal hatte. Wenigstens hatte der sofort die richtige Quittung für sein unüberlegtes Handeln bekommen und die kurze Genugtuung über den Schrei und die Verzweiflung in den Augen dieser Ärger verursachenden Schlampe, waren der einzige Lichtblick an diesem Abend. Sie hatte sein Schicksal in die falsche Richtung gelenkt, von daher war sie noch gut dabei weg gekommen. Sollte sie ihm irgendwann noch einmal über den Weg laufen, würde er seine Neigungen in ungeahnten Dimensionen an ihr ausleben.

Es war nicht die Zeit für Tagträume. Noch wusste niemand von seinem Scheitern, was ihm geringe Möglichkeiten des Überlebens gab. Sechs Stunden bis zur vereinbarten Übergabe im Casino. Von da an war er dann Freiwild für all die kleinen Gangster, die sich mit seinem Tod ein paar Bonuspunkte bei Frago erhofften. Erbärmliche Abziehbilder seiner eigenen großartigen Talente, die nicht seine innere Überzeugung besaßen. Eine Kugel von solch unwürdigen Kreaturen zu bekommen, war nicht der Abgang, den er sich ausmalte. Eigentlich war er überhaupt noch nicht bereit für seinen Schöpfer und da kam ihm sein Plan B des Lebens wieder in den Sinn. Auf Eyak hatte er seinen natürlichen Anspruch von Respekt, Ansehen und Furcht nie so wirklich realisieren können, aber Eyak war überall dort draußen in der Galaxie und all die unwiderruflichen Fehler waren eine gute Lektion für einen neuen Versuch. Hatte er bisher gute Ausreden gehabt für einen Verbleib auf diesem Drecksplaneten, zwangen ihn die Umstände nun zum Handeln. Die Auswahl an geeigneten Welten war schier riesig.

Er hatte nun ein Ziel, aber der Weg dorthin war schwierig. Erstes Hindernis war die Versorgung seiner Wunden. Einzige diskrete Anlaufstation war ein Arzt namens Viggo, dessen einträgliches Nebengeschäft es war Fragos Leute zusammen zu flicken. Die Gefahr war dadurch groß seinen Sechsstunden-Bonus zu verlieren, denn Viggo würde nicht zögern Bericht zu erstatten. Die Schießerei in der Mission war bestimmt schon Gesprächsthema im Casino und damit hätten sie dann auch zweifelsfrei den Schuldigen ausgemacht. Also ertrug er den Schmerz, aber der ganze Dreck auf seiner Haut schrie förmlich nach Entzündungen in den Wunden. Er beschränkte sich bei der Versorgung seiner Verletzungen darauf den Schrot aus seinem linken Arm zu bekommen. Eine gekaufte Flasche hochprozentiger Alkohol musste als Desinfektion reichen. Schwieriger stellte sich die ganze Sache bei seiner rechten Schulter da. Zwar gab es da kein Schrot, den er entfernen musste, dafür hatten die vorbei fliegenden Kügelchen eine Kraterlandschaft auf seinem Rücken hinterlassen. Unter unerwarteten Schmerzen kippte er sich den Rest der Flasche über die Wunde und in dem unguten Gefühl, vielleicht den Schergen von Frago zu entkommen, um dann einer Sepsis zu erliegen, ging er den nächsten Teil seines neuen Lebens an.

Er brauchte Geld und die einzige Quelle für dieses Verlangen war das Casino selbst. Neben dem finanziellen Aspekt, gab es weitere Gründe für einen letzten Besuch bei Frago. Jeder Blick in den Spiegel erinnerte ihn an die größte Demütigung seines Lebens und seit damals, als man ihm sein neues Gesicht als Abschreckung für Nachahmer von Gods Ambitionen verpasste, nagte der Gedanke an Rache als unersättliches Verlangen in seinem Inneren. Jede Triebbefriedigung an den armseligen Nutten dieses Planeten, war auch ein Ausgleich für die Unterdrückung seiner Racheempfindungen. Aber nun, da er nichts mehr zu verlieren hatte, wollte er diesem Drang uneingeschränkt nachgeben. Offensive war seine Position auf dem Spielfeld von Eyak, denn sich in den Gassen zu verstecken und zu hoffen, dass sie ihn nicht erwischen, wäre nur eine weitere Demütigung.

Er investierte Andrins Anzahlung in den Erwerb einer neuen Waffe, in Munition seiner bisherigen Pistole und in einen Schalldämpfer. Seine Ausbildung an den eleganten elektromagnetischen Tötungswerkzeugen bestand in dem Wissen, dass keinerlei Rückschlag beim Abfeuern zu erwarten wäre. Der Rest würde sich finden, denn Töten war sein Geschäft und da war es unerheblich, auf welche Art er seiner Berufung nachging.

Die Sonne ging bereits auf, als er vor Fragos Casino stand. Die Straßen leerten sich und die Lichter der überdimensionierten Leuchtreklamen verloren mit dem zunehmenden Tageslicht ihre Aufdringlichkeit. Der Zeitpunkt war perfekt. Das Casino war seit einer halben Stunde geschlossen und außer ein paar Putzkräften waren die restlichen Angestellten bereits im Feierabend. Red verdrängte den Gedanken an eine erneute Bewaffnung von Personal und betrat die Lobby. Frago würde in seinem Büro sitzen, die Tageseinnahmen mit seinem Geschäftsleiter durchgehen und vor seiner Tür würden die zwei Leibwächter darauf achten, dass niemand sie dabei störte. Die eigentliche Schwierigkeit befand sich also vor dem Büro. Waren die beiden erstmal erledigt, wäre der Rest ein Kinderspiel. Wieder setzte Red auf das Überraschungsmoment.

„Wir haben bereits geschlossen.“ ertönte es hinter der Bar. Der böse Blick des Bartenders wechselte sofort auf ängstlich, als er erkannte, wer dort gerade das Casino betrat. Kein gutes Zeichen, denn die überhastete Flucht war ein untrügliches Indiz dafür, dass Reds Untaten schon komplett bis hierher vorgedrungen waren. Soweit zum Überraschungseffekt, also musste er improvisieren.

Mit übergroßen Selbstvertrauen passierte er die Spielautomaten und Roulettetische. Sein Ziel war der abgetrennte Personalbereich im hinteren Teil der Spielhalle. Der Bartender hatte sicherlich sein Ankommen bereits weitergegeben und so lag es nun an seinem schauspielerischen Talent, die Türwachen von seiner Ungefährlichkeit zu überzeugen. 

Das Büro lag am Ende eines langen Ganges. Knapp fünfzig Meter wurden die Seiten gesäumt von Türen, die zu Räumen führten, welche allein den Zweck zur Befriedigung männlicher Fantasien hatten. In den Stoßzeiten war hier Hochbetrieb und das Ganze hatte für Red immer den Charme einer Massentierhaltung, nur das hier keine Kühe gemolken worden. Jetzt lag alles in trügerischer Ruhe und die Dienstleisterinnen waren zur Erholung eingepfercht in Schlafsälen, weit außerhalb dieses Etablissements. Gelassen ging er den spärlich erleuchteten Flur entlang. Die Hände in den Taschen seiner Jacke umschlossen die beiden Pistolen, immer bereit diese sofort anzuwenden. Nur keine Hektik oder sonstige Anzeichen dafür, dass er als Henker für die jämmerlichen Gestalten vor Fragos Tür unterwegs war. Nichts ahnend unterhielten sich die beiden über die Nichtigkeiten der vergangenen Nacht und ignorierten den scheinbar harmlosen Besucher auf dem Gang. Mit jedem Schritt näher, verbesserten sich seine Aussichten auf eine erfolgreiche Hinrichtung und die Anspannung änderte sich in Vorfreude auf das Töten. Keinen Moment ließ er seine Opfer aus den Augen, während die sich immer noch kein Deut um ihn scherten. Erst als die Hand des linken Typen zu seinem Kommunikator im Ohr ging, sah Red die Notwendigkeit für den Beginn seines Angriffes gekommen. Keine zehn Meter waren seine Ziele jetzt von ihm entfernt und als er seine Waffen zog, erkannten sie in panischer Angst die Aussichtslosigkeit ihrer Situation.

Red hatte das Handwerk des Tötens perfektioniert, aber seine Verletzungen und die ungewohnte Waffe in seiner linken Hand, offenbarten ungewohnte Schwächen. Während sein rechtes Opfer ohne große Gegenwehr seinem vorgesehenen Schicksal folgte, hatte sein Partner auf der linken Seite mehr Glück. Die Projektile schlugen ohne große Geräusche neben ihm in der Wand ein und trotz der Vielzahl der Geschosse, die Red auf ihn abfeuerte, blieb er von Wirkungstreffern verschont. Anstatt sich auf den Boden zu werfen und damit weniger Angriffsfläche zu bieten, verschenkte der Leibwächter sein Leben doch noch, in dem er stehend an seinem Pistolenhalfter griff, um den Angriff zu kontern. Reds gewohnte rechte Hand zeigte ihm diesen Fehler auf und als beide Wächter leblos vor ihm lagen, schaute dieser ungläubig auf das Versagen seiner linken Hand. Sechs Kugeln gingen daneben. Egal, er hatte gleich die Gelegenheit am lebenden Objekt zu üben.

Er stand vor Fragos Büro und war sich unsicher, wie weit dieser Kampf Aufsehen erregt hatte. Nach seinem Empfinden war alles extrem geräuscharm abgelaufen, aber die Vorstellung, dass Frago ihn da drin mit gezückter Waffe empfing, konnte er nicht komplett aus seinem Denken eliminieren. Er hatte keine andere Wahl. Noch einmal musste der Kriegsgott für ihn Partei ergreifen. Immerhin hatte er ihm die letzten Jahre ordentlich Opfer dargebracht. In Erwartung eines gezielten Kopfschusses, stürmte er das Büro und zu seinem Glück überraschte er Frago, wie dieser gerade Jetons zählte.

„Einen schönen guten Morgen.“ begrüßte Red Frago, als er sich sicher war, dass keinerlei Gefahr drohte. Die zweite Person im Raum war wie erwartet der Geschäftsführer. Ein kleiner hilfloser Mann ohne jeglichen Mumm. Frago knirschte kurz mit den Zähnen und ging blitzschnell seine Optionen durch. Das nahm Red zum Anlass ihm klar zu machen, dass er keine hatte.

„Ganz ruhig. Ich will nur reden. Vorerst.“

„Ich rede nicht mit Toten.“ bekam er als Antwort von Frago, der jetzt vor seinem Schreibtisch stand.

„Ein Mann mit Prinzipien. Ich respektiere das, aber wir alle müssen Kompromisse eingehen. Ich hätte gestern Abend auch nicht gedacht, dass ich heute Morgen hier stehen würde, um dich zu erschießen.“ Er feuerte aus seiner linken Waffe einen Schuss in Richtung des Geschäftsführers. Die Kugel ging weit an dem zusammenzuckenden Elend vorbei.

„Ich habe scheiße viel Geld für dieses Ding ausgegeben und treffe nicht mal einen fetten Sack von Casinochef.“ fluchte Red.

„Was willst du?“ fragte Frago genervt, aber ohne jegliche Angst in der Stimme.

„Geld. Ansehen. Respekt.“ Ein weiterer Schuss in Richtung Geschäftsführer, der wiederum vorbei ging.

„Perlen vor die Säue. Penner wie du können froh sein, dass wir uns überhaupt mit euch abgeben. Der Dreck unter meinen Nägeln ist mehr wert als du.“ Immer noch keine Angst in Fragos Stimme, was es Red schwer machte seine Wut zu unterdrücken.

„Mag sein. Wie wäre es mit Rache?“ Red nahm die elektromagnetische Waffe in die rechte Hand und feuerte erneut auf den Geschäftsführer. Dieser sackte umgehend zusammen.

„Ha. Es geht doch.“ frohlockte Red.

„Rache ist endlich mal was Greifbares. Na dann hör auf zu quatschen und töte mich. Ich werde jedenfalls nicht um mein Leben betteln.“ forderte Frago ihn auf.

„Das wäre unfair. Immerhin hast du mich ja auch am Leben gelassen.“ Er zielte mit der Waffe auf Fragos rechtes Knie und feuerte.

„Treffer. Wenn man den Dreh erstmal raus hat, kann man gar nicht mehr daneben schießen.“ Frago jaulte vor Schmerzen und krümmte sich. Sein Kampf mit der Schwerkraft war ihm deutlich anzusehen, aber er wollte Red nicht die Genugtuung geben, vor ihm auf das gesunde Knie zu fallen.

„Stolz kommt vor dem Fall.“ kommentierte Red das Gebaren und schoss ihm damit auch die linke Kniescheibe weg.

„Jetzt sind wir quitt.“ Reds Blick fiel auf die Jetons, die fein säuberlich auf dem Tisch gestapelt standen.

„Schmerzensgeld.“ kommentierte er den Diebstahl. Ohne einen einzigen Jeton zurückzulassen, überließ er Frago seinem Schicksal.

Wieder auf der Strasse gönnte er sich einen Moment für die Auskostung seines Triumphes. Das tat so gut diesem Mistkerl seine Grenzen aufzuzeigen. Auch wenn der jegliche Angst vermissen ließ, war die erfüllte Rache der bisherige Höhepunkt seines Lebens. Die Aussicht, dass Frago für den Rest seines Lebens nicht schneller als ein Hundertjähriger die Strasse überqueren würde, lies ihn das Bedauern über die verpasste Gelegenheit seinem Tötungstrieb nachzugehen, vergessen. Der Pflichtteil war erfüllt, nun galt es die Kür hinzulegen und die bestand nun mal aus seinem Überleben. Etwas, was auf Eyak unmöglich geworden war.

Die Fahrt zum Raumhafen führte über die fast vollkommen verlassene Hauptstrasse. Er konnte sich nicht erinnern jemals so wenige Menschen auf den Bürgersteigen gesehen zu haben. Sein letztes Bild von Eyak entsprach nicht den vergangenen Jahren seiner Erinnerungen. Sentimentalität war nun wirklich nicht sein hervorstechendes Charaktermerkmal, aber der Verlust von lieb gewonnen Routinen aus Gewalt ging auch an ihm nicht spurlos vorüber. Was immer auch vor ihm lag, war anders und er musste sich anpassen. Die Erfahrungen der letzten Jahre würden ihm dabei helfen, um seinen Traum von Respekt und Anerkennung auf einer neuen Welt Realität werden zu lassen.

Er bezahlte das Taxi mit den gestohlenen Jetons aus dem Casino. Seine Waffen ließ er auf dem Rücksitz liegen und ermöglichte vermutlich seinem Fahrer oder dem nächsten Fahrgast damit ein angenehmes restliches Leben. So vollkommen schutzlos war er das letzte Mal im zarten Kindesalter gewesen und er benötigte eine Weile, um sich mit dem ungewohnten Zustand zu arrangieren. Im Raumhafen überflog er den recht übersichtlichen Fahrplan der Exsons. „Die verruchte Braut“ befand sich gerade im System und das einzige Ziel, was die Exsons anflogen war ohnehin Yuma. Bis dahin war sein Weg nachvollziehbar, denn erst ab Yuma stiegen die Möglichkeiten seiner Fluchtroute. Er wusste, dass er nie hundertprozentig sicher seien würde, denn Frago und die anderen Kartelle waren Teil einer Galaxie umspannenden Mafia. Der Einfluss auf die Geschicke im All war allerdings gering. Es gab größere Organisationen, als diese Möchtegernherrscher mit kriminellem Hintergrund und in seinen Fantasien von Macht und Reichtum sah er sich schon als Anführer der Science oder der Exson. Die Möglichkeiten waren vielfältig und zum ersten Mal bereute er das Zögern beim Verlassen von Eyak.

Er betrat die Fähre zur „verruchten Braut“ in dem trügerischen Gefühl der erfolgreichen Vollendung seiner Flucht, aber er musste sich selber eingestehen, das Fragos Arm lang genug war, um ihm auf dem Exson zu erreichen. Das Narbengesicht besaß ein hohes Maß an Wiedererkennung und der Start nach Yuma würde erst in drei Tagen erfolgen. Genug Zeit für Verfolger ihn aufzuspüren und ihn zu erledigen. Seine Flucht ging also nur in die nächste Phase und er musste hellwach bleiben, um zu überleben.

 

 

Dina stand vor dem Abgrund des Wahnsinns und der entscheidende Schritt über die Klippe war nur noch eine Frage der Zeit. Innerhalb kürzester Zeit hatte sie alles verloren und die Flut der Emotionen aus Angst, Verzweiflung und Hoffungslosigkeit war so übermächtig, dass ihr Verstand den Wahnsinn als einzigen Ausweg aufzeigte. Der Pfad war verlockend, befand sich doch am Ende ein Paradies, welches jeglichen Schrecken abwehrte. Eine Flucht in eine selbst geschaffene Welt aus Illusionen und Harmonie. Nie wieder würde sie Angst verspüren, kein Leid oder Schmerz käme durch die dicken Mauern ihres neuen Asyls. Sie müsste bloß Vernunft und Logik am Eingang abgeben, dann wäre ihr ein Leben in immer währendem Frieden gewiss. Als Gottheit über ihr eigenes Universum, hätte sie die Macht über den Zugang zu ihrer kleinen Welt und nach all den schlechten Erfahrungen der letzten Stunde, würde sie nie wieder jemandem den Zutritt gewähren. Sie war bereit für den finalen Schritt, als ihr Unterbewusstsein sich doch einer Alternative stellte.

Wut verdrängte die Angst und Hass verdrängte die Wut. Unscheinbar noch und eher im Hintergrund lauernd, machte er seine Ansprüche geltend. Sein Ziel war der Platz, der gerade noch vorherrschenden Liebe. Ein leichter Gegner, hatte man ihr doch die Grundlage entzogen. Der Hass fraß die Liebe förmlich auf und wandelte sie um in gewinnbringende Energie. Energie, die Dina die nächsten Jahre am Leben halten sollte und sie förmlich auszerrte, aber noch war er nicht mehr als ein Saatkorn. Der kleine Bruder des Hasses verführte sie zur Ausblendung belangloser Emotionen wie Mitleid oder Barmherzigkeit, aber auch Trauer oder Schwermut. Rache stand auf ihren Fahnen und auch wenn es ihr erst nach und nach bewusst wurde, ordnete sie ihr zukünftiges Leben dieser einzigen Empfindung unter. Dieser scheinbar fest zementierte Zustand bekam erst Risse, als sie Jahre später auf ihrer Jagd nach Vergeltung von einem namenlosen Elend den Spiegel vorgehalten bekam.

Sie konnte sich nicht erinnern, wie sie in das Bett gekommen war. Ihr letzter halbwegs klarer Gedanke war ihr eigener Schrei. Von da an war sie in eine Art Trance verfallen. Der Schlag auf den Hinterkopf, aber auch die schrecklichen Ereignisse überforderten ihren Verstand, der sich ja feige in den Wahnsinn flüchten wollte. Nun lag sie in dem Krankenzimmer und Saya stand an ihrem Bett. Die Rückkehr in die furchtbare Realität vollzog sich langsam, aber das Bewusstsein, dass sich ihr Leben wieder auf einem Tiefpunkt befand, war trotz der Trance nie so richtig verschleiert worden. Mit jedem neuen Stück Klarheit wurde ihr das Ausmaß der Tragödie bewusst.

„Ned.“ flüsterte sie leise.

„Psst.“ Saya strich ihr leicht über die Stirn. Sie versuchte stark zu sein, aber ihr Tränen gezeichnetes Gesicht konnte den Kummer nicht verbergen. Wortlos schauten sie sich an und es dauerte keine zwei Sekunden, bis beide in gemeinsames Weinen verfielen. Sie umarmten sich für gegenseitigen Halt, aber es war ihnen nicht möglich sich dem Strudel aus Trauer zu entziehen. Gemeinsam stürzten sie in die Tiefe, um erst nach minutenlangen Weinen wieder aufzutauchen. Für Dina war es der letzte emotionale Moment für lange Zeit, der nichts mit Hass oder Wut zu tun hatte und wären die Umstände etwas günstiger gewesen, hätte Saya ihr weiteres Schicksal in eine bessere Bahn lenken können. Es war leider nicht möglich ihren Schmerz gemeinsam zu verarbeiten und von daher gab es für Dina nur die Flucht. Auf Eyak blieb ihr nur wieder die Strasse und der unbedingte Drang, die kleine Kira wieder zu finden, hätte ihr zwangsläufig, das von Ned verhinderte Ende eingebracht. Sein Opfer wäre damit umsonst gewesen. Auf dem Schiff von Sayas Früchte liefernden Verehrer, verließ sie den Planeten mit einer Kopfwunde, einem verstörtem Gemüt und mit jeder Menge Rachegelüste in sich. 

Es herrschte keine Wehmut, als sie die „Mujer ideal“ betrat. Dieser Planet war ein Leben lang schlecht zu ihr gewesen. Die wenigen Gründe für eine Rückkehr gingen bald unter in der Fokussierung auf den einzig wahren Grund. Die gutmütige Saya würde schnell in Vergessenheit geraten und auch das unbekannte Schicksal der kleinen Kira, welches vermutlich sowieso nur der Tod sein konnte, trat mehr und mehr in den Hintergrund. Der Tag würde kommen, an dem sie wieder einen Fuß auf diese lausige Welt setzen würde und das nur aus dem Grund, um diesem elendigen Red sein verdientes Ende zu bereiten. Ein Jahr vielleicht, dann war sie nicht mehr als eine Fußnote von Coopers längst vergessenen Plänen. Als Unbekannte würde sie zurückkehren und ihren gründlich geplanten Racheplan umsetzen. Trotz ihres von Trauer verwirrten Geistes, manifestierte sich dieser eine Gedanke in ihrem Kopf, als sie auf der Rampe ihres Fluchtschiffes stand. Trauer würde vergehen und dann blieb nur noch die einzig wahre Emotion.

Dina verblieb nach dem Andocken an die „verruchte Braut“ in ihrer Schiffskabine. Zum einen verhinderte ihre Kopfverletzung längere Ausflüge in die Gefilde des Exsons und zum anderen hatte sie nicht die emotionale Stabilität für fremde Gesellschaft. Selbst die zaghaften Trostversuche des Kommandanten, ein älterer Mann mit Halbglatze, der in Sachen Gutmütigkeit der von Saya in nichts nachstand, zeigten keinerlei Wirkung hinsichtlich der Verbesserung ihres Zustandes. Sie wollte nur alleine sein und sich ganz ihrem aufgewühlten Zustand widmen. Die Verweigerung der Nahrungsaufnahme passte ihr Äußeres an die Elendigkeit ihres Gemütes an. Hunger war belanglos und keiner Beachtung wert. Es gab nichts, was irgendwie von Bedeutung war. Sie schwebte in der Unendlichkeit eines Universums voller Trauer. Keine Sterne. Nur Schwärze um sie herum. Nichts, woran sie sich orientieren könnte. Niemand, der ihr helfen könnte. Allein im dunklen Nichts, gab es keine Zeit, keine Materie, keinen Halt. Sie glitt dahin in der Unendlichkeit ihres Schmerzes und nur der Hass auf Red wirkte wie ein gelegentliches Leuchtfeuer in der Weite ihrer Verzweiflung. Leuchtfeuer, die von Mal zu Mal größer wurden und irgendwann die Schwärze verdrängten. Endlich ein Halt. Endlich ein Grund weiter zu leben.

Drei Tage gab sie sich ihrer Einsamkeit hin und erst kurz vor dem eigentlichen Sprung beendete sie ihre selbst gewählte Isolation. Die Mannschaft versammelte sich zur letzten gemeinsamen Mahlzeit, denn die Hektik nach Verlassen des Exsons ließ solche gesellschaftlichen Annehmlichkeiten nicht mehr uneingeschränkt zu. Es herrschte eine unangenehme Stille, als sie den Aufenthaltsraum betrat. Erst jetzt nahm sie die ungewohnte Umgebung wahr. Sie war im Weltall. Auf Grund ihres Gefühlschaos hatte sie diese Bahn brechende Veränderung nicht mal mitbekommen. Staunend stand sie vor dem Fenster und starrte ungläubig auf andere Schiffe, Teile des Exsons, aber auch auf Sterne.

„Wie geht’s dem Kopf?“ wurde sie vom Kommandanten gefragt. Wieder wirkte sie überfordert. Erinnerungen an ein kleines Mädchen, welches auf dem Dach eines Waisenhauses die Sterne beobachtete und sich fragte, wie es wohl wäre dort oben zu sein, verdrängten erstmals die düsteren Gedanken von Rache. Das gleiche Mädchen, was beschloss aus dem Waisenhaus zu fliehen, um sein Glück in den Lichtern der Hauptstadt zu suchen. Ähnlich wie damals, fühlte sie sich planlos und unwissend, was sie in dieser unbekannten Umgebung erwartete. Sie erinnerte sich an dieses unglaublich gute Gefühl, als sie ihre Angst überwand und die ersten Schritte Richtung Freiheit machte. Das alles kam wie ein Dejavu über sie und machte es ihr unmöglich die Frage des Kommandanten zu beantworten.

„Du musst unbedingt was essen. Du siehst abgemagert aus.“ kam es von einer kleinen älteren Frau am Tischende. Dina fokussierte sich auf das schemenhafte Spiegelbild im Fenster. Tatsächlich. Auch wenn man diesen Abbildungen nie trauen konnte, war ihr Anblick alles andere als angenehm. Ihre Haut war nicht nur dreckig sondern auch rissig. Wann hatte sie das letzte Mal getrunken? Sie konnte sich nicht erinnern. Ihre Haare waren zusammen geklebt von getrocknetem Blut und ihre Kleidung stank fürchterlich, als sie daran roch.

„Mach dir keine Sorgen. Gegen unseren David hier riechst du wie Sommerfrische.“ kam es von einem der Männer.

„Hey.“ wehrte sich der Gescholtene nur halbherzig. Ein zwölfjähriger Verstand im Körper eines Erwachsenen, der sicherlich nicht das erste Mal dem Spott der Übrigen ausgesetzt wurde. Erst jetzt musterte Dina die restliche Gesellschaft. Fünf Personen saßen am Tisch und alle schauten gespannt in ihre Richtung, als würden sie eine Bühnenaufführung von ihr erwarten. Dinas Blick fiel auf einen Becher mit Wasser und als würde ihr Körper sich an der Vernachlässigung ihres Flüssigkeitshaushaltes rächen, stürzte sie sich wie ferngesteuert auf das Getränk und trank den Inhalt in einem großen Schluck aus. Da hatte die Mannschaft nun ihr Theaterstück und es war an Peinlichkeit kaum zu übertreffen. Ihr wurde zweimal nachgeschenkt, erst dann hatte sie ihre Selbstbeherrschung zurück. Ihr dreckiges Auftreten, das ungeschickte Trinkritual und die mitleidigen Blicke der Mannschaft müsste sie normalerweise in Scham versinken lassen, aber sie fühlte eine neue Selbstsicherheit. Als wäre eine neue Dina dem dreitägigen Kokon ihrer Kabine entstiegen. Nur hatte sich die Raupe nicht in einen Schmetterling verwandelt.

„Die Kleine hat ja ordentlich Zug drauf.“ David grinste vor sich hin und sah dabei nicht besonders clever aus, wie er da mit seinem Kopf hin und her wippte. Seine geistige Beschränktheit war ihm deutlich anzusehen.

„Scheinbar bin ich nicht die einzige Irre hier im Raum.“ Damit erstickte Dina das Grinsen von David.

„Mama sagt, das ist eine Krankheit und ich kann nichts dafür.“ wehrte sich David wie ein Kleinkind.

„Dina war dein Name. Richtig? Das ist meine Frau Colja. David kennst du ja schon und die beiden sind seine Brüder Max und Kurt. Ach ja und mein Name ist Monty.“ stellte der Kommandant die Anwesenden vor.

„Willkommen bei den Waltons.“ kommentierte Dina zynisch den Fakt an Bord eines Familienunternehmens zu sein. Nun erklärte sich auch Sayas Zurückhaltung gegenüber ihrem heimlichen Verehrer. Der war nämlich verheiratet.

„Schöne Grüße von Saya.“ konnte sich Dina einen Seitenhieb nicht verkneifen. Ein kurzes Zucken seiner Mundwinkel verriet den Erfolg ihres Manövers.

„Du bist sicherlich hungrig.“ versuchte Monty abzulenken.

„Zuerst brauche ich eine Dusche.“

„Gut. Säubere dich und beim Essen können wir dann alles Weitere bereden.“

Ohne ein weiteres Wort verschwand Dina unter der Dusche. Sie brauchte eine Ewigkeit, um das Gemisch aus Dreck und Blut aus ihren Haaren zu bekommen. Eine ganze Packung Spülung verbrauchte sie bei diesem Unterfangen. Sicherlich auch nichts, was bei den Waltons im Überfluss vorhanden war, aber so etwas wie schlechtes Gewissen waren Relikte der alten Dina. Mit solchen Kleinigkeiten gab sie sich nicht mehr ab.

Der erneute Blick in den Spiegel ließ bis auf die frisch gewaschenen Haare keine wesentlichen Verbesserungen erkennen. Die Haut war immer noch eingefallen, aber wenigstens sauber. Ein kurzer Blick auf die Waage verriet ihr die Ursache für die schlaffe Haut. Sie lag ganze sieben Kilo unter ihrem Normalgewicht. Unmöglich nur das Ergebnis von drei Tagen Nahrungsverweigerung, da steckten die Probleme der letzten Wochen dahinter. Verdammt. Wie kann so ein Häufchen Elend es mit Red aufnehmen? Sie musste unbedingt zunehmen und zum Glück gab es eine reichhaltig gedeckte Tafel nicht weit entfernt.

Sie kramte frische Kleidung aus der Tasche, die ihr Saya mitgegeben hatte. Bisher gab es keinen Grund diese auch nur anzurühren, aber nun, auf der Suche nach sauberen Sachen, fand sie mehr als Wäsche. Ein schwarzer Jeton rutschte ihr entgegen und das Wissen, dass die Mission ohne Ned kaum Möglichkeiten für eine Weiterführung hatte und Saya trotzdem den Wert einer wöchentlichen Spende an sie gab, trieb ihr die Tränen in die Augen. Sie wollte dieselbe Ignoranz bemühen, mit der sie gerade eben noch ohne schlechtes Gewissen das Shampoo verbrauchte, aber das funktionierte in diesem Maßstab nicht. Die Erinnerungen um die Geschehnisse in der Mission waren noch zu frisch, um sie als lästige Geister der Vergangenheit abzutun. Ihre harte Schale hatte noch einige Lücken.

Sie betrat den Aufenthaltsraum erneut, nachdem sie sich sicher war, jegliche Überreste ihres Anfalls von Schwäche entfernt zu haben. Das Schiff hatte neben diesem Allzweckraum aus Küche, Speiseraum und Wohnzimmer nur vier weitere winzige Quartiere. Passagiere waren üblicherweise nicht vorgesehen und so musste einer der Söhne sein Zimmer für den Überraschungsgast räumen. Sie tippte auf den unterbelichteten David, da dieser das schwächste Glied der Familie war. Zu ihrem Erstaunen hatte genau dieser einige Privilegien durch seine Behinderung. Familienleben war unbekanntes Terrain für Dina und daher war ihre Fehleinschätzung verständlich.

Ohne falsche Scheu machte sie sich über das Essen auf dem Tisch her. Monty belästigte sie vorerst nur mit allgemeinem Geschwafel über die Familie, über Geschäfte und die Unzulänglichkeiten seiner Söhne, wobei David erstaunlicherweise gut weg kam. Er war eindeutig der Liebling seiner Eltern. Erst als Dina gesättigt war, verriet Monty seine weiteren Pläne. Makah war sein Ziel, aber es gab keine direkte Verbindung dahin. Die Reiseroute führte über den galaktischen Umsteigebahnhof Yuma. Von da kam man praktisch überall hin und in Dina kam unweigerlich die Frage nach ihrer weiteren Zukunft auf. Das Angebot von Monty auf der „Mujer ideal“ zu bleiben und vielleicht sogar Teil der Familie zu werden, immerhin waren seine Söhne im heiratsfähigen Alter, schlug Dina aus. Wie immer auch ihr weiteres Leben aussehen mochte, als Hausmütterchen in dieser Konservendose sah sie sich nicht. 

Trotzdem verließ sie das Schiff nicht umgehend. Sie war immer noch in einem katastrophalen gesundheitlichen Zustand und so willigte sie ein, wenigstens bis zur vollkommenen Genesung auf dem Schiff zu bleiben. Das würde ihr die Gelegenheit geben sich an die neuen Bedingungen anzupassen und so lernte sie ihre neue Welt kennen.

Die dreißig Minuten bis zum Sprung wollte sie nicht weiter in der Enge des Schiffes verbringen. Obwohl sie weder geistig noch körperlich stabil war, wurde das Verlangen diese bedrückende Atmosphäre aus Raummangel und Familienidylle zu verlassen, übermächtig. Die drei Tage Isolation in ihrer Kabine schrieen förmlich nach sozialer Umgebung und da die heile Welt auf der „Mujer ideal“ nicht so wirklich zu einer Aufhellung ihrer Stimmung beitrug, flüchtete sie sich in die Erforschung ihrer neuen Umgebung. Die anonyme Masse war ihr weitaus lieber, als belanglose Konversation über die Vor- und Nachteile eines Lebens im Weltall. Sie war nicht in der Verfassung für das Knüpfen neuer Kontakte und so begab sie sich in eines der zahlreichen Restaurants auf Habitatring vier.

Diese Stadt im Weltall versetzte sie in Erstaunen. Wie war so was möglich? Nicht zum ersten Mal setzte sie die Vorfahren mit Göttern gleich. Das Alles konnte doch unmöglich von Menschenhand geschaffen sein. Ihre Fantasie überschlug sich in Vorstellungen über den Erbau dieses Monstrums. Allein der Sprungantrieb war Technologie, die das Wissen menschlicher Intelligenz überschreitet. Was musste das für eine Zeit gewesen sein, in der solche Dinge möglich waren? Eine bessere Epoche der Menschheit, da war sie sich sicher. Kein gegenseitiges Leid zufügen, kein Schmerz oder Tod. Die Menschen existierten nicht nur. Sie lebten, sie verwirklichten sich und sie liebten. Warum waren diese Zeiten nicht ihre? Warum konnte sie nicht vor tausend Jahren leben? Ihr ganzes Dasein war eine Ansammlung unglücklicher Umstände und der Eindruck jedes Mal eine Niete zu ziehen, wenn sie in den Losttopf des Lebens griff, verstärkte die Armseligkeit ihrer Existenz. Ein Maximum an Leid schien ihr unwiderrufliches Schicksal und nun, da sie es akzeptiert hatte, konnte sie sich drauf einstellen. Sie hatte ihre Lektion gelernt und würde nie wieder eine Angriffsfläche bieten für die Reds und Coopers dort draußen.

Der Kellner unterbrach ihre trüben Gedanken. Für ein Kind von Eyak war jegliches Obst außerhalb des Planeten die reinste Süßspeise, aber in diesem Restaurant hatte man sich zusätzlich die Mühe gemacht, das Ganze mit Schokolade zu verfeinern. Nicht das sie so was nicht schon in ihrer Heimat gesehen hätte, aber die Preise auf Eyak waren unerschwinglich und so hatte sie den Fruchtteller bestellt, als sie das Schnäppchen auf der Karte erblickte. Sie brauchte Kalorien und sie brauchte Zucker.

Dina saß an der Bar und wollte nicht zurück in die Trübseligkeit ihrer Gedanken, also lauschte sie den Gesprächen in ihrer Umgebung. Neben ihr stand ein uniformierter Mann Mitte dreißig, der die Aufmerksamkeit des Bartenders genoss. Dieser wiederum löcherte ihn mit Fragen und die Aufregung in den Stimmen ließ sie neugierig werden. Offenbar gab es ein Thema, was gerade brand aktuell war.

„Wie sieht es aus? Habt ihr ihn aufgestöbert?“ fragte der Mann hinter der Bar und ignorierte wissentlich einen Kunden.

„Du kennst das mit den Zeugenaussagen. Je mehr du davon bekommst, umso größer ist die Vielfalt der Möglichkeiten. Zwischen 2.00m, blond und blauäugig, bis zu 1.50m kahl und schwarz ist alles dabei. Einer erzählte sogar was von Narben im Gesicht. Als würde so einer hier nicht auffallen.“ antwortete der Beamte wichtigtuerisch.

„Nur noch zehn Minuten bis zum Sprung. Dann ist er weg.“ Diese Aussage des Bartenders wurde mit einem kurzen Schulter zucken quittiert.

„Was solls. Die Penner, die er umgebracht hat, sind irgendwelcher Abschaum von Eyak. Ist nicht das erste Mal, dass die ihre Kämpfe hier oben austragen. Ich hoffe das wird nicht zur Gewohnheit.“

„Was ist denn passiert?“ hakte Dina ein. Sie war jetzt neugierig geworden. Die Tatsache, dass jetzt eine Frau seine Aufmerksamkeit wollte, bestärkte den Beamten in seinem Redefluss.

„Der Doppelmord im „Twister“. Irgendwelche Revierstreitigkeiten, die von Eyak hier hoch geschwappt sind. Wollen Sie die Leichen sehen?“ fragte der Beamte in Aussicht auf noch mehr Aufmerksamkeit und wartete keine Antwort ab. Stolz auf Informationen, die nicht jeder hat, hielt er Dina ein Pad unter die Nase.   

„Widerliche Gestalten. Leider haben wir kein Bild vom Täter, da der „Twister“ es noch immer nicht geschafft hat das Kamerasystem zu reparieren.“ Dina erkannte das Gesicht sofort, auch wenn sie einen Moment brauchte um es einen Namen zuzuordnen. Alonso hatte sie fast zwanzig Stunden in Coopers Labor bewacht, als sie gefesselt auf diesem unsäglichen Stuhl saß. Sie erinnerte sich, wie sie ihn anflehte die Fesseln zu lockern und er als Antwort nur eine Ohrfeige für sie übrig hatte. Nun fand er sein Ende in einer schäbigen Spelunke und das Mitleid über sein Ableben hielt sich in Grenzen.

„Narben sagten sie. Der Täter hatte Narben im Gesicht?“ fragte Dina.

„Nur eine von vielen Aussagen, aber nicht wirklich vertrauenswürdig. Solch körperliche Merkmale werden bei der Eingangsregistrierung erfasst und da fand sich niemand, der die letzten Wochen hier an Bord ist mit so was.“ Die letzten Worte hörte Dina nicht mehr, denn ihre Gedankengänge überschlugen sich. Es konnte nur Red sein. Ihr schlimmster Albtraum war hier auf dem Exson. Natürlich. Auch er war jetzt Freiwild auf Eyak, nachdem Dina ihm entkommen war und auch er sah seine einzige Möglichkeit in der Flucht. Sein Vergehen war so schlimm, dass sie ihn bis hier her verfolgten. Sie fühlte wie ihr schwindelig wurde, panisch schaute sie sich um und in jedem noch so harmlosen Gesicht entdeckte sie bisher unerkannte Narben. Ihr Magen rebellierte und sie hatte Mühe den Süßkram nicht dem Beamten vor die Füße zu speien. Das „Geht es Ihnen gut?“ vernahm sie nur noch am Rande, als sie vom Barhocker rutschte. Zum Glück wurde sie aufgefangen und von da an fehlten ihr zehn Minuten ihres Lebens. Das Gehirn schaltete erst auf der „mujer ideal“ wieder in den Normalmodus, als sie die „verruchte Braut“ bereits verlassen hatten.

Kapitel 5

Eine Erschütterung erfasste die Fähre und es dauerte nicht lange, ehe die Passagiere die angenehme Ruhe der Reise mit hektischem Kramen nach persönlichem Besitz unterbrachen. Sie standen in den Gängen, wartend auf das erlösende öffnen der Luftschleuse, als würde die Fähre jeden der nicht rechtzeitig von Bord kam, gnadenlos wieder zurückbringen. Der Einzige, dem eine eventuelle Rückkehr wirklich Sorgen machen sollte, saß gelassen in seinem Sitz und beobachtete das Treiben mit einer Ruhe, die in seiner derzeitigen Situation eigentlich wenig angebracht war. Red war zwar Frago entkommen, aber durch die ungewöhnliche Vernachlässigung seines Tötungstriebes, hatte er seine Flucht unnötigerweise erschwert. Fünf Stunden hatte der Transfer gedauert. Zeit in der er sein weiteres Vorgehen überlegen konnte. Neben der Verfolgung von Fragos Schergen, da war er sich sicher, dass sie in einer der nächsten Fähren saßen, gab es das nicht zu vernachlässigende Manko einer unbekannten Umgebung. Raumfahrt war neu für ihn und obwohl alles, was er über die „verruchte Braut“ kannte, sich nicht so unwesentlich von dem auf Eyak unterschied, machte er sich keine Illusionen, ohne Fehler bei seiner weiteren Flucht davon zu kommen. Er würde sich auf sein Improvisationstalent verlassen müssen und das war seiner Meinung nach eine seiner größten Stärken, die nicht in unmittelbaren Zusammenhang mit Gewalt standen.

Er wartete bis der letzte Passagier die Fähre verlassen hatte. Nun war er allein mit dem Kontrolleur, der ihn zur Registrierung drängte.

„Neuankömmling oder registrierter Besucher?“ fragte ihn der kleine Mann in schwarzer Uniform.

„Weder noch.“ antworte Red und hielt ihm einen grünen Jeton hin. Vorsichtig schaute sich der Kontrolleur um und griff danach, als er sich sicher war, dass niemand die beiden beobachtete.

„Registrierung der Fähre abgeschlossen.“ gab der Beamte über den Bordkommunikator durch und ließ den überraschten Red stehen. Der hatte mit mehr Komplikationen gerechnet und fast ungläubig so leichtes Spiel zu haben, trat er durch die Luftschleuse in den Habitatring 1. Hier war also der Platz an dem die Fähren alle drei Stunden an und wieder ablegten. Zwei rote Schilder über den Schaltern der Abfertigung waren das Einzige, was das Grau der metallischen Wände unterbrach. Vereinzelte Passagiere standen davor. Nur wenige wollten zurück auf den Planeten, also war die Ansammlung der Menschen überschaubar. Keine guten Vorraussetzungen für seinen Plan, denn wieder wollte er nicht in der Defensive bleiben. Alle drei Stunden würde er hier stehen und die Ankömmlinge beobachten. Die unausweichliche Konfrontation mit Fragos Schergen würde nach seinen Regeln passieren. Er brauchte das Gefühl die Dinge unter Kontrolle zu haben. Sein Blick ging nach oben. Die Habitatringe hatten mehrere Etagen und so fand er doch noch einen geeigneten Beobachtungspunkt, ohne gleich selbst erkannt zu werden.

Seine Wunden schmerzten, aber so wie er die Sache einschätzte, würde er dem Tod durch Wundbrand entgehen, solange er sicherstellte seine Verletzungen regelmäßig zu reinigen. Nur einer der Punkte, die in den nächsten drei Stunden auf seiner Liste standen. Da waren seine Narben, die ein dezentes und unauffälliges Auftreten unmöglich machten. Eine fehlende Grundvorrausetzung für die Umsetzung seines Vorhabens und obwohl jede Faser seines Körpers rebellierte, gab es nur eine Möglichkeit Fragos Vermächtnis zu kaschieren. Schminke. Wie auch auf Eyak zählte Schminke auf dem Exson nicht zu den Produkten, an denen es mangelte. Die Vielzahl an Tänzerinnen und Amüsierdamen sorgten für eine große Nachfrage und so hatte Red keine Probleme die notwendige Abdeckung zu bekommen. Trotz mangelndem Talents und Fehlgriff bei dem geeigneten Hautteint, bekam Red die notwendige Täuschung hin. So konnte er sich eine Stunde vor dem Eintreffen der nächsten Fähre, dem angenehmeren Punkt auf seiner Liste widmen. Die Beschaffung von Waffen.

Habitatring vier war eindeutig das kulturelle Zentrum des Exsons. Restaurants, Geschäfte, Bars und Casinos waren in Unmengen vorhanden. Red hatte Mühe durch die Menge an potentiellen Kunden zu gelangen und sein Ziel an illegale Waffen zu gelangen, musste er schon auf Grund des Zeitmangels aufgeben. Er kannte die Mechanismen des florierenden Waffenhandels auf Eyak, aber hier waren diese Gesetze durch das strikte Verbot nicht anwendbar. Sicher gab es auch hier Wege dieses Verbot zu umgehen, aber Reds Plan unauffällig zu bleiben, wäre gefährdet bei der Ergründung dieser Illegalität. Daher blieb ihm nur der Diebstahl eines Küchenmessers aus einer der zahlreichen Imbisse entlang des Ringes. Es würde also auf einen Nahkampf hinaus laufen und dieser hatte immer einen gewissen Reiz.

Tatsächlich erreichten seine Verfolger mit der nächsten Fähre das Exson. Red erkannte sie sofort. Alonso konnte man eine gewisse Intelligenz nicht absprechen, aber sein Verhalten war berechenbar. Es gab viele Aufträge, die sie gemeinsam in den Strassen von Eyak erledigt hatten und Red schätzte ihn als zuverlässigen Partner. Begleitet wurde er von Gomez, mit dem Red nur ein einziges Mal zu tun hatte. Seinen Mangel an Cleverness glich er mit einer extra Portion Brutalität aus. Mit seinen Achtzehn Jahren stand er am Anfang seiner Karriere in Fragos Reihen, nur zu seinem Unglück würde die nicht lange andauern, denn Gomez hatte einen Auftrag angenommen, den er nicht überleben würde.

Reds Zeitplan sah keine Eile vor. Zum einen wollte er seine Gegner studieren und zum anderen brauchte er einen Unterschlupf nach vollbrachter Tat. Auch war es taktisch klüger seinen Angriff erst kurz vor dem Sprung zu starten, da dann die Behörden keinen Spielraum für Ermittlungen hätten. Fast drei Tage lang bestand sein Alltag fast ausschließlich aus dem Beobachten seiner Verfolger, wie sie das Exson nach ihm durchsuchten. Er bemerkte den abnehmenden Elan für ihre Suche am dritten Tag und für einen kurzen Moment überlegte er die Beiden nicht ihrer Vorherbestimmung zuzuführen, zu Mal sie schon Fahrkarten für die letzte Fähre vor dem Sprung kauften. Er verwarf diesen mitleidigen Gedanken, denn dann würden sie ihn nie in Ruhe lassen. Eine Abschreckung hätte vermutlich größeren Nutzen und die Vorstellung eines tobenden Fragos nach der Präsentation seiner toten Männer, ließen den Spieler in Red siegen. Er wollte es. Nein er brauchte es. Er vermisste die Gewalt schon nach ein paar Tagen.

Er klärte seinen Weitertransport in einer dieser Bars, in der illegale Geschäfte eher die Regel als die Ausnahme darstellten. Ein rostiges kleines Frachtschiff mit dem simplen Namen „Diablo“ würde ihn von Bord bringen. Befehligt wurde dieser Seelenverkäufer von einem zwielichtigen Kommandanten, der seinen Unterhalt mit allerlei verbotenen Produkten bestritt. Kolja machte auch keinen Halt vor dem Schmuggeln von menschlicher Handelsware und die Erfahrung im Verschleiern solcher Geschäfte war für Red der ausschlaggebende Punkt seine Flucht auf der „Diablo“ fortzusetzen. Als zukünftig gesuchter Mörder gab es nichts Diskreteres und diese Umgebung war ein idealer Ausgangspunkt für seine Pläne der Galaxie seinen Stempel aufzudrücken.

Nun galt es nur noch einen geeigneten Platz für seinen blutigen Abschiedsgruß an Frago zu finden. Eine Bar namens „Twister“ war die Wahl für das blutige Finale. Neben dem dämmrigen Licht, gab es noch weitere Vorteile. Das Fehlen jeglicher Kameras hatte dem Wirt zusätzliche Gäste eingebracht, da hier Geschäfte außerhalb der Reichweite des Exson-Sicherheitsdienstes ablaufen konnten. Ideal für Reds Pläne. Alonso und Gomez verbrachten hier die Pausen zwischen ihren Suchen und da die Motivation zuletzt gegen null ging ihn zu finden, saßen sie schon seit zwei Stunden an dem kleinen Tisch in der Ecke. Angetrunken unterhielten sie sich über die Sinnlosigkeit ihres Unterfangens und bemerkten nicht wie Red die Bar betrat.

Das „Twister“ war brechend voll. Die Lüftung kämpfte gegen das Gemisch aus Schweiß und Zigarettenqualm. Es war unmöglich Gesprächsfetzen der einzelnen Unterhaltung zu vernehmen, denn der Grundpegel an Lärm war so hoch, dass ein lautes Durcheinander an Stimmen jegliche Einzeltöne überdeckte. Die Musik war nur ein klägliches Hintergrundgeräusch und es war für Red unmöglich die Stilrichtung zu erkennen. Die Bedienungen waren allesamt beschäftigt die Bestellungen der Gäste aufzunehmen, so dass er unauffällig in der Menge agieren konnte. Das dämmrige Licht machte es schwer Gesichter zu erkennen, aber er wusste, wo seine Opfer saßen. Zielsicher steuerte er auf die beiden zu, schob seine Kapuze über den Kopf und war hoch konzentriert auf das, was er vorhatte. Ganze zwei Meter trennten ihn noch, als er plötzlich unerwartet aufgehalten wurde.

„Hey. Was haben wir denn hier für eine Schönheitskönigin.“ wurde er von einem Betrunkenen angebrüllt, der offensichtlich seine Schminke entdeckt hatte. Wütend über die Unterbrechung musste sich Red beherrschen, das Küchenmesser dem Störenfried nicht in die Rippen zu jagen.

„Oh Gott, mein Beileid.“ stammelte der Betrunkene, als er den Grund für die Schminke bemerkte. Red konzentrierte sich wieder auf den Tisch. Alonso saß mit dem Rücken zu ihm, während der Stuhl gegenüber frei war. Die Ablenkung hatte dafür gesorgt, dass er den Toilettengang von Gomez verpasst hatte. Umso besser. So konnte er sich sie getrennt vornehmen, also steuerte er auf den Gang zu den Toiletten hin.

Der Gestank war widerlich, als er die Tür zur Toilette öffnete. Zwei Personen konnte er ausmachen. Die schwankende Gestalt vor dem ersten Urinal hatte Mühe mit dem Gleichgewicht und dem Verpacken seines besten Stückes. Auf den Ausgang zutaumelnd, versuchte er immer noch alles wieder zu verstauen, als Red sich vor ihm aufbaute. Kein Gomez. Der stand am letzten Urinal und versuchte sich in Zielübungen an einem Klostein. Red wartete den Moment bis sie alleine waren, zog sein Messer und verfrachtete Gomez gewaltsam in eine der Boxen. Dieser war vollkommen überrascht und die runter gelassenen Hosen verliehen der ganzen Situation eine gewisse Komik.

„Red. Scheiße du bist doch hier. Töte mich nicht, ich kann dir….“ weiter kam Gomez nicht, denn Red hatte den tödlichen Kehlenschnitt bereits vollendet. Erst als keinerlei Leben mehr in dem Körper steckte, verließ Red die Box.

Befriedigung und Vorfreude durchfluteten ihn, als er wieder in der Bar stand. Ein herrliches Gefühl so unter Anspannung zu stehen. Langsam ging er auf Alonso zu, der nichts von dem drohenden Unheil ahnte. Schnell und leise wollte er die Sache vollenden. Zu seinem Glück stand der Tisch ziemlich abseits, so dass nur eine Hand voll Leute etwas mitbekommen würden.

Unbedrängt gelangte er in den Rücken von Alonso. Er saß jetzt genau vor ihm und alles was er noch tun musste, war seinen Schopf zu packen und das Messer an die Kehle zu führen. Ein zu offensichtlicher Mord, also trat er den Schritt neben ihn, um seinen Körper als Sichtschutz zwischen ihn und mögliche Zeugen zu bringen. Alonso schaute auf, aber da war es schon zu spät. Das Messer zerfetzte seine Kehle und ohne einen erkennbaren Laut von sich zu geben, wurde sein Kopf zuckend auf den Tisch vor ihm gedrückt.

„Kotzt der gerade vor sich hin?“ kam es aus Reds Rücken. Es war derselbe Betrunkene, der auch schon die Schminke bemerkte. Reds Griff hielt den Kopf eisern auf den Tisch gepresst. Das Blut floss aus der offenen Wunde und in diesem fahlen Licht war es schwer von Erbrochenem zu unterscheiden.

„Lass das nicht den Wirt sehen.“ Damit wandte er sich wieder seinen nicht minder betrunkenen Freunden zu.

Red wartete noch eine Minute bis er sicher war, dass keinerlei Regung mehr von Alonso ausgehen würde, dann ging er gelassen und ruhig auf den Ausgang zu. Niemand beachtete ihn und so blieb das Blut auf seinen Ärmeln genauso unerkannt, wie das zufriedene Lächeln auf seinem Gesicht. Er war glücklich und als er die Schreie der Bedienung vernahm, krönte es die Perfektion des Augenblicks. Am Ausgang gönnte er sich einen letzten Blick zurück in die Bar und die aufgescheuchte Menge versetzte ihm den finalen Kick in seinem Rausch, bevor das logische Denken das Handeln wieder übernahm.

Er zog seine Jacke aus, knüllte sie so zusammen das keinerlei Blut erkennbar war und trat auf den hell erleuchteten Gang vor der Bar. Sein Plan sah vor in der Menge der flüchtenden Gäste unterzutauchen, aber statt schreiend vor den Leichen wegzurennen, versuchten immer mehr Leute in das „Twister“ zu gelangen, um ihre Neugier zu befriedigen. Seine Flucht glich einem Schwimmen gegen den Strom. Die abschreckende Wirkung von Toten in Eyaks Bars und Casinos wurde hier auf dem Exson vollkommen umgekehrt. Jeder wollte das seltene Ereignis eines Toten sehen, um im anschließenden Klatsch seine eigene Version zum Besten zu geben.

Die vollkommen gegensätzliche Reaktion zu den Umstehenden versetzte Red in ungewollte Aufregung. Das Eintauchen in die anonyme Masse von Schaulustigen zur Tarnung seiner Flucht ging gehörig schief. Er verhielt sich so asynchron zur Menge, dass eine Warnleuchte auf seinem Kopf weniger auffallen würde als sein Verhalten. Die Kameras auf dem Flur taten ihr Übriges und so blieb ihm nur die Hoffnung, dass in den verbleibenden dreißig Minuten bis zum Sprung keiner die richtigen Schlüsse ziehen würde. Schon fast krampfhaft unauffällig steuerte er auf die Andockbucht seines Fluchtschiffes zu, um sein neues Leben in den Weiten der Galaxis zu beginnen. Große Pläne von Reichtum und Macht, aber vor allen Dingen Respekt und Anerkennung auf dem Fundament von Furcht. Die drei Buchstaben seines Namens sollten bis in die letzten Winkel des Alls vordringen und irgendwann auch auf Eyak einschlagen. Instinktiv hatte er Frago am Leben gelassen und nun enthüllte ihm sein Unterbewusstsein den Grund, wie ein Magier, der ein Kaninchen aus dem Hut zauberte. Fragos Tod würde einhergehen mit der Erkenntnis, dass er Red unterschätzt hatte. Das war sein Ziel. Das perfekte Ende seines Lebenstraums.

Sein Plan ging auf und unbehelligt fand er den Weg zu seinem Unterschlupf. Die „Diablo“ war zu Zeiten der Vorfahren ein medizinisches Versorgungsschiff gewesen. Ein interstellares Krankenhaus, das in den letzten tausend Jahren mehrfach verändert wurde. Von den ursprünglich knapp hundert Krankenkabinen waren nur sieben Räume übrig geblieben. Das einst so stolze Schiff wurde zusammengeschrumpft auf diesen kläglichen Quader und diente Kolja heute als Grundlage seines Broterwerbs. Neben seinem eigenen Quartier, gab es zwei weitere Unterkünfte für seine Mannschaft, die aus einem langen, dürren Kerl namens Igor und seinem von der Statur her absolut gegensätzlichen Kumpanen Olof bestand. Der Großteil des Schiffes war der Laderaum, der wie sich später herausstellen sollte, einen abgetrennten und nicht so leicht erkennbaren Sonderteil besaß, in dem sich Waren des nicht all zu täglichen Bedarfes transportieren ließen. Ein einträgliches Zusatzgeschäft, wie auch der Handel mit menschlicher Ware, für die Kolja das so genannte „Freudenzimmer" eingerichtet hatte. Die bis zu zehn meist weiblichen „Passagiere“ verbrachten die Reise auf dem Boden dieses „Freudenzimmers“, um dann einer Zukunft in den Bordellen dieser Galaxie entgegen zu sehen. Was auf Eyak im räumlich begrenzten Mikrokosmos der Zwangsprostitution funktionierte, klappte auch im interstellaren Maßstab. Die Nachfrage nach jungen Mädchen riss selbst in der größten Krise nicht ab und in den Zeiten, in denen sich kein gutes Geld mit herkömmlicher Ware verdienen ließ, konnte sich Kolja dank seiner guten Kontakte mit diesen Geschäften über Wasser halten.

Für Red war die „Diablo“ ein regelrechter Glücksfall, denn Kolja duldete seine Anwesenheit, solange Fragos gestohlene Jetons sein Aufenthaltsrecht garantierten. Das ermöglichte ihm einen ersten Einblick in die intergalaktische Handelswelt. Obwohl die Geschäftspraktiken nicht eins zu eins mit denen auf Eyak zu vergleichen waren, konnte Red seine eigenen Erfahrungen aus dem scheinbar provinziellen Gewerbe seiner Heimat gewinnbringend anwenden. Eine gute Basis, um die kleinen Unterschiede auf dem neuen Spielfeld zu erkennen. Erste wichtige Lektion war die Grenzen seiner beschränkten Sichtweise zu erweitern. Alles war um Längen gewaltiger. Nicht Meter war das Maß, sondern Lichtjahre. Hier wurde nicht in Gramm gehandelt, sondern in Tonnen und die Ware wurde nicht mit dem hauseigenen Transporter geliefert, sondern mit Raumschiffen. Letzteres war neben den üblichen Netzwerken, der entscheidende Nachteil für einen neuen Spieler wie Red. Schiffe waren keine Handelsware. Es gab keinen Markt dafür, und sollte doch aus den verrücktesten Gründen jemand ein Raumschiff zum Verkauf anbieten, war das Interesse so hoch, dass der Preis schnell ins Unerschwingliche ging. Das eigentlich reichlich Erbe der Vorfahren war zum Luxusgut verkommen. Jedes Jahr wurden es weniger und nicht nur die Exson beklagten den Rückgang ihrer Kundschaft. Jede einzelne Welt war auf den galaktischen Handel angewiesen und so stand die Menschheit vor einer erneuten Spirale aus Not und Elend. Gewalt und Gier waren die Lunte für den endgültigen Knall und wenn Red den Ausführungen von Kolja glauben schenken konnte, hatte sich in den letzten Jahren die Lage zugespitzt. Der Mangel an Vorfahrentechnik ließ den Rest der verkümmerten Umgangsformen unter den Raumfahrern schwinden. Ein idealer Einstiegszeitpunkt für Red mit seiner unbefangenen Sicht der Dinge. Den Gewinnern gehörte am Ende die Galaxie und seine eigenen Pläne von uneingeschränkter Macht deckten sich mit dem vorhersehbaren Szenario.

Die erste Etappe hin zu diesem lukrativen Ende war die Beschaffung eines Raumschiffes. Den Gedanken Kolja einfach den Hals umzudrehen und ihn als Kommandant zu ersetzen, verwarf Red in jenem Moment, als er in der Datenbank von Schiffen erfuhr, die unabhängig von den Exsons, Ziele innerhalb der Galaxie ansteuern konnten. Ein Überlichtantrieb besaßen nur privilegierte Raumfahrer und schon allein privilegiert zu sein, hielt Red für sein Geburtsrecht. So verlängerte er seinen Aufenthalt auf der „Diablo“ um einige Wochen, denn alles was er über die Welten erfuhr, die Kolja ansteuerte, bestätigte ihn in der Überzeugung, dass die beschränkten Verhältnisse von Eyak übertragbar waren auf jeden der von Menschen besiedelten Planeten. Sein Ziel war nur hier draußen erreichbar und noch fehlten ihm die Vorraussetzungen für die Umsetzung seiner Pläne. Er hielt sich bedeckt und lernte die Spielregeln. Erst wenn er sicher war alles genau verstanden zu haben, würde er diese brechen, um seine eigenen Vorteile daraus zu ziehen.

Sieben Wochen begleitete Red die Mannschaft der „Diablo“ und die guten Geschäfte in der Zeit waren Koljas untrüglichem Gespür für gute Gelegenheiten zu verdanken. Es war beeindruckend, wie optimal er Angebot und Nachfrage auf die jeweiligen Flugrouten anpasste. Sein Talent auch die heiße Ware termingerecht und ohne große Probleme zu liefern, ermöglichte Red den Einblick in die Illegalität, die die Basis für seinen Aufstieg bilden sollte. Natürlich gab Kolja diese Informationen nicht freiwillig raus und die Neugierde, die sich in der Enge des Schiffes nicht verbergen ließ, verärgerte diesen zunehmend. Spannungen bauten sich auf und nur die regelmäßige Zahlung für seinen Aufenthalt verhinderten Reds Rausschmiss.

Koljas beeindruckende wirtschaftliche und technische Fähigkeiten, niemand kannte das Schiff besser als er, standen der vollkommenen Unfähigkeit seiner sozialen Kompetenz gegenüber. Die Mannschaft war sichtlich unzufrieden und das war der Punkt, an dem Red ansetzte. Die vergangenen Wochen voller Untätigkeit waren ihm trotz aller Disziplin zu wider und das Verlangen dem lange unterdrückten Trieb jemanden weh zu tun endlich wieder nachgeben zu können, steigerte sich mit jedem Tag. Der ursprünglich verworfene Plan die „Diablo“ zu übernehmen, hatte plötzlich wieder seinen Reiz. Warum nicht? In den sieben Wochen hatte er nicht ein einziges Schiff mit Überlichtantrieb gesehen und seine ohne hin kaum zu verwirklichenden Besitzansprüche an solch einen Transporter hatten daher nicht mal die Gelegenheit für ein Scheitern. Die Unzufriedenheit der Mannschaft schrie förmlich nach einem neuen Kommandanten und somit hätte er nicht nur das Schiff, sondern auch die zugehörige Besatzung. Die Gelegenheit war mehr als günstig, nur musste er klar stellen, dass es eine neue Führung nicht unter Igor oder Olof geben würde. Letzterer hatte nicht das Zeug zum Anführer und so blieb nur Igor die eigentliche Herausforderung.

Red wurde förmlich zum Handeln gezwungen. Sie befanden sich gerade auf dem Rückweg von Lassik und bis zum Exson waren es noch ganze dreizehn Stunden. Irgendwas war schief gelaufen im eintönigen Alltag auf dem Schiff. Solche kleinen Fehler waren nichts Ungewöhnliches und meist war die Ursache auf die marode Technik zurückzuführen, aber dieses Mal musste Igor eine extra Portion Überheblichkeit seines Kommandanten einstecken. Eine halbe Stunde musste er sich anhören, wie sehr doch der defekte Treibstoffregler von ihrem Überleben abhänge, wobei der größte Teil der Ansprache persönliche Beleidigungen enthielt und damit Igors Frustpegel auf die Spitze trieb. Red stand daneben und ließ es sich nicht nehmen seine eigenen Kommentare zu dem Vorfall zu verfassen, immer mit dem Ziel, Igors Hemmschwelle zum Einsturz zu bringen. Dieser zeigte überraschend viel Disziplin und so war es Kolja, dem der Knoten platzte. Seine Wut umlenkend schleuderte er Red seine Vorrauszahlung entgegen, mit der wenig freundlichen Aufforderung das Schiff bei Ankunft auf dem Exson zu verlassen.

Nun war Reds Improvisationstalent gefragt, denn das Schiff zu übernehmen war beschlossene Sache. Ohne Igors Hilfe ein hoffnungsloses Unterfangen und so blieben ihm nur ein paar Stunden, um das Vorhaben umzusetzen. Er musste Igor unbedingt in der aufgewühlten Stimmung erwischen und so war er froh, als er ihn allein im Aufenthaltsraum antraf.

„Scheiß Tag, oder?“ sprach er ihn an und stellte ihm ein Glas „ordentlich Gebrannten“ vor die Nase. Igor reagierte mit schweigender Ablehnung.

„Guter Stoff von Eyak. Ich habe ewig dafür auf den Exsons suchen müssen.“ Red kippte sich sein Glas hinter. Jetzt griff auch Igor zu.

„Zum Abschied holst du das gute Zeug raus.“ kommentierte er das Gebräu, während Red sein Glas wieder auffüllte.

„Muss ja kein Abschied sein.“ legte Red den ersten taktischen Baustein. Igor zischte nur verächtlich.

„Hab ich dir je erzählt wie ich zu meinem blendenden Aussehen gekommen bin? Du weißt ich habe in diesem Casino gearbeitet. Drecksarbeit wie Schulden eintreiben oder Abschaum verprügeln. Der richtig kranke Scheiß. Und haben es mir diese hochnäsigen Casinospinner gedankt? Natürlich nicht. Ganz im Gegenteil. Wehe es hat mal zu lange gedauert oder ich habe nicht alles bekommen, dann haben die mich ähnlich zur Sau gemacht, wie dich gerade.“ Red ließ seine Geschichte kurz sacken.

„Und dann kam dieser Pisser von Cooper. Hat das Casino um mehrere schwarze Jetons betrogen. Weitere Drecksarbeit für mich. Leider ist mir die Ratte entkommen. Weißt du warum?“ Reds Plan war es Igors volle Aufmerksamkeit für seine Lügengeschichte zu bekommen.

„Sie haben mir einfach die falsche Adresse gegeben. Es war nicht meine Schuld, dass er entkommen war. Glaubst du sie haben ihren Fehler zugegeben? Natürlich nicht. Sie brauchten einen Sündenbock und da haben sie sich nicht lumpen lassen und mir diese Schönheitsoperation verpasst.“ Red unterbrach seine Geschichte erneut.

„Scheiße.“ bekam er von Igor als Bestätigung, dass er einen Nerv getroffen hatte.

„Und was mache ich? Bin trotzdem wieder dorthin gerannt und habe dieselbe Scheiße weiter gemacht. Kein Tag ohne neue Demütigung. Ich war so blöd, weil ich dachte es gibt nichts Anderes für mich. Ich habe gelernt damit zu leben. Eines Tages konnte ich nicht mehr damit leben und habe meinem Chef die Kniescheiben weggeschossen.“ Wieder eine Pause.

„Die beste Entscheidung meines Lebens. Warum habe ich das nicht eher gemacht? Weil ich ein Feigling war. Schau mich an. Heute reise ich durch die Galaxie, bin frei und habe ein glückliches Leben. Keiner demütigt mich mehr.“ Red spürte förmlich wie es in Igor arbeitete.

„Scheiße.“ polterte dieser los.

„Es vergeht kein Tag an dem ich Kolja nicht mindestens einmal den Hals umdrehen will und glaub mir ich war schon mehr als einmal kurz davor es zu machen. Aber was dann? Er besitzt als Einziger den Zugang für das Schiff. Selbst wenn er so „freundlich“ wäre ihn uns zu überlassen, was sollen wir mit dem Schiff anfangen? Niemand würde mit uns Geschäfte machen, denn sein scheiß Netzwerk funktioniert nun mal ohne ihn nicht.“ Igor wirkte verzweifelt. Genau die richtige Stimmung für Reds nächsten Schritt.

„Wenn das alle deine Sorgen sind, kann ich euch helfen. Bereit ein Risiko einzugehen? Oder willst du doch lieber ein Leben lang der Laufbursche dieses aufgeblasenen Wichtigtuers sein? Die harte Schule von Eyak hat mir ein gutes Näschen für Geschäfte eingebracht. Hier mein Angebot. Wir sind gleichberechtigte Partner. Für jeden ein Drittel. Was sagst du? Ist doch ein guter Preis für eine Meuterei.“ Reds Art die Dinge anzugehen gab am Ende den Ausschlag für Igor dem Angebot nachzugeben. Gemeinsam mit Olof betraten sie Koljas Kabine und nur Reds vorausschauende Denkweise hinderte sie daran, Kolja nicht sofort durch die Luftschleuse zu blasen. Sie brauchten ihn lebend für die Übernahme seiner Geschäfte und die lange vernachlässigte Gewalt in Red bekam eine neue Spielwiese. Ganze zwei Stunden hielt Kolja stand, dann machte er die Schiffsysteme für die neue Mannschaft nutzbar. Sechs Monate ließen sie ihn mehr oder weniger am Leben für eine schrittweise Übertragung seiner Geschäftspartner. Im gleichen Maße wie sein Einfluss schwand, wurde Red ein ernst zunehmender Schmuggler und als Kolja seinen letzten Atemzug an Bord der „Diablo“ tat, hatte jeder noch so hartnäckige Händler den neuen Kommandanten akzeptiert. Mit der richtigen Mischung aus Geschick, Taktik und Gewalt hatte es Red geschafft seine eigenen Visionen eines florierenden Unternehmens zu festigen. Er war auf einem guten Weg, aber natürlich gab er sich nicht mit diesem rostigen Quader zufrieden. Dieser war nur ein Schritt zu seinen eigentlichen Zielen und die manifestierten sich in der Person einer Händlerin namens Ruby. Gottgleich herrschte sie über die Geschäfte in der Galaxie und faktisch nichts ging ohne ihr Wissen. Eine Flotte von Handelsschiffen sicherte ihr die Position der Nummer Eins und das Wohl und Wehe ambitionierter Emporkömmlinge war immer ein Stück abhängig von ihren Launen. Für Red war es ein Absurdum, dass eine Frau seinen Lebenstraum verwirklichte und der zusätzliche Anreiz diesen femininen Irrtum zu beseitigen, bestärkte ihn in der Hingabe an der Errichtung eines männlichen Gegenpols.

Vier Jahre durchkreuzte die „Diablo“ die Galaxie, ohne ersichtlichen Fortschritt in der Verwirklichung von Reds Zielen der Allmacht. Er hatte sich einen gewissen Stand als Schmuggler erarbeitet, aber in letzter Zeit stagnierte seine Expansion der Machtansprüche. Die Bereitschaft ein größeres Risiko einzugehen, wurde auf Grund dieses Stillstandes von Tag zu Tag mehr und nur die Narben in seinem Gesicht hielten ihn von der „Alles oder Nichts“ Taktik ab. Ein Zeugnis einer längst vergessenen Vergangenheit, die ihm das Scheitern eines solchen Vorhabens jeden Morgen im Spiegel aufzeigten. Die Erinnerungen an die Einzelheiten des Putschversuches auf Eyak waren längst verschwommen, nur das Ergebnis stand ihm unwiderruflich ins Gesicht geschrieben. Es war keine Feigheit, die ihn hinderte diesen Versuch in größerem Maßstab zu wiederholen, es war schlicht und einfach die Erkenntnis der Sinnlosigkeit dieses Unterfangens. Ein ausgefeilter und langwieriger Plan war da weitaus viel versprechender. Aber genau da lag sein Problem. Es gab keinen geeigneten Ansatzpunkt und das desillusionierte ihn jeden Tag mehr. Selbst die Frustbekämpfung in den Bordellen diverser Welten konnte da keine Abhilfe schaffen, bis eines Tages ihm das Glück in ungewohnter Weise vor die Füße fiel.

Er war sich am Anfang nicht sicher, da die Bewegungen und Gesten des Getränke servierenden Männerbedarfs nicht zu dem bekannten Gesicht aus den längst vergangenen Tagen von Eyak passte. Es lag zuviel Selbstvertrauen in dem Umgang mit der pöbelnden Gesellschaft des „Hustlers“, einer üblen Spelunke auf dem Exson mit dem wohl klingenden Namen „der mystische Garten“, als das die Widererkennung zweifelsfrei wäre. Erst die rotblonden Haare, die Red damals nur im Ansatz erkennen konnte und ihn in endlose Fantasien von Sex und Gewalt abtauchen ließen, bestätigten ihn in der Annahme, Coopers ehemaliges Laufmädchen hinter dem Tresen zu haben. Der Grund für die übereilte Flucht von Eyak vor mehr als vier Jahren und sein Unterbewusstsein ließ es sich nicht nehmen, die längst archivierten Erinnerungen erneut in sein Bewusstsein zu schieben.

Sie hatte sich nicht nur in ihrem Auftreten verändert, auch ihr Aussehen hatte sich deutlich verbessert. Allein die Frisur war nicht vergleichbar mit dem fettigen Kurzhaargewirr des damaligen Drogenjunkies. Ihre Strähnen hatten diesen Glanz, als wäre sie erst vor einer halben Stunde der Dusche entstiegen. Jede Bewegung ihres Kopfes ließ es wie Seide übereinander fallen und die Natürlichkeit mit diesem Anteil an Rot war eine perfekte Kreation aus dem Spektrum möglicher Farben. Die Haut hatte jene dezente Blässe, die üblich war für das Leben im All und ihre Schminke war die ideale Ergänzung für ihr attraktives Gesicht. Die dürre Gestalt war einem formvollendeten Körper gewichen und ihre Kleidung betonte jede ihrer Vorzüge. Ohne Zweifel war sie das uneingeschränkte Kunstwerk in dieser Bar. Ein Kunstwerk, was es dringend zu zerstören galt.

Red musste dringend hier raus. Seine Überraschung und die Faszination hatten ihn unvorsichtig werden lassen, aber so wie er die Sache einschätzte, war er von ihr unbemerkt geblieben. Über die Jahre hatte er seine eigene Schminkkunst verbessert, so dass er gut getarnt nur einer von vielen Durstigen war. An Bord der „Diablo“ zweifelte er noch mal kurz an der Richtigkeit seiner Entdeckung, entschied dann aber auch im Falle eines Irrtums aktiv zu werden. Er brauchte noch Frischfleisch und ob er nun richtig lag mit dem Barmädchen oder nicht war zweitrangig, denn dieses Exemplar im „Hustler“ würde zwangsläufig durch ihr Aussehen ein gutes Geschäft werden. Das „Freudenzimmer“ enthielt bereits menschliche Ware von Comox und der Handel sollte ihm neue Zugangswege in dem Geschäftszweig der Sklaverei ermöglichen. In einem Anfall von göttlicher Gnade hatte Ruby ihm dieses Geschäft zugesagt und Red sah es als Sprungbrett in die gehobenen Kreise des intergalaktischen Handels.

Seine übliche Anwerbung von Sklaven, falsche Versprechen über gut verkaufte Illusionen, war in dem geplanten Unterfangen nicht anwendbar. Es gab eigentlich nur eine Möglichkeit und die war sehr riskant. Eine Entführung vom Exson konnte ihm lebenslangen Ärger einbringen, aber alles Andere war keine Alternative. Die offene Rechnung mit diesem Luder von Eyak war die ausstehende Strafe wert. Seine Jetons würden reichen für ein frei kaufen im Falle eines Scheiterns, also setzte er sich an die Ausarbeitung eines Plans. Beobachten stand wieder ganz oben auf der Liste und so machte er sich möglichst unauffällig gekleidet wieder auf den Weg zum „Hustler“.

Zu seiner Überraschung traf er das Objekt seiner Begierde nicht an. Eine pummlige kleine Blondine hatte die Arbeit übernommen und nicht nur Red war enttäuscht über den unerwarteten Wechsel. Es war deutlich weniger Betrieb an der Bar und die Anteilnahme an der nicht gerade stressfreien Zubereitung von Getränken, war um einiges geringer als bei ihrer Vorgängerin.

„Na toll. Noch ein Säufer mehr und ich bin hier ganz allein.“ fluchte diese ungeniert, als Red sich auf einen der Barhocker setzte. Offenbar wurde sie von der Rotblonden Bedienung einfach allein gelassen. Reds Gedanken überschlugen sich und als er die passende Antwort in diesem Chaos aus Gedanken gefunden hatte, sah er sie bereits am Eingang stehen. Er war also doch nicht unbemerkt geblieben. Breitbeinig stand sie in der Tür, den Blick fest auf ihn gerichtet, mit einem Ausdruck, den er gut kannte. Blutdurst. Diese Frau wollte nur eins. Rache.

Selbstbewusst ging er auf sie zu, sie nicht aus den Augen lassend. Wie zwei Cowboys, die bereit waren ihre Revolver zu ziehen, sollte der Gegner auch nur die kleinste feindliche Reaktion zeigen. Ohne auch nur einmal den Blick von ihr abzuwenden, kam er einen Meter vor ihr zum Stehen. Eine doppelte Blockade des Eingangs, gespeist von Wut und Hass auf der einen Seite, sowie der Gier nach Gewalt auf der anderen Seite.

„Lange nicht gesehen.“ durchbrach Red das Schweigen. Der hasserfüllte Blick war die einzige Antwort, die sie ihm zugestand.

„Gut. Du erinnerst dich noch an mich. Ich nehme mal an du willst mich töten. Dasselbe habe ich mit dir vor.“ führte Red den Monolog fort.

„Bleibt die Frage wie wir das klären.“ Immer noch kein Wort als Antwort.

„Hast du die Stimme verloren?“ fragte Red genervt.

„Lass uns den Zauber des Tötens nicht mit reden kaputt machen. Ich will dich einfach nur umbringen.“

„Oh. Da hast du vermutlich mehr Eier, als die meisten hier drin. Also wie machen wir es?“

„Schleuse 22b. Da sind wir ungestört. In zwei Stunden.“

„Ein Duell. Mir Recht. Die Waffen?“

„Messer. Zwei Sekundanten. Sei pünktlich und wage es ja nicht dich aus dem Staub zu machen. Ich kenne dein Schiff.“

„Das habe ich nicht vor. Die offene Rechnung zwischen uns beiden beruht auf Gegenseitigkeit.“ Wie zwei Preisboxer beim Wiegen starrten sie sich hasserfüllt an. Keiner war bereit den Blick abzuwenden und erst der Sicherheitsdienst, der die Blockade des Einganges als Störung der geregelten Abläufe ansah, beendete das Kräfte messen.

Zurück auf der „Diablo“ konnte Red sein Glück kaum fassen. Die Geschehnisse hatten eine Wendung genommen, die eine langwierige Planung seiner Rache hinfällig machten. Anstatt sich zu verkriechen, hatte dieser Getränke servierende Rotschopf zu seiner Überraschung plötzlich Mumm gezeigt. Es würde also auf einen Zweikampf hinauslaufen, wie in den guten alten Zeiten, in denen man sich mit Mantel und Degen in einem Wald traf und bis zum Tod eines der Duellanten kämpfte. Er würde zwar auf die eine oder andere Fantasie verzichten müssen, immerhin hatten die sich überschlagen, als er die rotblonde Mähne im „Hustler“ erblickte, aber die Aussicht, die Vergeltung mit einem Messer verwirklichen zu können, versetzte ihn in Verzückung. Auch wenn sein Gegner minderwertig war, für Red gehörten Frauen mit Messern höchstens in die Küche, konnte er eine gewisse Vorfreude nicht leugnen. Er hatte sich arrangiert mit dem Minimum an Gewalt, was sein neues Leben als Schmuggler manchmal langweilig wirken ließ. Daher sah er in dem Duell eine willkommene Abwechslung.

Pünktlich erschien er mit Igor und Olof an dem vereinbarten Treffpunkt. Ein ungenutzter Teil des Exsons, wo lediglich alle paar Stunden der Sicherheitsdienst nach dem Rechten schaute. Hier waren sie ungestört, denn selbst die Kameras waren abmontiert worden. Die Kampfzone bestand aus einer jener Luftschleusen, die für Schiffe mit größeren Abmessungen vorgesehen waren. Nichts, was in den heutigen Zeiten in großen Mengen vorhanden war, daher war die Wartung und Pflege auf das Notwendigste reduziert worden. Die letzte Reinigung lag schon geraume Zeit zurück und die dicke Schicht Staub auf dem Boden, ließ das Duell eher zu einer Art Straßenkampf verkommen.

„Lauschiges Plätzchen, was du dir ausgesucht hast.“ begrüßte Red seinen schon wartenden Gegner. Neben ihr standen noch zwei weitere Personen in der Schleuse, die aus Reds Sicht nicht besonders Furcht einflößend wirkten.

„Du mimst immer noch die Schweigsame. Gut legen wir los.“ Red zog sein Messer. Ein Prachtstück mit einer 15cm langen gezackten Klinge. Das Ziel ihr damit den ersten Schrecken einzujagen, verfehlte er, da sie genau dasselbe Modell zum Vorschein brachte.

„Guter Geschmack.“ kommentierte er den komischen Zufall.

Der Nachteil seiner Arroganz wurde ihm mit dem Kontern seines ersten Angriffes bewusst. Verdammt, sie wich ihm nicht nur aus, sondern startete auch noch einen Gegenangriff, der ihm beinahe einen Stich in die linke Bauchgegend einbrachte. Nur ein geschicktes Drehen auf dem rechten Fuß verhinderte den Fehlstart. Dieses Miststück hatte eindeutig nichts mehr mit dem elendigen Junkie auf Eyak zu tun.

„Du hast trainiert.“ kommentierte er das Manöver, als sie sich wieder lauernd gegenüber standen. Er musste unbedingt Souveränität waren, denn so leichtes Spiel wie er erwarte hatte, würde es nicht werden.

„Quatsch nicht.“ bekam er als Antwort und kaum war das letzte Wort verhallt, startete sie ihren ersten Angriff. Das Messer sauste von links oben auf ihn zu und gerade als er ein geeignetes Abwehrmanöver starten wollte, bemerkte er ihren Ellenbogen, der von rechts unten auf sein Kinn zusteuerte. Wo hatte sie diese Tricks her? Mit einer Reaktion, die er sich selber nicht zugetraut hatte, drehte er seinen Kopf und bewahrte sich damit selbst vor einem schweren Wirkungstreffer. Trotzdem war der Aufschlag unvermeidbar und ließ ihn leicht rückwärts taumeln. Zu seinem Glück setzte sie nicht nach, da sie ihr eigenes Körpergewicht auf Grund des nur halb geglückten Angriffes ausgleichen musste.

„Verdammt.“ entglitt es Red, als er das Blut an seinem Kopf bemerkte. Die Wut gab ihm die nötige Konsequenz für den weiteren Verlauf des Kampfes. Kein Spiel mehr mit höchst möglicher Demütigung für seinen Gegner, hier ging es auch um sein Leben. Als Bestätigung dieser Erkenntnis setzte das Adrenalin ein.

Erneut startete sie einen Angriff, aber dieses Mal war er besser vorbereitet und durchschaute die Attacke. Seine Parade erlaubte ihm sogar einen kleinen Gegenstoß und zum ersten Mal musste sie einen Treffer durch den Messer-Schaft einstecken. Jetzt war er in seinem Element. Vollkommende Konzentration auf den Kampf. Nichts anderes war mehr in seinem Geist. Jede einzelne Zelle in seinem Körper war auf das Überleben ausgerichtet. Wieder ein Angriff, aber Vernunft und Verstand waren längst ausgeblendet. Reiner Instinkt beherrschte sein handeln. Instinkte, die geformt wurden durch die Kloake, die sein Leben darstellte und da gab es nur eine Regel. Töte oder du wirst getötet. Dieser Leitsatz war das Programm für den mentalen Kampfroboter, der die Abwehr organisierte. Kein bewusstes Handeln hätte dieses Ausweichmanöver hinbekommen und das perfekte Zusammenspiel zwischen Geist, Muskeln und Koordination für den Gegenangriff ging nur im reinen Zustand des Kampfrausches. Bevor es Red überhaupt bewusst wurde, sah er sein Messer auf den Körper seines Gegners niedersausen und in jenem Moment, als er sich ein klein wenig Triumphgefühl gönnen wollte, sah er das Unheil kommen. Im Bruchteil einer Sekunde berechnete ihm der Supercomputer seines Gehirns, dass es nicht reichen würde. Die von links anfliegende Faust würde genau den Augenblick eher einschlagen, den es benötigte, um die tot bringende Attacke zu unterbinden. Kein großer Schmerz begleitete den Einschlag und die Intensität, mit der der Schlag ausgeführt wurde, war sogar um einiges geringer als sein erster Treffer. Allein die Stelle, an der er getroffen wurde, entschied über seine Niederlage. Unzählige Male hatte er auf Eyak damit zahlungsunwillige Kunden in die Ohnmacht geschickt. Diese spezielle Position unmittelbar an der Schläfe, führte sogar öfter in den Tod. Nun hatte es ihn erwischt und die Demütigung durch eine Frau genau auf die Art und Weise besiegt worden zu sein, ging in der Konfusion seines Geistes als unmittelbare Folge des Schlages unter.

Sein Körper gönnte ihm nicht die Gnade einer vollständigen Ohnmacht. Als hätte man ihm zum Zuschauer degradiert, war er gezwungen sich den folgenden Ereignissen hilflos zu stellen. Seine Beine versagten ihm die Standhaftigkeit und so sackte er förmlich in sich zusammen. Der Schmerz beim Aufschlag des Kopfes auf den staubigen Boden war erträglich, was vermutlich eine Folge der eingeschränkten Verarbeitbarkeit von Wahrnehmungen war. Ein Gesicht erschien über ihm und obwohl es ihm bekannt vorkam, war es unmöglich die weiblichen Züge einer Erinnerung zuzuordnen. Das Messer in ihrer Hand konnte noch als Gefahr zugeordnet werden, aber eine vernünftige Reaktion auf die Bedrohung gab das Durcheinander in seinem Oberstübchen nicht her. Grinsend lag er auf dem Boden und starrte auf die Klinge, unfähig auch nur irgendwas gegen das drohende Unheil zu unternehmen. Explosionen in seinem Kopf lenkten ihn kurzfristig ab und in einem Anfall von Klarheit entschied sein Bewusstsein, dass diese Knallerei unmöglich seinen Ursprung in den verdrehten Gehirnwindungen seines auf Tauchstation gegangenen Verstandes haben konnte. Weitere Explosionen bestätigten seine These und als das Messer mit samt seiner Besitzerin aus seinem Blickfeld gezogen wurde, kam endlich die erlösende Ohnmacht.

Reds Wiedererwachen war begleitet von starken Kopfschmerzen. Zu seiner Überraschung befand er sich in seinem Bett auf der „Diablo“. Er gönnte sich ein paar Sekunden für eine mentale Systemkontrolle, dann brüllte er lautstark nach Igor. Dieser erschien unmittelbar in der Tür und nachdem sich Red einer erneuten Welle von Kopfschmerzen stellen musste, begann Igor mit der Darlegung der Geschehnisse.

„Wir sind auf der Flucht.“ begann er nicht besonders verheißungsvoll.

„Scheiße. Was ist passiert?“ fragte Red

„Diese Seku… Seke… Jedenfalls die Typen, die noch in der Schleuse waren. Wir konnten ihre Leichen nicht beseitigen.“

„Ihr habt sie umgebracht?“

„Entweder die oder du.“ rechtfertigte Igor sein Handeln.

„Na dann danke, dass ihr die richtige Entscheidung getroffen habt. Leider ist mein DNA schön verteilt am Tatort.“

„Das ist geklärt. Die Analyse hat keine brauchbaren Ergebnisse gebracht.“

„Ich will gar nicht wissen, wie viel mich das gekostet hat. Wieso sind wir dann auf der Flucht?“ fragte Red misstrauisch.

„Wir wurden gesehen, wie wir unseren Ehrengast verfrachtet haben.“

„Das blonde Miststück. Sie ist hier?“ Red war überrascht.

„Im „Freudenzimmer“.“

„Igor ich liebe dich. Obwohl ich dir sagen muss, dass das gegen die Regeln eines Duell verstößt.“

„Scheiß drauf.“

„Wo sind wir überhaupt?“

„Im Lassik-System. Wie gesagt wir sind auf der Flucht und verstecken uns im Schatten eines der Monde vor der Polizei.“

„In zwölf Stunden springt „der mystische Garden“. Bis dahin sollten wir unerkannt bleiben. In sechs Tagen kommt das nächste Exson. Das wird verdammt knapp mit Ruby, aber wenigstens haben wir alles zusammen.“

Red brummte immer noch der Schädel, aber selbst die schlimmsten Schmerzen konnten ihm von einem Besuch im „Freudenzimmer“ nicht abhalten. Die erneute Demütigung durch die Niederlage in seiner Königsdisziplin brachte Coopers Laufmädchen auf die vorderen Plätze seiner Liste der persona non grata. Wenigstens war sie jetzt in seinem Besitz und damit für jede mögliche Vergeltung greifbar. Gemeinsam mit Igor betrat er das Gefängnis und wie damals im „Hustler“ begann sofort wieder das Spielchen der vernichtenden Blicke. Raubtiere, die bereit waren sich gegenseitig an die Kehle zu gehen.

„Das Duell haben wir hinter uns und ironischer Weise leben wir beide noch.“ kommentierte Red das Dejavu. Jetzt erst wandte er seinen Blick ab, um die restlichen Gefangenen zu begutachten. Das blonde Mädchen hatte er seinen Leuten als Motivationsspritze überlassen, was ihr sichtlich den Verstand kostete, da diese ihre eigenen Vorstellungen von Spaß hatten. Ein Vorgeschmack dessen, was ihr in Rubys Bordellen blühte. Der Junge war so erbärmlich, dass sich Red nicht sicher war, ihn als geeigneten Kandidaten für Ruby anzubieten. Noch war Zeit Ersatz zu finden, aber vorläufig hingen sie hier fest.

„Gib mir ein Messer und ich beende diese Ironie.“ Es war keinerlei Angst in ihrer Stimme.

„Ich gebe zu, ich habe dich unterschätzt. Ein Fehler, der mir kein zweites Mal passiert. Deswegen sei froh, dass wir nicht wieder in die Arena steigen. Es würde nicht gut für dich ausgehen.“

„Finden wir es raus.“ zischte sie ihn an.

„Willst du auch mit aufgeschlitzter Kehle enden. Du erinnerst dich bestimmt, du warst ja dabei als ich deinem Liebhaber den sauberen Schnitt verpasste. Der Kleinen ist es ähnlich gegangen, auch sie verblutete irgendwo in den Strassen von Eyak.“ Red liebte die Provokation und er genoss ihren Kampf zwischen Wut und Zurückhaltung.

„Alte Geschichten. Wird Zeit das wir in die Zukunft schauen und da habe ich etwas für dich, was seit vier Jahren überfällig ist.“ Red steigerte die Spannung, was ihr aber sichtlich egal war.

„Keine Angst. Ich werde dich nicht umbringen. Das ist nur kurzfristiger Spaß. Der Gedanke daran, dass du jeden restlichen Tag deines Lebens für den Abschaum der Galaxie die Beine breit machen wirst, bringt mir viel längerfristiges Vergnügen.“ Red wartete auf eine Reaktion, aber ihr Gesicht verriet keinerlei Emotion.

„Das hatten wir doch schon mal. Wenn ich mich recht erinnere, hast du es vergeigt.“ antworte sie stattdessen.

„Scheinbar können dich Worte wenig beeindrucken, also lassen wir Taten folgen.“ Red ergriff Igors Elekroschocker und ehe auch nur eine angemessene Gegenreaktion erfolgen konnte, hatte er sie bereits niedergestreckt.

Reds Selbstbeherrschung verblüffte keinen mehr als Red selbst. Wie sie da lag auf seinem Bett, jeglicher Kleidung entledigt und perfekt in Körper und Gestalt, gut fixiert um ihr aufrührerisches Wesen im Zaum zu halten, wusste Red selbst nicht, wie weit ihn seine Neigungen treiben würden. Auf Eyak mussten dutzende Frauen ihr Leben in einem barbarischen sexuellen Akt lassen. Nach der Flucht gab es nur ein Einziges dieser Ereignisse und in dem Moment als er auf Cayuse diesem Straßenmädchen den letzten Atemzug verschaffte, fühlte er keinerlei Befriedigung. Als würden diese Perversionen ihre unheilvolle Wirkung ausschließlich auf Eyak entfalten. Nun waren die Vorraussetzungen noch weniger eindeutig. Eine persönliche Note konnte er der ganzen Sache nicht absprechen, umso erleichterter war er, als er die Kontrolle nicht vollends verlor. Keine ungestüme Jugend mehr. Seine Triebe waren noch da, aber er hatte gelernt damit zu leben.

Er verging sich zwei Stunden an ihr, dann hatte er ihre perfekten Kurven satt. Keinerlei Regung war an ihr auszumachen, was den Spaßfaktor deutlich trübte. Auch wenn am Ende nicht mehr zwangsläufig der Tod stand, war ihm die Angst seines Opfers enorm wichtig. Hier bekam er gar nichts. Keine Furcht, kein Leid, nicht einmal Gegenwehr war zu vernehmen. Einzig das Wissen, wen er da unter sich hatte, verschaffte ihm die nötige Erregung. Trotz intensiver Bearbeitung ihres Körpers, stellte sich keine Befriedigung ein. Enttäuscht den hohen Erwartungen nicht das notwendige Futter geliefert zu haben, musste er sich eingestehen, dass sie ihn erneut besiegt hatte. Dieses Weib nervte ihn mehr und mehr, da es so gar nicht seinen Vorstellungen von Unterwürfigkeit entsprach.

Frustriert verfrachtete Red sie wieder in das Gefängnis und begab sich auf die Kommandobrücke. Ihre Verfolger hatten die Suche nach ihnen aufgegeben und die Langeweile bis zur Ankunft des nächsten Exsons begann in diesem Moment. Sechs Tage, in denen er sicherlich einen neuen Versuch an diesem widerborstigen Weib starten würde, sie doch noch halbwegs nach seinen Vorstellungen zu erziehen. Er gab sich gerade neuen Fantasien hin, als er von Olof unterbrochen wurde.

„Ich habe da ein Notsignal.“

„Ein Schiff?“ fragte Red nach.

„Es kommt von der Oberfläche.“

„Lass mal hören.“ forderte Red ihn auf.

Dies ist eine automatische Notfallmeldung. Die Energie von Kammer Y5 ist auf ein kritisches Niveau gesunken.“ tönte eine mechanische Stimme.

„Was soll denn der Scheiß bedeuten?“ fragte Red in die Runde.

„Ich habe eine Ortung. Sollen wir mal nachschauen?“ fragte Olof.

„Klar. Wir haben eh nichts Besseres zu tun.“ Vielleicht ließ sich ja der Stumpfsinn der nächsten Tage doch noch vermeiden und in einen Jackpot voller Technologie umwandeln. Was immer auch Kammer Y5 war, es brauchte Energie. Hoffentlich handelte sich dabei nicht nur um eine antike Sonnenbank. Neugierig befragte er die Schiffsdatenbank zu Y5, was aber keinerlei erhellende Ergebnisse brachte. Die halbe Stunde bis zur Landung musste er sich gedulden.

Die Bedingungen auf dem Mond waren alles andere als geeignet für einen Spaziergang. Die deutlich unter dem Standard liegende Schwerkraft war der einzig nennenswerte Vorteil. Dem gegenüber standen der felsige Untergrund, die fehlende Atmosphäre und die vollkommene Dunkelheit. Dementsprechend skeptisch sah Red das ganze Unterfangen, als sie etwa hundert Meter vom Signal einen geeigneten Landeplatz fanden.

„Hast du Energienanzeigen?“ fragte er Olof.

„Nur das Signal. Ich mache mal Licht.“ Im selben Moment wurde die vor ihnen liegende Dunkelheit von mehreren Lichtkegeln durchbrochen.

„Was zum Teufel ist das da? Fokussier die Strahler auf diesen Punkt.“ Red hatte etwas erkannt, was den Anderen verborgen blieb. Mühsam richtete Olof die Strahler nach Reds Vorgaben aus. Nun fiel es auch den Übrigen auf. Die Konturen waren zu symmetrisch für zufällige Steinkonstellationen. Da befand sich tatsächlich eine künstlich angelegte Struktur zwischen den Felsen.

„Vorfahrentechnologie.“ sprach Igor die Gedanken aller Anwesenden aus.

„Was sollten die auf diesem Mond wollen?“ fragte Olof.

„Das finden wir raus. Kommen wir dahin?“ Red war jetzt in Endeckerlaune.

„Nur zu Fuß. Die Landeplattform davor ist zu klein für unser Schiff.“

„Na dann Igor. Machen wir ein Spaziergang.“

Ihre Raumanzüge sahen alles andere als vertrauenswürdig aus. Wie das meiste an Bord, waren es Relikte aus grauer Vorzeit. Bisher gab es keinen vernünftigen Grund für ihre Anwendung und das obwohl die Galaxis voll von unbewohnbaren Welten geworden war. Das Risiko überstieg meist den zu erwartenden Nutzen um einiges, aber hier war es anders. Zufällig waren sie auf etwas gestoßen, was Jahrhunderte lang im Verborgenen schlummerte. Unentdeckte Vorfahrenarchitektur an sich war schon ein reiner Glücksfall, was aber wirklich Reds Neugierde auf die Spitze trieb, war diese ungewöhnliche Stelle, an der sich sein Fund befand. Im schlimmsten Fall war es eine dieser Wetterstationen für Lassik, aber seine Intuition widersprach dieser Logik und die hatte ihn selten getäuscht. In Aussicht auf jede Menge schwarze Jetons, machte er sich gemeinsam mit Igor auf den gefährlichen Weg.

Sie kamen besser voran als gedacht. Die einzige wirkliche Herausforderung war ein breiter Abgrund, der aber auf Grund der verringerten Schwerkraft seinen Schrecken verlor. Es brauchte zwar etwas Überwindung, immerhin war solch ein Graben selbst mit bester Sprungkraft nicht zu bewältigen, aber irgendwann sahen sie ein, dass nicht wirklich eine Schwierigkeit bestand diesen zu passieren. Sie schwebten förmlich darüber und mussten aufpassen auf der anderen Seite nicht mit herausragenden Felsbrocken zu kollidieren. Zehn Minuten brauchten sie für die gesamte Strecke und nun standen sie staunend vor der in Fels gehauenen Wand.

„Wow.“ entfuhr es Igor. Die glatte Mauer war das Einzige, was auf einen künstlichen Ursprung hinwies. Keine Fenster oder Durchbrüche waren erkennbar, nur eine riesige glatte Fassade. Wie eine Staumauer hatte sie eine leichte Krümmung und an Stelle von Wasser gab es jede Menge Stein dahinter. Red schaute nach oben und konnte das Ende dieser Felswand nicht erkennen.

„Wer weiß, wie weit sie in den Felsen rein sind. Das könnte ein riesiges Ding sein.“ bestätigte Igor Reds eigene Gedanken.

„Wir müssen den Eingang finden. Sonst werden wir das nie raus finden.“ Red ging die Wand entlang, ohne auch nur die Spur eines Zugangs zu finden. Ein kleines blinkendes Licht war das Einzige, was er ausmachen konnte.

„Ein genetisches Schloss. Verdammt, das macht es schwer da rein zu kommen.“ zog Igor die richtigen Schlüsse aus der darunter liegenden freien Fläche.

„Hast du den Notruf vergessen. Wenn die wollen, dass wir Y5 helfen, müssen die uns auch da rein lassen.“ Mit dieser Überzeugung legte Red seine Hand auf den Zugang. Ein grünes Licht bestätigte seine These und kurze Zeit später vernahm er Vibrationen im Boden, die auf Aktivität hinter der Wand deuteten.

Durch das fehlen von Geräuschen wirkte das Erscheinen der Öffnung regelrecht gespenstisch. Keine zwei Meter von Red entfernt erschien sie ohne große Vorwarnung. Ein Zugang in der Mauer, welcher trotz intensiver Suche von Red vorher nicht erkennbar gewesen war. In großer Anspannung betraten sie die Luftschleuse und als sie zehn Minuten später ihre Schutzhelme abnahmen, atmeten sie künstlich erzeugten Sauerstoff. Red konnte seine Aufregung nur mühsam verbergen, als er den Zugang zum eigentlichen Gebäude öffnete. Das spärliche Licht reichte nicht aus für einen vernünftigen Überblick, also traten sie näher und ziemlich schnell wurde klar, dass ihre Fantasien eines gigantischen in den Fels getrieben Komplex maßlos übertrieben waren. Ein einziger kreisrunder Raum lag vor ihnen und die Enttäuschung über die überschaubare Größe, wich der Überraschung über jede Menge Technik. Die kreisrunde Außenwand war bis auf den letzten Millimeter zugestellt mit Konsolen und obwohl keine von ihnen aktiviert schien, glänzten Reds Augen bei ihrem Anblick.

„Volltreffer.“ entfuhr es Igor, als er sich der nächst stehenden Konsole zuwendete.

„Ich glaub das wirklich interessante finden wir hier.“ Eine erhöhte Plattform in der Mitte des Raumes erweckte Reds Neugierde. Schön säuberlich aufgestellt standen mehr als ein dutzend Kammern in der Mitte des Raumes.

„Kryonik-Kammern. Scheiße. Auf was sind wir denn hier gestoßen?“ Red zog die richtigen Schlüsse aus der Apparatur.

„Kreii… Kry… Verdammt was soll das sein?“ fragte Igor.

„Einfrieren von organischem Gewebe.“

„Von was?“ Igor verstand nicht das Geringste.

„Menschenteilen. Oder sogar ganzen Menschen.“

„Du meinst da liegen Vorfahren drin? Und die leben noch?“ Igors Stimme klang leicht panisch.

„Angst vor den alten Göttern?“ reagierte Red spöttisch und ging zu einer der Konsolen rüber. Sein technisches Verständnis war begrenzt, aber wie er die Sache einschätzte, bestand die Energieversorgung der Konsolen aus einem Mini-AKW. Die Kammern besaßen wohl jeweils eigene Quellen und eine von denen musste defekt sein.

„Mal schauen ob ich den Auftauknopf finde.“ Er legte seine Hand auf eine der Zugangsplatten.

Sie besitzen keine Berechtigung für diese Konsole“ ertönte eine mechanische Stimme.

„Natürlich. Du bist ja auch nicht Y5.“ Sein Blick wanderte die Konsolen entlang, bis ihm ein blinkendes Licht auffiel. Zielstrebig steuerte er darauf zu und legte seine Hand wieder auf die Zugangsplatte.

Notfallmodus aktiviert. Möchten Sie die Rückführung einleiten?“

„Na klar. Warum nicht?“ antwortete Red amüsiert.

Bitte geben Sie eindeutige Kommandos.“ belehrte ihn die mechanische Stimme.

„Ja ich will, du technischer Klugscheißer.“

Rückführung wird eingeleitet. Stellen Sie ausreichende medizinische Versorgung sicher.“

„Der Tipp kommt reichlich spät.“ Ein Piepton erfüllte den Raum und wies darauf hin, dass die Rückführung gestartet wurde. Gemeinsam mit Igor baute er sich vor Y5 auf und wartete auf das Ende der Prozedur.

„Glückwunsch. Es ist ein Knabe.“ kommentierte Red das Ergebnis, als sie den Deckel öffneten. Nackt und reglos lag ein junger Mann in der Kammer. Nur das gelegentliche auf und ab des Brustkorbes deutete auf Leben hin.

„Und was jetzt? Sollen wir ihn da raus holen?“ fragte Igor ungläubig.

„Was denkst du denn? Wenn das wirklich ein Vorfahre ist, hat der bestimmt viel zu erzählen. Nimm meinen Anzug und bringe ihn an Bord. Ich werde mal schauen, was hier noch so geht.“ Mühsam zwängten sie den Unbekannten in den Anzug. Der Transport auf Igors Schultern stellte sich nicht nur durch die geringe Schwerkraft als wenig problematisch da. Kein Gramm Fett war an der jämmerlichen Gestalt auszumachen und daher war sein Gewicht auch bei normaler Schwerkraft keine große Herausforderung für den schmächtig wirkenden Igor.

Nachdem die beiden zurück auf den Weg zur „Diablo“ waren, wurde Red erst das Ausmaß seines Fundes bewusst. Er hatte vermutlich Vorfahren gefunden und allein das Wissen über diese Stelle verschaffte ihm einen uneingeschränkten Joker. Wieder überschlugen sich seine Fantasien und vor seinem geistigen Auge sah er sich schon mit Wissen konfrontiert, welches ihm die Vorteile gegenüber den Rubys dieser Galaxie verschaffte, die ihn zum unangefochtenen Herrscher über Leben und Tod machen würden. Noch war es nicht soweit, denn die technischen Herausforderungen dieses Ortes überschritten seinen geistigen Horizont.

Dementsprechend frustriert war Red nach zahlreichen Versuchen weitere Kammern zu öffnen. Die Sicherheitssperren verhinderten jegliche Art von Sabotage und die Idee, die Energiezufuhr zu kappen um einen erneuten Notfallmodus einzuleiten, scheiterte an seiner Unkenntnis über die nukleare Versorgung. Das wenige Wissen beschränkte sich auf die Nebenwirkung von radioaktiver Strahlung und das war genug, um die Finger von den Batterien zu lassen. So blieb ihm nichts anderes übrig, als auf die Rückkehr von Igor zu warten.

„Red bitte kommen.“ meldete der sich über die Kommunikation. Seine Stimmlage verhieß nichts Gutes.

„Was ist los?“

„Ich komm nicht mehr rein.“

„Scheiße kein Notfall, kein Zugang.“ schlussfolgerte Red. Verdammt, damit hatte er nicht gerechnet. Sobald niemand mehr hier drinnen war, gab es keinerlei Möglichkeit für einen erneuten Zugang. Nur von innen konnte er den Eingang öffnen.

„Was jetzt?“ fragte Igor, als Red ihn herein ließ.

„Mach ein paar Bilder von dem Ganzen und dann hauen wir ab.“ beschloss Red.

„Du willst das hier alles zurücklassen? Sollten wir nicht wenigstens etwas Technik mitnehmen?“ fragte Igor ungläubig.

„Das ist mehr wert, wenn wir alles in einem Stück lassen. Wir kommen zurück mit jemanden, der sich damit auskennt.“

„Diese genetischen Schlösser sind praktisch nicht zu knacken. So eine Gelegenheit gibt es vielleicht erst in tausend Jahren wieder.“

„Denk doch mal nach. Glaubst du dem Milchbubi auf unserem Schiff verweigern sie den Zugang. Wir päppeln ihn auf, machen inzwischen das Geschäft mit Ruby, kommen zurück und kassieren den Jackpot.“ So richtig überzeugend wirkte Red immer noch nicht.

„Es gibt noch eine zweite Variante. Du bleibst hier mit ein paar Kalorien und Wasser. Ich hole jemanden, der sich damit auskennt und in vier bis fünf Wochen klopfen wir an die Tür und du machst uns auf.“ Es wirkte mehr wie eine Drohung, als eine wirkliche Alternative.

„Ok. Hauen wir ab.“ Nun war auch Igor überzeugt.

Zurück auf der „Diablo“ hatte sich der Zustand ihres neuen Passagiers noch nicht grundlegend geändert. Er befand sich immer noch in diesem Dämmerzustand, nur lag er jetzt nicht mehr regungslos in der mühselig umfunktionierten Abstellkammer, sondern schien eine Art inneren Kampf auszufechten. Vermutlich entschied der Ausgang über das Weiterleben und da die medizinischen Kenntnisse aller Anwesenden nicht mehr als das Versorgen von Wunden mit Pflaster beinhaltete, war er damit praktisch sich selbst überlassen. Sie befanden sich bereits wieder auf dem Weg zum Exson, als er endlich erwachte und damit sein Überlebenswille siegte.

Er schien nicht wirklich Herr seiner Sinne zu sein nach dem ersten öffnen seiner Augen. Vollkommen überdreht und wahrscheinlich unter dem Einfluss von Drogen, übergab er sich auf Reds Schuhe, was diesen in einer Art Kurzschlussreaktion veranlasste ihm mit einem gezielten Schlag den Kiefer zu brechen. Was dann passierte, versetzte alle in Staunen. Wie von Geisterhand reparierte sich der Kiefer selbst und nun waren sich alle sicher, dass sie auf Vorfahren getroffen waren. Alle Übertreibungen in Sachen Götter aus der guten alten Zeit konnten damit bewiesen werden und als Red die Blutproben auf der medizinischen Station eines der Exsons analysieren ließ, bestätigte sich seine Vermutung. Das Ambrosia, was den normalen Menschen zu einer Gottheit erklärte, war stink normale Technik. Femtos war der wenig wissenschaftliche Begriff dafür und neben diesen Selbstheilern gab es noch sechs weitere. Diese erbärmliche Gestalt auf der Liege im Abstellraum war der Schlüssel zu seinen Vorstellungen von uneingeschränkter Macht. Red hatte alle Karten, die er brauchte, nun musste er sie bloß noch geschickt ausspielen. Das Schicksal hatte ihm einige Joker zugeschanzt, doch leider sollte sich heraus stellen, dass es ziemlich launisch in der Verteilung von Glück und Unglück hantierte. Trotz der besten Vorraussetzungen verlor er seine gute Ausgangsposition wieder und eine Verkettung von ungünstigen Umständen, zwang ihn zu seiner ganz persönlichen Jagd nach dem heiligen Gral.

 

Kapitel 6

 

Die letzten zwei Wochen hatten sie verändert. Nicht nur körperlich, auch die innere, in einem Panzer von Hass vergrabene Dina, hatte nicht mehr die notwendige Konsequenz für die bedingungslose Umsetzung ihrer Rache. Als sie auf diesem Stuhl saß, in einer Hütte, auf einem Planeten, dessen Schwerkraft jeden Schritt zur Qual werden ließ, als Strafe isoliert von den anderen Gefangenen, wuchsen die anfänglich spärlichen Zweifel an der Richtigkeit ihres Handelns. Wie eindeutig waren doch die Prioritäten, als sie noch Getränke servierte auf dem „mystischen Garten“. Wie erwartet hatte sie es nicht lange in der Familienidylle der „Mujer ideal“ ausgehalten. Drei Wochen reiste sie mit Monty und seiner Familie, dann bestand die Gefahr dem verhassten Schicksal eines Hausmütterchens nicht mehr zu entkommen. Zu sehr hatte sie sich bereits angepasst. Auf dem Exson hatte sie gezielt nach einer Stelle gesucht und ihre erlernten Qualifikationen von Eyak machten es ihr leicht etwas Passendes zu finden. Sie hatte diese Arbeit nicht ausschließlich auf Grund des Broterwerbs angenommen. Dieses Exson hatte mehr Sprünge unternommen, als jedes andere und die Wahrscheinlichkeit genau hier auf ihren eigenen weißen Wal zu treffen, um ihm die Harpune mit der gegebenen Genugtuung ins Fleisch zu jagen, war dort am größten. Ihr ganzer Lebenszweck richtete sich auf diesen von Narben zersetzten Albtraum namens Red aus. Fast täglich durchforstete sie die Registrierungslisten der ankommenden Schiffe über Hinweise auf einen im Gesicht entstellten Passagier. Samuel gewährte ihr diese Einblicke, immer in der Hoffnung auf mehr als ein erzwungenes Lächeln von Dina. Ein anständiger Mann, der sich hoffnungslos in sie verliebt hatte und den sie schamlos für ihre Zwecke ausnutzte. Er war genauso Mittel zum Zweck, wie die erarbeiteten Jetons, die sie nutzte, um gelegentlich bei Reisenden von Eyak nach Hinweisen über Red nachzugehen. Nichts. Weder auf dem Exson noch auf dem Planeten. Ganze vier Jahre vergebene Mühe und als sie die Hoffnung schon aufgeben wollte, jemals ihrer Rache nachgehen zu können, spazierte er einfach in ihre Bar.

Sie erkannte ihn sofort und seiner Reaktion nach zu urteilen, war sie ihm auch aufgefallen. So gab es keinerlei Möglichkeiten einen geheimen, meuchlerischen Angriff zu versuchen. Es würde auf eine offene Konfrontation hinauslaufen, was sowieso ihre bevorzugte Variante war. Der Zuckerguss ihrer Vergeltung war das Wissen über seine Erkenntnis, dass sie sein Henker war. In täglichen Lektionen über Selbstverteidigung hatte sie sich über die Jahre zu einer guten Kämpferin entwickelt und tatsächlich bekam sie Red an den Rand einer Niederlage. Wenige Sekunden trennten sie von der Erfüllung ihres Lebensinhaltes und als sie bereit war den finalen Todesstoß auszuführen, wurde sie überwältigt von diesen zwei Gestalten, die sich als seine Mannschaft herausstellen sollten. Ohne große Gegenwehr wurden ihre eigenen Mitstreiter niedergeschossen und anstatt ihr ebenfalls den Todesschuss zu versetzen, streckten sie sie mit einem Elektroschocker nieder.

Ihr Leben hatte wieder eine dieser Wendungen genommen, die sie schon in der Vergangenheit durch falsche Entscheidungen auf einen Irrweg führte. Die Ausrede, dass ihre Umgebungen sie dazu zwangen, diente regelmäßig als Rechtfertigung für ihr Scheitern. Mit abnehmender Naivität der Jugend und einsetzender Weisheit durch Lebenserfahrung, konnte sie sich nicht mehr uneingeschränkt dahinter verstecken. Die „was wäre wenn“ Optionen waren nicht mehr zu ignorieren. Ein Leben auf der „Mujer ideal“ wäre ebenso wie ein Nachgeben des Werbens von Samuel vermutlich die bessere Variante für eine mögliche Zukunft gewesen, aber sie hatte sich Kapitän Ahab zum Vorbild genommen und ähnlich wie diese Romanfigur würde sie in den Fluten untergehen. Nur drohte ihr nicht der Tod, ihr drohte ewige Reue.

Ein Vorspiel, dessen, was ihr bevorstand, war Reds erste Stufe seiner eigenen Vergeltung. Wieder floh sie in diesen Raum, der ihr damals schon im Waisenhaus als Zuflucht diente. Nie wieder wollte sie hierher, aber damit entzog sie ihm jegliche Art von Genugtuung bei ihrem Missbrauch. Sie wusste, dass er seine Anstrengungen sie zu demütigen mit der Zeit verstärken würde, umso überraschter war sie, dass er sich mit gelegentlichen Prügeln zufrieden gab. Der vermutliche Grund dafür war ein weiterer Neuzugang in ihrem Gefängnis, der mit seinem Aussehen so gar nicht in die Reihe der gebrochenen Seelen passte. Wie sich herausstellen sollte, täuschte dieser Eindruck, denn ohne Erinnerungen und mit dieser Technik zum Selbstheilen im Blut, wog sein Schicksal deutlich schwerer. Er offenbarte ihr sein Geheimnis und bat um ihre Hilfe. Ein Akt innerer Verzweiflung, auf den Dina nicht ausschließlich wie vorgegeben zum Erfüllen ihrer Rache einging. Die Tage in der Mission auf Eyak schimmerten durch den Berg von Wut und Zorn in ihrem Inneren. Selbstachtung war damals die Rettungsboje, die sie vor dem endgültigen Absturz bewahrt hatte und der ging der uneigennützigen Hilfe in der Mission voraus. Auch wenn sie es nie bewusst eingestehen würde, brauchte sie ein Gegengewicht zu Red, denn die vergangenen Ereignisse machten ihr klar, dass eine hundertprozentige Fokussierung sie unweigerlich zerstören würde. Wie damals beim „Chrystal“, begann sie ihren Entzug.

Nicht ganz unwesentlich beigetragen zu diesem Entschluss, hatte das „yellow nightmare“. Eine Droge, die zur Informationsbeschaffung bei Gefangenen eingesetzt wird. Bei Dina war die Anwendung eher eine Erziehungsmaßnahme. Ganze zehn Stunden war sie der Folter ausgesetzt, ausreichend Zeit in ihren ganz privaten Höllenschlund zu schauen. Ihre bewegte Vergangenheit hatte ein reichhaltiges Angebot an negativen Erfahrungen, aber scheinbar lagen die Ereignisse um Ned ganz oben auf dem Stapel, denn diese wurden ihr in einer Intensität vorgehalten, die jegliche Realität verblassen ließ. Die Droge schaffte es ihre Schuldgefühle über den Tod ihres Geliebten ins Unendliche zu übertreiben und trieb sie bis an den Rand des Wahnsinns. Zu ihrem Glück holten ihre Peiniger sie an der Stelle zurück. Ein Warnschuss, mehr sollte es nicht sein, aber die unvollendete Brechung ihres Willens hatte einen ungewollten Nebeneffekt auf ihre Psyche. Die mentale Übertreibung alles Schiefgelaufene in ihrem Leben, erinnerten sie an die wenigen längst vergessenen Empfindungen von Glück und die Bereitschaft nicht ausschließlich Hass und Gewalt ihr Handeln beeinflussen zu lassen, bekam neue Energie. Das in diesen Moment der Verletzlichkeit gerade Sentry mit seinem Hilfegesuch kam, war eine glückliche Fügung des Schicksals.

Die Wahrscheinlichkeit eines Überlebens war nicht besonders hoch. Das Schicksal hatte sie nach Lassik verschlagen und das Elend der Menschheit, was vorherrschend war in der Galaxis, hatte hier eine extreme Ausprägung. Sie waren in die Fänge einer Sekte geraten und sollten in einem barbarischen Schauspiel geopfert werden. Ihre eigene Sicht der Dinge hatte ihr diesen Platz auf dem Stuhl eingebracht, einen Tag bevor die Jagd begann. Die Schikanen der Mitglieder erwartend, sah sie sich mit einer Soldatin konfrontiert, die diesem Klima aus Misstrauen und Demütigung entgegenwirkte. Die erste Begegnung hatte etwas Magisches. Dina konnte nicht erklären was es genau war, aber eine Verbundenheit war zwischen den beiden nicht zu leugnen. Keine Liebe oder Zuneigung, auch nicht das gemeinsame Schicksal von verlorener Jugend. Nein, das gab es millionenfach in der Galaxie. Es war die Erkenntnis, dass sich etwas ändern musste, auch wenn sie nicht wusste, was diese Blondine namens Eva genau antrieb, entschloss sie sich zu diesem Kuss, der die Zeit still stehen ließ. Wie eine zum Tode verurteilte Gefangene genoss sie ihre Henkersmahlzeit in vollen Zügen und die Reue, diese Momente der unnachgiebigen Jagd nach Red vernachlässigt zu haben, stellte sich unmittelbar ein. Sollte sie überleben, würde sie ihre Prioritäten ändern.

Sie überlebte, auch dank der Hilfe von Eva. Der Vorsatz einer veränderten Dina hatte keine Chance in den Wirren ihrer Flucht. Was sie brauchte war ein klarer Verstand und keine Experimente in Sachen sozialer Kompetenz, also legte sie all die Gedanken über ein besseres Leben in den mentalen Ablagestapel mit der Aufschrift „später vielleicht“. Dort wären sie vermutlich in Vergessenheit geraten, wenn nicht die Umstände ihres Entkommens sie fast täglich dazu zwangen doch ab und an der ganzen Sache eine Chance zu geben. Vor allen Dingen Sentry, mit seiner ungewollt naiven Einstellung, brachte sie regelmäßig ins Grübeln. In der abenteuerlichen Flucht von Prem hatte sie ihm das Leben gerettet und das obwohl so ziemlich jeder Andere dabei umkam. Eine gute Lektion, denn der Erhalt von Leben war deutlich erfüllender als es zu nehmen, auch wenn, wie im Falle dieses Mistkerls auf Eyak, der Tod weiteres Leid verhinderte. Sie fühlte sich ausgeglichener, denn so richtig hatte sie die Ereignisse im Hotel nie verarbeitet und allein jeden Tag in das Gesicht ihres größten Triumphes zu schauen, gab ihr die nötige Energie für das weitermachen in der Achterbahn ihres Lebens. Natürlich schob sie als Selbstschutz vor zuviel Nähe immer Red vor. Sie mochte Sentry. Er war anders als der Durchschnitt an Männern in dieser Galaxie. Nicht so wie Ned, der mit seinem Gott gleichen Auftreten sie ständig des Selbstbewusstseins beraubte. Sentry war eher das Gegenteil, aber das Fehlen von jeglicher Erinnerung ließ ihn nicht schwach wirken. Für seine Verhältnisse schlug er sich wirklich hervorragend und sein unerschütterlicher Glaube über das Gute an der Menschheit, verlieh ihm eine Konsequenz, die vergleichbar war mit ihrer eigenen Zielstrebigkeit, mit der sie Red verfolgte. Natürlich waren seine Ziele weitaus nobler und die direkte Parallele in ihrem Schaffen weckte ordentlich Zweifel an ihrem Handeln. Der Höhepunkt dieser Unsicherheit war das gemeinsame Bier im „junction“. Sie hatten gerade Kontakt zum organisierten Verbrechen aufgenommen, um die weitere Flucht von Lassik zu planen. Ein von Misstrauen triefender Pakt mit dem Anführer namens Balta. Ein notwendiges Übel, denn so ziemlich jede größere Gruppierung war hinter der Technologie in Sentrys Blut her und so sahen sie sich gezwungen, auf dieses zweifelhafte Geschäft einzugehen. Mit wenig Zuversicht den Planeten je verlassen zu können, philosophierten sie am Vorabend über die Unzulänglichkeiten des Lebens und obwohl Dina es schaffte ihre demontierten Argumente hinter eine Wand von Sarkasmus zu retten, konnte sie nicht leugnen, dass er einen wunden Punkt bei ihr getroffen hatte. Seine Sichtweise passte so perfekt zu den gerade entstandenen Zweifeln, als hätte er sich mit ihrem Unterbewusstsein verschworen. Sein hartnäckiger Glaube, dass nicht Gewalt und Leid, sondern Mitgefühl und Nächstenliebe in der Natur der Menschheit lag, konnte selbst von den zurückliegenden Ereignissen auf Prem nicht erschüttert werden. Ohne dass es ihm bewusst war, schob er sie einen Schritt weiter auf dem Weg zur Selbsterkenntnis. Die versprochene Hilfe war keine Einbahnstrasse. Die nächsten Wochen profitierte sie auch von ihm. Einem Mann ohne Gedächtnis, aber einer Einstellung zum Leben, die über die Jahrhunderte verloren gegangen war. Auch wenn sie es gut verbergen konnte, hatte er sie ordentlich durcheinander gebracht. Schon allein die Art der Diskussionen war ungewöhnlich, denn normalerweise sahen sich Männer immer auf einem Podest, wenn sie einer Frau der Gnade ihrer Anwesenheit aussetzten. Unweigerlich zog sie Parallelen zu Ned und seinem ersten Auftreten. Wehmut überkam sie und mit Schrecken wurde ihr bewusst, dass sie all die guten Erinnerungen gegenüber ihrem Rachefeldzug vernachlässigt hatte. Sie tanzte sich die Trüben Gedanken aus dem Kopf und als Sentry ihr diesen viel sagenden Blick zuwarf, war sie einen Moment in Versuchung, den Abend mit einem ungewöhnlichen Ausgang zu beenden. Sie brauchte einfach nur den Kopf heben und der natürliche Vorgang nähme seinen Lauf, aber damit würde sie das mühsam errungene Vertrauensverhältnis auf eine unnötige Probe stellen. In gutem Gewissen, auch bei ihm einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen zu haben, behielt sie ihren Kopf unten und lächelte wissend vor sich hin. Eine lange vernachlässigte Geste, die ihr sichtlich gut tat und schon eine Wiederholung solcher Momente wäre ein Überleben wert. Vermutlich mehr wert als jegliche Rache.

Diese Einsicht entpuppte sich vorerst als Strohfeuer, zu sehr hatte sie ihr Überleben an Reds blutiges Ende gekoppelt. Ein Energiespender, den sie für den weiteren Verlauf ihrer Flucht auszerrte. Gemeinsam mit Eva, die unbedingt ihre todkranke Schwester retten wollte, hatten sie auf einem riesigen öden Kontinent Technologie gefunden, die sämtliche Vermögen der reichen Bevölkerung von Lassik wie Almosen wirken ließ. Mit Hilfe dieses Fundes planten sie auf die eine oder andere Weise diesen von erhöhter Schwerkraft geplagten Planeten zu verlassen. Die örtlichen Behörden verhinderten diese Vorhaben vorerst, aber Balta stellte sich als vertrauenswürdiger heraus, als gedacht. Neben der Vereinbarung, Dina und Sentry von diesem Planeten zu bringen, nahm er sogar die verzweifelte Eva und ihr arrogantes Anhängsel namens Eric mit. Ein technischer Freak, den die Welt außerhalb seines Gemischtwarenladens überforderte. Wie alle anderen auch, musste er sich den Widrigkeiten des Lebens stellen und dass er seine Haltbarkeit in den Untiefen des Weltalls weit überschritt, verdankte er Eva, die eigentlich selber alle Hände voll zu tun hatte ihr Leben in den Griff zu bekommen. Diese Gruppe aus charismatischem Anführer, einer ideologisch betrogener Suchenden, einem geheimnisvollen Unwissenden, einem an Empathie mangelnden Nerd und zu guter Letzt einer von Rache angetriebenen verletzten Seele, fand einen Zusammenhalt, den keiner der Mitglieder erwartet hatte. Trotz aller Spannungen, die hervorgerufen wurden durch Neid, Angst und Eifersucht, entwickelte sich eine Gruppendynamik, die sie Raumschlachten, Spinnen und am Ende sogar Red überleben ließ. Nicht Sympathie diente als Zement für das Fundament ihrer Gruppe, denn da gab es genug Abneigungen untereinander. Sentrys und Evas gelebte Einstellung von Respekt und Vertrauen waren für den Erfolg verantwortlich. Dina war bereit sich diesem Mantra anzupassen und Eric akzeptierte es auf Grund seiner nicht zu übersehenden Zuneigung gegenüber Eva. Einzig und allein Balta täuschte diese Illusion von fragiler Harmonie. Sein Verrat traf alle, aber gerade Dina sah sich bestätigt in den Argumenten, die Sentry damals im „junction“ nicht wahrhaben wollte. Ihr blieb nicht ausreichend Zeit sich diese Diskussion erneut ins Gedächtnis zu rufen, da sie einfach nieder geschossen wurde. Obwohl sie nicht das eigentliche Ziel von Baltas Vertrauensbruch war, bereute sie vor allen Dingen die Nacht, die sie mit ihm verbracht hatte. Nach den aufwühlenden Ereignissen rund um die Flucht und der Langeweile auf der „Baltim“, schrie alles in ihr nach ein wenig Abwechslung. War ursprünglich nur Alkohol, Musik und Tanzen geplant, schaffte es Balta mit einer Mischung aus Charme, Intelligenz und Manipulation ihre angeborene Abneigung gegen Männer aufzuweichen. Ned war bisher der einzige Mann, dem sie sich freiwillig hingegeben hatte, aber ihre Unfähigkeit eine brauchbare Beziehung mit Frauen aufzubauen, bestätigte ihre Ahnung, dass ihre homosexuelle Neigung nur eine Ausrede war. Die Vernunft passte nicht zu ihrer Veranlagung und jede Gegenwehr, sich der widerwärtigen Realität zu stellen, wurde spätestens mit der Beziehung zu Ned untergraben. Balta war nur ein weiterer Baustein zu dieser Erkenntnis und sein gezieltes Drücken von Knöpfen, um sie willig zu bekommen, machte den Verrat an Sentry auch zu ihrem Betrug.

Das konnte nicht das Ende sein. Nicht jetzt, wo sie den Kurs auf den eigentlichen Hafen ihres Lebens Stück für Stück anpasste. Keine Schmerzen, als die Kugel in Dinas Magengegend einschlug. Nur ein leichtes Zerren und jede Menge Blut, als sie nach hinten wegkippte. Ihr Verstand weigerte sich die widersprüchlichen Empfindungen zu einem rationalen Ereignis zusammenzusetzen. Wo zum Teufel blieben die Schmerzen? Ihr Körper bettelte regelrecht um eine Bestätigung der eigentlich klaren Tatsache. Eine Verweigerung der Realität. Ein schönreden des unwiderlegbaren Beweises für das Anbrechen ihrer letzten Minuten des Lebens. Endlich Schmerzen und keine Ausreden mehr. Eine befreiende Gewissheit, dass es vorbei war. Ihre letzte Reise war angebrochen und all der Ballast, den sie die letzten Jahre angehäuft hatte, der sie in ihren Entscheidungen maßgeblich beeinflusste und sie zu diesem Ende geführt hatte, war unwichtig geworden. Kein Leid. Keine Sorgen mehr. Nur innere Zufriedenheit, als sie auf den Ausgang zusteuerte. Sie war bereit für den finalen Akt. Alles kommt und geht. Dina war bereit für Letzteres. Ein zu kurzes Leben, das sie mit Gier und Verlangen verschwendet hatte, welche sich in diesem sinnlosen Rachefeldzug manifestierte. Zu viele Dinge wurden diesem goldenen Kalb geopfert. Eine lange Liste, auf der ganz oben das Glück stand. Sie ist Dämonen der Vergangenheit hintergejagt und hat von unerfüllbaren Sehnsüchten in der Zukunft geträumt. Dabei hat sie was Wesentliches vergessen. Die Gegenwart. Außer einem Jammern über die Ungerechtigkeit des Schicksals, hat sie ihr nie genug Aufmerksamkeit gewidmet. Die Natur der Dinge existiert im Hier und Jetzt. Alles ist endlich. Selbst die Errungenschaften der Vorfahren werden irgendwann zu staub zerfallen. Wird man sich diesem unvermeidlichen Verfall bewusst, erkennt man das eigentliche Problem. Sich selbst.

Nancy holte sie zurück. Vorerst jedenfalls. Die beschränkten medizinischen Fähigkeiten dieses kleinen zierlichen Mannschaftsmitgliedes waren nur eine Möglichkeit ihr Schicksal wieder auf den Todesstreifen zu lenken. Die größere Gefahr bestand in einem Militärtransporter, der seine Waffen auf sie richtete und aus unerfindlichen Gründen mit dem tödlichen Abschuss wartete. Die hektische Betriebsamkeit auf Grund dieser Bedrohung, bekam Dina nur in einer vernebelten Wahrnehmung mit. Das Ansteigen der Umgebungstemperatur schien genauso unwirklich, wie die Wortfetzen, die panisch durch die Kommandobrücke flogen. Es war ihr unmöglich, dass alles in einen sinnvollen Zusammenhang zu packen, aber eins wusste sie mit Bestimmtheit. Ihr Überleben hing an einem seidenen Faden.

„Sechs Minuten. Dann können wir hier weg.“ Sven, assoziierte sie die Stimme mit einem Namen.

„Wir müssen die Zeit verkürzen. Mehr Wärme in die Hülle.“ kommandierte eine eindeutig weibliche Stimme.

„Aye. Die zusätzliche Wärmeabführung ermöglicht uns den Antrieb in 45 Sekunden zu starten, aber ich fürchte bis Cree sind wir dann durchgebraten.“

„Rakete wird abgefeuert und steuert auf uns zu.“ mischt sich eine unbekannte männliche Stimme in das Geschehen ein.

„Wir haben keine 45 Sekunden. Sofort Überlichtantrieb starten.“ Die Panik in der weiblichen Stimme war unüberhörbar. Ein Rucken erfasste die „Perinola“. Der überhitzte Antrieb stotterte kurz, tat aber dann das, was von ihm verlangt wurde.

„Ha. Ein zähes Luder unsere „Perinola“. Das bisschen Hitze mehr steckt der Antrieb tatsächlich weg.“ Sven frohlockte.

„Wie viel Grad müssen wir aushalten?“ fragte die weibliche Stimme besorgt. Das fehlen einer Antwort war schlimmer, als alles Andere, was er hätte antworten können.

„Wie lange bis …?“ fragte sie weiter.

„Die meisten Teile des Schiffes sind bereits unbewohnbar. Eine Stunde bis die Hitze die Brücke zu unserem Grab macht. Soll ich den Rest Kühlflüssigkeit umleiten?“ fragte Sven.

„Nein. Dann verzögern wir nur unser Sterben. Wir brauchen jeden Tropfen für den Antrieb. Welche Sternensysteme gibt es in der Umgebung?“

„Nur ein Doppelsternsystem. Wir haben keinerlei Informationen darüber. Keine Viertelstunde, dann wären wir da. Soll ich Kurs nehmen?“

„Ja. Hoffen wir mal, dass es da irgendwas mit Atmosphäre gibt, wo wir die Hitzewallungen unserer Schnellen loswerden.“

Die Temperatur auf der Kommandobrücke erklomm gnadenlos Grad um Grad und Sven verkniff sich die regelmäßigen Statusmeldungen, als die fünfzig überschritten wurden. Die Zeit lief ihnen davon und als sie in das Sternensystem eintraten, war die Auswahl an Möglichkeiten schier riesig. Mehr als drei dutzend Monde umkreisten ein paar Gasriesen, die allesamt ungeeignet für ihr Vorhaben waren. So blieben nur die Monde selbst und da ihre Sensortechnik nicht ausreichte für eine Untersuchung aus der Ferne, mussten sie aufs Geradewohl einen auswählen. Sie hatten nur einen Versuch und die Statistik bei Himmelskörpern mit Atmosphäre, sprach gegen einen Erfolg.

„Den da.“ entschied Gerda und ihre Argumente für die Auswahl beschränkten sich einzig und allein darauf, dass dieser Ort am schnellsten erreichbar war. Wie alle anderen auch, stand sie schwitzend auf der Brücke, hatte sich jeder unnötiger Kleidung entledigt und hoffte mit dieser Entscheidung das Schicksal in die richtige Richtung zu lenken.

„Mir ist schlecht.“ kam es von Nancy und als hätte es erst diese Worte benötigt, merkte Gerda den Schwindel ebenfalls. Sie musste sich setzen und empfand diese Einschränkung ihrer Mobilität als Schwäche, die sie eigentlich ihrer Mannschaft vorenthalten wollte.

„Wir sind im Orbit. Sensordaten kommen rein.“ Auch Sven klang deutlich geschwächt.

„Wen interessieren die Daten. Leite die Landung ein, aber trenn vorher das Frachtmodul ab.“ Gerda zwang sich bei Bewusstsein zu bleiben.

„Aye.“ erwiderte Sven. Es lag jetzt in seiner Hand. Sie konnte nichts mehr tun, außer sich voll und ganz ihrem Kampf gegen die Ohnmacht zu widmen. Ihr Blick fiel auf Sven, der Probleme hatte die richtigen tasten auf dem Bedienfeld seiner Konsole zu treffen, da ihm der Schweiß permanent in die Augen lief. Das leise Rumpeln im Hintergrund verriet ihr, dass das Abkoppeln geklappt hatte. Mühsam drehte sie ihren Kopf. Nancy hatte ihre Abwehr gegen die Bewusstlosigkeit verloren und lag scheinbar leblos neben der angeschossenen Passagierin. Diese wiederum lag im Schoß von Eva, die noch bei Bewusstsein war und die scheinbar vertrauten Gesichtszüge, gaukelten Gerda die Wiedergeburt ihrer Tochter vor.

„Sarah. Es tut mir Leid.“ schickte sie ihre vermutlich letzten Worte an die falsche Adresse. Im Angesicht des Todes gab es nur ein vorherrschendes Gefühl. Reue. Sie war kurz vor der Ohnmacht, als ein Erschütterung, das scheinbar Unausweichliche doch noch verhinderte.

Sie zwang ihren Blick auf Sven. Der lag Kopf über auf seiner Konsole. Mit einer unmenschlichen Anstrengung musste er das Schiff gelandet haben, denn nichts anderes konnte die Erschütterung bedeuten. Sie war jetzt die Einzige, die noch bei Bewusstsein war und die Neugierde mehr Informationen über den Zustand des Schiffes zu bekommen, konnte auf Grund ihrer absoluten Bewegungsunfähigkeit nicht befriedigt werden. Unfähig, auch nur den Kopf aufrecht zu halten, starrte sie an die Decke und erwartete nichts anderes als den Tod. Ihre Stärke entpuppte sich im letzen Moment ihres Lebens als Fluch. Im Gegensatz zu allen Anderen hier im Raum, würde sie ihrem Schöpfer bei vollem Bewusstsein gegenüber treten und so sah sie ihrem letzten Atemzug entgegen.

Das eigentlich Beängstigende war die Stille. Gerda konnte sich nicht erinnern solche Ruhe je erlebt zu haben. Menschen, Maschinen oder auch nur das Piepen von einer der Konsolen, waren so selbstverständlich geworden, dass erst das Fehlen jeglicher Geräusche auf ihre Notwendigkeit hinwies. Vielleicht ein Anzeichen für das nahende Ende und in dem Moment, als sie glaubte der Verlust ihrer Hörsinne wäre eine Begleiterscheinung für ihren definitiven Abgang, wurde diese gespenstische Stille durch ein Knarren rechts von ihr durchbrochen. Sie überlegte, ob sie Energie dafür verschwenden sollte, um die Quelle dieser Ruhestörung zu ergründen, als genau jenes Knarren über ihr erneut ertönte. Diesmal länger und intensiver, aber mit eindeutig gleicher Herkunft. Praktischerweise hatte sie freien Blick auf den vermuteten Ort, aber sie konnte nicht das Geringste an der Decke erkennen. Ein drittes Mal, diesmal wieder weiter rechts und als hätte jemand blind den Gefahrknopf in ihrem Inneren gedrückt, wurde ihr bewusst, das diese Geräusche nichts Unbekanntes für sie waren.

Konzentration war jetzt wichtig. Es war unheimlich schwierig die richtigen Rückschlüsse aus dem Ganzen zu ziehen. Schritt für Schritt arbeitete sie sich an das Problem. Sie waren gelandet und das förmlich auf den Schwingen des Todes. Nur eine Atmosphäre würde ihr Überleben sichern und die Tatsache, dass sie hier seit mittlerweile zehn Minuten saß und nicht wie befürchtet ein gut gegarter Haufen Fleisch war, zeugte von dem Erfolg ihres Unterfangens. Trotzdem, irgendwas stimmte nicht und das stand im Zusammenhang mit diesen seltsamen Geräuschen. Ihr Verstand war noch nicht klar genug für die Erleuchtung, aber die Gewissheit, dass nur schnelles Handeln ihr weiteres Überleben sichern würde, entfachte neue Energie in ihr.

Aus einer Ahnung heraus rief sie die letzte Telemetrie vor ihrer chaotischen Landung auf diesem Mond ab. Damals hatte sie darauf verzichtet, da es unabhängig von dem Ausgang nur eine Option gab. Egal welches Schicksal ihnen drohte, es würde sich auf der Oberfläche entscheiden und nun, da sie gegen jede Wahrscheinlichkeit einen Treffer gelandet hatten, wurden die Sensordaten wichtiger denn je.

Ihr Erinnerungsvermögen gewann den Wettlauf gegen die Informationen aus ihrem Bordcomputer. Metall verursachte diese Geräusche und zwar Metall, was hohem Druck ausgesetzt wurde. Irgendwas drückte auf die Hülle. 250 bar zeigte der Monitor an und ohne dass sie es wollte, durchforstete ihr Geist die technischen Daten dieses Schiffes. Wieder 250 lautete das Ergebnis bei Maximalbelastung. Im Grunde genommen also kein Problem dieser dichten Atmosphäre zu widerstehen, aber die letzten tausend Jahre hatten diesen Wert mit Sicherheit nach unten verschoben. Ein erneutes Knarren bestätigte sie in dieser Annahme. Sie mussten hier schleunigst weg.

„Sven.“ brüllte sie in Richtung Steuerkonsole. Sie bekam keine Reaktion. Fast beiläufig kontrollierte sie die Wärmeentwicklung und mit der Rasanz wie die Temperatur fiel, würde sich ihr Hochofen schnell in eine Kühltruhe verwandeln. Da draußen war es furchtbar kalt und nur der Start ihres Antriebes würde den Kältetod verhindern. Zum Glück hatte der keinen großen Schaden genommen, so dass sie ihn problemlos hochfahren konnte. Mehr traute sie sich nicht zu. Nicht das sie das nötige Wissen über Navigation, Technik und Antrieb hatte, aber die Flucht vor der Science hatte es nötig gemacht ungewöhnliche Maßnahmen zu ergreifen. Bedauerlicherweise war Sven der Einzige, der genau wusste, was verändert wurde und die Zeit war zu knapp gewesen, um Gerda darüber zu informieren.

Immer noch geschwächt, schleppte sie sich zu ihm rüber. Ein erneutes Knirschen der Hülle auf dem Weg dorthin, verlieh ihr die notwendige Konsequenz. Es dauerte eine Weile, ehe sie ihn halbwegs wach bekam. Benommen konnte er die Informationen von Gerda nicht in befriedigender Weise verarbeiten, so dass sie sich gezwungen sah ihre Befehle zu wiederholen.

„Verdammt. Hört das denn gar nicht auf.“ klagte er, als er sich der Situation bewusst wurde.

„Gevatter Tod will uns noch nicht so wirklich aufgeben. Kriegst du uns in den Orbit?“ fragte sie.

„Ich denke schon. Die Schwerkraft ist hier nicht sonderlich hoch und die Atmosphärenmasse konzentriert sich auf die unteren 3000m. Haben wir die erstmal überwunden, lässt auch der Druck nach. Wie geht’s den Anderen?“ Svens Blick schweifte über die Kommandobrücke und blieb an Eva hängen, die halb nackt an der Wand lehnte und immer noch den Körper von Dina in ihrem Schoß hatte.

„Ich schau gleich mal, ob es ihr gut geht. Bring du uns bloß weg von hier.“ sagte Gerda sichtlich geschwächt. Mühsam quälte sie sich zu den drei Mädchen, die an den Nachwirkungen der vergangenen Ereignisse zu kämpfen hatten.

Ihre größte Sorge galt der Verwundeten. Sie fühlte ihren Puls und als sie registrierte, dass sie noch atmete, war sie verblüfft über die Robustheit der Angeschossenen. Offenbar hatte das Leben sie hart gemacht, denn anders konnte Gerda sich diesen Überlebenswillen nicht erklären. Ein Kampf, der noch nicht gewonnen war, denn bis nach Cree, mit seiner halbwegs vernünftigen medizinischen Versorgung, waren es noch fast zwei Tage.

Nach und nach kehrte das Leben auf die Brücke zurück. Einer nach dem andern erwachte aus der Hitze verursachten Ohnmacht. Gerda empfand die Zunahme der Umgebungsgeräusche als Wohltat. Ein untrügliches Zeichen für die Rückkehr in die Normalität. Nie wieder wollte sie diese Stille und das Vibrieren des Bodens, als die „Perinola“ sich anschickte diesen Mond zu verlassen, ließ sie einen Moment an die Unsterblichkeit ihres Schiffes glauben. Weder eingeschleuste Viren, Balta oder Raketen konnten ihm bleibenden Schaden zufügen. Die „Perinola“ trotzte der Hitze, genauso wie dem Druck und schien unzerstörbar. Für Gerda war das Schicksal dieses Schiffes untrennbar mit ihrem eigenen verbunden.

Sie koppelten das Frachtmodul wieder an und machten sich umgehend auf den Weg nach Cree. Die zeitweise hohen Temperaturen auf dem Schiff waren nicht ohne Folgen geblieben. Ihre Nahrungsvorräte waren auf ein paar Flaschen Kaloriengetränke zusammen geschrumpft, Kondenswasser war bis in die letzten Ecken des Schiffes gekrochen und einige Kunststoffteile waren so verformt, dass nur noch die Entsorgung blieb. Der Antrieb an sich funktionierte zwar, bedurfte aber einiger Reparaturen. Einzig die Fracht hatte keinen Schaden genommen, da das Modul als luftloser Container der Hitze nicht ausgesetzt wurde.

Auf dem letzten Tropfen Kühlmittel humpelte die „Perinola“ Richtung Cree, mit einer Besatzung, die dafür betete, dass alle lebend dort ankommen würden. Derjenigen, der die geringsten Chancen dahin gehend eingeräumt wurden, wurde so gut es ging geholfen, aber die Mannschaft musste sich der unbequemen Wahrheit stellen. Ein Überleben war nur möglich, wenn die Kugel aus ihrem Bauch schnellst möglich entfernt wurde. Unglücklicherweise war niemand an Bord, der die notwendige Qualifikation besaß und so war eine Transfusion die einzig sinnvolle Maßnahme. Eva entnahm jedem an Bord eine Blutprobe und während Nancy sich daran machte die Technik auf eventuelle Schäden zu kontrollieren, kämpfte Dina weiter tapfer um ihr Leben.

Zu ihrem Glück eignete sich Eva als geeignete Spenderin. Gerda hatte nach dem Tod ihrer Tochter das Schiff medizinisch aufgerüstet, aber ein wirklicher Notfall war bisher nicht aufgetreten. Ein Härtetest für Nancys theoretisch erlernte Fähigkeiten, denn mehr als ein Pflaster war nie notwendig gewesen. Nun lag es an ihr und schon bei dem Abgleich der Blutgruppen stellte sich ordentlich Verunsicherung ein. Eine falsche Deutung der Daten und ihre erste ernsthaft kranke Patientin würde sterben. Nur Nichtstun war schlimmer, denn da war der Tod gewiss. Fluchend, über die Unzumutbarkeit solcher Entscheidungen, startete sie die Transfusion und betete zu allen Schutzheiligen, dass Dina überleben würde. Die „Perinola“ hatte schon einmal ein Opfer gefordert und der Schmerz, den die Erinnerung daran erneut hervorrief, drängte sich wie eine ungeliebte Bekannte in den Vordergrund. Das Gefühl von Hilflosigkeit stellte sich ein, als Nancy die Schläuche aus den Adern zog. Sie hatte alles getan was möglich war und nun lag es allein bei ihrer Patientin.

Deren größter Feind war sie selbst. Die Erkenntnis über das gestörte Gleichgewicht zwischen zu wenig Ned und zuviel Red in ihrem Lebensbaum, machte ihr den Kampf schwer. Resignation lähmte ihren Überlebenswillen, denn nichts im Abspann ihres Lebens ermunterte sie für eine Fortsetzung. Was immer auch sie probiert hatte, das Übergewicht aus Elend auf der Waage ihres Lebens hatte leichtes Spiel mit dem geringen Gegengewicht aus Glück. Jeder Versuch von Balance endete unvermeidlich mit der Zementierung dieses Zustandes. War sie bereit aufzugeben? War ihr Kampf gegen die Windmühlen ihres Schicksals gescheitert?

Steh auf.“ flüsterte Sentrys Stimme ihr aus der Dunkelheit ihres Elends zu.

Noch einmal aufstehen.“ wiederholte er, als interessierter Leser ihrer Biographie, der unbedingt auf ein versöhnliches Ende aus war.

„Gib nicht auf.“ vernahm sie Eva mit deutlich realerer Stimme.

Plötzlich hatte sie ihr Überlebenselixier. Etwas, was als Einzelkämpferin außerhalb ihrer Wahrnehmung lag. Freunde. Der Tarnmantel aus Hass tat ihr übriges. Wie konnte sie nur das Offensichtliche übersehen? Sonnenstrahlen durchbrachen den Nebel der Resignation und wie ein Schiffbrüchiger, der endlich Land sah, schwamm sie auf die Küste zu, mit einer unerschütterlichen Überzeugung, dass alles besser wird.

Während Dina sich ihrem Kampf stellte, Nancy immer noch an der Unfehlbarkeit ihrer Entscheidungen zweifelte und Eva am Krankenbett scheinbar hilflos auf einen erfreulichen Ausgang hoffte, schlich die „Perinola“ in gefühlter Zeitlupe ihrem Ziel entgegen. Eric mit seinem technischen Wissen entpuppte sich als ungeahnte Hilfe bei der notdürftigen Reparatur des Schiffes. Obwohl er seine arrogante Art nicht vollends ablegen konnte, war es gerade das demütige Zuhören, was sein Wissen über Raumfahrt erweiterte. Die Erkenntnis, dass das jahrelang in Bücher erworbene Wissen in der praxisnahen Anwendung ihren Feinschliff erhielt, machte ihn offen für die Meinung von Roland. Gemeinsam hielten sie das arg geschundene Schiff am Laufen und im Umfeld von jeder Menge Technik, schienen auch seine unterentwickelten sozialen Fähigkeiten ungeahnte Höhen zu erreichen. Tatsächlich empfand er Respekt vor Roland, was er mit dem Ausbleiben von jeglicher Herablassung ihm gegenüber honorierte. Sein Quantensprung an Einfühlungsvermögen hatte Auswirkungen auf den Rest der Mannschaft, die alle bis auf Sven, einen gut gelaunten Eric erhielten.

Es waren noch gut zwei Stunden bis zur Ankunft auf Cree, als Gerda das Krankenzimmer betrat. Nach dem Angriff der Science war sie in eine Art Automatikmodus verfallen, der ihr ein effizientes Handeln im Sinne der Mannschaft ermöglichte. Nun, da sich die Lage wieder etwas entspannt hatte, wollte sie die Ruhe nutzen, um sich auf künftige Ereignisse vorzubereiten.

„Wie geht es ihr?“ fragte sie Eva.

„Nicht gut. Ich hoffe sie packt es. Sie ist eine Kämpferin.“

„Das ist sie in der Tat.“ Gerda legte eine kurze Pause ein, um den unangenehmeren Teil der Unterhaltung folgen zu lassen.

„Also haben sich meine Befürchtungen hinsichtlich Balta bewahrheitet.“ Sie setzte genau an dem Punkt an, an dem ihr Eva vor dem Angriff noch jegliche Informationen verweigerte.

„Weißt du, ich habe selbst ein paar Aufträge für die Science erledigt und war eigentlich immer der Meinung, dass sie noch eher die angenehmeren Geschäftspartner waren. Ein Irrtum, wie sich jetzt herausstellt. Ich will jetzt wissen, was es mit Sentry auf sich hat.“ forderte sie Eva auf.

„Das ist nur fair. Er hat Nanotechnologie in seinem Blut. Deswegen ist die halbe Galaxis hinter ihm her.“ antwortete diese bereitwillig.

„Was will er denn ausgerechnet auf Cree damit?“ fragte Gerda ungläubig.

„Das weiß nur er allein, aber ich glaube es war einfach nur eine Entscheidung gegen die Science.“

„Gute Wahl, denn soweit ich weiß ist Cree die einzige Welt, auf der die Science keinerlei Möglichkeiten hat.“

„Wir sind da sicher?“ fragte Eva erleichtert.

„Jedenfalls vor Raumschiffen. Was da an Agenten oder Attentätern rum rennt, kann ich dir nicht sagen. Hör zu. Ich will dich nicht verantwortlich machen für das, was passiert ist. Trotzdem sind uns eine Menge Kosten entstanden und für die ärztliche Versorgung wird es auch einiges an Jetons erfordern. Die Reparaturen auf Cree werden drei Wochen dauern. Zeit genug, um wenigstens einen Teil eurer Schuld an Bord abzuarbeiten.“ Gerda schaute Eva fordernd an.

„Einverstanden.“ erwiderte die als Einziges.

„Danach werden wir den Planeten verlassen und das ohne euch. Damit tun wir euch einen Gefallen, denn die „Perinola“ steht jetzt auf der schwarzen Liste der Science. Eine Schuld, die dieser Balta hoffentlich irgendwann mal bezahlt.“ Gerda wollte gehen, aber Eva hielt sie mit einer Frage zurück.

„Wie ist es so auf Cree?“

„Verlogen, aber mit deinem Aussehen wirst du da viele Anhänger finden.“ antwortete sie geheimnisvoll. Ein ungläubiger Blick Evas zwang sie zu weiteren Erklärungen.

„Die Gesetzgebung ist rassistisch. Alles was nicht bestimmten Vorgaben entspricht, wird als minderwertig eingestuft. Dumme Leute, die ihre Dummheit hinter noch dümmeren Gesetzen verstecken. Keine Angst. Euch beide werden sie da unten verehren.“ Damit verließ Gerda das Zimmer wieder. Zurück blieb eine verwirrte Eva, die sich sofort aufmachte, um mehr über ihr Ziel zu erfahren.

Der Bordcomputer war ein Füllhorn an neuen Informationen. Cree schien so komplett anders zu sein, als ihre Heimat Lassik, was eindeutig an dem natürlichen Ursprung des Planeten lag. Temperatur, Schwerkraft, aber auch Zusammensetzung der Atmosphäre waren ideal für die menschliche Natur. Kein noch so ausgeklügeltes Terraforming der Vorfahren hätte diese Perfektion hinbekommen. Ein Glücksfall in den Weiten der Galaxis, der seines gleichen suchte. Von den knapp fünfzig bewohnten Kolonien der Menschheit, gab es gerade mal drei an denen die Vorfahren nicht Gott spielen mussten, wobei weder der Eisplanet Pima, noch der Wüstenplanet Yaqui an die Vorrausetzungen von Cree heranreichten. Die Flora und Fauna suchte seinesgleichen und durch die Tatsache, dass trotz der perfekten Bedingungen sich kein intelligentes Leben entwickelt hatte, drängte sich diese Welt für eine Kolonialisierung förmlich auf. Umso erstaunlicher war die kurze Historie von Cree.

Als Neuste der Kolonien der Vorfahren stagnierte die Entwicklung ungewöhnlich stark. Eine einzige große Siedlung entstand, deren Bevölkerungswachstum sich nicht allein auf natürlichem Wege tragen konnte. Nur der spärliche Zuzug aus anderen Welten ließ die Anzahl der Einwohner steigen und das auch nur, weil teure Werbekampagnen die zweifelsohne vorhandenen Vorzüge preisten. Epidemien machten diesen Fortschritt regelmäßig zunichte. Ausgelöst durch unbekannte Krankheiten, waren sie der natürliche Bremsklotz für die Entwicklung und gaben dem Planeten ein ungerechtfertigtes Bild von hartem Leben in der Natur. Dabei stand Cree in Sachen Wohlstand den anderen Welten in nichts nach, immer vorausgesetzt man blieb innerhalb der Grenzen der Stadt. Selbst die viel gehassten Krankheiten erwiesen sich im Laufe der Zeit als nützlich, da die medizinische Kompetenz sich mehr und mehr auf dem Planeten fokussierte. Gerüchteweise gab es sogar Zeiten, an denen die Mediziner die Mehrheit der Bevölkerung stellten, aber dahin gehend war den Quellen nicht zu trauen. Aber nicht nur Krankheiten wurden erforscht. Der Planet wurde zum Sammelbecken von Botanikern, Zoologen, Geologen und Meeresbiologen. Unumstritten war der Fakt, dass Cree zum Mittelpunkt der biologischen Forschung der Vorfahren wurde und damit endlich seinen Platz innerhalb der Gemeinschaft gefunden hatte.

Die Forschungsgelder flossen reichlich und sicherten den wenigen nicht wissenschaftlichen Einwohner ein gutes Auskommen. Auf Jahre hinaus gab der Dschungel vor den Toren der Stadt reichlich Material für Untersuchungen. Es verging kein Tag, an dem nicht eine neue Tier- oder Pflanzenart entdeckt wurde und tatsächlich ist es irgendwann langweilig geworden, sich Namen für die Vielzahl an biologischen Wundern auszudenken, die da im Grün von Cree lebten. Riesige Kontinente warteten darauf erforscht zu werden, aber wie auch bei den anderen Planeten, setzte die große Katastrophe dem ganzen ein Ende.

Trotz der starken Konzentration von medizinischem Personal entging Cree seinem Schicksal nicht. Das unvermeidliche Sterben setzte ein, aber im Gegensatz zu anderen Welten blieb der Planet von den nachfolgenden Unruhen weites gehend verschont. Keine Plünderungen oder Angriffe durch externe Kräfte, zu unbedeutend war die Welt im galaktischen Poker. Auch das Erliegen von fast jeglichem interstellaren Handel stellte keine große Herausforderung da, immerhin hatte man ja einen Dschungel voller Ressourcen. Die wenigen Überlebenden wurden schlicht und einfach vom Rest der Galaxie ignoriert und während in den Weiten des Alls das Sterben weiter ging, machte der Rest der Bevölkerung das Beste aus ihrer Lage.

Von da an waren die Aufzeichnungen löchrig und wenig glaubwürdig. Offenbar legte man keinen großen Wert auf eine vollständige Chronik, denn erst zu den Zeiten des Liberators begannen die Informationen wieder einen Sinn zu ergeben. Eva rief sich die Geschichte der „Viajera“ wieder in Erinnerung. Jenes Schiff, was zurückgelassen wurde und die geplante Invasion auf Cree verpasst hatte. Eine Invasion, die es nie gab. Keinerlei kriegerische Auseinandersetzungen im Zuge des größten Krieges der Menschheit und das nur, weil man die Welt für unbedeutend hielt? Zweifel kamen in Eva auf. Allein für die Forschungstechnologie hätte sich einen Raubzug gelohnt, zu Mal keinerlei Widerstand von Cree zu erwarten gewesen wäre. Ein großes Geheimnis umgab diesen Planeten und da er höchst wahrscheinlich ihr neues Zuhause werden würde, beschloss sie weitere Nachforschungen nach der Landung anzustellen.

Vorerst musste der Schiffscomputer für neue Informationen herhalten. Mit dem Liberator begann der verstärkte Zuzug von Menschen aus anderen Welten. Die jahrelang isoliert lebenden Ureinwohner wurden mehr und mehr verdrängt. Spannungen entstanden und die Übermacht der Zugezogenen zwang die Einheimischen zur Flucht in den Dschungel. Kleine Dörfer entstanden und die Einfachheit des Lebens in der Natur, gab ihnen die Möglichkeit ihre Jahrhunderte lang gelebten Traditionen fortzuführen. Abgeschottet von dem Rest der Menschheit, bildeten sie eine esoterische Parallelgesellschaft. Niemand weiß genau, wie viele Dörfer es gibt und wie Eva die Geschichte einschätzte, bestand auch wenig Interesse der Stadtbewohner an ihrem Leben. Der Planet war groß genug, um friedlich nebeneinander zu leben und sich weites gehend aus dem Weg zu gehen. Eine fragile Koexistenz, die durch die Einstellung der scheinbar zivilisierten Stadtbevölkerung jederzeit beendet werden konnte. Gerda hatte dahin gehend schon Andeutungen gemacht, und die aktuellen Nachrichten passten zu der konservativen Vorstellung, die sich in Evas Kopf festgesetzt hatte. Ein kurzes Blättern im Gesetzestext offenbarte die rassistische Einstellung der hiesigen Regierung. Eva konnte nicht glauben, dass man eine Aufenthaltsgenehmigung, an der ethnischen Herkunft fest machte oder dass das Reinheitsgesetz den Grad einer Abstammung festlegte. Ein genetisches Kastensystem hatte sich auf dem Planeten etabliert und scheinbar lag das Augenmerk auf der Einhaltung dieser sinnlos erscheinenden Gesetze.

Eva blieb keine Zeit für weitere Nachforschungen. Die Dunkelheit an den Fenstern der „Perinola“ ging in den typischen Farbwechsel eines Bremsvorgangs ein. Sie standen kurz vor der Ankunft auf Cree und die teilweise unlogischen Informationen, die sie sich die letzen Stunden aus dem Computer gezogen hatte, versetzten sie in Aufregung. Egal was sie da unten erwartete. Wichtig war nur das Überleben Dinas.

„Ich habe einen medizinischen Notfall angezeigt. Man kann den Spinnern ja hier viel vorwerfen, aber gut organisiert sind die. Auf der anderen Seite sollte schon ein Rettungstransport stehen, der sie ins Krankenhaus bringt. Hoffen wir nur, dass ihre Genetik mit ihrem Aussehen übereinstimmt.“ erklärte Gerda die Situation, als sie die Luftschleuse betraten. Ein Poltern verriet, dass jemand versuchte sich von außen Zutritt zu verschaffen.

„Was bedeutet denn das?“ fragte Eva.

„Das wirst du gleich sehen.“ erwiderte Gerda.

Die externe Tür wurde geöffnet und eine Gruppe von fünf Männern betrat die Schleuse. Ohne große Begrüßung stürmten drei von ihnen vorbei und widmeten sich umgehend, der auf einer Bahre liegenden Dina. Knappe kurze Anweisungen verrieten sie als medizinisches Einsatzteam und keine zehn Sekunden später war ersichtlich, wer Arzt und wer Sanitäter war.

„Der Test. Machen sie unbedingt erst den Test.“ kommandierte einer der beiden Zurückgebliebenen. Die Uniformen deuteten auf örtliche Behörden hin.

„Verdammte Ärzte. Können sich nie an die Regeln halten.“ fluchte sein Kamerad. Eva schätzte die kurze Gestalt auf Mitte fünfzig. Seine Halbglatze und sein hager Körperbau ließen ihn jämmerlich wirken, nur die braune Uniform wertete seinen erbärmlichen Auftritt etwas auf.

„Dann fangen wir mit Ihnen an.“ Der deutlich Jüngere von den beiden kam auf Eva zu. Seine attraktive Erscheinung konnte auch durch die falsche Farbwahl der Uniform nicht getrübt werden. Er zog ein medizinisches Gerät aus seinem Halfter und hielt es ihr hin. Eva zögerte.

„Einfach nur Hand drauf legen. Keine Angst. Das ist nur eine Eingangsregistrierung und eine Bestimmung ihrer Wertigkeit.“ Seiner Stimme fehlte die übliche Arroganz, die Eva schon so oft bei Beamten erlebt hatte.

„Wertigkeit?“ fragte sie immer noch zögernd.

„Ein genetischer Test, der bestimmt wie kompatibel Sie mit den Vorgaben unseres Reinheitsgesetzes sind. Keine Sorge, ihre äußeren Merkmale sind da viel versprechend.“ sagte er beruhigend, was sie endlich dazu veranlasste ihre Hand auf den Scanner zu legen.

„A-. Das haben wir hier selten unter den Neuankömmlingen. Damit haben Sie hier keinerlei Einschränkungen zu ertragen.“ Er drückte ihr einen weißen Plastikchip in die Hand.

„Ihr Ausweis, für den Aufenthalt hier auf Cree. Darauf sind alle wichtigen Daten gespeichert. Verlieren Sie ihn nicht.“ Damit wandte er sich Gerda zu, die dasselbe Prozedere durchlief, nur das sie am Ende einen gelben Ausweis bekam. Scheinbar war ihre Genetik nicht so passend wie Evas.

Der Abtransport von Dina wurde unterbrochen von dem schmächtigen Beamten, der unbedingt auf eine Registrierung bestand. Knurrend ließ ihn der Arzt in seinem Diensteifer gewähren, bis dieser Eva den gelben Plastikchip in die Hand drückte. Erst dann verließen sie das Schiff.

Eine riesige betonierte Fläche lag vor ihnen, als sie die Gangway hinab schritten. Das kleine kümmerliche Raumhafengebäude am Horizont wirkte lächerlich im Vergleich zu den riesigen Abfertigungshallen von Lassik. Rechts und links befanden sich ein paar Hangars, die nicht den Eindruck machten, als hätten sie irgendeine Funktion. Keinerlei Personal war auf dem Landefeld zu erkennen, was auch nicht notwendig war, denn bis auf ein paar vereinzelte Transporter, gab es nichts, was irgendwelcher Aufmerksamkeit bedurfte. Alles schrie hier förmlich nach Provinz und die Ankunft der „Perinola“ war vermutlich die einzige Abwechslung seit Wochen. Die Exsons hatten jeglichen Verkehr nach Cree eingestellt und als sich Eva so umschaute, verstand sie diese Entscheidung. Der Planet wurde erneut vergessen vom Rest der Galaxie.

Gerda blieb zurück im Raumhafen, um die organisatorische Abwicklung ihrer Geschäfte zu koordinieren, während Eva im Krankentransport Richtung Innenstadt raste. Die sorgenvolle Mine des Arztes bestätigte den Eindruck über Dinas gesundheitlichen Zustand. Selbst jetzt, mit angemessener medizinischer Versorgung, war ihr Überlebenskampf noch nicht gewonnen. Eva würde bei ihr bleiben und sie unterstützen, jene Unterstützung, die sie bei ihrer Schwester versäumt hatte.

Sie kannte Krankenhäuser ausschließlich von Lassik und der schmale Grad zwischen permanentem Mangel an Ausrüstung und sicherzustellender Hygiene, beschränkte die Besuche auf ein Minimum. Hier war es anders. Das Licht schien irgendwie heller, die Krankenbetten wirkten sauberer und das Personal machte schon allein auf Grund der aufrichtigen Sorge über ihre Patienten einen kompetenteren Eindruck. Vermutlich gab es in der ganzen Galaxie keinen besseren Ort um krank zu sein, es sei denn man entsprach nicht den Vorgaben des Reinheitsgesetzes. Während Eva grübelte, was passiert wäre, wenn Dina nicht die notwendige genetische Basis hätte, wurde sie von dem Arzt aus ihren Überlegungen gerissen.

„Die Notoperation ist gut verlaufen. Hundertprozentig kann ich das erst morgen früh sagen, aber ich denke sie wird es überleben. Ruhen Sie sich aus und kommen Sie in ein paar Stunden wieder, dann wird ihre Freundin vielleicht schon wach sein.“ Damit ließ er eine sichtlich erschöpfte Eva zurück. Die letzten zwei Stunden war sie dieser ungewohnten Umgebung ausgesetzt, immer in Sorge über Dina, Sentry oder ihrer Zukunft. Erst jetzt blieb die Zeit, um zu realisieren, dass Sentrys Vorhaben mächtig schief gelaufen war. Was immer er sich auch von Cree erhofft hatte, die Science war ihm zuvor gekommen. Sie griff an das Amulett in ihrer Hosentasche. Ein letztes Andenken an Sentry und sein ungewisses Schicksal versetzte sie in Wehmut. Sie mochte ihn, mehr als sie sich eingestehen wollte, aber es bestand keine Möglichkeit mehr, sich ihren Gefühlen zu stellen. Trotz seines Versprechens, würde sie ihn vermutlich nie wieder sehen.

Der Transport vom Raumhafen zum Krankenhaus war so überstürzt, dass es keinerlei Plan für die Zeit nach der Ankunft gab. Völlig mittellos war Eva in den Mauern des Hospitals gefangen und hoffte darauf, dass Gerda oder wenigstens Eric sie hier irgendwann wieder abholen würden. Obwohl sie keinen Jeton in der Tasche hatte, siegte die Abneigung gegenüber Krankenhäusern, auch wenn dieses eines der besseren war. In der Mittagssonne trat sie auf die Straße hinaus und war bereit, sich der für sie unbekannten Umgebung zu stellen.

Es war warm, aber das war ihr bekannt, dass die Temperaturen höchstens zwischen 20 und 30 Grad schwankten. Als kältegeplagtes Kind von Lassik, war das schon ein untrügliches Anzeichen dem Paradies sehr nahe zu sein. Die Luft war unglaublich rein und der tiefe Atemzug, den sie sich gönnte, verpasste ihrer Lunge eine Überdosis Sauerstoff. Dazu noch die angenehme Schwerkraft und der Gegensatz zu ihrer Heimat, hätte nicht größer sein können. Keine Frage, nicht nur genetisch gehörte sie in dieses Paradies und wäre da nicht ihre Familie, sie würde Lassik keine Träne nachweinen.

Sie ging ein paar Meter den Straßenzug von flachen Gebäuden entlang und die perfekt erhaltenen Fassaden waren nicht nur vor dem Krankenhaus auszumachen. Nichts deutete auf baulichen Verfall hin, jede noch so kleine Ecke passte sich dem Stil von Vollkommenheit an. Alles fügte sich der unausgesprochenen Regel von Perfektion. Die gepflegten Parks, die sauberen Straßen, selbst die tadellose Kleidung seiner Einwohner, die mit ihrer überwiegend blassen Haut, so gar nicht in die sonnendurchflutete Illusion passten. Tatsächlich war der Anteil an blonden Menschen übernatürlich hoch. Zweifelsohne eine Folge der gnadenlosen Aussiebung alles Minderwertigen.

Der monatelange Aufenthalt im All, ließ ihr die eigentliche Selbstverständlichkeit der Wälder auf Prem auf ein Mal wie Luxus erscheinen. Wann hatte sie das letzte Mal einen Baum gesehen? Das musste ewig lange her gewesen sein und so zog sie das Grün, des nächstliegenden Parks, magisch an. Die Parkbank verkündete ihr, dass nur Menschen mit einer Wertigkeit von B- oder höher sich auf ihr nieder lassen durften, aber dahin gehend hatte sie ja keinerlei Einschränkungen. Vollkommen erschöpft ließ sie sich auf der privilegierten Sitzmöglichkeit nieder und bemerkte nicht, dass sie irgendwann Gesellschaft bekam.

Es war Eva unmöglich die Zeit zu schätzen, wie lange sie zu zweit auf der Bank saßen. Ihre Erschöpfung hatte sich in eine zufriedene Entspannung gewandelt und offenbar hatte ihre neue Banknachbarin soviel Anstand, sie nicht in ihrer Ruhephase zu stören. Erst als sich Eva ihr gewahr wurde, begann sie mit der Konversation.

„Was für ein beschissenes Paradies? Findest du nicht auch?“ Erschrocken über die vulgäre Ansprache, fuhr Eva hoch. Neben ihr saß eine Frau, die so gar nicht, in die von Reinheitsgesetzen geprägte Reglementierung passte. Ihre schwarzen Haare und ihre braune Haut verspotteten genauso die Vorgaben der Parkbank, wie auch ihre tief dunklen Augen. Eva wusste nicht, wie weit die Skalierung für die Wertigkeit von Menschen ging, aber sie war sich sicher, dass diese Frau am unteren Ende der Bewertung stand. Ein eigentlich wunderschönes Wesen wurde durch den Stempel des Rassismus als minderwertig eingestuft.

„Tut mir Leid. Ich bin erst ein paar Stunden hier auf Cree und daher noch nicht sehr vertraut mit den hiesigen Zuständen.“ antwortete Eva unsicher.

„Was bist du? B+? A-? Sicherlich irgendwo am oberen Ende der „Blond ist super“ Skala.“ Eva war weiter verunsichert, was diese Frau eigentlich von ihr wollte.

„Ein weiteres Püppchen, was hier ihre Reinheit zur Schau stellt.“ Die Abneigung schwang in jeder ihrer Worte mit. Es gab soviel Einheimische, an der sie ihre Ungerechtigkeit hätte ausleben können, aber zu Evas Unglück musste sie herhalten. Dem Drang zu gehen und sie einfach sitzen zu lassen, widerstand sie. Es ergab sich eine perfekte Möglichkeit, um mehr über dieses scheinbare Paradies zu erfahren.

„Reinheitsgesetz. Ich habe davon gehört. Offenbar nicht unbedingt für alle ein Segen.“ entgegnete Eva ungewohnt selbstsicher.

„Kommt drauf an, auf welcher Seite man steht. Ich habe damit kein Problem.“ antwortete sie jetzt weniger abwertend und zog einen weißen Chip aus ihrer Tasche.

„Machen wir uns den Spaß.“ Die Unbekannte schaute sich um und als sie den uniformierten Beamten erblickte, der sie schon geraume Zeit argwöhnisch beobachtete, winkte sie ihn gelassen heran.

„Gehört diese Frau zu Ihnen?“ fragte er Eva und ignorierte die Unbekannte vollkommen. Da er keine Antwort bekam, wandte er sich jetzt an die vermeintlich unwürdige Banksitzerin.

„Sie haben nicht die Wertigkeit für diese Bank.“ wies er sie zu Recht. Die Gescholtene wedelte als Antwort nur mit dem weißen Chip.

„Pahh.“ mehr wollte der Polizist dem augenscheinlichen Betrugsversuch nicht widmen. An Stelle dessen zog er seinen genetischen Scanner hervor.

„Wenn ich bitten dürfte.“ forderte er sie siegesgewiss auf.

„Was tippst du?“ funkelte sie ihn an.

„Alles über einem E würde mich überraschen.“ erwiderte er abfällig. Selbstsicher legte sie ihren Daumen auf den Scanner. Ungläubig starrte der Polizist auf das Ergebnis.

„Nun. Ist mein Arsch rein genug, um auf dieser Bank zu sitzen?“ fragte sie schnippisch.

„Das Gerät muss einen Defekt haben. Ich komme wieder.“ mürrisch zog sich der Polizist zurück.

„Was sollte das?“ fragte Eva verwirrt.

„Ich wollte dir etwas zeigen. Etwas, was du sicher nicht zum ersten Mal gesehen hast.“

Eva verstand die Worte nicht vollständig. Als bräuchte sie erst den richtigen optischen Reiz, schob sich eine Erinnerung in den Vordergrund ihres Denkens. Der Raumhafen von Lassik und ihre scheinbar aussichtslose Situation, die Ausgangskontrollen zu passieren. Sentry manipulierte die Scanner und ihre Flucht hatte gegen alle Erwartungen den erhofften Ausgang.

„Femtos.“ kombinierte sie richtig, aber die vollständige Erleuchtung stand ihr noch bevor.

„Zaja. Du bist Zaja.“ legte sie den letzten Baustein der Erkenntnis.

Kapitel 7

Gelegentlich vermisste Red die guten alten Zeiten auf Eyak. Dort unten war alles simplen Regeln unterworfen und gerade diese Berechenbarkeit ließ nicht viel Spielraum für angemessene Reaktionen auf Versagen. Versagen, wie im Falle von Olof. Nichts anderes, als den Tod hatte dieser lüsterne Bastard verdient, als eine der weiblichen „Passagiere“ das Zeitliche segnete. Hier, auf dem Schiff, war das bedauerlicherweise anders. Zu zweit war es unmöglich die „Diablo“ am Laufen zu halten, also musste sich Red beherrschen, ihn nicht sofort aus der Luftschleuse zu schmeißen. Auf eine eher ungewöhnliche Art und Weise stellte er sicher, dass genau dieser Fehler kein zweites Mal begangen werden konnte. Seiner Männlichkeit beraubt, lieferte er Olof auf einer der Exsons ab, mit der Maßgabe, sollte er denn überleben, wäre seine Schuld abgeglichen. Tatsächlich tauchte dieser sechs Tage später reumütig an der Luftschleuse seines Schiffes wieder auf und damit war wenigstens für Red die Sache erledigt.

In dieser Zeit überlegte er sich seine Optionen. Er wurde förmlich gezwungen seinen Fund, den er Sentry taufte, an Ruby zu verkaufen. Alles taktieren half nicht und so blieb die einzige Möglichkeit, sich sein Eigentum einfach wieder zurückzuholen. Ein gewagtes Spiel, denn die Gefahr war groß, dass Ruby hinter das Geheimnis der Femtos kommen könnte, aber zu seinem Glück ging der Weiterverkauf so schnell vonstatten, dass der wirkliche Wert der Ware unerkannt blieb. Nun galt es herauszufinden, wohin denn Sentry verkauft wurde und da half ihm sein jahrelang aufgebautes Netzwerk von Kontakten. Ganze drei Wochen waren notwendig, bis er ausgerechnet Lassik als Ziel für seine Bemühungen ausgemacht hatte. Dieses System mit nasskaltem Planeten und seiner höllischen Schwerkraft, aber auch jenem verstecktem Ort voller Vorfahren. Eine böse Vorahnung überkam ihn, als die „Diablo“ in den Orbit einschwenkte. Der Raumhafen war gesperrt für ankommende Schiffe und der ganze Planet schien in ungeahntem Aufruhr. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass der schwellende Bürgerkrieg in eine heiße Phase eintrat. Der Status Quo der Kriegsparteien schien sich aufzulösen und Red glaubte den Grund dafür zu kennen. Keinerlei verlässliche Informationen waren über die chaotischen Zustände auf Lassik zu bekommen und da die Behörden ihm die Landung verweigerten, beschloss er zurückzukehren auf die „verruchte Braut“. Von hier aus wollte er sich sein weiteres Vorgehen überlegen, aber er musste sich selbst eingestehen, dass sein Handlungsspielraum begrenzt war.

Er kannte solche Situationen zu Genüge. Geduld war jetzt gefragt. Die Zeit für Schmuggler würde genau dann kommen, wenn sich eine der Parteien als Sieger herauskristallisieren würde. Im vorliegenden Fall konnte das nur die Inc. sein, also war es genau jene Richtung, in die seine Bemühungen gehen mussten. Es gab keine offiziellen Vertreter an Bord des Exsons, aber ein paar freischaffende Kontaktleute, die gegen regelmäßige Zahlungen als Ohren, Augen und auch Handlanger der Inc. fungierten. Genau dort musste er ansetzen, um an halbwegs verlässliche Informationen zu bekommen.

Es kostete ihn eine Menge Jetons, aber Marvil hielt nicht zurück mit seinem Wissen. Offiziell gesucht wurden Terroristen, die sich mit gemeinen Verbrechern verbündet hatten, um gezielt Anschläge auf die Bevölkerung von Lassik zu verüben. Der halbe Planet stand unter Waffen und die Lage eskalierte gerade in den Slums, weil genau dort der Aufenthaltsort der Gesuchten vermutet wurde. Marvil war clever genug, um die reißerische Propaganda in Klartext zu übersetzen. Mit blumigen Worten schilderte er seine eigene Meinung zu den Vorgängen, die nichts anderes waren, als eine mörderische Treibjagd. Den genauen Grund kannte auch er nicht, aber von Mord, Diebstahl bis hin zu ehebrechenden Frauen hoher Beamter, war alles möglich. Red ignorierte die Gerüchte. Er kannte den wahren Grund für das Durcheinander. Verdammt. Er musste so schnell wie möglich dort runter.

„Du hast doch sicherlich eine Möglichkeit mich darunter zu bringen.“ Red bedauerte jetzt schon die Anzahl der Jetons, die er dafür aufbringen müsste.

„Keine Chance. Was immer diese „Terroristen“ dort unten angestellt haben, es scheint der Inc. so wichtig, dass sie niemanden rein lassen.“ Marvil wollte gerade etwas ergänzen, als sein Kommunikator ihn unterbrach.

Marvil. Du glaubst nicht, wer hier gerade in meinen Laden reinschneit.“ tönte eine eindeutig weibliche Stimme.

„Wer ist dir denn heute erschienen? Gott?“ antwortete Marvil gelangweilt.

Arschloch. Ich habe seinen Namen vergessen, aber ich bin mir sicher, dass der Typ dort auf der Tanzfläche ein hohes Tier bei der Mafia ist.“

„Ein Grund mehr ihn in Ruhe zu lassen. Der will auch nur seinen Schnitt machen. Finger weg.“

Ist diese Info dir nicht was wert? Die Inc. würde das doch bestimmt gerne wissen.“

„Wie ich die Inc. kenne, haben die ihn geschickt. Mehr als ein Dankeschön-Drink ist leider nicht drin.“ Marvil bekam keine Antwort mehr, zu sehr schien seine Quelle enttäuscht.

„Ist da was dran?“ fragte Red interessiert.

„Maria arbeitet im „Diamant House“ und ist eine zuverlässige Quelle. Da Lassik ihre Heimat ist, könnte das passen. Vielleicht ist das deine Chance, da runter zu kommen.“

Als hätte er Reds Gedanken gelesen. Auf legalem Wege war Lassik nicht zu erreichen, aber das schien genau der Kontakt zu sein, der ihm die illegale Variante bot. Ohne weitere Zeit zu verlieren, machte sich Red auf ins „Diamant House“. Eine weitere karge Möglichkeit, doch noch seinen Vorstellungen von Macht und Respekt Substanz zu geben. Das die Launen des Schicksals diesmal wieder in seine Richtung ausschlugen, ahnte er nicht, als er den Club betrat.

Das „Diamant House“ war eindeutig gehobenes Niveau in Sachen Unterhaltung und Red fühlte sich dementsprechend unwohl, als er die Eingangstür passierte. Mühsam quälte er sich durch die verschwitzen Massen und als er dieses kleine pummlige Mädchen mit dem viel zu breiten Kreuz hinter dem Tresen ausmachte, überlegte er sich bereits die nächsten Schritte auf Lassik. Er brauchte Unterstützung dort unten, immerhin war der Planet Neuland für ihn, auch ohne den Bürgerkrieg. Vielleicht konnte dieses Mafiamitglied ihm mehr geben, als nur den reinen Transport.

Zu weiteren Überlegungen kam Red nicht, als Maria, In Gegenleistung eines grünen Jetons, auf die Person zeigte, die sich lasziv zur Musik bewegte. Ein dunkelhäutiger Mistkerl, der viel zu gut aussah. Red blieb keine Zeit für Neid, denn viel wichtiger war die Frau, die sich neben ihm beim Tanz vergnügte. Das rotblonde Haar und die blasse Haut kamen ihm sofort vertraut vor, immerhin hatte er vor nicht allzu langer Zeit jeden Zentimeter von ihr genauer unter die Lupe genommen. Sofort kam Reue in ihm auf, keinen zweiten Versuch der Willensbrechung an Bord der „Diablo“ gestartet zu haben. Wut stieg in ihm hoch, als er sah, wie sie sich amüsierte. Dieses Miststück, mit ihrer rebellischen Ausstrahlung, war eine Beleidigung für jeden Mann. Ein Fehler der natürlichen Ordnung, der umgehend korrigiert werden musste, aber dafür war er nicht hier. Er schaute sich weiter um und es dauerte eine Weile, ehe er Sentry erblickte. Ein dämonisches Grinsen zierte sein Gesicht und verlieh ihm eine unnatürliche Gelassenheit. Er war zurück im Spiel.

Er war unerkannt geblieben, da sowohl das tanzende Weibsbild, als auch sein heiliger Gral vom jeweils anderen Geschlecht abgelenkt wurden. Sentry hatte sich einen dunkelhäutigen Traum von Triebbefriedigung angelacht und selbst Red musste anerkennen, dass trotz der Abweichung von seinem Beuteschema, er damit einen echten Volltreffer gelandet hatte. Ungeniert flirteten die beiden und von dem ängstlichen Sentry, den Red aus dem Tiefkühler nicht weit von hier geholt hatte, war nicht mehr viel übrig. Offenbar hatte dieser ein paar harte Lektionen auf Lassik gelernt, die sein Selbstvertrauen anwachsen ließen. Keine guten Vorraussetzungen, um an die Femtos ran zu bekommen und so entschied er sich gegen eine gewaltsame Aneignung. Vorerst.

Der Schwur Sentry nie wieder aus den Augen zu lassen, bis die Femtos auch durch Reds Blutbahnen kreuzten, musste schon kurz nach der glücklichen Entdeckung im „Diamant House“ wieder gebrochen werden. Gemeinsam mit dem Männertraum, verkroch er sich mehrere Stunden in eines der vielen Quartiere in Ring 2 und obwohl Red wusste, was hinter den Türen gerade ablief, fiel es ihm schwer dem Drang zu widerstehen, die Tür einfach aufzustoßen, der Schlampe einen abschließenden Klaps auf den Hintern zu geben und endlich sein Anliegen mit Sentry zu besprechen. Geduld war jetzt eine seiner neuen Tugenden und da das Schicksal ihm gerade diese Trümpfe in die Hand gespielt hatte und damit seine langwierige Planung überflüssig machte, zwang er sich dazu, auf den richtigen Moment zu warten.

Dieser ergab sich in einer der zahlreichen Restaurants, aber das Gespräch entwickelte sich nicht zu seiner Zufriedenheit. Sentrys Charakter hatte sich zu einem wirklichen Superhelden entwickelt. Jene schwachen Leute, die unerschütterlich an das Gute glaubten. Ein Clark Kent oder ein Bruce Wayne. Hatte er denn nicht begriffen, dass sie in einer Welt voller Lex Luthers lebten? Den Schurken gehörte Gotham City und kein kostümierter Idiot konnte daran etwas ändern. Schon gar keiner ohne Wissen über seine Abstammung. Genau die Verhandlungsmasse, die Sentry leichtfertig ausschlug. Offenbar gab es etwas, was ihn dazu veranlasste, eine Alternative zu der offenen Frage seiner Herkunft vorzuziehen. Was immer das auch war? Red würde dahinter kommen.

Es gab zwei Faktoren, die das weitere beobachten von Sentry extrem erschwerten. Da war zum einen dieses rotblonde Luder, was keinen Moment von seiner Seite wich und nur darauf aus war, Red den Hals umzudrehen. Soviel Aufmerksamkeit schmeichelte ihm und da er ähnliche Gefühle ihr gegenüber hegte, würde es unweigerlich auf eine erneute Konfrontation hinauslaufen, aber das hatte keine Priorität. Alles zu seiner Zeit. Wichtig waren nur die Femtos und zu seinem Unglück steuerten sie auf die Yuma-Station zu. Der andere Schwachpunkt seiner Observation, da die Station so klein war, dass sein Aufenthalt mit Sicherheit nicht unbemerkt bleiben würde. Eine einzige Bar gab es, deren Besitzer nicht ausschließlich von dem Verkauf von Getränken lebte. Ein Glücksfall für Red, denn von Salik erfuhr er das eigentliche Ziel. Cree. Ein Planet, der nicht so ohne weiteres erreichbar war, weder für Red noch für Sentry. Es war unbedingt notwendig ihn vorher zu erwischen. Er musste handeln und ausgerechnet die radioaktive Wüste, die sich Yuma-Prime schimpfte, bot sich als Möglichkeit an.

Sie verfolgten dieses marode Bergungsschiff, welches kommandiert wurde von einem nichts ahnenden Tölpel, der so dämlich war, den größten technologischen Schatz der Menschheitsgeschichte sterbend zurückzulassen. Red kam gerade noch rechtzeitig und die Genugtuung endlich das zu besitzen, was nach seinem Verständnis von Recht sowieso ihm gehörte, wurde noch gesteigert mit dem Bonus, dass dieser schwarze Bastard aus dem „Diamant House“ ebenfalls Femtos im Blut hatte. Die anfängliche Freude über den doppelten Treffer, wandelte sich schnell zu einer ordentlichen Portion Skepsis. Nie und nimmer konnte es sich hierbei um Zufall handeln und bevor er sich der Sache wirklich stellen konnte, wurde die „Diablo“ Opfer eines feigen Angriffes. Wieder entkam ihm Sentry und diesmal hatte Red als Zugabe zu diesem peinlichen Auftritt all sein Hab und Gut verloren. Die „Diablo“ war Geschichte und von einem Moment auf den anderen, war er zurück auf Los im galaktischen Monopoly. Seine Selbstzufriedenheit hatte ihn zu Fall gebracht und nun ging es nicht mehr um Femtos oder irgendwelche Machtfantasien über die Herrschaft der Galaxie. Es ging einzig und allein um sein Leben.

Wie befürchtet zogen die Überreste seines Schiffes alle Arten von Plünderer und Piraten an. In Aussicht auf jede Menge technische Ersatzteile, schaffte es die „Morriñosa“ den vermeintlichen Vorteil einer Erstankunft an dem Wrack. Kommandiert wurde das Schiff von einem Piraten, der sich das Kommando mit einer Art Schreckensherrschaft sicherte. Ein Umstand, der ähnlich wie seiner Zeit auf der „Diablo“, Red in die Karten spielen sollte, aber davon wusste er noch nichts, als die drei finsteren Gestalten, im Glauben leichtes Spiel zu haben, an Bord kamen. Mit Red hatten sie einen unerbittlichen Gegner. Der Heimvorteil und das Fehlen von Schwerkraft, machten es ihm leicht sich den Angreifern zu stellen. Eine ideale Kompensation seines angestauten Frustes, denn das Töten brachte ihn zurück, in einen halbwegs ausgeglichenen Zustand. Gemeinsam mit Igor übernahm er einfach die „Morriñosa“ und da sich die Sympathie der zurückgebliebenen Mannschaftsmitglieder für ihren getöteten Anführer in Grenzen hielt, gelang ihre Flucht, bevor die Polizei sie festsetzen konnte.

Reds Angst einflößende Aura vergraulte den Rest der Mannschaft, kurz nach dem sie am Exson fest gemacht hatten. Gebrandmarkt durch den totalitären Führungsstil ihres ehemaligen Kommandanten, waren sie nicht bereit, Red das nötige Vertrauen entgegenzubringen. Dieser hatte nun zwar ein Schiff, aber niemanden, der sich damit auskannte und zu allem Unglück begannen auch die Behörden sich für die unklaren Besitzverhältnisse zu interessieren. Der ursprüngliche Plan die „Diablo“ durch die „Morriñosa“ einfach zu ersetzen, war nicht mehr umsetzbar und so plünderte er das Schiff mit einem Maximum an Effizienz, bevor er es seinem Schicksal überließ. Er war nun ein Gestrandeter in den Weiten des Alls, mit den Taschen voller Jetons und einem Ziel im Kopf, was ihn vorantrieb. Auch wenn er mit dem Verlust der „Diablo“ einen schweren Rückschlag erlitten hatte, komplett gescheitert war er noch nicht. Cree war seine letzte Chance.

Der Transport dort hin, stellte sich als die größte Herausforderung da. Es gab keine offizielle Verbindung der Exsons zu dem Planeten, also ging das nur über ein Transportschiff mit Überlichtantrieb. Wie die Erfahrungen zeigten, etwas, was nicht gerade im Überfluss vorhanden war. Red brauchte lange, bis er überhaupt einen Kontakt herstellen konnte und trotz großer Überredungskunst, war es ihm nicht möglich, den Kommandanten zu einem Ausflug zu überreden. Dieser langweilige Planet war es nicht wert eine wochenlange Reise in Kauf zu nehmen. Zu wenig Profit sprang am Ende heraus und als Red schon jede Hoffnung aufgeben wollte, jemals überhaupt in die Nähe von Cree zu gelangen, bot sich ihm eine Gelegenheit, die nicht ganz frei von persönlichem Risiko war.

Ausgerechnet Eyak. Jener Planet, den er aus gutem Grund die letzten Jahre gemieden hatte. Zuviel verbrannte Erde hinterließ er bei seiner Flucht. Ein Nachlass, der schwer in Vergessenheit geraten würde. Trotzdem hatte er keine Wahl, denn dummerweise saß der vermittelte Kontakt in jener bei Raumfahrern beliebten Bar, die Red in seiner aktiven Zeit als Geldeintreiber gelegentlich selbst besuchte. Das die Dämonen der Vergangenheit irgendwann wieder an seine Tür klopfen würden, schien unvermeidlich und er hatte sich auch schon ein ruhmreiches Szenario für diesen Zeitpunkt zu Recht gelegt, aber nun waren alle Pläne für diesen glorreichen Tag hinfällig. Keine triumphale Rückkehr eines alles überstrahlenden Paten, für den der rote Teppich ausgerollt wurde. Ganz im Gegenteil. Jegliche Aufmerksamkeit wollte er vermeiden und so glich seine Heimkehr eher einem schleichenden Wiesel, was unauffällig durch die Gassen huschte, um den großen Raubtieren von Eyak aus dem Weg zu gehen.

Dieser Vergleich ließ Reds Laune auf den Nullpunkt sinken, als er die Fähre auf Eyak verließ. Er widerstand dem Drang Rob anzurufen, jenem Zuhälter, der auf keine lebende Rückgabe seiner Ware bestand. Auch wenn ihm dieser Kick die notwendige Konzentration für die bevorstehenden Ereignisse gesichert hätte, war das Risiko viel zu hoch. Eine permanente Dosis Adrenalin musste als Ersatz herhalten und zu seinem Glück gewährte ihm der Körper dieses Aufputschmittel. Eine Anspannung, die ihm eine kontinuierliche Beobachtung seiner Umgebung ermöglichte und so wie er die ersten Minuten seiner Ankunft einschätzte, entpuppte sich Eyak als jenes berechenbare Gemisch aus Menschen, dass er aus den guten alten Tagen her kannte.

Er gönnte sich ein Taxi und das Desinteresse des Fahrers an seiner Person, ließ ihn für einen Moment entspannen. Längst verschollene Erinnerungen schwemmten an die Oberfläche, als sie bekannte Häuserfronten passierten. So ziemlich jeder Ort entlang der Hauptstrasse war sein Betätigungsfeld gewesen. Ob nun Nutten, Junkies, Spielsüchtige oder sogar Beamte. Jeder war potentieller Kunde von ihm, wenn die pünktliche Zahlung nicht garantiert werden konnte. Ein einfaches, aber gutes Leben. Nichts, mit dem der jetzige Red etwas anfangen konnte. Er wollte mehr und er war bereit für das maximale Risiko. All in. Darauf würde es hinauslaufen die nächsten Stunden.

Wie auf Knopfdruck setzte die Körperspannung wieder ein, als er das Taxi verließ. Erneut kontrollierte er die Umgebung, aber nichts ließ auf verdächtige Aktivitäten schließen. Alle im Vorfeld entworfenen Pläne über die möglichen Abläufe innerhalb der Bar, besaßen eine große Unbekannte. Das Wissen über seine Rückkehr nach Eyak. Sollte das bekannt sein, war noch so jedes ausgefeilte Vorhaben hinfällig, also entschied sich Red für die einfachste Variante. Er würde dort einfach reingehen, zehn Minuten mit Pjotr die Bedingungen aushandeln, die Bar schnellst möglichst wieder verlassen und im Raumhafen die nächste Fähre aufs Exson nehmen.

Mit einer schon fast übertriebenen Gelassenheit schritt er durch die Eingangstür. Die Einrichtung hatte sich nicht geändert, aber das stand nicht im Mittelpunkt seines Interesses. Viel wichtiger schien ihm die Kontrolle des Personals und wie erwartet, erkannte er keins der Gesichter, die da gestresst durch die Bar eilten. Die Haltbarkeit von Bedienungen überschritt selten zwei Jahre und der Nachschub an willigen Mädchen, die sich ihren Unterhalt mit Getränke servieren verdingen wollten, riss nie ab. Sein Blick wanderte zu den Gästen an den zahlreich vorhandenen Tischen, aber auch da war nichts Bekanntes auszumachen. Er ging zum eigentlichen Tresen rüber, an dem nur eine mit Schminke überfrachtete Blondine saß, die auf ein gutes Geschäft in der eigentlich kargen Mittagszeit hoffte.

„Wollen Sie einer Lady nicht einen Drink ausgeben.“ lallte sie ihn an, in jenem wirren Tonfall, der für eindeutig zu viel Alkohol stand.

„Wenn ich eine treffe vielleicht.“ antwortete Red arrogant.

„Hey, so wie du aussiehst, müsstest du mir was bezahlen, damit ich es mit dir mache.“ Ihre Stimme wurde lauter und zog zweifellos zu viel Aufmerksamkeit auf sich. Red wurde sich seines Fehler sofort bewusst.

„Schon gut. Du sollst deinen Drink bekommen, aber lass mich in Ruhe.“ Er konnte sich nicht erinnern, überhaupt jemanden freiwillig etwas spendiert zu haben. Wenn doch, geschah das immer nur für eine erwartete Gegenleistung, die mehr beinhaltete als seinen Seelenfrieden. Endlich gab sie Ruhe, als sie das überteuerte Getränk vor sich stehen hatte und Red konnte sich nach Pjotr erkundigen, der an einem Tisch, recht abseits des Geschehens saß. Flankiert wurde er von zwei seiner Männer, die in ihrem Aussehen stark an Igor und Olof erinnerten. Die ehrfürchtige Haltung gegenüber ihrem Kommandanten, war eine wohl vertraute Geste, die er vermisste, doch leider besaß Red keine Mannschaft mehr. Während Olof gemeinsam mit der „Diablo“ das Zeitliche segnete, verlies Igor ihn auf dem Exson.

„Hast du dir das wirklich überlegt mit Cree?“ wurde Red von Pjotr gefragt, nachdem Austausch der üblichen Floskeln. Dieser bemühte sich, seine Ungeduld im Zaum zu halten. Nur der gelegentliche Blick zur Eingangstür beruhigte ihn, denn sollte sich irgendein Ärger anbahnen, würden dort die ersten Anzeichen erkennbar sein.

„Wie viel?“ versuchte Red die Sache zu beschleunigen, aber Pjotr hatte vorerst kein Interesse daran.

„So wie du aussiehst, werden sie dir nicht unbedingt die Willkommensmatte ausrollen. Was zum Teufel willst du da?“

„Privatsache. Also wie viel?“

„Hör zu Bübchen. Wir werden fast vier Wochen aufeinander hängen und ich will mir keine Laus in den Pelz hängen. Ich werde diese Reise machen, mit dir oder ohne dich. Das ist mir vollkommen egal. Es liegt an dir, mich zu überzeugen, dass ich dich mitnehme.“ Red kochte innerlich vor Wut. Er war es nicht gewohnt so abfällig behandelt zu werden. Seine Selbstbeherrschung hing an einem seidenen Faden und dieser kahlköpfige, kleine Bastard provozierte allein schon mit seiner schmächtigen Statur.

„Ich treffe einen alten Freund. Er schuldet mir noch was.“

„Eine weite Reise für eine offene Rechnung.“

„Die sich für dich lohnen wird.“ Red zog fünf seiner insgesamt sechs schwarzen Jetons aus der Tasche und legte sie auf den Tisch. Pjotr zog geräuschvoll die Luft ein.

„Ich kenne die Branche. Es verdoppelt deinen Profit alleine dadurch, dass ich brav in meinem Quartier sitze und ab und an mal, ein paar Kalorien nasche. Was brauchst du mehr an Überzeugung.“ Red war jetzt sichtlich ungeduldig, denn etwas in der Umgebung hatte sich verändert. Nichts Offensichtliches, aber seine inneren Schutzinstinkte waren eine Warnstufe aufgestiegen.

„Würdest du uns einen Moment entschuldigen? Ich würde das gerne mit meinen Partnern diskutieren.“ erwiderte Pjotr und brachte damit Red an den Rand eines Wutausbruches. Was gab es da denn noch zu überlegen? Seine eigenen Tage als Schiffskommandant waren noch nicht so lange her, so dass er den Wert dieses Angebotes als absoluten Glücksfall einordnen konnte. Er war bereit diese Argumentation diesem haarlosen Troll entgegenzuschleudern, als ihm endlich auffiel, was da in der Bar nicht stimmte.

Er ging zurück zur Theke, damit Pjotr und seine tumben Gesellen sich ihm gegenüber wichtig nehmen konnten, was das eigentlich großzügige Angebot betraf. Die nervige Blondine hatte eine neue Quelle für ihren übermäßigen Alkoholkonsum aufgetan und das, was Red fälschlicherweise zuerst als Freier angesehen hatte, entpuppte sich als ihr Zuhälter. Die jahrelange Abstinenz vom Rotlichtviertel machte die Unterscheidung schwer, aber die inneren Instinkte bügelten den Fehler mit ihrer unterbewussten Warnung wieder aus. Spätestens als er handgreiflich wurde, war jede Verwechslung unmöglich.

„Ich bezahl dich nicht fürs rum sitzen und saufen. Bring mir Jetons ran.“ brüllte er sie an.

Red hatte das Gesicht als unbekannt eingestuft, aber jetzt, wo er die Stimme vernahm, war er sich sicher, diesem Typen nicht das erste Mal über den Weg zu laufen. Sein Gedächtnis kramte nach der passenden Erinnerung, aber mehr als eine vage Prügelszene aus dem Archiv, brachte es nicht hervor. Zu viele Knochenbrüche gab es in der Historie von Eyak, dass er sich an alle hätte entsinnen können. Diese undefinierte Episode aus seiner Vergangenheit steuerte gerade wohl auf ihn zu.

„Hast du ihr den Stoff gekauft? Scheiße man, du sollst sie ficken, nicht abfüllen.“ wurde Red von links überrumpelt.

„Nicht mein Typ.“ knurrte Red zurück und gab ihm damit die letzte Möglichkeit lebend aus der Sache raus zukommen.

„Soso. Wir sind also anspruchsvoll. Wollen der Herr vielleicht etwas…“ zu mehr kam er nicht, denn in diesem Moment stieg auch bei ihm die gemeinsame Erinnerung empor. Auf Grund der erlittenen Schmerzen sicherlich deutlich intensiver und als ihm bewusst wurde, wem er da gerade versuchte Manieren beizubringen, stellte sich die Reue über diesen Fehler umgehend ein.

Red verdrehte ihm den Arm, was der Zuhälter mit einem spitzen Schrei quittierte.

„Schnauze.“ fauchte er ihn an und schob ihn Richtung Toiletten. Der Barkeeper hinter dem Tresen starrte ihnen ungläubig hinterher.

„Ruf Frago an und sag ihm, dass das Na…“ Red gab ihm einen Schlag auf den Hinterkopf und verhinderte damit die vollständige Botschaft. Zu seinem Bedauern sah er, wie der Barkeeper zum Kommunikator griff. Damit war seine Zeit auf Eyak erneut begrenzt.

„Scheißkerl.“ fluchte Red, als er den Abschaum in eine der Boxen schob.

„Ich hätte dich ja einfach nur umgebracht, aber das Folgende hast du selbst zu verantworten.“ Er griff seinem Opfer in den Mund und bevor er einen Biss einstecken konnte, zog er die Zunge heraus und trennte sie mit dem überdimensionierten Zuhältermesser ab. Zurück blieb ein jaulendes Elend, was an seinem eigenen Blut zu ersticken drohte.

„Verdammt ist das scharf. Wo bekommt man denn so was geschliffen?“ fragte Red aufrichtig bewundernd.

„Oh. Ich vergas.“ kommentierte er seine eigene Fehleinschätzung über die Auswirkungen der Verstümmelung. Zurück in der Bar überlegte er kurz, ob der Barkeeper für seinen übereifrigen Einsatz einen Extradank verdient hatte, aber allein die Tatsache, dass er nirgendwo zu sehen war, hinderte Red an der Ausführung. Er brauchte einen Moment, um seine Gelassenheit wieder zu finden und steuerte mit neuem Selbstbewusstsein auf Pjotr und seine Leute zu.

„Probleme?“ fragte Pjotr, dem das Schauspiel am Tresen nicht entgangen war.

„Eine Meinungsverschiedenheit. Mehr nicht. Sind wir im Geschäft?“ fragte Red in unnatürlicher Ruhe.

„Du hast uns überzeugt.“ bestätigte Pjotr den Vertrag.

„Welche Überraschung.“ Red verfiel in Sarkasmus.

„Wir treffen uns übermorgen im örtlichen Raumhafen. Auf Cayuse nehmen wir Ladung auf und dann geht es nach Cree.“ erklärte Pjotr den Plan. Mit einem so zeitigen Abflug hatte Red nicht gerechnet, was sein Vorhaben über die Rückkehr zum Exson zunichte machte. Allein der Hinflug würde schon zwei Tage dauern, also war er gezwungen die Zeit bis zur Abreise hier auf Eyak zu verbringen.

„Einverstanden.“ knurrte er missmutig und überlegte sich bereits ein Versteck. In seinen guten alten Zeiten als Geldeintreiber gab es jede Menge Zuflüchte, aber nach all den Jahren war unsicher, ob diese Rückzugsorte ihn wirklich vor dem Zugriff von Fragos Männern schützen würden. Er hatte keine Wahl. Die nächsten zwei Tage waren vergleichbar mit einem Tanz auf dem Minenfeld. Ein falscher Schritt und Frago konnte sich revanchieren für seine zerschossenen Knie.

Das Leben auf der Strasse war nicht ungewohnt für Red, trotzdem war er froh, nicht mehr als zwei Nächte in den dreckigen Gassen der Stadt verbringen zu müssen. Die Zeit schien wie festgenagelt und das Warten auf den Abflug strapazierte seine neue Tugend namens Geduld. Er überbrückte die Langeweile, indem er sich auf den neusten gesellschaftlichen Stand brachte. Das System hatte sich nicht verändert, einzig ein paar Namen waren ausgetauscht worden. Die Führungsebene des organisierten Verbrechens schien unerschütterbar, aber schon ein Level tiefer, also jene elitären Handlanger, die sich rechte Hand schimpfen durften, hatte die letzten Jahre neue Gesichter hervorgebracht. Ihre Vorgänger lagen vermutlich verschart in den Wäldern der Umgebung, weil sie entweder am finalen Schritt zur Nummer eins scheiterten oder den Ambitionen von jugendlichen Emporkömmlingen nichts entgegensetzen konnten. Ein Traum, den einst auch Red teilte, aber das Schicksal hatte ihm einen anderen Weg aufgezeigt.

Auch die öffentliche Verwaltung brachte neues Personal hervor und besonders ein Name erregte Reds Aufmerksamkeit. Andrin hatte es vom leitenden Hauptkommissar zum Polizeipräsidenten gebracht, nachdem sein Vorgänger auf Grund von Verfehlungen seiner Familie zurücktreten musste. Dieser Mistkerl ist also die Karriereleiter hinauf gefallen und Red hatte gewichtigen Anteil daran. Gedanken von Erpressung gingen durch seinen Kopf, aber es war nicht der Zeitpunkt für solch niedere Möglichkeiten der Vermögenserweiterung. Immer noch stand das große Ganze mit der Aufschrift Femtos im Raum und daher war es notwendig im Verborgenen zu bleiben. Zwei Tage drückte sich Red in den Gassen der Hauptstadt herum, jegliche Form von Aufmerksamkeit vermeidend und als dann der Zeitpunkt seiner Abreise endlich da war, stand er hungrig und stinkend in der Abflughalle des Raumhafens.

„Du siehst furchtbar aus.“ wurde er von Pjotr begrüßt.

„Egal. Wir sollten verschwinden.“ Red wollte nur noch an Bord.

„Tut mir Leid. Die Pläne haben sich geändert.“ erwiderte Pjotr.

„Was soll denn das heißen?“ Red konnte seine Verwunderung nicht zurückhalten.

„Ganz einfach. Dein Arsch gehört jetzt mir.“ vernahm Red eine vertraute Stimme in seinem Rücken. Frago, mit mindestens dreißig zusätzlichen Kilo Übergewicht, stand gestützt auf Krücken schwankend hinter ihm. Verdammt sie hatten ihn erwischt und zu Reds Überraschung, war er darüber nicht mal verwundert. Sicherlich hat der Barkeeper vor zwei Tagen Frago informiert und die Verbindung zu Pjotr war schnell hergestellt. Dieser hatte vermutlich doppelt soviel Jetons dafür bekommen, Red ans Messer zu liefern. Die Logik war so einfach. Warum zum Teufel hatte Red dieses Szenario nicht in seine Überlegungen mit einbezogen? Die Femtos waren Schuld. Der Ausblick auf Technologie vernebelte seinen Blick für die eigentlichen Gefahren. Er hatte verloren und sein Tod würde alles an Grausamkeiten übertreffen, was er sich je in seinen Fantasien ausgemalt hatte.

„Versuche es nicht einmal.“ riet Frago ihm, als er seinen Blick für eventuelle Fluchtmöglichkeiten schweifen ließ. Vier Leibwächter sicherten die Gruppe so geschickt ab, dass keinerlei Entkommen möglich war.

„Du siehst gut aus.“ flüchtete sich Red in Sarkasmus und spielte damit auf das mittlerweile massive Übergewicht von Frago an. Dieser hatte sichtlich Mühe die Provokation zu ignorieren.

„Mein tolles Aussehen ist nur einer der Punkte, die wir unbedingt besprechen müssen. Natürlich machen wir das nicht hier. Ich bevorzuge da eher eine gemütlichere Atmosphäre.“ Frago machte keinen Hehl über die Vorfreude, sich an Red austoben zu können. Vermutlich hatte er die letzten vier Jahre auf diesen Moment hingefiebert.

„Victor. Bring unseren Gast ins Casino. Nach so langer Zeit habe ich tausend Fragen an ihn.“ Frago genoss sichtlich seinen Coup.

Die unscheinbarste Gestalt von den vier Schergen steuerte auf Red zu und in jenem Moment, in dem er sich mit einer herablassenden Bemerkung über das Aussehen seines zukünftigen Peinigers lustig machen wollte, verdrehte der ihm so geschickt den Arm, dass ihm förmlich jedes Wort vor Anerkennung versagt blieb. Diese schmächtige Person hatte offenbar mehr Kraft in den Armen, als sein Auftreten es vermuten ließ. Mit Anfang zwanzig die rechte Hand eines der führenden Kartellbosse zu sein, verlangte nicht nur unbedingten Ehrgeiz, sondern auch ein gewisses Maß an Cleverness und eine ordentliche Portion Selbstvertrauen. Dieser Victor war kein herkömmlicher Gangster, wie sie zu tausenden die Strassen von Eyak überrannten, das wurde Red sofort klar. Dieser Kerl hatte etwas, was er bisher ausschließlich bei sich selbst ausmachen konnte. Den unbedingten Willen, sich an die Spitze zu setzen und wie er Fragos gesundheitlichen Zustand einschätzte, würde das in kurzer Zeit auf natürlichem Wege geschehen. Mit Sicherheit hatte Viktor bereits seine Vorbereitungen für das nahende Ende und die Übernahme seiner Geschäfte getroffen. Red hätte das getan und dieses Spiegelbild seiner selbst würde genau die Fantasien von Ruhm verwirklichen, die ihm bisher versagt blieben. Sie beide waren vom selben Schlag und wenigstens Red erkannte ihre Gemeinsamkeit. Eine jüngere und verbesserte Variante war bereit die letzten Stunden seines Lebens so grausam wie möglich zu gestalten und zum ersten Mal hatte er Angst. Sie verfrachteten ihn in Fragos Privatlimousine und zum vermutlich letzten Mal sah er die vertrauten Lichter von Eyak an sich vorbeiziehen. Eine Mischung aus Melancholie und Angst verstörten seinen Geist. Kein guter Zeitpunkt für Chaos in seinem Kopf und so bemühte er sich um die Souveränität seines Auftretens, denn sein Untergang sollte Frago so wenig wie möglich Genugtuung liefern.

Erst als er an einem Stuhl gefesselt in jenem Büro saß, dass damals Cooper nicht lebend verließ, erwachten auch seine Überlebensinstinkte. Es war noch nicht vorbei. Ein letzter Trumpf blieb ihm und es lag nun an ihm diesen zur richtigen Zeit auszuspielen.

„Wie ist es, auf dieser Seite des Schauspiels zu sein?“ Frago hatte es sich in seinem Sessel gemütlich gemacht und wirkte wie ein Kinobesucher, der es nicht abwarten konnte, dass der Film begann. Viktor dagegen stand ausdruckslos neben Red und wartete auf den Beginn des Unausweichlichen.

„Ich muss dir das eigentlich nicht mehr erklären, aber vielleicht hat dich das Leben im Weltraum etwas vergesslich gemacht. Zuerst werden wir dir die Scheiße aus den Rippen prügeln, dann werden wir dir ein paar Fragen stellen, deren Antworten uns vollkommen egal sind. Dann gibt es erneut Prügel, noch mal Fragen und dann beginnt der wirklich unangenehme Teil unserer Unterhaltung.“ Frago ließ mit Absicht offen, was da Unangenehmes auf Red zukommen würde, aber die begrenzte Kreativität in Sachen Schmerzen deutete auf Verstümmelung hin.

„Lets Rock.“ war das Einzige, was Red erwiderte und die Selbstsicherheit, die er in diese zwei Worte legte, ließ Fragos Vorfreude für einen Moment abkühlen. Erst als Victors Faust krachend in seinem Gesicht einschlug, kehrte das Grinsen zurück.

Eine halbe Stunde steckte Red die Prügel von Victor ein. Dieser hatte das Talent ein Maximum an Schmerzen, bei einem Minimum an Verletzungen hervorzurufen. Das Wissen über die Anatomie des Körpers war beeindruckend und bis auf ein paar Rippenprellungen, blieben Red schwerwiegende Frakturen erspart. Genug Steigerungspotential für die zweite Runde und nach den angedrohten sinnlosen Fragen, überraschten sie ihn damit, dass die weitere Folterung mit Stromstößen vonstatten ging. Ein gezieltes Verstärken der Schmerzen durch die Prügelorgie. Noch hielt Red das Prozedere aus, aber die Grenze seiner Belastbarkeit kam näher und näher. Victor spielte mit ihm und die Demütigung diesem Halbwüchsigen als lebendes Forschungsobjekt in Sachen Schmerzkunde zu dienen, überwog die physische Folter. Noch, denn jeder hatte seine natürliche Grenze beim Ertragen von Schmerzen und obwohl die bei Red ziemlich hoch lag, würde der Augenblick kommen, an dem sie fiele.

„Gut. Fragerunde Nummer zwei und ich würde dir empfehlen vernünftige Antworten zu liefern, denn die sind entscheidend für Victors weiteres Vorgehen.“ bestätigte Frago den von ihm aufgestellten Zeitplan.

„Wo ist mein Geld?“ Die Wut war unüberhörbar.

„Verprasst mit Alkohol, Drogen und Weibern.“ Red bekam keine klare Aussprache mehr zustande. Sein Mund war eine einzige Schwellung aus Schmerz. Trotzdem war die Verhöhnung in den Worten zu erkennen, was Victor mit einer extra langen Dosis Strom bestrafte.

„Offenbar willst du das Komplettpaket an Schmerzen. Ich wäre ja bereit deinen Todeskampf auf ein paar Stunden zu begrenzen, trotz der Scheiße vor vier Jahren. Noch gefallen mir deine Antworten nicht und Victor hier hat sicherlich Spaß daran, dich wochenlang zu foltern. Also. Wo ist mein Geld?“ wiederholte Frago seine Frage.

„Du verdammter Idiot. Du stellst die falschen Fragen. Vergiss dieses verdammte Geld.“ zischte Red unter Schmerzen.

„Ach ja. Dann erleuchte mich doch.“ Frago wirkte gelangweilt.

„Ich kann dir deine Kniescheiben zurückbringen.“ Red hatte jetzt Mühe die Schmerzen zu ignorieren und sich auf seinen Plan zu konzentrieren.

„Wie nobel. Bringt mir nicht mein Geld zurück, aber meine Knie.“ Frago schnaubte verächtlich.

„Wenn du das nicht willst, dann vielleicht 500 Kilo weniger, oder eine nicht ganz so hässliche Nase. Die Möglichkeiten sind unbegrenzt, denn ich weiß, wo das geht.“ Red viel mittlerweile das Sprechen schwer.

„Soso. Deswegen rennst du immer noch mit diesem wunderschönen Gesicht durch die Gegend.“ Frago wollte seine Forderung nach dem Geld erneuern, als er von Red unterbrochen wurde.

„Die eskalierende Scheiße auf Lassik hatte einen bestimmten Grund. Deswegen bin ich hier. Wenn du mehr Eier als Kniescheiben hast, finde heraus, warum es diesen ganzen Trubel auf Lassik gab. Vielleicht helfen dir ja die Worte „Femtos“ oder „Nanotechnologie“ dabei.“ Das war sie, die letzte Chance das Casino lebend zu verlassen. Wenn Frago darauf nicht ansprang, war er unweigerlich verloren. Es bestand nicht mal eine hundertprozentige Sicherheit, dass die Unruhen auf Lassik durch Sentry ausgelöst wurden. Ebenso war unklar, ob Frago die nötigen Kontakte besaß, um an geheime Informationen der Inc. zu gelangen. Vor vier Jahren gab es nichts in der Galaxie, was vor ihm geheim blieb, auch wenn seine Einflussmöglichkeiten gering waren, konnte er mit der einen oder anderen Information Geld verdienen. Ein Geschäftszweig, den er hoffentlich nicht vollkommen aufgegeben hatte.

„Glaubst du mit diesen Andeutungen deinen Arsch zu retten?“ erwiderte Frago nicht wirklich überzeugt. Red kratzte seine letzten körperlichen Reserven für die endgültige Überzeugung zusammen.

„Verdammt, du warst schon immer ein Penner, aber offenbar habe ich dir vor vier Jahren auch ein Stück deines Gespürs für ein gutes Geschäft weggeschossen. Verdammte Scheiße, zapf deine Quellen innerhalb der Inc. an und wenn dir nicht gefällt was du hörst, kannst du mich immer noch mit deinen sinnlosen Fragen nach dem Geld nerven.“ Die Anstrengung überforderte Red und der erneute Stromstoß durch Victor beschleunigte den Zusammenbruch. Sie mussten vorerst ohne ihn weitermachen, denn sein Bewusstsein nahm sich eine Auszeit.

Schmerz. Es gab kein anderes Programm, als die mentalen Systeme langsam wieder anliefen. Unmöglich zu lokalisieren, wo der Ursprung lag. Es schien fast so, als würde sein Körper vor der Unzahl an Möglichkeiten kapitulieren und einfach alles zu einer geballten Ladung zusammenfassen. Keine Reizung von außen, soweit konnte Red unterscheiden. Das, was ihm da präsentiert wurde, waren die Nachwirkungen der vergangenen Stunde und die Intensität schien nicht abzuklingen. Seine Augen boten ihm verschwommene Bilder von Viktor, Frago und diesem hässlichen Bürosessel, der in Sachen Stabilität enormes leistete, da er mehrere Stunden täglich mit der Überschreitung des Maximalgewichts malträtiert wurde. Mühsam kombinierte Red, dass sich seine Situation nicht verbessert hatte. Er war immer noch in diesem Büro und sobald sich sein Gesundheitszustand wieder etwas berappelt hätte, stand ihm der nächste Kampf gegen die Schmerzen bevor.

Er war nicht mehr gefesselt und sofort regten sich erste Gedanken über eine Flucht durch die alles beherrschende Flut aus Schmerz. Keine Chance. Selbst wenn ihn Frago bitten würde zu gehen, seinen geschunden Körper würde er nie von diesem Stuhl hochbekommen. Er war jetzt auf Gedeih und Verderb den Launen seiner Peiniger ausgesetzt. Das Einzige, was ihm blieb, war die Hoffnung auf den Erfolg seiner letzten verzweifelten Offensive. Fragos Neugierde war definitiv geweckt worden, war nur die Frage, ob die Dinge ihren gewünschten Verlauf nahmen.

„Femtos. Was für ein alberner Begriff. Nanobots passt da besser.“ Red konnte Fragos Worte nur schwer verarbeiten.

„Du hattest Recht. Wird Zeit, dass ich die richtigen Fragen stelle.“ fuhr Frago fort.

„Wo, wer, was und wie? Obwohl ich ersteres mir zusammen reimen kann. Cree. Also wer?“ Victor hob Reds Kopf an, der trotz größter Anstrengung immer wieder zurück auf seine Brust fiel.

„Das „was“ ist viel interessanter. Die Dinger heilen alles. Knochenbrüche, Zähne, offene Wunden. Ich habe es selbst gesehen.“ Red musste schlucken, denn der eisenhaltige Geschmack in seinem Mund wurde unerträglich.

„Sagtest du bereits. Mein Informant schwafelte was von der Entschlüsselung genetischer Codierung.“ lieferte Frago unfreiwillig neue Informationen.

„Das ist mir neu und steigert den Wert von diesem Goldjungen ins Unermessliche. Es gibt noch fünf weitere Funktionen.“ Die Worte waren immer noch schwer verständlich.

„Kommen wir zurück zum „Wer“.“ Frago lauerte. Red war jetzt an dem Punkt, den er in den schlimmsten Qualen seines Martyriums herbeigesehnt hatte. Nun galt es den letzten Ausgang nicht durch dumme Handlungen wieder zu verbauen.

„Das ist der Punkt, an dem du mich brauchst. Ich bin der Einzige, der ihn identifizieren kann.“ Der Augenblick der Wahrheit war gekommen. Obwohl sein zerbombtes Antlitz keine Pokermaske zuließ, versuchte Red so überzeugend wie möglich zu wirken. Seine Zukunft würde sich in Kürze entscheiden und die Auswahl beschränkte sich auf Tod oder weiterleben als demütiges Haustier, welches geduldet wurde, bis sich sein Besitzer dessen überdrüssig zeigte. Keine guten Perspektiven, aber immerhin gab es bei Letzterem wenigstens so etwas wie eine Zukunft. Fragos Grinsen verhieß nichts Gutes.

„Denkst du wirklich? Mein Informant bei der Inc. war so freundlich mir das Blutbild unseres Wunderknaben zu überlassen. Da auf Cree eine genetische Eingangskontrolle stattfindet, sollte es ein leichtes sein, an die Nanobots zu kommen.“ Reds Plan war im letzten Moment gescheitert. Sie brauchten ihn nicht, denn alles was er wusste, war auch Frago bekannt. Hier und jetzt würde es enden. Ironischerweise auf der Welt, an dem sein steiniger Weg des Lebens begann. Verzweifelt suchte er in den Niederungen seines Geistes nach der letzten rettenden Idee.

„Etwas Gutes hat das Ganze auch für dich.“ Frago weckte kurze Hoffnung in Red.

„Wir können uns leider nicht so sorgfältig um dein Ableben kümmern, immerhin müssen wir diesen Pjotr treffen, der uns nach Cree bringt. Meine ganzen schönen Fantasien der letzten vier Jahre von einem möglichst grausamen Tod waren umsonst geträumt. Sehen wir es als Bezahlung für den Hinweis mit den Nanobots an. Eine Kugel in den Kopf dafür, dass du dich am Ende recht kooperativ gezeigt hast.“ Frago quälte sich aus dem Sessel und mit sichtlicher Anstrengung humpelte er um seinen Schreibtisch. Er fingerte die Pistole aus seinem Halfter und legte den Lauf an Reds Stirn.

„Ein paar letzte Worte?“ fragte er. Red verspürte durch das Adrenalin keinerlei Schmerzen mehr. Sein Geist war klar und diese Klarheit ließ ihn folgende Worte verfassen. Vielleicht die letzten in seinem Leben.

„An deiner Stelle würde ich mir Gedanken machen, wie Sentry von Lassik entkommen konnte.“ kam es viel zu selbstsicher von einem Tod geweihten.

„Mir doch egal.“ antwortete Frago.

„Auch da gab es genetische Ausgangskontrollen. Man muss kein Genie sein, um eine Verbindung zu dem Überbrücken von genetischen Sperren herzustellen. Ich weiß wie er aussieht und solange er kein Femto besitzt um seine Gestalt zu ändern, bin ich damit so ziemlich der Einzige, der ihn erkennen wird. Nicht nur das. Ich kenne seine Verhaltensmuster, sein Handeln und seine Ängste. Das alles sind unschlagbare Vorteile.“ Red spürte förmlich die innere Zerrissenheit von Frago. Einerseits lebte Red schon viel zu lange und der angestaute Hass der vergangenen Jahre war nicht so ohne weiteres zu ignorieren. Anderseits gab es noch den vernünftigen Frago, der genau wusste, dass die Chancen mit einem lebenden Red größer wären Sentry zu erwischen. Genau diesen Frago versuchte Red zu beeinflussen.

„Töten kannst du mich auch noch auf Cree. Vielleicht hast du dann auch mehr Zeit das Ganze richtig zu genießen. Dieser Schnellschuss ist doch keine richtige Befriedigung.“ Frago zögerte noch einen Moment, ließ dann aber die Waffe sinken.

„Gehen wir auf eine Reise.“ sagte er trocken, ein wenig zweifelnd über die verpasste Chance auf Rache.

Auch wenn es in der angeschwollenen Masse, die sein Gesicht darstellte, nicht wirklich erkennbar war, grinste er über den Erfolg in letzter Sekunde. Der Allmächtige musste weiter warten auf die Rückkehr seiner Schöpfung mit dem Namen Red. Der war dem Tod ein weiteres Mal von der Schippe gesprungen und obwohl sein Leben auf einem denkbar niedrigen Niveau weitergehen würde, gönnte er sich einen kurzen Moment des Triumphes. Das Frago ihm vorerst die letzte Kugel verweigerte, war jenem Spürsinn zu verdanken, der selbst aus den aussichtslosesten Situationen noch das Beste versuchte. Ein angeborener Instinkt, der ihm schon oft aus kritischen Konflikten geholfen hatte. Die harte Schule von Eyak hatte sein Leben um ein paar Tage verlängert und die Reise nach Cree war ein zusätzlicher Bonus. Zugegeben, nicht so wie geplant, aber unter den Umständen konnte er nicht wählerisch sein.

Er bekam nur die nötigste medizinische Versorgung auf Eyak. Genug, um als reisetauglich eingestuft zu werden, wobei diese Einschätzung weniger von Ärzten vorgenommen wurde, sondern einzig und allein von Frago. Red hatte sichtlich Mühe auf den Beinen zu bleiben und da Frago selbst die letzten Jahre mobil eingeschränkt war, schien es für alle Beteiligten die beste Lösung, Red einfach in einen der zahlreich vorhandenen Rollstühle zu verfrachten. Eine seltsame Gruppe, die sich da aufmachte die Fähre zum Exson zu betreten. Ein Krüppel an Krücken, einer im Rollstuhl und sechs düstere Gestalten, die selbst mit bester Vorstellungskraft nicht als Pfleger durchgehen würden.

Dank der besseren medizinischen Möglichkeiten auf dem Exson, erholte sich Red ungewohnt schnell von Victors Tortur im Casino. Sie päppelten ihn soweit wieder auf, dass die Demütigung durch den Rollstuhl nicht mehr notwendig war. Trotz erheblicher Schmerzen schaffte es Red wieder selbstständig zu gehen. Victor hatte die Grenzen seiner Belastbarkeit ordentlich ausgeweitet und daher war es schwierig einzuschätzen, ob oder wann Red wieder seine gewohnte körperliche Verfassung erreichen würde. Zeit würde es auf alle Fälle brauchen und da die Reise in Pjotrs Schiff fast vier Wochen dauerte, gewährten ihm die Umstände die notwendige Erholung. Auf Cayuse betraten sie die „yegua domada“. Ein Schiff, mit dem Aussehen eines gigantischen Käsewürfels, aus dem eine kleine aufgespießte Olive ragte und die Erinnerungen an die Vorstellung Kommandant eines Schiffes mit Überlichtantrieb zu sein, versetze Red einen ungewollten Schub Nostalgie. Damals war das Leben gut zu ihm gewesen und seine Träume wuchsen in den Himmel. Jetzt konnte jeder Tag sein letzter sein, je nach Laune dieses Krüppels. Keine Frage, er war am Tiefpunkt seines Lebens, aber das Gute an solchen Situationen war die Tatsache, dass es nur eine Richtung aus diesem Dilemma gibt und die führt definitiv nach oben.

Auf der Reise mied er fast jegliche Interaktion mit seinen Gefährten. Frago und seine Männer sahen in ihm nicht mehr als einen wandelnden Sandsack und hätten sie ihn nicht in halbwegs vernünftigen Zustand auf Cree gebraucht, wäre er vermutlich nie lebend an ihrem Ziel angekommen. Red ging normalerweise keiner Konfrontation aus dem Weg, aber sein angeschlagener Zustand zwang ihn dazu, sie nicht unnötig in Versuchung zu führen. Er besann sich auf die Herstellung seiner Gesundheit, denn Cree war, mit Ausnahme der einzigen Stadt, ein anspruchsvolles Gelände. Dschungel überwucherte den größten Teil der Landfläche und was immer auch sein Objekt der Begierde auf diesen Planeten trieb, die Gefahr war groß, dass er sich in eine der kleinen auswärtigen Siedlungen verkroch, die nur durch einen mühsamen Marsch erreichbar wären.

Tatsächlich war seine Konstitution wieder vollständig hergestellt, als sie den Landeanflug auf Cree starteten. Nicht jede Bewegung war vollkommen schmerzfrei, aber wann hatte Red in den letzten Jahren schon diesen Luxus. Nicht nur Verschleiß, auch sein dominantes Wesen forderten ihren Tribut. Dazu noch exzessiver Alkoholkonsum und seine natürliche Lebenserwartung schrumpfte mit jedem Tag, aber alles würde hinfällig werden, wenn erst mal die Femtos durch seine Blutbahnen kreuzten. Keinerlei Schmerzen mehr, keine Demütigung und vor allen Dingen uneingeschränkte Macht.

Es war sein erster Besuch auf Cree, aber auf Grund seiner Vergangenheit als Schmuggler, kannte er die verschiedenen Eigenheiten unterschiedlicher Welten. Eines hatten sie alle gemein. Das offensichtliche Elend, was einen von jeder Straßenecke ansprang. Dieser Planet war die rühmliche Ausnahme, denn das übliche Gemisch aus Verzweiflung, Habgier und Dreck war jedenfalls oberflächlich nicht erkennbar. Red brauchte lange, um eine passende Kategorie für die Zuordnung zu finden. Spießig entschied er, nachdem das Wort aus den verschütteten Tiefen seines Wortschatzes hervor geschwemmt wurde. Er konnte sich nicht erinnern, jemals etwas so benannt zu haben und der ungewöhnliche erste Eindruck verstärkte sich noch, als sie die Eingangskontrollen passierten.

Ein genetisches Profil musste er auf jeder Welt hinterlegen, meist umging das Red mit einem Bestechungsgeld, was sich schon oft als hilfreich erwies bei der Rückverfolgung von Straftaten, aber hier gab es zusätzlich noch eine Zuordnung der Wertigkeit. Das Ergebnis dieser Wertigkeit bestimmte den Handlungsspielraum innerhalb der Stadt. Offenbar waren Privilegien keine Frage von Ansehen oder Taten, sondern einzig und allein das Resultat der zufälligen genetischen Tombola. Mit Makel im Erbgut wäre jeglicher Ehrgeiz vergebens, denn die Beschränkung läge in der Herkunft der Geburt. Bevor eine Einordnung seiner Wertigkeit vorgenommen werden konnte, entschied Red für sich, dass diese Welt trotz oder auch wegen ihres scheinbar sauberen Auftretens, weniger Sympathie verdiente als Eyak mit seinen schäbigen Casinos. Das Gesetz des Dschungels, in dem der Stärkere den Schwachen frisst war für ihn unumstößlich und unabhängig von genetischen Festlegungen. Ironischerweise fand es ausgerechnet hier keine Anwendung.

Red kam relativ gut weg, was die Einordnung betraf. Sein erbärmliches Aussehen stand im krassen Gegensatz zu seinem Testergebnis und brachte einige Verwunderung in den Reihen der Kontrolleure hervor. Diese konnten ihre geplante Entrüstung auf Frago nieder regnen lassen, denn der entsprach auch genetisch seinem Erscheinungsbild. Wie einen Aussätzigen belehrten sie ihn über die Verbote, die ihn in der Stadt erwarteten. Normalerweise wagte niemand in diesem arroganten Tonfall mit Frago zu sprechen, aber es war wichtig, jede unnötige Form von Aufmerksamkeit zu vermeiden und so beließ es Frago bei strafender Ignoranz, immer die Leibwächter im Zaum haltend, die nur zu gern den Respekt in diese kleingeistigen Beamten geprügelt hätten.

Ihr Landeplatz war eine unüberschaubare betonierte Fläche, die vor langer Zeit dem umgebenen Dschungel entrissen wurde. Das Gras wucherte teilweise durch die Risse, die im Laufe der Jahre unbeirrbar anwuchsen und versuchten ihr rechtmäßiges Gelände zurückzuerobern. Red schaute sich um, als er ins Freie trat. Die „yegua domada“ parkte neben einem baugleichen Schiff, dessen Anreise scheinbar nicht ganz so entspannt verlief. Lose Teile lagen umher und warteten darauf, auf die eine oder andere Weise an der Hülle montiert zu werden. Red steuerte auf die beiden Mechaniker zu, die sich gerade daran machten, einen gerissenen Teil des Rumpfes zu entfernen. Wie Insekten, klebten sie an dem eigentlichen Schiff, das winzig im Vergleich zu dem Frachtmodul wirkte.

„Hallo.“ brüllte er zu den beiden hoch, die erst beim dritten Mal wahrnahmen, dass unter ihnen jemand stand, der Kontakt suchte. Sie unterbrachen ihre Arbeit und kamen die Gangway herab.

„Nettes Schiff.“ begrüßte er die beiden, als sie vor ihm standen.

„Sieht bloß ein wenig mitgenommen aus.“ fuhr Red fort, als er keine Antwort bekam.

„Genauso wie Sie.“ spielte der Jüngere von den beiden auf seinen körperlichen Zustand an.

„Eric.“ wurde er sofort zu recht gewiesen von seinem Partner.

„Schon in Ordnung. Ich sehe wirklich schrecklich aus. Ihr Schiff hat wohl Einiges mitgemacht?“ fragte Red und heuchelte ungeniert Interesse, obwohl ihm die Erlebnisse ziemlich egal waren. Er war auf was Anderes aus.

„Harte Landung.“ bekam er als einzige Antwort von dem Älteren.

„Oh. Geht es allen Passagieren gut?“ Eine Frage die ihn deutlich mehr interessierte.

„Alles bestens.“ bekam Red eine nichts sagende Antwort. Ein untrügliches Zeichen, dass sie ihm nicht trauten, was im Falle von Red Normalität war. Trotzdem erhielt er in den paar Minuten scheinbar sinnloser Konversation einiges Wissenswertes. Sie verheimlichten etwas, dass war deutlich erkennbar, aber der interessantere Aspekt war der breite Nacken des Jüngeren. Seine Herkunft von Lassik war deutlich erkennbar und der Zufall wäre schon enorm, dass ausgerechnet jetzt jemand auf diesem vergessenen Planeten auftauchte. Red beschloss die Mannschaft als möglichen Joker in der Hinterhand zu behalten und Frago von seiner Ahnung nicht zu unterrichten. Sein Verstand arbeitete auf Hochtouren, als sie sich in Richtung Innenstadt aufmachten. Er befand sich auf unbekanntem Terrain und war umgeben von Gegnern mit unterschiedlichen Interessen. Die Herausforderung bestand darin, nicht zwischen die Fronten zu geraten und den einen oder anderen gelegentlich gegeneinander auszuspielen, um am Ende als strahlender Sieger den Planeten zu verlassen. Ein Vorhaben, was in der Vergangenheit des Öfteren schief lief.

Ihre Ankunft würde nicht lange unbemerkt bleiben. Dieser provinzielle Planet war so dünn besiedelt und wurde so selten von Auswärtigen besucht, dass jeder Fremde sofort auffiel. Die Einwohner machten keinen Hehl bei der Begutachtung der Neulinge und da unter Fragos Leibwächtern auch Männer mit tief schwarzer Haut waren, konnten sie mit keinem herzlichen Willkommen rechnen. Ganz im Gegenteil. Ablehnung stieß ihnen überall entgegen und ihre Entrüstung, über die vermeintliche Verschmutzung der arisch reinen Gesellschaft, drückte sich in gelegentlichen Flüchen über den Verfall der Umgebung aus.

„Was ist denn das für ein beschissener Planet.“ fluchte Frago als er registrierte, dass ihm der Zugang zu der Bar in der Innenstadt versagt blieb. Ihr Plan war es, nach Ankömmlingen in den letzten Wochen zu fragen und das ging nun mal am Besten an jenem Punkt, an dem Klatsch und Tratsch zusammen geführt wurde.

„Ich lasse mir von niemanden etwas verbieten.“ Frago steuerte zielstrebig auf die Eingangstür zu.

„Warte. Wir sollten jeden Ärger vermeiden und wie ich dich kenne, endet das am Ende mit Toten. Also werde ich da rein gehen und ganz diplomatisch nachfragen.“ hielt ihn Red zurück.

„Ha. Vermutlich so diplomatisch, wie vor vier Jahren, als du mein Casino überfallen und drei Angestellte erledigt hast. Oder auf der Flucht auf dem Exson, wo zwei Weitere sinnloserweise ins Gras bissen. Nicht zu vergessen die abgeschnittene Zunge vor ein paar Wochen. Sieh es ein. Du bist der Letzte, der da rein gehen sollte, um Ärger zu vermeiden.“ entgegnete ihm Frago und verschwand in der Bar.

„Ungestüme Jugend.“ verteidigte sich Red halbherzig vor Victor und folgte Frago kurze Zeit später.

Red fühlte sich vom ersten Moment an unwohl, als er die eindeutig zu saubere Bar betrat. Nichts erinnerte ihn an das übliche Ambiente, was er aus den zahlreich besuchten Spelunken in den Tiefen des Alls her kannte. Schon allein der sonnendurchflutete Raum wirkte surreal, als wollte man die Einrichtung gelegentlich für Kindergeburtstage nutzen. Anstatt des üblichen Zigarettenqualms erfüllte ein süßlicher Geruch das Lokal, der Red innerlich verkrampfen ließ. Die größte Trübung seiner Sinne bestand allerdings in der Kundschaft, die mit ihrer sauberen und gepflegten Kleidung eher in ein Gotteshaus passten, als in eine Bar. Wieder kam ihm das Wort spießig in den Sinn und eine böse Vorahnung überkam ihn, dass er es in nächster Zeit öfter gebrauchen würde.

„Was ist denn das für eine Scheiße?“ teilte Frago seine Abneigung gegen das ungewohnte Ambiente. Das Fehlen von Musik machte Unterhaltungen ungewollt hörbar für alle und so sahen sie sich zwei dutzend Augenpaare ausgesetzt, die die Fremden ungeniert musterten.

„Ihr dürft hier nicht rein.“ kam ihnen ein kleiner kahlköpfiger Mann entgegen, der sich anschickte einen von Fragos schwarzen Leibwächtern zu Recht zuweisen. Dieser inspizierte gerade eine furchtbar kitschige Figur, die als Dekoration den ersten spießigen Eindruck untermauerte.

„Was willst du kleiner Mann?“ fragte Frago mit drohendem Ton in der Stimme.

„Das Reinheitsgesetz verbietet euch den Zutritt.“ stotterte der aufgewühlte Mann zitternd einem fragend dreinschauenden Frago entgegen.

„Offenbar irgendeine rassistische Scheiße.“ klärte ihn Red auf.

„Hör zu, du Wicht. Bevor ich hier meine eigenen Reinheitsgesetzte erlasse, beantwortest du mir lieber ein paar Fragen.“ spie Frago dem kleinen Wirt voller Abneigung entgegen.

„Sind irgendwelche Fremden in letzter Zeit hier aufgetaucht und wenn ja, wo finde ich sie?“

„Nein niemand.“ entgegnete der Wirt ängstlich und wenig überzeugend.

„Erster Paragraph meines persönlichen Reinheitsgesetztes. Allen kahlköpfigen Männern werden die Ohren abgeschnitten. Macht so ein schön rundes Gesicht und erfreut die Kinder.“ Zur Untermauerung der offensichtlichen Drohung positionierten sich die beiden schwarzen Leibwächter an die Seite des verängstigten Mannes, zogen ihre Messer und spielten mit den Spitzen an den Ohrläppchen. Das einer von beiden ebenfalls kein einziges Haar auf dem Kopf hatte, entging dem armen Opfer, wäre allerdings auch ein vollkommen unangebrachtes Argument in seiner Situation.

„Zwei Frauen sind die letzten Tage angekommen. Soweit ich weiß ist eine verletzt und liegt im örtlichen Krankenhaus.“ Die Stimme überschlug sich jetzt förmlich.

„Frauen? Ich suche keine Frauen. Da muss noch mehr sein?“ fauchte ihn Frago an.

„Mehr weiß ich nicht.“ erwiderte der Wirt jetzt kleinlaut in Erwartung von Prügel. Frago beherrschte sich und antwortete sichtlich sarkastisch.

„Danke für Ihre freundliche Unterstützung.“ Er wandte sich an Red.

„Diplomatisch genug?“

„Nicht wirklich. Vermutlich haben wir durch diesen „diplomatischen“ Auftritt jetzt sämtliche Behörden am Hals.“ äußerte Red seine Zweifel.

„Glaube ich nicht, denn unser reinlicher Freund hier hängt an seinen Ohren. Wäre doch schade, wenn dieses arische Gesicht in Zukunft ohne welche auskommen müsste.“ Ein allerletztes Mal fuhren die Klingen über die Ohrläppchen, dann verschwand die Gruppe wieder und ließ eine sichtlich verängstigte Bevölkerung zurück.

„Das war gequirlter Dreck. Wir sind hier nicht auf Eyak. Dieser Auftritt da drinnen erschwert uns unser Handeln enorm.“ Red nahm kein Blatt vor den Mund, als sie wieder auf der Strasse standen.

„Wir haben die Info. Das ist das Einzige, was zählt. Wir fahren jetzt ins Krankenhaus, prügeln den Aufenthalt des Wunderknaben aus den Schlampen und verziehen uns so schnell wie möglich wieder von hier.“

„Oh ja. Was, wenn diese Schlampen gar nichts damit zu tun haben und unser Goldesel erst später hier ankommt. Vielleicht streiten wir uns dann mit irgendwelchen Behörden rum und können nicht eingreifen. Und warum? Weil du ja unbedingt den Paten raushängen lassen musstest.“ Red war jetzt außer sich und vergaß, dass seine Situation es eigentlich nicht erlaubte Kritik an Fragos Vorgehen zu äußern. Ein Fehler der ihm unmissverständlich klar gemacht wurde.

„An deiner Stelle würde ich beten, dass die Spur heiß ist, denn dein Nutzen würde sich schlagartig erledigen, sollte das alles keinen Sinn ergeben.“ drohte er Red und gemeinsam machten sie sich auf den Weg ins Krankenhaus.

Für Red waren die Informationen widersprüchlich und standen im Gegensatz zu seinen Instinkten. Noch nie hatte ihn Letzteres getäuscht und obwohl bisher die Anzeichen gegen einen Aufenthalt von Sentry auf Cree standen, war die Überzeugung kurz vor der ersehnten Wiedererlangung seines rechtmäßigen Eigentums zu stehen, ungebrochen. Nur Frago und seine Manieren machten ihm das Leben schwer. Cree war nicht Eyak und diese simple Tatsache schien nicht in die Betonköpfe der von unterwürfigen Untertanen verwöhnten Truppe vorzudringen. Hier gab es andere Spielregeln und Red war sich sicher, dass ihnen dieses Schauspiel in dieser aberwitzigen Bar in irgendeiner Form auf die Füße fallen würde. Vielleicht war das die Gelegenheit sich seiner Bewacher zu entledigen. Er brauchte volle Konzentration für die nächsten Stunden und im Krankenhaus, da war er sich sicher, würde sich seine instinktive Vorahnung bestätigen. In Erwartung eine alte Bekannte wieder zu treffen, folgte er Frago in die hoffentlich entscheidende Etappe.

 

Kapitel 8

Es war der Geruch, der ihre Rückkehr ins Leben einleitete. Das typische Gemisch aus Desinfektionsmitteln, Medikamenten und einer dezenten Note aus Fäkalien. Am Anfang hatte Dina Probleme in ihrer Erinnerung einen passenden Zusammenhang zu finden, aber mit der Entwirrung ihres Geistes und der Stabilisierung ihrer Psyche, konnte sie das Bett, die Apparaturen und die kargen weißen Wände einer passenden Umgebung zuordnen. Sie befand sich in einem Krankenzimmer, jene Orte, die sie mit ihrer Zeit im Waisenhaus verband. Eine Vergangenheit, die nicht für uneingeschränkte Kindheitsidylle stand und da ihr Verstand, ähnlich wie ihr Körper, noch nicht vollständig wieder im grünen Bereich war, übernahmen Instinkte ihr handeln. Geprägt durch ein Übermaß an schlechten Erfahrungen, hatten die nur eine Reaktion auf die fremde Umgebung. Flucht. Mühsam richtete sie sich auf und die Schmerzen in ihrem Unterleib verdeutlichten ihr die Torheit ihres Unterfangens. Flucht war keine Option. Wo immer sie sich auch befand, sie war dem Kommenden hilflos ausgeliefert.

Die Alternativlosigkeit ihrer Situation trug nicht gerade zu ihrer Beruhigung bei. Sie war allein im Raum und die fehlende Möglichkeit anhand von Fragen ihre Verwirrung zu lindern, verstärkte ihre unterschwellige Angst. Mehr aus Ablenkung rief sie sich die vergangenen Ereignisse wieder ins Gedächtnis. Das Projektil, was in ihren Bauchraum einschlug und anfänglich mehr Überraschung als Schmerz in ihr hervorrief. Was war der Grund? Es fiel ihr schwer in den Archiven ihres Gedächtnisses die passende Erklärung dafür zu finden. Balta und sein Verrat, schoss es ihr durch den Kopf, als hätte jemand ruckartig den Schleier weggezogen, da das Offensichtliche nicht länger zu verheimlichen war. Dieser Mistkerl hatte seine eigenen Interessen verfolgt und die Gruppe zum Schafott geführt. Wut stieg in ihr auf und die Vertrautheit dieses Gefühls, ließ sie für einen Moment entspannen. „Perinola“ spülte ihr Verstand als nächstes an die Oberfläche. Eine Sekunde brauchte sie, um die scheinbar zusammenhanglosen Buchstaben zu verarbeiten. Ihr Blick fiel zu dem einzigen Fenster im Raum. Tageslicht. Ein untrügliches Zeichen, dass sie sich nicht mehr im Weltall befand. Wie zum Teufel kam sie hier her? Aber, was viel wichtiger war. Wo ist dieses hier? Die Tür öffnete sich und unterbrach das Grübeln über schier endlose Fragen. Ein pummliges blondes Mädchen in Schwesternuniform betrat den Raum und als diese bemerkte, dass ihre Patientin wach war, hielt sie in ihrem Schritt inne.

„Oh.“ war das Einzige, was sie hervor brachte. Bevor Dina zu einer ihrer tausend Fragen ansetzen konnte, war sie schon wieder verschwunden. Verdammt. Es musste doch möglich sein, schmerzfrei dieses Bett zu verlassen. Auch ihr zweiter Versuch endete in Höllenqualen. Nachdem diese auf ein erträgliches Maß abgeebbt waren, untersuchte sie die Ursache für ihre Einschränkung. Ein Wundverband, dessen saubere Anfertigung auf Professionalität schließen ließ.

„Wow.“ kommentierte sie ihre Erkenntnis.

„Die Schwestern leisten gute Arbeit hier.“ kam eine unbekannte Stimme von der Tür. Dina hatte den eintretenden Arzt nicht bemerkt und ihr Vorhaben jedem, der durch diese Tür kam mit Fragen zu bombardieren, bevor er auch nur die Möglichkeit hatte wieder umzudrehen, wurde durch sein Auftreten im Keim erstickt. Nicht nur das gepflegte Äußere, auch die ruhige Ausstrahlung und der weiße Kittel machten sie sprachlos. Das konnte unmöglich real sein. Kurz zweifelte sie, ob sie wirklich noch am Leben war, aber die Schmerzen in ihrem Unterleib passten nicht zu ihrer „Ich bin im Himmel“ Vorstellung.

„Willkommen auf Cree. Ich bin ihr behandelnder Arzt und ich freue mich, dass es Ihnen wieder besser geht.“ Ungläubig starrte Dina in das Gesicht ihres Gegenüber. Es war lange her, dass sie durch Fremde auf diese Art und Weise begrüßt wurde und der freundliche Tonfall seiner Stimme wirkte so ungewohnt, dass sie für einen Augenblick an seiner Aufrichtigkeit zweifelte. Wie alles in den rauen Weiten der Galaxie, war Höflichkeit nur ein Mittel zum Zweck, um persönliche Interessen durchzusetzen. Eine vollkommen falsche Strategie in dem vorliegenden Fall, denn ohne den Doktor wäre sie vermutlich nicht mehr am Leben. Sie stand also schon in seiner Schuld und trotzdem tat sie sich schwer mit der glaubwürdigen Herzlichkeit.

„Sie haben sicherlich tausend Fragen. Bedauerlicherweise habe ich nicht die Zeit, sie alle zu beantworten. Nur soviel. Sie haben eine schwere OP hinter sich und müssen mindestens noch eine Woche hier bleiben. Glauben Sie mir. Es gibt keinen besseren Ort, als dieses Krankenhaus, um wieder gesund zu werden. Wir haben das beste medizinische Personal der Galaxis.“ Zur Untermauerung des gerade aufgebauten Vertrauens, schenkte er ihr ein Lächeln. Dina war nicht nur auf Grund ihres Zustandes überfordert. Sie war es gewohnt sarkastisch oder abwertend zu antworten und ihre Gesprächspartner machten es ihr dahin gehend meistens leicht, aber in ihrem beschränkten Arsenal an Umgangsformen gab es für diese Situation keine passende Alternative.

„Was ist mit meinen Freunden?“ Trotz aller Anstrengungen war es ihr unmöglich das Fordernde in ihrer Frage zu vermeiden.

„Sie meinen sicherlich die junge Frau, die sie täglich besuchen kommt.“ Seine Freundlichkeit schien unerschütterbar. Er öffnete den Verband und tastete vorsichtig die Wunde ab, was Dina nicht nur auf Grund der Schmerzen sichtlich missfiel. Noch hielt ihre Beherrschung.

„Eva. Sie lebt?“ fragte sie den Schmerz unterdrückend.

„Eva. Ja, das war ihr Name. Soweit ich weiß, hat ihre Bluttransfusion Ihnen das Leben gerettet.“ Dina schluckte an Hand dieser neuen Informationen. Schon auf Odins Schiff hatte sich dieser kleine Teufel in ihrem Kopf nur schwer überlisten lassen. Damals hatte Eva mit ihrem Verhalten die Geschicke zu ihren Gunsten gewendet, während Dina gefesselt und hilflos sich ihrem Schicksal ergeben musste. Sie hielt es für unnötig, jegliche Form von Dankbarkeit gegenüber Eva zu zeigen. Ausreden gab es viele und reichten von Illusionen über die eigene Fähigkeit Odin und seine Mannschaft zu überlisten (wie immer die auch ausgesehen hätten), bis zu dem Vorwand, dass Eva durch ihre Tempelvergangenheit unfähig war ein danke überhaupt zu verarbeiten. Jetzt gab es kein Leugnen mehr. Ohne Eva wäre sie bereits tot. Die Anzahl der Leute, denen sie ihr Leben schuldete, nahm ungewollte Ausmaße an. Einer davon untersuchte gerade ihre Wunden und sie ertappte sich dabei, wie sie sich Ausflüchte zu Recht legte, um der Schwäche einer Dankesschuld zu entgehen.

„Die Wundheilung sieht gut aus. Die Schwester wird Ihnen einen neuen Verband anlegen.“ Der Arzt verabschiedete sich freundlich und steuerte auf die Tür zu. Dina kostete es schier unmenschliche Überwindung ihn kurz aufzuhalten.

„Doktor. Danke.“ Erleichterung stellte sich ein, als die Worte ihren Mund verließen. Das notwendige Übel wandelte sich in ein Bedürfnis. Sie konnte es kaum glauben. Es fühlte sich gut an Schwäche zu zeigen.

Zwei Stunden verbrachte sie Gedanken versunken in diesem Krankenbett. Eine Zeitspanne, die nur durch die Schwester unterbrochen wurde, die ihr einen neuen Verband anlegte. Eine schmerzhafte Prozedur, die Dina die nächsten Tage des Öfteren drohte. Gegen Abend besuchte sie Eva und die Freude über das Wiedersehen war entgegen Dinas Befürchtung keine einseitige Angelegenheit. Die sonst so abweisende Eva zeigte offen ihre Erleichterung über die Genesung von Dina. Die letzten Wochen hatten die beiden in ungeahnter Weise zusammengeschweißt und wenn es auch den Beinahetod einer der Frauen benötigte, um sich der tiefen Verbindung bewusst zu werden, im Inneren waren sie Seelenverwandte seit ihrer ersten Begegnung. Eva kämpfte mit den Tränen, als sie sich umarmten und Dina verbuchte dieses emotionale Geschenk als weitere Hypothek auf ihrem Schuldschein. Allein ein vertrautes Gesicht zu sehen, stabilisierte ihren inneren Gemütszustand und die Tränen gaben dem ganzen eine lang vermisste Wärme. Dinas Blick in das durchnässte Gesicht von Eva verleitete sie kurz zu einer Wiederholung dieses sagenhaften Momentes auf Lassik, aber ihre Beziehung war weit über körperliche Hilfsmittel hinaus. Sie schauten sich nur tief in die Augen und steigerten die Intimität ihres damaligen Kusses um ein Vielfaches.

„Ich hatte Angst. Angst, dass du nicht mehr aufwachst.“ begann Eva.

„War auch verdammt knapp. Ich weiß, was du für mich getan hast. Ich will mich …“ Dina fehlten die passenden Worte.

„Psst.“ Eva legte ihren Zeigefinger auf Dinas Mund.

„Lass uns nicht emotional werden. Das liegt uns beiden nicht.“ fuhr Eva fort.

„Da hast du wohl Recht. Trotzdem Danke.“ Dina ignorierte die Schmerzen und umarmte sie ein weiteres Mal. Unglaublich. Vor ein paar Wochen hätte sie gelacht, über so viel emotionale Schwäche.

„Ich soll dich schön grüßen von Eric.“

„Glaub ich nicht.“

„Naja seine Antwort auf die Frage, ob ich Grüße ausrichten soll, war. „Wenn es denn seien muss.““ Beide verfielen in aufrichtiges Gelächter.

„Und Sentry?“ schnitt Dina das unangenehme Thema an.

„Da gibt es neue Entwicklungen.“ Eva klang geheimnisvoll. Dina schaute sie nur skeptisch an.

„Sentrys Vergangenheit. Unglaublich.“ Eva war jetzt aufgeregt.

„Du kennst sie?“

„Cree ist seine Heimat, wenn ich das richtig verstanden habe.“

„Woher weißt du das?“ 

„Zaja. Die geheimnisvolle Fremde auf dem Exson. Erinnerst du dich?“

„Ja klar. Die ist hier? Spann mich nicht auf die Folter. Was hat sie denn noch gesagt?“ Dinas Neugierde über Sentrys Schicksal war unübersehbar.

„Ich weiß nicht, ob ich alles richtig verstanden habe, deswegen soll sie dir das lieber selbst erklären. Da gibt es nur eine Sache, bei der ich mir relativ sicher bin.“ Evas Mund näherte sich Dinas linkem Ohr. Flüsternd, kaum verständlich raunte sie die Worte.

„Sentry ist entstanden.“

„Entstanden?“ machte Dina damit Evas Geheimniskrämerei hinfällig.

„Was soll denn das heißen?“

„Das ist alles ziemlich kompliziert und verwirrend. Ich treffe Zaja in ein paar Tagen wieder, dann kann sie dir das alles erklären. Sie hat auch schon Pläne, wie wir Sentry zurückbekommen.“

„Wow. Da bin ich mal ein paar Tage außer Gefecht und schon wird alles mysteriös.“ Dinas Zweifel an den neuen Informationen waren groß und die Entwicklung beunruhigte sie, denn diese Zaja kannte sie bereits aus ein paar Schilderungen von Sentry. Sie war der Grund, weshalb sie nach Cree reisten und offenbar hatte sie damals großen Einfluss auf ihn ausgeübt. Ihre Warnung hinsichtlich Balta hatte sich bewahrheitet und da sie jetzt hier mit ihnen Kontakt aufgenommen hatte, stand die nächste Konfrontation im Wettlauf um die Femtos an. Verdammt. Dieser Junge brachte noch die ganze Galaxie in Aufruhr.

Eva wollte trotz großen Drängens von Dina keine weiteren Informationen über Sentrys Vergangenheit enthüllen und so wechselten sie ihre Gesprächsthemen hin zu den gegenwärtigen Ereignissen. Die Reparaturarbeiten gingen voran. Gerda hatte Eric und Eva zwangsverpflichtet die „perinola“ wieder in ihren Urzustand zu versetzen. Zehn Tage waren dafür angelegt, dann würde sich das Schiff zurück in die Weiten des Alls aufmachen und zwar ohne die beiden Frauen. Eric bekam das Angebot Teil der Mannschaft zu werden, hatte sich aber noch nicht entschieden. Zukunftsängste befielen Dina, denn trotz der scheinbar perfekten Bedingungen auf Cree, genetisch wie auch gesellschaftlich, waren sie praktisch mittellos. Ein Zustand, den sie nur zu gut kannte und bisher hatte sich immer eine Option ergeben. War nur die Frage, ob die restriktiven Gesetzesvorgaben auf diesem Planeten, nicht irgendwann zu einem Nachteil wurden.

Die Tage im Krankenzimmer vergingen wie in Zeitlupe. Das fehlen jeglicher Mobilität verhinderte den Abbau ihrer eh schon überschäumenden Energie. Das Bett schien ein Teil von ihr zu werden, als würde es jeden Tag mehr mit ihrem Rücken verwachsen und irgendwann untrennbar mit ihrem Körper verbunden sein. Dina versuchte sich mit Büchern abzulenken und trotz solcher Klassiker wie „Rhea“ oder „Deviance“, schien die Zeit nicht voranzuschreiten. Abends wurde sie von Eva besucht, die sie auf den neusten Stand der Reparaturarbeiten brachte. Wissbegierig sog sie die eigentlich langweiligen und von technischen Fachbegriffen triefenden Schilderungen in sich auf, um dann nach Sonnenuntergang in einen unruhigen Schlaf zu verfallen. Am nächsten Morgen begann ihr Martyrium von neuem und nur die Freude über die langsam zurückkehrende Beweglichkeit, hinderte Dina am kompletten durchdrehen. An jenem Tag, an dem sie unter Schmerzen die ersten Schritte hinbekam, sollte sie endlich Zaja gegenüber treten.

Sie trafen sich in einem kleinen Park, unweit des Krankenhauses. Die Sonne stand schon tief und verbreitete jene goldenen Strahlen, die auf das unausweichliche Ende des Tages hinwiesen. Die Luft war sauber und angenehm geruchlos. In Kombination mit dem Gesang der Vögel und der Nachwirkung durch die tagelange Isolation ihres Krankenzimmers, erschien ihr der Ausgang aus dem Krankenhaus wie die Pforte zum Paradies. Langsam schlürfend, jede falsche Bewegung vermeidend die ihr Schmerzen bereiten könnte, steuerte sie gemeinsam mit Eva auf die Parkbank zu, auf der Zaja sie bereits erwartete.

„Die geheimnisvolle Zaja. Ganz anders, als in meinen Vorstellungen.“ begann Dina mit der Begrüßung, da Zaja offensichtlich nicht gewillt war etwas zu sagen.

„Ach ja. Wie denn? Eher etwas blonder?“ erwiderte sie in provokanten Unterton.

„Nein. Eher etwas hässlicher.“ versuchte Dina die Situation zu entschärfen und das obwohl ihr eigentlich der Schlagabtausch mehr lag. Mühsam setzte Dina sich auf die Bank und schlug die angebotene Hilfe von Eva aus.

„Der schwarze Mann?“ fragte Zaja auf die Wunde deutend.

„Sein Vermächtnis.“ antwortete Dina kurz.

„Meine Warnung an Sentry war wohl nicht überzeugend genug. Da muss ich mich nächstes Mal mehr ins Zeug legen.“ kam es von Zaja kryptisch.

„Also, geheimnisvolle Unbekannte. Wie ist Sentry entstanden?“ fragte Dina direkt.

„Wir haben ihn nicht gebaut, wenn du darauf anspielst. Er hatte eine Geburt, ist aufgewachsen wie jeder andere auch und hat sich seinem genetischen Bauplan nach entwickelt. Es gibt aber mehr als DNS und Aminosäuren.“

„Soso. Was gibt es denn noch?“

„Siehst du diesen Baum oder das Gras oder diesen Käfer der gerade die Bank hochklettert? Eine Anhäufung von Zellen, die alle nach einem genetischen Code existieren. Trotzdem haben sie einen entscheidenden Nachteil gegenüber dem Menschen. Sie sind sich ihrer nicht vollständig bewusst. Sie folgen einem von der Natur vorgegebenen Programm, dass ausschließlich auf das Überleben ausgerichtet ist. Fressen und vermehren, mehr existiert für sie nicht.“ Zaja machte eine kurze Pause in ihrer Biologiestunde.

„Das geht manchmal nicht alleine. Blumen benötigen Bienen oder das Raubtier seine Beute. Eine Abhängigkeit unter den Geschöpfen von Cree und ein Gleichgewicht, was sich über Jahrhunderte eingestellt hat. Ein Zustand perfekter Abstimmung für das Ökosystem. Jedes Lebewesen hatte seine Rolle. Sicher, gelegentlich verschwanden Arten und neue entstanden, aber die Anpassungen auf solche Änderungen waren vertretbar.“

„Bis der Mensch kam. Wird dass eine Art ökologischer Vortrag, wie wir den Planeten ruinieren?“ fragte Dina.

„Leben ist nicht nur reine Biologie. Es ist auch Energie. Während wir hier sitzen, strahlen wir Wärme an die Umgebung aus. Unsere Gehirne erzeugen Wellen in den verschiedensten Frequenzbereichen. Wenn ich meinen Arm bewege, verschiebe ich Luftmassen und erzeuge kinetische Energie. Nicht nur das. Wind und Sonne sind ein schier unerschöpflicher Speicher und beeinflussen die Natur von Cree. Ihr Menschen, wo immer ihr auch herkommt, habt euch so entwickelt, dass ihr durch Nahrung euren Bedarf an Energie deckt. Ziemlich umständlich. Wir auf Cree haben da einen evolutionären Vorteil. Die Umgebung ist unsere Festtafel.“

„Heißt das, die Tiere nutzen die sie umgebene Energie?“ Dina wollte eigentlich keine weiteren Lektionen über Flora und Fauna, aber jede Minute, die sie nicht in diesem furchtbar langweiligen Krankenzimmer verbringen musste, kam ihr Recht.

„Nein. Das können sie nicht. Das bringt mich zurück auf meine Blumengeschichte. Was, wenn es etwas geben würde, was diese Energie einsammelt und den Tieren zur Verfügung stellt? Eine Energiebiene sozusagen.“

„Nette Idee. Was hat das mit Sentry zu tun?“

„Lass mich die Geschichte noch etwas weiter ausführen. Es macht das Kommende leichter zu verstehen. Diese Energiebiene ist natürlich nichts Biologisches. Es ist reine Energie, die auf bestimmte Arten von Magnetfeldern reagiert. Auch die Tiere auf Cree decken ihren Energiehaushalt hauptsächlich durch Pflanzen oder Fleisch, aber sie haben gelernt sich in Zeiten von mangelnder Nahrung einer zweiten Nahrungsquelle zu bedienen. Wie gesagt, ernähren und vermehren ist ihr Programm und die Evolution hat sie dahin gehend mit einem unterbewussten Reflex ausgestattet. Sie können ihre Gehirnströme soweit anpassen, dass unsere Energiebiene darauf reagiert und ihre Ladungsträger an den jeweiligen Organismus abgibt. Dieser Vorgang ist schwer beschreibbar, aber ihr müsst euch das in etwa so vorstellen, dass das Gehirn kurzzeitig unter Spannung gesetzt wird. Der Blutkreislauf transportiert die Ladungen in ein spezielles Organ, was die Energie speichert und im Bedarfsfall auch wieder freigibt. Unsere Energiebiene ist nach so einer Entladung negativ aufgeladen und gleicht diese Ungerechtigkeit in der Umgebung wieder aus und wartet auf den nächsten Impuls. Physik trifft auf Biologie. Unsere Biene hat weder Gene, noch ein Gehirn oder sogar Bewusstsein. Reine Energie.“

„Ich sehe immer noch keinen Zusammenhang zu Sentry.“

„Was glaubst du passiert, wenn ein Mensch in diese Umgebung gerät? Vergiss nicht, auch er sendet Signale in Form von Gehirnströmen aus.“

„Wir werden gestochen?“ antwortete Dina sarkastisch. Bisher hatte die Geschichte keinen Informationsgehalt.

„Korrekt. Ihr werdet genauso befallen, wie die Tiere des Dschungels.“ erwiderte Zaja überraschenderweise.

„Auch euer Gehirn sendet den „Lockstoff“ für unsere Energiebiene aus. An deiner Stelle würde ich jetzt wissen wollen, wie sich das äußert.“ Zaja hatte jetzt eine Art Überlegenheit in ihrer Stimme, sicherlich mit dem Ziel Angst zu verbreiten.

„Der menschliche Organismus ist nicht ausgelegt für unsere Energiebiene und seine Ladungen. Also was passiert?“ Eine kurze Pause, um wenigstens ein wenig Spannung bei Dina zu wecken.

„Hirnschaden durch Überspannung?“

„Ich sehe du bist meiner Geschichte aufmerksam gefolgt. Trotzdem falsch geschlussfolgert. Sie gibt ihre Ladungen ab, die dann nicht in den Blutkreislauf wandern, sondern direkt im Gehirn verarbeitet werden. Schwirrt sie danach wieder ab. Nein, denn das Locksignal ist immer noch aktiv. Sie bleibt also im Gehirn, als elektrisch negativ.“ Zaja machte ihrem Ruf als geheimnisvolle Schöne alle Ehre.

„Das menschliche Gehirn übertrifft in Komplexität alles andere auf diesem Planeten. Von daher gibt es keine schlüssige Erklärung für das, was danach passiert.“ Zaja wurde jetzt wieder etwas nüchterner in ihrem Tonfall.

„Das Gehirn im Normalzustand verarbeitet die unterschiedlichsten Formen von Reizen, sendet aber auch Signale an die einzelnen Organe. Das tut es bewusst oder unbewusst, jedenfalls ist da oben eine Menge los. Ein wahres Feuerwerk an Energie. Auf irgendwas reagiert unsere negative Energiebiene, jedenfalls tut sie das, wofür sie normalerweise die Energie der Umgebung anzapft. Sie neutralisiert sich wieder und die einzige Quelle für diesen Vorgang, ist jenes Feuerwerk, was unser bewusstes oder unbewusstes Handeln steuert. Ein Teufelskreis entsteht, durch das permanent anliegende Locksignal. Aufnahme und Abgabe von Energie wechseln sich ab und haben ungeahnte Folgen für das Gehirn. Es wird einfach verändert. Anfangs chaotisch und willkürlich, später gezielt. Hehrscharen von Gehirnforschern haben versucht zu ergründen, was da im Einzelnen abläuft, aber mehr als ein paar wage Theorien sprangen nie dabei heraus. Die Veränderung greift irgendwann auf jenen Teil des Gehirns über, der für unser bewusstes Sein steht. Charakter, Erfahrungen, aber auch Überzeugungen werden einfach überschrieben. Das, was die Persönlichkeit ausmacht, wird umgeschrieben. Es entsteht ein neues Wesen, was in Erscheinung und Aussehen sich nicht von der ursprünglichen Person unterscheidet. Die Hardware bleibt erhalten, nur die Software, also das eigentliche Programm wird umprogrammiert. Das Verrückte daran ist, dass diese Veränderung selektiv von statten geht, als wüsste das Gehirn, was geändert werden muss. Wahllos bleiben Teile der alten Persönlichkeit erhalten und gehen auf in seinem Nachfolger, der sich bewusst ist, dass er ein Produkt aus scheinbar zufälligen Variablen der Veränderung ist. Der Prozess wird abgeschlossen, mit der Abschaltung des Locksignals, so als würde der neue Zustand das Optimum darstellen und weitere Änderungen den Organismus unweigerlich überfordern. Die Biene hat sozusagen ihre Arbeit getan und verschwindet wieder im Dschungel von Cree. Das Alles begann vor tausend Jahren mit den ersten Siedlern und beeinflusste die Entwicklung der Menschheit in ungeahntem Ausmaß.“

„Nette Geschichte.“ Dina zweifelte am Wahrheitsgehalt

„Ihr seid also Menschen?“ fragte Eva.

„Wie gesagt, genetisch ja. Wir glauben allerdings, dass wir ein Teil des Planeten in uns haben. Wir nennen uns selber die Cree. Viele von uns sind hier entstanden, daher ist der Name passend.“

„Ich habe bestimmt eine Millionen Fragen zu der Geschichte. Diese Menschen…nein Persönlichkeiten, Gehirnmasse, was auch immer. Besser gesagt eure Vorgänger. Die verschwinden einfach?“ Dina war skeptisch über das Gehörte.

„Nicht vollständig. Ich habe zum Beispiel wahnsinnige Angst vor Höhe. Ein zwiespältiges Gefühl, weil man weiß, dass es nicht zu dir gehört. Warum gerade dieser Teil mir erhalten blieb, ist unklar. Es ist mir bewusst, dass es die Angst meines Vorgängers war und ich habe gelernt damit zu leben. Trotzdem bleibt das Gefühl, nicht allein in meinem Kopf zu sein.“

„Sentry hatte von ähnlichen Empfindungen gesprochen.“ hakte Eva ein.

„Wir alle haben sie. Mehr oder weniger ausgeprägt. Bei Sentry kommt erschwerend hinzu, dass er durch die Gedächtnisblockade dafür keine Erklärung hat. Es muss ihn fast wahnsinnig machen.“

„Er kam ganz gut zu Recht damit. Warum hat er diese Blockade?“

„Die Frage kommt zu früh. Es gibt andere Sachen, die mir in eurer Position mehr unter den Nägeln brennen würden.“ Zaja hatte wieder diesen allwissenden Ton in ihrer Stimme. Dina grübelte kurz, dann kam ihr die Erleuchtung.

„Sind diese Biester immer noch in der Luft?“ Sie versuchte jegliche Furcht in ihrer Stimme zu vermeiden, was ihr nicht ganz gelang. Zaja lächelte kurz, als hätte sie das Fünkchen Angst gespürt.

„Sind sie. Sie sind sogar zahlreicher, als vor tausend Jahren. Ich habe keine Ahnung, wo die herkommen, aber sie passen sich an die Population des Planeten an.“

„Wir werden uns also verändern?“ fragte Eva jetzt sichtlich besorgt.

„Natürlich. Das ganze Leben ist Veränderung, nur Cree wird euch dabei nicht helfen können. Sie reagieren nicht auf euch, da ihr das Signal nicht aussendet. Eure Gehirnströmungen sind sozusagen nicht reizvoll für die Kleinen.“

„Es gibt also nur wenige Menschen, die dafür geeignet sind?“ fragte Eva zur Sicherheit noch einmal nach. Zajas Mine wechselte von Überlegenheit in Trauer.

„Heute schon. Das war vor tausend Jahren anders.“ sagte sie betrübt.

„Die große Katastrophe. Sie hat auch eure Leute betroffen?“

„Wir waren der Grund für die große Katastrophe.“ kam es betrübt von Zaja.

„Ihr habt den Wahnsinn ausgelöst?“ Dinas Zorn in der Stimme war unüberhörbar.

„Warum sollten wir das tun? Wir waren bereit jedem Menschen ein Teil von Cree zu geben. Jeder sollte dieses Geschenk erhalten. Wir fanden eine Möglichkeit diese Energiebienen zu fangen und so zogen wir durch die Galaxie, um der Menschheit den nächsten Evolutionsschritt zu ermöglichen. Nicht jeder war dafür empfänglich, aber über die Jahrhunderte würde die natürliche Auslese die resistenten Menschen gnadenlos aussieben. Versteht doch. Cree sollte die evolutionäre Entwicklung der Menschheit um Jahrhunderte beschleunigen.“

„Was zum Teufel ist denn an deinem Zustand besser?“ fragte Dina. Der Ton war jetzt deutlich gereizter in ihrer Unterhaltung.

„Ich habe es dir doch erklärt. Der Großteil unseres Gehirns bleibt ungenutzt. Cree aktiviert Teile davon und verändert uns. Wir glauben, dass alles Unnütze aussortiert wird und wir zu dem werden, was eigentlich in uns steckt. Wir nähern uns der Perfektion unseres eigenen Bewusstseins. Ich bin immer noch der gleiche Haufen Zellen, nur besser und weiter entwickelter. Unser Gehirn kann mit der Hilfe von Cree die Fehler ausmerzen, die durch unsere Geburt und Entwicklung aufgetreten sind.“

„Dazu gehört vermutlich auch die Höhenangst, die man dir gelassen hat. Weißt du was ich glaube? Ihr sucht nur Ausreden, um eure eigene Existenz zu rechtfertigen. Ihr seid kein Evolutionsfortschritt. Ihr seid eine Laune der Natur. Freaks, die es nicht vertragen, dass der Rest der Menschheit die Normalität darstellt. Also habt ihr versucht alle Anderen auf euer Level runter zuziehen, aber irgendwas ist schief gegangen.“ Dina hielt nicht zurück mit ihrer Meinung und Eva bewunderte sie für ihre direkte Art.

„Leute wie euch haben sich gewehrt. Minderwertiges Fleisch, was unwürdig ist für die Gabe von Cree.“ spie ihr Zaja abwertend entgegen.

„Die sind mir jetzt schon sympathisch.“ konterte Dina.    

„Genetischer Abfall. Ein winzig kleiner Teil der Menschheit. Wir wollten in friedlicher Koexistenz mit ihnen leben, aber sie akzeptierten ihre Rolle als minderwertige Gattung nicht. Sie entwarfen einen Virus, der genau auf unsere evolutionäre Überlegenheit abgestimmt wurde. Milliarden von uns starben, während diese unreinen Bastarde wieder die Oberhand gewannen. Kein Virus ist perfekt und so überlebte ein kleiner Teil unserer neuen Gesellschaft und zog sich zurück nach Cree. Wir erholten uns über die Jahrhunderte, während der Rest der Menschheit sich in Kriegen gegenseitig zerfleischte. Das endgültige Ende ist nicht mehr fern und wir werden dort weiter machen, wo wir vor tausend Jahren gestoppt wurden. Hoffentlich vermeiden wir die Fehler, die damals zur Katastrophe führten.“ In die letzten Worte legte sie ein Übermaß an Arroganz.

„Ihr wollt es also aussitzen, bis wir uns gegenseitig umgebracht haben? Offenbar scheint es auch diesmal nicht so wirklich zu klappen, sonst säßen wir nicht hier und würden so angenehm miteinander plaudern. Also. Was ist das Problem?“ fragte Dina nicht weniger herablassend.

„Die Cree selbst. Es gibt unterschiedliche Auffassungen über unser weiteres Vorgehen.“

„Kein hundertprozentiger Rückhalt mehr zu der evolutionären Überlegenheit?“ fragte Dina süffisant.

„Sentry gehört zu einer Minderheit, die unseren Kurs grundsätzlich ablehnte. Sie haben ihre eigene Vorstellung von der Entwicklung der Menschheit. Sie sehen die Cree nicht als evolutionäre Spitze an, sondern als gleichberechtigte Gattung neben den Menschen.“ Zaja war betrübt über diese Tatsache.

„Und was ist passiert? Habt ihr sie einfach rausgeschmissen aus eurem Paradies?“ fragte Dina schnippisch.

„Vor etwa zweihundert Jahren wurden die Unstimmigkeiten unerträglich für Einige von uns. Der schwindende Zusammenhalt, eigentlich ein wesentlicher Vorteil gegenüber den Menschen, drohte die Gesellschaft zu spalten. Wir waren drauf und dran aufgrund der Differenzen zu scheitern, also ließen wir sie ziehen. Ein Fehler, wie sich herausstellen sollte, denn die Zweifel blieben in einigen Köpfen der Hinterbliebenen. Das Problem war zwar außer Sichtweite, aber wir hatten es nicht gelöst. Die Unsicherheit über unsere Pläne wuchs sogar mit dem Verschwinden der Abtrünnigen. Wir machten uns auf die Suche nach Sentry und den anderen, aber sie waren verschwunden. Zweihundert Jahre keine Spur von ihnen. An wesentlichen Punkten in der Galaxie positionierten wir unsere Leute, um bei einem Auftauchen reagieren zu können. Ich war diejenige, die an Bord des Exsons auf Sentry stieß. Wir hatten sein genetisches Profil in die Datenbank der „verruchten Braut“ geschleust und obwohl er eigentlich jeden Scanner überlisten konnte, hatte ausgerechnet diese Maßnahme gegriffen. Vielleicht wollte er sogar unterbewusst gefunden werden. Wie auch immer. Ich hatte die Anweisung ihn nur zu beobachten, aber unser Feind hatte mittlerweile seine Finger nach ihm ausgestreckt.“

„Balta.“ schlussfolgerte Eva.

„Der schwarze Mann. Wir kannten ihn und wussten, dass er Verbindungen zur Science hatte. Die Nachfolger der Leute, die uns damals fast ausgelöscht haben. Ich war also gezwungen Kontakt aufzunehmen. Ein heikler Vorgang, denn Ziel war es keinerlei Zwang oder Einfluss auf die Rückkehr nach Cree auszuüben. Unsere Leute sollten aus freien Stücken nach Hause zurückkehren. Ihr müsst verstehen. Cree ist in uns. Es zieht uns immer wieder zu dem Planeten zurück. Wir brauchen ihn. Deswegen haben wir auch nicht verstanden, wie sie zweihundert Jahre ohne klar gekommen sind. Wir haben das Schlimmste befürchtet, bis hin zum Tod, aber es war was ganz Anderes. Sie haben ihre Gedächtnissperren aktiviert.“

„Das haben sie selbst gemacht?“ fragte Eva verwundert.

„Ja. Nanobots, die wir ihnen vor der Verbannung injiziert haben. Trotz aller Meinungsverschiedenheiten waren Sentry und die Anderen nicht bereit Geheimnisse der Cree zu verraten. Wir gaben ihnen also die Möglichkeit ihre Erinnerungen soweit abzuschotten, dass sie für den Fall, dass sie in Feindeshand geraten, keinerlei Informationen Preis geben würden, egal wie stark die Folter ist. Irgendwas muss sie veranlasst haben ihre Sperre zu aktivieren.“ sagte Zaja traurig.

„Wie funktionieren die Dinger? Ich kann mir schwer vorstellen, dass man Erinnerungen so selektiv löscht.“ fragte Eva neugierig.

„Wir löschen sie auch nicht. Wir blockieren sie. Es ist eine Weiterentwicklung der Cree, die auf Vorfahrentechnologie beruht. Es ist unmöglich wirklich nur relevante Erinnerungen zu blockieren. Viele andere Sachen sind ebenfalls verschüttet. Die Bots bauen eine Art Mauer auf, die nur nach den eigenen Vorgaben wieder abgebaut werden kann. Wird versucht sie anders einzureißen, richtet man irreparablen Schaden im Gehirn an. Sentry muss also seinen Bots befehlen, alles wieder rückgängig zu machen.“

„Wie soll das gehen ohne Erinnerung?“ fragte Dina.

„Darin liegt die eigentliche Herausforderung. Dieser Befehl muss natürlich hinter der Blockade liegen, sonst macht das Ganze wenig Sinn. Er muss also extern ausgelöst werden. Durch ein Ereignis oder einen Reiz. Nicht zu offensichtlich, dann kann sich der Feind diesen Reiz zu Nutze machen, aber auch nicht zu verborgen, denn dann gibt’s keine Rückkehr mehr. Wahrscheinlich kennt nur Sentry seinen Plan für den Abriss. Es liegt also an ihm selbst, ob seine Rückholstrategie Erfolg hat.“

„Ich glaube, ich kenne seine Strategie.“ Eva kramte in ihren Taschen und holte das Amulett hervor, dass Sentry ihr an Bord der „perinola“ quasi als Abschiedsgeschenk hinterlassen hatte. Ein Informationsspeicher, so viel wusste sie.

„Das könnte passen. Allerdings ist das nur ein Teil. Um den Kristall zu aktivieren, benötigt er eine Vorrichtung. Wie ist er da rangekommen?“ fragte Zaja.

„Er hatte es bei sich, als er gefunden wurde.“ hakte Dina ein.

„Was heißt denn gefunden?“

„In einer Kryogenik-Kammer. Vermutlich war er da die letzten zweihundert Jahre eingefroren.“

„Verdammt. Deswegen konnten wir sie nicht finden. Wo sind diese Kammern?“

„Das wissen in der ganzen Galaxie nur drei Personen. Dummerweise sind alle drei schwer zu greifen.“

„Wer?“ fragte Zaja fordernd.

„Da ist Sentry natürlich. Neben ihm selbst, müsst ihr auch die weiteren Brotkrumen, die zu seinen Erinnerungen führen, finden. Dann gibt es da noch zwei üble Gestalten, die ihn aus der Kammer geholt haben. Ihre Namen sind Igor und Red, wobei sich Letzterer durch ein individuelles Narbengesicht auszeichnet. Bei ihm müsst ihr euch aber hinten anstellen, denn neben mir, ist die halbe Galaxie hinter seinem Skalp her.“ erklärte Dina die Situation.

„Dann liegt unsere beste Chance bei Sentry. Selbst wenn wir ihn zurückbekommen, hängt alles bei den Nanobots.“

„Aus reiner Neugierde. Er hat sieben verschiedene Funktionen in seiner Blutbahn. Wir kennen nur die Codeknacker, die Selbstheiler und die Gedächtnisblockierer. Was sind denn die anderen vier?“ fragte Eva.

„Sieben? Es gibt nur sechs. Drei von den Vorfahren und drei Weiterentwicklungen von uns. Die Science hat natürlich auch in die Richtung geforscht, aber mit wenig Erfolg.“ Eine gewisse Schadenfreude war aus ihrer Stimme zu vernehmen.

„Und? Verratest du uns, was für Kunststückchen er so drauf hat?“ fragte Dina

„Das sind Informationen, die die Sicherheit der Cree gefährden würden.“ Zaja wandte sich jetzt an Eva.

„Ich brauche das Amulett. Gibt’s du es mir bitte?“ Ihr freundlicher Ton wirkte aufgesetzt und konnte die Berechenbarkeit nicht verbergen. Eva zögerte. Sie schien sichtlich überfordert mit der Entscheidung. Dina wollte ihr diese abnehmen, aber bevor sie ansetzten konnte, kam sie ihr zuvor.

„Nein. Sentry hat es mir zur Aufbewahrung gegeben und ich bin nicht bereit, es dir zu überlassen.“ antwortete sie selbstbewusst.

„Du traust mir nicht?“ fragte Zaja.

„Wir trauen dir nicht.“ sah sich Dina genötigt einzuwerfen.

„Menschen. Ihr werdet euch nie ändern.“ kam es von Zaja herablassend.

„Genau aus dem Grund trauen wir dir nicht. Wir sind für dich nichts weiter als ein paar zurückgebliebene Primaten, die weit unter euch Gehirnmutanten in der Nahrungskette stehen. Bisher sehe ich aber nichts, was diese hochmütige Einstellung rechtfertigt.“ Dina war sichtlich verärgert.

„Ich habe sechs Monate auf dem Exson verbracht. Ich habe euch kennen gelernt, euch Menschen. Ihr habt nichts, was euer Weiterleben rechtfertigt. Ihr seid primitiv, egoistisch und zögert nicht zu töten, um eure kleingeistigen Interessen durchzusetzen. Diese Spezies ist dem Untergang geweiht und wird ersetzt von einer friedliebenden Rasse. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis ihr euch gegenseitig vernichtet habt und dann beginnt die Ära der Cree.“ Die Verachtung mit der sie das Wort „Menschen“ aussprach, war ebenso deutlich zu vernehmen, wie der Stolz bei der Aussprache von „Cree“.

„Die Geschichte hat nur einen Haken. Du brauchst die Hilfe von uns unterbelichteten Kreaturen. Das macht dir wirklich zu schaffen, dass das Bild von den mordlüsternen Menschen ernsthaft Risse bekommen könnte. Ob es dir passt oder nicht. Du wirst dich uns stellen müssen, denn wir werden Sentrys Rettung nicht dir allein überlassen.“ Dina schaffte es Zajas Panzer aus Hochmut etwas anzukratzen.

„Glaubt nicht, dass ihr wesentlich dazu beitragen könnt. Wir treffen uns in einer Woche wieder hier, dann wird sich entscheiden, ob wir euch brauchen oder nicht.“ Zaja erhob sich jetzt von der Bank. Es war bereits dunkel und die Parkbeleuchtung verleih ihrer Haut einen gewissen Glanz.

„Schön. Rede mit den anderen Hochwohlgeborenen, aber du wirst an uns nicht vorbeikommen.“ Dina quälte sich ebenfalls hoch und tat etwas, was die beiden anderen Frauen nicht erwarteten. Sie hielt Zaja die Hand hin.

„Wir haben doch alle das gleiche Ziel und sollten nicht gegeneinander arbeiten.“ sagte sie unerwartet versöhnlich. Zaja blieb ihr die Erwiderung dieser Geste schuldig und verschwand in der Dunkelheit des Parks.

„Traust du der Geschichte?“ fragte Eva.

„Sie macht Sinn. Zu komplex für eine Lüge.“ erwiderte Dina.

„Wir sind hier in was ganz Großes rein geraten. Das ist unsere Chance den Lauf der Menschheitsgeschichte wesentlich zu beeinflussen.“ sagte Eva bedeutungsschwanger.

„Überschätzt du da unsere Position nicht.“ Dina war skeptisch.

„Dieses hochmütige Mädchen hat doch Recht. Wir sind verlogen und egoistisch, jedenfalls zum größten Teil. Wir waren es aber nicht immer gewesen und genauso wie wir uns dahin entwickelt haben, können wir das auch wieder rückgängig machen.“

„Dein Optimismus ist unerschütterlich.“ Dina war erschöpft.

„Ich sehe die Cree als unsere Chance. Offenbar ist mit ihnen etwas passiert, was sie reifer und vernünftiger werden ließ. Gewalt ist für sie keine Option mehr. Sie haben eine Gesellschaft, die auf gegenseitigen Respekt aufbaut. Sie töten sich nicht untereinander und obwohl sie nicht fehlerfrei in ihren Entscheidungen sind, haben sie eine gesellschaftliche Entwicklungsstufe erreicht, die auf moralischen Grundsätzen basiert. Wo in der Galaxie haben wir das? Ihr angeblicher Zwang zur Rückkehr ist doch nichts Anderes, als die Sehnsucht nach diesem Zusammenhalt. Ich weiß wovon ich rede, denn ich erkenne ein falsches Gemeinschaftsgefühl. Ihr glänzen in den Augen, jedes Mal wenn sie Cree erwähnt. Milliarden von ihnen sind ermordet worden und trotz ihres Hasses auf uns, gab es keinerlei Worte von Vergeltung oder Rache. Wir sind ihnen ziemlich egal und genau das müssen wir ändern. Was immer auch mit ihnen hier passiert ist, für mich sind das immer noch Menschen. Wir müssen es schaffen ihr Verantwortungsgefühl für uns Zurückgebliebene zu wecken. Sie sollen uns an die Hand nehmen und uns unreife Kinder rausführen aus der dunklen Phase der Menschheit. Die Entwicklung, die bei den Cree vielleicht nur Stunden oder Tage gedauert hatte, wird vermutlich bei uns Jahrhunderte dauern, aber sie können uns nicht einfach hängen lassen.“ Eva hatte sich in einen regelrechten Rausch gesprochen.

„Es ist verblüffend, wie viele Gemeinsamkeiten Sentry und du haben. Ich bin mir sicher, er hätte dir stehende Ovationen für diese Ansprache gehalten.“ entgegnete Dina.

„Ein Grund mehr ihn und seine Leute zu finden.“ sagte Eva fest entschlossen.

„Vielleicht braucht die Welt ja eine ordentliche Portion Idealismus.“

„Mag sein, dass ich naiv bin, umso mehr brauche ich eine realistische Freundin, die mich ab und an mal erdet.“ Eva bereute ihre Worte umgehend. Sie hatte das Gefühl eine Grenze in der Beziehung zu Dina überschritten zu haben. Das ungeschriebene Gesetz ihrer Freundschaft war, nie zuzugeben, dass sie Freunde waren. Nun war es passiert und überforderte beide wie erwartet.

In Dina kam unweigerlich wieder der Vergleich zu Sentry in Erinnerung. Damals, im „junction“ auf Lassik, hatte sie ihn emotional verhungern lassen. Er hatte mehr in ihr gesehen, als eine zufällige Begleiterin und Dina hatte ihm mit einer gewissen Reue klar gemacht, dass sie ausschließlich an Red interessiert wäre. Ein Fehler, der ihre Beziehung zu Sentry nachträglich beeinflussen sollte. Ihr wurde klar, dass diese Dina nichts mehr mit ihrem heutigen Gegenstück gemeinsam hatte. Ein Verdienst, der auch auf Eva zurückzuführen war.

„Mach ich doch gern, Freundin.“ entspannte sie das peinliche Schweigen und schenkte Eva ein aufrichtiges Lächeln. Jetzt, da es auch verbal besiegelt war, gab es keinerlei Restzweifel an ihrer Beziehung.

Eva verabschiedete sich und Dina wankte der Trostlosigkeit ihres Krankenzimmers entgegen. Die vielen neuen Informationen hatten in ihr eine Unruhe geweckt, die jetzt, wo sie genügend Zeit hatte über den Inhalt zu Grübeln, dringend einer Ordnung bedurften. Die Schaffung einer neuen Persönlichkeit klang so unglaublich, dass Dina mit diesem Teil der Geschichte ihre größten Probleme hatte. Vielleicht passierte wirklich etwas mit dem Gehirn hier auf Cree und änderte unter Umständen das eine oder andere Verhalten, aber das ein vollkommen neuer Mensch entstand, schien eher eine Folge von Zajas arroganter Einstellung zu sein. Sie hielt sich für was Besseres und war der Meinung, dass die Menschheit ihrem Vorbild folgen sollte, ob sie nun wollte oder nicht. Ein gewisser Fanatismus war ihr nicht abzusprechen, aber wie Eva schon richtig bemerkt hatte, gab es keinerlei Bemühung, diesen Grundsatz auch praktisch umzusetzen. Die Zeit war ihr Freund und im Gegensatz zu den Ereignissen vor tausend Jahren würden sie diesmal als Sieger übrig bleiben. Die Menschheit würde aus Mangel an Ressourcen, Technologie und Entwicklung unweigerlich den Kürzeren ziehen und vermutlich in ein paar hundert Jahren bei den fortschrittlichen Cree förmlich um Aufnahme betteln.

Es gab ein gewichtiges Argument für den Wahrheitsgehalt von Zajas Geschichte. Die große Katastrophe. Trotz Müdigkeit baute Dina die einzelnen Bausteine zu einer überzeugenden Theorie zusammen. Das Ergebnis war erschreckend stichhaltig und trotz aller Suche nach Lücken in ihren Schlussfolgerungen, gab es kaum Hoffnung auf eine alternative These zum Entwicklungsknick. Cree war die letzte Kolonie der Menschen und es war durchaus möglich, dass sich die ersten Siedler nach der von Zaja beschriebenen Geschichte veränderten. Anfangs konnten sie isoliert gedeihen, aber später fiel ihr sonderbares Verhalten sicher dem Rest der Menschheit auf. Spätestens bei dem Übergreifen auf andere Welten sahen sich die wenigen Immunen einem potentiellen Angriff ausgesetzt und scheinbar war die Verzweiflung so groß, dass sie sich zu diesem radikalen Schritt der Vernichtung des größten Teils der Bevölkerung hinreißen ließen. Statt eines evolutionären Quantensprungs, gab es den Rückfall in eine blutige Vergangenheit, unter der die Nachfahren noch heute litten. Trotz dieser Opferrolle teilte Dina Evas positive Einstellung gegenüber den Cree nicht. Sie waren nur eine weitere Macht im interstellaren Ringen um die Zukunft der Menschen und nach Zajas Auftreten gab es keinen Grund zu glauben, dass ihre Ziele edler, als die der Science waren. Dina musste sich der traurigen Wahrheit stellen. Sie waren zwischen die Fronten der galaktischen Supermächte geraten und die Wahrscheinlichkeit in diesem Ringen als unschuldiges Opfer aufgerieben zu werden, war ziemlich hoch. Ihr Überlebenskampf hatte eine neue Dimension bekommen.

Am nächsten Morgen überraschte sie der behandelnde Arzt mit einer positiven Neuigkeit. Da ihre Wundheilung die kritische Phase überwunden hatte, konnte der weitere Fortschritt der Genesung künstlich beschleunigt werden. Die Bestrahlungstherapie durchbrach nicht nur die Langeweile des Krankenhausaufenthaltes, sie brachte auch Dinas gesundheitlichen Zustand zurück in die Normalität. Mit jeder Behandlung fühlte sie sich besser und nach zwei Tagen war der Schmerz in ihrer Bauchgegend zu einem leichten Ziehen verkommen. Keine zwanzig Stunden standen mehr zwischen dem quälenden Aufenthalt im Krankenhaus und ihrer Entlassung in die heile Welt von Cree.

Dina hatte es am Vorabend ihres letzten Tages endlich geschafft ihren von zuviel Ruhe geprägten Körper in einen leichten Schlaf zu versetzen, als ihre Schutzinstinkte sie zurück in die reale Umgebung des Krankenzimmers katapultierten. Zuerst glaubte sie einer Täuschung jener Instinkte erlegen zu sein, die über die Jahrhunderte den Menschen von allerlei Raubtieren antrainiert wurde, aber als sie die Gestalt am Ende des Bettes erkannte, wusste sie, dass es sich dieses Mal um keinen Fehlalarm handelte. Jemand hatte den Raum betreten während sie schlief und nun war ihr Körper automatisch in Abwehrhaltung gegangen. Sie entspannte auch nicht, als sie erkannte, wer da auf dem Stuhl saß und sie beobachtete.

„Kannst du laufen?“ Es war Zaja, die ohne große Begründung sie mit dieser Frage konfrontierte.

„Wieso? Willst du mich zum Tanz ausführen?“ Dina war immer noch angespannt. Das Zaja hier einfach so auftauchte, hatte mit Sicherheit einen Grund. Wie immer der auch aussehen würde, es war mit großer Wahrscheinlichkeit nichts Angenehmes.

„Du bist hier nicht mehr sicher. Die Science hat einen „Entsorgungsauftrag“ für euch angeordnet.“

„Ach ja. Was kümmert es dich? Ein paar Menschen weniger auf eurem heiligen Planeten.“ kam es von Dina provozierend.

„Wir gehen in den Dschungel, zu den wahren Einwohnern von Cree. Diese lächerlichen Gestalten in der Stadt gehen mir schon zu lange auf die Nerven.“ ignorierte Zaja die Provokation.

„Warum sollte ich dir folgen? Ich bin bisher ganz gut klar gekommen.“

„Wie du schon sagtest, haben wir das gleiche Ziel. Sentry wiederbekommen. Ich glaube zwar immer noch, dass wir euch dazu nicht brauchen, aber bedauerlicherweise sehen das die anderen Cree nicht so.“ Ein wenig Bedauern war in Zajas Stimme.

„Offenbar hat diese Gehirnmutation nicht bei allen von euch das logische Denken vernebelt.“ Das hatte gesessen und Zaja hatte Mühe ihre Beherrschung nicht zu verlieren.

„Wir haben keine Zeit für diese Spielchen. Ein Auftragsmörder ist auf euch angesetzt und bisher hat er noch nicht zugeschlagen. Es ist etwas eingetreten, was ihn zwingt zu handeln und ich fürchte du wirst sein erstes Ziel sein.“ Zaja warf Dinas Sachen auf das Bett und forderte sie damit ohne Worte zum anziehen auf.

„Und warum auf einmal der Zeitdruck mich unbedingt zu erledigen?“ Dina zwang sich gerade in die viel zu engen Hosen. Die fehlende Bewegung der letzten Tage zeigte sich jetzt in diesem Kampf. Mit viel Mühe schloss sie den letzten Knopf.

„Ich schätze etwas Bewegung tut mir wirklich gut.“ kommentierte sie das Kneifen.

„Heute ist ein Schiff gelandet. An Bord waren Fremde, die gleich mit ihrem ersten Auftreten nicht gerade zur Völkerverständigung beitrugen. Sie suchen nach anderen Fremden und da die Auswahl ziemlich beschränkt ist, führt sie das direkt hierher.“ Zaja drängte zur Eile.

„Glaubst du, die suchen ebenfalls nach Sentry?“ fragte Dina

„Da bin ich mir sicher. Ich kann diese Leute aber nicht zuordnen. Ich weiß weder wer sie sind, noch kenne ich ihre Motivation.“ Zaja spähte auf den Gang.

„Die Motivation kann ich dir erklären. Technologie. Sie sind auf seine Bots scharf. Was immer die auch glauben lässt hier fündig zu werden, sie werden enttäuscht sein.“ Dina war leicht amüsiert.

„Na toll.“ Zaja war kurz erschrocken.

„Sag bloß, du hast auch so was im Blut. Welche?“ fragte Dina. Zaja betrat jetzt leise den Flur und blieb ihr die Antwort schuldig. Sie nickte lautlos in Richtung Treppenhaus und forderte Dina damit auf ihr zu folgen.

„Wir sollten zum Hintereingang hinaus.“ forderte Dina, nachdem sie sich im Treppenhaus vergewissert hatten, dass sie alleine waren.

„Ich kenne den oder die Attentäter nicht. Die Gefahr ist zu groß, dass sie uns an den Ausgängen auflauern. Wir sollten einen der Notausgänge nehmen.“ Zaja hatte das Kommando übernommen, was Dina sichtlich missfiel, aber sie musste sich diesem Fakt wohl oder übel beugen.

„Ok. Klingt nach einem Plan, wir sollten allerdings nicht hier oben den Alarm auslösen. Versuchen wir unser Glück auf der untersten Etage.“ Dina wollte wenigstens einen Teil zu ihrem Fluchtplan beitragen. Die verbale Bestätigung dieses Vorschlages wurde ihr verweigert, aber als Zaja die Treppen nach unten hinabstürzte, sah sie das als Zustimmung an.

Unten angekommen zögerte Zaja die Notaufnahme zu betreten. Ein kleines Fenster in der Tür ermöglichte ihr einen kurzen Blick in den riesigen Eingangsbereich des Krankenhauses zu wagen.

„Verdammt sind das viele Leute. Ich kann nichts erkennen.“ Zaja klang verwirrt.

„Das ist eine Notaufnahme. Was erwartest du denn?“

„Ich kenne mich an solchen Orten nicht aus.“

„Ah, verstehe. Die Selbstheiler. Dann musst du dir ja wenig Sorgen über irgendwelche Angriffe machen.“

„Deswegen sind wir nicht unsterblich.“ Zaja öffnete die Tür und betrat zuerst den Eingangsbereich. Dina folgte ihr und das ungute Gefühl damit ins Fadenkreuz eines potentiellen Attentäters zu geraten, war schwer zu ignorieren. Sie mussten hier so schnell wie möglich raus.

Die Vielzahl der Geräusche war nicht ungewöhnlich für eine Notaufnahme und hätte sich nicht ein Stimmengewirr mit ungewöhnlicher Lautstärke an einem Punkt konzentriert, könnte Dina mit Fug und Recht behaupten, dass alles einen normalen Eindruck machen würde. Aber genau diese Ansammlung von mehreren Personen, die offensichtlich etwas Wichtiges zu diskutieren hatten, trübten die Illusion von Normalität. So ziemlich jedes Augenpaar richtete sich auf die Diskussionsrunde und somit war ihr Betreten des Eingangsbereiches auf Grund der Ablenkung unbemerkt geblieben. Auch Dina konnte sich dem Gruppenzwang nicht entziehen und so wurde ihre Aufmerksamkeit ebenfalls auf den alles beherrschenden Mittelpunkt des Geschehens gelenkt.

„Sie haben gegen geltendes Recht verstoßen.“ hörte sie einen der fünf Polizisten immer wieder energisch wiederholen. Eine Vielzahl von Menschen erschwerte den Überblick. Es war unmöglich auszumachen, wer Patient, Personal, Besucher oder zum Sicherheitsdienst gehörte. Nur die Polizisten unterstrichen mit ihren blauen sauberen Uniformen den Anspruch als tonangebende Ordnungsmacht. Ein übergewichtiger Mann auf Krücken konnte sich mit diesem Zustand nicht anfreunden und versuchte permanent ihre Autorität zu untergraben.

„Dann stell mir einen Strafzettel aus. Wie viel kann das schon kosten in einer Bar nichts zu trinken?“ Der Krüppel versuchte sich seinen Weg durch die Reihen der Polizisten zu bahnen, wurde aber bisher erfolgreich zurückgehalten.

Die Fremden, schoss es Dina durch den Kopf. Sie waren also hier und suchten sie. Sie musterte den Krüppel und tatsächlich kam er ihr irgendwie vertraut vor. Weniger die Leibesfülle oder die kaputten Knie. Es war das Gesicht, was sie nicht eindeutig zuordnen konnte. Woher zum Teufel kannte sie den Fremden? Sie versuchte sich an anderen Personen in seinem Umkreis, um diese verschüttete Erinnerung zu reaktivieren. Eyak, war der erste Dominostein der fiel. Frago, kam als Nächstes. Jener Mistkerl, der Frauen wie Vieh hielt und ebenso ausnutzte. Damals sollte sie sein Angebot erweitern, aber sie ist ihm entkommen und das ausgerechnet mit Hilfe eines noch größeren Mistkerls. Red. Er war hier. Sie sah ihn nicht, spürte aber seine Nähe, als könne sie ihn wittern.

„Er ist hier.“ flüsterte sie zu Zaja und erntete nur ein fragendes Gesicht.

„Red. Der Mistkerl, der weiß, wo eure Abtrünnigen auf Eis liegen.“ Jetzt hatte sie Zajas volle Aufmerksamkeit.

„Wo ist er?“

„Ich sehe ihn nicht. Er lauert wahrscheinlich draußen.“

„Wir gehen durch die Vordertür raus.“ änderte Zaja den Plan.

„Und der Attentäter?“ Dina war wenig begeistert von Zajas Änderung.

„Der ist mir egal. Wen ich brauche, ist dieser Red.“ Wilde Entschlossenheit zierte jetzt ihr Gesicht.

„Mit diesen selbstheilenden Kerlchen im Blut würde ich vermutlich auch so eine große Lippe riskieren. Gut. Gehen wir daraus, aber an deiner Stelle würde ich mich beeilen mit der Befragung, denn meine Selbstbeherrschung gegenüber diesem Schleimbeutel ist minimal.“ Sie steuerten rechts an dem Aufruhr vorbei und verließen die Notaufnahme so unauffällig wie möglich durch den Haupteingang.

Dina konnte es kaum glauben, aber ihre Anspannung war tatsächlich noch steigerbar. Als sie die tief stehende Sonne blendete, wurde ihr die Naivität ihres Handelns bewusst. Sie stand am oberen Ende dieser Krankenhaustreppe und die Erfolgsaussichten diese unbehelligt zu passieren, wurden gleich durch mehrere Faktoren getrübt. Kurz verfiel sie dem Drang auf der Stelle kehrt zu machen, aber das würde das Unausweichliche nur verzögern. Sie folgte dieser Frau hinab, der sie nicht vertraute, war jederzeit der Möglichkeit eines Attentates ausgesetzt und zu allem Überfluss musste sie mit einem Überfall ihres größten Übels rechnen. Mit Erleichterung verließ sie die letzte Stufe und folgte Zaja zu jener Bank, an der sie Tage zuvor schon das Schicksal der Menschheit dargelegt hatte.

„Ist er hier irgendwo?“ fragte Zaja und ließ ihren Blick über die Vielzahl von Menschen schweifen, die vor dem Eingangsbereich des Krankenhauses vorbeieilten.

„Was hast du vor?“ fragte Dina skeptisch.

„Er hat etwas, was ich will und ich habe etwas, was er will. Die beste Basis für ein Geschäft.“ entgegnete Zaja.

„Du weißt nicht, mit wem du es zu tun hast. Mit solchen Leuten macht man keine Geschäfte.“ Dina wollte noch weitere Argumente anbringen, als sie bemerkte, wie eine Gruppe von drei Männern auf sie zusteuerte. Ihr Puls stieg schlagartig an, denn ihr größter Albtraum näherte sich ihrer Position. Zajas Plan war also aufgegangen und nun hatte Dina das Gefühl nur noch eine Randfigur in einem größeren Spiel zu sein. Zum wiederholten Male war die Vollendung ihrer Rache greifbar und wieder konnte sie ihr nicht nachgehen, weil scheinbar wichtigere Interessen den Vorrang hatten.

„Sieh an, wen wir hier haben.“ begrüßte Red die beiden Frauen. Seine dunkelhäutigen Begleiter flankierten ihn und versuchten so einschüchternd wie möglich drein zu schauen. Ein Vorhaben, was ihnen gut gelang, denn Dinas Anstrengungen sich nicht sofort auf Red zu stürzen und ihm den Hals umzudrehen, wären sicherlich ohne die beiden Leibwächter vergebens gewesen.

„Du verdammter Scheißkerl.“ erwiderte Dina die Begrüßung mit einem ungeahnten Maß an Selbstbeherrschung.

„Oh. Immer noch diese ablehnende Haltung. Wir sollten die Ereignisse der Vergangenheit endlich mal ruhen lassen. Die bringen uns doch nur unnötigen Ärger ein. Es ist doch für alle vorteilhafter, wenn wir zusammenarbeiten.“ Ein schmieriges Lächeln zierte das Narbengesicht, als Bestätigung dafür, dass er seine eigenen Worten nicht ernst nahm. Dina brachte nur ein verächtliches „ha“ zustande und zum ersten Mal fehlte ihr eine passende Erwiderung, zu sehr kämpfte sie mit ihrer Verunsicherung. Dafür übernahm Zaja das Reden.

„Sentry. Seinetwegen seid ihr doch hier.“ sagte sie selbstbewusst. Die Drohkulisse, die die Männer aufgebaut hatten, schien keinerlei Einfluss auf sie zu haben.

„Sind wir hier auf dem Schlampenplaneten, dass jede Hure hier ihr Maul aufreißen kann?“ fragte einer von Reds Begleitern ziemlich primitiv und versuchte sie damit zu verunsichern.

„Ihr werdet ihn hier nicht finden, aber das ist nicht schlimm. Ich weiß was ihr wollt und ich kann es euch geben.“ Keinerlei Zittern in Zajas Stimme.

„Wer ist die Nutte? Müssen wir uns wirklich mit ihr abgeben.“ kam es diesmal von dem anderen Schwarzen, der damit seinem Partner in Sachen Vulgaritäten in nichts nachstand. Erst jetzt merkte Dina, dass Red nicht ihr Anführer war. Ganz im Gegenteil. Er erweckte eher den Anschein eines geduldeten Anhängsels.

„Solltet ihr, denn ich bin die Einzige, die euch glücklich machen kann.“ ignorierte Zaja weiter die primitiven Einwürfe.

„Ich steh mehr auf blonde Schlampen. Die betteln förmlich um ein gutes Stück schwarzes Fleisch.“ Ungeniert musterte er Dina, die jetzt endlich zu ihrer Souveränität zurückfand.

„Vielleicht solltest du nicht in irgendwelche unrealistische Tagträume fliehen, sondern zuhören was sie zu sagen hat.“ Jetzt hatten sie zwei aufmüpfige Frauen gegen sich und das brachte ihre von Zuhälterei geprägte Ansicht über das weibliche Geschlecht endgültig ins Wanken.

„Scheiße. Was ist hier los? Auf Eyak wärt ihr für den letzten Straßenpuff noch zu schade.“ Er verließ Reds rechte Flanke und machte sich daran den fehlenden Respekt in Form von Prügel in die Frauen zu hämmern. Erst das aufblitzende Messer in Zajas Hand ließ ihn stocken.

„Schicke Nagelfeile.“ sagte der Angreifer verächtlich und plante erneut Dina zu vermöbeln. Zu seiner Überraschung ritzte sie sich selbst die Innenfläche ihrer Hand auf, was ihn dazu veranlasste wieder zu stoppen.

„Kranke Schlampe.“ war seine einzige Reaktion auf den Schnitt. Zaja streckte Red den Arm entgegen, so dass er den Schnitt in der Handfläche beobachten konnte. Keine fünf Minuten später war ihre Haut wieder vollkommen unversehrt.

„Habe ich jetzt eure vollkommene Aufmerksamkeit?“ fragte Zaja an Red gerichtet, die anderen beiden bewusst ignorierend.

„Hundertprozentig. Was gibt dir die Sicherheit, dass wir dich nicht einfach zusammenschlagen und mit dir den Planeten verlassen?“ Red war jetzt neugierig.

„Cree ist nicht wie der Rest der Galaxie und ihr würdet mächtigen Ärger mit den Behörden bekommen. Warum also das Risiko? Es geht ja auch viel einfacher. Wir haben nicht nur die Nanobots, sondern auch die Technik sie zu vervielfältigen. Wir wären bereit sie euch zu überlassen.“ Zaja sah jetzt mit Vergnügen wie Reds Begleiter verunsichert und sichtlich überfordert dem Treiben versuchten zu folgen.

„Wie großzügig. Ich nehme mal an ihr verlangt eine Gegenleistung.“ Red war jetzt angespannt, da er nicht wusste, was er besaß, das von Wert sein könnte.

„Wie wärs, wenn wir euch einfach am Leben lassen.“ versuchte einer von Reds Begleitern das Geschehen wieder an sich zu reißen. Er wurde von beiden ignoriert.

„Koordinaten.“ Ein Wort von Zaja reichte und Red wusste, worum es ging.

„Einverstanden.“ erwiderte Red ebenso kurz. Zaja kramte ein Pad aus ihrer Tasche und überreichte es ihrem neuem Geschäftspartner.

„Eine Karte von der Umgebung. An dem eingezeichneten Punkt treffen wir uns. Ihr werdet vier Tage brauchen, um dahin zu gelangen. Wir schaffen das in drei und werden alles vorbereiten. Gib mir die Koordinaten und wir überprüfen, ob wir das vorfinden, was wir erwarten.“ Zaja war jetzt fordernd.

„Netter Versuch, aber die bekommst du erst, wenn die Femtos durch unsere Blutbahnen kreuzen.“ Red wollte sich nicht von einer Frau die Verhandlungsbedingungen diktieren lassen.

„Der Dschungel ist gefährlich und ich kann nicht riskieren, dass die Information verloren geht.“ Zaja verharrte auf ihrer Forderung.

„Wir sind große Jungs und kommen klar damit.“ Red war kompromisslos.

„Ihr wisst nicht, worauf ihr euch einlasst. Ich vermittle euch einen Führer, der euch morgen kontaktieren wird. Trotzdem werdet ihr vermutlich nicht alle dort drüben ankommen.“ Jetzt wandte sich Zaja an einen von Reds Begleitern.

„Es gibt kleine fiese Mücken, die bohren sich durch eure Haut und fressen euch von innen Stück für Stück auf. An eurer Stelle würde ich mich gut stellen mit Boris, denn er kennt als Einziger die Pflanze, mit der ihr euch einreiben müsst, um nicht als Festschmaus für die Biester zu enden. Das wird aber euer geringstes Problem sein, denn es gibt tausende andere Möglichkeiten im Dschungel zu sterben. Das Narbengesicht dort drüben hat oberste Priorität. Die habt ihr nicht und genau das werde ich Boris sagen.“ Es war Zajas Versuch Angst zu schüren und trotz der Reglosigkeit in den Gesichtern der beiden, war ein kleiner Erfolg ersichtlich.

„Eure Vereinbarung ist nicht meine. Komm nicht vor den Lauf meiner Pistole. Koordinaten hin oder her. Ich werde abdrücken.“ Dina sah sich genötigt diese Tatsache ihrem Widersacher unter die Nase zu reiben.

„Nichts Anderes habe ich erwartet. Das macht die Sache umso aufregender.“ Red schien sogar erfreut über soviel Aufmerksamkeit.

„Nun geht brav zu eurem verkrüppelten Boss und überbringt ihm die Vereinbarung.“ Zaja hakte sich bei Dina unter und zog sie weg von der Gruppe. Der anfängliche Widerstand ließ schnell nach. Dina sah ein, dass es nicht der richtige Zeitpunkt und schon gar nicht der richtige Ort für eine Konfrontation war. Sie würde ihre Möglichkeit bekommen, endlich das zu tun, worauf sie die letzten Jahre hingefiebert hatte. Nur war sie sich nicht mehr sicher, ob sie noch hundert Prozent hinter diesem Vorhaben stand.

 

 

Kapitel 9

 

Dinas Verwirrung über die Ereignisse im Krankenhauspark war nicht nur ausschließlich auf die Begegnung mit ihrem Erzfeind zurückzuführen. Da war noch mehr. Zum einen die Vereinbarung, die Zaja mit Red getroffen hatte und obwohl Dina unmissverständlich klar machte, dass dieses Geschäft nicht ihre Zustimmung fand, konnte sie sich des Gefühls nicht erwehren, sich selber damit verraten zu haben. Das war der andere Punkt, der ihr neben der vermeintlichen Kooperation mit dem Feind zu schaffen machte. Neds Schicksal und die Ungerechtigkeit, die damit einherging, waren schon solange das vorherrschende Thema in ihrem Geist, dass nichts anderem auch nur einen Millimeter Platz eingeräumt wurde. Eine unverrückbare Konstante in den letzten Jahren und genau diese Konstante schien zur Variablen zu verkommen. Sentrys Schicksal war ihr nicht mehr gleichgültig und der Schwur, bei erster passender Gelegenheit eine Kugel in den Kopf von Red zu jagen, würde zu einer Herausforderung werden, sollte sich wirklich solch eine Gelegenheit ergeben. Sie fand keine Antwort auf die Frage, was passiert, wenn Red ihr im Dschungel alleine und unbewaffnet begegnen würde. Zum ersten Mal seit Jahren war sie sich ihrer Ziele nicht mehr sicher.

Sie folgte Zaja in eine kleine Wohnung am Rande der Stadt. Auf den Weg dorthin, wurde diese nicht müde die Menschen, die ihnen in der Schwebebahn und auf der Strasse begegneten, zu verhöhnen. Ihrer Meinung nach besaßen diese kein Recht den Planeten mit den eigentlichen Einwohnern zu teilen. Die wahren Herren waren die Cree, die im Dschungel mitleidig auf die Stadtbevölkerung hinab schauten und mit einer Art selbstgefälliger Überlegenheit das Treiben argwöhnisch duldeten. Es war Dinas erster Ausflug durch die Gefilde der Hauptstadt und noch nie hatte sie eine so perfekte Kulisse einer Stadt bewundern dürfen. Keinerlei Verfall war an den Häusern auszumachen, die Strassen waren sauber und die Leute freundlich. Jedenfalls ihr gegenüber, bei Zaja war eine gewisse Zurückhaltung der Bevölkerung unverkennbar. Obwohl sie beide die gleiche zurückweisende Ausstrahlung besaßen, bekam Dina auf Grund ihrer Hautfarbe deutlich mehr Anerkennung und genau dieser Fakt, ließ die eigentlich so perfekte Umgebung unwirklich erscheinen. Jede Menge Verbotsschilder wiesen auf die Ungerechtigkeit der Reinheitsgesetze hin, als würden solche Dinge wie extra Eingänge in öffentlichen Gebäuden für scheinbar unterprivilegierte Einwohner, den gesellschaftlichen Zusammenhalt fördern. Es funktionierte und die Bevölkerung, mit einem Reinheitsgrad unter B, hatte die Nachteile, die ihr daraus entstanden akzeptiert. Das Paradies namens Cree hatte seine Macken, aber die waren immer noch besser, als alles andere in der Galaxie und so hielten sie still, um nicht aus dem gelobten Land verbannt zu werden.

Als sie ihr Ziel erreichten, war es mittlerweile dunkel geworden und das sanfte Licht der Straßenlaternen tauchte die Umgebung in ein freundliches Orange. Die Wohnung befand sich mitten in einer endlos erscheinenden Reihenhauszeile im ersten Stock. Die Einrichtung war auf das Notwendigste zusammengeschrumpft und nichts wies auf eine dauerhafte Nutzung hin. Ein Bett stand in der Mitte des einzigen Raumes und der abgenutzte Holztisch, an dem zwei altersschwache Stühle standen, verbreitete das Ambiente eines heruntergekommenen Hotelzimmers. Die Luft roch abgestanden und das Fenster schien schon seit Tagen nicht geöffnet worden zu sein. Zaja stand davor, schob den Vorhang einen kleinen Spalt zurück und warf einen Blick auf die Strasse vor dem Haus.

„Da ist er wieder. Wir wurden definitiv verfolgt.“ sagte sie zu Dina.

„Die Agenten der Science?“ fragte diese, obwohl sie die Antwort bereits kannte.

„Mit Sicherheit. Ich kann nur einen erkennen, aber dabei wird es nicht bleiben.“

„Die wollen uns echt töten. Warum? Wir sind doch keine Gefahr für die.“ Dina war ungläubig gegenüber der Attentatstheorie.

„Ihr seid ihnen entkommen und habt auch noch die Huzpe mit ihrem Feind gemeinsame Sache zu machen. Das reicht ihnen schon, um euch als Sicherheitsrisiko einzustufen. Hier in der Stadt sind unsere Möglichkeiten begrenzt. Wir müssen schleunigst in den Dschungel.“

„Und warum sind wir dann hier?“ Zaja öffnete als Erklärung den Wandschrank. Vier voll gepackte Rucksäcke waren in seinem Inneren.

„Zelt, Werkzeuge, Karten und Nahrung für ein paar Tage.“ sagte Zaja trocken.

„Keine Möglichkeit in einen Flugtransporter zu steigen und einfach hin zu fliegen?“ fragte Dina, die den Ausflug auf Grund von mangelnder Fitness skeptisch sah.

„Die Flugkontrolle hat einen Radius von etwa 35km um die Stadt herum. In dem Bereich fliegen wir Cree nicht. Für die Menschen hier in der Stadt sind wir esoterische Spinner, die die Natur lieben und auf jegliche Form von Technik verzichten. Diese Illusion wollen wir doch nicht zerstören.“ antwortete Zaja hinterlistig.

„Für wen ist der vierte Rucksack?“ fragte Dina und ahnte, wer da sich mit ihnen in den Dschungel aufmachen würde.

„Eva bestand auf einen weiteren Begleiter. Morgen früh werden die beiden hier eintreffen. Bis dahin müssen wir das Problem mit der Science klären.“ erklärte Zaja.

„Wie willst du das anstellen? Hast du denn Kampfausbildung?“

„Ja, aber ich fürchte bei einem Kampf ziehen wir den Kürzeren. Sie werden es im Laufe der Nacht versuchen. Bleibt nur die Frage, mit wie vielen Angreifern wir es zu tun bekommen.“ erläuterte Zaja ihren Plan.

„Du hast nicht zufällig ein paar Bots, die mich unverwundbar machen?“ fragte Dina sarkastisch, denn die Aussicht kurz nach ihrer Genesung schon wieder in einen Kugelhagel zu geraten, machte sie unruhig.

„Nein. Wie ich schon im Krankenhaus erklärte, bin auch ich nicht unsterblich.“ Zajas abgeklärte Haltung wurde zum ersten Mal durch Angst getrübt.

„Ich bin bereit zu töten. Bist du das auch?“ fragte Dina.

„Menschen. Wenn ihr in allem so entschlossen wärt, wie im Töten.“ entgegnete Zaja abfällig.

„Wie willst du sie dann erledigen? Mit einer Überdosis Hochmut?“ Dina widerte die arrogante Art und Weise ihr gegenüber an. Zaja öffnete den zweiten Wandschrank, indem sich ein paar Waffen befanden.

„Betäubungsgranaten. Sie überlasten die Synapsen des Gehirns und ziehen jedem im Umkreis von 20 Meter die Beine weg. Dazu noch diese Pistolen mit Betäubungspfeilen. Die Ohnmacht tritt praktisch mit dem Einstich auf.“ erklärte Zaja.

„Ghandi wäre stolz auf dich, aber ich befürchte das wird nicht reichen.“ äußerte Dina ihre Skepsis.

„Das muss es, denn wir haben nichts anderes.“ beteuerte Zaja.

„Höre ich da ein wenig bedauern über die selbst auferlegten Regeln von Vernunft und Frieden.“ stichelte Dina, da sie mit ihrer Skepsis in Zaja Zweifel geweckt hatte.

„Wir sind über diese primitiven Formen der Konfliktbewältigung hinaus.“ verteidigte sich Zaja mit Arroganz.

„Nur dumm, wenn eure Gegner das anders sehen. Gut, machen wir das Beste draus. Wir sollten die Granaten meiden, da sie uns auch außer Gefecht setzen.“ Dina begutachtete eine der Pistolen.

„Setz diesen Helm auf. Seine Struktur ist so beschaffen, dass die Granate keine Wirkung auf dich hat.“ Zaja griff in den Schrank und holte eher ein Gerippe in Kopfform, als einen wirklichen Helm hervor.

„Praktisch, falls wir hinterher mit dem Fahrrad fliehen müssen.“ kommentierte Dina das seltsame Gebilde.

„Was ist mit dir?“ fragte sie Zaja.

„Ich kann meine Selbstheiler dahingehend einstellen, dass sie mich schützen.“ erklärte Zaja gelangweilt.

„Schön. Hast du einen Plan?“ fragte Dina.

„Wir sollten nicht hier bleiben. Es gibt einen Hinterausgang, den wir nutzen können.“ erklärte Zaja.

„Klingt nicht wirklich zuverlässig. Wer sagt uns denn, dass da nicht auch jemand steht?“

„Das Risiko müssen wir eingehen.“

„Mit Selbstheilern im Blut wäre ich auch mutiger.“ Dina schnappte sich zwei der Rucksäcke und schnappte sich eine der Pistolen.

„Das macht uns ziemlich unbeweglich.“ Sie nahm eine der Granaten und fixierte sie an ihrem Gürtel. Zaja tat es ihr gleich und nun standen sie da, wie zwei Rucksacktouristen, die bereit waren in einen wochenlangen Zelturlaub zu starten.

Vorsichtig betraten sie den Flur und der Bewegungsmelder begrüßte sie mit dem Einschalten des Lichtes. Verdammt, das hatten sie nicht bedacht. Sobald sie das Erdgeschoß betraten, würde auch dort die Beleuchtung im Hausflur angehen. Mit Sicherheit würde ihr Verfolger skeptisch werden, wenn trotz des beleuchteten Flurs niemand das Gebäude durch den Haupteingang verließe. Es gab keine Alternative. Sie mussten da runter und der Verrat des Lichtes würde ihre Zeit begrenzen.

Sie stürzten zur Hintertür, aber ihr Gepäck verhinderte ein wirklich schnelles Vorankommen. Dinas Kondition war im Krankenhaus praktisch auf null geschrumpft und mit dem ganzen Übergewicht stellte sich selbst der kurze Weg zur Hintertür als große Herausforderung für sie da. Völlig außer Atem spähte sie in den Hinterhof und als sie registrierte, dass an Zaja neben ihr nicht mal ein erhöhter Puls auszumachen war, konnte der Vergleich nicht gegensätzlicher ausfallen.

„Leute mit Nanobots haben den Vortritt.“ keuchte Dina. Der Hof war eine gepflegte Grünfläche, die umgeben von einer Hecke, das Haus von der Straße trennte. Zaja öffnete vorsichtig die Tür, schreckte aber sofort zurück, als sie eine Bewegung ausmachte.

„Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube da hockt jemand in den Büschen. Setz deinen Helm auf.“ Zaja setzte die Rucksäcke ab und kramte eine der Granaten hervor.

„Vielleicht ist es ja nur der Gärtner oder sonst ein harmloser Hausbewohner?“ Dina nestelte an ihrem Helm. Sie hatte keine Ahnung, ob sie ihn richtig anwendete.

„Dann wird er sich demnächst zweimal überlegen, ob er im dunkeln Unkraut jätet.“ Zaja öffnete die Tür und schleuderte die Granate Richtung Hecke.

„Wow.“ entfuhr es Dina, als sie den stechenden Schmerz spürte, der wie ein Blitz in ihrem Kopf einschlug.

„Was war das denn? Ich glaube, ich habe das Ding nicht richtig aufgesetzt.“ Dina fasste sich mit beiden Händen an den Kopf, als könnte sie den Schmerz herauspressen.

„Du stehst noch. Mehr brauchen wir nicht.“ kommentierte Zaja ihre Zweifel über den richtigen Gebrauch des Helms.

„Vielen Dank für deine Anteilnahme.“ Ihr Schmerz ließ nur langsam nach, aber ihr Sarkasmus funktionierte selbst unter schwierigsten Bedingungen. Zaja trat hinaus ins Freie und wieder schlug der Bewegungsmelder gnadenlos an. Es hatte was von einem Bühnenauftritt, bei dem der Beleuchter den Zeitpunkt für das Erscheinen der Hauptfigur perfekt getroffen hatte. Die ungewollte Aufmerksamkeit ließ Zaja stoppen und ihre Instinkte veranlassten sie einen Schritt nach links zu gehen, um nicht vollends im Licht zu stehen. Eine gute Entscheidung, wie sich herausstellen sollte. Das „Plopp“ war trotz der Stille kaum zu vernehmen, aber Zajas angespannte Sinne konnten das leise Geräusch gut zuordnen. Der Einschlag hinter ihr in der Hauswand bestätigte ihre Vermutung. Sie wurde angegriffen und das trotz der Präventivmaßnahme durch die Granate. Sie reagierte blitzschnell und rannte auf die höchstens drei Meter entfernte Hecke links von ihr zu. Mit einem Hechtsprung stürzte sie sich in das Gebüsch und ignorierte zwei weitere „Plopps“, die ihr Gehörgang als Warnung registrierte.

Dina brauchte einen Moment länger für die Verarbeitung der Geschehnisse auf dem Hof. Erst als sie Zaja rennen sah, wurde ihr der Ernst der Lage bewusst. Die Hoftür fiel zurück ins Schloss und lieferte ihr vorerst Schutz vor dem Heckenschützen. Sie entledigte sich ihres Gepäcks und zog ihre Waffe. Ein alberndes Spielzeug, mit dem sie nichts anfangen konnte. Ihr Blick fiel auf einen der Klappspaten, der an der Seite eines der Rucksäcke baumelte. Eine wahrlich bessere Alternative und so zögerte sie nicht lange, ihn gegen die Pistole als Bewaffnung einzutauschen. Sie musste also in den Nahkampf, wenn sie sich wehren wollte, aber ihr Angreifer war nicht so naiv seine privilegierte Stellung vor der Tür aufzugeben. Vielleicht konnte Zaja ihn ablenken, aber es war ungewiss ob und wenn ja wie schwer sie verletzt war. Blieb nur der Vorderausgang, aber auch der war bewacht. Dina schaute den langen Gang zur Vordertür entlang und plötzlich wurden ihr die Nachteile ihrer Position bewusst. Bis auf den Aufgang zur Treppe rechts, gab es keinerlei Deckung und sollte da wirklich jemand bewaffnet durch den Haupteingang kommen, bliebe ihr nur die leidige Wahl, von wem sie denn erschossen werden wollte.

Sie hatte die Hand schon auf dem Türknauf, als ihre Vernunft sie doch noch von dem törichten Vorhaben abhielt. Einfach ab durch die Hecke war kein wirklich guter Plan. Es musste schon viel zusammen kommen, damit ihr Vorhaben gelang und nicht im unweigerlichen Tod endete. Also drehte sie sich um und stürzte den Gang Richtung Treppenaufgang entlang. Auf der ersten Stufe presste sie ihren Rücken gegen die Wand und lauschte in den nun für sie uneinsichtigen Gang nach fremden Geräuschen. Als hätte sie ein Schwert, statt eines Spatens in der Hand, stand sie regungslos auf der Treppe und versuchte ihre Atmung unter Kontrolle zu bekommen.

Tatsächlich überlagerte ihr Japsen nach Luft alle anderen möglichen Geräusche in der Umgebung, also setzte sie einen Atemzug aus, um die Umgebung ungestört nach potentiellen Gefahren abzuhorchen. Sie kam zu keinem eindeutigen Ergebnis, ob sich da nun jemand im Hausflur an sie heranschlich oder nicht und erst die Logik ließ sie etwas entspannen. Ein öffnen der Türen, egal welche von beiden, hätte sie nie überhören können, auch wenn ihre pfeifende Lunge, alles andere derzeit übertönte. Sie beruhigte ihre Atmung und gerade in dem Moment, als sie ihre Pläne für eine doch noch erfolgreiche Flucht abwog, flog krachend die Vordertür auf.

Die berstende Tür kam nach ein paar Sekunden wieder zur Ruhe und eine unnatürliche Stille erfasste den Flur, so als hätte der Einbrecher es nur auf die Zerstörung des Eingangs abgesehen und war schon längs wieder über alle Berge, um andere Haustüren weit entfernt zu ruinieren. Eine trügerische Illusion, der Dina nicht einen Moment verfiel. Wie versteinert stand sie auf der untersten Stufe, hielt den Atem an und horchte auf verräterische Geräusche im Gang. War da etwas? Sie war sich nicht sicher und verstärkte ihre Konzentration, so als würde sie alle möglichen Ressourcen ihres Gehirns allein für das Hören bündeln. Wieder ein Geräusch, kaum wahrnehmbar. Keine Zweifel mehr, dass irgendjemand auf ihre Ecke zusteuerte. Extrem langsam und jeden Laut vermeidend. Wie nah war ihr Angreifer? Unmöglich einzuschätzen, ob einen Meter oder zehn Meter. Es war irrelevant, denn Dina war es nicht mehr lange möglich das Atmen zu unterdrücken. Sie startete ihren internen Countdown. Drei. Das letzte Geräusch schien verdammt nah. Zwei. War das ein Schatten, den sie aus ihren Augenwinkeln wahrnahm? Eins. Jemand wirbelte in ihr Blickfeld. Verdammt. Der Angriff ihres Gegners erfolgte zeitgleich mit ihrer Null. Er sprang förmlich um die Ecke, die Waffe im Anschlag und zu allem bereit. Dina hatte bereits ihren Körper Richtung Gang gedreht und der ursprüngliche Plan, den Spaten über ihren Kopf zu erheben, um ihn dann krachend auf ihren Angreifer niedersausen zu lassen, musste im Bruchteil einer Sekunde geändert werden. Sie nutzte die bereits gestartete Aufwärtsbewegung für eine spontane Richtungsänderung und das neue Ziel war jetzt der ausgestreckte Arm, der ihr praktischerweise punktgenau in die neue Flugbahn gehalten wurde. Wie ein Golfspieler, der nach dem Abschlag seinen Schläger ausschwingen ließ, traf sie sein Handgelenk von unten und verriss damit den geplanten Schuss. Für ihren Gegner blieb der Eindruck, als hätte Dina eine unnatürlich kurze Reaktionszeit, dabei hatte sie einfach nur schneller auf den unbeabsichtigten gemeinsamen Angriff reagiert.

Ein schmerzerfüllter Schrei hallte durch den Flur und beendete damit das Duell zu Dinas Gunsten. Die Pistole flog in hohem Bogen den Gang zurück und ein Schwall Blut folgte der gleichen Flugbahn um wenige Millisekunden zeitversetzt. Die Hand hing im unnatürlichen Winkel an dem Unterarm und der entsetzte Blick ihres Angreifers über die halbe Abtrennung eines seiner Gliedmaßen, war das eigentlich Erschreckende an der ganzen Szenerie. Der Spaten war zwar so scharf, dass er die Knochen des Gelenks durchtrennte, aber an den Sehnen und Bändern konnte die Schwungmasse abgefedert werden. Panisch griff er mit seiner unversehrten linken Hand zu und wie er da auf die Knie zusammengesackt saß, um krampfhaft die beiden Teile wieder zusammenzuführen, konnte sich Dina eines Anfluges von Mitleid nicht erwehren. Ein ungewohntes Gefühl, was sie in zahlreichen Auseinandersetzungen zuvor niemals verspürt hatte.

Es blieb nicht groß Zeit sich den ungewohnten Gefühlen zu stellen. Das Rütteln an der Hintertür brachte sie zurück in den Kampfmodus. Den blutigen Spaten über dem Kopf, näherte sie sich der Quelle der Ruhestörung. Zu ihrer Erleichterung war es nur Zaja, die lautstark um Einlass bat.

„Was ist mit dem Heckenschützen?“ fragte Dina nach dem öffnen der Tür.

„Schläft tief und fest.“ antworte Zaja kurz.

„Du hast ihn mit diesem Spielzeug erledigt? Glaube ich nicht.“ Dina schaute verächtlich auf die Betäubungspistole.

„Erinnerst du dich an die Kopfschmerzen, die der Helm verursacht hatte? Mir war klar, dass er auch so was aufhaben musste. Ich habe einfach eine zweite Granate in seine Richtung geschleudert und während er sich noch vor Schmerzen wand, habe ich ihn außer Gefecht gesetzt. Das Schlimme ist nur. Dieser Helm ist unsere Entwicklung. Cree-Technologie, die streng geheim ist. Wie zum Teufel ist er da ran gekommen?“ Zaja war sichtlich verärgert.

„Frag ihn doch einfach.“

„Er ist nur ein Handlanger. Der weiß nichts. Ich werde den Helm mitnehmen. Mal schauen, ob es ein Nachbau ist oder einer von uns.“ Zaja kramte eine Flasche mit lila Inhalt hervor und nahm einen großen Schluck.

„Er hat dich erwischt?“ fragte Dina.

„Nicht schlimm. Was ist mit ihm?“ Zaja deutete den Flur entlang, aus dem immer noch ein wehleidiges Wimmern vernehmbar war.

„Ein zukünftiger Linkshänder. Wir sollten einen Arzt rufen, sonst verblutet er uns.“

„Nicht mehr notwendig. Die Polizei wird gleich hier sein und sich um ihn kümmern. Wir müssen hier schnellstens verschwinden.“ Wie zur Bestätigung ihrer These, hörten sie Sirenen, deren Lautstärke ständig zunahm. Voll bepackt durchquerten sie den Hinterhof und verschwanden in der Nacht von Cree.

Zajas Plan war es, die Nacht in einem nahe gelegenen Park zu verbringen. Am nächsten Morgen hatte sie vor Eva und Eric vor ihrer Wohnung abzufangen und dann würden sie sich gemeinsam in den Dschungel begeben. Es galt also fünf Stunden zu überbrücken und da weder Dina noch Zaja wirklich müde waren, saßen sie auf einer der zahlreichen Bänke und schwiegen sich gegenseitig an.

„Erzähl mir von dir?“ brach Dina nach einer halben Stunde den unausgesprochenen Schweigepakt.

„Was?“ Zaja war sichtlich überrascht über Dinas Neugierde.

„Wir werden die nächsten Tage zusammen im Dschungel verbringen und ich würde gern wissen, mit wem ich es zu tun habe.“

„Was willst du denn genau wissen?“ fragte Zaja.

„Viele Dinge. Zum Beispiel, warum du nicht müde bist, nach so einer Heilaktion. Sentry hat es da jedes Mal ausgehebelt.“

„Wir sind die Cree. Wir haben mehr Kontrolle über das da oben.“ Sie tippte sich an die Stirn.

„Ich vergaß. Nächste Stufe der Evolution.“ Jetzt war es an Dina herablassend zu sein.

„Es ist eine Art Meditation, nur schneller und intensiver. Erschöpfung ist für uns kein Problem mehr. Auch Sentry weiß, wie er dahingehend seine Gehirnströme beeinflussen kann. Er hat es nur vergessen.“ Damit hielt Zaja die Konversation für beendet, aber Dina hakte nach.

„Mal abgesehen von der „Ich bin besser als du“ Geschichte, machst du mir einen weisen und gesetzten Eindruck. Wie alt bist du? 100 Jahre? 200 Jahre?“ fragte Dina.

„Ich bin 21.“ antwortete Zaja, als hätte sie Dina gerade persönlich beleidigt.

„21? Dann kannst du die Selbstheiler ja noch nicht lange haben.“

„Jeder Cree bekommt sie mit 20.“

„Jeder? Dann müsstet ihr ja eine wahnsinnige Überpopulation haben.“ Dina zweifelte an Zajas Worten.

„Ich bin die Jüngste der Cree.“ entgegnete sie traurig.

„Der Virus. Er tötet immer noch eure Nachfahren?“

„Wir können zwar auf natürlichem Wege nicht sterben, wir können uns aber auch nicht vermehren. Nur eine seltene genetische Kombination ermöglicht das Überleben eines Neugeborenen.“

„Verdammt, ihr seid doch clever. Ihr baut solche lustigen Helme und habt Nanobots weiter entwickelt. Da wird doch so ein bisschen Gentechnik kein großes Problem für euch darstellen.“

„Zu unserem Bedauern schon.“ Zaja klang niedergeschlagen.

„Wie viele Cree gibt es denn?“ fragte Dina.

„Ich könnte es dir sagen, aber dann müsste ich dich umbringen.“

„Wäre das nicht ein Verstoß gegen eure Richtlinien von überlegener Intelligenz?“ fragte Dina schnippisch.

„Gelegentlich machen wir da Ausnahmen.“ kam es drohend zurück.

„Schon gut. Aber eine Frage habe ich noch. Was passiert, wenn die Science sich eines Tages dazu entscheidet, euren schönen friedliebenden Planeten zu überrennen? Würdet ihre euren Prinzipien von Gewaltlosigkeit treu bleiben und euch abschlachten lassen wie Lämmer oder nehmt ihr eine Waffe in die Hand und verteidigt euer Hab und Gut?“

„Eine gute Frage. Dieses Dilemma beschäftigt uns schon die letzten 1000 Jahre und die Wahrheit ist, wir wissen es nicht. Zum Glück blieb uns diese Entscheidung bisher erspart. Wir haben etwas, was uns die Science vom Leibe hält. Sollten sie es schaffen Sentrys Gedächtnisblockade einzureißen, wäre das vermutlich hinfällig. Deswegen hat er oberste Priorität.“

„Würde gern wissen, was die Science in Schach hält, aber ich denke mal, dann müsstest du mich wieder umbringen. Vielleicht ist es daher ganz gut, dass Eva und ich bei der Rettungsaktion dabei sind, da wir keine politischen Absichten verfolgen.“

„Was meinst du?“ Zum ersten Mal in der Unterhaltung wich Zajas Tonlage vom gelangweilten Erklärungsstil ab.

„Eine Weitere dieser unangenehmen Entscheidungen, die den Cree vielleicht bevorsteht. Opfere ein Leben, um die der Anderen zu retten.“

„Wir töten nicht und schon gar nicht untereinander.“

„Natürlich nicht, aber gelegentlich macht ihr da Ausnahmen.“ setzte Dina den Schlusspunkt und verbuchte den Sieg im Rededuell.

Den Rest der Nacht verbrachten sie schweigend auf der Parkbank. Dina versuchte ein wenig zu schlafen, aber der Erfolg dieses Vorhabens hielt sich in Grenzen. Mehr als einen unruhigen Halbschlaf bekam sie nicht hin. Zaja dagegen versetzte sich in eine Art meditativen Zustand, jedenfalls war es das, was Dina vermutete. Keine einzige Bewegung war an ihr auszumachen, aber trotzdem schien sie die Umgebung mit ihren Gefahren nicht vollständig auszublenden. So verbrachten sie die Zeit bis zum Tagesanbruch und als die rote Sonne am Horizont aufging, erhoben sie sich voller Tatendrang und gingen die Straße zu Zajas Wohnung zurück.

Der Eingangstür zu ihrem Wohnhaus waren die Ereignisse der Nacht nicht anzusehen, jedenfalls nicht aus der Entfernung, aus der die beiden Frauen das Haus beobachteten. Noch war es früh am Morgen und keinerlei Menschen waren auf der Straße auszumachen. Erst als das Rot der Sonne in das übliche Tageslicht überging, füllten sich die Gehwege mit vereinzelten Passanten. Ein paar wenige Lasttransporter rollten über die Straßen und belieferten die kleinen Geschäfte, die zwischen den Häuserzeilen wie exotische Ausnahmen wirkten. Ein Ritual, was sich vermutlich jeden Morgen wiederholte und die Idylle von Cree untermauerte. Fasziniert beobachte Dina das Treiben und gerade als sie die Müllabfuhr bewunderte, die den fein säuberlich bereit gestellten Abfall einsammelte, bemerkte sie die beiden Personen, die sich wie Fremdkörper in dieser scheinbaren Zauberwelt bewegten. Angeregt diskutierend und ähnlich ungläubig wie Dina die scheinbar banalen Dinge beobachtend, näherten sie sich Zajas Wohnung. Unentschlossen blieben sie vor der kaputten Eingangstür stehen und in diesem Moment erreichten die beiden Frauen Eva und Eric.

„Na toll. Die einzige Bruchbude auf dem ganzen Planeten und genau da müssen wir hin.“ kommentierte Eric den jämmerlichen Zustand der Eingangstür. Die beiden Frauen in seinem Rücken hatte er noch nicht bemerkt.

„Ist trotzdem um Längen besser als deine Behausung auf Lassik.“ Dina freute sich aufrichtig Eva wohl behalten vor sich zu sehen. Sie war sich nicht sicher gewesen, ob ein anderes Agententeam auf die beiden angesetzt war.

„Euch geht es gut?“ begrüßte Eva die beiden Frauen und stand in Sachen Erleichterung Dina in nichts nach. Nach ein paar kurzen Willkommensfloskeln wandte Dina sich an Eric.

„Du bist also hier geblieben. Respekt. Hätte ich nicht gedacht. Wird hart dort draußen im Dschungel.“

„Das bisschen Natur wird mich schon nicht umbringen.“ verkündete Eric vollmundig. Drei weibliche Augenpaare waren jetzt auf ihn gerichtet und musterten seinen körperlichen Zustand. Wie prophezeit hatte er ein paar Kilo zugelegt, nachdem er der für ihn verringerten Schwerkraft permanent ausgesetzt war. Sichtlich verlegen soviel Aufmerksamkeit vom anderen Geschlecht zu bekommen, war er keiner weiteren Worte mehr fähig, also schien alles gesagt und die Gruppe schulterte ihre Rucksäcke, um sich in das Abenteuer von Cree zu stürzen.

Sie folgten der Straße, die irgendwann einfach endete und damit die Grenze zwischen Zivilisation und Dschungel darstellte. Die verwilderte Grünfläche vor ihnen ging nach und nach in dichtes Gestrüpp über, was dann nach etwa zweihundert Metern von größeren Ranken überwuchert wurde. Im Hintergrund waren die ersten Bäume auszumachen und bildeten ein scheinbar unüberwindbares Hindernis. Der eigentliche Dschungel lag majestätisch vor ihnen und erzeugte, jetzt da er greifbar nahe war, ordentlich Respekt bei den Erstbesuchern.

„Wow.“ Eric schluckte anhand des vielen Grüns vor ihm. Auf Lassik gab es zwar auch Wälder, aber auf Grund der Tatsache, dass er eigentlich nie die sichere Hauptstadt verlassen hatte, war jegliche Form von Natur Neuland für ihn. Er gönnte sich einen letzten Blick auf die Dächer der Stadt hinter ihm und folgte dann den Frauen ins Ungewisse.

Auch Dina zögerte kurz. Für sie lag unberechenbares Gelände vor ihr und die einzige Führerin, der sie da uneingeschränkt vertrauen musste, sah in ihr nichts anderes, als einen unterentwickelten Primaten, ohne den der Planet besser dran wäre. Zu allem Überfluss, sah sie die Hilfe der Gruppe in Sachen Sentry als nicht notwendig an und so fragte sich Dina, ob Zaja den Dschungel nicht als geeigneten Ort ansah, um unliebsamen Ballast zu entsorgen, natürlich alles im perfekten Einklang mit der scheinbar pazifistischen Einstellung der Cree. Die Vielfalt der Möglichkeiten in dieser Umgebung eine tödliche Entscheidung zu treffen war unendlich. Dina fiel die Mückengeschichte wieder ein, mit der Zaja damals Reds Kumpanen ordentlich verunsichert hatte.

„Gibt’s nicht wenigstens ein paar Verhaltensregeln, wie wir da drinnen unbeschadet durchkommen?“ fragte sie.

„Ihr wollt Regeln? Na gut. Nichts anfassen, nichts Unbekanntes essen, trinkt kein dreckiges Wasser.“ Zaja klang gelangweilt und hielt die Sache damit für erledigt.

„Wir brauchen da schon etwas mehr. Was ist zum Beispiel mit den Mücken, die einen von innen auffressen?“ fragte Dina.

„Iiiihh.“ kam es aus ihrem Rücken von Eric, der sofort stehen blieb.

„Die stürzen sich nur auf großmäulige Primitivlinge, die Frauen wie Dreck behandeln.“ sagte Zaja listig.

„Ein Bluff? Schön, das haben sie verdient, aber was erwartet uns wirklich hier drinnen?“

„Natürlich gibt es hier jede Menge giftige Reptilien und auch größere Raubtiere, die ein Stück zartes Menschenfleisch zu schätzen wissen, aber in der Regel meiden sie uns, solange sie nicht provoziert werden.“ Zaja ging unbeirrt weiter bis zum Waldesrand. Sie wartete bis die Gruppe aufgeschlossen hatte und blickte dann amüsiert in die Gesichter der Anderen. Nur Eva machte einen halbwegs fitten Eindruck. Eric und Dina pumpten ordentlich auf Grund der schweren Rucksäcke.

„Dort drinnen staut sich die Wärme. Ihr werdet also ordentlich ins Schwitzen kommen. Wasser ist reichlich vorhanden, aber ihr solltet auf mich hören, was ihr trinken könnt und was nicht. Folgt meinen Schritten und verlasst nicht den Pfad.“ Zajas Tonfall hatte die übliche Herablassung, aber jetzt schwang noch etwas anderes mit. Zufriedenheit darüber, endlich auf ihrer privaten Spielwiese angekommen zu sein und die vollkommene Kontrolle über die Gruppe zu haben. Alles in ihrer Umgebung war ihrer Gnade ausgesetzt und das schien sie in bessere Laune zu versetzen.

Sie kamen gut voran. Zaja schlug mit ihrer Machete eine Schneise in das scheinbar undurchdringliche Dickicht. Eric folgte ihr und hatte die beiden Frauen im Rücken, von denen Eva den Abschluss bildete. Das Tempo war nicht besonders hoch und so blieb Dina genug Zeit sich den Reizen des Dschungels zu widmen. Grün war natürlich das vorherrschende Merkmal, aber es gab genug Blumen, die mit ihren eigenen Farben einen wunderschönen Kontrast bildeten. Vor allen Dingen eine violette rosenähnliche Staude wuchs zahlreich um die vielen Baumstämme herum. Ein wirklich schönes Gewächs, das ihr zauberhaftes Ansehen dadurch wieder verlor, da sie sich eigenständig bewegen konnte. Die Blumen reagierten auf die Eindringlinge, indem sie ihre Stängel nach ihnen ausrichteten und ihnen die Blüten offen entgegenstreckten. „Horrorblumen“ taufte Eric die violette Rose und als sie auf einer kleinen Lichtung standen, umgeben von diesen Blumen, die alle ihre Stängel nach ihnen ausgerichtet hatten, als reagierten sie auf einen Magneten in ihrer Mitte, konnte Dina ein gewisses Unbehagen nicht leugnen. Nur die Ignoranz, mit der Zaja das Naturschauspiel bedachte, beruhigte Dina wieder.

„Hört ihr das?“ fragte Zaja, nachdem sie sich schon den halben Tag durch den Dschungel geschlagen hatten. Dina lauschte, aber sie konnte nichts Ungewöhnliches zwischen dem ganzen Vogelgezwitscher, dem Zirpen und einem Geräusch, was wie eine quietschende Gartentür klang, raushören. Es dauerte eine Weile, bis sie das Brummen als neuen Laut in der Geräuschkulisse des Dschungels ausmachen konnte.

„Was ist das?“ fragte Eva sichtlich nervös.

„Ein Wespennest. Ein paar Kilometer vor uns.“ Zaja war beunruhigt.

„Kilometer? Wie viele sind denn das?“ fragte Eric, der nicht glauben konnte, dass aus dieser Entfernung etwas zu vernehmen war.

„Wahrscheinlich nicht mehr als hundert. Normalerweise kommen sie in dieser Gegend nicht vor.“ Zaja legte ihre gleichgültige Haltung über den Dschungel ab, was alle Anderen ordentlich verunsicherte.

„Hundert? Hundert Wespen verursachen diesen Lärm in dieser Entfernung?“ Eric zweifelte an dem Wahrheitsgehalt ihrer Aussage.

„Das passt doch nie und nimmer. Es sei denn…“ Eric wurde kreidebleich.

„… sie sind faustgroß.“ beendete Zaja seinen Satz. Erics Schlucken war deutlich zu hören.

„Sind sie eine Gefahr für uns?“ fragte Eva.

„Diese Biester sind eine Gefahr für alles. Wir haben Ausrottungstrupps, die eine Ausbreitung in dieser Umgebung verhindern.“ sagte Zaja nachdenklich, als wäge sie ihre Optionen ab.

„Klappt ja hervorragend.“ Eric war sichtlich gestresst und bereute erstmals seine Entscheidung Eva in den Dschungel zu folgen, denn nichts anderes war der Grund für seine Anwesenheit.

„In der Brutpflege verlassen sie das Nest nur in einem gewissen Radius, da können wir es gefahrlos umgehen.“ Zaja wirkte, als hätte sie eine Entscheidung getroffen.

„Und? Sind sie in der Brutpflege?“ fragte Eric ängstlich auf die richtige Antwort hoffend.

„Spielt das eine Rolle? Wir müssen an dem Nest vorbei.“ Zaja schloss die Augen und konzentrierte sich auf das Brummen.

„Na klasse. Was macht sie denn jetzt? Will sie eins werden mit dem Dschungel?“ Eric stand kurz vor einer Panikattacke.

„Sie lokalisiert die ungefähre Lage des Nestes.“ erklärte ihm Eva, die ihn mit weiteren Worten versuchte zu beruhigen. Vorerst erfolglos.

„Von Todeswespen hat mir keiner was gesagt. Lass uns einfach zurückgehen und auf diesen Ausrottungstrupp warten.“ Eric klang schon fast flehentlich.

„Da entlang.“ Zaja öffnete die Augen, schnappte sich die Machete und begann eine Schneise in das Unterholz zu treiben.

„Komm schon.“ Eva schenkte Eric ein aufbauendes Lächeln. Das Erste soweit er sich entsinnen konnte, dass nicht mit irgendwelchen Gefallen verbunden war. Das hübsche Gesicht wurde dadurch enorm aufgewertet und ließ ihn die Wespen für einen Moment vergessen. Das zurückgezogene, verbitterte Mädchen schien mehr und mehr zu verblassen und machte Platz für dieses wunderbare Wesen, welches sich anschickte nicht nur äußerlich an Schönheit unübertrefflich zu werden. Keine Gefahr des Dschungels konnte Eric davon abhalten von ihrer Seite zu weichen und so akzeptierte er die getroffene Entscheidung.

Weitere vier Stunden kämpften sie sich durch den Dschungel, ohne dass das Brummen in Intensität zu oder abnahm. Als würden sie sich Millimeter genau in immer gleichem Radius um das Nest bewegen. Die Sonne ging langsam unter und als sich alle schon mit dem Schicksal abgefunden hatten im tiefsten Unterholz übernachten zu müssen, betraten sie eine Lichtung, die in der Abenddämmerung nicht einladender hätte wirken können. Tausende der violetten Rosen reckten ihnen ihre Stängel entgegen, als sie aus dem Dickicht traten. Auf ihre eigentümliche Art und Weise begrüßten sie die erschöpften Wanderer und boten ihnen eine geeignete Möglichkeit zur Übernachtung an.

„Hier sollen wir schlafen? In einem Feld voller Horrorblumen?“ Eric schaute panisch um sich, als er die nach ihm ausgerichteten Rosen misstrauisch begutachtete.

„Hast du jetzt schon Angst vor Pflanzen?“ Dinas Erschöpfung ging über in Reizbarkeit. Der ganze Tag hatte sie sichtlich mitgenommen und sie verfluchte ihre schlechte konditionelle Verfassung. Zaja kniete zwanzig Meter abseits und begutachtete etwas, was offensichtlich ihre Aufmerksamkeit erregt hatte. Dina ging zu ihr und mit jedem Schritt näher, wurde der beißende Gestank von Verwesung intensiver.

„Was war das?“ fragte sie, als sie den verrottenden Kadaver vor sich liegen sah.

„Ein Cree-Pferd. Gestorben vor drei bis vier Tagen durch einen Angriff der Wespen. Ich hatte Recht. Sie sind in der Brutpflege, nur sind wir innerhalb ihres Jagdradius. Sie füttern ihre Larven mit Fleisch und wir sind gerade auf ihr Büfett gestoßen.“ schlussfolgerte Zaja.

„Dann sollten wir hier verschwinden, bevor wir auch noch auf der Speisekarte landen.“ Dina konnte den Gestank kaum aushalten.

„Zu spät. Wir können froh sein, wenn wir vor der endgültigen Dunkelheit unsere Zelte aufgestellt bekommen.“

„Aber wenn die zurückkommen, um mehr Pferd für ihre Brut zu besorgen sind wir geliefert.“

„Nicht unbedingt. Es gibt Jagdwespen und es gibt Arbeitswespen. Letztere sind harmlos. Sie sammeln das mit Pheromonen markierte Fleisch ein und tun keinem was.“ Zaja klang fast so, als müsste sie sich selbst Mut zusprechen.

„Ach ja. Und wer sagt dir, dass die nicht ein paar Jäger im Schlepptau haben?“

„Wir haben keine Wahl. Wenn wir uns ruhig verhalten und jeglichen Lärm vermeiden, reagieren die auch nicht auf uns.“ Zaja wirkte wenig überzeugend.

„Wir sollen in unseren Zelten hocken, während die hier genüsslich das Pferd zerlegen?“ Dina war nicht begeistert von dem Plan.

„Pferd? Das ist doch nie und nimmer ein Pferd? Wenn schon, dann eher ein Pony.“ Eric hatte sich zu ihnen gesellt und brachte jetzt seine eigenen Theorien zu dem Kadaver zum Besten.

„Es ist vollkommen egal, was es war. Die Wespen sehen das als ihre Beute an und wir schlafen keine dreißig Meter entfernt in unseren Zelten.“

„Es ist wesentlich gefährlicher in der Dunkelheit im Dschungel rumzuirren. Wir bleiben.“ Damit wandte sich Zaja ab und in der Gewissheit, dass es niemanden gab, der ihr hätte widersprechen können, fing sie an ihr Zelt aufzubauen.

Zwanzig Minuten später hüllte sie die Dunkelheit vollends ein. Sich in einer wilden Umgebung zu befinden, ist am Tage schon eine enorme Herausforderung für einen Stadtbewohner, der Natur höchstens von ein paar Topfpflanzen kannte. Mit dem Verlust der optischen Orientierung und dem Gefühl, dem Dschungel damit hilflos ausgeliefert zu sein, bestand die Gefahr durch Angst getrieben mental zu überdrehen. Gerade bei Eric war unklar, inwieweit seine geistige Stabilität hielt. Zum Glück forderten die Anstrengungen des Tages ihren Tribut und kaum war sein Zelt aufgebaut, verfiel er seiner Erschöpfung. Das gleichmäßige Atmen verriet, dass er bereits schlief, als Dina sich ebenso bereit machte ihr Ruhelager zu nutzen. Nur Eva, mit ihrer besseren Kondition, war noch nicht bereit für Schlaf und so gesellte sie sich zu Zaja, die sie im Schein der Taschenlampe sitzend auf einem kleinen Felsen fand. Sie lauschte den Geräuschen des Dschungels, so als ob sie auf der Suche nach etwas Ungewöhnlichen war.

„Unheimlich. Kein einziger Mond und dann dieses permanente Brummen. Ich weiß nicht, ob ich die Nacht ruhig schlafen kann.“ begann Eva die Konversation. Da keine Frage dabei war, sah sich Zaja nicht gezwungen etwas zu erwidern.

„Wir Stadtbewohner müssen euch doch sicherlich furchtbar dumm hier draußen vorkommen.“ versuchte es Eva immer noch mit allgemeinem Palaver.

„Es sind nicht die Stadtbewohner, die dumm sind. Es sind die Menschen.“ Zaja konnte nicht widerstehen ihre Abneigung erneut kund zu tun.

„Du magst uns nicht. Kann ich verstehen, aber wir sind nicht alle schlecht.“ verteidigte sich Eva halbherzig.

„Ihr seid Egoisten. Ihr versteht nicht das wahre Geschenk des Lebens.“ Zaja verfiel sofort wieder in diesen herablassenden Tonfall.

„Ich war auch mal so wie du.“ ignorierte Eva ihre Arroganz.

„Pühh. Sicher nicht.“

„Doch wirklich. Ich schaute herab auf die anderen Menschen, weil sie nicht so waren wie wir. Ihr nennt es Evolution, wir nannten es den „Pfad der Erleuchtung“. Dieses unglaubliche Gefühl, dass die eigene Existenz mehr wert ist, als alle anderen, die sich nicht an die Regeln halten. Alles mit der Ausrede, dass mein Leben sinnvoll und erfüllt ist. Keine leere Hülle, die ihr Dasein mit der Anhäufung von Jetons verschwendet. Es gab mir Sicherheit und Selbstvertrauen die Ungläubigen zu verteufeln.“ Eva machte eine Pause und trotz der vollkommenen Finsternis bemerkte sie erstmals so etwas wie Aufmerksamkeit in Zajas Reaktionen.

„Es war eine schöne Zeit, in der ich unbeirrt glauben konnte. Alles war so einfach und es gab keine Zweifel. Ich war perfekt und die anderen waren fehlerhaft. Eine einfache Formel fürs Leben.“ Eva schwelgte förmlich in Erinnerungen.

„Klingt nach dem Paradies. Was ist passiert?“ Zaja war sichtlich interessiert.

„Der Unerschütterlichkeit des Glaubens ist ein Privileg der Jugend, sagte mir mein Philosophielehrer. Erst jetzt weiß ich, was er damit meinte. Ich fing an zu zweifeln und kam unweigerlich an den Punkt, an dem ich mich entscheiden musste.“ Sie klang wehmütig.

„Du hast deine Überzeugungen aufgegeben?“

„Ich bereue es nicht. Die Alternative wäre schrecklich gewesen. Es gibt nichts Schlimmeres, als eines Tages zu erwachen und sich bewusst zu werden, dass dein ganzes bisheriges Leben ein Fehler war. Also zog ich die Notbremse.“

„Ich habe keine Zweifel.“ beruhigte sich Zaja selbst.

„Die werden mit Sicherheit kommen. Ich hoffe für dich, dass du keinen kompletten Neustart wie ich hinlegen musst. Ein paar Anpassungen vielleicht, bevor deine Vorurteile ein Teil der Überzeugung werden und Cree könnte für dich das Paradies werden, was mir versagt blieb.“ Eva lächelte sie jetzt aufrichtig an, schon das zweite Mal an diesem Tag. Es tat ihr gut, war es doch ein weiterer Schritt weg von den Nachwirkungen des Tempels.

„Sie kommen.“ scheinbar ohne Zusammenhang und in einem besorgten Tonfall, der so gar nicht zu ihrem Thema passte, brachte Zaja die Worte hervor. Eva registrierte, dass die Lautstärke des Brummens deutlich zugenommen hatte.

„Keine Bewegung und kein Laut mehr.“ flüsterte Zaja leise. Eva hatte Mühe die aufkommende Panik zu unterdrücken. In absoluter Dunkelheit einem Schwarm Todeswespen ausgesetzt zu sein, fiel es ihr schwer, dem Drang schreiend wegzurennen nicht nachzugeben. Das Brummen war jetzt überall und die jetzt deutlich zu unterscheidenden Quellen wiesen auf große Flügel hin. Es kam von rechts, links, aus der Richtung der Zelte, aber vor allen Dingen vom verwesenden Kadaver etwa zwanzig Meter vor ihnen. Nichts war zu erkennen, als wäre sie blind an einem herrlich warmen Sommertag. Eva konzentrierte sich auf ihre anderen Sinne und tatsächlich verspürte sie den Lufthauch eines Flügelschlages, der mit enormer Geschwindigkeit seine eigene Note im Brummkonzert beitrug. Dieses Insekt war sicherlich keinen Meter von ihr entfernt und es kostete sie enorme Anstrengung, den Arm nicht zu erheben, um die lästige Wespe mit wedelnden Handbewegungen zu verscheuchen.

Dreißig Minuten saß Eva regungslos da und horchte auf die Geräusche in ihrer unmittelbaren Umgebung. Mehr als einmal waren die Biester zum greifen nah und gleich mehrfach umkreisten sie ihren verkrampft sitzenden Körper, um sicher zu gehen, dass die beiden Frauen nur uninteressante Objekte im riesigen Dschungel waren. Nach einer scheinbar unendlichen Zeitspanne verschmolzen langsam die einzelnen Brummtöne wieder zu einem leisen Hintergrundgrummeln und als Eva merkte, dass Zaja neben ihr sich wieder entspannte, wagte es auch sie sich vorsichtig zu bewegen.

„Wow.“ Erst jetzt registrierte Eva ihren rasenden Puls. Zaja neben ihr dagegen schien die Ruhe selbst. Das ratschen eines Reisverschlusses gesellte sich zu den jetzt beruhigend wirkenden Geräuschen des Dschungels. Dina war im Schein der Lampe erkennbar, die gerade aus ihrem Zelt kroch und tief durchatmete.

„Das war mal was. Zum Glück blieb unser nervöser Freund ruhig bei der ganzen Vorstellung.“ Dina war immer noch aufgekratzt. Eva ging zu Erics Zelt rüber und lauschte auf seine Atemgeräusche. Tatsächlich hatte der das ganze Schauspiel verschlafen. Erleichtert die Sache so glimpflich überstanden zu haben, entspannte sich Eva etwas. Verrückt. Gefühlte tausend Wespen in Schuhkartongröße schwirrten um sie herum und sie hatte nicht eine gesehen. Ein Makel in der Geschichte, die sie vorhatte ihren Enkeln zu erzählen.

Die weitere Nacht verstrich ereignislos. Die Lufttemperatur schien trotz Ermangelung der Sonne nicht abzukühlen und erschwerte das Schlafen ungemein. Dina wälzte sich auf ihrer Matte und sehnte den Tagesanbruch herbei. Ihre geschundenen Muskeln trugen ihren Teil zur Schlaflosigkeit bei und gaben einen Ausblick darauf, was sie an Strapazen am nächsten Tag zu erwarten hatte. Chaos herrschte in ihren Gedankengängen, die abwechselnd bestimmt wurden von Red, Todeswespen und Fantasien über das ungewisse Schicksal von Sentry. Im Fegefeuer zwischen Schlaf und Bewusstsein hatte ihre geschundene Seele die perfekte Plattform, um scheinbar unwichtige Aspekte ihres inneren Zustandes in den Vordergrund zu schieben. Ganz oben auf der Liste stand Sentry und ihre Beziehung zu ihm. Sie waren über den Status einer Zweckgemeinschaft hinaus, aber wo sie sich befanden, war beiden unklar gewesen. Sein Interesse an ihr war unübersehbar, aber Dina konnte unterscheiden zwischen körperlichem Verlangen und wahrer Zuneigung. Ihre sexuelle Außenwirkung auf Männer war ein Fluch, dem sich auch Sentry nicht entziehen konnte. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, als sich die Erinnerung aus Erics Laden in den Vordergrund schob. Damals, nach der geglückten Flucht von Prem, frisch geduscht und eingepackt in sauberen Kleidern, mit einem Selbstbewusstsein, das Stahl verbiegen konnte, hatte sie Sentry diesem Fluch ausgesetzt und seitdem war er ihr hoffnungslos erlegen. Gegenüber den zahlreichen anderen Männern, denen sie auf diese Art und Weise den Kopf verdrehte, schmeichelte ihr das offensichtliche Interesse und sie vermied es Sentry mit ihren Reizen zu manipulieren, um den einzigartigen Zauber nicht zu kontaminieren. Über den wahren Grund war sie sich selbst nicht sicher, aber nachdem ihr Sentry erneut die Vertrauensfrage stellte und sie zum zweiten Mal Red als einzigen Grund für ihre Begleitung vorschob, war ihr Verhältnis in diesen Schwebezustand geraten, der beide nicht wirklich zufrieden stellte. Sie fühlte sich verantwortlich dafür und hatte den Drang, die Sache endgültig zu klären. Einen ersten viel versprechenden Versuch startete sie auf Yuma-Prime, als sie ihn in die radioaktive Wüste verabschiedete. Die folgenden Ereignisse rissen das zarte Fundament aber sofort wieder ein und das unerwartete Auftauchen von Red, ließ sie in die alt bekannten Muster zurückfallen. Allein um dieses emotionale Ungleichgewicht wieder auszugleichen, war es wichtig Sentry wieder zu sehen.

Mit diesen quälenden Gedanken, erlebte sie die ersten Sonnenstrahlen des Tages, die die Zeltplane grün schimmern ließ. Froh sich endlich dem Ringen um Schlaf nicht weiter stellen zu müssen, kroch sie ins Freie und sah Zaja, wie sie ihre Frühstücksration Kalorien in Form einer roten Flasche zu sich nahm. Kurze Zeit später tauchten auch Eva und Eric, der über das Verpassen ihres nächtlichen Besuches leicht verwundert schien, aus ihren Zelten auf. Eine kurze Morgentoilette und einen tiefen Schluck aus ihren Kaloriengetränken gönnte ihnen Zaja, dann trieb sie die Gruppe an, sich wieder auf den Weg zu machen.

Gegen Mittag erreichten sie einen kleinen See, den Zaja als Orientierungspunkt benötigte auf den Weg zu ihrem Volk. Kein Brummen war mehr zu vernehmen, also hatten sie das Nest erfolgreich umgangen. Sie gönnten sich eine kleine Pause und ließen sich am Ufer nieder. Dina und Eric hatten sichtlich Probleme ihre Muskulatur nicht zu überlasten, was Letzterer nicht Müde wurde zu bejammern. Gelegentlich schaffte es Eva ihn zu beruhigen und wenn sie doch versagte, mussten die Wunder des Planeten herhalten. Am erfolgreichsten war da ein Fisch, der katapultartig an seinem Kopf vorbei flog, keinen halben Meter neben ihm landete und mit seinen zwei dutzend kleinen Beinen, die da schön aufgereiht aus seinem Unterleib ragten, mit einer ihm nicht zugetrauten Geschwindigkeit im Unterholz verschwand. Erics Erstaunen hielt leider nicht lange, aber wenigstens wurde das Jammern durch wilde Theorien über das Halten des Gleichgewichts dieses kleinen Tieres ersetzt und konnte wohl wissend ignoriert werden.

Ihr Weg führte sie am Ufer entlang, vorbei an schilfartigen Gewächsen, die in verschiedenen Farben an der Wasserkante ihre Wurzeln wahlweise im Schlamm oder in im trockenen Sand des Strandes hatten. Kleine Insekten bevölkerten die Seeoberfläche in Ufernähe und wurden des Öfteren Beute einer entenähnlichen Kreatur, die mit ihrem breiten Schnabel das Wasser literweise in sich hineinschaufelte. Fische waren erkennbar, die, wenn sie nicht gerade an Land sprangen, ihre Mäuler aus dem See reckten, um an notwendige Atemluft zu gelangen. Die ganze Umgebung steckte voll vielfältigem Leben und selbst alle technischen Tricks der Vorfahren hätten nicht diese Kreativität an Aussehen, Benehmen und Farben der Artenvielfalt hervorgebracht. Die Natürlichkeit dieser Welt beeindruckte die Besucher.

„Gibt es eigentlich auch größere Tiere.“ fragte Eva neugierig, als ein kleines Nagetier mit dreifachem Schwanz zwischen ihren Füßen flitzte.

„Die Großen sind fast alle Reptilien. Säugetiere sind eher klein. Wir kennen aber auch nur ein Bruchteil der Lebewesen von Cree.“ Zaja verzichtete zum ersten Mal auf Langeweile oder Arroganz in ihren Erklärungen.

„Ihr habt hier Dinosaurier? Meine Lieblingsfabelwesen. Zwanzig Meter groß, mit Hälsen, die höher als die Baumkronen reichen, um auch die saftigsten Blätter zu erreichen.“ Eric war begeistert im Ausblick auf solche Kreaturen.

„Na ja sie sind nicht ganz so groß, mit eher schmächtigen Hälsen und ihr Appetit auf Blätter ist eher begrenzt.“ Eric gegenüber verfiel sie wieder in ihr gelangweiltes Muster.

„Oh. Ihr habt also die bösartige Variante, die Fleischfresser.“ Eric schaute sich panisch um, als könnte genau in diesem Moment der Erkenntnis, einer dieser Dinosaurier aus dem Gebüsch springen, um ihn zu verspeisen.

„Es gibt nichts Bösartiges auf diesem Planeten. Alles hat einen Sinn und ein Recht auf Leben. Wir Cree akzeptieren jedes einzelne Lebewesen und leben mit ihm im Einklang der Natur.“ Zajas Stimme wechselte jetzt von Langeweile zu Oberlehrer.

„Ach ja? Deswegen zerstört ihr vermutlich auch die Wespennester.“ Das hatte gesessen. Im Duell um mehr Arroganz hatte er seinen ersten Sieg erreicht. Zaja vermied eine geeignete Erwiderung und bestrafte ihn stattdessen mit Ignoranz. Schweigend folgte sie dem Uferverlauf des Sees und es war ihr deutlich anzusehen, dass es ihr egal war, ob die Gruppe ihrem Tempo folgen konnte oder nicht. Bis Sonnenuntergang gab es keine einzige Pause mehr und als Eric sich vollkommen erschöpft am Strand ihres geplanten Nachtlagers niederließ, war ihr die Genugtuung, über ihre Art der Vergeltung deutlich anzusehen.

„Mussten wir denn so hetzen?“ Eric war die Anstrengung ins Gesicht geschrieben und da er die letzte Stunde kein einziges Wort des Wehklagens von sich gegeben hatte, schien er wirklich am körperlichen Limit angekommen zu sein.

„Bedanke dich bei den Wespen.“ antwortete Zaja zweideutig und ließ damit offen, ob sie die Zeitverzögerung oder Erics abfällige Bemerkung über ihren Respekt allen Lebens meinte. Dieser hatte sich schon eine Bemerkung für die nächste Runde Arroganz mit ihr zu Recht gelegt, als er merkte, dass sie im Begriff war sich vollständig zu entkleiden.

„Was denn jetzt?“ fragte er sich stattdessen und starrte regungslos Richtung See. Das orange Licht der untergehenden Sonne glitzerte auf der Wasseroberfläche und verlieh ihrem perfekten Körper den passenden Hintergrund zu dem gerade ablaufenden Szenario. Elfengleich schritt sie in das Wasser und versetzte nicht nur den See in Unruhe. Gebannt folgte Eric jeder ihrer Bewegungen und da das Licht der untergehenden Sonne ihre dunkle Haut nur schemenhaft abzeichnete, sorgte seine überschäumende Fantasie für die nötige Portion Übertreibung.

„Zeit sich ein wenig zu säubern.“ hörte er Eva rechts von sich, immer noch den Blick Richtung See gerichtet. Zaja schwebte nun rücklings auf der Wasseroberfläche und genoss sichtlich den entspannenden Zustand. Diese Position bot nicht viel Raum für Erics Fantasien, also drehte er seinen Kopf nach rechts, in der Hoffnung auf eine Wiederholung der ganzen Prozedur in blond. Eva hatte sich zwar auch ihrer Hosen und ihrer Bluse entledigt, aber damit beließ sie es auch. In Unterwäsche, mit einem Stück Seife und einem Lappen in der Hand, ging sie ans Ufer und fing an sich ausgiebig zu waschen. Ihre Bewegungen waren im Gegensatz zu Zajas gottgleichen Betonungen ihrer Vorzüge eher linkisch, so als würde sie wirklich nur darauf aus sein, ihre dreckige Haut zu waschen.

„Nette Vorstellung, die die Mädels dir da liefern. Vielleicht hast du ja Glück und sie küssen sich, wenn sie aus dem Wasser steigen.“ Dina war jetzt an seiner Seite und amüsierte sich über Erics unverholende Neugierde.

„Ich … Ähh, ich wollte nicht…“ fühlte der sich ertappt.

„Keine Panik. Sie werden nicht gleich über dich herfallen.“ witzelte Dina weiter und traf damit einen empfindlichen Nerv bei Eric.

„Ach ja. Du glaubst wohl ich hätte keine Chance bei ihnen. Ich habe viele Frauen wie sie gehabt.“ schleuderte er ihr wenig glaubhaft entgegen.

„Weißt du, was dein Problem ist. Nicht deine arrogante Art oder dein nerviges Wissen über jeden Schaltkreis, der irgendwann mal gebaut wurde. Es ist deine Angst. Frauen riechen die und damit blenden die dich aus, als möglichen Bettgefährten. Wer will sich schon jemanden in die Kiste holen, der so voller Unsicherheit steckt.“ Für Dina schien die Sache damit erledigt, aber Eric sah seine Chance gekommen.

„Zehn Kilo. Erinnerst du dich. Zehn Kilo in acht Wochen war die Wette. Schau mich an. Ich habe höchstens zwei oder drei zugenommen. Damit habe ich die Wette gewonnen.“ Seine Stimme überschlug sich fast vor Triumph.

„Na gut. Du hast gewonnen. Das macht mich trotzdem nicht zu deinem Betthasen.“ Dina wusste nicht so Recht, worauf er hinaus wollte.

„Quatsch. Als ob ich das wollte.“

„Was dann?“ Dina blieb skeptisch und Eric rang um die richtigen Worte. Dabei verpasste er auf Grund der Konzentration, wie sich Zaja aus den Fluten erhob und dem Publikum an Land ihre perfekten Brüste präsentierte.

„Mein Umgang mit Frauen ist…“ Eric suchte das richtige Wort.

„Herablassend? Naiv? Schüchtern?“ vollendete Dina gleich mehrfach und zog sich den Zorn von Eric zu.

„Ja ja, wie auch immer. Jedenfalls brauch ich da Hilfe.“ Sein Blick fiel auf Eva, die immer noch jede Form von Erotik vermeidend, sich mühsam wusch.

„Ist ja süß. Du willst ihr Herz erobern.“ erwiderte Dina grinsend.

„Nein. Ich …“ wieder fehlten ihm die Worte.

„Schon gut. Ich werde dir mit ein paar Tipps helfen, wenigstens ein paar Pluspunkte bei ihr zu sammeln. Für die ganz große Liebe wird es wahrscheinlich nicht reichen.“ versicherte ihm Dina ungewohnt ernst. Erics Blick verweilte immer noch auf Eva und wie es jetzt schien, mit etwas mehr Hoffnung.

„Verdammt.“ entfuhr es ihm, als er Zaja, jetzt wieder vollkommen bekleidet, auf sie zusteuern sah. Dina grinste nur auf Grund seiner verpassten Möglichkeit sie von vorne zu begutachten.

Die Gruppe machte sich daran, die Zelte zu errichten und als die Sonne endgültig untergegangen war, herrschte im Vergleich zum Vorabend keine vollkommene Finsternis. Was auch immer da im Gewässer vor ihnen herum schwamm, es hatte die Fähigkeit im Dunkeln zu leuchten. Die Wasseroberfläche wurde in ein sanftes blau gefärbt und das Lagerfeuer, was sie diesen Abend gefahrlos entfachen konnten, verstärkte die vorherrschende Atmosphäre eines entspannten Campingurlaubes. Schweigend saßen die vier um das Feuer und gaben sich ihren Gedanken hin. Die Geräusche des Dschungels verloren ihre Intensität mit zunehmender Zeit und irgendwann waren nur noch vereinzelte Vögel und das Quietschen der Gartentüre zu vernehmen. Sichtlich entspannt, gab sich die Gruppe der Freiheit der Natur hin, bis Einer nach dem Anderen in seinem Zelt verschwand und sich friedlich dem erholsamen Schlaf ergab.

Evas Schlaf war wohl nicht so fest, wie sie es sich erhofft hatte. Mitten in der Nacht schreckte sie hoch und war sie sich anfangs nicht wirklich sicher, ob sie durch ein Geräusch geweckt wurde, verriet ihr ein gequältes leises „Nein“ innerhalb ihres Lagers, dass sie sich nicht getäuscht hatte. Irgendjemand kramte panisch in einem ihrer Rucksäcke. Eva war sofort munter und lauschte regungslos auf weitere Geräusche, die verrieten, um wen es sich bei dem nächtlichen Ruhestörer handeln könnte.

Nach ein paar weiteren Flüchen konnte sie ausmachen, wer da panisch nach etwas in ihrem Gepäck suchte. Zaja, kombinierte sie folgerichtig und kroch angespannt aus ihrem Zelt. Das Feuer war mittlerweile soweit runter gebrannt, dass sie innerhalb des Lagers nicht viel erkennen konnte. Erst die Taschenlampe gab Aufschluss über die Ereignisse und die waren besorgniserregend. Zaja lag, vor Schmerzen krümmend, vor dem ausgeschütteten Inhalt ihres Rucksacks. Ihr leises Stöhnen war kaum zu vernehmen, so als ob es ihr peinlich wäre, dass der Rest der Gruppe ihre missliche Lage bemerken würde.

„Was ist los?“ fragte Eva und erst jetzt bemerkte sie, wie Zaja ihre Hände auf dem Bauch gedrückt, gegen irgendetwas in ihrem Inneren ankämpfte.

„Ich brauche das Armband. Schnell.“ drückte Zaja gepresst hervor und versuchte sich wieder ihrem Rucksack zu widmen. Ein weiterer Anfall von Schmerzen unterband ihre Pläne. Nicht begreifend was hier gerade passierte, ließ Eva den Strahl der Taschenlampe über die verstreuten Sachen wandern.

„Sie greifen es an. Ich darf es nicht verlieren.“ flehte sie Eva an, die ihre Suche beschleunigte.

„Was denn verlieren?“ fragte Eva, um sie von den Schmerzen abzulenken. Vergeblich. Panisch intensivierte sie die Suche und fand schließlich das Armband, welches sie Zaja vor die Nase hielt.

„Ist es das?“ fragte sie mit sichtlicher Angst in der Stimme.

„Einschalten. Schalt es ein.“ forderte Zaja. Eva fand einen eingelassenen Druckknopf im Innenring des Armbandes und drückte ihn vorsichtig. Ein kurzes Vibrieren war zu vernehmen, ansonsten war keinerlei Veränderung zu erkennen.

„Was jetzt?“ Obwohl es nur einen Knopf gab, hatte Eva das Gefühl etwas verkehrt zu machen.

„Leg es mir an.“ Unter schier unmenschlicher Anstrengung, reckte Zaja ihr den Arm entgegen. Eva tat, was sie verlangte und als sich das Band um ihren Arm legte, brach Zaja endgültig zusammen.

Unschlüssig über ihr weiteres Vorgehen, saß Eva einfach nur da. Sollte sie die Anderen wecken? Sie war sich unsicher, denn Zaja schien es nicht mal Recht gewesen zu sein, dass Eva ihren erbärmlichen Zustand mitbekam. Was immer auch hier passiert war, schien eine Privatangelegenheit zu sein. Sie widerstand der im Tempel angezüchteten Angewohnheit, jede noch so kleine Unzulänglichkeit der Gemeinschaft zu melden. Also tat sie vorerst gar nichts und wartete darauf, dass Zaja wieder zu sich kommen würde.

Diese hatte sichtlich Mühe ihr Bewusstsein wieder zu erlangen und dass trotz der Nanobots. Zu oft hatte sie bei Sentry oder Balta die Rückkehr aus einer Ohnmacht miterlebt, so dass sie in etwa wusste, wie die ganze Sache ablaufen würde. Bei Zaja schien ordentlich was schief zu laufen, denn ihr Körper weigerte sich die Prozedur durchzuführen. Was, wenn die Ursache für ihre Magenkrämpfe die Bots waren? Sind sie durchgedreht und wenn ja, warum? Eva leuchtete auf das Armband, was oberflächlich betrachtet, wie ein gewöhnliches Schmuckstück aussah. Sie wusste, dass da Technik drin war. Technik, die die wilden Bots besänftigte? Sie richtete den Strahl wieder auf Zajas Gesicht und merkte erst jetzt, dass ihre Augen bereits geöffnet waren.

„Wie geht es dir?“ fragte sie. Zaja verzichtete vorerst auf eine Antwort und fuhr sich mit beiden Händen über den Bauch. Die Panik in ihrem Gesicht schien in Erleichterung umzuschlagen.

„Was ist denn passiert?“ fragte Eva jetzt.

„Sie haben mich angegriffen. Viel zu früh.“ Zaja war noch nicht hundertprozentig zurück und so klang ihre Aussage nicht nur auf Grund des fehlenden Kontextes ziemlich wirr.

„Die Selbstheiler? Warum sollen die dich angreifen?“ Zaja richtete sich jetzt auf und ging in den Schneidersitz über. Sie schloss ihre Augen und konzentrierte sich. Zehn Minuten meditierte sie und Eva gab ihr die Zeit, um sich vollends wieder zu erholen.

„Es ist alles in Ordnung. Ihm ist nichts passiert.“ öffnete Zaja die Augen und wandte sich an Eva.

„Ihm? Du bist schwanger?“ fragte diese ungläubig.

„Die Bots folgen nur ihrem Programm. Der Körper darf sich nicht verändern, weder durch Wunden, Krankheit oder Schwangerschaft. Alles wird in den ursprünglichen Zustand zurückversetzt.“ erklärte Zaja.

„Sie wollten es abtreiben? Ich nehme mal an, dieses Armband verhindert es.“

„Es erzeugt ein Dämpfungsfeld, welches die Bots außer Betrieb setzt.“ Zaja wirkte verlegen, so als hätte sie etwas Dummes gemacht und wurde nun gezwungen sich zu entschuldigen.

„Danke. Ohne dich hätte ich es verloren.“ Worte die ihr sichtlich schwer fielen.

„Alles, was ich über eure Nachfahren gehört habe, sind die Nanobots eurer geringstes Problem.“ Eva war sich nicht sicher, ob diese Bemerkung emphatisch angemessen war, daher war sie gespannt über Zajas Reaktion.

„Du meinst den Virus? Nur ein Kind von ca. zweitausend überlebt die Geburt.“ Zaja klang deprimiert.

„Das tut mir Leid.“ Eva war geschockt.

„Fast tausend Jahre Genforschung haben es nicht geschafft die Ursache für den Tod zu finden. Was uns bleibt, ist dieses Verhältnis zu verbessern.“ Zaja klang jetzt geheimnisvoll, so als wollte sie das Thema nicht weiter vertiefen.

„Was?“ fragte Eva, die aus den Worten nicht schlau wurde.

„Stell dir vor, du hast unzählige Kisten mit Millionen von Früchten. Du weißt, nur eine von zweitausend Früchten ist genießbar und die Wahrscheinlichkeit ist sehr hoch, dass du dir den Magen verdirbst. Einigen von diesen Früchten siehst du es an, dass sie verdorben sind, aber die meisten unterscheiden sich nicht von den Guten. Du willst nicht verhungern, also musst du experimentell vorgehen. Du probierst Früchte nach verschiedenen Merkmalen und testest zum Beispiel übermäßig viele rote oder eher die Weichen darauf, ob sie verträglich sind. Je mehr du probierst, umso besser lässt sich anhand bestimmter Merkmale eine Zuordnung treffen. Mit mathematischen Modellen kannst du deine Chancen Stück für Stück erhöhen, wirst aber nie die hundertprozentige Sicherheit auf einen Treffer haben. Die Statistik ist in dem Fall dein Freund, denn je mehr Früchte du untersuchst, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit auf Erfolg.“ Zaja machte eine kurze Pause.

„Nun stell dir vor, du bekommst nur eine dieser Kisten mit genau zweitausend Früchten. Funktioniert dein mathematisches Modell noch? Mit Sicherheit, aber jetzt ist die Statistik ein Blender. Im schlimmsten Fall hast du zweitausend verdorbene Früchte und die Magenverstimmung ist dir gewiss. Im anderen Fall hast du mehrere gute Früchte in deiner Kiste und das erhöht sogar deine Wahrscheinlichkeit auf Erfolg. Mit den Genen ist das nicht viel anders. Unsere Forscher haben es geschafft, bestimmte schlechte Merkmale zu ergründen. Nun brauchten wir bloß noch Jemanden, der sie garantiert aussortiert, um die Chancen auf eine Magenverstimmung zu verringern.“

„Die Bots. Sie sortieren das schlechte Genmaterial in deinem Körper aus.“ erleuchtete sich Eva selbst.

„Mit den Bots liegst du richtig, aber die weiblichen Eizellen sind begrenzt. Bei den Männern ist die Variantenvielfalt größer. Sie haben die Bots, die entscheiden, was garantiert schlecht ist.“

„Da jede Kiste unterschiedlich ist, gibt es vermutlich Männer, bei denen keine einzige Frucht gut ist.“ kombinierte Eva.

„Ja. Verdammte Statistik. Im Durchschnitt war der See nur 20cm tief und trotzdem ist die Kuh ertrunken. Es gibt aber auch die Ausreißer in die andere Richtung. Wir erkennen das an der Anzahl des aussortierten Materials. Um bei dem Beispiel mit der Kiste zu bleiben. Werden durch unser Modell nur wenige Früchte aussortiert, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sehr viel Gute dabei sind.“

„Trotzdem ist vieles unbestimmt. Ein hohes Risiko bei menschlichem Leben.“ Eva ging die Geschichte in Gedanken noch mal durch und obwohl ihre Mathematikfähigkeiten äußerst begrenzt waren, wurde sie sich bewusst, dass selbst unter besten Bedingungen einen Überleben des Babys bei höchstens 10% lag. Jeder Zehnte war deutlich besser, als nur jeder Zweitausendste. Trotzdem war die Quote erschreckend niedrig. Ihr war es wichtig, ein paar aufbauende Worte an Zaja zu richten.

„Ich wünsche euch alles Gute. Wer ist denn der werdende Vater?“ fragte sie.

„Du kennst ihn. Es ist Sentry.“

 

 

Kapitel 10

Evas Versuch zurückzukehren in die heile Welt des Schlafes schlug anhand der vielen neuen Informationen fehl. Das Volk der Cree tat ihr Leid. Obwohl sie sich selbst nie mit einer Mutterschaft auseinander gesetzt hatte, konnte sie gut nachvollziehen, dass eine Gesellschaft ohne Kinder einen erheblichen Makel hatte. Ein wesentlicher Bestandteil des Zusammenhaltes fehlte, wenn keine gemeinsame Brutpflege möglich war. In der Beziehung unterschieden sich Menschen da kaum von den Riesenwespen oder von anderen Lebewesen, die so zahlreich den Dschungel bevölkerten. Das freudige Ereignis einer Schwangerschaft war für die Cree zu einem traurigen Risiko über die Lebensfähigkeit ihres eigenen Nachwuchses verkommen. Eva konnte sich die Ungewissheit und die Angst von Zaja gut vorstellen, denn erst ab dem vierten Schwangerschaftsmonat konnte ermittelt werden, ob sie in der Lotterie der Gene einen Treffer gelandet hatte. Mit Grausen dachte sie an die vielen Abtreibungen innerhalb der Cree, die notwendig wurden, weil der Griff in die Obstkiste daneben ging. Sie verkniff sich die Nachfrage, ob Sentry als Vater eine hohe Wahrscheinlichkeit beim Überleben seiner Kinder besaß, zu sehr drückte diese Thematik auf ihr eigenes Gemüt. Sie mochte Zaja auf Grund der Parallelen, was die uneingeschränkte Hingabe an ihre Überzeugung betraf. Mit ähnlicher Intensität, wie sie damals ihr Leben dem Führer anvertraut hatte, brannte Zaja für das Volk der Cree. Kein Neid kam bei Eva auf und das obwohl ihre Sache scheinbar nicht die Verlogenheit des „Tempels des Friedens“ besaß. Eva hatte abgeschlossen mit dem Führer und eine Wiederholung eines solchen Kapitels, selbst wenn es unter den perfekten Bedingungen geschehen würde, wäre für ihr eigenes Empfinden ein Rückschritt. Sie zwang sich nach vorne zu schauen und sich der unbekannten Zukunft zu stellen. Ein wesentlicher Teil davon war Sentry, den sie ebenfalls mochte. Warum zum Teufel hatte sie dann ein Problem damit, dass die beiden ein Paar waren?

Zaja weckte die Gruppe früher als geplant. Das Sonnenlicht war noch nicht mal zu erahnen, als Eric und Dina missmutig aus ihren Zelten krochen. Sichtlich verwirrt über das viel zu frühe Aufstehen, legten sie keine besondere Eile an den Tag, um ihre üblichen Tätigkeiten am Morgen zu verrichten.

„Wir müssen uns beeilen.“ trieb Zaja sie an.

„Verdammt ist die nachtragend wegen dem Wespenspruch gestern, aber auf eine Entschuldigung kann sie lange warten.“ Eric war schlecht gelaunt und da Eva in seiner direkten Umgebung stand, musste sie als erste seine Nörgelei ertragen.

„Ich glaube da steckt etwas Anderes dahinter. Ich frage sie mal.“ Sie ließ Eric stehen und das nicht nur ausschließlich auf Grund der Neugierde über Zajas Eile.

„Was ist los?“ fragte sie, als die beiden Frauen unter sich waren.

„Ich will nur so schnell wie möglich nach Hause. Ach ja. Das Gespräch gestern Abend war eine rein vertrauliche Sache zwischen uns beiden.“ Eine leichte Drohung war nicht zu überhören.

„Keine Angst. Ich behalte das für mich, aber ich habe das Gefühl, dass du mir noch ein wichtiges Detail verschwiegen hast.“ erwiderte Eva besorgt. Zaja zögerte, so als müsste sie erst abwägen, ob Eva ihr Vertrauen verdient hatte.

„Dieses Armband hat nur Energie für ein paar Stunden.“ Jetzt war es Zaja die besorgt klang.

„Wird es reichen?“ Zaja erwiderte nichts, aber die Traurigkeit in ihrem Blick gab Eva Gewissheit.

„Nicht.“ Eva war den Tränen nah. Die im Tempel antrainierte Fassade, um wahre Gefühle vor der Außenwelt zu verbergen, hatte bei dem Verlust eines unschuldigen menschlichen Lebens keine Chance.

„Nein. Das darf nicht passieren. Wir werden irgendwas finden, um es wieder aufzuladen.“ Eva klang verzweifelt. Nun hatte sie Zaja angesteckt, die ebenfalls Mühe hatte ihre Tränen zurückzuhalten.

„Bitte denk nach. Irgendwas muss es doch geben.“ Die erste Träne rann über ihr Gesicht und diente damit als Startsignal auch bei Zaja die Schleusen zu öffnen.

„Es wird nicht reichen.“ Zaja war die Offensichtlichkeit ihrer Gefühle peinlich und so widmete sie ihrem Rucksack erneut Aufmerksamkeit, obwohl sie schon vor fünf Minuten ihr ganzes Hab und Gut verstaut hatte.

„Was hat die denn für ein Problem?“ Eric hatte sich zu ihnen gesellt und bisher nur Zajas aufgewühlten Zustand bemerkt. Ein Blick in Evas Gesicht verwirrte ihn endgültig.

„Äh.. Was? … Ich...“ Es war für Eric unmöglich zwei zusammenhängende Worte über die Lippen zu bekommen.

„Scheiße.“ brachte er noch heraus und blieb dann ziemlich hilflos neben den beiden Mädchen stehen. Eva starrte ihn mit Tränen verquollenem Gesicht an.

„Was habe ich getan?“ interpretierte er ihre Geste falsch.

„Noch nichts, aber vielleicht kannst du uns helfen.“ Ihr Ausdruck wechselte von Trauer zu Hoffnung.

„Eric hat mehr Ahnung von Technik, als die meisten. Zeig ihm das Armband.“ Eva hatte sich jetzt wieder Zaja zugewandt. Als Antwort bekam sie nur einen wütenden Blick.

„Verdammt noch mal. Willst du deinen Stolz über das Leben deines Kindes stellen. Zeig ihm dieses verdammte Armband.“ Eric hatte Eva noch nie so energisch gesehen, was ihn zu seiner Überraschung nicht einschüchterte, sondern eher erregte.

„Was denn für ein Armband?“ schob er seine Neugierde vor die Erregung und die damit verbundene Überraschung. Zaja wollte sich wieder entschlossen ihrem Rucksack widmen und damit die Sache endgültig aussitzen, aber der bohrende Blick von Eva und ihre Vernunft zwangen sie doch noch der Forderung nachzugeben. Sie streckte Eric ihren rechten Arm entgegen und der begutachtete es flüchtig.

„Keine Ahnung was das ist. Noch nie gesehen.“ fällte er sein Urteil. Für Zaja war die Sache damit durch, aber Eva gab noch nicht auf.

„Es erzeugt ein Dämpfungsfeld, um die Nanobots zu deaktivieren.“ erklärte sie immer noch voller Hoffnung.

„Was ist der Sinn dahinter?“ fragte Eric neugierig. Evas und Zajas Blicke trafen sich. Ein fast nicht zu erkennendes Kopfschütteln von Zaja beendete die scheinbare Gedankenübertragung der beiden Frauen.

„Wir müssen sie bis zur Ankunft außer Betrieb setzen, aber die Energie reicht nicht bis zum Lager. Irgendwie müssen wir das Ding zwischendurch aufladen.“

„Wird sich schwer eine Steckdose hier draußen finden lassen.“ Eric war alles Andere als ermutigend.

„Es ist ernst. Hast du eine Idee?“

„Ja klar. Ich baue euch schnell ein kleines Kraftwerk. Wie wärs mit was Umweltfreundlichen. Vielleicht können wir ja den See aufstauen.“ Eric verfiel in den herablassenden, sarkastischen Tonfall, den Eva schon des Öfteren bei ihm ausgemacht hatte, sobald er unter Druck stand.

„Das ist nicht besonders hilfreich.“ sagte sie trocken, jegliche Form einer möglichen Eskalation vermeidend. Eric seufzte tief.

„Vielleicht gehen wir die Sache falsch an. Wenn wir die Feldstärke etwas runter drehen, könnte die Energie bis zum Lager reichen.“ erwiderte er jetzt gelangweilt.

„Klingt nach einem Plan.“ Eva war jetzt wieder voller Hoffnung.

„Freu dich nicht zu früh. Erstens brauchen wir passendes Werkzeug und zweitens ist nicht sicher, ob ein schwächeres Feld die Biester außer Gefecht setzt.“ Zaja kramte bereits in ihrem Rucksack, um wenigsten den ersten Zweifel zu zerstreuen. Gemeinsam mit Eric ließ sie sich auf einem Felsen nieder. Sein Schoß diente dabei als Operationsbasis für den Eingriff am Armband, dass Zaja nicht von ihrem Handgelenk entfernen konnte. Die ganze Szene wirkte etwas verkrampft, da die gegenseitige Nähe von beiden als unangenehm empfunden wurde. Dina stieß zu der Gruppe und wurde von Eva mit den nötigsten Informationen versorgt. Zu diesem Zeitpunkt hatte Eric bereits die kleine Abdeckung des Armbandes entfernt und machte sich mit den technischen Gegebenheiten vertraut.

„Gut. Ich bin soweit. Das Ganze ist vergleichbar mit einem Dimmer. Ich werde jetzt solange das „Licht“ runter drehen, bis die Bots wieder munter werden. Du musst mir nur sagen, wann die wieder loslegen.“ Eric hielt einen kleinen Schraubendreher genau senkrecht zum Armband zwischen zwei Fingern und war bereit daran zu drehen.

„Warte.“ unterbrach ihn Zaja und kramte mit der linken Hand ihr Messer hervor. Vorsichtig schnitt sie in ihren Arm und das Blut sickerte sofort aus der Wunde.

„Na toll.“ kommentierte Eric nur kurz und konzentrierte sich wieder auf den Schraubendreher. Eine Viertelumdrehung war fürs erste ausreichend. Gespannt starrten alle auf das Blut. Nichts passierte. Eine weitere Vierteldrehung und wieder blieb die Wunde unangetastet.

„Weißt du, was du da tust?“ fragte Dina skeptisch. Eric konzentrierte sich wieder auf seine Arbeit und da er jegliche herablassende Antwort schuldig blieb, war zu vermuten, dass er sich wirklich nicht sicher in seinem Handeln war. Eine weitere Vierteldrehung, die wieder ohne Reaktion blieb. Jetzt war Eric sichtlich nervös.

„Keine Ahnung, ob ich wirklich die Feldstärke damit reduziere. Nächstes Mal packe ein Messgerät in deine Werkzeugkiste.“ verteidigte er sich halbherzig und drehte eine weitere Viertelumdrehung.

„Und wenn du in die falsche Richtung drehst? Dann ist der Saft schneller alle.“ erneuerte Dina ihre Skepsis. Damit hatte sie ihn endgültig verunsichert und nur der panische Blick auf die Energieanzeige, die immer noch unverändert bei dreiviertel stand, beruhigte ihn wieder.

„Nicht hilfreich.“ schickte Eva in Richtung Dina.

„Das wird schon klappen.“ ermunterte sie Eric, der gerade noch eine Viertelumdrehung hinzufügte.

„Da passiert gar nichts. Ich könnte vermutlich Tage lang hier sitzen, ohne Ergebnis.“ Er setzte das Werkzeug ab und wollte schon resigniert aufgeben, als die Wunde ein scheinbares Eigenleben entwickelte.

„Zurückdrehen, zurückdrehen.“ spornte er sich selber hektisch an und setzte das Werkzeug wieder an. Zitternd drehte er den Schraubendreher diesmal in die entgegengesetzte Richtung. Zaja verfiel umgehend in Bauchkrämpfe und erleichterte seine Arbeit damit nicht unbedingt.

„Ruhig Mädchen, wir haben es gleich.“ Als hätten die Bots diese Worte gehört, beendeten sie ihre unheilvollen Aufgaben, was sich in der Unvollkommenheit der Wundheilung äußerte.

„War wohl doch die richtige Richtung. Gut gemacht.“ zeugte Dina ihre Anerkennung.

„Wie viel Zeit bringt mir das?“ fragte Zaja, die immer noch unter den Nachwirkungen der verfehlten Hilfe ihrer Bots litt.

„Keine Ahnung. Auf alle Fälle mindert das den Energieverbrauch.“ erklärte Eric stolz auf seine Tat.

„Willst du uns nicht aufklären, warum die in deinen Eingeweiden Amok laufen?“ fragte Dina, als Reaktion auf die Krämpfe.

„Wir müssen sofort aufbrechen.“ bekam sie nur als Antwort von Zaja, die damit signalisierte, dass sie keinen Redebedarf über das Thema hatte. Sie schnappte sich ihren Rucksack, kontrollierte ihre Ausrüstung und konnte es gar nicht erwarten aufzubrechen.

Die Sonne ging langsam auf und tauchte den Himmel in ein sanftes Orange. Ein erhebendes Schauspiel wie Eva fand, denn im Vergleich zu den Sonnenaufgängen von Lassik, die meist eh durch das permanent schlechte Wetter grau verliefen, waren die Farben von Cree auf Grund der Zusammensetzung der Atmosphäre viel intensiver. Dieses unglaubliche Orange ging über in ein helles Gelb, um dann bei voller Sonne den Himmel in Azurblau zu tauchen. Das alles wurde komplettiert von der Kulisse dieses grünen Dschungels. Eine Welt, die seines Gleichen suchte in der Galaxis und höchstens vergleichbar war, mit dem Ursprung der Menschheit, von dem nur noch Legenden übrig waren. Zaja ließ ihr bedauerlicherweise nicht die Zeit dieses Naturwunder vollständig zu genießen, denn die zeitliche Ungewissheit über die Rückkehr der Nanobots, mit allen ihren unangenehmen Nebenwirkungen, trieb diese an. Es ging hier um ein menschliches Wesen, dass selbst bei einem glücklichen Ausgang ihres zeitlichen Dilemmas, nur geringe Überlebenschancen hatte. Wenigstens mussten sie alles dafür tun, um das Minimum an Wahrscheinlichkeit zu gewährleisten. Zajas Ungeborenes trieb Eva an und ließ sie die Strapazen des Dschungels vergessen.

Obwohl es unmöglich schien, erhöhte Zaja das Tempo ihres Vorankommens gegenüber dem Vortag noch mal deutlich. Sie verließen das Ufer des Sees und schlugen sich wieder in das wilde Dickicht des Dschungels, was der Gruppe zusätzliche Energie beraubte. Jetzt war auch Zaja an ihrer physischen Grenze angelangt, was gleichbedeutend war, dass der Rest weit über ihrer Belastbarkeit durch das feuchte Grün hetzte. Immer wieder fiel Zajas Blick auf das Armband mit seiner Energieanzeige und die kurze Entschärfung des Tempos danach, schien sie etwas zu entspannen. Noch wurde das Dämpfungsfeld mit ausreichend Energie versorgt, aber es war ungewiss, ob es für die Nacht, in der kein Marsch möglich war, reichen würde. Das Erreichen der Cree-Siedlung vor Sonnenuntergang war das Ziel, was aber selbst für die austrainierte Zaja sich als all zu optimistisch herausstellte. Vollkommen erschöpft ließen sie sich daher auf einer kleinen Lichtung nieder, um eine weitere Nacht zwischen Gräsern und Gestrüpp zu verbringen.

„Ich hasse diesen Dschungel.“ beklagte sich Eric erstmals nach der Tortur, denn beim Gehetze durchs Unterholz brauchte er jeden Atemzug, um nicht vor Überanstrengung umzukippen. Zaja kam auf ihn zu und hielt ihm das Armband unter die Nase.

„Reicht die Energie für die Nacht?“ fragte sie ihn schroff, was ihm suggerierte, dass nur eine Antwortmöglichkeit geduldet wurde.

„Ja sicher.“ tat er ihr den Gefallen, ohne auch nur wirklich einen intensiven Blick auf die Anzeige zu werfen.

„Es wird reichen.“ versuchte Eva sie zu beruhigen, was durch einen kurzen ängstlichen Blick von Zaja in Frage gestellt wurde.

„Es wird reichen.“ wiederholte sie deutlicher und überzeugter. Zaja schaute ihr tief in die Augen, so als wolle sie den Wahrheitsgehalt dieser Aussage in Evas Gehirnwindungen suchen. Wenige Sekunden später wandte sie sich ab, setzte sich an den Rand der Lichtung und fing an zu meditieren.

Die Gruppe verzichte auf den Aufbau der Zelte. Die Erschöpfung war so groß, dass keiner großen Antrieb verspürte seinen schmerzenden Händen, Füßen und anderen Gliedmaßen eine zusätzliche Belastung zuzumuten. Es dauerte nicht lange, bis Eva den gleichmäßigen Atem von Eric vernahm, der sich blindlings an einer halbwegs ebenen Fläche niederließ. Bei Dina dauerte es etwas länger, bis ihr ruheloses hin und her in einen Schlaf überging. Eva selbst war trotz der Anstrengungen des Tages und die an für sich kurze letzte Nacht, hellwach. Sie beneidete Zaja, die durch Meditation ihren Körper in einen von ihr erwünschten Zustand bringen konnte. Sicherlich eine Fähigkeit, die auf ihr optimiertes Gehirn zurückzuführen war, aber sicherlich nicht unmöglich zu erlernen wäre, selbst für jemanden, der geistig zurückgeblieben war wie sie. Vielleicht würde Zaja ihr eines Tages zeigen, wie sie diesen entspannten Zustand erreichen könne, aber noch waren sie nicht soweit, dass sie ihr uneingeschränkt vertrauen würde. Eva überlegte, ob sie sich zu ihr an den Lichtungsrand gesellen sollte, als sie überraschenderweise auf sie zukam.

Sie stand nur schweigend da, so als ob sie nicht wüsste, welche die richtigen Worte wären.

„Danke.“ sagte sie nur, da jede andere Anreihung von Worten Verschwendung wäre.

„Danke nicht mir, sondern Eric.“ antwortete Eva.

„Das werde ich tun, aber ich glaube, dir habe ich mehr zu verdanken. Er war nur das Werkzeug. Du warst die Überzeugung.“ Worte, die Eva sichtlich gut taten.

„Ich habe ein gutes Gefühl bei deinem Kind.“ Sie versuchte Zaja etwas Angst zu nehmen.

„Es wird ein Junge.“ Zaja wirkte trotz der Meditation nicht wirklich entspannt.

„Eines dieser Cree-Talente.“ beantwortete sie Evas ungläubigen Blick.

„Vermisst du Sentry?“ fragte Eva und war sich nicht sicher, ob sie zu weit ging mit ihrer Frage.

„Vermissen? Dafür kannten wir uns zu kurz, aber ich wünschte er wäre hier. Immerhin haben wir das beide zu verantworten.“ Sie musterte Eva, die bei diesen Worten kurz zuckte.

„Wir Cree hängen keinen romantischen Vorstellungen von Familie nach. Es geht einzig und allein darum, die Wahrscheinlichkeit des Überlebens unseres Nachwuchses zu erhöhen.“ sagte Zaja trocken.

„Aber deine Eltern. Die werden dich doch sicherlich lieben.“

„Natürlich, wie jeder andere Cree auch. Die Geburt eines Kindes ist das größte Ereignis bei uns. Alle sind Mütter und Väter, egal ob biologisch oder nicht.“

„Klingt nach einer perfekten Kindheit.“ Zajas Reaktion auf diese Worte verblüffte Eva. Offensichtlich gab es auch dunkle Wolken über dem Paradies von Cree.

„Nein. Es gab keine anderen Kinder. Ich war allein unter Erwachsenen, die alle perfekt waren. Zur wirklichen Cree wurde ich erst in der Pubertät. Bis dahin war ich nur…“ Zaja brach ab, denn zum ersten Mal schien ihr die herablassende Haltung nicht angebracht.

„…eine von uns.“ vervollständigte Eva.

„Ein kleines Mädchen, was sich nicht unterschied von den Kindern von Lassik, Eyak oder anderen Welten.“

„So ist es. Bis die Veränderung eintritt. Ich war sechzehn, als es begann.“ sagte Zaja.

„Ich kann mir nicht vorstellen, wie diese Veränderung genau aussieht.“ Eva zweifelte immer noch an der „Wir sind eine verbesserte Variante von euch“ These.

„Ich weiß nur noch wenig über die Zeit vor der Veränderung, aber an das Chaos in meinem Kopf erinnere ich mich. Diese ganzen Gefühle, wie Angst, Unsicherheit, Wut, aber auch Liebe kontrollieren mich nicht mehr. Sie sind nicht weg, aber ich wusste auf einen Schlag, wie ich mit ihnen umgehen musste. Es war fast so, als würde jemand aufräumen da oben und mir zeigen, wo ich alles verstauen muss, um nicht durch meine eigenen Emotionen gehindert zu werden.“

„Disziplin.“ fasste Eva das gerade gehörte auf ein Wort zusammen.

„Und Effizienz. Da war aber noch mehr.“ Zaja tat es sichtlich gut, durch die Konversation von ihrer Angst, die sie scheinbar doch nicht so unter Kontrolle hatte, wie sie gerade noch behauptet hatte, abzulenken.

„Wir bekamen ein paar zusätzliche Fähigkeiten.“ fing sie geheimnisvoll an. Sie zögerte mit ihren weiteren Ausführungen, denn offenbar war sie sich nicht sicher, ob Eva ihr Vertrauen verdient hatte.

„Telepathie.“ entschied sie sich dafür.

„Ihr könnt die Gedanken Anderer lesen?“ Evas einsetzende Müdigkeit war mit einem Schlag wie weggefegt.

„Für deine Panik brauche ich keine Telepathie. Das sehe ich dir auch so an.“ lächelte Zaja sie an.

„Keine Sorge. So einfach ist das nicht. Ich muss mich in einen speziellen Zustand versetzen und selbst da bekomme ich nur Emotionen mit.“ beruhigte Zaja.

„Das muss faszinierend sein.“

„Nein ist es nicht. Ich habe es in meinem ganzen Leben gerade dreimal getan. Hier auf Cree herrscht Harmonie. Alles ist in Einklang und Ordnung, fast schon langweilig. Es ist sinnlos die kontrollierten Emotionen der Cree zu erforschen.“

„Das ist bei den Menschen anders.“

„Ich machte den Fehler mich in eine der Bars auf dem Exson zu setzen und meinen Geist zu öffnen. Ich war neugierig auf die Menschen, aber das was ich bekam, war ein Chaos aus Trieben, Ignoranz und Gier. Jede andere Emotion ging in diesem Schwall vollkommen unter. Die Gefahr war mir damals nicht bewusst, aber es ist schwierig in diesem Zustand eigene Emotionen von fremden zu unterscheiden. Der Wahnsinn wäre dann die Konsequenz gewesen.“

„Und das dritte Mal?“ fragte Eva neugierig. Zaja zögerte, aber diesmal nicht aus Mangel an Vertrauen.

„In welcher Beziehung stehst du zu Sentry?“ fragte sie

„Wir sind Freunde, die das Schicksal zusammen gebracht hat.“ antwortete Eva ruhig.

„Dann wirst du ja kein Problem haben, mit dem was ich dir jetzt erzähle.“ erwiderte Zaja und musterte Evas Reaktion.

„Das dritte Mal öffnete ich meinen Geist, als ich mit Sentry zusammen war. Ich ließ ihn in meinen Kopf, ohne das er etwas davon mitbekam. Seine Erregung, seine Triebe, sein Verlangen. Das alles war mir bewusster als ihm selbst. Es war eine Form von Intimität, die ich nicht in Worte fassen kann. Er war nicht nur körperlich in mir, sondern auch geistig. Ich war er und dann war ich wieder ich. Es war irgendwann nicht mehr zu unterscheiden. Meine Gefühle verschmolzen mit seinen und waren eine untrennbare Einheit. Es war mehr als Sex. Es war eine Vereinigung auf allen Ebenen der Wahrnehmung.“ Zajas Augen glänzten bei diesen Worten.

„Vermutlich gibt es nur eine Steigerung dieses himmlischen Zustandes.“ Eva war erstaunlich ruhig geblieben und das obwohl ihr die Worte sichtlich wehtaten.

„Ach ja. Was sollte das sein?“ fragte Zaja.

„Wenn er dich auch in seinen Kopf lässt.“

„Das wird nicht klappen. Leider sind seine erweiterten Gehirnfunktionen alle hinter dieser elendigen Blockade. Seine Disziplin gegenüber Emotionen, genauso wie seine Fähigkeit zur Telepathie. Sollte es uns gelingen seine Mauer einzureißen, ist er einer dieser vernünftigen Cree, die Effizienz über alles stellen. Triebe und Sexualität sind dann nur störende Emotionen, die unter Kontrolle gehalten werden müssen.“ Ein wenig Bedauern war aus ihren Worten zu vernehmen.

„Guten Sex gibt es also nur mit uns primitiven Wilden?“ stellte Eva die Frage sichtlich provokant.

„Ich sagte ja bereits. Telepathie ist gefährlich. Ihr seid gefährlich.“ Zaja wollte trotzdem die Provokation nicht ungesühnt lassen.

„Dafür, dass du in ihn verliebt bist, hast du dir kaum was anmerken lassen.“ Jetzt war Eva in der Defensive.

„Was?“ brachte sie nur verlegen heraus.

„Ich verstehe das. Ich habe die Männerwelt dort draußen kennen gelernt. Es gibt nichts Vergleichbares zu Sentry, aber du musst verstehen, dass er nur eine zeitlich begrenzte Persönlichkeit ist. Er wird verschwinden, sobald die Gedächtnisblockade eingerissen wurde. Aus Sentry wird dann wieder Coen.“

„Das ist sein Name? Coen?“ fragte Eva

„Coen ist der Cree. Sentry der Mensch. Sie können nicht beide gleichzeitig existieren.“ sagte sie bedeutungsschwanger.

„Was, wenn er nicht wieder zurück will zu Coen?“

„Sentry ist ein Zufallsprodukt. Er hat keine Berechtigung Coens Platz einzunehmen.“

„Und welche Berechtigung hatte Coen damals dem kleinen Jungen, der sicherlich auch irgendwann mit sechzehn verändert wurde, den Platz wegzunehmen?“ fragte Eva sichtlich aufgebracht.

„Das ist nicht vergleichbar. Es ist ein natürlicher Prozess sich zu verändern. Sentry ist nicht natürlich. Er ist ein evolutionärer Rückschlag.“ Auch Zajas Stimme wurde jetzt lauter.

„Ihr redet immer von Toleranz und friedlichem Miteinander, aber im Grunde geht es euch nur um eure scheinbare Überlegenheit. Ihr glaubt ihr habt euch entwickelt zu einer Spezies von moralischem Anstand. Blödsinn. Das ist nur ein Tarnmantel um eure Grausamkeiten zu rechtfertigen. Ich weiß, wohin so etwas führt.“ Die Worte kamen aus Evas Sicht viel zu hektisch rüber, aber sie hatte sich auf Grund der Erfahrungen im Tempel in einen regelrechten Rausch gesteigert.

„Ihr habt Sentry geschaffen. Absichtlich oder unabsichtlich. Es ist vollkommen egal. Er ist euer Geschöpf und ihr könnt ihn nicht einfach wieder ausradieren. Eure eigenen Regeln verhindern das. Seht es ein. Wenn ihr ihn tötet, verratet ihr eure eigenen Prinzipien.“ Jetzt hatte sie das richtige Tempo, aber es gab nichts mehr hinzuzufügen. Es würde sich alles wiederholen. Es galt nur der elitäre Kreis, ob nun im Tempel oder hier auf Cree. Die Nächstenliebe stieß an ihre Grenzen, sobald es an die grundlegende Substanz ging. Zuerst standen immer eigene Interessen, obwohl jedes zweite Wort von Toleranz und Menschlichkeit handelte. Eva hatte die hohlen Phrasen satt.

„Du willst mir unsere Prinzipien erklären? Du hast doch keine Ahnung, was die Cree die letzten tausend Jahre durchgemacht haben. Wie viel Kinder wir verloren haben oder wie viel Angriffen wir ausgesetzt wurden. Die Menschen sind zurückgebliebene Barbaren und unser Weg ist der einzig Richtige. Vielleicht ist er manchmal grausam, aber es gibt keine Alternative. Wir müssen überleben, nur das zählt.“ Zajas Stimme hatte jetzt eine Leidenschaft angenommen, die auch den Schlafenden nicht entgangen war.

„Der Zweck heiligt die Mittel.“ sagte Eva jetzt wieder mit normaler Tonlage.

„Was?“ Zaja verstand nicht.

„Ihr schlagt den falschen Weg ein und anstatt umzudrehen und den richtigen Abzweig zu nehmen, verschließt ihr euch den Tatsachen.“ Evas Stimme war jetzt ruhig und abgeklärt.

„Das wird nicht funktionieren, das hat es noch nie. Ihr macht dieselben Fehler wie wir. Das alles passierte vor 1000 Jahren, vor 5000 Jahren, wahrscheinlich vor einer Million Jahren. Da nützen euch eure Superhirne auch nichts. Es ist unsere Natur uns gegenseitig zu töten, ob nun für Nahrungsmittel, Land oder geistige Überlegenheit. Ein endlose Wiederholung von Gewalt und Tod.“

„Wir machen es besser.“ beendete Zaja die hitzige Diskussion.

„Ich hoffe es, aber selbst ihr Überentwickelten müsst noch einiges lernen.“ ließ es Eva sich nicht nehmen ihren eigenen Schlusssatz zu den widersprüchlichen Ansichten von Moral zu bringen. Ihre hitzige Auseinandersetzung hatte keinen Schaden genommen an dem zarten Pflänzchen Vertrauen, dass zwischen Zaja und ihr herrschte. Ganz im Gegenteil. Die Überzeugung mit der beide ihre Sache verfochten war eine gemeinsame Grundlage für ihre verwirrende Beziehung. Auch wenn es Zaja nie zugegeben hätte, die Argumentation von Eva hatte sie beeindruckt. Die Leidenschaft mit der diese Sentry verteidigte, erinnerte sie an ihre eigene Energie für das Volk von Cree zu brennen. Respekt für einen Menschen war etwas, was in ihrem eigenen Denken ins Reich der Fabeln gehörte. Nun hatte sie die Realität eingeholt.

Evas weitere Nacht war unruhig. Zu viele Gedanken hielten sie wach. Sie hatten sich in diesen Dschungel begeben, um Sentry zu retten, aber wie sich herausstellte war das Ziel sein Tod. Nicht sein Körper. Nein. Es ging um seine Persönlichkeit. Sie konnte schwer glauben, dass er einfach so gelöscht und durch sein früheres Ich ersetzt werden könnte. Was, wenn er und Coen zu etwas Neuem verschmolzen, nachdem die Mauer in seinem Innern fiel? Eine dritte Persönlichkeit, nein sogar eine vierte, denn der menschliche Junge vor der Veränderung trug ja bereits seinen Teil mit bei. Ihr wurde schwindelig bei dem Gedanken an die vielen fremden Empfindungen, die dieser neue Geist ertragen müsste. War es überhaupt möglich, ohne dem Wahnsinn zu verfallen? Sie hatte sein Schicksal buchstäblich in der Hand. Das Amulett, was vermutlich über Sentrys Existenz entschied. Seine Errettung war erst der Anfang der unangenehmen Entscheidungen, die da auf sie zurollten. Als wäre das nicht schon Verantwortung genug, komplizierten ihre Gefühle die ganze Sache noch. Es bedurfte Außenstehender, um das ungewohnte Gefühl von Zuneigung in ihrem Inneren zu erkennen. Ihre Zukunft stellte eine ordentliche Herausforderung da, aber sie war bereit sich ihrem Leben zu stellen.

Zajas Meditation schien wirkungslos zu verpuffen, jedenfalls machte sie keinen entspannten Eindruck, als sie beim ersten Sonnenstrahl die Gruppe weckte. Auch für sie musste die Nacht auf Grund der Sorge über ihren ungeborenen Sohn ziemlich unruhig verlaufen sein. Nur noch 10% standen auf der Energieanzeige und es lagen noch mindestens drei Stunden Fußmarsch vor ihnen. Sie trieb die Gruppe an und ignorierte die wiederholenden Nachfragen nach dem Grund der Eile. Erics Beschränkung seiner Cleverness auf technische Dinge war es zu verdanken, dass das Wissen über die Schwangerschaft unter den beiden Frauen blieb. Mit ein wenig Kombinationsgabe hätte er sich an Hand der Konversationen die richtigen Schlüsse zusammen reimen können, aber sein Mangel an sozialen Fähigkeiten verhinderten die Erleuchtung. So hetzte er missmutig Zaja hinterher, immer mit der Hoffnung, dass am Ziel ein weiches Bett und eine reichhaltig gedeckte Tafel mit Köstlichkeiten auf sie warteten.

Die Hitze war erbarmungslos und in Kombination mit der Luftfeuchte war es umso erstaunlicher, dass keiner der Gruppe dem hohen Tempo in Form eines Zusammenbruchs Tribut zollte. Kleine Insekten umschwirrten sie und wichen geschickt den herumwedelnden Armen aus, die versuchten sie zu verscheuchen. Irgendwann wurden sie als nervige Begleiter akzeptiert und gaben dem ganzen Dschungelambiente ihre eigene Note. Die Akustik aus Zirpen, exotischen Vogellauten und undefinierten Geräuschen, die vermutlich irgendwelchen balzenden Reptilien gehörten, wurde gelegentlich durch bedrohliches Brüllen eines größeren Raubtiers in der Ferne unterbrochen. Da Zaja keinerlei Notwendigkeit sah auf diese vermeintliche Gefahr einzugehen, ignorierten die Anderen das Gebrüll, so dass sie sich wieder voll und ganz der eigentlichen Qual widmen konnten, die da aus Hitze, Atemnot und Schmerzen des ganzen Körpers bestanden. Sie erreichten einen kleinen Flusslauf, deren lauwarmes Wasser sie nutzen um ihre Wasserflaschen zu füllen.

„Wie weit noch?“ Eric hatte sich auf einen kleinen Felsen niedergelassen und es war ungewiss, ob er jemals wieder hochkommen würde.

„Dreißig Minuten flussaufwärts.“ beantwortete Zaja seine Frage mit bangem Blick auf die Energieanzeige ihres Armbandes. Eine kleine blinkende Batterie zeigte an, dass es jeden Moment zu Ende seien könnte. Sie schnallte ihren Rucksack ab und begab sich ins seichte Wasser des Flussbettes. Ihre Umgebung vollkommen ignorierend, rannte sie los und das Wasser spritze unter ihren Füßen. Mit ungeahnter Energie folgte sie dem Flusslauf und war schnell außer Sichtweite.

Eva wollte sie die letzte Etappe im Wettlauf gegen die Zeit nicht alleine angehen lassen. Als sie merkte das Zaja lossprintete, zögerte sie nicht lange und tat es ihr gleich. Das „Hey“ aus dem Hintergrund, das ohne Zweifel einem überraschten Eric gehörte, war schon nicht mehr als ein verblasstes Hintergrundgeräusch, nachdem sie mit scheinbar unendlicher Energie gegen den Strom rannte. Sie hatte Mühe Zaja nicht aus den Augen zu verlieren, aber zehn Minuten lang konnte sie das Tempo gut halten. Gerade als sie befürchtete nicht mehr Schritt halten zu können, brach Zaja etwa fünfzig Meter vor ihr zusammen. Mit brennender Lunge und einer bösen Vorahnung, dass sie kurz vor ihrem Ziel gescheitert waren, näherte Eva sich Zaja.

„Verdammt. Ich kann es doch schon fast sehen.“ Zaja quälte sich hoch, um gleich wieder zusammenzubrechen. Ihr Mühen glich einem Kampf um jeden Meter. Als wolle sie auf allen Vieren ihrem Ziel entgegen kriechen. Jetzt erst merkte Eva, dass es nicht die Bots waren, die Zajas Vorankommen verhinderten. Sie war ausgerutscht auf einem der glitschigen Steine und hatte sich offenbar so sehr verletzt, dass es ihr unmöglich war weiter dem Lager entgegen zu rennen. Es war also noch nicht vorbei und die Hoffnung auf einen glücklichen Ausgang der Dinge gab Eva eine zusätzliche Portion Energie.

„Wir schaffen das.“ Eva hakte sich bei Zaja unter und zog sie hoch. Es schien fast so, als würde sie damit weitere Kräfte in Zaja freisetzen, denn mit dieser Hilfe erkämpften sie sich Meter um Meter. Gemeinsam stolperten sie flussaufwärts. Schulter an Schulter in einem gnadenlosen Wettlauf gegen verrinnende Energie. Das Armband piepte jetzt und verspottete die Kämpferinnen mit immer schnellerer Frequenz. Nicht mehr lange bis zum Dauerton und dem unweigerlichen Eingreifen der Bots. Das hier durfte nicht schief gehen. Zu viel Leid hatte Eva bereits erfahren. Die Flussbiegung hatten sie bereits hinter sich gebracht und nun wurde es Zeit die Lage neu zu bewerten. Sie hob den Kopf und sah eine Hütte keine fünfzig Meter am rechten Ufer des Flusses. Eine schier unüberwindbare Distanz in ihrem Zustand und unter diesem Zeitdruck.

„Hilfe.“ wollte sie schreien, aber heraus kam nur ein Krächzen. Sie schluckte, um einen erneuten Versuch zu starten.

„Hilfe.“ schallte es jetzt den Fluss entlang. Sie lauschte auf das Armband, das hektisch vor sich hinpiepte und sie antrieb sich weiter Richtung Lager zu schleppen. Schritt für Schritt der Erlösung entgegen. Ein neues Geräusch mischte sich in das Gemisch aus Dschungellauten. Plätscherndes Wasser zwang sie wieder nach vorne zu schauen. Zwei Männer kamen ihnen im Flussbett entgegen. Hoffentlich haben sie ein neues Armband dabei, denn das von Zaja stand kurz vor dem piependen Kollaps.

„Wir brauchen ein …“ setzte Eva an, als die beiden vor ihnen standen. Unterbrochen wurde sie von Zaja, die offenbar die bessere Vorgehensweise hatte.

„Globales Dämpfungsfeld einschalten. Sofort.“ mit letzter Kraft brachte sie die Worte hervor. Nur ein kurzes Abwägen der Alternativen, dann zog einer der beiden seinen Kommunikator und zischte das Wort Notfall in das Gerät, während der Andere bereits Zaja schulterte und sich Richtung Hütte aufmachte. Der ideale Zeitpunkt für Eva, um ihrem geschundenen Körper den Zusammenbruch zu erlauben. Sie sank auf die Knie und spürte wie das Wasser ihre Oberschenkel benetzte. Sie legte den Kopf in den Nacken und starrte in den Himmel. Ein majestätischer Vogel kreiste über ihr und schien sie zu beglückwünschen zu der erfolgreichen Errettung ungeborenen Lebens. Sie grinste wie eine Verrückte vor sich hin, nahm einen tiefen Atemzug dieser unglaublich reinen Luft und zum ersten Mal hatte sie das Gefühl wirklich am Leben zu sein. Ein perfekter Moment.

„Alles in Ordnung?“ wurde dieses unglaubliche Erlebnis beendet. Immer noch grinsend schaute sie in das Gesicht des Fragestellers, der ungläubig über ihren Geisteszustand zögerte sich ihr zu nähern.

„Alles perfekt.“ antwortete sie und tauchte ihren Kopf in das Wasser vor ihr. Das lauwarme Wasser belebte ihre Sinne und brachte sie in den Normalzustand zurück.

Schwankend erhob sie sich und in dem Moment, in dem ihre Beine drauf und dran waren ihren Dienst zu verweigern, stützte sie der Fremde und verhinderte damit den Kollaps ihres Körpers. Die letzten zwanzig Minuten hatten unheimlich viel Kraft gekostet, aber das war es wert gewesen. Sie durchflutete eine ungeahnte Zufriedenheit und ihr Körper schrie regelrecht nach Ruhe. Das hatte er sich verdammt noch mal verdient.

Wie in Zeitlupe durchschritten sie die Fluten des Flusses und näherten sich der Hütte. Es war noch nicht so lange her, dass ihnen die Zeit davon zu laufen schien. Jetzt, im Angesicht ihrer Erschöpfung, genoss sie das Gefühl alle Zeit der Welt zu haben, um diese Hütte zu erreichen. Ihr Helfer war geduldig mit ihr und hätte ihr vermutlich bis zum Ende aller Tage beigestanden. Sie hatte verschiedene Vorstellungen von dem, was sie am Ende ihrer Reise durch den Dschungel erwartete, aber ein paar baufällige Holzhütten waren dann doch überraschend. Der erste Eindruck erinnerte sie an Prem, wo sie in ähnlichen Verschlägen hausten und den Lehren des Führers folgten. Wieder eine dieser Parallelen zu ihrem eigenen Leben. Die Cree hatte sie eigentlich als hoch entwickelten Gegenpol zur Science gesehen, deren technische Fähigkeiten sie schon erleben durfte. Hier schien alles auf das einfache Leben ausgerichtet zu sein. Eine unpassende Umgebung für eine Weiterentwicklung der Nanobots.

Die Hütte, in die sie geführt wurde, war spärlich eingerichtet. Eine Matratze auf dem Boden, die sie förmlich einlud zwei Tage lang durchzuschlafen, ein kleiner Tisch, ein Schrank und zwei paar Stühle waren die karge Möblierung, die einzig und allein auf ihren praktischen Zweck hin entworfen wurden. Eine Schale mit Früchten stand mittig auf dem Tisch, neben einer gefüllten Karaffe mit Wasser. Ihre Ankunft war erwartet worden, wenn auch sicherlich nicht so überstürzt. Genüsslich biss Eva in eine der gelben Früchte, deren anfänglich süßlicher Geschmack in ihrem Mund sich in ungeahnte Schärfe verwandelte. Sie nahm einen Schluck Wasser, was die Intensität nur verstärkte. Hechelnd nach Luft, schluckte sie den Brei schnell runter, bevor das Feuer in ihrem Mund unkontrollierbar wurde.

„Nehmen Sie was von den Beeren, das neutralisiert den Vulkan in ihrem Mund.“ hörte sie eine nüchternde Stimme aus der Nähe des Einganges. Hektisch griff sie nach einer der kleinen blauen kreisrunden Früchte, die den Schalenrand zierten, als hätte man sie nur zu Dekorationszwecken dort platziert. Ein entspanntes Gefühl auf der Zunge stellte sich schnell ein, so als würde sie durch den Geschmack der Beeren massiert werden.

„Sie müssen noch viel lernen über Cree. Manche Früchte sind nur kombiniert zu ertragen.“ belehrte sie die Stimme. Ein Junge, mit dem Aussehen eines Anfang zwanzigjährigem. Sein beherrschter Gesichtsausdruck passte nicht zu den überheblichen und naiven Gesichtzügen, die normalerweise ein so junges Antlitz zierten. Wie Eva gelernt hatte, war es schwierig das Alter eines Cree zu ergründen. Der Junge vor ihr konnte zwanzig, fünfzig oder tausend Jahre alt sein.

„Wo ist Zaja?“ fragte Eva, nachdem der Massageeffekt auf ihrer Zunge nachgelassen hatte.

„Ihr geht es gut.“ sagte der Junge nüchtern, so als wolle er jegliche unnütze Kommunikation vermeiden.

„Kann ich sie sehen?“ ungewollt verfiel sie in den gleichen langweiligen Tonfall.

„Später. Der Rest der Gruppe wird gleich hier sein. Sie werden sich ausruhen. Inzwischen werden wir entscheiden, wie wir mit Ihnen weiter verfahren.“ Offenbar könnte diesen Burschen selbst im Angesicht einer Raubkatze nichts aus der Ruhe bringen. Eva verkniff sich weitere Fragen und ergab sich in ihr Schicksal des Wartens. Die Matratze verführte sie weiterhin, aber sie war sich sicher, dass ein Nachgeben ihr tagelangen Schlaf eingebracht hätte. Sie wollte wach bleiben, denn die ungewohnte Umgebung machte sie neugierig.

Eine halbe Stunde später trafen Dina und Eric ein. Letzterer hatte wieder genug Energie, um ausgiebig über die Unzulänglichkeiten des Dschungels zu wettern. Ein hässlicher Ausschlag zierte seine linke Gesichtshälfte.

„Was ist passiert?“ fragte Eva neugierig.

„Springende Ameisen. Glaubt man das? Die haben mich direkt angefallen.“ beschwerte sich Eric.

„Vielleicht lag es ja auch daran, dass du dich blindlings in ihren Bau gesetzt hast.“ verteidigte Dina die springfreudigen Insekten.

„Kein Grund mich gleich zu piesacken.“ Eric hatte jetzt eine der gelben Früchte in der Hand, deren seltsame Wirkung Eva schon erfahren durfte.

„Die solltest du nicht essen. Die sind sehr scharf.“ kam ihre Warnung zu spät.

„Dir hat wohl der Dschungel die Geschmacksnerven verkorkst. Das Zeug ist elendig süß.“ Eric hatte es ordentlich satt, dass Frauen ihm Vorschriften machten. In den letzten drei Tagen hatte er viel zu viel Emanzipation erfahren. Für ihn wurde es Zeit, dass die Dinge wieder ihren natürlichen Lauf nahmen. Er, als einziger Mann in der Gruppe, litt sichtlich unter der Amazonenherrschaft.

„Tu das nicht, mach jenes nicht. Frauen tun immer so allwissend, dabei wäret ihr doch ohne uns ziemlich aufgeschmissen. Vielleicht wird es Zeit, dass ihr, wie in den guten alten Zeiten euch wieder mehr den häuslichen Pflichten widmet und uns Männer einfach machen lasst.“ Ließ er seinen angestauten Frust heraus. Keine zwei Sekunden später fing er an zu hecheln, weil die Frucht ihre verheerende Wirkung entfaltete.

„Ein Glas Wasser Schatz?“ Eva konnte sich nach den frauenfeindlichen Worten diese Retourkutsche nicht verkneifen.

„Jahhh.“ röchelte Eric und ergriff den Becher, der ihm hingehalten wurde. Wie Eva schon erfahren hatte, verschärfte das Wasser Erics Dilemma noch.

„Ist das genau so, wie in den guten alten Zeiten?“ fragte sie spöttisch und zum ersten Mal verstand sie den Spaß, den Dina mit ihren Aktionen immer hatte. Eric war mittlerweile keiner Worte mehr fähig und der Ausschlag in seinem Gesicht ging unter in der roten Verfärbung, die sein Kopf jetzt angenommen hatte. Eva erlöste ihn, indem sie ihm die Blaubeere in den Mund drückte.

„Was für ein Teufelszeug.“ kommentierte er das gerade erlebte und ließ sich erschöpft auf der Matratze nieder. Er verkniff sich weitere Kommentare und keine zwei Minuten später schlummerte er selig vor sich hin.

„Erklärst du mir die Geschichte mit dem Armband?“ fragte Dina nach einer gewissen Weile.

„Das kann ich nicht. Es ist auch nebensächlich. Wichtig sind andere Dinge. Du hattest mit deiner Vermutung Recht, dass sie Sentry opfern wollen. Er ist ihnen zu unperfekt. Sie wollen ihren Cree zurück.“ Eva kämpfte jetzt mit der Müdigkeit.

„Diese Cree werden mir immer unheimlicher. Schau dich doch mal um. Macht nicht gerade den Eindruck einer weiter entwickelten Gesellschaft.“ Dina war ähnlich skeptisch wie Eva hinsichtlich des technologischen Fortschrittes der Cree.

„Warten wir es erstmal ab. Solange ich das Amulett habe, sind sie auf uns angewiesen.“ versuchte Eva die Skepsis zu bekämpfen.

„Das Ding könnten sie dir problemlos abnehmen. Da muss noch mehr sein. Aus irgendeinem anderen Grund brauchen die uns noch.“

„Wie auch immer. Jedenfalls sehe ich hier nichts, was uns weiterhelfen könnte. Wir sollten auch keinem trauen und nur mit Zaja sprechen.“ Eva wirkte ziemlich ratlos.

„Was ist das für eine Geschichte zwischen euch beiden? Traust du ihr?“ fragte Dina.

„Das tue ich. Ich glaube sie ist grundehrlich. Sie hat mir schonungslos die Interessen der Cree dargelegt, mit all ihren negativen Auswirkungen. Ich glaube diese Gehirnmutation macht ihnen das Lügen extrem schwer.“ erklärte Eva ihr Vertrauen.

„So hätte die ganze Sache auch was Gutes. Alles wird demnächst noch verschärft, wenn Red in ein paar Tagen hier eintrifft. Ich weiß nicht, ob den Cree dieses Wagnis ihn mit Nanotechnologie auszurüsten wirklich bewusst ist.“

„Wenn ich das richtig verstanden habe, können sie das ganze Lager in ein Dämpfungsfeld hüllen. Ich bin kein Technikexperte, aber das muss enorme Energie verbrauchen. Ich habe hier noch kein Kraftwerk gesehen.“ kombinierte Eva.

„Sei es wie es sei. Wenn sie unsere Hilfe benötigen, müssen sie irgendwann die Hosen runter lassen. Bis dahin bleibt uns nichts anderes übrig, als abzuwarten. Du siehst aus, als könntest du Ruhe gebrauchen.“ Dinas Blick fiel auf die Matratze mit dem schlafenden Eric.

„Unser Patriarch war da wohl schneller. Bleiben nur die Schlafsäcke.“ Eric und Dina hatten die zurückgelassenen Rucksäcke das letzte Stück bis zur Hütte geschleppt und Eva war dankbar ihre wenigen Habseligkeiten wieder zu haben. Auch wenn das Mysterium der Cree dringend einer Erkundung bedurfte, hatten sie derzeit nicht die Möglichkeiten ihrer Neugier nachzugeben. Dina hatte Recht. Die Cree mussten sich irgendwann positionieren und bis dahin blieb ihnen nur das Warten. Zeit, die sie zur Erholung nutzten.

Es war bereits wieder dunkel, als Eva erwachte. Es war kein erholsamer Schlaf und das Beseitigen des Chaos in ihrem Kopf würde eine gewisse Dauer benötigen. Eric schlief noch immer und nur Dina war wach. Sie vermittelte den Eindruck, als würde sie sich schon geraume Zeit langweilen.

„Gut geschlafen?“ begrüßte sie die verwirrte Eva. Diese hatte immer noch Probleme mit der Orientierung und obwohl sie mittlerweile verarbeitet hatte, dass sie sich auf einer fremden Welt und in einem wilden Dschungel befand, fiel ihr das klare Denken noch sichtlich schwer.

„Trink was von diesem Saft. Der macht dich vollkommen klar.“ ermunterte sie Dina das neue Getränk zu probieren, dass die Cree während ihres Schlafes bereit gestellt hatten. Vorsichtig geworden durch die unangenehme Erfahrung mit der Obstschüssel, nippte Eva nur kurz an dem Becher. Sie nahm keinerlei Geschmack wahr. Als tränke sie dickflüssiges Wasser. Zwei Minuten wartete sie, ob nicht doch, ähnlich wie bei der gelben Frucht, sich schlimme Nachwirkungen einstellen würden, dann nahm sie einen großen Schluck.

„Wow.“ entfuhr es Eva. In ihrem Kopf war immer noch alles durcheinander, aber sie hatte das Gefühl dieses Chaos zu beherrschen. Nun meldete sich ihr vernachlässigter Magen mit einem Knurren.

„Kann man den Früchten trauen?“ fragte sie Dina. Als Antwort bekam sie eine Flasche mit Kalorien gereicht.

„Vermutlich ja, aber das Testen überlasse ich lieber unserem Stammesoberhaupt.“ nickte Dina kurz in Richtung Eric. Eva musste schmunzeln, als ihr sein rotes Gesicht nach dem Verzehr der Frucht wieder einfiel.

„Vielleicht sollten wir ihm nicht ganz so zusetzen. Für ihn ist es sicherlich nicht leicht.“ Eva hatte ein wenig schlechtes Gewissen wegen der Geschichte mit der scharfen Frucht.

„Das ist es für keinen von uns. Du musst zugeben es hat Spaß gemacht.“

„Ja hat es, aber es war nicht richtig. Ich hätte…“ Eva unterbrach ihren Satz, da die Tür geöffnet wurde. Zaja betrat mit gleichgültiger Mine den Raum.

„Wie geht es dir?“ fragte Eva sichtlich erfreut sie wohl auf zu sehen. Sie verspürte sogar kurz den Drang sie zu umarmen, aber erstens wäre das Zaja sicher nicht Recht gewesen und zweitens war sie sich selber unsicher über solch Rituale, die sie in ihrer eigenen Vergangenheit reichlich vernachlässigt hatte.

„Es ist alles in Ordnung.“ erwiderte Zaja in nüchternem Tonfall. Sie wirkte fast wie ein Roboter, dem sämtliche Emotionen fremd waren. Keine Spur von der Leidenschaft, mit der sie die Cree im Dschungel verteidigte. Da sie ein neues Armband an ihrem Gelenk trug, war auch die Schwangerschaft weiterhin vorhanden.

„Schön. Wie geht es jetzt weiter?“ fragte Eva.

„Wir werden euch zu David bringen. Er wird euch alles Weitere erklären.“ Zaja klang immer noch vollkommen emotionslos.

„Wir?“ Erst jetzt bemerkte Eva den scheinbar jungen Mann, der ihr schon begegnet war. Er stand vor der Tür und überließ Zaja das Reden.

„Gut. Wird auch Zeit für ein paar Erklärungen.“ Dina ging zu Eric und weckte ihn unsanft. Unter ordentlich Protest, schaffte sie es ihm einen Becher Muntermachersaft einzuflößen und keine fünf Minuten später betraten sie die Nacht von Cree.

Zu ihrer Überraschung fanden sie nicht die vertraute und vollkommene Schwärze vor, die sie bereits auf dem Weg hierher als Gegebenheit angesehen hatten. Rechts und links des kleinen Flusses befanden sich Fackeln, die sich auf der Wasseroberfläche wieder spiegelten und leise vor sich hinknisterten. Die Dschungellaute waren wieder auf ein erträgliches Maß zurückgegangen, was Eva vermuten ließ, dass die Nacht bereits weit fortgeschritten war. Die Hütten an den Ufern waren spärlich beleuchtet und das Flackern deutete auf Aktivitäten in ihrem Innern hin. Zu fünft betraten sie nacheinander einen dunklen Weg, der als Verbindung zur Nachbarhütte diente. Geführt von dem unbekannten Cree passierten sie mehrere Behausungen, die an Einfachheit in Nichts ihrer eigenen Hütte nachstanden. Wieder nagten die Zweifel an der Gruppe, ob es sich wirklich um eine fortschrittliche Gemeinschaft handelte.

Zaja schloss die Gruppe ab, die nacheinander die schmalen Wege passierte. Ihre Verletzung aus dem Flussbett ließ sie leicht humpeln, da die Selbstheiler daran gehindert wurden ihre Genesung zu beschleunigen. Direkt vor ihr ging Eva und jeder Versuch eine Konversation zu beginnen, wurde ignoriert. Es schien fast so, als wäre Zaja durch eine roboterhafte Kopie ersetzt worden. Eva war dieses Rollenspiel vertraut und daher registrierte sie mit Schrecken die Ähnlichkeiten zu ihren eigenen Erfahrungen. Innerhalb der Gemeinschaft des „Tempel des Friedens“ gab es unausgesprochene Regeln für ein tadelloses Verhalten. Jegliche individuelle Eigenschaften waren unerwünscht und wurden sogar bestraft. Sie spielte eine Rolle, die im Laufe der Jahre zu ihrer Persönlichkeit wurde und sich nicht mehr unterschied von den anderen Jüngern des Führers. Ein vorgezeichnetes Schicksal, dem sie nur unter größten Entbehrungen entfliehen konnte. Auch Zaja würde vermutlich irgendwann an diesen Punkt gelangen, an dem sie sich entscheiden musste.

Eine halbes Dutzend Hütten passierten sie auf den dunklen Wegen, ohne das sie weitere Cree getroffen hatten. Sie überquerten eine Hängebrücke, die aus Holzlatten bestand und den Fluss weiträumig überspannte. Die Baracke auf der anderen Seite war nur ein weiterer Baustein des mittlerweile langweiligen Einheitsdesign des kleinen Lagers, aber zu ihrer Überraschung kamen sie genau vor dieser Hütte zum stehen.

„Da drinnen finden wir euren Anführer?“ fragte Eric skeptisch.

„Wir besitzen keinen Anführer. Wir sind alle gleichberechtigt.“ erklärte der unbekannte Cree ein wenig herablassend und öffnete die Tür. Im Inneren befand sich erstaunlicherweise gar nichts. Der Holzboden unter ihren Füßen knarrte, als die Gruppe die leere Hütte betrat.

„Wir stimmen ab über unsere Entscheidungen und normalerweise sind diese Abstimmungen fast immer einstimmig.“ griff der Unbekannte das Thema wieder auf.

„Wir haben natürlich auch über euch entscheiden lassen. Nur wenige Menschen haben Kenntnis über das hier und noch weniger Menschen haben diesen Ort jemals betreten.“ Sein langweiliger Ton ließ keinerlei Spannung aufkommen.

„Eine leere Holzhütte mitten im Dschungel ist auch nicht unbedingt einen Besuch wert.“ warf Eric ein und zum ersten Mal kratzte er damit an der scheinbar unerschütterlichen Beherrschung des Cree. Dieser ging wortlos in eine der Ecken und öffnete eine bisher nicht ersichtliche Luke im Boden.

„Erstmals seit zweihundert Jahren gab es unterschiedliche Meinungen darüber, ob es notwendig ist, einen Einblick in die Welt der Cree zu erlauben. Die Mehrheit hat entschieden euch einen Vertrauensvorschuss zu gewähren, denn immerhin erwarten wir viel von euch.“ Die Gruppe hatte sich jetzt um das Loch im Boden versammelt und starrte neugierig in die Dunkelheit unter ihnen.

„Und was genau erwartet uns da unten in der Welt von Cree?“ fragte Dina stellvertretend für alle Anderen.

„Folgt mir einfach.“ bekam sie als Antwort und schon befand sich der Cree auf der ersten Stufe der Leiter, die in die Tiefe führte.

„Dunkle unterirdische Schächte. Da hoffen wir mal, dass das Wort Vertrauensvorschuss nicht nur so dahin gesagt ist.“ Eric wirkte nicht wirklich begeistert, aber nach kurzem Zögern stieg er hinterher. Dina war die nächste und nun waren Zaja und Eva allein.

„Ich weiß es ist schwer innerhalb des Lagers an die wahre Zaja ranzukommen, aber genau die brauche ich jetzt. Was immer uns da unten auch erwartet, es ist eines eurer größten Geheimnisse. Ich kenne nun mittlerweile eure starren Ansichten von Effizienz, Disziplin und vermutlich auch Logik. Was versichert mir, dass Letzteres nicht bei einer euren viel gepriesenen Abstimmungen dazu führt, dass dieses Wissen für uns zu einer tödlichen Konsequenz führt. Immerhin sind wir für euch nur entbehrliche Primitive, die nach Vollendung unseres Auftrages zu einem Sicherheitsrisiko werden.“

„Du hast es immer noch nicht verstanden. Wir nutzen solche Mittel nicht.“ Zaja hatte sich nun wieder in die Alte verwandelt.

„Ach ja. Wie alt bist du? 21? Glaubst du, nur weil du ein mutiertes Gehirn hast, bist du gefeilt vor Fehlern. Es ist noch kein halbes Jahr her, da war ich in derselben Situation wie du. Es sind Menschen gestorben, weil ich an der Unfehlbarkeit unserer Sache geglaubt hatte. Dich plagen Zweifel, die ich gut kenne. Diese ganze Vorstellung der braven Cree ist ein eindeutiges Zeichen dafür. Höre hinein in diese Zweifel und versichere mir, dass die Sache gut ausgehen wird für uns.“ Ihre Blicke trafen sich und Zaja war der Kampf ihres Gewissens deutlich anzusehen. Sie wandte sich zuerst ab.

„Du solltest jetzt darunter gehen.“ sagte sie jetzt wieder in ihrem roboterhaften Tonfall.

„Ihr könnt wirklich nicht lügen. Das fällt dir jetzt auf die Füße.“ Eva machte sich an den Abstieg.

„Ich schulde dir was und das werde ich auch nie vergessen.“ schickte Zaja noch hinterher und machte sich ebenfalls an den Abstieg.

Wie weit die Leiter in die Tiefe ragte, war in der Dunkelheit schwer zu schätzen, aber der Abstieg war vermutlich mehr als zehn Meter. Unten erkannte Eva ein paar Lichtkegel, die ihr die letzten Stufen beleuchteten. Ihre Füße traten in was Glitschiges, als sie den Boden berührten.

„Vorsichtig. Es ist ziemlich rutschig.“ wurde sie belehrt und bevor sie sich versah, wurde ihr eine Taschenlampe in die Hand gedrückt. Sie ließ das Licht schweifen und das Einzige was sie ausmachen konnte, war ein langer Tunnel, der Richtung Norden führte. In der Gegenrichtung gab es nur Fels, so dass die Leiter das Endziel darstellte. Sie stieß gegen eine kleine Kiste zu ihren Füßen, die mit allerlei hilfreichen Werkzeugen zur Erkundung des Tunnels versehen war. Die Enge wirkte bedrückend und erlaubte wieder nur einen Marsch der Reihe nach. Wortlos folgten sie dem Cree, der sich nie die Mühe machte nach seinen Schützlingen zu schauen. Dreißig Minuten ging es auf reinem Fels leicht bergab und die ungewohnte Kühle, die von den steinigen Wänden abgestrahlt wurde, ließ die Gruppe leicht frösteln. Zu stehen kamen sie erst vor einer großen eisernen Tür, die ziemlich deplatziert am Ende des in den Fels getriebenen Tunnels wirkte.

Der Cree machte sich am Schloss der Tür zu schaffen und aus nachvollziehbarem Grund, reichte allein seine genetische Zugangsberechtigung nicht aus, um diesen massiv gesicherten Zugang zu öffnen. Nach einer scheinbar endlos scheinenden Zahlenreihe, die er unermüdlich und ohne Fehler in die Tastatur eingab, entriegelte das Schloss. Voller Anspannung, was denn da auf der anderen Seite auf sie wartete, dass so sicherungswert war, durchschritt einer nach dem anderen die Tür.

Die ungeahnte Helligkeit blendete Eva, so dass sie für einen Moment glaubte wieder an der Oberfläche zu sein. Sie musste regelrecht ihren Geist dazu verdonnern die Tatsache zu akzeptieren, dass sie sich tief unter der Erde befand. Der tat sich sichtlich schwer die Sinnestäuschung durch Logik zu entlarven, denn das Licht war praktisch nicht zu unterscheiden von dem, was die Sonne von Cree jeden Tag in den Dschungel sandte. Sie hob ihren Kopf und sah den nächsten Grund an ihrem Sinneszustand zu zweifeln. Die Weite des azurblauen Himmel schien unendlich und am Horizont erhoben sich Berge, die in weiße Wolken eingehüllt waren. Jetzt war sie endgültig verwirrt und als letzte Gegenmaßnahme sich der perfekten Illusion bedingungslos zu ergeben, zwang sie sich umzudrehen. Die Tür, von der sie gerade noch fest überzeugt war, dass diese sich weit unter der Oberfläche befand, zeigte ihr jetzt genau das Gegenteil auf. Hinter ihr gab es nur Himmel und die Plattform, auf der die Gruppe stand, ging bis zu dieser scheinbar frei schwebenden Tür und bildete den Rand zu einem Abgrund, der unendliche Tiefe besaß.

„Das ist verrückt.“ Eric hatte jetzt auch die scheinbar sinnlose Tür bemerkt. Vorsichtig, immer mit der Angst abzustürzen, näherte er sich dem Rand der Plattform. Er versuchte seine Hand auszustrecken, stieß aber auf ein unsichtbares Hindernis.

„Projektion. Das ist ein riesiger Monitor.“ stellte er verblüfft fest.

„Genau genommen sind es Milliarden von kleinen Monitoren. Alle nicht größer als ein Pixel.“ verbesserte ihn der Cree.

„Ihr simuliert damit Tageslicht. Sonne und Wolken. Sie bewegen sich sogar.“ Eric kam aus dem Staunen nicht mehr raus.

„Alles Vorgaben eines bestimmten Programms. Genauso wie Sonnenuntergänge oder Sterne.“ erklärte der Cree gelangweilt. Eva schaute jetzt in die gegensätzliche Richtung der Plattform und an deren Ende befand sich ein Geländer. Noch war sie zu weit weg, um in das darunter liegende Areal zu sehen, aber bei dem Rand war sie sicher, dass ein realer Abgrund dahinter lag. Mutig steuerte sie darauf zu und was sie sah verschlug ihr regelrecht den Atem.

Kapitel 11

Sie betraten die Welt der Cree, die auf den ersten Blick einer gigantischen Illusion glich. Der Himmel und der Horizont, die sie gerade ungläubig aus nächster Nähe bewundert hatten, sollten sich als ein Bruchteil dessen herausstellen, was sich jenseits dieses Geländers offenbarte. Eine schier endlose Weite tat sich unter ihnen auf. Felder, Straßen, mehrstöckige Gebäude und vor allen Dingen Menschen, die scheinbar regelmäßigen Tätigkeiten nachgingen, wuselten wie winzige Ameisen durch das künstlich angelegte Areal. Evas Verwirrung über das Tal dort unten rührte von der unwiderleglichen Tatsache, dass sie sich tief unter der Erdoberfläche befanden. In den letzten tausend Jahren musste hier eine riesige Höhle ausgehoben worden sein, die noch heute als Behausung der Cree diente. Sie konnte den Aufwand für diesen unterirdischen Wahnsinn nicht mal annähernd erahnen, aber es musste ein Vielfaches dessen sein, was für Vergleichbares an der Oberfläche notwendig wäre und das sprengte schon jegliche Vorstellungskraft. Hatte sie bisher die Exsons als Spitze der menschlichen Baukunst angesehen, wirkten diese im Vergleich zu dieser unterirdischen Welt wie das Holzspielzeug eines Dreijährigen.

„Warum?“ hörte sie Dina neben sich fragen. Auch sie konnte nicht fassen, was sie gerade erblickte. Der Cree neben ihr schaute sie mit einem herablassenden Blick an, so als missbillige er ihre naive Bewunderung für das eigentlich Normale.

„Warum unter der Oberfläche?“ präzisierte sie ihre Frage.

„Wir brauchen unsere Privatsphäre.“ kommentierte der Cree trocken.

„Eine geschlossene Gesellschaft ohne Menschen. Da habt ihr euch ja viel Mühe gegeben. Ich kann nicht mal ein Ende dieses Wahnsinns erkennen.“ Dina hatte sich jetzt wieder ein wenig gefangen.

„Natürlich nicht. Die Monitore gaukeln Unendlichkeit vor. Irgendwann rennst du gegen eine unsichtbare Wand.“ warf Eric ein. Er befand sich in einem Vollrausch im Angesicht dieses technischen Meisterwerkes vor ihm, so dass er jegliche Besserwisserei vermissen ließ.

„Wir sollten weiter.“ versuchte der Cree die Gruppe aus der durch Erstaunen verursachten Apathie zu holen. Vergeblich, denn ein Windhauch fesselte die Neugierde erneut.

„Wind. Ich spüre den Wind auf meinem Gesicht. Kein Luftzug. Das ist natürlicher Wind. Wie zum Teufel…“ Eric brach ab. Sein Gehirn versuchte die technischen Zusammenhänge hinter diesem ganzen Phänomen dort unten zu ergründen, aber spätestens mit dem Windhauch kapitulierte es und versetzte sein logisches Denken auf Grund von Überlastungsgefahr in den Ruhemodus.

„Die technischen Details sind unwichtig. Wir sollten jetzt da runter.“ Es war jetzt an Zaja die Gruppe zum Weitergehen aufzufordern. Sie hatte mehr Erfolg und ohne den Blick über das Tal abzuwenden, folgten sie dem Verlauf des Geländers wie ferngesteuerte Zombies.

Mit der Ankunft an einer Treppe, änderten sie ihre Prioritäten in Sachen Aufmerksamkeit. Diese schien frei schwebend im Himmel und erst als sich Eric mit einem leichten Klopfen an einer unsichtbaren Wand versicherte, dass da wirklich etwas war, an der eine Verankerung angebracht werden konnte, betraten sie zögerlich die unsicher wirkenden Stufen. Mit jedem Schritt wurden sie mutiger und obwohl sie genau wussten, dass sie sich durch eine gutgemachte Illusion bewegten, waren sie bemüht die scheinbar haltlose Treppe im Himmel so schnell wie möglich zu verlassen. Diese endete mitten auf einem Feldweg und der Blick zurück nach oben ließ keinerlei Struktur erkennen. Die Stufen führten ins Nichts, aber wie sie nun gelernt hatten, verschleierten Monitore die Unterseite der Plattform. Irgendwo da oben gab es einen Ausgang, der in reale Landschaften führte.

Sie folgten dem Feldweg, bis sie auf eine größere Straße trafen, die auch für weniger geländefähige Fahrzeuge ausgelegt war. Die Gruppe fühlte sich unsicher in der Unterscheidung von Illusion und Realität. Obwohl sie keinen halben Meter vor den Monitoren gestanden hatten, waren diese nicht zu erkennen gewesen. Die Gefahr auf Grund von Unwissenheit gegen unsichtbare Hindernisse zu laufen, verzögerte ihren Schritt. Hier konnte alles getarnt sein und obwohl es eigentlich unlogisch erschien, irgendwelche Felsbrocken in einem Feld von Monitoren verschwinden zu lassen, konnten sie den Gedanken nicht vollends aus ihrem Bewusstsein verdrängen. Die Verwirrung tief unter der Oberfläche zu sein und trotzdem die Sonne und den Wind auf der Haut zu spüren überlastete sie mental zusätzlich. Sie mussten sich an die neue Umgebung erst gewöhnen.

Sie betraten die Straße und rechts von ihnen parkten zwei Personentransporter, während links nur ein kleines Schild mit einer abweisenden roten Hand auf hellem Untergrund mittig in den Asphalt eingelassen war. Ein sehr unauffälliges Hinweisschild, um nicht in die Felswand zu krachen, aber vermutlich kannten alle Einwohner die Grenzen dieser Welt. Mit mulmigem Gefühl bestiegen sie einen der Transporter und fuhren mit nicht unerheblicher Geschwindigkeit in Richtung der Häuser, die sie auf der Plattform bereits ausmachen konnten. Ihre Fahrt ging vorbei an Getreidefeldern, die eindeutig zur Realität gehörten und von Bauern teilweise bearbeitet wurden. Mit zunehmender Zeit akzeptierte ihr Bewusstsein die unterirdische Welt als eine Wirklichkeit, die sie von Lassik oder Eyak her kannten und nur gelegentliche Erinnerungen an den beengten Tunnel, den sie vor etwa einer halben Stunde erst verlassen hatten, zeigten den eigentlichen Betrug auf. Sie wurden eingelullt von der perfekten Täuschung und vergaßen den Dschungel über ihren Köpfen genauso wie die Gefahren, die außerhalb dieses Biotops lauerten. Eine kleine sichere Oase vor den Unzulänglichkeiten der menschlichen Welt.

Als sie den Rand der unterirdischen Stadt erreichten, nahmen Eva bereits keine Notiz mehr von den Raumschiffen, die im nahe liegenden Raumhafen auf den Landeflächen standen. Nichts Außergewöhnliches, hatte doch jede Welt ihren Kontakt zur Galaxis. Erst Eric mit seiner technischen Neugierde erinnerte die Mädels an die Schwierigkeiten, die ein Raumschiffstart so tief unter der Oberfläche mit sich brachte. Es gab also einen größeren Zugang zu diesem Paradies, der Start und Landungen von Schiffen ermöglichte. Eine Nachfrage bei ihren Führern, wie denn so was Großes die Welt hier unten verlassen konnte, wurde nur mit Schweigen beantwortet. Offenbar waren die Cree nicht bereit sich vollkommen zu entblößen und so ergab sich Eric in wilden Theorien über die technischen Zusammenhänge, wobei er vermutlich mit mindestens einer Variante ziemlich nah an die Wirklichkeit kam.

Ihr Fahrzeug kam im belebten Zentrum der Stadt zum stehen. Mehrstöckige Häuser säumten die Bürgersteige, auf denen jede Menge Cree aktiv waren. Keinerlei Hektik war in ihren Bewegungen auszumachen. Die Ruhe und Gelassenheit, aber vor allen Dingen ihre besonnene Ausstrahlung, passte in das Bild, dass sich Eva bisher von den Cree gemacht hatte. Normalerweise ging jede größere Ansammlung von Menschen mit unvermeidbarer Geschäftigkeit einher, aber hier wurde jegliche Form von Hast vermieden. Mit ungutem Gefühl dieses Gleichgewicht an Ruhe als Störfaktor zu durchbrechen, öffnete sie die Tür des Transporters und trat ins simulierte Freie.

Es war ein unangenehmer Augenblick, als sie die Blicke von gefühlten hundert Cree auf sich zog. Eine unsichtbare Bremse verlangsamte die eh schon ruhigen Bewegungen der Bevölkerung und brachte sie endgültig zum Erliegen, als sich alle nach ihr ausgerichtet hatten. Eine ungeahnte Stille breitete sich aus. Verlegen schaute Eva sich um, aber als sie nur ausdruckslose Blicke auf sich spürte, wandte sie sich ihren Freunden zu, die zögerlich den Transporter verließen. Sie waren vermutlich seit Jahren die ersten Fremden, die diese Stadt betraten und dementsprechend zogen sie die Aufmerksamkeit auf sich. Es war keine Neugierde, die ihnen entgegen schlug und für Eva war es unmöglich zu ergründen, mit welchen Emotionen sie empfangen wurden.

„Zombies.“ raunte Eric leise, als er hunderte ausdruckslose Blicke auf sich ruhen sah.

„Wohl eher Roboter.“ verbesserte ihn Dina ebenso leise und in der Annahme nicht gehört worden zu sein.

„Menschen. Primitive Beleidigungen sind typisch.“ durchbrach eine junge Frau die unangenehme Stille mit einer emotionslosen Stimme, die wieder im kompletten Gegensatz zu ihrem jugendlichem Aussehen stand.

„Mutiertes Gehör haben die auch noch.“ zischte Eric noch leiser. Zaja gesellte sich jetzt zu ihnen und passte sich mit ihrem eigenen Auftreten der roboterhaften Umgebung an. Sie hatte wieder keinerlei Ähnlichkeit mit der wilden Zaja, die sie durch den Dschungel führte.

„Dort drüben werden wir empfangen.“ Ein Gebäude auf der anderen Seite der Straße war ihr Ziel. Als wären ihre Worte ein verschlüsselter Befehl sich zu bewegen, traten die Einwohner zur Seite, die den unmittelbaren Weg dorthin blockierten. Durch eine Gasse von regungslosen Cree passierte die Gruppe die Straße und war froh, als sie in der Lobby wieder halbwegs unter sich war.

„Das war unheimlich.“ kommentierte Eric den eher frostigen Empfang.

„Allerdings. Greise in Körpern von Jugendlichen.“ Dina tat sich schwer mit der Verarbeitung des gerade Erlebten. Sie saßen jetzt in bequemen Sesseln und waren erneut zum Warten verdonnert worden. Zaja und der Cree waren die Treppe hinauf verschwunden, um das Eintreffen der Gruppe zu melden. Sie hatten also etwas Zeit die neuen Eindrücke wirken zu lassen und die übertrafen sich die letzte Stunde gegenseitig. Der Gipfel war ohne Zweifel der emotionslose Empfang der hiesigen Bevölkerung, die jetzt, beobachtet durch die verglaste Außenfassade, ihren gewohnten Tätigkeiten nachgingen, als wären die Fremden nie erschienen. Unruhig, darauf wartend was als Nächstes auf sie zukommen würde, rutschte Eva in dem Sessel hin und her. In solchen Situationen voller Anspannung war sie froh über die Gesellschaft von Eric und vor allen Dingen von Dina. Letztere schien die Ruhe selbst, aber Eva kannte sie mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass sie innerlich ähnlich angespannt war. Es ging um viel und sie waren sich nicht sicher, ob sie wirklich von Freunden umgeben waren. Sie hatten ein gemeinsames Ziel vor Augen. Die Befreiung von Sentry. Die Cree wollten nichts Anderes, auch wenn ihre Motive abwichen von denen seiner Freunde. Vorerst mussten sie am selben Strang ziehen. Eine Tatsache, die auch ihren Gastgebern bewusst war. Die wirkliche Konfrontation würde erst nach dem Erfolg eintreten und von diesem Punkt an würde Zaja sich entscheiden müssen. Eine Situation die Eva gut kannte.

Eine gefühlte Ewigkeit verbrachten sie in der Lobby und es schien schon fast so, als wären sie vergessen worden. Cho, der Cree, der sie die ganze Zeit begleitet hatte und seinen Namen erst nach drängendem Nachfragen von Eric preisgab, führte sie in die zweite Etage. Vorbei an scheinbar willkürlich besetzten Büros, offenbar befanden sie sich in einem Verwaltungsgebäude, wurden sie in einen eher nüchternden Raum geführt, der außer einem zweiten Zugang, einem großen Tisch und die schon aus der Lobby bekannten Sessel, keinerlei unnötiges Mobiliar besaß.

„Ich hatte eher mit so was wie einem Tempel gerechnet. Hohepriester und Altar, an dem Jungfrauen zum Erhalt von Disziplin und Ordnung geopfert werden.“ klang Eric sichtlich enttäuscht über die karge Einrichtung des Raumes. Cho hatte bereits die wichtigste Lektion im Umgang mit Eric gelernt und die hieß Ignoranz. Zum ersten Mal fand er eine praktische Anwendung dafür.

„Hoffentlich müssen wir nicht schon wieder warten.“ quengelte der unbeirrt weiter. Sein Flehen wurde erhört und durch die zusätzliche Tür betraten drei Cree den Raum. Sie setzten sich der Gruppe gegenüber, so dass sie nun von Angesicht zu Angesicht saßen.

„Was jetzt?“ durchbrach Dina das Schweigen, weil die Neuankömmlinge nicht willig waren zu reden. Cho verließ den Raum und Zaja setzte sich an den Kopf des Tisches, als würde sie eine scheinbar neutrale Position einnehmen. Immer noch war niemand bereit etwas zu sagen, so dass unangenehme Verklemmtheit bei Eva und Eric vorherrschten. Nur Dina war gelassen und musterte ihren Gegenüber ungeniert. Ein Mann in fortgeschrittenem Alter, was auf Cree sehr ungewöhnlich war. Er hatte wieder diesen nichts sagenden Gesichtsausdruck aufgelegt, der höchstens etwas Arroganz durchscheinen ließ. Seine Kleidung war schlichtes Leinen und kaschierte den hageren Körperbau nur unzureichend. Schütteres Haar und eingefallene Gesichtsknochen ließen auf keinen gesunden Zustand schließen, aber hier auf Cree war nichts so wie es schien. Sie stufte ihn als langweilig ein, was vermutlich auf 99% der Einheimischen zutraf und wandte sich dem Mann an seiner Seite zu. Er saß Eva genau gegenüber und war ebenfalls etwas älter. Ohne dass er sich vorgestellt hatte, ahnte Dina, dass sie David vor sich hatten. Seine Ausstrahlung konnte am besten mit erhaben beschrieben werden. Ihm war es offensichtlich nicht so wichtig als ein weiterer anonymer Teil in die Masse von Cree abzutauchen. Im Gegensatz zu seinem Partner machte er einen gesunden und vitalen Eindruck. Dina wollte sich gerade der dritten Person widmen, einer älteren Frau mit ergrautem Haar, als ihr kränklicher Gegenpart endlich anfing zu reden.

„Wir sind die Letzten der Ursprünglichen.“ sagte er vollkommen leidenschaftslos und raubte dem Satz damit seinen nötigen Ernst.

„Soso.“ murmelte Eric als Einziger vor sich hin, da offenbar irgendeine Form von Antwort erwartet wurde.

„Die erste Generation der Cree.“ ergänzte der Alte.

„Das würde ja bedeuten, dass ihr über tausend Jahre alt seid.“ sagte jetzt Dina sichtlich beeindruckt. Keiner der Cree ging auf ihre Bemerkung ein.

„Nach so langer Zeit ist man wohl nicht mehr so gesprächig.“ kommentierte sie das Schweigen.

„Mein Name ist Goran. Das sind David und Vaja.“ fuhr Goran in unbeirrt nüchterndem Tonfall fort.

„Schön. Wer wir sind, wisst ihr ja. Offenbar ist Smalltalk nicht so euer Ding, also kommen wir gleich zur Sache. Sentry. Was wollen wir unternehmen?“ fragte Dina ohne weitere Umschweife. Anstelle von Goran ergriff David jetzt das Wort.

„Coen. Sein Name ist Coen.“ verbesserte er Dina in unerwartet freundlichem Tonfall.

„Doch nicht alles Roboter.“ entgegnete Dina überrascht.

„Er ist seit etwa drei Wochen in den Händen der Science. Ich fürchte das Schlimmste für ihn. Er muss zurück nach Cree.“ Sorge schwang in seiner Stimme mit.

„Da sind wir uns einig, auch wenn wir aus unterschiedlicher Motivation handeln. Wir kennen diesen Coen nicht. Sentry dagegen ist unser Freund. Wir wollen nicht, dass ihm irgendetwas passiert. Weder durch die Science, noch durch die Cree.“ hakte Eva jetzt ein und brachte das Thema der zwiespältigen Persönlichkeit schneller als geplant auf den Tisch.

„Dieser Sentry ist irrelevant.“ Vaja war nun mit sprechen an der Reihe.

„Das ist er nicht.“ widersprach David, bevor Eva ansetzen konnte und versetzte diese damit in Erstaunen.

„Er ist ein Lebewesen mit eigenem Geist und eigener Persönlichkeit. Wir können ihn nicht ignorieren. Diesen Fehler begingen wir vor tausend Jahren schon einmal und es hat uns fast an den Rand der Auslöschung gebracht. Du warst dabei. Du hast das Sterben gesehen.“ David rang förmlich um Beherrschung.

„Und nun? Es können nicht beide existieren.“ Eva war immer noch verdutzt über die ungeahnte Schützenhilfe.

„Die Prioritäten liegen derzeit bei seiner Flucht.“ Goran vermied eine erneute Namenserwähnung.

„Also verschieben wir das Problem, bis wir ihn haben. Na gut. Was ist euer Plan?“ fragte Dina. Nun war es an Zaja die Erklärung zu übernehmen.

„Wir kennen unseren Feind und wir kennen seine Schwachstellen.“ fing sie an und vermied jegliche Form von Erregung in ihrer Stimme.

„Ihr habt Spitzel?“ fragte Eric.

„Menschen sind käuflich. Eine Schwäche, die wir uns zu Nutze machen. Wir schleusen euch bei der Science ein.“ fuhr Zaja fort.

„Einschleusen? Einfach so?“ Dina war skeptisch.

„Die Science lebt auf keinem Planeten. Ihre Basis ist ein interstellares Transportschiff, ähnlich wie die Exsons, die zwischen den Welten kreuzen. Begleitet wird dieser Transporter von einer großen Flotte von Schiffen, die notwendige Güter herstellen. Da setzten wir an. Alle drei Monate rekrutiert die Science neues Personal. Die Auswahlkriterien sind hart, aber mit Hilfe unserer Kontakte werdet ihr ein Teil dieser neuen Angestellten.“ Zaja machte eine kurze Pause, die Dina nutzte um ihre Zweifel anzubringen.

„Warum wir? Warum geht ihr nicht selbst oder lasst das einen eurer käuflichen Menschen erledigen?“

„Wir Cree würden schon anhand unseres Verhaltens auffallen und die Rekrutierung eines halbwegs vertrauenswürdigen Menschen erfordert mehr Zeit.“ erklärte David jetzt.

„Außerdem habt ihr eine persönliche Bindung zu…“ Goran brach ab, weil er eine weitere Diskussion für unnötig hielt, wen sie da eigentlich retten wollten.

„Er vertraut euch und wie ich das einschätze, seid ihr an seiner Rettung aus rein menschlichen Gründen interessiert.“ hakte David erneut ein.

„Menschlich. Das steht bei euch noch mal für was? Emotionen. Mag sein, dass es so ist. Wir haben Motive ihn zu retten, die ihr vermutlich durch euer überzüchtetes Gehirn nicht mal annähernd nachvollziehen könnt. Wir mögen Sentry und sind bereit unseren Kopf hinzuhalten, während ihr hier gemütlich unter der falschen Sonne liegt. Das Risiko ist also ganz auf unserer Seite und deswegen kommt ihr nicht so billig aus der Nummer raus. Es wird euch was kosten.“ Zum ersten Mal schaffte es Dina eine Reaktion bei Goran zu bewirken, auch wenn es nur ein kurzer Hauch von Abscheu war.

„Was ist euer Preis?“ fragte er selbstgefällig, so als würde sein über die Jahrhunderte geformter Eindruck von der Menschheit gerade bestätigt werden.

„Die Missgeburt, die demnächst hier eintreffen wird.“ antwortete Dina. Es brauchte ein paar Sekunden, bis die Cree vollständig begriffen, was denn da als Bezahlung herhalten sollte.

„Rache ist das Primitivste aller Gefühle. Nichts verletzt mehr und spiegelt das Wesen der Menschen besser wieder.“ Es war jetzt an Vaja die nächste Runde Herablassung zu verschicken.

„Mag sein, aber er ist meine Bezahlung.“

„Wir können dir diesen Menschen nicht überlassen, weil er notwendige Informationen über die Cree besitzt. Wähle etwas Anderes.“ Goran wirkte jetzt genervt, denn diese Diskussionen waren für ihn deutlich über seinen moralischen Ansprüchen.

„Er ist mein Preis. Macht euer verdammtes Geschäft mit ihm, aber danach gehört er mir.“ Die Ursprünglichen sahen sich jetzt gegenseitig an und Dina konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass gerade eine telepathische Diskussion über das für und wieder ihrer Forderung ausgetragen wurde.

„Einverstanden.“ war das nüchternde Ergebnis dieses unsichtbaren Disputs.

„Keine Moralpredigt hinten dran?“ fragte Dina sarkastisch und erntete nur Schweigen.

„Was wollt ihr?“ Vaja wandte sich jetzt an Eric, der sichtlich überfordert schien.

„Ich… Ich will… Ich weiß es nicht.“ resignierte er nach ein paar erfolglosen Versuchen.

„Aber ich weiß es.“ Eva übernahm jetzt das reden.

„Wenn unsere Mission erfolgreich ist, werdet ihr ihm jede technische Frage in diesem Komplex beantworten. Keine Ausnahme. Alles wird erklärt.“ forderte Eva resolut. Wieder verfielen die Cree in geisterhafte Diskussionen und da sie diesmal weitaus länger brauchten für eine Entscheidung, war das Preis geben der Sicherheit der Anlage ein größerer Brocken, als das Ableben von Red.

„Einverstanden.“ Auch die zweite Forderung wurde erfüllt.

„Jetzt ist es wohl an mir. Es ist nicht leicht, weil ich nicht weiß, wie meine Zukunft in ein paar Wochen oder in einem Jahr aussehen wird. Das Einzige, was definitiv irgendwann passieren wird, ist die Rückkehr nach Lassik. Ich weiß nicht, wann ich dazu bereit bin, aber dass es notwendig ist, steht außer Frage. Ein Transport nach Lassik ist meine Forderung und das zu meinen Bedingungen.“ Eva hatte das Gefühl schon Jahrhunderte fern von ihrer Heimat zu sein. Einen Gutschein über eine Rückkehr, die jederzeit möglich war, würde das Heimweh etwas lindern.

„Einverstanden.“ diesmal herrschte von Anfang an Einigkeit.

„Gut. Das wäre geklärt. In zwei Tagen werdet ihr den Planeten verlassen.“ für Zaja war die Sache erledigt, aber die Gruppe sah das wohl anders.

„Offenbar haben wir unterschiedliche Vorstellungen von geklärt. Wir haben nicht mal ansatzweise einen Plan.“ hielt sie Dina zurück.

„Von Cree aus können wir nur die An- und Abreise organisieren. Der eigentliche Fluchtplan wird euch von unseren Leuten vor Ort erklärt.“

„Das ist das ganze Vorhaben? Schwammige Informationen und ein Flug ins Ungewisse. Das hätten wir auch alles in der Hauptstadt haben können. Ich habe das Gefühl, da steckt noch mehr da hinter. Ihr Sicherheitsfanatiker zeigt uns doch nicht ohne Grund diese ganzen schönen Spielzeuge hier unter der Erde.“ Dina hatte Recht. Die abweisende Einstellung der Cree gegenüber allen Fremden passte so gar nicht zu der Freizügigkeit, mit der sie ihr Zuhause präsentierten.

„Es war meine Idee.“ begann jetzt David, der immer noch den Eindruck machte, nicht in die von Nüchternheit und Disziplin geprägte Atmosphäre der Cree zu passen. Er versuchte nicht einmal seine beherrschten Emotionen hinter einer Fassade von Gleichgültigkeit zu verstecken. Neben Zaja der vermutlich sympathischste Einwohner dieser künstlichen Stadt.

„Ich war der Meinung das Geheimniskrämerei keine gute Basis für unsere Zusammenarbeit wäre. Wir wollten euer Vertrauen und daher haben wir nach aufreibenden Diskussionen beschlossen euch das Alles zu zeigen. Außerdem wollte ich euch persönlich kennen lernen. Menschen sind vielschichtiger, als die meisten Cree es wahr haben wollen.“ erwiderte David.

„Soso. Aufreibende Diskussionen. Ich bin mir sicher ihr habt euch die Köpfe eingehauen. Genau das macht mich stutzig. Ihr seid offensichtlich verzweifelt. Wir befreien da keinen gewöhnlichen Cree. Er bringt eure viel gepriesene mentale Stabilität ordentlich in Unruhe und drängt euch zu ungewöhnlichen Entscheidungen. Also. Was macht ihn so besonders?“ Dina hatte sie erwischt und die Gleichgültigkeit, mit der Goran und Vaja bisher erfolgreich die Gruppe auf Abstand hielt, drohte zu bröckeln. Sie waren gezwungen Farbe zu bekennen und da lügen außerhalb ihrer moralischen Wahrnehmung lag, konnten sie nur Schweigen oder weitere Details preisgeben.

„Du hast Recht. Coen ist für uns überlebenswichtig, aber du musst verstehen, dass wir euch nicht alles offenbaren können. Wir schicken euch zu unserem größten Feind. Die Science kennen diesen Ort, aber sie kennen nicht die Wahrheit über Coen. Das muss unbedingt so bleiben.“ argumentierte David.

„Die Nanotechnologie. Sieben große Geheimnisse von denen mindestens eins euch zum Zittern bringt.“ Dina stichelte weiter und genoss die Tatsache, dass sie einen wunden Punkt erwischt hatte.

„Sieben Angelegenheiten, die euch nichts angehen.“ Goran hatte sichtlich Mühe, seine Fassade aus Langeweile aufrecht zu erhalten, aber dieser unterdrückte Emotionsausbruch war gerade nebensächlich. Viel überraschter war Dina über die Reaktion von Zaja. Offensichtlich hatten die letzten Worte sie ordentlich verunsichert. Es brauchte eine Weile, aber dann kam Dina die Erleuchtung zu der unpassenden Reaktion. Damals auf der Bank hatte ihnen Zaja versichert, dass es nur sechs mögliche Funktionen der Nanobots gab. Hier und jetzt hatte einer der Ursprünglichen zugegeben, dass da noch mehr war. Ein Geheimnis innerhalb der Cree brachte Zajas Vorstellungen von einer offenen und toleranten Welt in der alle gleich waren ordentlich ins Wanken. Dina hatte mit ihrem bohrenden Nachfragen unabsichtlich ihre Zweifel befeuert, nur war sie sich nicht sicher, welche Auswirkungen das auf Zaja hatte.

„Wie gesagt. Es ist für unsere Sicherheit besser, wenn ihr es nicht wisst.“ beschwichtigte David die viel zu rüde Bemerkung von Goran.

„Damit ist alles gesagt.“ beendete Vaja die Sitzung und gemeinsam mit den anderen Ursprünglichen verließ sie den Raum.

„Humorlose Truppe.“ kommentierte Eric das Treffen, als sie wieder unter sich waren.

„Können wir frei reden?“ fragte Dina.

„Was glaubst du denn? Das wir uns gegenseitig abhören. Bei uns gibt es kein Misstrauen.“ erwiderte Zaja.

„Offensichtlich doch, denn sonst wüsstest du von dem siebten Nanobot.“ Dina war jetzt froh wieder mit der leidenschaftlichen Zaja zu diskutieren und nicht mit dem herkömmlichen Cree-Zombie.

„Sie werden ihre Gründe haben mir dieses Wissen vorzubehalten.“ Zaja wirkte nur wenig entschlossen.

„Dann kennst du immer noch drei mehr als ich. Ich hasse es, wenn Andere mehr wissen als ich. Vielleicht musst du mir ja nicht von dem Super-Bot erzählen, aber es wäre schon fair, wenn ich nicht ganz so ahnungslos in mein Verderben renne.“ Dina war jetzt aufgebracht, was Zaja dazu veranlasste die traurige Geschichte mit den Schwangerschaftshelfern erneut zu erklären.

„Das muss die Hölle sein, nicht zu wissen, ob das eigene Kind überleben wird. Hast du es schon mal probiert?“ fragte Dina und bekam nur einen eisigen Blick als Antwort.

„Du bist schwanger.“ beantworte sie ihre eigene Frage sichtlich überrascht.

„Woher weißt du, ob es… Na ja. Wie soll ich sagen. „Gut gegangen“ ist.“ Dina fand keine Worte, die in dieser Situation angebracht waren.

„Heute Abend weiß ich mehr. Ich habe einen Termin beim Arzt.“ Zaja wirkte angesichts des ungewissen Schicksals ihres Nachwuchses relativ gefasst.

„Ich wünsche dir alles Gute. Ich bin mir sicher, dass es klappen wird.“ Dinas Anteilnahme tat Zaja sichtlich gut, was sie dazu veranlasste den Vater ihres Kindes preiszugeben.

„Ein Grund mehr ihn zurückzuholen.“ erwiderte Dina sanft und die Erinnerung an die kleine Kira kam ihr erstmals seit Jahren wieder ins Gedächtnis. Ihr unbekanntes Schicksal machte sie traurig. Trauer die überging in Wut, welche sich hoffentlich demnächst durch den Tod ihres ärgsten Widersachers besänftigen ließ. Ihre hasserfüllte Reise der letzten Jahre ging ihrem Ende entgegen, aber bereits vor dem blutigen Finale hatte sie neue Pfade betreten und es wurde Zeit dieses Kapitel ihres Lebens endgültig abzuschließen. Sie war es Ned schuldig und sie hoffte, dass sie die nötige Konsequenz dafür besaß, denn die Prioritäten lagen in den letzten Wochen nicht mehr ausschließlich auf die Durchsetzung ihrer Rache. Eine gewisse Ironie konnte sie in dieser Situation nicht leugnen, denn die Jahre voller inbrünstiger Jagd waren vergeblich gewesen und nun, nachdem die ersten Zweifel auftraten, wurde ihr Red praktisch mundgerecht serviert.

Zaja führte die Gruppe in einen Raum auf derselben Etage. Wieder waren sie zum warten gezwungen, aber für Dina war das Nichtstun ideal, um ihren Muskelkater, der als Folge des langen Marsches durch den Dschungel sie quasi lähmte, abzubauen. In wenigen Stunden würde sie Red gegenüber stehen und auch wenn sie nicht wusste, wie er ihr präsentiert wurde, rechnete sie mit einem Kampf. Eine funktionierende Muskulatur war also unabdingbar und zu ihrem Glück gab die hiesige Chemie einiges an Schmerzmitteln her. Sie war bereit für den Moment, dem sie die letzten Jahre geopfert hatte und mit jeder Minute die verging, wurde sie unruhiger. Obwohl die Cree ihr eine Unmenge an Nahrung zukommen ließ, bekam sie keinen Bissen runter. Ihre Konzentration galt ganz und gar der bevorstehenden Konfrontation und dem verdienten Ende dieses Mistkerls.

Zaja betrat das Zimmer und von ihrer sonst so sicheren Ausstrahlung war nichts zu erkennen. Ihre Anspannung füllte den Raum mit ungewollter Unruhe und ließ die anderen Anwesenden ihr eintöniges Warten für kurze Zeit vergessen. Die Gewissheit über die Zukunft ihres ungeborenen Kindes stand unmittelbar bevor.

„Ich brauche Stärke.“ sagte sie zitternd in den Raum.

„Die hast du.“ versicherte ihr Eva.

„Heute reicht sie nicht. Ich…“ Zaja brach ab.

„Soll ich dich begleiten?“ fragte Eva und Zaja war sichtlich erleichtert über das Angebot. Kein anderer Cree konnte das aufgewühlte Mädchen in diesem Moment verstehen und so sah diese sich gezwungen ihren Halt bei den Menschen zu holen. Sie versuchte ihre Fassung zu wahren. Immerhin offenbarte sie unangebrachte Gefühle jenen primitiven Wilden, denen sie noch vor Wochen jegliches Existenzrecht abgesprochen hatte. Die Schwangerschaft hatte einiges verändert in ihrem Denken und das war nicht ausschließlich nur auf Hormone zurückzuführen. Vielleicht war vollkommene Emotionslosigkeit nicht zwangsläufig der beste Weg.

Sie verließen das Gebäude und als sie die Straße betraten, fühlte sich Eva wieder sofort als Mittelpunkt des Geschehens. Die Cree machten keinen Hehl aus ihrer Missgunst gegenüber Menschen und als die Masse bemerkte, dass sie von Zaja begleitet wurde, bekam diese ihren eigenen Anteil an Aufmerksamkeit ab.

„Ich denke wir sind gerade Stadtgespräch. Wo müssen wir lang?“ fragte Eva, die eigentlich nur noch von der Straße wollte.

„Die Straße runter und dann links. Nimm es ihnen nicht übel. Sie haben nur selten Umgang mit Fremden.“

„Ich mache mir auch mehr Sorgen um dich. Wir beide zusammen auf der Straße gibt bestimmt ein gefundenes Fressen für die Klatschspalte.“

„Nach etwa tausend Jahren würdest auch du Klatsch als unnützes und anarchisches Relikt aus der Vergangenheit ansehen.“

„Widerspricht vermutlich auch eurer Effizienz und Disziplin-Philosophie.“ Eva konnte es kaum glauben, aber ihre Worte waren die einzige Konversation in ihrer Umgebung. Entweder verstanden sich die Cree blind oder sie kommunizierten mit Hilfe von Telepathie.

Jegliche Hast vermeidend gingen sie die Straße entlang. Der größte Teil der Blicke war immer noch auf sie gerichtet, aber viele hatten ihr Interesse an dem ungewöhnlichen Duo bereits verloren. Sie passierten kleine Werkstätten, an denen Schuhe, Kleidung oder Nahrung bereitgestellt wurden, die vermutlich ohne irgendeine Gegenleistung frei erhältlich waren. Jeder hier an diesem Ort hatte seine Aufgabe und unweigerlich fühlte sich Eva an die Tage auf Prem erinnert. Der Führer des „Tempel des Friedens“ hätte sicherlich seine Freude an dem reibungslosen Ablauf der Selbstversorgung.

Zaja blieb vor einem unscheinbaren Gebäude stehen. Nichts wies auf einen Arzt im Inneren hin, aber Hinweisschilder waren auf Grund der überschaubaren Anzahl von Fremden ohnehin nicht notwendig. Mit zitternder Hand öffnete sie die Tür und kaum waren sie im Eingangsbereich, wurden sie von einem jungen Mann in Empfang genommen.

„Sie sind der Arzt? Sie sehen jünger aus, als ihre Patientin.“ Eva konnte sich ihr Erstaunen nicht verkneifen.

„Gabriel ist über 200 Jahre alt. Hauptberuflich ist er Schuster. Er hat sich eine Stunde frei genommen, um mich zu untersuchen.“ erklärte Zaja geistesabwesend, da Gabriel jegliche Konversation mied.

„Du lässt dich von einem Schuster untersuchen? Habt ihr keine richtigen Ärzte?“ fragte Eva skeptisch.

„Nur für die medizinische Forschung. Schon vergessen. Nanobots. Es besteht kein Bedarf an Ärzten.“ Sichtlich nervös folgten sie Gabriel ins einzige Behandlungszimmer, das voll mit allerlei technischen Geräten war. Ohne ein weiteres Wort entledigte sich Zaja sämtlicher Kleidung und legte sich rücklings auf die einzige Liege im Raum. Gabriel kramte zwischen den einzelnen Gerätschaften umher und baute ein paar Einzelteile zu einem funktionierenden Apparat zusammen. Eva trat an die Liege und ergriff die zitternde Hand von Zaja. Sie wollte etwas sagen, fand aber keine passenden Worte. Mit Erleichterung stellte sie fest, das Zaja sich etwas entspannte, nachdem sie sanft über die Handoberfläche streichelte.

Ein kreisrunder Diskus, auf dessen Oberfläche ein kleiner Zylinder rausragte, lag nun oberhalb von Zajas Bauchnabel. Das seltsame Gerät machte nicht den Eindruck, als würde es irgendeine Form von Technik beinhalten, aber vermutlich war es ein Stück medizinische Hochtechnologie, die zur Untersuchung von Patienten diente, die eigentlich nie krank wurden. Eine offensichtliche Verschwendung von Medizintechnik, denn in jedem anderen Krankenhaus der Galaxis wäre das Gerät im Dauereinsatz. Gabriel hatte jetzt ein Pad in der Hand, um die Daten der Untersuchung möglichst emotionslos auszuwerten. Seine Finger flogen nur so über das Display und nach zehn Minuten scheinbar sinnloser Tipperei legte er das Tablet zur Seite, entfernte den Diskus und verließ kommentarlos das Behandlungszimmer.

„Was denn jetzt?“ fragte Eva sichtlich verwirrt. Sie schaute in das sorgenvolle Gesicht von Zaja. Diese schüttelte nur leicht ihren Kopf, was Eva als negativen Ausgang der Untersuchungen interpretierte.

„Es tut mir so Leid.“ flüsterte sie und rang mit den Tränen. Zaja dagegen versuchte das traurige Schicksal ihres Sohnes mit einer Überdosis Creebeherrschung zu verarbeiten.

„Dann ist es so. Ich wusste von vornherein, dass die Chancen sehr gering sind.“ kaschierte sie ihren Schock mit unbestechlicher Cree-Logik.

„Was jetzt?“ Eva zwang sich die Worte in gleicher Emotionslosigkeit wie Zaja zu formulieren, was ihr nicht mal annähernd gelang.

„Wir werden den Embryo abtreiben.“ Zajas Blick fiel auf das Armband, aber der Zweifel an ihrem Plan war deutlich erkennbar.

„Es muss doch noch was Anderes geben.“ Eva wollte nicht wahrhaben, dass keine Alternative bestand.

„Die Regeln sind eindeutig in diesem Fall.“ Zaja griff an ihr Armband und war bereit sich ihrem traurigen Schicksal zu stellen.

 

 

Endlich war Red zurück im Poker um die Femtos. Er hatte den entscheidenden Joker in der Hand, die ihn für die jeweilige Konkurrenz unabdingbar machte. Die Dinge liefen endlich wieder zu seinen Gunsten, auch wenn unerwartet eine Richtung eingeschlagen wurde, die er so nicht kommen gesehen hatte. Sentry war nie auf Cree angekommen, soviel war sicher. Jemand war Frago und ihm zuvorgekommen, was normalerweise gleichbedeutend mit seinem Ableben auf diesem von Rassenwahn besessenem Planeten wäre. Wie auf Stichwort hatte sich diese dunkelhäutige Schlampe, die in Sachen schlechter Manieren diesem rotblonden Miststück in nichts nachstand, ins Spiel gebracht und damit sein Weiterleben gesichert. Er besaß Informationen, die dieser Traum eines jeden Bordellbesuchers veranlasste ihm die lang ersehnte Technologie zu überlassen. Er hasste es, die Zusammenhänge nicht vollständig zu begreifen und sein Instinkt sagte ihm, dass sie mehr war, als eine längst abgelegte Geliebte von Sentry. Etwas Gewaltiges war hier am Laufen, etwas mit weit mehr Bedeutung als Femtos, dementsprechend hoch war seine Frustration über das unzureichende Wissen der Hintergründe von Cree. Vielleicht würde ihm der Ort im Dschungel mehr Erleuchtung bringen, aber bis dahin musste er sich in Geduld üben. Ein Charakterzug, der ihm die letzten Jahre viel zu oft aufgezwungen wurde und mittlerweile ein nerviger Bestandteil seines Wesens geworden war.

Frago hatte ihn im Park zurückgelassen, als sie am Krankenhaus ankamen. Ziel war es die verletzte Fremde, bei der es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um jene gute alte Bekannte handelte, die nichts Anderes im Sinn hatte, als ihm die Kehle durchzuschneiden, in Sachen Sentry zu verhören. Da sich Fragos Höflichkeit bei der Informationsgewinnung auf die Auswahl der Art der Prügel beschränkte, war eine weitere Eskalation unvermeidlich. Sie hatten bereits die Behörden gegen sich aufgebracht und in diesem durch Inzucht geprägten Kaff war das die denkbar schlechteste Vorgehensweise, um jede unnötige Aufmerksamkeit zu vermeiden. Red wurde also zum Außenseiter degradiert, was sich im Nachhinein als einmaliger Glücksfall herausstellen sollte. In Begleitung von zwei der unreinsten Frago-Schergen traf er in dem Krankenhauspark auf seine langjährige Todfeindin und ihre Begleiterin, die ihm bereitwillig die Femtos im Austausch für die Lage der Kühlschränke zur Verfügung stellen würde. Auf einmal schien alles so einfach. Endlich hatte er Jemanden gefunden, der ihn für ein gutes Geschäft zur Unsterblichkeit verhelfen würde.

Blieben nur Frago und seine Leute, die sichtlich genervt irgendwann missmutig aus dem Krankenhaus zurückkehrten. Eine Legion aus Sicherheitsleuten und Polizisten hatte ihnen den Zugang verwehrt und nur die Zahlung eines saftigen Bußgeldes hatte sie vor einer Festnahme bewahrt. Das ungestüme Auftreten in der Bar erwies sich jetzt als Bumerang und Fragos Pläne den Krankenhaustrakt mit Gewalt zu erstürmen, konnte Red mit den Neuigkeiten über das Treffen im Park entschärfen.

„Ich schaffe es ja kaum über die Straße, wie soll ich denn da durch den Dschungel kommen?“ entfuhr es Frago wenig begeistert, als er von seinen Leuten über das Abkommen aufgeklärt wurde.

„Lass dich doch tragen. Genug Leute hast du ja an deiner Seite.“ schlug Red spöttisch vor und erntete anhand von Fragos Leibesfülle böse Blicke aller Anwesenden.

„Vielleicht schnitze ich mir aus deinen Knochen ja eine Sänfte.“ erwiderte Frago gereizt.

„Ein Flugtransporter vereinfacht alles.“ schlug Victor vor.

„Würde ich nicht empfehlen. Gefährdet nur das Geschäft.“ warnte Red.

„Ach ja. Was für ein Glück, dass du die Bedingungen ausgehandelt hast. Glaub nicht, dass du mich damit aus dem Spiel genommen hast.“ Frago nickte kurz Victor zu, der es sich nicht nehmen ließ, Red einen Leberhaken zu verpassen. Der sackte umgehend auf die Knie und hatte Mühe seine Schmerzen nicht allzu offensichtlich zu zeigen.

„Verdammter Penner. Irgendwie schaffst du es immer deinen Kopf oberhalb der Scheiße zu halten. Eines Tages verlässt dich dein Glück und dann werde ich genüsslich zusehen wie du absäufst.“ Frago war wütend, was er erst nach einem weiteren Schlag in die Rippengegend halbwegs unter Kontrolle brachte.

„Wir nehmen den Transporter und überrennen diese Waldmenschen. Die haben uns nichts entgegenzusetzen.“ verkündete Frago fest entschlossen.

„Nichts außer Technologie, die sie unverwundbar macht.“ brachte Red unter Schmerzen hervor.

„Der Scheißhaufen hat Recht. Wir sind zu wenig Leute für einen Sturmangriff gegen selbstheilende Spinner, die jeden Meter Dschungel kennen.“ brachte jetzt Victor seine Zweifel an.

„Hast du etwa Angst vor Leuten, die mit Blumen kuscheln und ihr Mittagessen von einem Busch pflücken. Das sind esoterische Vollidioten, die irgendwie in den Besitz der Nanobots gelangt sind.“ Frago war überrascht hinsichtlich Victors vorsichtiger Vorgehensweise.

„Wir werden unseren Angriff starten, aber nicht blind. Das Arschgesicht, ich und zwei meiner Leute werden uns das erstmal anschauen. Der Rest kommt mit dem Transporter nach, sobald wir grünes Licht geben. Dann treten wir diesen Hippies ordentlich in den Arsch und schnappen uns die Bots.“ Victor widersprach damit öffentlich dem in Einfachheit unschlagbaren Plan seines Chefs und das ziemlich vehement. Frago sah sich dadurch genötigt seinen Führungsanspruch zu untermauern, denn solche Widersprüche waren für ihn die erste Stufe zur Rebellion und die galt es im Keim zu ersticken. Er ging zu dem knienden Red rüber.

„Soso. Deine Leute.“ zischte er gefährlich und funkelte Victor drohend an.

„Auf die Füße mit ihm.“ befahl er, um Red wieder in die Senkrechte zu bekommen.

„Seht ihr dieses Gesicht? Da steht God. Ein längst verschimmelter Penner, der sich mit mir angelegt hatte. Fünf von diesen Gods haben versucht mich zu ficken. Alle vergebens. Ich hoffe nicht, dass das halbe Dutzend voll wird.“ Frago drohte jetzt seiner rechten Hand unverhohlen. Er bekam keinerlei Reaktion.

„Auch wenn wir hier fern ab von Eyak sind, sollte das Interesse darin liegen mich heil zurückzubringen. Wenn ich nicht zurückkehre, tut es keiner, dafür ist gesorgt. Verstanden?“ Frago stand jetzt Angesicht zu Angesicht mit Victor.

„Natürlich.“ presste Victor hervor.

„Gut. Überprüfe das Lager. Wir bereiten hier alles vor und werden auf euer Signal hin stürmen.“ Damit war die Sache für Frago erledigt und er hatte es geschafft auf Victors Plan einzugehen, ohne dass der an seinem Alphatierstatus rütteln konnte. Trotzdem waren die Spannungen unübersehbar und Red konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die beiden Gangster von Eyak auf eine Konfrontation zusteuerten. Zu gut kannte er die natürlichen Gesetzmäßigkeiten innerhalb der Kartelle und für Victor würde es unmöglich werden Fragos Platz einzunehmen, wenn die Femtos das Leben seines vermeintlichen Vorgängers deutlich verlängern würde. Red war sich sicher, dass ein Machtkampf bevorstand, sobald die Femtos in ihrem Besitz waren.

Die Gruppe begab sich zurück auf Pjotrs Schiff und wartete auf den bestellten Führer, der sie sicher durch den Dschungel geleiten sollte. Pünktlich zum Sonnenaufgang traf Boris am Landeplatz der „yegua domada“ ein, die mittlerweile das einzige Schiff im Raumhafen von Cree war.

„Du bist unserer Führer?“ wurde er von Victor begrüßt.

„Offensichtlich.“ antwortete der junge Bursche wortkarg.

„Wie alt bist du? 17?“ fragte einer der beiden Begleiter von Victor mit dem Namen Chris.

„Ihr braucht Ausrüstung.“ erwiderte Boris unerschrocken.

„Wir haben was wir brauchen. Kalorien und Waffen.“ entgegnete Victor.

„Ok. Dann folgt mir.“ Boris wandte ihnen den Rücken zu und begab sich Richtung Dschungel.

„Was für ein wortkarges Arschloch.“ zog Kevin, der andere Begleiter von Victor, ein wenig schmeichelhaftes Fazit über ihre erste Begegnung.

Zu fünft begaben sie sich auf den mühsamen Weg durch den Dschungel. Boris erklärte ihnen nur das Notwendigste und vermied ansonsten jegliche Form von Konversation. Er machte keinen Hehl aus seiner Abneigung gegenüber seinen Schützlingen und Red war sich sicher, würde die Vereinbarung mit diesem dunkelhäutigen Weibsbild aus unbekannten Gründen aufgekündigt werden, hätte Boris kein Problem damit sie einfach in dieser grünen Hölle ihrem Schicksal zu überlassen. Red hasste die Natur. Alles war so unberechenbar. Hier konnte man Tode sterben, die ihm bisher vollkommen unbekannt waren und obwohl er ein Faible für jegliche Art von Ableben hatte, war es gerade diese Vielfalt aus giftigen Pflanzen, fleischhungrigen Tieren und bakteriell verseuchtem Wasser, was ihn beunruhigte. Auf Gedeih und Verderb diesem schweigsamen Waldtroll ausgesetzt zu sein, trug nicht unbedingt zu einer Verbesserung seiner Lage bei und nur das Wissen, am Ende dieser mühsamen Reise endlich die lang ersehnten Femtos in Empfang zu nehmen, trieb ihn voran. Irgendwo dort in diesem endlos erscheinenden Grün würde sich sein Schicksal erfüllen und das war frei von Narben, Schmerzen und jeglicher körperlicher Beeinträchtigung. Ein ganz neuer Red würde aus diesem Dschungel kommen. Ein Red, der bereit war die Galaxie zu erobern.

Vorerst galt es die Torturen ihrer anstrengenden Durchquerung des Dschungels zu verarbeiten. Reds Kondition war ohnehin schon schlecht und die Nachwirkungen von Victors Folterspielchen in Fragos Büro waren ein zusätzlicher Hinkelstein, der ihm das Vorankommen sichtlich erschwerte. Während er unter permanenter Atemnot litt, hatten seine Begleiter deutlich weniger Probleme. Victor war jung und seine gute körperliche Verfassung hätte es ihm vermutlich erlaubt, wochenlang dieser unerträglichen Hitze zu trotzen. Eine gewissen Neid konnte Red nicht leugnen und er hoffte auf eine Gelegenheit, diesen Neid in Form eines blutigen Kehlenschnitts diesem fitten Bastard zu offenbaren. Ein weiterer Punkt auf der „zu erledigen“ Liste, sollte er nicht vorzeitig einem Hitzschlag erliegen. Verdammt. Es wurde dringend mal Zeit etwas abzuhaken.

Die Übernachtung unter freiem Himmel würde zur nächsten Stufe der Tortur werden. Da war zum einen das Fehlen von passender Ausrüstung in Form von weichen Matten oder sogar Zelten, so dass Red und seine Begleiter gezwungen waren in hohem Gras zu nächtigen. Der weitaus schlimmere Störfaktor der ersehnten Ruhe war allerdings dieser permanente tiefe Ton, der in der Ferne als bedrohliche Konstante in einem ansonsten wilden Gemisch aus Dschungellauten unerbittlich als vorherrschendes Geräusch die Umgebung beschallte. Der Respekt, den Boris diesem undefinierbaren Brummen entgegenbrachte, verunsicherte Red mehr, als all die anderen Gefahren, die er im Laufe des Tages kennen lernen durfte. Dieser verdammte Dschungel hatte jede Menge kranken Mist zu bieten und Reds Abneigung gegen die Natur wuchs mit jeder Sekunde.

„Was ist denn das für eine nervende Scheiße?“ fragte Kevin, der auf Grund verschiedener Segnungen der chemischen Küche noch relativ fit wirkte. Boris machte sich nicht die Mühe, dieser vulgären Frage überhaupt ein Minimum an Aufmerksamkeit zu schenken.

„Hey Boris. Deiner Chefin ist viel daran gelegen, dass ich in einem Stück bei euch ankomme. Also. Müssen wir uns um irgendetwas Sorgen machen?“ hakte Red nach.

„Einfach ruhig bleiben. Keinerlei hektische Bewegungen, dann ignorieren sie euch.“ Mehr wollte er Red als Antwort nicht zugestehen.

„Wer ignoriert uns? Scheiße man. Kannst du nicht mal deine Klappe aufmachen?“ Chris´s Augen waren glasig, was darauf hinwies, dass er gerade auf Droge war.

„Dieser Naturbursche kotzt mich an. Der will uns doch nur loswerden. Scheiße man. Ich jag dir jetzt eine Kugel in den Kopf, dann kannst du deinen Schöpfer anöden.“ Chris kam nicht dazu seine Waffe zu ziehen, denn Victor war bereits bei ihm und hinderte ihn an seinem drogenvernebelten Plan.

„Reiß dich zusammen und setz das verdammte Meth ab. Ich brauch dich bei klarem Verstand.“ drohte er ihm und die Wirkung dieser Worte setzte unmittelbar ein. Auch wenn Chris´s Gedankengänge immer noch jegliche Klarheit vermissen ließen, drang die Drohung bis in seinen rational denkenden Teil vor.

„Schon gut. Er soll mich bloß nicht anmachen.“ beruhigte er sich. Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt und die Konturen des Dschungels waren nur noch schemenhaft zu erkennen. Victor wandte sich jetzt Boris zu.

„Also. Was brummt da in dem verdammten Dschungel?“ Boris hielt Victors drohendem Blick stand. Die Intensität dieses bedrohlichen Tones hatte jetzt deutlich zugenommen und kam nicht mehr nur von einer einzelnen großen Quelle.

„Wie gesagt. Keine hektischen Bewegungen.“ Boris nickte mit dem Kopf zu etwas, was sich in Victors Rücken genähert hatte. Vorsichtig drehte der sich um und konnte eine Handvoll von faustgroßen fliegenden Objekten in der Nähe des schmollenden Chris ausmachen.

„Keine Bewegung.“ zischte Victor Chris zu, aber dieser befand sich bereits in Schockstarre. Zu seinem Unglück hielt diese nur ein paar Sekunden an. Langsam wanderte seine Hand zur Pistole, während die Biester ihn neugierig umkreisten.

„Nein.“ versuchte ihn Victor von dem törichten Vorhaben abzubringen. Gut und gerne zehn Meter trennten die beiden und der Krach des Flügelschlags der Insekten verschluckte jegliche andere Geräusche. Chris hatte jetzt die Hand an der Waffe, aber noch zögerte er. Erst als eine der Wespen den willkürlich in seinem Geist festgelegten Sicherheitsabstand zu ihm nicht mehr einhielt, zückte er wie ein Cowboy seine Waffe und schoss wild um sich.

Der erste Schuss saß und der Knall war für den Bruchteil einer Sekunde das vorherrschende Geräusch im Dschungel. Als die Wespe einfach zu Boden fiel, veranlasste es den Rest des Schwarms reflexartig auf Distanz zu gehen. Chris brüllte etwas, was seine Gesichtszüge als Triumph verrieten und verstärkt durch die Drogen wurde er übermütig. Er wollte jetzt weitere Wespenkadaver und so zielte er wahllos in die mittlerweile große Ansammlung von Flugobjekten um ihn herum, ohne dabei weitere Treffer zu setzen.

Victor machte einen Schritt auf Chris zu und wollte Kevin per Kopf das Zeichen geben, ihm bei seiner Unterstützung in dem Kampf gegen die Wespen zu folgen, doch er wurde zurückgehalten von Boris.

„Er ist bereits tot und wenn ihr ihm nicht folgen wollt, rate ich euch ruhig zu bleiben.“ mahnte er Victor an. Dieser wollte sich losreißen, aber die Schreie vor ihm unterdrückten vorerst seinen Drang. Da wo gerade noch Chris wild um sich schießend gestanden hatte, war nur noch ein wildes Knäuel von Wespen auszumachen. Sie hatten ihn vollkommen eingehüllt und versenkten reihenweise ihre Stachel in das Fleisch dieses armen Tölpels. Der ging irgendwann zu Boden und obwohl der Mantel aus Insekten nichts Menschliches mehr erkennen ließ, war anhand der Bewegungen die nachlassende Gegenwehr ersichtlich.

„Wollen wir ihm nicht helfen?“ fragte Kevin unruhig.

„Da sind tausende dieser Biester. Willst du die alle niederringen? Der Idiot ist selbst Schuld.“ entschied sich Victor gegen eine Rettung. Zehn Minuten dauerte der Todeskampf, dann waren keinerlei Lebenszeichen mehr aus dem Gewirr vor ihnen zu vernehmen. Als auch die Wespen von der Unschädlichkeit ihres Angreifers überzeugt waren, zerstreute sich die fliegende Gemeinschaft wieder in einzelne Individuen, die die weitere Umgebung erkundeten.

Unweigerlich trafen sie auf den Rest der Gruppe, die sie argwöhnisch umkreisten. Vier Statuen, die versuchten jegliche Form von provozierender Bewegung zu vermeiden. Während Kevins ängstliche Augen jeden Vorbeiflug zitternd verfolgten, legten Red und Victor eine gespielte Gelassenheit an den Tag. Der Einzige, der die ganze Sache wirklich entspannt sah, war Boris. Er hatte sich in eine Art meditativen Zustand versetzt, der es ihm erlaubte seine Umgebung komplett auszublenden. Eine Viertelstunde benötigten die Wespen, um die Gruppe als nicht gefährlich einzuordnen, dann zogen sie wieder ab und nur das Brummen in der Ferne erinnerte an den unheilvollen Besuch. Mittlerweile war es dunkel geworden und schon wieder rächte sich das Minimum an Ausrüstung, da nur Boris eine Lampe besaß. Red blieb nichts anderes übrig, als an der Stelle zu nächtigen, an der ihn die Wespen überrascht hatten. Vorsichtig tastete er seine Umgebung ab und hoffte auf keinerlei Besuch von Schlangen oder Käfern, die ihm die Nacht erschweren würden. Entsprechend unruhig war sein Schlaf und als er am nächsten Morgen aufstand, fehlte das Gefühl von Regeneration vollkommen. Ein harter Marsch lag vor ihm und für einen Moment beneidete er Kevin, dessen aufputschende Mittel ihm die nötige Kraft für den Tag gaben.

Alles in Allem ein beschissener Morgen, entschied Red für sich, als er die ersten Sonnenstrahlen spürte. Die Hitze hatte sich selbst in der Nacht kaum verringert, seine Klamotten stanken nach abgestandenem Schweiß und seine Füße waren bedeckt mit Blasen, die sich erst jetzt so richtig bemerkbar machten. Er war immer noch mitten in diesem grünen Wahnsinn und somit fern jeglicher Zivilisation. Das bedrückende Gefühl von Abhängigkeit stellte sich sofort wieder ein, als er in das Gesicht von Boris schaute, der ihm ausdruckslos eine grüne Frucht reichte.

„Ich bevorzuge Kaloriengetränke.“ Reds Magen war die letzten Wochen komplett auf diese Form der Ernährung umgestellt worden und so befürchtete er eine Überforderung bei der Einnahme von Obst.

„Es lindert die Schmerzen.“ blieb Boris hartnäckig.

„Schon gut Pocahontas.“ Red griff sich die Frucht.

„Pocahontas war eine Frau. Hawkeye wäre wohl passender.“ Victor stand jetzt neben Red.

„Da hat wohl jemand als Kind zu viele Indianerfilme geschaut.“ erwiderte Red sarkastisch. Victor ignorierte die Provokation und schaute in Richtung der Tragödie des letzten Abends. Er zögerte kurz, machte sich dann aber auf den Weg zu der Stelle des Leichnams. Red folgte ihm neugierig, denn auch er wollte das Ergebnis des Angriffes bewundern.

„Die haben ihn ja fast zerfetzt.“ stellte Red fest, als er in das aufgedunsene Gesicht des Toten schaute, bei dem schon kleine Teile der Haut abgerissen wurden. Den Schrecken schien Chris mit in den Tod hinüber genommen zu haben, denn die Augen waren auch jetzt noch ein Beweis dafür, dass sein Ableben sehr gewalttätig ablief. Als wäre sein letzter panischer Anfall zementiert worden.

„Dreh ihn um.“ forderte Victor Red auf.

„Ich bin der letzte der sadistische Vorlieben verurteilen sollte, aber wenn du wissen willst, was die Biester mit seinem Rücken angestellt haben, mach dir die Hände selber dreckig.“ verkündete Red großspurig und steckte als Quittung für die Frechheit einen Schlag in die Magengegend ein. Nachdem er die Schmerzen verdaut hatte, drehte er Chris auf den Bauch. Zum Vorschein kam die Pistole, auf die der in seinem Todeskampf gefallen sein musste. Eine kurze Prüfung ergab, dass sie komplett leer geschossen wurde, was Victor mit einem „verfluchten Idioten“ kommentierte. Nicht nur der Ausfall von Chris, sondern auch die verschossene Munition schränkte seine Handlungsmöglichkeiten bei ihren bevorstehenden Plänen ordentlich ein.

Das grausame Ableben von Chris berührte keinen in der Gruppe und diente höchstens als mahnendes Beispiel den Dschungel nicht zu unterschätzen. Der Leichnam wurde einfach seinem Schicksal überlassen. Eine Nahrungsquelle nicht nur für die Wespen, denn auch andere Tiere würden den exotischen Leckerbissen zu schätzen wissen. Red graute es bei dem Gedanken auf ähnliche Art und Weise das Zeitliche zu segnen, denn sein Finale sah er in einem blutigen Zweikampf, den weder er noch sein Gegner überstehen würde. Einfach nur von einem Tier erledigt zu werden, war kein würdiges Ende seines hoffentlich noch Jahrhunderte andauernden Lebens. Er musste die nächsten Tage auf der Hut sein und so sah er die Gefahren des Dschungels als letzte Herausforderung vor dem großen Triumph. Zu seinem Glück war Boris auf sein Überleben angewiesen und damit standen die Chancen höher lebend in diesem Lager anzukommen, als bei seinen Begleitern, die aus Sicht von Boris nur unnützer Ballast waren. Ballast, der nicht dringend sein Ziel erreichen musste und vielleicht ergab sich ja für Red die Gelegenheit einer einfachen Entsorgung. Victor war schlau und sich dieser Situation mit Sicherheit bewusst. Bis zum Erhalt der Femtos musste der sich mit einem Minimum an Prügel zufrieden geben, denn Red war die Hauptfigur in dieser für ihn unbefriedigenden Posse. Erst danach waren sein Narbengesicht, Frago und die Anderen Schachfiguren, die dringend vom Brett mussten. Reds Status würde sich mit dem Rausrücken der Koordinaten auf einen Schlag von „muss dringend überleben“ auf „muss dringend ableben“ ändern. Die Anzahl seiner Feinde war groß und die Herausforderung bestand darin, sie gegeneinander aufzuhetzen, bevor sie sich ihm widmen konnten. Es war eigentlich wie immer. Alle waren gegen ihn und am Ende überlebte nur er.

Sie kamen gut voran, auch weil das Gelände am Ufer eines Sees nicht die Schwierigkeiten des Unterholzes aufwies, was sie Tags zuvor mühsam durchqueren mussten. Fast der komplette Tagesmarsch glich einem entspannten Strandspaziergang, was gerade Red sehr entgegen kam. Seine Erschöpfung war ein Nachteil gegenüber seinen fit erscheinenden Begleitern. Er hasste es das schwächste Glied der Gruppe zu sein, auch wenn Victor mit seinen Prügelattacken buchstäblich ausschlaggebend für diesen Zustand war. Der anstehende Höhepunkt in Sachen Femtos benötigte einen ausgeruhten und konzentrierten Zustand seines Geistes, aber davon war Red gerade weit entfernt. Er hatte sichtlich zu kämpfen mit den Unzulänglichkeiten der Natur und so war er froh, als Boris nach einem anstrengenden Marsch beschloss das Lager für die Nacht aufzuschlagen.

Es würde nicht die letzte Übernachtung im Freien werden. Weitere Kräfte raubende Fußmärsche lagen die nächsten Tage vor ihnen und wenn Red Boris richtig verstanden hatte, mussten sie vier Nächte in dieser schwülen Hitze verbringen. Die Luft kühlte nur geringfügig ab und machte den Schlaf zu einem schweißtreibenden Kampf gegen Mücken, die sich genüsslich mit Blut voll saugten. Reds Haut war mittlerweile überzogen von Stichen und in Kombination mit dem getrockneten Schweiß und den Blasen an den Füßen, nahm sein Körper eine extreme Ausprägung an Widerlichkeit an. Sein verfilztes Haar und sein ungepflegter Bart verstärkten den Eindruck eines Wolfsmenschen, der jahrelang fern jeglicher Zivilisation im Dschungel lebte und die einfachsten Grundlagen menschlichen Verhaltens verlernt hatte. Vollkommen verwildert und stinkend erwachte er am vierten Morgen und war froh, dass sich ihre Reise dem Ende näherte.

„Du solltest dich waschen. Du stinkst, als hättest du dich drei Tage im Müll gewälzt.“ begrüßte ihn Victor. Auch an ihm war der Dschungel nicht spurlos vorüber gegangen, aber im Gegensatz zu Red, glich er mit seinem verändertem Aussehen einem unerschrockenem Naturburschen, der sich jeglicher Gefahr strahlend und gut riechend entgegenstellte. Die vergangenen vier Tage hatte er sich perfekt an die Umgebung angepasst und vor Reds geistigem Auge sah er Victor sich mit Hilfe von Lianen von Baum zu Baum schwingen. Verdammt. Dieser Mistkerl schien keinerlei Probleme mit dieser schweißtreibenden Hölle zu haben. Das wird die kommende Konfrontation mit Sicherheit nicht vereinfachen. Victor stellte sich mehr und mehr als große Herausforderung dar.

Red schleppte sich zu einem kleinen Flusslauf runter, um wenigstens die übelsten Gerüche loszuwerden. Mühsam wusch er sich und verfluchte die Bartstoppeln in seinem Gesicht. Mehrere Stellen an seinem Hals waren bereits entzündet, aber zu seinem Leidwesen gestand ihm Victor keinerlei Klinge zum rasieren zu. Jede Menge aufgeschlitzte Kehlen in seiner Vita machten dieses Misstrauen verständlich und geboten zur Vorsicht, daher war die Überraschung groß, als Victor neben ihm auftauchte und sein Messer anbot.

„Wir ziehen doch an einem Strang?“ vergewisserte er sich, als Red vor Überraschung zögerte zuzugreifen.

„Natürlich.“ erwiderte Red und griff zu. Vorsichtig begann er seine Gesichtshaut zu schaben. Die Wasseroberfläche diente ihm als Spiegel.

„In ein paar Stunden werden wir bei diesen Waldhippies aufschlagen. Ich will nicht, dass du irgendetwas Verrücktes anstellst dort drüben.“ fing Victor an.

„Du willst mich auf deiner Seite? Das wird dich was kosten.“ Red tat ziemlich unbeeindruckt, aber in Wirklichkeit war das die Gelegenheit, um lebend aus der Sache raus zu kommen. Er musste sich beherrschen sein Pokerface nicht zu verlieren.

„Dein Leben sollte dir doch reichen.“ erwiderte Victor genervt.

„Ich verlasse diesen Planeten nicht ohne die Selbstheiler.“ Red war wild entschlossen.

„Schön, aber die Dinger machen dich nicht automatisch unsterblich.“ drohte jetzt Victor unverhohlen.

„Wir haben nichts Persönliches untereinander zu klären. Schön, du hast mich gefoltert, aber das verbuche ich mal unter „lächerliche Meinungsverschiedenheit“. Keinerlei Rache oder Vergeltungsgelüste zwischen uns beiden. Perfekt um gemeinsame Ziele umzusetzen.“ Red war jetzt in seinem Element. Chancen zu ergreifen und Feinde gegeneinander auszuspielen war seine Spielwiese.

„Frago.“ sprach es Victor endlich aus.

„Du bist nicht interessiert daran, dass er durch die Femtos praktisch unsterblich mit seiner Position verbunden bleibt.“ vollendete Red die Gedankengänge.

„Es ist lange überfällig, dass er abtritt.“

„Das wird schwer mit den Selbstheilern, also sollten wir das verhindern. Wie ist dein Plan?“ fragte Red.

„Ich habe noch keinen. Das hängt davon ab, was wir in dem Lager vorfinden. Was ich nicht gebrauchen kann, ist jemand, der unüberlegt handelt. Wir sollten unbedingt zusammenarbeiten. Ich biete dir an, mit den Selbstheilern unbehelligt den Planeten zu verlassen, dafür bekomme ich meine eigenen Bots und du machst bis dahin, was ich sage.“ Victor musterte jetzt Reds Gesicht beim Rasieren, um irgendeine Reaktion zu erhaschen. Der hatte noch immer das perfekte Pokerface aufgesetzt.

„Frago ist schlau. Der wird ahnen was du vorhast.“ Red schabte weiter in seinem Gesicht herum.

„Natürlich ahnt er was, aber soweit ich weiß hat er dir kein Angebot gemacht. Er will dich nur tot sehen. Du musst dich für eine Seite entscheiden.“ Victor sah keine Alternative, von daher gab es nur eine Entscheidung für ihn. Red war jetzt fertig mit seiner Körperpflege und wollte das Messer seinem rechtmäßigem Besitzer zurückgeben.

„Behalt es, denn ich denke wir sind jetzt Partner.“ erwiderte Victor siegessicher.

„Das sind wir in der Tat.“ bestätigte Red die Alternativlosigkeit seiner Entscheidung. Sein Vertrauen in diesen Pakt war gering. Nichts garantierte den freien Abzug, nachdem was immer da im Lager auch laufen würde. Diese wacklige Vereinbarung war nichts weiter, als ein Teil des Intrigenspiels zwischen Red, Frago, den Hinterwäldlern und diesem sich zu sterben weigernden Miststück von Eyak. Es wurden Koalitionen geschmiedet, um sie bei besserer Gelegenheit zu brechen und sich mit anderen Partnern zu verbünden. Alles war erlaubt für die persönlichen Ziele, die meistens nur das eigene Überleben beinhalteten. Red kannte die unausgesprochenen Regeln und auch Victor war clever genug diesem Pakt mit genügend Misstrauen entgegen zu sehen. Das alles hatte solange Bestand, bis sich für einen von ihnen eine neue Tür öffnete und darin lag die eigentliche Herausforderung. Zu erkennen, wann der Verrat notwendig wurde.

Sie folgten Boris den Fluss aufwärts, immer in der Hoffnung nach jeder Biegung das Lager zu erblicken. Die ersehnte Abkühlung blieb aus, da das entgegenströmende Wasser durch die Hitze so gut wie keinen Unterschied zur eigenen Körpertemperatur aufwies. Es dauerte nicht lange und Red hatte das Gefühl durch seinen eigenen Schweiß zu waten, denn es fiel ihm schwer die genaue Grenze zwischen schwitzendem Knie und Wasseroberfläche zu erfühlen. Mühsam kämpften sie sich stromaufwärts und nach etwa drei Stunden erblickten sie die ersten Behausungen, die sich rechts und links des Flusses auftaten. Einfache Hütten, die den Erwartungen ihrer Besucher entsprachen.

„Wartet hier. Ich werde eure Ankunft vermelden.“ sagte Boris, als sie sich in der ersten Hütte niederließen. Außer ein paar Stühlen, einem Tisch voller Früchte und etwas Brot gab es keinerlei Mobiliar.

„Und nun?“ fragte Kevin ungeduldig, nachdem sie unter sich waren.

„Zuerst das Empfangskomitee, dann schauen wir uns ein wenig um und entscheiden dann, wie es weitergeht.“ gab Victor klare Anweisungen.

„Scheiße. Wir sollten Frago informieren.“ Kevin war sichtlich nervös. Seine Position in dem bevorstehenden Frago-Victor Konflikt war ungewiss, aber mit seiner Drängelei schien er für Red nicht vertrauenswürdig in Sachen Loyalität gegenüber Victor.

„Ich entscheide, wann wir Frago informieren. Ist das klar?“ drohte Victor.

„Ja klar.“ Kevins Stimme zitterte und sein Körper wippte fast unmerklich hin und her. Ein Zeichen dafür, dass er den Vorzügen des Meth frönte.

Es dauerte weitere zwanzig Minuten, bis die Dorfbewohner in der Tür erschienen. Ein seltsamer Anblick offenbarte sich Red, denn der Altersunterschied zwischen den Neuankömmlingen hätte nicht größer seien können. Während die ältere Frau ihre letzten Tage auf Erden vermutlich an einer Hand abzählen konnte, zweifelte er bei ihren kindlichen Begleitern an der Machbarkeit einer ordentlichen Erektion.

„Ich bin Vaja.“ verkündete die Alte ungerührt.

„Scheiße, die ist ja hundert. Hast du nicht was von einer Schokoschlampe erzählt?“ Kevin fragte Red, der ihn aber vollkommen ignorierte, was auch der Rest der Anwesenden tat.

„Dein Name ist mir scheißegal. Ich will nur die Technik.“ wandte sich Red an die einzige Frau im Raum.

Wir wollen die Technik.“ verbesserte ihn Victor.

„Nachdem wir die Koordinaten überprüft haben. Wie lauten sie?“

„Netter Versuch. Erst die Femtos. Vorher geht nichts.“ erwiderte Red gelassen. Zu seiner Überraschung zog einer der Begleiter ein kleines Messer.

„Ruhig Blut Jüngelchen. Wir sind hier doch alle Amigos.“ Red war verwirrt.

„Wir brauchen eine Blutprobe.“ erklärte Vaja emotionslos.

„Mit dem Ding? Habt ihr keine Spritzen?“ fragte Red und bekam keine Antwort.

„Natürlich nicht. Was sollten auch Waldbewohner mit medizinischer Ausrüstung?“ gab er sich selbst die Antwort, nachdem ein paar Blutstropfen in einen Becher flossen. Bei Victor wiederholten sie die Prozedur.

„Bis morgen haben wir die Technologie hergestellt. Dann können wir das Geschäft tätigen. Danach verlasst ihr unser Dorf.“ Vaja drehte sich um und verließ mit ihren Begleitern die Hütte. Es lief gut für Red, aber wieder mal sollten die Dinge eine Wendung nehmen, die so nicht voraussehbar war.

   

Kapitel 12

 

Fünfundzwanzig Stunden. Die ungefähre Zeit, die einen Cree-Tag ausmachte. Fünfundzwanzig Stunden in denen Victor sein weiteres Vorgehen koordinieren konnte und die nach Ablauf für alle Anwesenden in diesem Hippienest zu einem unvergesslichen Ereignis werden würden. Die Wahrscheinlichkeit war hoch, dass der kommende Tag in einem Massaker endete und für Red war es die letzte Herausforderung auf dem Weg zu seiner Unsterblichkeit. Wieder einmal galt es, als einer der Wenigen lebend aus diesem bevorstehendem Drama zu entkommen. Ein gewohntes Spiel für ihn, denn zu viele dieser Szenarien hatte er in der Vergangenheit bereits erlebt. Ein nachhaltiger Erfahrungsschatz, der ihm auch diesmal das Überleben sichern sollte, denn die Anzahl derer, die ein Interesse daran hatten, dass sein geschundener Kadaver dieses Dorf nicht mehr verlassen würde, war selbst für seine Verhältnisse unnatürlich hoch. Eine unangenehme Begleiterscheinung im Ringen um die Femtos. Während Victors Motiv sich darauf beschränkte einen Gegenspieler vom Brett zu bekommen, waren die Gründe der anderen Konkurrenten weitaus berechenbarer. Rache hatte nur ein Ziel und das war unweigerlich der Tod. Jedenfalls bei Frago konnte er den Zeitpunkt mit geschicktem Taktieren beeinflussen, während bei dem gekränkten rotblonden Männerspielzeug jede Begegnung mit hoher Wahrscheinlichkeit in einer Konfrontation gipfeln würde. Ihr Gefühl war rein und nicht befleckt mit Gier auf persönlichen Profit. Das rang Red sogar ein gewisses Maß an Respekt ab und wenn nicht gerade er das Ziel dieser Vendetta gewesen wäre, wer weiß wie sich die unbeabsichtigten Kreuzungen ihrer Schicksale auf ihr Verhältnis ausgewirkt hätten. Sein Frauenweltbild bestand in der totalen Unterwerfung von allem, was nicht im Stande war einen ordentlichen Ständer zu fabrizieren. Jeglicher Regelbruch in dieser Hinsicht rechtfertigte die Anwendung von Gewalt und so verwirrte es ihn, dass trotz einer großen Bandbreite von Demütigungen, er ausgerechnet dieser weiblichen Widerspenstigen mehr Anerkennung zollte, als allen hochrangigen Gangstern dieser Galaxis. Es wird Zeit dieses Paradoxum endgültig zu beseitigen.

Eine Unbekannte in der unausweichlichen Konfrontation waren die Landeier dieser in den Dschungel getriebenen Kommune. Der erste Eindruck vermittelte keine ernstzunehmende Konkurrenz im Kampf um die Femtos, aber die Möglichkeit sie als nützliches Mittel gegen einen der Mitbewerber einzusetzen, wollte Red von vornherein nicht ausschließen. Er begleitete Victor in der Erkundung des Dorfes und obwohl dieses so gut wie keinerlei Anzeichen erkennen ließ, dass es einen ernstzunehmenden Widerstand darstellte für den unerwarteten Besuch, der unweigerlich wie eine Heimsuchung über sie herfallen würde, blieben Restzweifel an der vermeintlichen Harmlosigkeit ihrer Bewohner. Da war zum einen die unbekannte Anzahl der Blumen essenden Pazifisten. Die Unübersichtlichkeit des Dorfes machte es schwer die Bevölkerung zu schätzen und die Einheitskleidung, gepaart mit der immergleichen Frisur, erschwerte die Unterscheidung der einzelnen Bewohner zusätzlich. Viel mehr Unbehagen allerdings bereiteten Red die Femtos selbst. Eine so hoch entwickelte Medizintechnik war hier so fehl am Platze, dass sich unweigerlich die Frage aufdrängte, ob es nicht einen weiteren noch unbekannten Ort gab, an dem fließend Wasser und Strom als Errungenschaft der Zivilisation ausreichend vorhanden sein mussten.

„Das ist nur Fassade.“ bestätigte Victor Reds Eindruck.

„Irgendwo haben die ein geheimes Labor, wo die unseren DNA-Cocktail zusammenmischen.“ fiel Red in die Überlegung mit ein.

„Mehr als ein Labor. Ich vermute mal einen Standort, mit einem Kraftwerk und Feldern auf dem Getreide für das Backen von Brot wächst.“ kombinierte Victor aus den vorhandenen Informationen.

„Wenn die zu Fuß sind, kann es nicht weit weg sein.“

„Genau das macht mir Sorgen. Wer garantiert uns, dass da nicht tausend dieser Waldschrate hocken. Wenn Frago morgen hier eintrifft und seine Technik nicht bekommt, haut der hier alles kurz und klein. Kann mir nicht vorstellen, dass die sich das einfach so gefallen lassen.“ Victor war sichtlich angespannt auf Grund der unbekannten Lage.

„Dann sollten wir Frago daran hindern.“ schlug Red vor.

„Keine Chance. Was ich brauche ist mehr Information. Ich muss mich mit einem der Spinner hier mal ausführlicher unterhalten.“ Victors Verstand war jetzt auf Hochtouren. Die Erstellung eines Plans war ihm deutlich anzusehen.

„Na toll. Deine Art der Unterhaltung kenne ich. Wir sollten ruhig bleiben, bis wir die Femtos im Blut haben.“ Red passte Victors geplante Vorgehensweise gar nicht.

„Frago weiß sicherlich schon, dass wir angekommen sind. Er ist kein geduldiger Mann und wird vorher hier auftauchen. Bis dahin muss ich wissen, was hier gespielt wird.“ Victor hatte Recht. Frago war niemand, der darauf wartete, dass die Dinge ihren Lauf nahmen. Es war seine Natur den Geschehnissen seinen eigenen Stempel aufzudrücken, auch wenn er offensichtliche Nachteile damit in Kauf nahm. Nicht umsonst ist er zu einem der führenden Kartellchefs von Eyak aufgestiegen und gerade diese Position bestärkte ihn in der Ansicht, dass dieser Weg der direkten Konfrontation das beste Mittel war, um seine Ziele zu verwirklichen.

„Ok. Wir „unterhalten“ uns gemeinsam, immerhin sind wir ja jetzt Partner. Außerdem will ich wissen, wo die Grenzen dieser Selbstheiler liegen.“ Red erntete einen bösen Blick, als Bestätigung dafür, dass Victor dieses Arrangement am Fluss zum ersten Mal bereute.

Bis zum Sonnenuntergang erkundeten sie weiter das Dorf. Ihr Ziel war es nun einen „Gesprächspartner“ zu finden, dessen Verschwinden nicht sofort auffallen würde. Zusätzlich dazu brauchten sie einen Ort, der für ihre Art von Befragung diskret genug war, um die Nebenwirkungen in Form von Schreien zu ersticken. Schweigend inspizierten sie die Einwohner, die überwiegend jung und ähnlich langweilig waren, wie die eintönigen Hütten entlang des flachen Flusses. Red mochte diesen Ort nicht und das lag nicht nur an der alles beherrschenden Natur. Die Einwohner erinnerten ihn an extreme Langweiler, die keine anderen Anforderungen an den Tag stellten, als möglichst viele Früchte zu sammeln. Sie hatten sich scheinbar vollkommen ausgeklinkt, aus dem Rattenrennen des Lebens, in dem es darum ging, immer eine Nasenlänge den Anderen voraus zu sein. Kein Ehrgeiz war an ihnen auszumachen. Ganz im Gegenteil. Es schien fast so, als wären sie eine kleine verschworene Gemeinschaft, die das Gemeinwohl über persönliche Interessen stellte. Fremde hatten bei dieser Weltanschauung keinen Platz und das ließen sie die Besucher deutlich spüren. Red wurde nur geduldet und der Mangel an Angst, die er normalerweise allein schon durch sein Narbengesicht auslöste, machte diesen Ort für ihn unwirklich. Ein Paradies voller Sorglosigkeit, das ihn außen vor ließ. Schon allein dafür lohnte es sich etwas Chaos zu stiften. Wenigstens einer dieser glücklichen Bastarde sollte zeitnah erfahren, dass Red sich nur schwer ignorieren ließ.

Ihre Auswahl fiel auf einen der äußeren Wachposten, die weder bewaffnet waren, noch irgendeine Möglichkeit der Kommunikation besaßen. Ihre einzige Aufgabe war es Tiere zu vertreiben, die sich unbeabsichtigt dem Lager näherten. Red wurde Zeuge eines dieser Manöver und als er sah, wie aus kürzester Entfernung scheinbar durch bloße Gedankenkraft das Fleisch fressende Reptil daran gehindert wurde sich am Dorf zu nähren, war die Entscheidung für einen dieser „Animal Man“ gefallen. Einen Superhelden in die Mangel zu nehmen, gefiel seinem immer noch in Comicstrukturen denkendem Verstand und so warteten sie die Dunkelheit ab, um ihren Plan in die Tat umzusetzen.

Die Nacht war bereits weit fortgeschritten, als sich Victor, Red und Kevin endlich aufmachten mehr Informationen zu erlangen. Die Dschungelgeräusche waren etwas abgeflaut und die Fackeln am Flussufer erhellten die schmalen Wege, die sie sich tagsüber eingeprägt hatten. Die Einheimischen hatten sich wie erwartet in ihre kargen Hütten zurückgezogen, um sich von den Entbehrungen des vergangenen Tages zu erholen. Einzig und allein die Tierwachen verharrten auf ihren Posten und waren damit vermeintlich schutzlos den wirklichen Raubtieren ausgeliefert. Die Gruppe machte sich nicht die Mühe sich geräuschlos an ihr Opfer anzuschleichen. Es war egal, denn das Ableben nach der Fragerunde war bereits beschlossene Sache und bevor der Rest der Dorfbevölkerung die wahren Hintergründe über das Verschwinden eines ihrer Einwohner erfahren würde, hatte Fragos Schlägertrupp sie bereits überrannt. Victor rechnete am frühen Morgen mit dem Erscheinen des Transporters und bis dahin wäre auch das letzte Geheimnis dieser Waldmenschen gelüftet. Es war immer von Vorteil, mehr Informationen als seine Widersacher zu besitzen. Eine Ansicht, die er mit Red teilte, der ihn bedauerlicherweise begleitete.

Ein einfacher Steg war die Basis für den Posten und soweit sie es bei Tageslicht erkennen konnten, wurden dem Wächter für seine Arbeit nicht viele Hilfsmittel zugestanden. Kein Schutz vor Regen, kein Stuhl oder Werkzeuge wie Ferngläser. Selbst in tiefster Nacht gab es keinerlei Licht als Unterstützung und für kurze Zeit zweifelte die Gruppe überhaupt jemanden hier anzutreffen. Erst als Red mit seiner Fackel etwas die Umgebung beleuchtete war eine Gestalt am Ende des Auslegers auszumachen. Im Schneidersitz saß der Diensthabende auf der klapprigen Holzkonstruktion, die zu seinem Glück keine großen Wassermassen unter sich erdulden musste. Mit gezückter Pistole betrat Victor als erstes die Anlegestelle, an der mit Sicherheit noch nie ein Boot angelegt hatte.

„Schönen guten Abend.“ rief Victor leicht sarkastisch, als er die Hälfte des Steges passiert hatte. Erwartungsvoll schloss Red auf. Es war gerade genug Platz, um nebeneinander zu stehen. Ihr potentielles Opfer vor ihnen zeigte keinerlei Regung.

„Es ist unhöflich einen Gruß nicht zu erwidern.“ Victor ging einige Schritte vorwärts und stoppte direkt hinter dem Wächter. Dieser zeigte immer noch keinerlei Reaktion. Vorsichtig tippte Victor den Lauf seiner Waffe in den Rücken.

„Hallo? Wir würden gerne mit dir reden.“ Endlich rührte sich was vor ihm. Fast in Zeitlupe erhob sich die Gestalt und erst jetzt bemerkte Victor, dass er es mit einer Frau zu tun hatte.

„Das erhöht den Spaßfaktor um Einiges.“ kommentierte er den Moment der Erkenntnis. Sie standen jetzt von Angesicht zu Angesicht und Victor erkannte die Ursache für den Irrtum mit dem Geschlecht. Ihre Kurzhaarfrisur war eher was für Männer, aber in einer Umgebung wie dieser war sie vermutlich deutlich praktischer, als langes wallendes Haar. Auf höchstens zwanzig Jahre schätzte er ihr Alter, was auch der Durchschnitt der hiesigen Bevölkerung zu sein schien. Bis auf die alte Vettel aus dem Begrüßungskomitee, hatten hier alle unnatürlich junges Aussehen.

„Wir hätten da ein paar Fragen, aber nicht hier. Wir würden da einen etwas ruhigeren Ort vorziehen. Wärst du so lieb?“ Victor fuchtelte mit der Pistole und drängte sie zum gehen. Ein kurzer abschätzender Blick auf die Waffe, dann setzte sie sich schweigend in Bewegung.

„Etwas schneller.“ trieb Victor sie an. Dass sie keinerlei Angst oder Panik zeigte verwirrte ihn. Schlimmer noch. Sie begleitete die Gruppe bereitwillig, so als würden sie zu einem lang geplanten nächtlichen Picknick aufbrechen.

Sie bewegten sich weiter von der Siedlung weg, auf eine kleine Lichtung am Flussufer, die sie bereits bei ihrer Ankunft passiert hatten. Hier waren sie sich sicher, dass jegliche lauten Geräusche niemals bis in das Dorf vordringen würden.

„Schön. Hier sind wir unter uns. Versuchen wir es erstmal auf die sanfte Art und Weise. Ich werde dir ein paar Fragen stellen und du versuchst sie so gut wie möglich zu beantworten. Du kannst doch reden, oder?“ Bisher hatte ihre Geisel kein Wort von sich gegeben. Die Gelassenheit, mit der sie ihr Schicksal hinnahm, war sogar nicht normal.

„Scheiße man. Die redet nicht. Wir sollten gleich die Scheiße aus ihr raus ficken.“ Kevins Stimme zitterte leicht und überschlug sich. Eine Nachwirkungen des kalten Drogenentzuges, denn Victor hatte ihm das Meth verboten.

„Ruhig. Noch ist es nicht soweit.“ versuchte Victor zu drohen, aber sein Opfer verweigerte ihm die Aufmerksamkeit. Mit ausdrucksloser Miene ging sie einen Schritt auf Kevin zu und endlich gönnte sie sich ein paar Worte.

„Du zerstörst deinen Körper. Warum?“ Vorsichtig hob sie ihren rechten Arm und legte ihre Handfläche auf Kevins linke Wange. Dieser war zu überrascht, um sich wegzudrehen.

„Was soll die Scheiße?“ Erst nach ein paar Sekunden schlug er ihren Arm weg.

„Vielleicht hast du mich ja falsch verstanden, aber ich stelle hier die Fragen.“ Victor ergriff ihren linken Arm und zog sie ziemlich grob von Kevin weg.

„Also. Fangen wir mit was Leichtem an. Sag mir deinen Namen.“ forderte Victor.

„Ria.“ antwortete sie vollkommen frei von irgendwelchen Emotionen.  

„Schön Ria. Ich erkläre dir das schnell, denn offenbar hast du keine Ahnung, was hier abläuft. Du bist tot und eigentlich geht es nur darum, auf welche Art und Weise du stirbst. Beantwortest du unsere Fragen, dann ficken wir dich schnell durch und töten dich schmerzlos. Solltest du dich weigern, wird die Sache für dich wirklich unangenehm. Dann testen wir einfach, wie belastbar deine Selbstheiler sind.“ Wieder verpuffte die Drohung.

„Na gut. Versuchen wir es. Wie viele von euch gibt es?“ Victor wartete ein paar Sekunden, bevor er frustriert sein Messer zog. Er ergriff Rias Oberteil aus Leinen und schnitt es an seiner Vorderseite längsseitig auf. Red an seiner Seite wusste nicht, was er zuerst bewundern sollte. Die perfekten Brüste ihres Opfers, die nun freigelegt waren oder die Schärfe von Victors Messer.

„Letzte Chance. Ich würde ungern dieses Kunstwerk zerstören.“ Rias Gesicht wirkte im Schein der Fackel weiterhin vollkommen ausdruckslos. Victor setzte den Schnitt oberhalb ihrer linken Brust an. Ein tiefer Atemzug verriet, dass Ria Schmerzen hatte. Mehr gestand sie ihrem Peiniger nicht zu.

„Du bist ne harte Braut, dass muss ich dir zugestehen, aber bist du immer noch so hart, wenn ich dir die komplette Brust abschneide?“ Das Blut lief jetzt über ihre Brustwarze und tropfte auf das Gras unter ihr.

„Gut. Ich frage dich erneut. Wie viele…“ Victor brach ab und schob Reds Arm mit der Fackel näher an ihre Brust.

„Das ist ja der Hammer.“ staunte er über die sich selbständig schließende Wunde.

„Jetzt schneide ich dir Brust ab, egal ob du redest oder nicht.“ Er setzte bereits wieder an, als Ria ihren zweiten Satz von sich gab.

„Ihr solltet jetzt gehen.“ sagte sie immer noch ohne Angst in der Stimme.

„Warum denn? Wir haben doch jede Menge Spaß.“ antwortete Victor amüsiert. Ein knackendes Geräusch aus dem Dschungel hinderte ihn jetzt an der Ausführung der Verstümmelung. Er schaute über Rias Schulter, konnte aber in der Dunkelheit nichts erkennen. Sein Kopf wanderte jetzt an ihr linkes Ohr und die Nähe zu ihr nutzte er, um in ihre linke blutverschmierte Brustwarze zu kneifen. Zu seinem Glück war es dunkel, denn die Beule in seiner Hose zeichnete sich deutlich ab.

„Haben wir etwa einen heimlichen Beobachter? Wie wärs, wenn wir ihm eine schöne Vorstellung liefern.“ hauchte er in ihren Gehörgang. Ria schien abwesend, so als müsse sie sich auf wichtigere Dinge konzentrieren. Wieder gab es ein Geräusch in der Dunkelheit.

„Schau nach, wer da ist.“ wies Victor Red an. Ein letzter Blick in ihr Gesicht verriet diesem, dass endgültig was nicht stimmte. Sie wirkte angespannt, als würde sie ihre mentale Energie auf einen einzelnen Punkt fokussieren. Was immer sie gerade tat, strengte sie mehr an als die Schmerzbekämpfung bei Victors Schnitt. Red zögerte, denn sämtliche Warnglocken in seinem Inneren läuteten im Dauerton. Ein Instinkt, der ihn hinderte weiter zu gehen.

„Was ist los?“ bluffte ihn Victor an.

„Da stimmt was nicht.“

„Kevin. Nimm unseren Schisser an die Hand und dann schaut verdammt noch mal nach, wer sich da im Gebüsch rumdrückt.“ fluchte Victor. Das Licht entfernte sich von ihm und nun war er mit Ria allein im Dunkeln. Er drehte sie, so dass sie gemeinsam dem Fackellauf folgen konnten. Sein linker Arm umklammerte ihre blanken Brüste und seine Erektion war sicherlich nicht unbemerkt geblieben, zu sehr presste er sich an ihren Rücken. Er hatte sichtlich Mühe konzentriert zu bleiben, denn diese Schlampe vor ihm machte ihn so spitz, dass er sie am liebsten auf den Boden werfen und bis zur Bewusstlosigkeit ficken würde. Verdammt was war los mit ihm? Nicht zum ersten Mal zählten Frauen zu seiner Kundschaft und bisher hatte er es immer geschafft professionell zu bleiben. Ria war nicht mal sein Typ, aber irgendwas im Inneren überschüttete ihn gerade mit Hormonen. Er ertappte sich dabei, wie er ihre rechte Brust knetete und sich lustvoll an ihrem Rücken rieb. Das Objekt seiner Begierde wirkte immer noch ziemlich teilnahmslos hinsichtlich der sexuellen Bedrängung und obwohl er nichts sehen konnte, war er sich sicher, dass sie immer noch voll konzentriert alles an sich abperlen ließ. Was zum Teufel verarbeitete sie da geistig? Mit dem letzten Rest an Logik setzte er die einzelnen Puzzlestücke zusammen. Nicht was, sondern wen. Wie auch immer sie das anstellte, aber er war das Ziel. Mit dieser Erkenntnis stieß er sie von sich.

„Verdammter Freak. Raus aus meinem Kopf.“ schrie er ihr hinterher, aber seine Erregung klang nicht ab und vernebelte klare Gedankengänge. Trotz des Wissens sexuell manipuliert zu werden, war der Drang sich auf sie zu werfen und sich an ihr zu vergehen übermächtig. Er zwang sich das rationale Denken wieder in den Vordergrund zu schieben. Warum? Ein einziges Wort, was er seinen aufgepeitschten Trieben entgegen warf. Warum sollte ihn jemand so aufheizen und eine Vergewaltigung riskieren? Eine gute Frage, auf die es nur eine Antwort gab. Hundert Prozent Aufmerksamkeit. Das alles war nur ein perfides Ablenkungsmanöver und als er in die Richtung der Fackel starrte, war es bereits zu spät. In hohem Bogen flog das Licht durch die Luft und landete keinen halben Meter entfernt vor seinen Füßen. Der Schalter für Erregung wurde mit einem Schlag auf asexuell umgestellt. Ria hatte ihn vom Haken gelassen, denn ihre mentale Energie wurde für etwas Anderes gebraucht. Etwas, das furchtbar groß war.

Zähne. Die einzige Information, die Reds in Schockstarre verfallener Verstand verarbeiten konnte. Riesige messerscharfe Zähne bewegten sich auf ihn zu und das blendende Weiß dieses kopfgroßen Gebisses tauchte alles Andere in der Umgebung in tiefes Schwarz. Welche Kreatur auch immer sich im Laufe der Evolution diese Waffe zugelegt hatte, stand vermutlich ganz oben in der Nahrungskette von Cree. Ein perfekter Jäger, der sich fast geräuschlos seiner Beute nähern konnte und da vermutlich Menschen eher selten auf der Speisekarte standen, erwartete diesem Fleisch liebenden Reptil in ein paar Sekunden ein exotischer Leckerbissen namens Red. Ein armseliges Geschöpf, das sich nicht bewegen konnte, weil die Wunder der Natur ihn vor Ehrfurcht erstarren ließen. Mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen war er unfähig sich seinem Tod bringendem Schicksal zu entziehen. Mit jeder Millisekunde rückte das weiße Verhängnis näher und als er endlich die Dimensionen seines Angreifers ausmachen konnte, hatte dieser sich bereits bis auf einen Meter genähert. Red legte den Kopf in den Nacken, um seinem Henker demütig in die Augen schauen zu können. Zwei riesige Pupillen fokussierten ihn und klärten die Verhältnisse zwischen Jäger und Beute. Es gab kein Entkommen mehr. Er würde also als Appetitanreger für einen gigantischen Dinosaurier enden und wenn die Gerüchte stimmten, dass auf Eyak Wetten auf die Art und Weise seines Ablebens platziert werden konnten, dann würde es vermutlich nur Verlierer geben, bei der unerwarteten Exklusivität seiner Todesumstände.

Zuerst würde dieses riesige Maul sich soweit öffnen, dass er quasi mit einem Biss komplett darin verschwinden könnte. Die Zähne würden dann auf ihn niedersausen, ihn packen und am Ende zermalmen. Unsicher war sich Red bei der Vorstellung über das endgültige Finale als Reptiliensnack. Ob ihn der Dino in einem Stück verspeisen würde oder ob er in kleinen handlichen Stücken im Verdauungstrakt endete, hing vermutlich von dem Heißhunger seines Jägers ab, aber eine Antwort auf die letzte seiner Fragen, würde er vermutlich eh nicht mehr bewusst mitbekommen. Erstaunlicherweise sah er diesem selbst entworfenen Szenario ohne große Angst entgegen und als dieses übergroße Gebiss nicht auf ihn, sondern auf Kevin niederging, stand Red einfach nur da und grinste vor sich hin über die Bestätigung seiner so schnell entworfenen Theorie der Abläufe. Kevin wurde nur geringfügig zerkaut und tauchte fast in einem Stück in die Untiefen des übergroßen Raubtiermagens ab. Ohne laute Geräusche oder Schmerzensschreie ging das Ganze von statten, so als sehen Jäger und Beute ihre Rolle als naturgegebene Konstante an. Keine zehn Sekunden später stand Red zum zweiten Mal auf der Speisekarte und wieder blickte er in die Augen des Tieres, die ihm erneut klar machten, das die Reihenfolge der Nahrungskette unumstößlich war. Nun gab es keine Alternative mehr, die Red ein paar Sekunden mehr Lebenszeit einbringen würde. Was vor kurzem auch immer den Dino dazu veranlasst hatte seine Menüreihenfolge spontan zu ändern, vielleicht konnte es erneut helfen, ihn endgültig vom Servierwagen zu bringen.  

„Komm schon. Hol dir den Nachtisch.“ zischte Red dem Dino entgegen, als dieser zögerte seine Zähne in ihn zu versenken. Vorsichtig reckte er ihm die Fackel entgegen und für kurze Zeit war er sich über die Motive dieses Manövers unsicher. Wollte er ihn mit Hilfe des Feuers vertreiben oder sich selbst bloß in ein besseres Licht rücken, um das Unausweichliche endlich hinter sich zu bringen? Wie auch immer das Raubtier die Bewegung auffasste, es sah das Licht als Störung an, was es mit einem Aufbäumen und einem gezielten Schlag mit einem seiner Vorderläufe verdeutlichte. Red jaulte auf, als ihn die Pranke an der Hand traf und die Fackel im großen Bogen davon flog.

„Verdammt. Mit Essen spielt man nicht.“ brüllte er dem Dino entgegen, nachdem der Schmerz etwas nachgelassen hatte. Dabei war er sich unsicher, ob die Richtung in der jetzt vollkommenen Dunkelheit stimmte, denn außer dem tiefen Atmen war kein Geräusch mehr von seinem Jäger zu vernehmen. Immer noch hatte er keine Angst und das obwohl er jetzt sein Ende nicht mal mehr kommen sehen würde. Warum zum Teufel schnappte dieses verdammte Mistvieh nicht endlich zu?

Ein kleines Licht durchbrach die alles umhüllende Dunkelheit. Die Fackel war wieder da und kam schnellen Schrittes auf ihn zu. Victor musste sie aufgehoben haben und da der Dino bisher auf lautstarke Schmatzgeräusche verzichtet hatte, wusste dieser vermutlich nicht, was ihn hier erwartete. Das nahende Feuer erhellte Reds Umgebung soweit, dass er die Position des Tieres ausmachen konnte. Entweder hatte dieses es geschafft geräuschlos hinter ihn zu kommen oder Reds Orientierungssinn war so mies, dass er in der Schwärze der Nacht die Position seines Jägers falsch einschätzte. Vorsichtig drehte er sich um und merkte, dass die Prioritäten des Raubtieres in Sachen Beute sich verändert hatten. Erleichtert nicht mehr der alleinige Hauptgang zu sein, wandte sich Red dem nahenden Licht zu.

„Stopp. Ich bin ja froh, dass du endlich zu unserer Party dazu stößt, aber an deiner Stelle würde ich nicht näher kommen.“ raunte er gerade so verständlich in Victors Richtung.

„Ich war abgelenkt worden. Was für eine Scheiße läuft hier?“ Red wollte gerade antworten, als er eine Bewegungen neben sich wahrnahm. Nichts Akustisches. Es war einzig und allein ein Windhauch, der darauf hinwies, dass sich der Dino bewegte. Dieses riesige Tier konnte sich praktisch geräuschlos bewegen.

„Achtung.“ brüllte Red noch, als er merkte, dass er selbst nicht das Ziel war. Das unverkennbare „plopp“ einer elektromagnetischen Waffe war mehrfach zu vernehmen. Victors Schüsse zeigten Wirkung, denn endlich gab das Tier so etwas wie Laute von sich. Es war also verwundbar und damit konnte es auch getötet werden. Etwas sterben zu sehen, war genau die Motivation, die Red brauchte. Er bewegte sich auf den Lichtschein zu, dessen Position sich zwar geändert hatte, aber immer noch sicher in Victors Hand zu liegen schien.

„Du hast es erwischt.“ jubelte Red, aber Victors Mine schien ihm in dem fahlen Licht nicht zustimmen zu wollen. Voll konzentriert erwartete der den Angriff und als der Kopf des Dinos mit weit geöffnetem Maul auf Victor zuschoss, konnte dieser nur mit einem geschickten Sprung zur Seite den Zähnen entgehen.

„Wie viele Kugeln verträgt dieses Mistvieh?“ brüllte Victor panisch, nachdem er zwei weitere Schüsse auf den Dino abgefeuert hatte. Ein schrilles Jaulen verriet, dass mindestens eine Kugel getroffen haben musste. Ansonsten waren die Treffer dem Tier nicht anzumerken. Keinerlei Schwanken oder andere Beeinträchtigungen waren zu erkennen und so setzte der Dino die Angriffe fort, denen Victor bisher erfolgreich ausweichen konnte. Lange konnte das nicht mehr gut gehen, zumal das Tier immer aggressiver wurde.

„Verdammte Schlampe.“ brüllte Victor und während Red noch grübelte, woher dieser wissen konnte, dass der Dino weiblich war, bemerkte er, dass die Schüsse nicht mehr auf das ursprüngliche Ziel abgefeuert wurden. Scheinbar sinnlos schoss Victor in die Dunkelheit und erst als der mit einem legendären Ausweichmanöver gezwungen wurde näher Richtung Fluss zu rollen, erleuchtete das Feuer kurz die Gestalt, die das eigentliche Ziel seiner Beschimpfung war. Ria. Die hatte Red vollkommen vergessen. Warum hatte die sich nicht längst aus dem Staub gemacht? Die Antwort kam ihm, bevor er die Frage auch nur zu Ende gedacht hatte. Sie war der eigentliche Gegner. Natürlich. Ihre Aufgabe bestand darin Tiere vom Lager fernzuhalten und das durch pure Gedankenkraft. Sie kann es auch in die andere Richtung. Verdammt. Dieses Miststück mit den perfekten Titten hetzte gerade ein Raubtier auf sie und trieb es trotz schwerster Verletzungen zu immer neuen Angriffen an. Mit dieser Erkenntnis rannte Red zu dem Ort, an der er einen Moment zuvor ihre Silhouette gesehen hatte.

Die verfluchte Finsternis und sein fehlender Orientierungssinn ließen ihn kurz zweifeln, ob er sich wirklich an der richtigen Stelle befand. Er wedelte mit seinen Armen, immer in der Hoffnung auf weiches Frauenfleisch zu treffen, das diesen verdammten Dino fernsteuerte. Fast eine Minute schlug er wie ein Verrückter um sich, bis er endlich auf das traf, was er erhoffte. Er ergriff sie am Arm und die mangelnde Gegenwehr verriet ihm, dass sie ihre Umgebung vollkommen ausgeblendet hatte. Ihre Konzentration galt ganz und gar dem Kampf. Red ertastete ihr Gesicht und setzte dann einen gezielten Faustschlag an, der sie unmittelbar zusammensacken ließ. Fast zeitgleich stürzte auch der Dino und erlag damit nun endgültig seinen Verletzungen. Der Dritte, der an den Konsequenzen des Schlages litt war Red selbst. Das angeknackste Handgelenk schmerzte höllisch und ließ ihn lauthals fluchen.

„Scheiße.“ stöhnte Red unter Schmerzen. Victor kam vollkommen außer Atem auf ihn zu.

„Dieses Miststück. Hetzt dieses Vieh auf uns.“ Er untermauerte seine Worte mit einem Tritt in ihren Magen.

„Wenn jeder von diesen Spinnern das drauf hat, dann haben wir ein echtes Problem.“ erklärte Red wütend über seine schmerzende Hand.

„Das ist noch untertrieben. Die war nicht nur im Kopf von diesem Vieh. Die war auch in meinem Kopf.“ Victor hatte sich wieder etwas beruhigt.

„Wie denn das?“ fragte Red jetzt sichtlich überrascht.

„Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass ich die um jeden Preis ficken wollte. Da hätte mir selbst dieser Dinoverschnitt die Eier abbeißen können, ich hätte von der nicht abgelassen. Die hat mich so aufgeheizt und dann auf einen Schlag. Boom. Nichts mehr.“

„Die wollte uns trennen. Vermutlich kann sie sich nur auf einen konzentrieren. Irgendwann hat sie dem Dino den Vorzug gegeben. Der hat vermutlich einen längeren Schwanz.“

„Das ist auch so ein Ding. Warum Sex? Ich hätte die gevögelt, bis sie tot zusammengebrochen wäre. Warum hetzt sie uns nicht einfach gegeneinander auf oder bezirzt uns, bis wir ihr aus der Hand fressen?“

„Vielleicht kann sie nur bestimmte Triebe kontrollieren. Sei ehrlich. Ihre Titten haben dich auch scharf gemacht. Wenn sie einmal den Zugang hat, kann sie das vermutlich bis ins Unendliche verstärken. Beim Dino war es vielleicht der Hunger.“

„Trotzdem hat er dich nicht gefressen.“

„Ich habe das, was die haben wollen. Ich darf nicht sterben.“ Red lächelte listig.

„Das gilt nur für sie.“ sah sich Victor gezwungen das letzte Wort zu haben. Die Person zu ihren Füßen kam wieder zu sich.

„Ria, Schätzchen. Du hast ja ein paar ordentliche Tricks drauf. Das hindert uns aber nicht daran, dich weiter zu befragen.“ Victor versetzte ihr einen weiteren Fußtritt in die Magengegend und zerrte sie dann an ihren Haaren auf die Beine. Das zerschnittene Oberteil entblößte erneut die an Perfektion nicht zu übertreffenden Brüste, die jetzt dreckverschmiert nicht weniger verführerisch wirkten. Unweigerlich zogen sie die Blicke auf sich.

„Denk nicht mal dran.“ Diesmal landete Victors Faust in ihrem Magen, worauf Ria auf die Knie ging. Keine Sekunde wurde ihr in der Position vergönnt, denn wieder wurde sie unsanft an den Haaren nach oben gezogen.

„Erzähl uns davon. Ist das Nanotechnologie?“ hakte Red ein.

„Bringt mich zu dem Velecor. Danach erzähle ich euch, was ihr wissen wollt.“ antwortete Ria trocken.

„Die Echse? Tut mir Leid. Das Mistvieh ist tot.“ Victor schaute zu Red rüber, der nur mit den Schultern zuckte. Er hielt ihr die Waffe an die Schläfe, bevor er fortfuhr.

„Sollte ich wieder spitz auf dich werden oder sollte irgendwas aus dem Dschungel gekrochen kommen oder du probierst irgendwas Neues an uns aus, dann hoffe ich für dich, dass es nicht länger als den Bruchteil einer Sekunde dauert. Solange werde ich brauchen, um dir eine Kugel in den Kopf zu jagen. Verstanden?“ Er schob sie Richtung Kadaver. Dort angekommen, fiel sie vor dem Leichnam auf die Knie und streichelte zärtlich das tote Fleisch.

„Es tut mir Leid. Das habe ich nicht gewollt.“ raunte sie leise und eine vereinzelte Träne lief ihr übers Gesicht. Sie legte ihren Kopf auf das Tier und trauerte ohne falsche Scheu.

„Was ist den das für eine Scheiße? Dieses Drecksvieh hat Kevin gefressen.“ Victor nutzte seine bewährte Technik sie auf die Füße zu bekommen.

„Zeit zu singen. Ist dieser Besessenheitsscheiß Nanotechnologie?“

„Nein.“ antwortete Ria kurz.

„Was dann?“ Victor drohte bereits mit der Faust.

„Evolution.“

„Was ist denn das für ein Blödsinn?“ Victor war jetzt wütend.

„Eine Weiterentwicklung. Weg von der primitiven Rasse Mensch.“

„Damit sind wohl wir gemeint. Das macht dich denn weniger primitiv? Es ist noch keine halbe Stunde her, da wolltest du, dass der Primitive dich in den Himmel vögelt.“ Victor schnaubte verächtlich.

„Wir werden euch überleben. Ihr zerstört euch selbst durch Drogen, Kriege oder andere Formen von Gewalt. Ihr benehmt euch wie ein Geschwür, das alles in seiner Umgebung vernichtet, um am Ende selbst unterzugehen. Wir sind die Weiterentwicklung, die aus den Trümmern eine neue Welt erschaffen wird. Irgendwann wird die Menschheit nicht mehr sein, als eine dunkle Fußnote der Geschichte, auf die wir mit Abscheu zurückblicken werden.“ Es war schwer zu ergründen, ob Ria diese Worte mit Arroganz oder Leidenschaft Richtung Victor schickte, aber seine Reaktion darauf war vollkommen untypisch.

„Du willst also voller Verachtung auf uns zurückblicken? Da habe ich eine schlechte Nachricht für dich. Wir werden dich nämlich überleben.“ Der sonst so abgebrühte Victor hatte seine Wut nicht mehr im Griff und Ria schien ihren Anteil dazu beizusteuern. Wieder war ihr die Konzentration anzumerken und bevor Red begriff auf was sie sich mental fokussierte, war es bereits zu spät. Das Plop ging einher mit der Zersplitterung ihres Schädels. Victor hatte sie exekutiert und das allein auf Grund seiner verstärkten Wut. Mit dem Kappen der geistigen Verbindung wurde auch ihm bewusst, dass sie praktisch Selbstmord begangen hatte.

„Verdammtes Miststück. Du warst das letzte Mal in meinem Kopf.“ zischte er, als ihm bewusst wurde, was er gerade unfreiwillig angestellt hatte.

„Sie hat deine Wut verstärkt. Offenbar können die das vorherrschende Gefühl beeinflussen.“ Red konnte das gerade erlebte kaum glauben.

„Und offenbar können sie sterben.“ stellte Victor fest, als die Gestalt zu ihren Füßen regungslos liegen blieb.

„Scheiß drauf. Wenn nur ein halbes Dutzend Leute dieselben Tricks drauf haben, dann wird es ein Gemetzel geben bei Fragos eintreffen. Nur nicht so, wie wir uns das vorgestellt haben.“ schlussfolgerte Red.

„Du hast Recht. Das kann bei Fragos Temperament böse enden.“ Victor ging geistig seine Optionen durch.

„Willst du ihn warnen?“ fragte Red listig. Ihre Blicke trafen sich jetzt und Victor war die Abwägung seiner Möglichkeiten anzusehen.

„Manchmal ist es besser, die Dinge ihren Lauf nehmen zu lassen.“ entschied er sich dagegen.

„Außerdem hast du ja mich als Partner. Wird Zeit etwas mehr Gleichberechtigung in unsere Beziehung zu bringen.“ Red war jetzt in der deutlich besseren Position nach Victors Entscheidung zum Verrat gegenüber Frago. Die Koordinaten waren sein größter Trumpf und damit waren sie in der derzeitigen Situation das Pfund, mit dem er wuchern konnte.

„Einverstanden. Nur eins noch. Ich bin nicht nur dein Partner, ich bin auch so eine Art wandelnder Totmannschalter. Drückt keiner da oben mehr den Knopf, drückt ihn bei dir auch keiner mehr.“ Victor tippte sich mit dem Lauf seiner Pistole zweimal an die Schläfe, bevor er die Waffe auf Red richtete und mit einem gespielten „Plopp“ seine Warnung untermauerte. Dieser grinste nur über den verzweifelten Versuch, so als wolle er ihm die Armseligkeit seiner Drohung als Spiegel vorhalten. Die Wahrheit war, Red brauchte seinen „Partner“ nicht, aber umgekehrt war Victor abhängig von seinem Überleben und tatsächlich war nur die mächtigere Waffe das einzige Argument für eine Zusammenarbeit. Ein schwaches, wie Red fand.

Sie schlichen zurück ins Dorf und machten sich es in der zugewiesenen Hütte bequem. Es war unklar, ob die Bevölkerung sie mit dem Verschwinden des Wachpostens in Verbindung bringen würde, aber das war nebensächlich. Das Wissen über die Koordinaten würde Red vor Schlimmeren bewahren, jedenfalls vorerst. Vielleicht ergab sich sogar für ihn die Gelegenheit, Victor ans Messer zu liefern und seinen eigenen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Ein grober Abriss dessen, was Red nach dem Empfang des heiligen Geschenks der Femtos plante. Wahrscheinlich würde es wieder nicht ohne Improvisation gehen, aber dahingehend war er mit viel Talent gesegnet. Das dieses Talent bei den kommenden Abläufen an seine Grenzen stoßen würde, war ihm in dieser Nacht nicht klar gewesen und der unbedingte Wille in den Besitz dieser Technologie zu kommen, sollte in den nächsten Stunden seinen Blick für bestimmte Vorboten des Unheils vernebeln.

Eines dieser untrüglichen Anzeichen des Scheiterns ihrer Pläne wurde ihnen am nächsten Morgen offenbart. Das Dorf war über Nacht vollkommen evakuiert worden. Nicht einer ihrer ursprünglichen Bewohner war mehr anwesend und wohin sie sich auch zurückgezogen hatten, sie entzogen sich damit dem Wirkungskreis ihrer Gäste. Ihre geplante Anbiederung und die damit einhergehende Konfrontation mit Frago, der jede Minute im Lager erwartet wurde, waren damit hinfällig geworden. Die Kenntnis über die mentalen Kräfte und die Unkenntnis über das Ausmaß, verursachten gerade bei Victor ein unangenehmes Gefühl. Er wurde gerade gezwungen, sich der schwächeren Seite im bevorstehenden Konflikt anzuschließen und die Erfahrungen der letzten Nacht, als er die Kontrolle über sein bewusstes Handeln gleich mehrfach verlor, zeigten ihm die Ausweglosigkeit seiner Situation auf. Vielleicht würde ein Übermaß an Selbstbeherrschung helfen, immerhin konnte nichts verstärkt werden, was nicht vorhanden war, aber über den Erfolg war er sich unsicher. Er war auf feindlichem Gelände, mit einem übermächtigen Gegner und einer Person in ihren eigenen Reihen, die nicht zögern würde, sie zu verraten. Leider konnte der letzte Punkt nicht mit einem gezielten Kopfschuss erledigt werden. Verdammt. Die Chancen auf einen Erfolg hatten sich für ihn gerade sichtlich verschlechtert.

„Was nun Judas?“ grinste Red schelmisch vor sich hin. Da er bei beiden Seiten ganz oben auf der Prioritätenliste des Überlebens stand, hatte er praktisch freie Mannschaftswahl. Besser noch. Er konnte sich an den Spielfeldrand stellen und abwarten, wer am Ende als Sieger übrig bleiben würde.

„Vergiss nicht. Was auch immer gleich passiert. Wir gehen gemeinsam unter.“ drohte Victor erneut.

„Natürlich mein Führer.“ verkündete Red gutgelaunt, da Victors Plan sich in seinem Windschatten mit der Bevölkerung gut zustellen nicht mehr realisierbar war.

„Mir ist nicht nach scherzen.“ fluchte Victor und gab Red einen Hieb auf die Nase. Soweit zur Selbstbeherrschung.

„Behandelt man so seinen Partner?“ fluchte der, als er das Blut bemerkte. Victor wollte gerade was Passendes erwidern, als die Geräusche eines Flugtransporters die Unterhaltung durchbrachen.

„Es geht los.“ kommentierte Victor das Vorhergesagte. Beide verfolgten sie die ungewöhnliche Flugbahn, die vermutlich der Suche nach einem geeigneten Landeplatz geschuldet war. Fast eine Viertelstunde brauchte der Pilot, ehe er sich für ein waghalsiges Landemanöver am rechten Flussufer entschied. Nicht sehr elegant setzte er den viel zu großen Transporter halbseitig in das Flussbett und zerstörte dabei ein paar Fackelhalterungen. Mit geringer Schräglage entsprangen dem nicht vertrauenswürdig geparktem Gefährt ein gutes Dutzend bewaffnete Männer. Agil und voller Tatendrang standen sie in vollem Gegensatz zu dem gebrechlich wirkenden Frago, der Mühe hatte seine Leibesfülle aus dem Transporter zu hieven. Schwitzend und erschöpft, ließ der sich auf der Treppe der nächstgelegenen Hütte nieder und gab fuchtelnd Anweisungen an seine Leute.

„Wo sind die Anderen?“ begrüßte sie Frago keuchend, als Red und Victor seine Position erreicht hatten.

„Tot. Der Dschungel verlangte seine Opfer.“ erklärte Victor kurz und knapp.

„Scheiße. Zum Glück habe ich Ersatz auftreiben können. Selbst auf so einem beschissenen Planetenparadies wie hier, gibt’s Leute, die unzufrieden sind und für ein paar Jetons den Kick suchen.“ Frago deutete auf einen der Unbekannten. Victor musterte ihn und erkannte sofort den Typ Mensch, den er vor sich hatte. Tausendfach hatte er sie auf Eyak vor sich stehen gehabt. Naive Gestalten, die glaubten nur allein deswegen im großen Spiel der Kartelle mitmischen zu können, weil sie fähig waren eine Waffe zu halten. Die brutale Realität der Unterwelt ließ die meisten von ihnen scheitern. Die Abenteuerlust stand auch diesen von Reinheitsgesetzen geknebelten Buchaltern und Beamten förmlich ins Gesicht geschrieben, aber Victor war sich sicher, dass keiner von diesen sechs Hobbydraufgängern jemals Gewalt anwenden würde. Sie waren einzig und allein zur Abschreckung da und würde die Sache aus dem Ruder laufen, die Wahrscheinlichkeit war ja sehr hoch, könnte ihnen eine Zweitverwendung als Kanonenfutter bevorstehen.

„Bring mich auf den aktuellen Stand.“ forderte Frago jetzt wieder normal atmend.

„Es ist niemand mehr hier. Sie sind über Nacht alle verschwunden.“

„Was soll denn das heißen? Wo sind sie hin?“ Fragos steigender Wutpegel ließ ihn wieder in erschwerte Atmung verfallen.

„Es gibt hier keinen Strom, daher vermute ich, dass sie das Labor an einem geheimen Ort haben. Wir wissen nicht wo und wie viele dort leben.“

„Schön. Jetzt weiß ich, was wir nicht wissen. Erfahre ich jetzt auch noch was wir wissen?“

„Sie werden wiederkommen. Das Interesse an diesem narbenübersäten Scheißhaufen ist ungebrochen.“ Victor deutete auf den immer noch blutenden Red.

„Ist ja auch ein reizvolles Kerlchen. Da hast du wohl über die Strenge geschlagen.“ Frago deutete auf Reds schmerzendes Handgelenk.

„Ein Unfall, der uns noch viel Ärger bei den Einheimischen einbringen kann.“ verteidigte sich Victor.

„Wahrscheinlich mit Toten. Und was machen wir jetzt? Warten, dass sie uns vergeben?“ fragte Frago sarkastisch.

„Leider wird uns nichts Anderes übrig bleiben.“

„Falsch. Ich will, dass hier alles niedergebrannt wird. Dann kommen die garantiert aus ihren Löchern.“ forderte Frago.

„Wir sollten sie nicht weiter provozieren.“ widersprach Victor.

„Ach ja. Das sind Waldhippies. Die ernähren sich von Unkraut und waschen sich nur einmal im Jahr. Warum sollten wir sie nicht provozieren? Hast du Angst, dass sie mit dreckigen Socken werfen?“ Frago musterte jetzt Victors Gesicht und das was er darin ergründete, gefiel ihm gar nicht.

„Da ist noch mehr. Was zur Hölle ist hier los?“ fragte Frago drohend.

„Da kommt jemand.“ brüllte einer seiner Leute in Victors Rücken und ersparte dem erstmal eine unangenehme Antwort. Er hatte schon öfter Lügen gegenüber Frago erfolgreich platzieren können, aber bei solch wichtigen Angelegenheiten hätte er keine Chance damit durchzukommen. Der Neuankömmling brachte ihm eine kleine Gnadenfrist.

„Wir reden noch.“ zischte Frago leise, als Zeichen dafür, dass die Sache noch nicht erledigt war.

Ein Knabe mit dem jungendlichen Aussehen eines zwanzigjährigen kam auf die Gruppe zu. Er wirkte so sicher und selbstbewusst in seinem Auftreten, dass sein geschätztes Alter im Kontrast zu seiner souveränen Ausstrahlung stand. Sein lockiges blondes Haar war gepflegt und seine weiße Leinenkleidung war unnatürlich sauber für die Umgebung. Mit ausdrucksloser Mine positionierte er sich keine zwei Meter vor dem sitzenden Frago.

„Bübchen. Suchst du die Grundschule?“ scherzte Frago jetzt besser gelaunt. Sein Gesprächspartner ließ seinen Blick über die Menge schweifen und blieb an Victor hängen.

„Ich mochte Ria.“ sprach er ihn emotionslos an.

„Glaub mir. Die Kleine war nicht ganz unschuldig bei der Geschichte.“ verteidigte sich Victor. Frago schnippte jetzt mit den Fingern, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

„Hey. Ich bin derjenige mit dem du reden solltest. Warum holst du nicht einen Erwachsenen ran, mit dem wir uns unterhalten können?“

„Wir haben die Nanotechnologie für euch hergestellt. Wir verlangen die Koordinaten und dann verlasst ihr unser Dorf.“ ignorierte das Milchgesicht die Forderung.

„Schön. Hast du sie bei dir?“ Als Antwort öffnete der Junge die Hand und offenbarte dem staunenden Frago zwei Spritzen, die mit einer farblosen Flüssigkeit gefüllt waren.

„Wow. Also wenn ich mir das Zeug spritze, bin ich wieder gesund?“ frohlockte Frago.

„Nein.“ antworte sein Gegenüber kurz und trocken.

„Nein? Scheiße. Will der mich verarschen?“ Jetzt war gar keine Freude mehr in seiner Stimme.

„Die sind auf unsere DNA ausgelegt.“ hakte Red mit leuchtenden Augen ein. Seit die Spritzen in seinem Blickfeld erschienen, nahm er alles in seiner Umgebung nur noch eingeschränkt wahr.

„Sieht so aus, als hättet ihr mich bei der ganzen Sache vergessen und das, obwohl ich die Dinger am dringendsten notwendig hätte. Also, wo sind meine?“ Frago war jetzt genervt. Der Junge ignorierte ihn erneut und wandte sich nun an Red.

„Ich brauche die Koordinaten.“ Jetzt war etwas mehr Hartnäckigkeit in seiner Stimme.

„Die bekommst du, sobald ich meine Spritze habe.“ versuchte Frago die Aufmerksamkeit zurückzuerobern. Der Junge rang jetzt mit sich selbst und schien unschlüssig, wie er denn mit der neuen Forderung umgehen sollte. Zu aller Überraschung packte er die Spritzen weg und zog ein Messer. Es war wohl eine glückliche Fügung des Schicksals, dass von den in Anschlag gebrachten Waffenbesitzern keiner einen nervösen Abzugsfinger besaß. So war das einzige Blut, das vergossen wurde, die Probe, die Frago in einen Becher tropfen ließ.

„Als kleinen Tribut dafür, dass wir dich unverstümmelt abziehen lassen, wirst du mir jetzt noch die Spritzen überlassen.“ Frago hielt ihm die offene Hand hin und nach ein paar Sekunden zögern, rückte der Junge das Geforderte heraus. Bis auf eine kleine farbige Markierung, waren die Spritzen identisch.

„Welche gehört zu wem?“ Der Knabe setzte gerade zu einer Antwort an, als ihn Frago zu sich heranwinkte. Für alle Anderen unhörbar, flüsterte er die Antwort in sein Ohr.

„Gut. Nun geh und bring mir meine Bots. Bist du bis zum Sonnenuntergang nicht zurück, fackeln wir hier alles ab. Also beeil dich.“ Frago machte eine ausladende Handbewegung und als der Junge außer Hörweite war, beauftragte er zwei seiner Leute ihn zu verfolgen. Die kehrten nach kurzer Zeit zurück, da sie seine Spur verloren hatten.

„Irgendwie beschleicht mich das Gefühl, dass ich nur noch eine Nebenrolle in euren Plänen spiele.“ Fragos drohender Unterton war unüberhörbar und vermutlich auch beabsichtigt. Trotzdem ließ sich Victor keinerlei Angst oder Schuld anmerken.

„Offensichtlich läuft hier mehr, als im ersten Augenblick ersichtlich ist. Also. Klär mich auf, was die letzten Tage abgegangen ist.“ forderte Frago nach einer kurzen Pause. Victors Pokergesicht zeigte keinerlei Regung, als er den Tod seiner Leute und das Verhör von Ria erklärte. Jetzt ging es darum die Erkenntnisse ihrer Befragung zu offenbaren und offensichtlich war er immer noch nicht bereit, Frago die mentalen Fähigkeiten und die damit einhergehende Gefahr zu erläutern. Ein gefährliches Spiel auf was er sich da einließ, denn erstens lieferte er Red damit weitere Munition und zweitens war es nie eine gute Idee, Frago Informationen vorzuenthalten. Die Umstände zwangen Victor zu dem riskanten verräterischen Verhalten, denn ein gesunder Frago, der vital und fit nach Eyak zurückkehrte und dort vermutlich bis in alle Ewigkeit seinen Geschäften nachging, war so gar nicht in seinem Interesse.

„Victor mein Freund. Ich schätze deine Loyalität. Das tue ich wirklich und daher fände ich es schade, wenn solch eine Gestalt wie dieser Mistkerl dort drüben unsere Freundschaft gefährdet. Darum frage ich dich als Freund. Gibt es sonst nichts weiter, was ich wissen müsste?“ Frago ließ ihm also einen letzten Ausweg. Es war nun an Victor, den Verrat endgültig zu vollziehen oder sein Dasein weiter als Laufbursche dieses widerlichen Schleimbeutels zu zementieren. Die Chancen letzterem zu entkommen, waren nie besser als hier und jetzt. Es wurde also Zeit für den entscheidenden Schritt.

„Das war alles.“ sagte er mit gut gespielter Überzeugung.

„Schön. Dann kümmere dich jetzt um deine Leute. Ich muss mich unter vier Augen mit meinem Lieblingstodfeind unterhalten.“ Frago deutete in jenem Moment auf Red, indem Victor für einen kurzen Augenblick die Fassung verlor. Den Schreck über die Erkenntnis erneut dem Narbengesicht auf Gedeih und Verderb ausgesetzt zu sein, verpasste Frago dadurch, denn der hatte sich bereits voll und ganz seinem vermeintlich größtem Widersacher gewidmet.

„Das beschissene Spiel des Lebens.“ begann Frago ungewohnt philosophisch und hielt Red ein Glas Wasser hin, als die beiden unter sich waren.

„Der ewige Schwanzvergleich. Seitdem wir aufrecht gehen können, versuchen wir die größten Fleischbrocken zu jagen, die dicksten Häuser zu bauen und die schönsten Frauen zu ficken. Und warum das Ganze? Ganz klar. Wir wollen herabschauen auf die Verlierer und uns in ihrer Anerkennung suhlen. Wir klettern die Pyramide immer höher, denn auf der Spitze geht der Blick nur nach unten. Da oben kann es nur einen geben, also sind wir alle Einzelkämpfer, die sich gegenseitig auf den Stufen bekämpfen. Alles für den Platz an der Sonne.“ Frago machte eine kurze Pause und Reds ungläubiges Gesicht amüsierte ihn kurz, bevor er fortfuhr.

„Manchmal müssen wir kämpfen, manchmal müssen wir listig sein und manchmal müssen wir sogar Allianzen schließen, die wir dann im richtigen Augenblick wieder auflösen. Der Aufstieg ist voller Herausforderungen und es ist schwer immer die richtige Entscheidung zu treffen. Besonders dann, wenn wir gezwungen werden gegen die eigene Überzeugung zu handeln. In so einem Dilemma stecke ich gerade. Was habe ich mich die letzten Jahre darauf gefreut, dir jedes einzelne Körperteil persönlich abschneiden zu dürfen. Nun stehst du hier, aufbereitet, um meine bösesten Fantasien an dir auszuleben. Und was mache ich? Ich biete dir Vergebung an. Das tue ich nicht aus reiner Nächstenliebe. Das tue ich, weil ich auf die Spitze will. Beschissenes Spiel des Lebens.“ Frago nahm einen großen Schluck Wasser.

„Bedauerlicherweise bist du die wichtigste Person in dieser Posse. Du hast alle Optionen, also wähle weise. Mit dem Verzicht auf meine Rache, gebe ich dir die Gelegenheit für die beste aller Möglichkeiten. Also. Was sagst du?“ fragte Frago.

„Als ob du die Spielregeln nicht kennen würdest. Du sagtest es ja. Wir taktieren für unseren größt möglichen Vorteil. Ich muss erst auf ein Pferd setzen, wenn es auf die Zielgerade geht.“ Red konnte sich ein überhebliches Lächeln nicht verkneifen.

„Dachte ich mir. Wird Zeit für meinen Trumpf.“ Frago kramte aus seiner Tasche die Pistole hervor und hielt sie auf Red gerichtet. Der ging reflexartig einen halben Schritt zurück.

„Keine Angst. Noch gilt das Angebot mit der Vergebung. Das ist nur zur Vorsicht, falls du dich nicht beherrschen kannst.“ beruhigte Frago ihn und in seiner anderen Hand erschienen die Spritzen.

„Auch ich habe Informationen. Was passiert wohl, wenn du die falsche Spritze erwischt? Ist eigentlich auch egal, denn in meinen zittrigen Händen gehen diese zerbrechlichen Dinger vermutlich schon vorher kaputt.“ Jetzt war es an Frago überheblich zu sein.

„Die gute alte Erpressung.“ zischte Red sarkastisch.

„Wird Zeit die Wetten vor der Zielgeraden zu platzieren. Das Angebot steht. Vergebung und Nanobots. Das Komplettpaket gibt’s nur bei mir. Sind wir jetzt im Geschäft?“ fragte Frago.

„Da kann ich wohl nicht mehr widerstehen.“ Red war sichtlich angefressen, auch weil Frago die Spritzen wieder in seiner Tasche verstaute.

„Das tun wir gemeinsam.“ kommentierte der den enttäuschten Blick.

„Ach ja. Eine Sache noch. Jetzt, wo wir gemeinsame Ziele haben, frage ich dich direkt heraus. Kann ich Victor noch trauen?“

„Wie sagtest du so treffend. Allianzen müssen zum richtigen Zeitpunkt gelöst werden.“

„Ein Jammer, aber die Anzeichen deuteten bereits darauf hin. Die beste rechte Hand, die ich je hatte.“ Frago quälte seinen massiven Körper in die Höhe. Für einen Moment stand er einfach nur da, atmete tief ein und schien zufrieden mit sich und der Umwelt. Nur kurz gönnte er sich diesen scheinbar friedlichen Augenblick, dann steuerte er schwankend auf Einen seiner Leute zu. Ein paar knappe Anweisungen, wobei die Handbewegung entlang seiner Kehle auf nichts Gutes hinwies, dann begab sich Fragos Scherge in Begleitung von drei weiteren Männern zur Ausführung der verhängnisvollen Befehle. Nach etwa fünf Minuten fanden sie sich wieder vor ihrem Anführer ein und die ratlosen Gesichter ließen darauf schließen, dass sie ihre Pläne nicht in die Tat umsetzen konnten.

„Ich sagte ja. Der Beste den ich je hatte. Er ahnte wohl, was ihm bevorstand. Verdammt jetzt haben wir einen Feind mehr dort draußen im Dschungel. Wird Zeit, dass wir hier verschwinden.“ Fragos Stimme wechselte von Respekt gegenüber Victor zu Ungeduld und Unruhe. Warten war nun wirklich nicht eine seiner Tugenden und mit zunehmender Zeit schlug die Unruhe in Frust um und die wiederum in Ärger. Gerade als die letzte Hemmung zu schwinden schien das Dorf einfach niederzubrennen, erschien der Junge vom Morgen erneut und wieder glich sein Auftreten dem eines Magiers, denn seine Ankunft wurde erst bemerkt, als er praktisch innerhalb der Hütten auftauchte.

„Endlich. Ich hoffe du hast mir was Schönes mitgebracht. Nichts für ungut, aber ich bin nicht scharf darauf die Nacht hier zu verbringen.“ begrüßte Frago ihn.

„Nein.“ bekam er einsilbig als Antwort.

„Was soll denn das nun schon wieder heißen? Dieser Kerl macht mich wahnsinnig. Kannst du nicht mal in ganzen Sätzen antworten?“

„Die Technik, die du verlangst, habe ich nicht bei mir.“ Die vielen Worte schienen ihn sichtlich zu überfordern.

„Dann haben wir da wohl ein Problem. Und nun?“ fragte Frago herausfordernd. Seine Leute hatten den Neuankömmling mittlerweile eingekreist, so dass die Szenerie bedrohlich wirkte. Trotzdem ließ sich wieder keinerlei Angst bei dem potentiellen Opfer ausmachen.

„Er kommt mit uns. Danach geben wir euch die Technik.“ Der Junge deutete auf Red.

„Wer bist du, dass du hier die Spielregeln diktieren kannst? Der Dreck unter meinen Schuhen verdient mehr Respekt. Du hast einen entscheidenden Fehler gemacht, indem du hier ohne die Bots aufgetaucht bist. Was glaubst du wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass du hier wieder lebend raus kommst. Richtig. Null. Zero. Nada.“ Frago machte eine kurze Handbewegung und keine zwei Sekunden später wurde ihr Besucher gewaltsam auf die Knie gezwungen. Frago quälte sich zu ihm rüber und der Lauf seiner Pistole drückte jetzt gegen die Schläfe des furchtlos dreinschauenden Opfers. Zehn Sekunden vergingen, in denen das Ende dieses Manövers vollkommen unklar blieb.

„Die Bots. Wo sind sie?“ fauchte er den Jungen an.

„Wir wollen diesen Mann.“ erwiderte der Bedrohte ruhig.

„Damit ihr euch mit ihm im Dschungel vergnügen könnt und mich hier weiter schmoren lasst. Keine Chance. Dreißig Sekunden, dann werden deine Leute gezwungen sein einen neuen Verhandlungspartner zu schicken.“ Frago drückte den Lauf stärker an seine Schläfe.

„Mach das nicht. Du weißt nicht, worauf du dich da einlässt.“ warnte Red.

„Klappe.“ drohte Frago ihm.

„Noch fünfzehn Sekunden.“ verringerte er die Frist.

„Da. Sie kommen.“ hörte er einen seiner Männer rufen. Frago ließ die Waffe sinken und schaute sich fasziniert um. Sie waren jetzt selber eingekreist, denn fast zwei dutzend in weiße Leinen gekleidete Bewohner tauchten wie aus dem Nichts aus dem Dschungel auf. Wie Gespenster standen sie regungs- und ausdruckslos da. Eine Drohkulisse, die trotz fehlender Bewaffnung ihre Wirkung bei den Eindringlingen nicht verfehlte. Furcht war das vorherrschende Gefühl. Nur ein winziges Saatkorn bei der Abgebrühtheit der von Eyak gestählten Truppe, aber das reichte, um es mit mentaler Kraft in ein Feld von Angst zu vergrößern.

„Schnell weg hier.“ brüllte einer der angeworbenen Draufgänger der Hauptstadt. Er warf seine Waffe weg und floh flussabwärts, weil er dort die scheinbar einzige Lücke in dem umgebenen Kreis von Angst einflössenden Waldbewohnern ausmachte.

„Was für ein …“ erstaunte es Frago, aber er kam nicht zur Vervollständigung seines Satzes, da drei weitere angeworbene Söldner es ihrem Vorgänger gleich taten.

„Was zur Hölle geht hier vor?“ brüllte er wütend und schaute in das Gesicht einer seiner Männer, dass er in der Form noch nie an ihm ausmachen konnte. Vollkommen verängstigt, rang der mit sich selbst und das Zittern seiner in Anschlag gebrachten Waffe verriet Frago, dass sie in nie da gewesener Form angegriffen wurden. Mittlerweile hatte er nur noch die vier von Eyak mitgebrachten Leibwächter und den mental unberührten Red um sich. Alle anderen hatten sich fluchtartig in die flachen Fluten des Flusses gestürzt und panikartig das Dorf verlassen.

„Aufhören.“ brüllte Frago, der scheinbar unberührt von den Vorgängen blieb. Als keine Besserung an seinen Leuten zu erkennen war, drückte er erneut die Waffe an die Schläfe des immer noch knienden Jungen.

„Ich sagte aufhören.“ brüllte er erneut, aber die Situation eskalierte weiter. Der erste seiner Männer hatte bereits die Waffe fallen lassen und kauerte ängstlich an der Treppe einer Hütte. Frago musste das Maximum an Beherrschung aufbringen, um den Finger nicht zu krümmen und damit das Gehirn seiner Geisel im Flussbett zu verstreuen. Er änderte seine Taktik und zielte jetzt auf Red.

„Ich jage ihm eine Kugel zwischen die Augen, wenn ihr nicht sofort aufhört.“ brüllte er in unbestimmte Richtung des Dschungels und untermauerte seine Forderung mit einem Schuss, dessen Kugel knapp an seinem Ziel vorbeisauste. Endlich schien sich die Lage zu entspannen.

„Na bitte.“ zischte Frago triumphierend, als er merkte, dass die Angst aus den Körpern seiner Leute wich.

„Was war das?“ fauchte er Red wütend an.

„Keine Ahnung. Eine Art Gedankenkontrolle.“ antwortete der ebenso wütend, weil er gerade als Druckmittel missbraucht wurde.

„Damit haben sie uns an den Eiern. Hast du davon gewusst?“ fluchte Frago immer noch zornig Richtung Red.

„Ich habe dich gewarnt. Hättest du mir geglaubt und wärst du anders vorgegangen? Sicher nicht. Du musst dir immer erst eine blutige Nase holen, bevor du von deiner Brachialtaktik abweichst.“ Die beiden hatten jetzt was von einem streitenden Ehepaar, nur das der Spaßfaktor für den Rest der Anwesenden auf der Strecke blieb.

„Reize mich nicht zu sehr, sonst überlege ich es mir mit unserem „Alles ist vergeben“ Pakt.“ drohte Frago unverhohlen.

„Als wäre der viel wert, wenn mir eine Kugel zwischen den Augen droht.“ Red hatte jetzt das letzte Wort in ihrem Streit, denn Frago hatte sich bereits wieder dem Jungen gewidmet.

„Reden wir über Kompromisse. Was immer ihr von diesem Bastard wollt, es wird hier stattfinden. Sobald ihr es habt, händigt ihr mir die Technologie aus. Wie siehts aus? Sind wir im Geschäft?“ Fragos Atmung war unregelmäßig und schwankte zwischen Gelassenheit und Hyperventilation. Erst als der Junge auf sein Angebot einging, beruhigte er sich etwas.

„Gut, aber beeilt euch. Ich will hier nicht übernachten.“ Frago war es nicht gewohnt die Dinge von der Seitenlinie zu betrachten, aber auch er musste einsehen, dass eine erneute Eskalation der Lage nicht unbedingt zu seinem Vorteil ausgehen würde. Was immer auch jetzt passieren würde, er durfte nicht die Kontrolle verlieren.

Eine Gruppe von drei Personen näherte sich ihrer Position, wobei nur zwei von ihnen den erhabenen und von Arroganz strotzenden  Bewegungsstil jener Dorfbewohner aufwiesen. Die dritte Person wirkte ungeduldig und musste regelrecht gezügelt werden, um nicht den Zielort vor ihren Begleitern zu erreichen. Red erkannte sie sofort und die Zweispaltigkeit seiner Empfindungen war neu für ihn. Zum einen war da die Genugtuung, nach all den Jahren immer noch das Feuer des Hasses in ihr zu spüren. Ein Vermächtnis, dass nach so langer Zeit keinerlei Abnutzungserscheinungen erkennen ließ, machte ihn stolz und spornte ihn an, es weiter mit unheilvollen Taten zu füttern. Er war der Joker, der Batman durch persönlichen Schmerz erschuf und gelegentlich auftauchte, um ihm diesen Fakt unter die Nase zu reiben. Jetzt allerdings war der Zeitpunkt denkbar schlecht gewählt. Schon in gesundem Zustand konnte er nur durch Hinterlist seinen Status bei ihr untermauern, mit gebrochenem Handgelenk war es schwierig verbrannte Erde zu hinterlassen und freudestrahlend in den Sonnenuntergang zu reiten. Zu seinem Glück waren keine zwei Meter entfernt die Femtos, die ihm vielleicht diesmal den entscheidenden Vorteil verschaffen werden. Es lag nun an ihm, die vorherrschenden Bedingungen zu seinem Nutzen auszulegen.

„Wieder stehen wir hier. Auge in Auge. Bereit uns gegenseitig zu töten. Wird Zeit, dass wir die Sache endgültig klären.“ begrüßte Red seine langjährige Todfeindin.

„Sehe ich genauso, aber vorher noch die Koordinaten. Von einer Leiche ist es schwer Informationen zu bekommen.“ funkelte ihn das rotblonde Miststück an. Die tief stehende Sonne verlieh ihrem Haar etwas Unwiderstehliches und erneut bereute Red es, dass er an Bord der „Diablo“ keine umfangreicheren Untersuchungen an ihr vorgenommen hatte. Damals wurde er abgelenkt und genau die damalige Ablenkung, stand jetzt wieder zwischen den beiden. Ein Pad mit einer Sternenkarte wurde ihm gereicht. Lächelnd tippte er die Koordinaten in die bereits vorgegebene Bildschirmmaske.

„Da habt ihr es. Jetzt gebt mir die Bots. Die beiden können ihre Blutfehde auch ohne uns ausmachen.“ ungewöhnlich flink erhob sich Frago von der Treppe und forderte jetzt seinen Teil der Abmachung, den er sogar ohne große Umstände bekam. Mit der Spritze in der Hand wurde seine Laune schlagartig besser.

„Muss ich irgendwas beachten oder einfach nur spritzen?“ fragte er in Richtung der weißgekleideten Bewohner. Diese ignorierten ihn vollkommen und gingen bereits dazu über das Dorf zu verlassen.

„Na gut. Machen wir uns auf den Heimweg.“ Frago quälte sich hoch und wollte Richtung Transporter.

„Was ist mit „vergeben und vergessen“?“ hielt ihn Red zurück.

„Ich stehe zu meinem Wort, aber unsere Vereinbarung beinhaltete keinen Rücktransfer.“ Frago kramte in seinen Taschen und legte die beiden Spritzen auf die oberste Stufe der Treppe.

„Welche?“ zischte Red ihn an.

„Ich will dir nicht die Überraschung verderben.“ grinste Frago selbstgefällig und erntete als Antwort nur ein „Mistkerl“. Mühsam bewegte er seinen massigen Körper Richtung Transporter, der bereits von seinen Leuten für den Abflug vorbereit wurde. In diesem Tempo würde er fast zehn Minuten für die knapp fünfzig Meter brauchen.

Red folgte jedem seiner gebeugten Schritte und fragte sich, warum er sich nicht einfach die Spritze setzte und die Sache vereinfachte. Es bestand ein unbekanntes Risiko in den Nebenwirkungen und vermutlich war es besser sich diesem Risiko in der Stadt auszusetzen, als hier in einem von Feinden strotzendem Dschungel. Für Red gab es keine solche Entscheidung, denn ihm würde nur der mühsame Weg durch den Dschungel bleiben und der wäre mit Femtos deutlich angenehmer. Da bestand vorher nur ein Problem und das hielt ihm gerade eine Pistole vors Gesicht und machte seine Überlegungen hinfällig.

„Eine Hinrichtung? Wie fantasielos.“ kommentierte er die Situation gelassen. Er hatte keinen Plan B mehr und es lag nicht mehr in seiner Hand die Dinge zu beeinflussen. Er war den Launen dieses von Hass triefenden Weibsstück ausgesetzt und zu seinem Bedauern gab es diesmal keine Verhandlungsmasse mehr, mit der er seinem Schicksal entgehen konnte.   

Kapitel 13

Die letzte Tür stand offen. Ein simpler Schritt wäre notwendig, um den Triumph zu genießen. Einer jener Schritte die Dina millionenfach getätigt hatte in ihrem Kreuzzug der Vergeltung, alles in der Überzeugung die richtigen Dinge zu tun. Der vermeintlich einfachste Teil der jahrelangen Verschwendung ihrer Energie lag vor ihr und nun drohte sie gerade auf den letzten Metern zu scheitern. Der Blick in den Rückspiegel ihres Lebens ließ sie zögern und das obwohl er ihr die notwendige Kraft liefern sollte. Ned war der Treibstoff, der sie die letzten Jahre antrieb und regelrecht ausbrennen ließ. Zu ihrem Bedauern war sein Andenken zur Rechtfertigung ihrer Rache verkommen und die Erinnerungen an die schönen Stunden verblassten gegenüber diesem einen, alles beherrschenden Moments in der Mission. Sein Lächeln, die gottgleichen Bewegungen, der Geschmack seiner Küsse, das alles ging verloren in den Untiefen ihres verseuchten Geistes. Sie hatte Schmerz und Trauer den Vorzug gegeben und bemerkte nicht die Wandlung hin zu diesen selbst zerstörerischen Gefühlen, die sie jahrelang vergiftet hatten. Ein Betrug an ihrer Seele, der jetzt im Begriff war aufzufliegen. Ihr war bereits ein Blick auf die Zukunft, die vor ihr liegen würde, vergönnt gewesen. Auf Odins Schiff wurde sie getäuscht über das glorreiche Ende ihrer Vendetta, aber der Triumph blieb aus und der Hass forderte weiter seine Daseinsberechtigung, obwohl ihm seine Grundlage entzogen wurde. Ein egoistischer Gemütszustand, der hundertprozentige Aufmerksamkeit forderte und nicht bereit war neben anderen Gefühlen zu existieren. Ein ungebetener Gast in ihrem Geist, der nie wieder gehen würde.

„Die Toten sind tot.“ hauchte sie unter Tränen ihrem Erzfeind entgegen. Sie hatte sich eine der weggeworfenen Pistolen geschnappt und richtete den Lauf auf Reds Stirn.

„Was du nicht sagst.“ erwiderte der unnatürlich gelassen. Mehrere Minuten standen sie nun schon so da. Dina hoffte auf eine verdächtige Bewegung, vielleicht sogar auf einen Angriff, irgendetwas, was ihr die Rechtfertigung gab abzudrücken, aber erstaunlicherweise machte Red keinerlei Anstalten sie in Versuchung zu führen.

„Die Lebenden sind wichtiger.“ Ihre Tränen liefen jetzt wie Sturzbäche herab und mit der Waffe in der Hand wirkte sie wie eine gefährliche Irre, die inhaltslos vor sich hin plapperte.

„Tu es endlich und hör auf zu flennen.“ schleuderte ihr Red angewidert entgegen. Der wenige Respekt, den er für sie aufgebracht hatte, war mit den Tränen endgültig verschwunden. Die Bedingungen für sein Ableben waren Lichtjahre von seinen Vorstellungen eines heroischen Todes entfernt und von einem heulenden Weibsbild einfach hingerichtet zu werden, war an Demütigung nicht zu übertreffen. Dementsprechend waren Wut und Frust die vorherrschenden Gefühle und verdrängten die eh nur sporadischen vorhandenen Empfindungen von Angst. Hier würde es jetzt enden und sein gescheitertes Leben wäre mit diesem an Lächerlichkeit kaum zu überbietenden Abgang besiegelt. Das Sinnbild seines Versagens steigerte weiter seine Wut und als er glaubte, das Maß an Kränkung wäre schon auf Maximum, überraschte dieses Miststück ihn erneut. Sie atmete tief durch und ihr Gesicht nahm wieder die gewohnte Entschlossenheit an.

„Ich vergebe dir.“ sagte sie schließlich und senkte die Waffe. Sie wischte sich mit dem Ärmel die Tränen aus dem Gesicht.

„Was?“ Die Verwirrung war Red förmlich ins Gesicht gemeißelt.

„Du hast mich verstanden. Nimm deine Spritzen und geh.“ forderte sie ihn mit gewohnter Härte in der Stimme auf.

„Gnade?“ faselte er debil vor sich hin. Noch hatte sein Verstand zu viel Mühe die Ereignisse passend zu verarbeiten. Die Vielzahl an angebotenen Emotionen überforderte seinen Geist. Erleichterung über den entgangenen Tod wollte er ihr nicht gönnen. Blieben also nur Sarkasmus oder Wut, um ihr demütigendes Mitleid zu kontern.

„Was ist denn mit dir los? Ich dachte immer wir wären Verwandte im Geiste. Du kannst mich nicht einfach gehen lassen. Das ist gegen die Spielregeln. Du hast den Wettlauf gewonnen. Nun hol dir deinen Preis ab.“ versuchte er es mit einer Kombination aus beidem, wirkte aber in seinem Sarkasmus wenig überzeugend.

„Gewonnen? Wir sind beide Verlierer, nur sind meine Narben nicht so ersichtlich. Ich will nicht mehr. Ich steige aus. Mach was du willst. Jag dir diese Dinger in die Blutbahn. Spiel den Oberschurken. Verwirkliche dich selbst. Es ist mir egal. Ich habe abgeschlossen mit dir. Was mich angeht, existierst du nicht mehr.“ Dina wandte sich ab. Der letzte Satz versetzte Red in rasende Wut.

„Du miese Schlampe. Glaubst du, du kannst mich einfach so löschen? Das ist unmöglich. Ich bin ein Teil von dir. Schon allein der Drecksplanet Eyak wird dich immer an mich erinnern. Außerdem bin ich gespannt, ob du mich ausblenden kannst, wenn du mit irgendwelchen Wichsern in die Kiste steigst, die dich da anfassen, wo ich bereits meinen Spaß hatte. Jede scheiß Erinnerung an deinen Missionsschwengel wird mit meinem Messer in Verbindung stehen. Wir sehen uns in deinen Träumen, denn da werde ich weiterhin ein Dauergast sein.“ Red wollte ihr noch mehr hinterher brüllen, aber erstens war sie bereits außer Rufweite und zweitens wurde jetzt das Bedürfnis etwas kaputt zu machen übermächtig. Die unterste Treppenstufe der Hütte sollte als Frustbekämpfung herhalten und als er schon ausholte, um die Stabilität bei einem ordentlich Tritt zu testen, hielt er unvermittelt inne, als die Ampullen in sein Blickfeld gerieten.

„Fick dich doch.“ raunte er noch, dann galt seine ganze Aufmerksamkeit den Spritzen, die als einziges Unterscheidungsmerkmal einen dünnen farbigen Ring besaßen. Vergessen war das Mitleid, das ihm gerade den demütigsten Augenblick seines Lebens beschert hatte. Es wurde Zeit sich den angenehmen Dingen seines unverhofften Weiterlebens zu widmen. Instinktiv griff er nach der Spritze mit der roten Markierung, denn das war seine Farbe. Sollte er wirklich gezwungen werden sich entscheiden zu müssen, dann gab es nur diese Wahl, mit all seinen Konsequenzen. Er hatte keine Ahnung, was wohl passieren würde, sollte er die falsche Hälfte der Wahrscheinlichkeit erwischen, aber das unbekannte Risiko war es wert. Im besten Falle passierte gar nichts und den schlimmsten Fall blendete er aus, denn wie er gerade gelernt hatte, nahmen die Wendungen des Schicksals manchmal abstruse Züge an und waren eben nur bedingt beeinflussbar. Er legte die grüne Spritze in die schmerzende rechte Hand und wog jetzt beide gegeneinander ab, so als könne er allein am Gewicht auf den richtigen Inhalt schließen.

Es war dringend notwendig für Red sich wieder zu konzentrieren. Erst hatte das gönnerische Biest von Eyak seine Wahrnehmung vernebelt und nun waren es die Fragen über die Nachwirkungen eines Selbstversuches mit Femtos, was es seinen Instinkten extrem schwer machte Warnsignale an seinen Verstand zu schicken. Mit Verzögerung registrierte Red, dass die Dinge nicht ihren vorgeschriebenen Verlauf nahmen und so zwang er sich seine Überlegungen wieder an die örtlichen Gegebenheiten anzupassen. Er steckte die Spritzen in seine Tasche und schaute rüber zu dem Flugtransporter, der eigentlich schon längst wieder auf dem Weg in die Hauptstadt seien sollte. Offenbar gab es technische Probleme, die von den Anwesenden in gestenreichen Diskussionen ausführlich erörtert wurden.

Sabotage. Die einzige Erklärung für die Geschehnisse am Rande des Flusses, denn ein plötzliches Versagen der Motoren war zwar auf Grund der maroden Technik möglich, aber trotzdem unwahrscheinlich. Victor hatte sich also zurück ins Spiel gebracht und der nächste Schritt seines Plans war mit Sicherheit das gewaltsame Ableben von Frago. In einer halben Stunde war die Sonne verschwunden und da niemand an dem Abend die Fackeln entzünden würde, wäre die Dunkelheit ein entscheidender Vorteil für ihn. Die Karten des Dschungelpokers waren erneut gemischt worden und ermöglichten auch Red eine neue Option, die jenseits von einem tagelangen Aufenthalt im Dschungel lag. Mit einer ordentlichen Portion Überheblichkeit steuerte er auf den lahm gelegten Transporter zu und mit jedem Schritt den er näher kam, steigerte der fluchende Frago seine Laune.

„Das gibt es doch nicht. Wann sind denn deine neun Leben aufgebraucht?“ begrüßte ihn ein verwunderter Frago, der nicht glauben konnte, dass Red erneut den Kopf aus der Schlinge gezogen hatte.

„Wie ich sehe habt ihr Probleme.“ stellte Red das Offensichtliche fest.

„Kleinigkeiten gegenüber dem, was uns nach Sonnenuntergang droht. Dieser verdammte Victor ist ziemlich hartnäckig.“ erwiderte Frago angespannt.

„Scheint so, als könntest du jeden Mann gebrauchen.“

„Rot oder Grün ist die Frage, die dich zerreist. Du bekommst die Antwort, wenn wir morgen noch stehen und dieser Bastard hier tot vor uns liegt.“ Frago wartete keine Antwort ab und reichte Red eine Pistole mit der Sicherheit, dass dieser ebenso auf Victors Vergeltungsliste stand.

„Wäre ganz hilfreich für das Kommende, wenn ich die Antwort schon jetzt hätte.“ versuchte Red die Bedingungen ihrer neuen Vereinbarung zu verbessern.

„Wo bliebe dann die Motivation den Kopf für mich hinzuhalten.“ entgegnete Frago gelassen und erstickte mit seiner dominanten Art jegliche Hoffnung auf weitere Diskussionen.

„Was ist mit dir?“ fragte Red stattdessen.

„Meine Bots? Ehrlich gesagt habe ich Schiss mir die Dinger hier zu verabreichen. Wer weiß, was die mit mir machen, während Victor da draußen den Dschungelkrieger gibt.“ erwiderte Frago kleinlaut. Offenbar hatte er ordentlich Respekt vor der Nanotechnologie.

Das Verhältnis war sechs gegen einen und schrie förmlich nach zwingender Überlegenheit. Trotzdem war jegliche Überheblichkeit fehl am Platze, denn das schwächste Glied war nicht nur aus rein körperlicher Sicht Frago. Der alte militärische Mythos, dass mit dem Verlust des Anführers auch die Moral der Untergebenen zum erliegen kommt, hatte hier seine Berechtigung. Sollte Frago den tödlichen Schuss bekommen, würde die Loyalität der Hinterbliebenen vermutlich sofort auf den Herausforderer übergehen. Vorgänge, die Red schon des Öfteren auf Eyak beobachten konnte, denn die erste Amtshandlung des Siegers war die Amnestie fast aller Verfehlungen der Gefolgschaft, wenn diese ihre Treue auf den neuen Platzhirsch schworen. Eine der wenigen Traditionen in der Unterwelt von Eyak, die konsequent eingehalten wurden. Natürlich durfte nicht jeder seine Ansprüche geltend machen, aber Victor als Kronprinz war ein würdiger Herausforderer und nicht Wenige sehnten sich nach Veränderungen in der viel zu festgefahren Struktur von Fragos Herrschaft. Für Red war Fragos Überleben also das kleinere Übel. Ihre Schicksale waren für den Moment miteinander verbunden und obwohl sich beide sichtbar unwohl fühlten aufeinander angewiesen zu sein, zwangen sie die Umstände in diesem energielosen Transporter zu einer Kooperation. Victor hatte die Energiekopplung entfernt und verhinderte damit die Stromzufuhr für sämtliche Komponenten. Instrumente, Kommunikation und selbst Kabinenlicht waren außer Funktion. Die einzigen Lichtquellen waren drei kleine Taschenlampen, die sie in der Notfallausrüstung fanden.

Fragos Ziel war es die Nacht zu überleben und am folgenden Morgen den umliegenden Dschungel nach Victor und der Kopplung zu durchforsten. Während er selber und Red das Privileg besaßen in der Transporterkabine zu nächtigen, wechselten sich seine verbliebenen Leute mit der Wache ab. In Zweiertrupps lösten sie sich alle vier Stunden ab und bewachten die Zugänge zur Kabine des Transporters. Das System funktionierte eine Weile bis tief in der Nacht etwas passiert sein musste, dass einen der Wächter veranlasste die Ruhe zu stören.

„Psst.“ Reds verwirrende Traummischung aus rotblonden Weibern, die ihn verhöhnten und über sein Geschlecht lachten, steuerte gerade auf ihren traurigen Höhepunkt zu, als er durch dieses leise Zischgeräusch aus dem Schlaf gerissen wurde. Er konnte sich nicht erinnern jemals bewusst geträumt zu haben, daher viel ihm der Übergang in die Realität sichtlich schwer.

„Was zur…“ setzte er verwirrt an. Erst das bekannte Gesicht von Quentin, einem jungen Burschen, der nicht älter als 18 Jahre seien konnte, brachte ihm die vollständige Erinnerung an die vorherrschende Situation zurück.

„Gibt’s Ärger?“ fragte er leise. Quentin war kein Junge großer Worte, von daher zuckte er bloß ahnungslos mit den Schultern, was im schwachen Schein der Lampe kaum erkennbar war.

„Was ist denn los?“ kam es jetzt von Frago, der scheinbar einen leichten Schlaf hatte.

„Peeta und Kat. Sie sind weg.“ antwortete Quentin so leise, dass es kaum zu verstehen war.

„Vielleicht sind sie ja Beeren sammeln.“ spottete Red, was Frago verärgerte und ihm eine gemeinsame Erkundungsmission mit Quentin einbrachte.

Nach Verlassen des Transporters versuchte Red eine zeitliche Einordnung der Nacht. Eine ungewohnt kühle Brise streifte sein Gesicht. Die einzige Zeit auf dem verfluchten Planeten, in der er nicht hemmungslos vor sich hin schwitzte, war die Stunde vor dem Sonnenaufgang. Es konnte also nicht mehr allzu lange dauern bis der neue Tag anbrach. Victor war im Zugzwang und scheinbar hatte er die ersten Bauern bereits vom Brett gefegt, denn von Fragos vermissten Leuten fehlte jegliche Spur.

„Und nun?“ fragte Quentin ordentlich verunsichert.

„Hoffen wir mal, dass er die beiden getötet hat.“ erwiderte Red trocken und obwohl er Quentins Gesicht nicht erkennen konnte, ahnte er dessen ungläubigen Blick.

„Wenn er sie überzeugt hat auf seine Seite zu wechseln, haben wir drei Gegner dort draußen.“ schob Red nach und verunsicherte seinen Partner endgültig. Er ließ seinen Lichtkegel in der Umgebung schweifen, konnte aber nicht mehr als ein paar Büsche ausmachen.

„Victor. Lass uns reden. Immerhin hast du was, was wir wollen und ich habe das, was du willst.“ brüllte Red in die Dunkelheit erntete aber als Antwort nur das warnende Gekreische eines Dschungeltiers. Die zunehmenden Laute des Dschungels kündigten den Tagesanbruch an und verhinderten eine akustische Wahrnehmung der Umgebung. Die Unmöglichkeit verräterische Geräusche in der Dunkelheit zu erkennen, machte die eigentliche Aufklärungsmission mehr und mehr zu einem Himmelfahrtskommando.

„Lass uns zurückgehen.“ raunte er in Richtung Quentin, aber seine Bemerkung lief ins Leere, denn dieser schien wie vom Erdboden verschluckt.

„Scheiße.“ fluchte Red noch, als er den Lauf einer Pistole in seinem Rücken spürte.

„Kein falsches Wort.“ hörte er Victor in sein Ohr flüstern, während er Richtung Transporter geschoben wurde. Das er noch aufrecht stand und nicht das Schicksal von Quentin teilte, war offenbar der Tatsache geschuldet leichter an Frago zu kommen.

„Na los.“ forderte ihn Victor auf anzuklopfen und verstärkte den Druck in Reds Rücken. Dem wurde klar, dass es in dem kommenden Blutbad nur eine Konstante gab. Seinen Tod. Victor würde den Transporter stürmen, mit ihm als menschlichen Schutzschild. Die Schüsse von Frago und seines verbliebenen Leibwächters würden ihn regelrecht durchlöchern, während der Angreifer aus sicherer Deckung die tödlichen Schüsse anbringen könnte. Im wahrsten Sinne des Wortes ein todsicherer Plan. Wieder kein glorreiches Abtreten, obwohl es schon eine Steigerung darstellte gegenüber der Heulsuse vom gestrigen Abend. Trotzdem nicht akzeptabel, entschied Red für sich.

„Ich habe Victor gefunden und er ist bereit mit dir zu verhandeln.“ rief er durch die Tür. Mit angehaltenem Atem erwartete er sein Urteil über die eigenmächtige Ansprache und obwohl der Gewissenskampf deutlich zu spüren war, entschied sich sein Henker nicht abzudrücken. Vorerst jedenfalls nicht.

„Ratte.“ zischte der nur und lauschte gespannt auf eine Antwort jenseits der Tür. Die ließ ein paar Sekunden auf sich warten, ehe die Verriegelung von innen gelöst wurde.

„Kommt rein.“ hörte er Fragos angespannte Stimme. Red wurde gezwungen die Tür zu öffnen und in dem Moment, als er die einzige Sprosse zum Innenraum des Transporters betreten wollte, hinderte ihn Victor am Eintritt. Das Schicksal eines Schutzschildes blieb Red nicht erspart und obwohl die Waffen für den Moment kalt blieben, fühlte er sich alles andere als Wohl in dieser Rolle. Also blieben sie hintereinander am Eingang stehen und starrten in das scheinbar schwarze Nichts vor ihnen. Es war unmöglich irgendwas im Inneren zu erkennen, während die einsetzende Morgendämmerung die Konturen der Außenstehenden bereits abzeichnete. Red stand eindeutig auf der falschen Seite der Tür.

„So was nennt man wohl einen Patt.“ ertönte Fragos Stimme irgendwo von der linken Seite des schwarzen Loches vor ihnen. Victor richtete Red dahingehend aus, obwohl zu vermuten war, dass der Leibwächter von der rechten Seite eine ähnliche Gefahr darstellte.

„Ich spiele lieber Karten, weil es da immer noch ein paar Trümpfe in der Hinterhand gibt.“ erwiderte Victor gelassen.

„Die Energiekopplung. Lass uns verhandeln. Immerhin habe ich Informationen über ein paar Spritzen im Angebot.“ Frago klang selbstsicher. Ein Umstand, der Victor überhaupt nicht gefiel, denn er löste jetzt seine Pistole aus Reds Rücken und positionierte sie unauffällig Richtung Fragos Stimme.

„Uninteressant.“ Victor erinnerte Red jetzt ein wenig an Ria, die voll konzentriert einen Dino auf sie hetzte. Da nicht anzunehmen war, dass Victor diese Fähigkeiten innerhalb eines Tages erlernt hatte, musste es einen anderen Plan geben, der gerade vor seiner Ausführung stand. Red verkrampfte, denn im Falle eines Schusswechsels war er immer noch die erste Wahl für einen Treffer. Fragos Leibesfülle bot genug Angriffsfläche für ein paar Glückstreffer, trotzdem war die Wahrscheinlichkeit gering, dass es ohne Gegenwehr ablaufen würde und die würde er mit voller Härte zu spüren bekommen. Er versuchte seine Optionen durchzugehen, aber da war es schon zu spät. Ein Licht durchschnitt die Dunkelheit und setzte Frago ungefragt in den Mittelpunkt des Geschehens. Er hockte hinter einem als Deckung dienenden Sitz des Innenraums, der auf Grund der Masse des Schutzsuchenden nur unzureichend dafür geeignet war. Sein schlechter körperlicher Zustand und die Überraschung plötzlich im Scheinwerferlicht zu stehen, ließen seine Reaktionszeit gegen unendlich gehen. Victor brauchte nur einen Schuss und Frago sackte in sich zusammen, bevor er überhaupt registrierte, dass er von seinem letzten verbliebenen Mann verraten wurde. In all dem Kalkül über die Ränkespiele hier im Dschungel hatte Frago eine wichtige Option übersehen und mit dem Leben bezahlt. Wie seine zahlreichen Vorgänger wurde auch er ein Opfer der Hinterlist und obwohl die Beispiele aus der Vergangenheit als Warnschild tief in seinem inneren leuchteten wie die unzähligen Reklamen von Eyak, vernebelte ihm sein Ego den Blick auf das Offensichtliche. Vermutlich würde Victor irgendwann ein ähnliches Schicksal ereilen, denn die Klärung der Rangfolge in ihrem Gewerbe hatte immer dieselbe Konstante. Verrat.

„Glückwunsch zur Beförderung.“ Ein sichtlich erleichterter Victor war jetzt am Ziel. Der Rückkehr nach Eyak stand nun nichts mehr im Wege. Gemeinsam mit der neuen rechten Hand an seiner Seite würde er Fragos Geschäfte übernehmen und sie auf seine eigene Art und Weise optimieren. Eine neue Ära stand bevor, war nur die Frage, ob sie von Hochtechnologie begleitet wurde.

„Die Spritzen.“ forderte er Red auf und wedelte mit seiner Pistole drohend vor seinem Gesicht rum. Sie saßen sich jetzt im Transporter gegenüber und die ersten Sonnenstrahlen drangen bereits durch die schmalen Fenster der Kabine. In einer halben Stunde würde die unerträgliche Hitze sie wieder in den Dauerzustand des Schwitzens versetzen, aber noch war es angenehm kühl.

„Du hättest ihn ja vorher fragen können.“ Red packte die beiden Ampullen auf den klapprigen Tisch zwischen ihnen.

„Wähle.“ Victor gab sich äußerst wortkarg, was seiner Anspannung geschuldet war.

„Für mich bietet sich die Rote an.“

„Dann los.“ forderte Victor, als hätte er die Fähigkeit zur Bildung von langen zusammenhängenden Sätzen verloren.

„Ich soll…“ Red war überrascht.

„Wenn wir falsch liegen, dann besser bei dir als bei mir. Los mach.“ Er fuchtelte mit seiner Pistole ungeduldig umher.

„Was springt für mich dabei raus?“

„Meine ewige Anerkennung und ein kurzer schmerzloser Tod. Wenn du glaubst über dein Ableben damit nach verhandeln zu können, liegst du falsch. Ich kann auch gut ohne die Dinger weiterleben. Deine Entscheidung.“ Victors Ungeduld stieg weiter an und veranlasste Red nach der roten Spritze zu greifen.

„Also gut. Ich tue es.“ Tausend mal hatte er den Vorgang bei den Junkies von Eyak beobachten können und die Souveränität mit der selbst unter schwersten Entzugserscheinungen der erlösende Schuss gesetzt wurde, ließ die Sache als nicht besonders schwierig erscheinen. Jetzt, wo er selber Hand anlegen musste, wirkte er unsicher. Seine Hände zitterten und seine gelassene Einstellung zum Leben, aber auch zum Tod war mit einem Schlage dahin. Er schloss die Augen und atmete dreimal tief durch. In wenigen Sekunden würde sich entscheiden, ob das Glück erneut auf seiner Seite war.  

 

 

Gefühlsvakuum. Ein besseres Wort fiel Dina nicht ein, als sie ihren narbenübersäten Albtraum einfach hatte stehen lassen. Sie fühlte sich emotional leer, so als würden sich nach dem Abzug von Hass, Wut und Zorn die anderen Gefühle nicht aus ihrer Deckung wagen. Zu lange hatten sie sich als unterdrückte Minderheit in den letzten Winkeln ihres Verstandes verkrochen, um jetzt die große Lücke einfach so wieder auszufüllen. Es bedurfte eine gewisse Zeit für die Verarbeitung der Geschehnisse im Dorf und obwohl Freude, aber auch Bedauern so langsam erhöhte Aufmerksamkeit forderten, konnte sie die verpasste Chance nicht rational beurteilen. Ob nun wirklich die einmalige Gelegenheit für die Vollendung ihrer Rache liegen gelassen wurde oder ob es sich um einen seelischen Befreiungsschlag handelte, würde die Zeit zeigen. Wie so oft in ihrem Leben hatte sie eine Entscheidung getroffen, dessen Auswirkungen nicht in unmittelbarer Zukunft ersichtlich waren. Die Schonung ihres Erzfeindes tat vielleicht ihrer Seele gut, aber das Leid und der Schmerz, welche unmittelbare Begleiter von Red waren, würden sich neue Opfer suchen und daher waren Zweifel an der scheinbar egoistischen Tat angebracht. Das Chaos in ihrem Kopf begleitete sie den ganzen Weg zurück in die unterirdische Stadt der Cree und als sie vor Eva stand, in diesem trostlosen Raum mit der erdrückenden Büroatmosphäre, konnte sie auf Nachfrage zu ihrer Gefühlslage immer noch keine erklärende Antwort geben. Sie brauchte dringend Ablenkung, um sich der Problematik mit genügend Abstand stellen zu können.

Zu ihrem Leidwesen waren die Neuigkeiten bei ihrer Rückkehr erdrückend. Wie befürchtet hatte sich Sentrys und Zajas Nachwuchs als nicht überlebensfähig erwiesen und die von fast jeglichen Gefühlen befreiten Regeln der Cree verlangten einen traurigen Schlussstrich unter das Kapitel Schwangerschaft zu ziehen. Die viel gepriesene Disziplin schien wenigstens bei Zaja in diesem Falle an ihre Grenzen zu stoßen, denn die zwangsverordnete Emotionslosigkeit konnte sie nur schwer umsetzen, was Dina zu der Annahme verleitete, dass die Cree ihre Selbstbeherrschung erst mit dem Alter perfektionierten. Zaja hatte eine Fassade um ihre jugendliche Leidenschaft aufgebaut, was während der Durchquerung des Dschungels besonders in Gegenwart von Eva ersichtlich wurde. Eine Getriebene zwischen den Welten. Ein Kampf zwischen Cree und dem rauen Erbe ihrer menschlichen Herkunft, an dessen Ende mit Sicherheit die gefühlskalte Seite die Oberhand gewinnen würde. Die gesellschaftlichen Regeln waren unumstößlich und pressten ihre Mitglieder erbarmungslos in die richtige Form.

Cho verkündete ihnen die Einzelheiten ihrer Abreise, die nach den Plänen der Cree in etwa zehn Stunden stattfinden sollte. Er gab sich alle Mühe die übliche Langeweile in seinem Tonfall aufrecht zu erhalten, aber etwas war passiert, was ihm das vermutlich jahrelang antrainierte Sprechverhalten erschwerte. Selbst die bohrende Nachfrage von Eric brachte ihn nicht dazu über seine Probleme zu sprechen und so behielt er sein Geheimnis für sich, auch vermutlich weil die Gruppe nicht würdig war es zu erfahren. Ein Geheimnis, was vermutlich alle Cree miteinander teilten, denn auf der Fahrt zum Raumhafen wurde ihnen nicht mehr die uneingeschränkte Aufmerksamkeit zu teil, wie sie es auf dem Hinweg unfreiwillig genießen durften. Es schien fast so, als gäbe es ein neues, alles beherrschendes Thema, was die Anwesenheit der Fremden unwichtig erschienen ließ. Eine ungewohnte Unruhe erfasste die Bevölkerung und da dieses Verhalten so atypisch für die Cree war, griff diese Unruhe auch auf die Gruppe über. Erst mit dem Erreichen des Raumhafens und der Aussicht den Planeten verlassen zu können, ließ die Anspannung etwas nach.

„Schnittig.“ war das Wort, das Eric für ihr Transportschiff übrig hatte, als sie ihr Fahrzeug verließen. Die geschwungenen Kurven im Design erinnerten an einen dieser Sportwagen, die er in den nostalgischen Filmen der Vorfahren immer bewundert hatte. Auch wenn diese mit veralteten Verbrennungsmotoren angetriebenen Kisten eigentlich jeglicher praktischen Nutzung spotteten, waren es genau solche an Verschwendungssucht grenzenden Aspekte, die seine Fantasie über die guten alten Zeiten übersprudeln ließen. Hier stand der Sportwagen der Raumfahrt vor ihnen. Ausgelegt für ein Minimum an Ladung, vermutlich mit einem Verbrauch der alle vernünftigen Maßstäbe sprengte, einer Geschwindigkeit, die alle bekannten Grenzen überschritt und jeder Menge unnützen Zusatzteile, deren Zweck allein darauf beruhte beim Betrachter Neid hervorzurufen. Das so ein Prachtstück ausgerechnet im Besitz der Cree war, entbehrte nicht einer gewissen Ironie.

„Das Ding ist die pure Unvernunft. Wieso habt gerade ihr das Ding?“ fragte Eric, aber Cho ließ sich auch diesmal nicht zu einer Antwort bewegen.

„In drei Tagen werdet ihr das Exson auf Cayuse betreten. Es bringt euch nach Naskapy. Dort erwartet euch unser Kontaktmann. Er wird euch alles Weitere erklären.“ sagte er stattdessen und war der Meinung alles Wesentliche geklärt zu haben. Ein Bombardement an Fragen belehrte ihn eines Besseren.

„Was denn erklären?“ fragte Dina.

„Wer ist unser Kontaktmann?“ fragte Eva.

„Drei Tage? Wie schnell ist die Kiste?“ fragte Eric.

Zu ihrer Überraschung ließ Cho sie einfach stehen, stieg in den Personentransporter und fuhr ohne ein einziges Wort der Verabschiedung davon. Sichtlich verwirrt standen die drei vor der Treppe, deren Ende zum Rumpf des Schiffes führte. Ein abgeflachter Halbzylinder, an dem die beiden Triebwerke rechts und links dem sportlichen Design angepasst wurden. Die schnittige aerodynamische Form ließ darauf schließen, dass es hauptsächlich für Atmosphärenflüge vorgesehen war. Erst die Cree bauten es für interstellare Flüge um. Nicht eine einzige Beule oder Schramme war zu erkennen und wie das Schiff glänzend in der Sonne stand, als wäre es einem Katalog für Männerspielzeug entsprungen, entfachte es in Eric mehr als technisches Interesse. In Gedanken sah er sich durch Asteroidenfelder flitzen, die er mit halsbrecherischen Manövern durchquerte, mit Eva an seiner Seite, die ihn für seine Fähigkeiten bewunderte.

„In zwanzig Minuten starten wir.“ schallte es im monotonen Cree Einheitstonfall vom oberen Ende der Treppe. Ihr Pilot war ein junger recht ansehnlicher Bursche, der durch seine langweilige Ausstrahlung jegliche vorhandene Attraktivität wieder wettmachte.

„Warum die Verzögerung?“ fragte Eric, der es nicht erwarten konnte das Schiff in Aktion zu sehen. Wenig überraschend bekam er erneut keine Antwort. Erst als ein weiterer Personentransporter vor dem Schiff auftauchte, wurde ihm der Grund bewusst.

„Zaja. Schön dich zu sehen.“ begrüßte Eva freudig den unerwarteten Besuch. Zaja trug nicht das übliche weiße Einheitsgewand und wirkte daher wie eine Fremde auf ihrem eigenen Planeten. Die schlichte, aber praktische Hose und die schön geschnittene Bluse gaben ihr eher das Aussehen einer Frau von Lassik.

„Gibt es wohl doch noch einen tränenreichen Abschied.“ Eric wusste ihr Erscheinen auf Grund ihrer Kleidung nicht richtig einzuordnen.

„Kein Abschied. Ich komme mit euch.“ entgegnete Zaja und verblüffte ihn mit dieser Aussage. Evas Blick fiel auf ihr Handgelenk und das Armband verriet, dass sie die geforderte Konsequenz bisher nicht umgesetzt hatte.

„Was ist passiert?“ fragte Eva neugierig.

„Tod.“ erwiderte Zaja einsilbig und versetzte Eva damit in Furcht.

„Wer ist denn gestorben, dass deine Leute einfach ihre Prinzipien über den Haufen werfen und dich gehen lassen?“ fragte Dina, die ungewohnt unsicher klang. Zaja zögerte mit der Antwort und entschied sich nach ein paar Sekunden die Frage zu ignorieren.

„Lass uns gehen.“ sagte sie stattdessen, stürmte die Treppe hinauf und verschwand im Inneren des Schiffes.

„Na klasse. Schon wieder Östrogenüberschuss.“ kommentierte Eric die Aktion und erwartete eine Spitze von Dina, die aber abwesend schien, so als hätte sie ihre eigene verhängnisvolle Entscheidung zu verarbeiten. Ohne weitere Kommentare folgte die Gruppe Zaja ins Schiff, das im Innenraum winzig erschien. Gerade mal drei kleine Räume und ein beschauliches Cockpit standen zur Verfügung. Der Rest war voll gepackt mit Technik, die nur kriechend über Wartungskanäle zugänglich war. Dieses Schiff war eindeutig nicht für lange Aufenthalte im All konzipiert. Zum Glück erreichte es Geschwindigkeiten, die scheinbar große Entfernungen zum Ausflug in die Nachbarschaft verkommen ließen. Vier Wochen Hinreise von Cayuse standen drei Tage Rückreise gegenüber.

„Also. Was ist passiert?“ fragte Eva erneut. Zaja stand am Fenster ihrer gemeinsamen Kabine und sah den Planeten unter sich immer kleiner werden. Sie hatten die unterirdische Stadt über ein größeres Portal verlassen, das getarnt als Wiese sich in das Grün der Dschungellandschaft integrierte. Nun trotzten sie der Schwerkraft von Cree und machten sich auf in die Dunkelheit des Alls. Erst als der Planet vollkommen aus dem Sichtfeld verschwunden war und die Sterne in das typische Farbenspiel bei Überlichtgeschwindigkeit eintauchten, wandte sich Zaja vom Fenster ab.

„Ich weiß nicht, ob ich meine Heimat je wieder sehen werde.“ Betrübte Worte von einer sonst so stark wirkenden Frau.

„Das wirst du mit derselben Sicherheit, mit der ich Lassik wieder sehen werde.“ versuchte Eva sie aufzubauen.

„Lassik. Hast du Freunde dort?“ Die ungewohnt persönliche Frage überforderte Eva kurz mit einer Antwort.

„Nein. Meine Freunde sind hier auf diesem Schiff und einer ist irgendwo dort draußen.“

„Trotzdem willst du zurück.“

„Meine Familie ist dort.“ Eva war es nicht gewohnt in Zajas Gegenwart über persönliche Dinge zu sprechen. Obwohl sie keine Fremde mehr war, fiel es ihr schwer sich zu öffnen.

„Mir geht es genauso. Keine Freunde mehr auf Cree. Was bleibt ist die Familie.“ Zaja konnte ihre Wehmut nicht überspielen. Eva schien der Schlüssel für ihre weggeschlossenen Emotionen zu sein.

„Deine Freunde sind tot? Das tut mir Leid.“

„Ria war nur unwesentlich älter als ich. Sie wurde ein Opfer ihrer Zweifel.“ Zaja machte eine kurze Pause, so als würde sie sich gemeinsame Erinnerungen ins Gedächtnis rufen.

„Auch bei uns herrscht am Anfang Verunsicherung. Selbst wir Cree müssen unsere Entwicklung durch Erfahrungen bereichern. Erst im Laufe der Zeit erreichen wir die Perfektion, die du auf meiner Heimatwelt gesehen hast. Bis dahin ist es ähnlich wie bei euch, nur auf einem ganz anderen Niveau. Wir suchen Orientierung. Eine Art moralischer Kompass, der uns durch die Wirrungen der Jugend führt. Bei Ria waren es Tiere, aber genau das hat sie in den Tod getrieben. Sie hat einen Fehler gemacht, wie viele vor uns auch. Leider sah sie nur einen Ausweg.“ Zaja hatte Mühe sich zu beherrschen.

„Sie hat sich umgebracht?“

„Sie wollte ihren Tod.“ sagte Zaja zitternd.

„Niemand bringt sich wegen eines einzigen Fehlers um. Vielleicht habt ihr doch grundsätzlichere Probleme in eurer Gesellschaft, als euch lieb ist.“ sprach Eva die unbequeme Wahrheit aus, die Zaja nicht hören wollte.

„Ihr Tod hat tiefe Verunsicherung unter den Cree hervorgerufen. Zum ersten Mal seit zweihundert Jahren haben wir keine einheitliche Meinung, wie wir damit umgehen sollen. Es gibt Einige, die deine Ansicht teilen und drängen auf Veränderungen.“

„Wie kann denn Perfektion geändert werden?“ fragte Eva ketzerisch.

„Die vorherrschende Unsicherheit ermöglichte mir es euch zu begleiten.“ ignorierte Zaja bewusst die Frage.

„Mit anderen Worten. Sie wissen nicht was sie tun sollen und du hast es dir zu Nutze gemacht.“

„Ich bin die Jüngste und damit in ihren Augen ein ähnliches Risiko wie Ria. Daher haben sie mich gehen lassen.“ bestätigte Zaja Evas Vermutung.

„Und warum bist du wirklich mitgekommen? Wegen Sentry?“ Die Antwort kam zögerlich. Zaja spielte an ihrem Armband, welches das Ungeborene vor dem Tod durch die Nanobots schützte.

„Ich will meinen Sohn nicht aufgeben. Dort draußen sitzen die Leute, die diesen Virus erschaffen haben. Irgendwer kennt das Gegenmittel. Ich werde es bekommen.“ Sie wirkte jetzt wild entschlossen.

„Und wenn sie dich erwischen. Hast du die Bots des Vergessens in dir?“ fragte Eva, obwohl die Antwort irrelevant war. Zajas Entschlossenheit das Überleben ihres Nachwuchses zu sichern ging einher mit der Unterdrückung aller Nanotechnologie in ihr. Ihr Schicksal war untrennbar an das Schicksal ihres Sohnes geknüpft. Leben oder Tod gab es nur gemeinsam.

Zaja war nur ein Teil der depressiven Grundstimmung an Bord. Ein wesentlichen Beitrag zur bedrückenden Atmosphäre lieferte Dina mit ihrer liegen gelassenen Möglichkeit der Rache. Es war nichts Logisches, was da auf Cree passierte. Eine rein intuitive Entscheidung, die so keineswegs geplant war und jetzt für ordentlich Zweifel bei ihr sorgte. Bisher hatte sie sich zurückgehalten bei der verbalen Verarbeitung der Ereignisse, aber sie wusste, dass sie zum ersten Mal die Möglichkeit hatte jemanden ins Vertrauen zu ziehen. Ein Luxus, der ihr auf Eyak höchstens durch Ned zur Verfügung stand. Da er aber meistens Teil ihrer Sorgen war, fehlten ihr auch dort wirkliche Freunde für Ratschläge.

„Wir müssen reden.“ überraschte sie Eva in ihrem Quartier.

„Über das, was im Dschungel passierte?“

„Oder das, was nicht passierte.“

„Du hast es nicht getan?“ fragte Eva.

„Nein habe ich nicht und du hast Schuld. Du und Sentry mit eurem Gewäsch von einer besseren Welt habt mich ganz irre gemacht. Ihr habt mich weich gemacht gegenüber dieser beschissenen Realität. Frieden und Nächstenliebe. Hohle Phrasen, die keinen Menschen interessieren. Ich wünschte ich wäre niemals mit euch gegangen.“ Diese Schimpftriade war ungewollt und wurde sofort von ihr bereut. Eigentlich wollte sie Absolution für das Geschehene, aber ihr aufgebrachter Geist hatte sich andere Wege gesucht, um den Druck im Kessel voller zwiespältiger Gefühle abzulassen. Nicht zum ersten Mal hatte sie mit ihrem launischen Temperament zum Rundumschlag ausgeholt und bisher hielt sich die Reue über die verbale Verletzung immer in Grenzen. Nun hatte es jemanden getroffen, den sie eigentlich nie als Ziel ins Visier nehmen wollte. Sie war also gezwungen Reue zu zeigen und schon allein dieser Aspekt machte sie erneut wütend.

„Siehst du das. Jetzt mache ich mir schon Sorgen, was du von mir denken könntest. Ich bin zu einem verdammten Weichei verkommen. Was kommt wohl als Nächstes? Brot für die Welt. Rettet die Wale? Ich will das nicht. Ich will meine einfache kleine Welt zurück. Ich will nicht dieses …. Was immer das jetzt auch ist.“ Dina machte eine kurze Pause, die Eva nutzte, um einzuhaken.

„War diese kleine Welt denn wirklich so schön? Ist sie es wert einen Rückfall in Bitterkeit und Elend zu riskieren. Willst du wieder anfangen diesem Red hinterherzulaufen? Ich glaube du befindest dich gerade in eine Art Vakuum. Du fühlst dich verloren, weil du gerade im Begriff bist andere Gefilde zu betreten. Neue Gefühle. Neue Möglichkeiten. Lass sie an dich ran. Ich habe bereits durch, was du vor dir hast und glaube mir am Ende lohnt sich der Mut. Du wirst sehen, es wird dir gut tun. Habe keine Angst vor der Zukunft. Besser als die Vergangenheit wird sie allemal.“

Eva hatte die letzten Worte mit einer Zärtlichkeit ausgesprochen, die Dina die Tränen in die Augen trieb.

„Jetzt heule ich auch noch. Ich hasse dich dafür.“ schluchzte sie. Eva stand mittlerweile selbst vor einem Weinkrampf und die Intimität, die die beiden seit ihrem ersten Treffen regelmäßig heimsuchte, verlangte wieder mal ihr Recht. Zum ersten Mal ging die Initiative von Eva aus, die damit einen weiteren riesigen Schritt weg von der antrainierten emotionalen Kälte des Tempels des Friedens machte. Sie umarmte Dina innig, die das Angebot nutzte, um ausgiebig zu weinen.

„Wir schaffen das. Beide schaffen wir das. Wir haben verdammt noch mal das Recht auf Glück.“ tröstete Eva ihre Freundin.

„Wo warst du vor ein paar Jahren, als ich noch auf Frauen stand.“ scherzte Dina jetzt sichtlich erleichtert und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Sie hatte ihre Absolution, auch wenn die emotionale Intensität sie überrollt hatte. Für die kommenden Aufgaben war geistige Stabilität eine Mindestvoraussetzung und die hatte sie nun dank Eva wieder erlangt. Sie fühlte sich gut, aber vor allen Dingen fühlte sie sich reifer. Eine neue Art von Selbstbewusstsein durchflutete ihren Körper, das weniger von einem überschätztem Ego genährt wurde, sondern von wahrer innerer Stärke. Seit den Tagen mit Ned hatte sie endlich wieder das Gefühl am Leben zu sein.

Die Reise dauerte tatsächlich nur drei Tage. Zaja verbrachte die Zeit fast ausschließlich in meditativem Zustand. Dina und Eva amüsierten sich aus dem reichhaltigen Angebot an alten Filmen, die fast ausschließlich unrealistische Beziehungsgeflechte einer längst vergangenen Zeit zum Inhalt hatten. Da der Pilot auf Erics neugierige Anfragen durchweg mit Ignoranz reagierte, sah der sich aus Mangel an Alternativen gezwungen die Frauen bei ihren filmischen Ausflügen in die Vergangenheit zu begleiten. Das blieb naturgemäß nicht ohne Spannungen und als die Kabbeleien innerhalb der Gruppe zu eskalieren drohten, räumte Eric anhand der weiblichen Überzahl irgendwann freiwillig das Feld und verbrachte den Rest der Reise ruhelos in seinem Bett. Er grübelte über den immer wieder in den Filmen auftauchenden Planeten Erde, der sich in keinerlei Zusammenhang zu der heutigen Realität bringen ließ. Ohne Frage war er der Ursprung der Menschheit, der irgendwo in den Weiten des Alls verschollen war. Auch die Datenbank der Cree gab nichts Brauchbares in der Richtung her, so dass er eher wie ein Mythos und weniger als Wiege der Zivilisation wirkte.

Sie erreichten Cayuse und als sie die Geschwindigkeit drosselten erkannte Dina das Exson, das gerade planmäßig den Planeten besuchte sofort. Die unbeleuchteten Abschnitte vom „mystischen Garten“ waren unverwechselbar. Dina hatte im Laufe ihrer Reisen die Unterschiede der einzelnen Exsons kennen gelernt. Obwohl sie offiziell einer großen Firma unterstanden, wurden sie von den zuständigen Verantwortlichen unterschiedlich verwaltet und bekamen daher einen passenden Namen, der sich im Laufe der Zeit bei den Raumfahrern durchgesetzt hatte und das Wesen der einzelnen Exsons wieder spiegelte. Der Name „mystischer Garten“ war angelehnt an das Paradies, da hier das Verhältnis von Freiheit, Regeln, Vergnügen und Sicherheit ihr Optimum hatten. Es gab keine Exzesse wie auf der „verruchten Braut“ und anderseits wurden Gesetze und Regeln nicht so konsequent umgesetzt, wie auf „dem heiligen Gral“. Das Leben war angenehm ohne es zu übertreiben und da jeder sich diesem Takt anpasste, entstand eine Gesellschaft von gegenseitigen Respekt und Hilfsbereitschaft. Alles in gewissen Grenzen natürlich und obwohl Dina ein erheblichen Teil ihres Lebens hier verbrachte und damit nicht sehr objektiv in der Bewertung der einzelnen Exsons war, fühlte sie sich hier immer besonders wohl. Es steckte mehr von diesem riesigen Transporter in ihr, als die zwanzig Jahre auf Eyak. Dieses Exson kam so etwas wie einer Heimat am nächsten und daher freute sie sich auf das Wiedersehen mit guten Bekannten und den fast ausschließlich positiven Erinnerungen an eine friedliche Zeit in ihrem Leben.

Der Aufenthalt des Cree-Flitzers, mit dem sie die Strecke in Rekordzeit zurückgelegt hatten, dauerte gerade solange, dass alle von Bord gehen konnten. Der Pilot der Cree hatte es eilig wieder in den anonymen Schutz des Weltalls zurückzukehren, zu sehr verabscheute er die Nähe der Menschen. Kein einziges Wort hatte er mit seinen Passagieren gewechselt und so wirkte der Transfer wie eine Abschiebung von ungewollter Fracht in den rechtmäßigen Sündenpfuhl in den es hingehörte. Außer Zaja hatte keiner damit Probleme in das Biotop der Menschen heimzukehren, denn die sterile Atmosphäre der Cree zeigte erste Gewöhnungseffekte und die wollte vor allen Dingen Dina unbedingt vermeiden.

„Zurück im wahren Leben.“ kommentierte sie den ersten Schritt auf die Station. Ein Beamter der hiesigen Verwaltung steuerte bereits auf sie zu. Die Registrierung war ein unvermeidliches Ritual.

„Neuregistrierungen?“ fragte er in einem steifen Tonfall, der jedem Cree Ehre machen würde.

„Ist doch fast wie zu Hause.“ scherzte Eric in Richtung Zaja.

„Drei.“ antwortete Dina und erntete damit einen genervten Blick hinsichtlich der zusätzlichen Arbeit.

„Na gut. Ich nehme mal an Sie waren schon hier.“ Der Beamte hielt Dina das Pad unter die Nase, worauf diese ihren Daumen auf den Scanner legte. Der Beamte kontrollierte kurz die Daten und wurde mit einem Schlag kreidebleich.

„Warten Sie einen Moment. Ich muss was klären.“ Sichtlich nervös entfernte er sich von der Gruppe, um ungestört Anweisungen in seinen Kommunikator zu flüstern.

„Ich habe da ein ganz mieses Gefühl.“ Dina hatte sich die Rückkehr wesentlich unkomplizierter vorgestellt. Es vergingen fünf Minuten elendigen Wartens, bis der Kontrolleur mit drei weiteren Beamten vom Sicherheitsdienst wieder auf sie zukam.

„Sie sind verhaftet wegen Doppelmordes.“ schleuderte er ihr den Vorwurf entgegen. Dina war unfähig ihre Überraschung in Worte auszudrücken, daher übernahm Eva die Frage nach den Opfern. Es handelte sich dabei um die Sekundanten, die bei dem blutigen Duell mit Red vor ein paar Wochen auf der Strecke blieben. Offensichtlich wurde Dinas DNA am Tatort sichergestellt und da diese ohne Abmeldung von der Station verschwand, war sie als Hauptverdächtige die erste Wahl. Bevor die Verblüffung der Gruppe in Aktionismus umschlagen konnte, hatte der Sicherheitsdienst Dina Handschellen angelegt und führte sie ab. Die ganze Aktion verlief so schnell, dass der Rest der Gruppe wegen Überforderung hinsichtlich der Verarbeitung der Ereignisse sprachlos mit dem Kontrolleur zurück blieb. Dieser nahm jetzt mit besonderer Sorgfalt die Daten der Hinterbliebenen auf und verzögerte damit die Ankunft endgültig. Erst als er sich vollkommen sicher war nicht weitere potentielle Verbrecher vor sich zu haben, ließ er die Gruppe passieren.

„Was jetzt?“ fragte Eric ratlos. Im Habitatring wirkten sie wie Wellenbrecher, die orientierungslos die Menge der vorbeieilenden Menschen behinderten. Ihnen wurde ihre Führungsperson genommen und nun mussten sie ihre Pläne in vielerlei Hinsicht ändern.

„Wenn sie schuldig ist, muss sie sich dafür verantworten. Wenn sie unschuldig ist wird sie freigesprochen. Es liegt nicht in unserer Hand. Wir haben eine Aufgabe und die müssen wir erfüllen, auch ohne sie.“ sagte Zaja trocken und wendete die viel gepriesene Logik der Cree zu Dinas Ungunsten an.

„Du willst sie ihrem Schicksal überlassen? Das können wir nicht. Sie braucht unsere Hilfe.“ widersprach ihr Eva energisch.

„Was können wir für sie tun? Nichts. Sentry hat absolute Priorität für mich.“ erwiderte Zaja mit der gleichen Entschlossenheit.

„Dann ist es wohl doch nicht so weit her mit der Moral der Cree. Ich lasse sie nicht im Stich.“

„Du musst dich entscheiden. Ich für meinen Teil habe es.“ Zaja rückte keinen Millimeter von ihrer Entscheidung ab.

„Du schaffst es nicht allein gegen die Science.“ konfrontierte Eva sie mit der ungeschönten Wahrheit.

„Vielleicht sollten wir erstmal schauen, was genau da gegen sie vorgebracht wird. Könnte ja alles nur ein Missverständnis sein.“ versuchte Eric sich als Vermittler.

„Spricht was dagegen sich mehr Informationen zu beschaffen?“ fragte Eva jetzt provozierend und da sie keine Antwort von Zaja bekam, machte sich die Gruppe auf die örtliche Polizeistation zu finden. Dort angekommen, wurden sie lange Zeit vertröstet und erst das energische Nachhaken von Eva brachte ihnen eine Audienz beim leitenden Ermittler ein. Der war sichtlich genervt von der Anwesenheit der Fremden.

„Was wollen Sie? Sind Sie überhaupt Verwandte?“ fragte er in gestresstem Tonfall, der vermittelte, dass er weitaus wichtigere Aufgaben hatte, als sich mit ihnen auseinanderzusetzen.

„Das ist ihr Ehemann und er hat ein Recht darauf zu erfahren, was eigentlich los ist.“ Das Improvisationstalent, das Eva sich zu den Zeiten des „Tempel des Friedens“ angeeignet hatte um Informationen zu bekommen, fand hier eine gute Anwendungsmöglichkeit, auch wenn Eric spontan als Opfer herhalten musste. Der schluckte kurz, verkniff sich aber einen Kommentar.

„Sie sind verheiratet mit der Wilden? Wers glaubt.“ Der Ermittler musterte kurz Erics jämmerliches Erscheinungsbild und war nicht wirklich überzeugt.

„Eine geschäftliche Verbindung.“ improvisierte Eva weiter.

„Lassen Sie es gut sein. Ich kenne diese Frau. Sie hat Jahre lang hier gelebt und ich hatte den Eindruck, dass sie eher ihrem eigenen Geschlecht frönte. Selbst alles Geld der Welt hätte sie nicht in die Arme eines solchen …“ Er brach ab, da ein Rest von Anstand ihn von einer Beleidigung abhielt.

„Wenn Sie sie kennen, wissen Sie das sie keine Morde begeht.“ hakte Eva ein.

„Oh doch. Sie hatte diesen Killerinstinkt im Blick. Trotzdem haben Sie Recht. Ich glaube nicht, dass sie die beiden umgebracht hat. Ihre Wut war mehr gezielter. Sie wirkte getrieben, aber zielstrebig. Außerdem war sie gut befreundet mit den beiden, so dass es kein schlüssiges Motiv gab.“

„Dann wird ihr nichts passieren?“

„Das hat der Richter zu entscheiden. Ich will ehrlich zu ihnen sein. In letzter Zeit häufen sich die Anzahl der Verbrechen und die Quote der Bestrafungen ist gering. Politisch gesehen für die Verwaltung eine Katastrophe. Da kommt so eine Verhandlung in einem offensichtlich klaren Mordfall sehr gelegen das Ganze wieder etwas gerade zu biegen. Es wird ein politisches Urteil werden. Ein Schauprozess wenn Sie wollen. Es sieht nicht gut aus für ihre „Frau“.“ erklärte der Ermittler etwas bedrückt die Situation.

„Und die Strafe?“ fragte Eva.

„Sie kennen die Antwort. Es gibt keine Gefängnisse für Schwerverbrecher mehr. Ihre einzige Chance sie zu retten, ist es den wahren Mörder zu erwischen.“

„Das geht doch nicht. So was können Sie doch nicht machen.“ Eva war fassungslos. Dina sollte als politisches Bauernopfer fungieren und es gab keinerlei Möglichkeiten dem drohenden Schicksal zu entkommen.

„Morgen wird es dazu eine offizielle Öffentlichkeitserklärung geben und wie ich unsere Verwaltung kenne, werden sie sich in Lobeshymnen über die Ergreifung einer lang gesuchten Mörderin und die fleißige Arbeit der Polizei übertreffen. Dann hilft auch nicht mehr der wahre Mörder, denn dann müssten sie ja zugeben, dass sie sich geirrt haben.“

„Sie müssen uns helfen. Als leitender Ermittler haben Sie es in der Hand.“ flehte Eva.

„Tut mir Leid. Da überschätzen Sie meine Kompetenzen. Gehen Sie jetzt. Ich habe viel zu tun.“ forderte er die Gruppe auf. Eva wollte noch etwas erwidern, was einen moralischen Konflikt bei ihrem Gegenüber in Gang setzen könnte, aber dazu fehlte ihr die notwendige Eloquenz. Mit dem schlechten Gefühl nichts tun zu können, verließen sie die Polizeistation.

Dem unbedingten Willen Evas etwas gegen den drohenden Tod von Dina zu tun, stand die gefühlskalte Logik von Zaja gegenüber. Die Diskussionen, in denen sich Eric gelegentlich erfolglos als Vermittler versuchte, gingen über in hitzige Wortgefechte. Das Bedauerliche an Evas Standpunkt war, dass er vollkommen aussichtslos war und Zaja mit ihren Argumenten die traurige Wahrheit wiedergab. Es lag nicht in ihren Möglichkeiten die Dinge zu ihren Gunsten zu beeinflussen und das zwang Eva eine Entscheidung ab, deren Ausgang auf alle Fälle negative Auswirkungen auf ihr weiteres Leben haben würde. Ihre Schwester kam ihr wieder in den Sinn und das schlechte Gewissen forderte seinen Tribut, indem es Bilder von einer einsam sterbenden Freya auf ihrer mentalen Leinwand projizierte. Ein Argument hier auf der Station zu bleiben und Dina in ihren letzten Tagen beizustehen, auch wenn das bedeuten würde, dass Sentry Überlebenschancen sich stark reduzieren. Die Unfairness des Lebens traf sie gerade wieder in seiner extremsten Form und bevor sie vermutlich eine der wichtigsten Entscheidungen überhaupt traf, beschloss sie Dina zu besuchen.

„Wie geht es dir?“ fragte sie durch die Gitterstäbe, hinter denen Dina seit ein paar Stunden auf ihr Schicksal wartete.

„Besser als man meinen würde.“ antwortete sie ruhig.

„Dir droht der Tod.“ rückte Eva direkt mit der Wahrheit raus.

„Ironie des Schicksals. Gerade jetzt wo ich wieder anfange zu leben.“ Dina wirkte gefasst, so als könne ihr das Kommende nichts anhaben.

„Ich fühl mich hilflos. Ich kann nichts tun.“ schluchzte Eva.

„Schon gut. Du hast schon so viel getan für mich. Schon vergessen? Glücklich sein ist unser Ziel. Wenn ich es schon nicht hinbekomme, musst du es für uns beide sein.“

„Ich will dich nicht verlieren.“

„Noch ist es nicht soweit. Es gibt immer einen Ausweg. Versprich mir eins. Sollte die Sache hier endgültig schief laufen, geh und rette Sentry. Vielleicht werdet ihr beide ja glücklich.“

„Ich kann dich doch nicht einfach zurücklassen.“

„Das tust du nicht. Hier oben in meinem Kopf bist du immer bei mir. Das entbindet dich aber nicht von einer ordentlichen Verabschiedung.“

„Ich werde unseren Kuss nie vergessen. Ich werde dich nie vergessen.“ 

„Ja der war genial. Lass uns nicht schon wieder sentimental werden. Alles wird gut, auf die eine oder andere Weise.“ Damit wandte sich Dina ab, auch weil es ihr peinlich war schon wieder kurz vor einem Tränenwasserfall zu stehen. Schweren Herzens verließ Eva die Polizeistation und der Drang sich mit Alkohol zu betäuben wuchs in ihr zu einem unbändigen Verlangen. Nie zuvor hatte sie den Rausch von Spirituosen erlebt und selbst in ihren wildesten Zeiten auf Lassik hatte sie dem Meth immer dem Vorzug gegeben. Jetzt war der Drang übermächtig, dass von den Cree erhaltende Taschengeld in harten Stoff zu investieren. Sie wollte ihren Frust ertränken und fliehen aus der ungerechten Realität, die ihr Leben war. Zielstrebig steuerte sie auf eine Bar namens „Hustler“ zu. Eine wahre Ironie des Schicksals, denn genau hier arbeitete jahrelang der Grund ihres geplanten Absturzes. Sie bestellte etwas mit dem Namen Tequilla und als das kleine Glas vor ihr stand, zögerte sie das überteuerte Getränk maßlos in sich hineinzuschütten.

„Ich hoffe es gibt einen guten Grund für solch harte Maßnahmen.“ ertönte eine gelassene männliche Stimme neben ihr. Evas Blick war so fest auf das Glas gerichtet, dass sie nicht bemerkte, wie sich jemand auf dem Barhocker an ihrer rechten Seite niederließ.

„Den gibt es immer in dieser furchtbaren Welt.“ erwiderte Eva, ohne den Blick von ihrem Getränk abzuwenden.

„Gut. Dann wird es wenigstens nicht verschwendet. Es gibt nichts Schlimmeres als sinnlose Trinkerei.“ Erst jetzt drehte Eva den Kopf, um zu sehen, wer sie in diesem unpassenden Moment von der Seite ansprach. Ein Mann mittleren Alters, dessen lockiger Haarschopf bereits von ersten grauen Haaren durchzogen wurde. 

„Hören Sie. Ich möchte nicht unhöflich erscheinen, aber mir ist gerade nicht nach Gesellschaft.“ versuchte Eva den vermeintlichen Flirtversuch abzuwimmeln.

„Keine Angst. Mir steht nicht der Sinn nach Verführung. Ich mache mir einfach nur Sorgen um Sie, denn Tequilla scheint mir nicht die richtige Lösung für Ihre Probleme zu sein.“ keinerlei Unsicherheit hinsichtlich der Ablehnung war in seiner Stimme zu vernehmen. Ganz im Gegenteil. Dieser Mann strotzte nur so vor Selbstvertrauen.

„Oh je. Was ist Ihrer Meinung nach die richtige Lösung? Ein gutes Gespräch?“ Eva kippte jetzt das komplette Glas hinter und schüttelte sich auf Grund der brennenden Speiseröhre.

„Nein. Ich glaube sie sollten auf Rum wechseln. Für solche Anfänger wie Sie empfehle ich eher etwas Weicheres im Abgang.“ Durch die Gelassenheit, mit der er ihre sarkastische Bemerkung konterte, entkam sie kurz der alles dominierenden Gedankenwelt über Dina oder Sentry. Sie konnte ihre Verblüffung nicht vollständig verbergen und daher ärgerte sie sich über die ungewollte Ablenkung, denn eigentlich hatte ihre Konzentration ausschließlich der Frustbewältigung gegolten. Ihre Blicke trafen sich und sie verlor für einen kurzen Moment die Kontrolle über ihr bewusstes Handeln.

„Braun. Meine Augen sind braun.“ sagte er spöttisch und bestätigte damit Evas eigene Analyse, die ungewollt scheinbar zu offensichtlich von ihrem Autopiloten durchgeführt wurde. Dieser Mann war frech, aber auf eine angenehme schmeichelnde Art und Weise.

„Dann Rum.“ fing sich Eva wieder und war froh auf ein paar Erfahrungen aus den Zeiten des Tempels zurückgreifen zu können. Eigentlich wollte sie offener durch die Welt gehen, aber hier kam ihr die erlernte Abschottung mal wieder zu Gute. Sie musste sich eingestehen, dass sie der Unbekannte mit wenigen Worten ordentlich verunsichert hatte. Dementsprechend froh war sie, diese Verunsicherung hinter angelernten Techniken verbergen zu können.

„Zwei Rum bitte.“ wies er den Barkeeper an.

„Oh nein. Rum nur für Leute, die ihren Frust ertränken wollen.“ versuchte Eva die ungebetene Einladung zu verhindern.

„Perfekt.“ Der Unbekannte schob ihr eins der Gläser hin, erhob das andere und warte auf einen Anstoß ihrerseits.

„Das tausendste Mal von einer Frau verlassen worden zu sein, kann nicht mit dem bevorstehenden Tod einer guten Freundin mithalten.“ ignorierte Eva das Getränk.

„Oh das tat weh. Sind Sie immer so verletzend?“ Wieder brachten seine Worte ungeahnte Verwirrung in ihren Geist. Bevor Eva zu einer Entschuldigung ansetzen konnte, sie tat sich immer noch schwer mit solchen Dingen und dementsprechend lange brauchten ihre Vorbereitungen, setzte er das Glas ab und kam ihr zuvor.

„Ich habe Erpressung anzubieten. Reicht das für ein gemeinsames Glas Rum?“ fragte er mit einem verschmitztem Lächeln.

„Sie werden erpresst? Womit denn?“ Jetzt hatte er ihre volle Aufmerksamkeit. Bevor dass Eva richtig bewusst werden konnte und damit die Möglichkeit zur Reue über die erneute Ablenkung von ihrem geplanten Trinkgelage gegeben war, begann er mit seiner Erklärung.

„Ich muss jemandem helfen.“

„Wenn man Sie dazu erpressen muss jemanden zu helfen, haben Sie es vielleicht nicht anders verdient.“ Sie schob das Glas in seine Richtung.

„Wieder eine dieser verletzenden Bemerkungen. Offenbar gibt es nicht nur den bevorstehenden Tod ihrer Freundin zu ertränken. Irgendwas in ihrer Vergangenheit hat sie wohl ziemlich abweisend gemacht.“ Eva hatte jetzt alle Mühe die Tempelmauer vor dem Einsturz zu bewahren. Dieser Mann traf unentwegt ins Schwarze. Verdammt. Sie wollte sich doch bloß in Ruhe betrinken.

„Na gut. Wenn der Fakt Erpressung Sie nicht erweicht mit mir ein Glas Rum zu trinken, vielleicht dann, wenn Sie wissen wer mich erpresst.“

„Ich habe kein Interesse an Ihren Frauengeschichten.“

„Boom. Der nächste Treffer. Sie können das gut. Sie sollten für die Verwaltung arbeiten. Da würden Sie gut rein passen. Aber zurück zum Thema. Ich werde erpresst von…“ Der Unbekannte simulierte mit den Zeigefingern einen Trommelwirbel auf der Kante der Theke.

„Balta.“ vollendete er den Satz bedeutungsschwanger und versetzte Eva damit in Schockstarre.

„Wie ich sehe ist er kein Unbekannter für Sie.“ Er schob das volle Glas in ihre Richtung.

„Sie sollen mir helfen?“ fragte sie ungläubig.

„Sie brauchen meine Hilfe nicht. Höchstens in der Beratung beim Verzehr von Hochprozentigem oder guten Benehmens. Es ist ihre Freundin, der ich helfen soll.“ Seine gute Laune passte sogar nicht zu der Erpressungsgeschichte.

„Wer sind Sie überhaupt?“ Jetzt wirkten keinerlei Gefühlstarnungen mehr. Ihre Überraschung und ihre Neugier waren nicht mehr zu kaschieren.

„Gestatten. Mein Name ist Alec.“ Er sprang von dem Barhocker und deutete eine leichte Verbeugung an. Für einen kurzen Moment war er der Mittelpunkt des Geschehens.

„Schon gut. Schon gut.“ Eva war es sichtlich peinlich Teil seines Schauspiels zu sein.

„Was können Sie denn tun?“ fragte Eva aufgeregt.

„Erstmal das dämliche Sie weglassen. Wenn du mir deinen Namen verratest, können wir uns etwas ungezwungener unterhalten.“ Eva zögerte kurz und erst nach Anwendung der Logik konnte sie ihr Misstrauen überwinden und so was Simples wie ihren Namen Preis geben. Alec war verschlagen und der Kontakt zu Balta katapultierte ihn automatisch auf die Liste der wenig vertrauenswürdigen Personen.

„Schöner Name. Das genetische Profil, dass mir Balta zukommen ließ, passt auf deine Freundin. Was immer auch die beiden verbindet. Offensichtlich schuldet er ihr was und so forderte er einen Gefallen von mir ein. Ursprünglich nur so was, wie Transport, Geld oder Kontakte, aber als ich ihre Akte las, stellte sich schnell heraus, dass es etwas komplizierter werden würde.“

„Sie hat es nicht getan.“ verteidigte Eva entschlossen Dinas Unschuld. 

„Das spielt keine Rolle. Ihr Schicksal scheint vorbestimmt.“

„Du kannst ihr nicht helfen?“ fragte Eva resigniert.

„Das habe ich nicht gesagt, nur sollten wir etwas nach verhandeln.“

„Wir haben leider nichts zu bieten.“

„Oh. Nicht so bescheiden. Das Schiff mit dem ihr gekommen seid. Ein recht ungewöhnliches Modell. Obwohl es gleich wieder verschwand, hat es doch allerlei Gerüchte entfacht. Das plausibelste Gerücht ist, dass es den Cree gehört. Eine Gemeinschaft von Waldbewohnern, die jegliche Form von Technik ablehnt. Du siehst, das passt nicht zusammen.“

„Wir kommen von Cree, das ist richtig, aber das Schiff war nur ein gebuchter Transport.“ versuchte Eva sich zu winden.

„Netter Versuch. Ich kenne so ziemlich jeden Händler und jeden Schmuggler in dieser Galaxis. Niemand besitzt auch nur annähernd so ein Schiff. Das heißt im Umkehrschluss, dass die Cree vermutlich ihre eigene Philosophie von Enthaltsamkeit von Technik nicht ganz so ernst nehmen.“

„Du willst Technologie? Da musst du dich an die Cree persönlich wenden. Wir können dir da nicht weiterhelfen.“

„Eine sehr negative Einstellung, da es doch angeblich um das Leben deiner Freundin geht. Balta hatte von maximal zwei Begleitern gesprochen. Wenn ich euch durchzähle, seid ihr vier. Da liegt die Vermutung nahe, dass eure Beziehungen zu den Cree doch etwas intensiver sind, als du es mir Glauben machen willst. Sei es wie es sei. Ich kann ihr helfen, aber ich habe meinen Preis.“

„Zu oft sind wir betrogen worden.“ antwortete Eva skeptisch.

„Das Übel dieser Zeit. Ich verstehe deine Zweifel und daher gebe ich dir einen Vertrauensbeweis. Morgen soll die offizielle Anklageschrift verlesen werden und das vor ganz großer Kulisse. Jeder will sich sonnen im Erfolg eine Mörderin dingfest zu machen. Das ist praktisch der Punkt, an dem es kein zurück mehr gibt. Selbst ich schaffe es nicht bis morgen sie da raus zu holen. Wir müssen also den Zirkusstart verhindern. Ich bekomme das hin. Das ist sozusagen mein kostenloser Bonus für das bevorstehende Geschäft. Dann haben wir mehr Zeit, um uns etwas zu überlegen.“

„Und wie willst du das anstellen?“ Evas Hoffnung war immer noch begrenzt. Alec lächelte an Stelle einer Antwort und leerte sein Glas Rum.

„Morgen treffen wir uns um dieselbe Zeit hier und dann trinken wir unseren Rum, aber nicht aus Frust, sondern auf den Abschluss einer gewinnbringenden Vereinbarung.“ Er nahm das zweite Glas und kippte es in einem Zug hinter. Ein letztes Lächeln für Eva und er ging zur Ausgangstür, stoppte kurz, um sich ein letztes Mal zu ihr umzudrehen und verschwand gutgelaunt in der Menge.

 

 

Kapitel 14

 

Eva verzichtete auf den geplanten Absturz und das nicht nur weil sie die Hoffnung hatte, dass Dina ihrem vorherbestimmten Schicksal doch noch entgehen könne. Sie brauchte einen klaren Kopf und schon das eine Glas Tequilla hatte sie leicht aus der Bahn geworfen. Sie musste sich eingestehen, dass der Alkohol und sie vermutlich nie Partner in harten Zeiten werden würden, zu wenig trinkfest war ihr Körper für übermäßigen Konsum ausgelegt. Die durch den Führer geprägte Vernunft war aber nicht das einzige Argument gegen den klischeehaft angesetzten Exzess. Obwohl sie sich immer noch schwer tat im einschätzen von menschlichem Verhalten, hatte sie Alec mit seinem vor Selbstbewusstsein strotzendem Auftritt sichtlich beeindruckt. Wäre da nicht die Erwähnung von Baltas Namen, dieser hatte sämtliche Alarmsirenen in ihrem Innern auf Dauerton gestellt, würde sie auf sein Angebot, bei dem sie nur gewinnen konnte, bedenkenlos eingehen. Die Ziele von Balta waren nach seinem Verrat unklarer denn je und die Wahrscheinlichkeit war hoch, dass sie ein Teil dieses unbekannten Planes waren, dementsprechend brauchte sie einen wachen Geist, um eventuelle Machenschaften frühzeitig zu erkennen. Alec war vom gleichen Schlage wie Balta, aber es war schwer einzuschätzen, ob die vermeintliche Erpressung ihn zu einem wirklichen Gegenspieler machte oder ob er in der Aussicht auf einen guten Profit gemeinsame Ziele verfolgte. Für ihn wäre es sicherlich einfacher gewesen Balta als Strippenzieher gar nicht zu erwähnen, aber vielleicht war genau das ein Teil des Planes, um ihr Vertrauen zu gewinnen, indem er einen gemeinsamen Feind beschwor. Eva drehte sich bei der Abschätzung der Situation im Kreise und sie musste sich eingestehen, dass ihr bei diesen maskulinen Machtspielchen nicht nur auf Grund ihres Geschlechtes der Durchblick fehlte. Sie fühlte sich wie ein Karpfen im Haifischbecken, der bisher nur nicht gefressen wurde, weil die Raubfische um sie herum, Köder für größere Beute benötigten.  

In dieser verwirrenden Mischung aus Hoffnung und Misstrauen hätte Eva ein hilfreicher Rat sicherlich etwas Stabilität und Selbstvertrauen für die kommenden Stunden gegeben. Bedauerlicherweise konnten weder Eric noch Zaja ihr in diesem Dilemma weiter helfen. Letztere hatte ihre Prioritäten unmissverständlich klar gemacht und Alecs Preis für seine Hilfe wäre ein weiteres Gegenargument in der unausweichlichen Diskussion über das gemeinsame Vorgehen der Gruppe gewesen. Die Einzige, die ihr wirklich hätte weiter helfen können, saß im hiesigen Gefängnis und da Eva ein weiterer Besuch verweigert wurde, musste sie resigniert feststellen, dass sie auf sich allein gestellt war. Das unangenehme Gefühl der Einsamkeit machte sich in ihr breit und reduzierte ihr spärlich vorhandenes Selbstvertrauen weiter. Die vorherrschende Sorge über den drohenden Tod von Dina verschärfte die Geschwindigkeit ihrer mentalen Abwärtsspirale. Sie brauchte unbedingt einen Keil, um den Absturz ins bodenlose Seelentrauma zu stoppen und da Alkohol oder Meth nicht in Frage kamen, begab sie sich auf die Suche nach einer passenden Ersatzdroge.

Ihr Weg führte sie geradewegs in einen Buchladen. Seitenweise abgegriffenes Papier lag in gebundener Form verlockend vor ihr. Relikte einer längst untergegangenen Welt. Eine archaische Form der Informationsspeicherung und obwohl sie nicht das erste Mal ein Buch in der Hand hielt, wurde sie übermannt von dem Gefühl einen Teil der eigenen Menschheitsgeschichte in den Händen zu halten. Anders als bei Filmen waren hier der eigenen Fantasie keine Grenzen gesetzt. Menschen, Umgebungen aber auch Gefühle konnten in individuelle Formen gegossen werden und waren nicht dem Zwang durch Bilder unterworfen. Das gefahrlose Abtauchen in fremde und unbekannte Welten war ein Luxus in der heutigen Welt. Vermutlich wurden seit der Zeit der Vorfahren keine Bücher mehr gedruckt, umso erstaunlicher war es, dass nach all der Zeit immer noch Exemplare aus Papier vorhanden waren. Aufgearbeitet und versiegelt mit einem speziellen Wachs, würden sie selbst den Einflüssen der nächsten tausend Jahre noch trotzen, versicherte ihr der Händler, der in Aussicht auf ein gutes Geschäft ihr einiges über das haltbar machen von Papier erklärte. Ehrfürchtig ließ Eva ihre Finger über ein paar Buchrücken wandern, so als könnte sie das vorhandene Wissen allein durch Berührung in sich aufsaugen. Die Nachfrage beim Händler, welches Buch denn besonders lesenswert wäre, enttarnte diesen als reinen Geschäftsmann, der den Besitz der Antiquitäten nach seinem Wert beurteilte und weniger nach seinem Inhalt. Wahllos pickte sie sich ein Buch aus dem Regal und der Titel verriet so gar nichts über den Inhalt. „Bibel“ stand da nur kryptisch und als sie es aufschlug, drückte sich der wenig Mut machende Satz in ihr Blickfeld.

„Der Gerechte muss viel erleiden, aber aus alledem hilft ihm der Herr.“

Kein guter Einstieg, um aus dem Jammertal, das ihr derzeitiger Zustand nun mal war, zu entfliehen. Sie blätterte trotzdem ein wenig weiter und dieser Herr, ein gerechter und weiser Gott schien der Mittelpunkt in dieser spirituell angehauchten Geschichte zu sein.

„So erwürget nun alles, was männlich ist unter den Kindern und alle Weiber, die Männer erkannt und beigelegen haben.“

Das Buch widersprach seiner eigenen Barmherzigkeit und erinnerte sie doch sehr an ihre eigene Vergangenheit in der blinder Glaube an die gerechte Sache Mord und Totschlag rechtfertigten. Offenbar war auch die Hochkultur der Vorfahren nicht vor religiösem Übereifer gefeilt. Sie gab dem Buch eine dritte Chance und war überrascht auf ihren eigenen Namen zu stoßen.  

„Und Adam nannte seine Frau Eva, denn sie wurde die Mutter aller, die da leben“

Das klang schon etwas schmeichelhafter, veranlasste die Namensvetterin der Mutter aller Menschen aber trotzdem nicht sich weiter mit dem zusammenhanglosem Machwerk zu beschäftigen. Sie entfernte sich ein paar Schritte von der Bibel, so als würden die wirklich guten Bücher, sich möglichst weit weg von religiösen Märchen aufhalten.

„Shades of Grey“ fiel ihr zuerst ins Auge. Ein Buch, womit Eva bereits in elektronischer Form Bekanntschaft machte und das nur so vor sexueller Langeweile strotzte. Es war so abgegriffen, dass sich Eva nicht traute es anzufassen, da es trotz aller Versiegelung drohte zu zerfallen. Offenbar war es trotz Spannungsarmut sehr beliebt im Verleih. Als Beweis für fehlende Sortierung stand direkt daneben „Paula“. Eine autobiographische Geschichte, die voller Leben steckte und das obwohl am Ende der Tod stand. Eva verfiel ihr sofort und zahlte die Leihgebühr, ohne auch nur eine Sekunde zu verhandeln. Zu sehr fesselte sie die Leidensgeschichte der Protagonistin und jede Seite, die in den letzten Jahrhunderten abhanden gekommen war, schmälerte das Kunstwerk, das in perfektem Erzählstil von den Tragödien der Familie handelte. Auch wenn sehr viel Schmerz in den Worten mitschwang, beneidete sie die familiären Bindungen, die Eva in solcher Form nur in ihrer frühen Jugend kannte. Es steckten soviel Herz und soviel Seele in dem Buch, dass sie unweigerlich Parallelen zu ihrer eigenen Vergangenheit zog. Gemeinsam mit der Autorin verarbeitete sie den Verlust eines geliebten Menschen und „Paula“ wurde zu ihrer ganz persönlichen Therapiegruppe. Sie lernte, dass Trauer kein exklusives Gefühl war. Ob Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft, alle konnte es treffen und obwohl jeder seinen eigenen Weg für die Bewältigung wählen musste, war der Rückzug in die Einsamkeit keine gute Wahl. Eine Erkenntnis, die nicht unbedingt neu für Eva war, die aber nun nach dem Buch eine erhöhte Aufmerksamkeit nach sich zog. Sie musste zurück nach Lassik und endlich ihren Frieden mit Plato schließen, auch wenn diese Maßnahme Jahre zu spät kam. Der Druck zurückzukehren wurde immer größer, aber vorher gab es noch andere, nicht unwesentliche Dinge zu erledigen. Ganz oben auf der Liste stand Dinas Überleben und das bedurfte ihrer vollen Konzentration. Ihr Mut war zurück und auch wenn ihr Selbstvertrauen noch nicht den notwendigen Pegel besaß, war ihre Entschlossenheit umso stärker. Es würde sich ein Weg finden, auch wenn sich Alec als wenig hilfreich herausstellen sollte.

Das Lesen schien ihr der richtige Weg für die Flucht in eine andere Welt zu sein, zumal keinerlei nachträgliche Reue, wie beim Meth oder Alkohol vorlag, welche die Ekstase ohnehin nur vorgaukelten. Das Gegenteil war der Fall. Als Nebenprodukt der Zurückgewinnung ihrer Stabilität, gab es geistige Bereicherung noch oben drauf. Sie erfuhr fiel über die alte Welt. Krieg, Armut und Ungerechtigkeit waren auch damals schon Konstanten in der menschlichen Geschichte. Fehler, die scheinbar in den letzten tausend Jahren zyklisch auftraten. Einer dieser Fehler drohte sich gerade jetzt zu wiederholen und würde in unmittelbarer Zukunft in den neusten Nachrichten verkündet werden. Alle zwanzig Stunden wurden auf dem „mystischen Garten“ die aktuellsten administrativen Neuigkeiten verkündet und dieses Mal war mit hoher Wahrscheinlichkeit die Ergreifung einer lang gesuchten Mörderin dabei.

Nach der exzessiven Leseorgie hatte sich Eva ein paar Stunden schlafen gelegt. Das gemietete Quartier war spärlich und da es von den Cree bezahlt wurde, war von vorneherein auf jegliches unnützes Zubehör verzichtet worden. Die Einrichtung beschränkte sich ausschließlich auf notwendiges Mobiliar, was durch den preiswerten Anschaffungswert nur unzureichend zur Entspannung beitrug. Zusätzlich zur unbequemen Niederlassung konnte sie die gelesene Geschichte nicht vollends aus ihrem Geist verbannen, von daher war ihr Schlaf wenig erholsam. Müde und wenig hoffnungsvoll stellte sie sich dem neuen Tag, der soviel Schlechtes für sie bereitzustellen schien.

Da keinerlei technische Gerätschaften in ihrer Unterkunft vorhanden waren, musste die Gruppe in eine der zahlreichen öffentlichen Einrichtungen, um die unheilvolle Botschaft zu erhören. Ihre Wahl fiel auf das „Hustler“ und nach einer ausgiebigen Mahlzeit harrten sie der Dinge, die da kommen würden. Einzig und allein Eva war die Aufregung anzusehen. Zaja hatte ihren Standpunkt mehr als einmal deutlich gemacht, aber das Eric trotz aller Differenzen Dinas Schicksal so kalt ließ, überraschte dann doch. Sie wollte ihn gerade drauf ansprechen, als die Unruhe in ihrer Umgebung anstieg.

„Wir sind bereits zehn Minuten drüber. Das bedeutet nie was Gutes.“ hörte sie Gesprächsfetzen von einem Nachbartisch. Ein junges Pärchen, das offensichtlich nicht als Einziges die Verspätung der Verlautbarung bemerkt hatte. Es kam wohl nicht so oft vor, dass die Nachrichten unpünktlich verkündet wurden.

„Meist drücken die dann noch was Unangenehmes mit rein.“ erwiderte die Frau. Jetzt war auch Erics Ruhe dahin und er fing an nervös umherzuschauen.

„Kein gutes Zeichen.“ zischte er und Eva war erleichtert, dass ihn die Sache doch nicht vollkommen egal war. Weitere fünf Minuten vergingen, ehe der Signalton erklang, der die Nachrichten einleitete. Die Anspannung stieg und wurde noch gesteigert durch langweilige Anweisungen, dass das Betreten von stillgelegten Segmenten der Station untersagt ist oder eine Bar namens „Bayreuth“ wegen einer Ungezieferplage für weitere zwei Tage geschlossen bleibt. Solche Banalitäten bestimmten weitere zwanzig Minuten die Nachrichten, bis endlich das Thema auf neue Erkenntnisse zu einem Doppelmord wechselte. Eva hielt den Atem an.

„Hierbei handelt es sich um keine Festnahme.“ verkündete eine weiche Frauenstimme, die scheinbar perfekt für das verlesen von Nachrichten geschaffen wurde.

„Eine Zeugin wurde lediglich zur Befragung auf das Polizeirevier gebeten. Die Polizei erhofft sich von ihr wichtige Hinweise zur Aufklärung.“ Damit wurde schon das folgende Thema angeschnitten, welches sich um die nächsten Reiseziele der kommenden acht Wochen drehte.

„Das klang nicht nach einer Anklage.“ stellte Eric folgerichtig fest.

„Alec hat das wohl verhindert.“ sagte Eva erleichtert.

„Wer?“ Eric war sichtlich überrascht, dass ihm was entgangen war.

„Ein Freund von Balta.“ Sie betonte das Wort Freund bewusst abwertend.

„Der schwarze Mann.“ hauchte Eric ehrfürchtig in die Runde und holte damit Zaja aus ihrer Gleichgültigkeit.

„Damit hat uns der Feind bereits wieder unter Beobachtung.“ stellte Zaja ganz unaufgeregt fest.

„Ich glaube nicht, dass er zum „Feind“ gehört. Immerhin will er uns helfen sie da raus zu bekommen.“ Eva stellte sich auf eine Erneuerung der Diskussion über ihre Prioritäten ein.

„Natürlich wird er das, aber da stecken mit Sicherheit größere Ziele dahinter, als reine Nächstenliebe.“ begann Zaja die erste Runde.

„Mag sein, aber diese Ziele sind mir derzeit vollkommen egal. Er ist unsere beste Möglichkeit Dina vor der Hinrichtung zu bewahren.“ Im Geiste legte sich Eva bereits weitere Argumente zu Recht, als Zaja sie überraschte.

„Wenn er die Mittel dazu hat, sollten wir ihm die Gelegenheit dazu geben. Trotzdem müssen wir die Sache mit größter Vorsicht angehen.“ stimmte ihr Zaja nüchtern zu.

„Ähh.. Gut. Ich…“ Evas geplante Strategie der Konfrontation war über den Haufen geworfen worden und nun hatte sie keinen verbalen Plan B.

„Ich vertraue deinen Entscheidungen. Die Erfahrungen auf Cree haben das gezeigt.“ verblüffte Zaja eine ohnehin schon sprachlose Eva noch weiter.

„Dir ist schon klar, dass sie ein Mensch ist.“ mischte sich Eric mit ein.

„Niemand ist perfekt.“ konterte Zaja trocken. Eva dagegen war nun endgültig keiner Worte mehr fähig. Ein riesiger Schub Selbstvertrauen übermannte sie gerade und hinderte sie an der verbalen Verarbeitung des Kompliments. Vertrauen war ohnehin schon eine Seltenheit in diesen Zeiten und es ausgerechnet von einer Cree ausgesprochen zu bekommen, steigerte den Wert ins Unermessliche. Die Intensität von Leben war nie stärker, als in diesem Augenblick. Ein angemessner Preis für die Entbehrungen der letzten Wochen und ein passender Antrieb weiterzumachen. Immerhin gab es zwei weitere Menschen, die ihr vertrauten und deren Überleben nicht unwesentlich von ihr abhingen. Eine Verantwortung, die sie nicht als Bürde, sondern mehr und mehr als Erfüllung ansah.

Sie wollte Alec unbedingt alleine treffen, denn es war ihr wichtig unter vier Augen das weitere Vorgehen zu verhandeln. Weder Zaja, mit ihrer ablehnenden Haltung gegenüber allem, was nur im Entferntesten mit der Science zu tun hatte, noch Eric mit seiner eifersüchtigen Einstellung, hätten die Geschicke vorteilhaft beeinflussen können. Das waren die offiziellen Gründe ihm allein gegenüber zu treten, aber ihr Unterbewusstsein hatte noch ein weiteres Argument zu bieten, das keine Berechtigung besaß, an die Oberfläche ihres bewussten Denkens zu gelangen. Sie wollte den uneingeschränkten Charme genießen und obwohl dieses Gefühl das genaue Gegenteil an Wahrhaftigkeit von Zajas Vertrauensoffensive darstellte, war sie bereits jetzt schon auf Entzug von Alecs offensichtlich gezeigtem Interesse. Den uralten Instinkten zwischen Mann und Frau konnte sich auch Eva nicht entziehen und obwohl ihr bewusst war, dass sie sich damit gezielten Manipulationen aussetzte, kam sie gegen die Natur ihres Wesens nicht an. Eine Spannung zwischen den Geschlechtern, die den notwendigen Strom für den Erhalt ihres Selbstwertgefühles lieferte.

Während Eva wartete füllte sich die Bar von einem Moment auf den anderen. Entweder hatte gerade eine Fähre voller Kundschaft von Cayuse angelegt oder ein anderes Etablissement hatte kurzfristig seine Pforten geschlossen. Jedenfalls überforderte die plötzlich ankommende Menge die Belegschaft des „Hustlers“ gewaltig. Die vielen Menschen schrumpften das weitläufige Lokal zu einer Sardinendose und die Enge erschwerte Eva die Orientierung. Eric war ursprünglich ihr Anker, der an einem viel zu großem Tisch in Sichtweite Platz genommen hatte. Nach dem apokalyptisch wirkenden Zustrom an neuer Kundschaft, saßen da nun vier Furcht einflößende Gestalten, die mit ihren von harter Arbeit gestählten Körpern vermutlich keinerlei Worte brauchten, um Eric davon zu überzeugen, dass es nicht ratsam war, weiterhin auf diesen Platz zu beharren. Auf der Suche nach seinem neuen Aufenthalt wurde sie von einer vertrauten Stimme abgelenkt.

„Zwei Glas Rum.“ waren Alecs erste Worte, als er sich neben Eva auf den Hocker setzte, der überraschenderweise bisher von der Menge ignoriert wurde.

„Noch haben wir keine Vereinbarung.“ entgegnete Eva selbstsicher und zerrte von ihrem neu erworbenen Selbstvertrauen.

„Ich denke dir bleibt da keine Wahl.“ konterte er mit der gleichen Dosis.

„Was nicht heißt, dass wir erpressbar sind.“

„Leider seid ihr das. In dem gleichen Maße, wie ich durch Balta.“

„Womit wir wieder beim Thema wären. Was passiert wohl, wenn Dina hingerichtet wird?“

„Das Leben geht für mich weiter. Vielleicht nicht so angenehm, wie bei einem glücklichen Ausgang der Geschichte, aber immerhin.“ Eva schaute ihm jetzt tief in die Augen, so als könne sie den Wahrheitsgehalt dieser Aussage ergründen. Es war nicht ersichtlich, ob er bluffte.

„Wie viel Technik willst du denn obendrauf?“ fragte sie, bevor sie sich für eine Strategie entschied.

„Wer sagt denn, dass ich Technik will?“ Seine Stimme hatte jetzt etwas Lauerndes.

„Was dann?“

„Einen Gutschein mit unbeschränkter Haltbarkeit.“ Sein Lächeln konnte Eva nicht so Recht zuordnen. Sie schwankte zwischen einem Pokerspieler, der ein lausiges Paar Zweien kaschierte, einem Händler, der ein überteuertes Angebot versüßen wollte und einem Charmeur, der persönliches Interesse an ihr hegte.

„Deine Nähe zu den Cree ermöglicht da vielfältige Einsatzmöglichkeiten. Ich habe mich noch nicht entschieden, ob Technik, einen Gefallen oder vielleicht sogar nur einen Kuss. Das ist das Gute an einem Gutschein. Er ist auf die jeweilige Situation flexibel einsetzbar.“

„Ich kann mich auf keine Vereinbarung einlassen, deren Preis ich nicht kenne.“

„Dann wird sie sterben. Ich gebe zu es ist eine unangenehme Entscheidung für dich, aber das Leben ist voll solcher kniffligen Momente. Es liegt an dir.“ Jetzt war sein Gesichtsausdruck wieder der eines Pokerspielers. Es war nun an Eva den Einsatz zu bringen oder auszusteigen. Auch wenn sie theoretisch eine Wahl hatte, in der Praxis gab es nur eine Möglichkeit. Sie konnte nicht einmal den Preis drücken, denn das Leben ihrer Freundin war ein zu großes Handicap, dass er schamlos ausnutzte.

„Du bekommst deinen Gutschein, aber ich muss dich warnen. Es ist nicht sicher, dass ich die nächsten Wochen überlebe. Von daher könnte sich diese Vereinbarung für dich zu einem schlechten Geschäft entwickeln.“ Als Antwort bekam sie das Glas Rum hingeschoben, das der Wirt in großer Eile bereits vor ein paar Minuten serviert hatte.

„Dann hoffen wir beide, dass du überlebst.“ fügte er hinzu, bevor sie gemeinsam die Gläser leerten.

„Wie hast du es geschafft, die Anklage zu verhindern?“ fragte Eva jetzt etwas entspannter.

„Offenbar war deine Freundin nicht die Einzige am Tatort. Es wurden damals weitere DNA-Spuren sichergestellt. Eine Tatsache, die im offiziellen Bericht vergessen wurde zu erwähnen. Darauf hin sind sie etwas vorsichtiger geworden mit ihrer Präsentation der Täterin.“

„Da wären wir wieder bei der guten alten Erpressung. Und woher weißt du es?“

„Wenn irgendwo Mist passiert, lässt sich das nicht vollständig vertuschen. Ein gutes Netzwerk an Kontakten bringt mich genau an denjenigen, der mir die passende Information mehr oder weniger freiwillig zur Verfügung stellt.“

„Bin ich jetzt Teil dieses Netzwerkes geworden?“ fragte Eva vorsichtig.

„Vielleicht brauche ich einfach nur einen Grund den Kontakt zu halten.“ flirtete er unverblümt. Eva war sprachlos, denn die Schmeicheleien waren immer noch Neuland für sie und dementsprechend hatte sie kein Rezept, was sie darauf antworten sollte. Selbst wenn sie sich darüber im Klaren wäre, ob er sie nur manipuliert oder wahrhaftes Interesse an ihrer Person vorhanden war, hätte sie keine passenden Worte gefunden. Die Situation überforderte sie und trotz aller Versuche die Peinlichkeit des Versagens zu kaschieren, war ihr die Unsicherheit anzumerken.

„Ich habe einen Plan, wie wir deiner Freundin helfen können.“ rettete Alec die Situation, bevor Eva mit unbedachten Worten in ihr Verderben rennen konnte.

„Bevor wir nach Naskapy reisen, wird es einen Zwischenstopp auf Yuma geben. Zwanzig Stunden bleiben uns, um meinen Plan in die Tat umzusetzen. Ein sehr sportliches Zeitfenster.“ blieb Alec geheimnisvoll.

„Wie sieht dein Plan aus?“ fragte Eva neugierig, aber auch erleichtert, dass ihr Gespräch zu den praktischen Dingen zurückkehrte.

„Ich lege ungern die Karten so früh auf den Tisch. Wer weiß, was noch alles passieren kann. Wir treffen uns zwei Stunden vor der Abreise nach Naskapy wieder hier. Vielleicht stoßen wir dann ja schon auf eine gelungene Freilassung an.“ Er lächelte sie an und Eva gab sich jetzt vollends der Illusion hin, dass er sich einzig und allein auf das Wiedersehen mit ihr freute. Sie war jetzt der Sucht nach Anerkennung komplett verfallen. Dieser Mann verzauberte sie mit seiner offenen, intelligenten Art und seine Herangehensweise, die Dinge auch jenseits von Recht und Gesetz zu regeln, verliehen dem Gesamtpaket Alec das Erscheinungsbild eines liebenswerten Schurkens. Erst als er das „Hustler“ verlassen hatte, kam die warnende Eva wieder aus ihrer Deckung und brachte das nicht zu leugnende Argument einer gezielten Manipulation zaghaft wieder ins Spiel. Sollte die Sache gut ausgehen für Dina, könnte sie zum Spielball weit höherer Mächte werden. Es stand zu befürchten, dass ihre Nähe zu den Cree sie eines Tages vor unangenehme Entscheidungen stellen würde. Erpressung. Da war es wieder, dieses abscheuliche Wort, das schon so oft als Rechtfertigung für falsche Entschlüsse herhalten musste. Eines Tages würde auch Eva vor der Entscheidung zwischen ihren Prinzipien oder der Einhaltung des kürzlich getroffenen Paktes stehen. Eine hoffentlich noch ferne Zukunft und so ignorierte sie die düstere Prophezeiung, die ihr der rational denkende Teil ihres Ichs gerade vorgehalten hatte.

Eva wand sich gekonnt, als sie Zaja und Eric über den Verlauf des Treffens informierte. Es war ihr unangenehm über den vereinbarten Preis zu sprechen und so konstruierte sie die vergangenen Ereignisse in eine Richtung, die Balta als reumütigen von Zweifeln über seine Taten zersetzten Kameraden darstellte. Wenigstens Eric schluckte ihre Geschichte, aber bei Zaja hätte sogar hundertprozentiger Wahrheitsgehalt keinerlei Überzeugungskraft besessen, daher konnte sie schwer einschätzen, inwiefern ihr Konstrukt standhielt. Die wenigen Gegenfragen konterte sie souverän mit den eigenen Zweifeln über Alec und das schlechte Gewissen, das ausgesprochene Vertrauen von Zaja mit dem Verschweigen über ihre zukünftige Erpressbarkeit hinsichtlich der Cree zu missbrauchen, konnte sie erstaunlich gut ignorieren. Erfolgreich redete sie sich ein, dass der zukünftig eingeforderte Gefallen von Alec, eher mit ihrer eigenen Person zu tun haben würde. Zu sehr stand sie noch unter den Nachwirkungen von Alecs Zauber und daher hatten die kritischen Stimmen in ihrem Kopf wenig Einfluss auf ihre zwiespältigen Worte.

Zwanzig Stunden blieben bis zum Sprung nach Yuma. Zeit, die sie in ihrem neuen Refugium mit lesen verbrachte. Sie beendete „Paula“ und die letzten Seiten versetzten sie in eine Stimmung aus Trauer, Wut aber auch Hoffnung. Es waren zwiespältige Gefühle über die Ungerechtigkeit des Lebens, über den Mangel an Vorhersehbarkeit der Ereignisse, die den Masterplan in ungeahnter Weise beeinflussten, aber auch die Hoffnung, diese Wirren mit ungeahnter Stärke zu meistern. Die Intensität der niedergeschrieben Gefühle übermannte sie erneut. Geradlinigkeit war eine Illusion, denn das Leben steckte voller Kurven und Sackgassen. Es war an jedem selbst, sich so gut wie möglich auf die Unwegsamkeiten einzustellen, aber selbst der beste Kompass vermochte nicht die Launen des Schicksals zu umschiffen. In den ausweglosesten Situationen drohte das große Scheitern und auch wenn Katastrophen gerade in der heutigen Zeit nicht vollends zu vermeiden waren, galt es das Risiko dahin gehend zu minimieren. Wenn das Schiff des Lebens schon an einem Fels zu kentern drohte, war der unvermeidliche Untergang erträglicher mit der Gewissheit, dass der Kurs des Scheiterns nicht ausschließlich auf eigenem Unvermögen basierte. Eine Rechnung, die bei Eva bisher nicht aufging und von daher sah sie sich gezwungen, die kommenden Ereignisse statistisch wieder mehr in Richtung Erfolg zu rücken.

Zaja befand sich in einem meditativen Zustand, als Eva das Quartier betrat. Sie stand einfach nur da und hoffte auf eine selbstständige Unterbrechung, da aber keinerlei Anzeichen für die Rückkehr Zajas in die reale Welt zu erkennen war, versuchte sie mit einem diskreten Räuspern das notwendige Gespräch zu erzwingen. Als das nicht half, begann sie einfach drauf los zu reden.

„Ich habe dich belogen. Das tut mir Leid.“ Eva wusste nicht, ob es die beste Strategie war Zaja sofort mit den Tatsachen zu konfrontieren, aber bei ihr stellte sich unverzügliche Erleichterung ein, als sie die Worte aussprach.

„Es hängt mehr an dem Geschäft mit Alec, als ich zugegeben habe.“ Eva wartete auf eine Reaktion, aber an Zaja ließ sich nicht erkennen, ob sie die Worte überhaupt wahrnahm.

„Es könnte sein, dass ich gezwungen werde den Cree zu schaden.“ Endlich regte sich was bei Zaja.

„Wie?“ bewegten sich ausschließlich ihre Lippen.

„Das weiß ich nicht. Ich habe praktisch meine Seele mit unbekanntem Preis verkauft.“ versuchte sie sich ohne großen Mut in der Stimme zu erklären. Erst jetzt begann Zaja ihren Rückweg aus der Meditation. Sie stand auf, lockerte kurz ihre Gliedmaßen und stellte sich vor Eva, so dass sie keinen halben Meter mehr voneinander getrennt waren. Ihre identische Größe erlaubte einen Blick auf Augenhöhe, so dass keiner das Gefühl der Unterlegenheit auf Grund des Körperbaus zu fürchten brauchte. Trotzdem war Eva in der mental schwächeren Position.

„Verstehst du es jetzt?“ fragte Zaja und bekam als Antwort nur einen fragenden Blick.

„Ihr Menschen kennt nichts anderes, als für alles einen Gegenwert zu verlangen. Es ist eure Natur euch dadurch gegenseitig zu zerstören. Reaktion und Gegenreaktion. Am Ende steht das Chaos. Ihr werdet es nie lernen.“ erklärte Zaja mit ihrer gewohnten Herablassung.

„Es geht immerhin um ein Menschenleben.“ versuchte Eva sich zu rechtfertigen.

„Ihr seid alle Resultate dieser selbst zerstörerischen Einstellung geworden und nun hast du die Cree ebenfalls mit hinein gezogen. Aber ich habe nichts anderes erwartet. Du bist nur ein Mensch.“ Die letzten Worte sprach sie mit einem gewissen Bedauern aus.

„Wenn ihr glaubt, ihr Cree seid unfehlbar, seid ihr genauso blind wie ignorant für die Tatsachen. Ich habe euch kennen gelernt und glaub mir, ihr habt mehr menschliche Züge, als du dir selber eingestehen willst. Auch wenn ihr denkt mit Selbstbeherrschung euch selbst erheben zu können, muss ich dich enttäuschen. Ihr seid ein Teil von uns und ihr werdet auf die menschliche Natur zurückgreifen, wenn die Logik es verlangt.“ Es war nicht so, dass Eva sich dafür schämte ein Mensch zu sein, trotzdem taten ihr die Worte von Zaja weh und raubten ihr das kürzlich empfangene Selbstvertrauen. Sie sah keine andere Möglichkeit, als in die Offensive zu gehen und Zaja genau jene Wahrheit vorzuwerfen, die ihr gerade gnadenlos vorgehalten wurde. Ein halbherziger Versuch ihren kürzlich geschlossenen Pakt zu rechtfertigen. Als eindeutige Verliererin und mit ordentlich Wut im Bauch, verlies sie das Quartier, um ihren Frust nicht vor Zaja offenbaren zu müssen.

Sie lief planlos durch die weitläufigen Gänge des Habitatringes, um den Druck in ihrem Wutkessels langsam abzubauen. Ihre Gedanken überschlugen sich auf Grund der Fülle der Eindrücke der letzten Stunden. In ihrem Kopf herrschte Chaos. Eine enttäuschte Zaja konkurrierte um die Vorherrschaft mit einem Alec, der durch ihren hormonverseuchten Verstand schon allein jegliche Ordnung in ihren Gedanken verhinderte. Zu allem Überfluss verlangte auch die Sorge um Dina ihre Aufmerksamkeit, so dass Eva mental zu überdrehen drohte. Sie brauchte unbedingt einen Anker und zu ihrer Überraschung fand sie sich ausgerechnet bei Eric wieder.

„Ich…“ stammelte sie und der mentale Stress schien ihre Fähigkeit passende Worte aneinander zu reihen, lahm gelegt zu haben.

„Mir wird das alles zu viel.“ platzte sie doch noch heraus.

„Was denn?“ fragte ein sichtlich überforderter Eric. Eine Frau war im Begriff ihm eine emotionale Blöße zu offenbaren und er hatte keinerlei Erfahrungsschatz, um der Funktion als Frauenversteher auch nur halbwegs gewachsen zu sein.

„Alles. Sentry, Dina, Zaja. Ich kann das nicht. Es ist einfach zu viel Verantwortung. Ich bin der Geschichte einfach nicht gewachsen.“ Eric war zwar das Ziel dieser Worte, aber ihre Stimme hatte sich abgekoppelt von der restlichen Eva, die alle Mühe hatte mit der Wiederherstellung ihrer inneren Ordnung. Die gedankliche Kernschmelze hatte bereits eingesetzt und forderte ihre volle Aufmerksamkeit.

„Du packst das.“ versuchte es Eric zaghaft, ohne großen Erfolg sie aus der Überforderung zu befreien. Verlegen rang er nach den passenden Worten und als ihm bewusst wurde, dass kein Wortschatz der Welt ihm in dieser Situation weiterhelfen könnte, berührte er sanft ihre Wange. Dieser mutige Annäherungsversuch veranlasste Eva dazu wieder mehr Augenmerk auf ihre Umgebung zu verschwenden. Ihre überbelastete Seele hatte einen Ausweg gefunden die Vielzahl an Problemen nicht auf einmal lösen zu müssen. Ihre Blicke trafen sich und Evas Qual über die Last, die ihr das Schicksal aufgebürdet hatte, traf auf Erics Verlegenheit, die schon fast in Entschuldigung umschlug. Die Unsicherheit über den spontanen Vorstoß war ihm deutlich anzusehen.

„Ist schon in Ordnung.“ sagte sie sanft und legte ihren Kopf an seine Schulter. Eric verkrampfte.

„Ist schon in Ordnung.“ beruhigte sie ihn erneut und erreichte wenigstens eine teilweise Entspannung seines Körpers.

„Ist schon in Ordnung.“ sagte sie zum dritten nur dieses Mal sprach sie zu sich selbst. Sie genoss das Gefühl des fallenlassen und endlich hatte sie die Ordnung, die sie brauchte. Sie atmete tief durch und ihr Verstand wirkte aufgeräumter als noch vor ein paar Minuten. Ihre Probleme waren nicht verschwunden, aber sie hatte nun wieder die richtige Einstellung zu ihnen.

„Ich… Ich…“ Eric wirkte als müsste er was Wichtiges loswerden, aber was immer er auch an Worten von sich geben wollte, hätte Eva nur zusätzlich belastet.

„Psst.“ zischte sie ihn leise an und gab ihm einen sanften Kuss auf die Wange.

„Danke.“ war ihr letztes Wort und damit verließ sie Eric, der ihr verdattert hinterher schaute.

Eva steuerte zielstrebig auf die Polizeiwache zu, aber trotz aller Bemühungen wurde sie nicht zu Dina vorgelassen. Offenbar hatte Alecs Manöver einen unangenehmen Nebeneffekt, denn die Behörden waren trotz der Änderung ihres Status hin zur Zeugin nicht gewillt, sich weiter angreifbar zu machen. Also isolierten sie die Gefangene/Zeugin, damit der Fall für sie nicht weitere unangenehme Folgen nach sich zog. Für Eva eine unbefriedigende Situation, denn gerade in dem Moment, indem sie bereit war sich ihren Herausforderungen zu stellen, wurde sie zum Warten verdammt. Es blieb ihr nichts weiter übrig, als den Sprung nach Yuma abzuwarten und einem Unbekannten zu vertrauen, der sie im Gegenzug dafür zukünftig jederzeit erpressen konnte.

Der Sprung erzitterte die Station just in dem Moment, als der Countdown auf null umsprang. Keine zwei Sekunden war die Erschütterung zu spüren und es fiel Eva immer noch schwer zu glauben, dass sie in dieser Zeit mehrere Lichtjahre zurückgelegt hatten. Diese Vorfahrentechnologie war das Unglaublichste, was ihr auf der Reise quer durch die Galaxie begegnet war. Sie hatte viele Wunder gesehen, wie die unterirdische Stadt der Cree oder die Nanotechnologie, die Sentry die verrücktesten Fähigkeiten verlieh, aber diese Exsons waren unerreicht, was den technologischen Fortschritt der Vorfahren anging. Sie waren der Schlüssel zur Galaxie. Das Lebenselixier der Menschheit und wenn sie eines Tages auf Grund von Mangel an Ersatzteilen die intergalaktischen Beziehungen zum erliegen bringen würden, wäre es vermutlich der Todesstoß der Zivilisation. Im besten Fall würde Forschung wieder in den Mittelpunkt des Handelns rücken und da hätten die Cree einen entscheidenden Vorteil. Die Zeit würde kommen, in der sie auf Grund dieses Vorsprunges die Vorherrschaft in der Galaxie bekämen, da war sich Eva sicher.

Die Nullen auf der Anzeige waren verschwunden. Ein neuer Countdown war gestartet und der war deutlich kürzer. Gerade mal zwanzig Stunden blieben bis zum Sprung nach Naskapy. Wenig Zeit für Alec seinen Plan umzusetzen, aber zu viel Zeit für Eva, um auf das Ergebnis zu warten. Sie musste sich beschäftigen und da sie weder Zaja noch Eric sehen wollte, erkundete sie die Station auf eigene Faust. Sie beobachtete das geschäftige Treiben und mehr als ein Mal versetzte sie sich in Dinas Lage, die hier mehrere Jahre ihres Lebens verbrachte. Sicherlich keine schlechte Zeit, gerade im Vergleich zu Evas Leben auf Lassik. Die Menschen auf der Station waren deutlich sorgloser, was nicht nur allein auf das reichhaltige Nahrungsangebot zurückzuführen war. Durch die permanente Anwesenheit von Händlern gab es keinerlei Mangel. Essen, Kleidung, und Alkohol gab es in vielfältiger Auswahl und sogar Luxusgüter wie Schmuck fanden hier ihre Abnehmer. Für eine Tochter von Lassik wirkte dieser Ort nicht nur auf Grund von mangelndem Tageslicht unwirklich.

Eva saß bereits dreißig Minuten im spärlich besuchten „Hustler“ als der Countdown die letzten zwei Stunden zum Sprung anzeigte. Die Ungeduld trieb sie viel zu früh in die Bar und jetzt, wo die Zeit für das Treffen mit Alec ran war, hielt es sie kaum noch auf dem Hocker. Eric saß wieder an dem Tisch, keine zehn Meter entfernt. Pünktlich zur verabredeten Zeit hatte er das zweifelhafte Etablissement betreten und setzte sich ohne Begrüßung oder andere Worte der Aufmunterung. Es schien fast so, als hätte das letzte Treffen ihm genau die Stabilität geraubt, die Eva so dringend benötigt hatte. Ein schlechter Tausch für ihn, trotz der ersten Zärtlichkeiten zwischen ihnen oder vielleicht deswegen. Ihm wurde die Grenze aufgezeigt, die für alle Ewigkeit unüberwindbar schien. Seine Rolle in ihrem Leben war festgelegt und es gab keinerlei Anzeichen für eine tief greifende Veränderung dahingehend. Die Hoffnung auf mehr als einen guten Freund hatte sich nicht erfüllt und jetzt, da er mit dieser Gewissheit leben musste, veränderte sich auch die Beziehung zu Eva. Wie diese dann aussehen sollte, würde die Zukunft zeigen, aber die Temperatur zwischen den Beiden war deutlich abgesunken.

Weitere zwanzig Minuten vergingen, in denen in Eva erste Zweifel über den Erfolg wuchsen. Die Auswüchse über die Theorien des Scheiterns nahmen gerade fantasiereiche Dimensionen an, als Alec endlich in der Tür auftauchte. Sie machte keinen Hehl aus ihrer Freude ihn zu sehen, auch wenn sie sich einredete, dass diese Freude allein auf Erleichterung beruhte. Die schüchternde und Emotionen unterdrückende Eva aus den Zeiten des Tempels geriet mehr und mehr in Vergessenheit. Jeder Tag der verging beschleunigte die Abnabelung von dem düsteren Kapitel ihres Lebens.

„Wie sieht es aus?“ fragte sie ungeduldig und sprang von ihrem Hocker. Alec wartete bis er auf ihrer Höhe war, um dann mit ruhiger Stimme zu antworten.

„Wir haben auf der Yuma-Station das gefunden, was wir suchten.“ antwortete er bewusst ungenau.

„Was bedeutet denn das?“ Eva wollte sich nicht mit geheimnisvollen Andeutungen zufrieden geben.

„Folge mir zu Habitatring 1. Dort erfährst du Genaueres.“ Eva schluckte kurz. Die Angelegenheit entwickelte sich in eine Richtung, die so nicht geplant war. Das Publikum im „Hustler“ gab ihr Sicherheit. Dort oben im Habitatring war sie unbekannten Gefahren ausgesetzt.

„Keine Angst. Ich garantiere dir Sicherheit.“ Zur Untermauerung dieser Worte streckte er ihr seinen Ellenbogen entgegen und lächelte sie vertrauensvoll an. Eva zögerte mit dem Einhaken. Stattdessen fiel ihr Blick auf Eric, der immer noch krampfhaft Desinteresse vorheuchelte.

„Er kommt zu Recht. Vertrau mir.“

„Lass uns gehen.“ Eva ignorierte seinen Arm und zwängte sich an Alec vorbei. Ein letzter Blick zu Eric, der sie schmollend ignorierte, dann begab sie sich auf den Flur. Alec führte sie zum nächstgelegenen Lift nach oben und als sich die Türen nach einer kurzen Fahrt wieder öffneten, herrschte eine ungewohnte Stille. Habitatring 1 war wohl einer jener Bereiche, die von der Verwaltung teilweise stillgelegt wurden. Weder Menschen noch Technik waren hier oben zu erkennen. Nur blanke Metallwände, die ihre Stimmen widerhallen ließen.

„Was machen wir hier?“ Eva war es nicht gewohnt auf dem Exson in normaler Lautstärke zu sprechen. Fast immer galt es gegen einen Lärmpegel anzuschreien.

„Knapp hundert Meter in die Richtung und dann links. Da findest du deine Antwort.“ Zum ersten Mal hörte sie Alecs Stimme frei von Störeinflüssen und der tiefe Tonfall erzeugte ein angenehmes Echo. Sie folgte ihm den Gang entlang und die stickige Luft erschwerte das Atmen. Offenbar war die Verwaltung in diesem Bereich nicht an Frischluft interessiert und plötzlich machten die Warnungen in den Nachrichten Sinn, denn lange hielt es hier kein Mensch aus. Sie kamen vor einer Tür zum stehen und Evas Neugierde erreichte ihren Höhepunkt. Was sich auch immer auf der anderen Seite der Tür befand, es war wohl nicht geeignet für eine Präsentation im „Hustler“.

Alec öffnete die Tür und zu Evas Überraschung befanden sich drei Männer in dem dahinter liegenden Raum, der außer einem klapprigen Stuhl keinerlei Mobiliar aufwies. Dieser stand mittig und die Person die darauf saß, war mit Kabelbindern daran gefesselt. Ihr Blick fiel automatisch auf das Gesicht des Gefangenen, aber eine Sauerstoffmaske verhinderte die Erkennung bekannter Züge. Auch die anderen Beiden, offenbar Bewacher des armen Tropfes auf dem Stuhl, trugen die Atemhilfen. Sie hatten ihre Kapuzen über den Kopf gezogen, was den Effekt der Abschreckung wohl verstärken sollte.

„Wer ist das?“ fragte Eva, der es mittlerweile schwer fiel gleichmäßig zu atmen.

„Mein Teil der Vereinbarung. Kennst du ihn?“ Alec zog dem Gefangenen die Maske weg. Ein hageres, eingefallenes Gesicht kam zum Vorschein, das jedem hier auf der Station gehören konnte. Es war das durchschnittliche Antlitz eines Bewohners, das zu wenig Sonne gesehen hatte. Einzig und allein die Gelassenheit für diese Situation war atypisch. Offenbar war er Ärger gewohnt.

„Er ist der wahre Mörder?“

„Davon ist auszugehen. Er ist vor ein paar Wochen auf Yuma gestrandet. Die Behörden haben versucht ihn abzuschieben, aber erfolglos. Sein genetisches Profil passt zu einer der Proben, die damals unterschlagen wurden. Erzähl mal. Wie ist es damals wirklich abgelaufen?“ fragte Alec den Gefangenen.

„Fick dich.“ bekam er als Antwort.

„Ist mir eigentlich auch egal. Er wird den Platz deiner Freundin einnehmen. Vom Aussehen her ist er auch geeigneter für den Job.“

„Dieses rotblonde Miststück? Ich wusste die bringt nur Ärger. Es war ein Fehler, dass Red sie nicht getötet hat.“

„Red? Du kennst Red?“ fragte Eva überrascht.

„Dieser Scheißkerl hat mir die ganze Sache eingebrockt. Versprach mir irgendwas von scheiße viel Geld, scheiße viel Frauen und scheiße weiß ich noch was. Ich hätte den lausigen Job auf der „Diablo“ einfach weiter machen sollen, dann säße ich heute nicht hier. Tu mir einen Gefallen. Wenn du den Bastard triffst, jag ihm eine Kugel von mir in den Kopf.“

„Du bist Igor. Sentry hat mir von euch erzählt.“ Eva beging gerade einen Fehler, aber noch war es ihr nicht bewusst.

„Der Wunderknabe. Wie geht’s dem eigentlich? Habt ihr raus gefunden, was für scheiß Superkräfte er noch besitzt?“ Damit lenkte Igor das Gespräch auf ein Thema, dass Eva so nicht beabsichtigt hatte.

„Superkräfte? Erzähl mal weiter.“ hakte jetzt Alec ein. Igors Gesichtsausdruck änderte sich in einer Sekunde auf die andere von Resignation in Spott.

„Warum sollte ich?“

„Er hat Recht. Du weißt sicherlich mehr darüber.“ wandte sich Alec jetzt an Eva.

„Sinnloses Geschwafel eines Irren.“ versuchte sich Eva aus der Situation zu retten und hustete leicht.

„Vielleicht sollten wir das nicht hier bereden.“ Alec lächelte wissend über die halbherzige Ausrede und zeigte in seiner typisch theatralisch überzogenen Höflichkeit auf die Tür. Evas Erkenntnis über das Missgeschick, was ihr gerade passiert war, ließ sie kurz zögern. Was immer auch Alec mit ihr gleich bereden wollte, ihre Verhandlungsposition hatte sich deutlich verschlechtert. Verärgert über sich selbst und den begangenen Fehler, folgte sie ihm auf den kargen Flur. Wie konnte ihr das nur passieren? Ihre Gedanken überschlugen sich auf dem Weg zurück ins „Hustler“. Vielleicht gab es ja eine Möglichkeit die Situation zu retten, aber gegen Alecs selbstischere Art war nur schwer anzukommen. Ihr standen schwere Verhandlungen bevor und zum wiederholten Male musste sie ohne Hilfe klar kommen. Wieder hatte sie das Gefühl, das Universum mit all seinen Problemen drohte sie zu ersticken. Ihr Rucksack an Problemen wurde stetig voller. Es wurde dringend Zeit etwas Ballast abzuwerfen, aber dies ging vermutlich nur mit unangenehmen Entscheidungen und eine dieser Entscheidungen stand unmittelbar bevor.

„Ein unangenehmer Kerl. Findest du nicht?“ Alec hatte in guter alter Tradition wieder zwei Rum bestellt, als sie zurück im „Hustler“ waren. Die Gläser standen unangetastet vor ihnen.

„Lass uns zur Sache kommen.“ drängte Eva.

„Ich würde gern noch ein wenig plaudern. Erzähl mir mehr über diesen Sentry.“ Alec wirkte gelassen, als wolle er wirklich nur ein wenig Konversation betreiben.

„Ein Freund.“ sagte Eva kurz angebunden.

„Ich mag dich. Du kannst so schlecht lügen. Eine angenehme Eigenschaft, die heutzutage ziemlich selten geworden ist.“ Alec amüsierte sich offensichtlich über ihren vermeintlichen Vorzug. Er machte eine kurze Pause und fuhr dann fort.

„Gut beschleunigen wir die Sache. Es gibt zwei Möglichkeiten. Du erzählst mir, was es mit diesem Sentry auf sich hat und dann steht unserer Vereinbarung nichts mehr im Wege oder ich prügele die Wahrheit aus unserem Gast heraus und deine Freundin ereilt doch noch das Schicksal einer Gehängten. In der ersten Variante bleiben wir Freunde. Im anderen Falle allerdings, kann ich für nichts garantieren.“ Jetzt war der drohende Unterton in seiner Stimme unverkennbar.

„Du magst mich? Bis vor ein paar Sekunden beruhte das noch auf Gegenseitigkeit.“ erwiderte Eva trotzig und verschob damit die Wahl ihrer Möglichkeiten noch ein paar weitere Sekunden. Alec grinste sie über beide Ohren an. Ihm bereitete Evas Kontern sichtlich Vergnügen.

„Deswegen sollten wir Variante 1 bevorzugen. Die Alternative gefällt mir auch nicht.“

„Es gibt noch eine dritte Möglichkeit. Lass es einfach.“ Ihre Trotzigkeit hatte noch nicht an Intensität verloren.

„Ein Geheimnis. Das würde doch nur unsere Beziehung belasten.“ antwortete er frech.

„Wir haben keine Beziehung.“ rutschte es Eva viel zu schnell heraus.

„Aber ich plane vielleicht eine.“ Die Arroganz dieser Aussage wurde durch sein überdimensioniertes Selbstvertrauen kaschiert.

„Nie und nimmer.“ antwortete Eva kleinlaut.

„Verschieben wir solche Entscheidungen in die Zukunft. Heute sind andere Dinge wichtiger. Sentry.“ Alec schaffte es innerhalb eines Satzes von Flirten auf Geschäft umzuschalten.

„Nanotechnologie.“ rückte Eva gepresst mit der Wahrheit raus.

„Die Superkräfte sind einfach nur Nanotechnologie.“ erklärte sie gezwungenermaßen.

„Ich habe davon gehört. Was denn genau?“ Er hatte nichts Forderndes in der Stimme, als wäre es ein normales Gespräch unter Freunden.

„Selbstheilung.“ sagte sie kurz ohne weitere Erklärungen.

„Hoi. Praktisch Unsterblichkeit.“ Offenbar wusste er schon allein mit diesem Wort was dahinter steckte.

„Bleiben noch die genetischen Sperren und die Nervenreizung. Hat er beide?“ Eva nickte fast unerkennbar.

„Das volle Programm.“ Alecs Wissen über die Nanotechnologie beschränkte sich also auf die Entwicklungen der Vorfahren. Die weiterführende Technologie der Cree entzog sich seiner Kenntnis. Eva verspürte kein Verlangen ihn dahingehend aufzuklären.

„Wo ist dieser Sentry jetzt?“ fragte Alec mit einer gut eingestreuten Portion Sorge in seiner Stimme.

„Unerreichbar.“ blieb Eva wortkarg.

„Die Science.“ schlussfolgerte Alec selbstständig.

„Jetzt wird auch Baltas Rolle in der Angelegenheit klar. Er macht gute Geschäfte mit seinen alten Freunden. Danke für die Informationen.“ Alec erhob das Glas.

„In zwanzig Minuten wird deine Freundin durch diese Tür spazieren. Unser Geschäft ist besiegelt. Ich habe auch schon eine Vorstellung in welche Richtung ich meinen Gutschein einlöse. Lass uns anstoßen.“ sagte er freudig. Eva nahm das Glas und schüttete unter dem Missfallen des Wirtes den Inhalt quer über die Theke. Sie erhob sich von ihrem Hocker und steuerte auf den Ausgang zu, ohne einen einzigen Blick Richtung Alec zu verschwenden.

„Ich glaub sie mag mich trotzdem, sonst hätte sie mir das Zeug über den Kopf gegossen.“ hörte sie Alec in ihrem Rücken mit dem Wirt plaudern.

Eva war wütend. Keine harmlose Verärgerung oder gezügelter Zorn. Pure Wut, die keine genaue Adresse kannte. Das ursprüngliche Ziel mit Namen Alec wechselte schnell auf sie selbst. Sie war gezwungen Dinge zu tun, die sie nie wieder tun wollte. Verrat. Eine schlechte Angewohnheit aus einer scheinbar längst überwundenen Vergangenheit. Ein Irrglaube wie sich herausstellte und selbst die Notwendigkeit ein Leben damit zu retten, konnte nicht darüber hinwegtäuschen einen vermeidbaren Fehler begangen zu haben. Sie ging Alternativmöglichkeiten der letzten Stunde durch, aber ihre angestaute Wut verhinderte eine objektive Betrachtung. Erst als ihr ein Tod Dinas als bessere Möglichkeit vorgegaukelt wurde, sah sie die Aussichtlosigkeit ihrer Entscheidung ein. Das linderte ihre Wut in keiner Weise und so tigerte sie durch die Gänge des Habitatringes und jede noch so kleine Unachtsamkeit der Passanten diente als Ventil um den Pegel Stück für Stück runterzuschrauben. Sie machte erst halt mit ihren Ausbrüchen, als ein kleines Mädchen vor ihr stand, dass ihr einen selbst gebastelten Armreifen verkaufen wollte. Der Blick in die Kinderaugen verscheuchte den Teufel in ihr und nachdem sie voller Reue ein Stück erstanden hatte, erkannte sie die Unumstößlichkeit ihrer Entscheidung. Es wurde Zeit sich dem angenehmeren Teil ihres Verrates zu widmen.

Sie begab sich wieder zurück ins „Hustler“ um auf Dina zu warten. Die Bar verbreitete wieder diese bedrückende Atmosphäre, die nicht nur ausschließlich der Überfüllung durch Gäste geschuldet war. Die Klientel war zum größten Teil männlich und der Bildungsstand der meisten Anwesenden reichte gerade soweit, um die Getränke auf der Karte zwischen Bier und Hochprozentigem unterscheiden zu können. Es war laut und es gab mehrere Krisenherde, an denen der verbale Streit in handfeste Auseinandersetzung umzukippen drohte. Ein Kontrast zu den bisherigen Erfahrungen von Eva an diesem Ort. Offenbar war jetzt die Zeit für die nicht ganz so anspruchsvolle Bevölkerung des Exsons ihre Feiergelüste auszuleben.

„Hey Süße. Wie viel wüüürde mich ein Ritt auf der blonden Stuuute kosten?“ wurde Eva von der Seite angelallt. Ein ungepflegter Mittvierziger mit einer fettigen Haarpracht, die offenbar schon seit Wochen kein Shampoo mehr gesehen hatte. Schwankend stand er neben ihr.

„Unbezahlbar.“ zischte sie und unterschätzte die Akustik, denn offenbar nahm der Betrunkene ihre Aussage als die Demütigung wahr, die sie beabsichtigt hatte.

„Glaubst du ich bin nicht gut genug für solch eine Schlampe.“ kam es unerwartet flüssig zurück. Bevor die Lage eskalieren konnte, hörte Eva eine vertraute Stimme von links.

„Hey, such dir eine Andere. Das ist mein Mädel.“ Dina war jetzt an Evas Seite und ehe die ihre Freude vollends realisieren konnte, drückte Dina ihre Lippen auf ihre. Mit einem Schlag war alles unwichtig. Dieser betrunkene Penner, Alec mit seinem erzwungenen Verrat, Lassik mit seinen liegengelassen Problemen und selbst Sentrys Schicksal rückte in den Hintergrund. Eva genoss die unerwartete Dankesgeste und innerhalb kürzester Zeit bot sich damit zum zweiten Mal die Gelegenheit durch Intimität ihr mentales Oberstübchen aufzuräumen. Ein Punkt von der viel zu langen Liste der Sorgen, die sie zu erdrücken drohte, war damit abgehakt. Mehr noch. Sie hatte einen wesentlichen Stabilitätsfaktor zurückbekommen und das Wiedersehen bewies, wie sehr sie auf Dina angewiesen war. Die Dämmerung in ihrem Geist hatte sich deutlich aufgehellt.

„Nehmt euch doch ein Zimmer. Verdammte Lesben.“ lallte der ungewaschene Freier enttäuscht und schwankte Richtung Toilette.

„Wow.“ entfuhr es Eva, als Dina langsam ihre Lippen löste.

„Ein nutzloses Talent. Küssen.“ Dina strahlte über das ganze Gesicht und Eva war sich unsicher, ob die neu gewonnene Freiheit oder der Kuss der Grund war.

„Küssen ist nicht nutzlos.“ stammelte Eva immer noch überwältigt von ihren Emotionen.

„Danke. Wieder mal. Wie oft hast du mich jetzt schon gerettet?“

„Viermal. Aber ich zähl nicht mit.“ Beide grinsten sich immer noch an.

„Dann wird es Zeit, dass ich dir einen ausgebe. Aber nicht hier.“ Dina wollte offensichtlich nicht Gast ihrer alten Wirkungsstätte sein.

„Willst du deinen Kollegen nicht hallo sagen?“ fragte Eva.

„Nein. Am Ende weisen die mich noch für die Schicht ein. Außerdem steht dieser Ort für die alte und von Rache getriebene Dina. Mit diesem Kapitel habe ich endgültig abgeschlossen. Lass uns gehen. Es gibt auf Ring 3 ein Lokal, da servieren sie den besten Rum auf der Station.“ Sie hatte sichtlich gute Laune.

„Lass uns was Anderes trinken. Ich erzähle dir was inzwischen passiert ist. Du wirst es nicht glauben, aber Balta hat von sich hören lassen.“

„Dieser Mistkerl. Vor ein paar Wochen wäre der noch weit oben auf meiner Racheliste gelandet.“

Sichtlich erleichtert das von Testosteron überflutete „Hustler“ endlich verlassen zu können, folgte Eva ihrer Freundin zum nächstgelegenen Lift. Sie stand immer noch unter dem Einfluss des Kusses und die Ausschüttung von Glückshormonen, die sie nun schon das zweite Mal in Gegenwart von Dina genießen durfte, ließ sie an ihrer sexuellen Ausrichtung zweifeln. Bisher war sie sich hundertprozentig sicher keinerlei Empfinden für das eigene Geschlecht zu besitzen und die verwirrenden Gefühle in Richtung Sentry oder Alec bestätigten diese scheinbar unumstößliche Tatsache. Es konnte doch nicht allein an Dinas überragenden Fähigkeiten liegen einen Kuss zu perfektionieren. Sie musste sich eingestehen in jeglicher Hinsicht, ob nun gleichgeschlechtlich oder nicht, emotionale Defizite zu  besitzen. Die Erfahrungen in dieser Richtung waren nicht reichhaltig genug, um ein klares Fazit über ihre Neigung zu bekommen. Ein vernachlässigter Teil ihrer Persönlichkeit, der bisher keinerlei Prioritäten in ihrem Leben hatte. Auch jetzt war nicht der Zeitpunkt, um sich dieser Nebensächlichkeit zu widmen, also schob sie ihre widersprüchlichen Gedanken in die hinterste Ecke ihres Verstandes und konzentrierte sich auf die anliegenden Probleme, die allein auf Grund ihrer Fülle schon für drei Leben reichten.

Dinas Bedürfnis an Kommunikation hatte sich durch den Mangel an geeigneten Gesprächspartnern der letzten Tage auf ein Maximum angestaut. Sie plapperte einfach drauf los, als sie sich an einem der Tische eines der besseren Restaurants auf Ebene 3 niederließen. Ihre Erfahrungen im Gefängnis gingen schnell über in Anekdoten aus ihrer Vergangenheit und diese dann wiederum in kleine Sticheleien gegenüber Eric oder Zaja. Dieses offene Redebedürfnis verdeutlichte Dinas veränderte Einstellung von dem verschlossenen, sarkastischen und Männer hassenden Mädchen hin zu einer gelassenen und weniger getriebenen Frau. Eva gönnte ihr die halbe Stunde Redeschwall aus vollem Herzen und genoss einfach ihre Anwesenheit. Sie hätten auch schweigend ihre Mahlzeit, Früchte, die in Gewächshäusern irgendwo innerhalb dieser Station angebaut wurden, einnehmen können, es hätte keinen Unterschied gemacht. Allein ihre Nähe gab ihr mehr Kraft zurück, als sämtliche Bücher dieser Welt im Stande gewesen wären und so sog sie sich voll mit jeder Menge Dina-Energie für die bevorstehenden Ereignisse, die an Unannehmlichkeiten einiges zu erwarten hatten. Nach einer halben Stunde unverfänglichem Gerede klärte Eva ihre Freundin über die Einzelheiten ihrer Freilassung auf und der Übergang zu den Realitäten ihrer Reise ließ die entspannte Stimmung umschlagen in graue Tristesse.

„Wir werden Sentry da raus bekommen.“ versuchte Dina die getrübte Stimmung wieder etwas aufzuheitern.

„Weder Cree noch Science noch irgendwelche geheimnisvollen Alecs werden uns daran hindern. Wir hauen ihn da raus und dann könnt ihr euch gemeinsam irgendwo in der Galaxie niederlassen, ein Haus bauen und jede Menge rotzfreche Kinder zeugen.“ grinste Dina über das rot angelaufene Gesicht von Eva, die peinlich berührt keine Worte fand.

„Glücklich sein. Darum geht’s. Wenn er das nicht erkennt, dass ihr beide für einander geschaffen seid, dann werde ich ihm das schon irgendwie beibringen.“ legte Dina noch nach.

„Und was ist mit dir?“ fragte Eva verlegen, um das Thema zu wechseln.

„Ich stehe erst am Anfang meiner Reise. Das Ziel ist noch unbekannt, aber es wird sich schon was finden.“ Eine leichte Erschütterung erfasste das Exson und wirkte damit unfreiwillig als Aufbruchsignal.

„Wir packen das.“ waren Dinas letzte Worte und gemeinsam machten sie sich auf den Weg zu ihrem Quartier.

Eine gewisse Hektik war jederzeit in den Gängen der einzelnen Habitatringe vorhanden, aber kurz nach einem Sprung nahm die Dynamik der Vorbeieilenden dramatisch zu. Die Ankunft an einem neuen Ziel setzte eine Lawine frei, die vergleichbar war mit einem Dammbruch. Obwohl der Aufenthalt für mehrere Tage vorgesehen war, wollte so ziemlich jeder der Reisenden seine Angelegenheiten in den ersten Stunden erledigen. Die entspannte Atmosphäre, die durch die lange Wartezeit auf den Sprung entstanden war, schlug unmittelbar in geschäftiges Treiben um. Lange Schlangen an den Kommunikationsterminals, überfüllte Fähren nach Naskapy, aber auch leere Läden veränderten den Eindruck eines geregelten Ablaufes der Dinge. Für die nächsten Stunden traten Arbeit, Geschäfte und Verpflichtungen in den Vordergrund. Dina kannte den Rhythmus und wusste auch, das diese neue Hektik nach und nach wieder abebben würde, bis zum erneuten Sprung der den Kreislauf am Leben erhält.

„Was jetzt?“ fragte Dina, als sie in ihrem Quartier auf Zaja und Eric trafen, die bereits ihre Habseligkeiten in den Taschen verstaut hatten.

„Schön, dass du wieder da bist.“ ließ sich Zaja zur Begrüßung hinreißen.

„Ja. Finde ich auch.“ murmelte Eric verlegen.

„Danke für den begeisternden Empfang.“ entgegnete Dina gut gelaunt.

„Ohne Willkommenskuss läuft das deutlich ruhiger ab.“ murmelte Eric fast unhörbar vor sich hin.

„Oh. Da hat uns wohl jemand heimlich beobachtet. Hat dir unsere Vorstellung gefallen?“ feixte Dina. Nach drei Tagen Entzug konnte sie endlich wieder einer ihrer Lieblingsbeschäftigungen nachgehen. Eric wandte sich verlegen ab.

„Es wird ernst.“ brachte Zaja das Thema wieder auf das Wesentliche. Ihr Blick fiel auf ihr Armband, so als wolle sie sich vergewissern, dass die Energieanzeige weiterhin auf voll stand. Knappe drei Tage hielt der Vorrat, dann musste es aufgeladen werden. Sie besaß ein zweites Band als Wechselteil, also durfte sie nicht länger als 6 Tage von einer Energiequelle getrennt sein.

„Der Transport zur Science wird in einer halben Stunde anlegen. Wir sind als zukünftiges Personal vorgesehen. Unser Kontaktmann vor Ort hat alles Notwendige arrangiert.“ Zaja konnte ihre Aufregung nicht vollständig verbergen.

„Tatsächlich. Was ist den unsere Aufgabe? Toiletten putzen?“ fragte Eric. Wie immer konnte er seine Nervosität nicht zurückhalten und fing an schlechte Stimmung zu verbreiten.

„Wenn es notwendig ist. Ja.“ machte Zaja den Fehler auf seine Bemerkung einzugehen.

„Ich steig aus.“ platzte es aus ihm heraus. Der Grund war nicht ausschließlich die niedere Arbeit die ihm drohte. Spionage war schon für Profis eine heikle Angelegenheit und für naive Quereinsteiger wie Eric war die Gefahr aufzufliegen dementsprechend hoch. Eva versuchte ihn zu beruhigen, aber seine abweisende Haltung ihr gegenüber verhinderte dieses Mal den Erfolg. Erst ein paar drohende Worte von Zaja stimmten ihn doch noch um. Er war eindeutig ein Unsicherheitsfaktor in der geplanten Infiltrierung ihres Feindes und Zaja überlegte kurz seinen Rückzug zu akzeptieren, aber seine technischen Fähigkeiten waren ein unschätzbarer Vorteil, gerade im Hinblick auf die Unterdrückung ihrer Nanobots. So machten sie sich zu viert auf den Weg zur Luftschleuse, an dem bereits ein Schiff mit Überlichtantrieb auf sie wartete.

„Schön, dass die Damen doch noch kommen.“ wurden sie von einem Mann herablassend begrüßt, dessen Kleidungsstil Eva an die neuste Mode im Obdachlosen-Viertel von Lassik erinnerte. Das zerschlissene Äußere passte perfekt zu dem ungewaschenen Eindruck, der sich förmlich in die Nase drängte. Offenbar verleitete die wochenlange Isolation während eines Überlichtfluges zur Vernachlässigung des äußerlichen Erscheinungsbildes.

„Wir sind pünktlich.“ erwiderte Zaja die Kritik wahrheitsgemäß, aber ihr Gegenüber hatte sich bereits in seine eigene Version der Verspätung verbissen.

„Oh. Da hat wohl jemand ein falsches Empfinden für Zeit.“ ließ er es sich nicht nehmen, den Neuankömmlingen zu zeigen, dass seine Wahrheit die einzige ist, die akzeptiert wurde.

„Besser als ein falsches Empfinden für Hygiene.“ erwiderte Dina und versetzte den Unbekannten in verblüfftes Zögern. Ursprünglich wollte er die fast ausschließlich weibliche Gruppe von der Überlegenheit seines Geschlechtes überzeugen, aber mit dieser Anspielung kam er ordentlich ins Schlingern. Das Talent mit den ersten Worten anzuecken, hatte auch die neue Dina nicht eingebüßt.

„Ähem.“ stammelte er.

„Reinkommen.“ war das einzige Wort, was er noch hervor brachte. Die Gruppe zwängte sich an ihm vorbei durch die Luftschleuse in das Innere des Schiffes, das ihnen sogleich bekannt vorkam. Ein Abziehbild der „perinola“ und die Erinnerung an die Enge, die in den vier Wochen auf dem Weg nach Cree für einige Spannungen gesorgt hatte, drängte sich sofort in das Bewusstsein der Anwesenden.  

„Wie lange wird denn unser Flug dauern?“ fragte Eric ängstlich, wobei nicht ersichtlich war, ob seine Angst auf die Enttarnung als Spion oder den Überfluss an weiblicher Gesellschaft beruhte.

„Drei Tage. Die werdet ihr wohl durchhalten.“ Die Gruppe wurde in den Aufenthaltsraum geführt, der sich im Aussehen kaum von dem auf der „Perinola“ unterschied. Ein Dejavu der unheimlichen Sorte und für einen Moment war sich Eva sicher, Gerda hinter der nächsten Tür vorzufinden. Bedauerlicherweise waren sämtliche Anwesenden unbekannt. Am großen Tisch in der Mitte saßen bereits vier Mitreisende, von denen drei ähnlich eingeschüchtert wirkten wie Eric.

„Gut. Dann sind wir ja vollständig.“ Ein kleiner kahlköpfiger Mann am Kopf des Tisches forderte die Gruppe mit einer Geste auf sich zu setzen.

„Mein Name ist Taye. Ich bin Verwaltungsbeamter für eine Organisation, die sie alle gut kennen. Meine Aufgabe ist es den reibungslosen Ablauf im Hintergrund zu koordinieren. Öffentliche Verwaltung wie Instandhaltung oder Reinigung ist mein Gebiet. Gelegentlich brauchen wir dafür frisches Personal und genau aus diesem Grund sind sie hier. Sie alle wurden empfohlen von guten Kontakten der Organisation.“ Taye schob der Frau rechts von sich ein Pad zu.

„Daumen drauf. Namen eingeben und dann weiterreichen. Sie werden während der Reise zu ihren einzelnen Fähigkeiten von mir befragt. Bei Ankunft wird dann entschieden, ob sie geeignet für eine Tätigkeit bei uns sind und wenn ja für welche. Dann geht es entweder zurück oder sie starten ihre Einarbeitungsphase.“ Taye klang, als hätte er diese Worte schon tausend Mal vorher von sich gegeben.

„Noch Fragen?“ Die erwartete er nicht wirklich, denn bisher gab es die noch nie.

„Gut, dann beginnen wir mit Ihnen.“ Taye deutete auf die Frau links neben ihm.

„Marle.“ sagte sie schüchtern.

„Marle. Schön.“ Der Name schien ihn nicht wirklich zu interessieren. Er drückte einen eingelassenen Knopf im Tisch, den Eva als Kommunikation zur Brücke in Erinnerung hatte.

„Kommandant. Würden Sie jetzt unsere Gäste mit dem Schiff vertraut machen?“ Die Frage klang eher nach einer Anweisung, die keinen Widerspruch duldete.

„Nur wenn Sie mich nett darum bitten.“ kam es schelmisch aus dem Lautsprecher zurück. Taye schluckte und sein finsterer Gesichtsausdruck wurde verstärkt durch eine Zornesfalte auf seiner Stirn.

„Würden Sie bitte unseren Gästen das Schiff zeigen.“ Seine Beherrschung war am äußersten Limit und das Wort „bitte“ klang als hätte er es zum ersten Mal in seinem Leben ausgesprochen.

„Gerne doch. Bin gleich unten.“ Ein kurzes Knacken in der Leitung beendete die Konservation. Taye kämpfte immer noch mit seiner Fassung und als das Schiff beim abdocken erschüttert wurde, hätte keiner der Anwesenden eine Wette auf den Erhalt der Selbstkontrolle platziert, aber gegen alle Befürchtungen bleib er ruhig und als der Kommandant in der Tür zum Aufenthaltsraum erschien, hatte Eva doch noch ihr bekanntes Gesicht.   

Kapitel 15

Die erste Hürde würde sich also schon auf dem Transport ergeben. Ein Bewerbungsgespräch, das gerade für Eric eher den Charme eines Verhörs haben würde. Dabei war er noch derjenige, mit den brauchbarsten Fähigkeiten. Die Verunsicherung in der Gruppe war dementsprechend groß, dass alle den schmächtigen kleinen Beamten davon überzeugen konnten, als zukünftiges Personal der Science produktiv zum Erfolg der Organisation beitragen zu können. Eine Nachfrage bei Zaja, ob genug Jetons den Besitzer gewechselt hätten, um die Meinung hinsichtlich der Eignung positiv zu beeinflussen, beantwortete sie mit einem kurzen Schulterzucken. Sie war nie als aktiver Teil dieser Rettungsmission vorgesehen und von daher war ihr Wissen über die Vorgänge ähnlich begrenzt, wie bei den anderen Gruppenmitgliedern. Eigentlich keine gute Vorraussetzung für einen Erfolg, aber die Cree waren wohl der Meinung, dass weniger Kenntnisse der einzelnen Personen über den Plan eine höhere Wahrscheinlichkeit zum Gelingen hervorbrachte. Der Eindruck unwissend in ein Abenteuer mit unbekanntem Ausgang zu stürzen, beunruhigte jeden Einzelnen auf seine eigene Art und Weise. Ein Problem, dass noch verschärft wurde durch ein unerwartetes Wiedersehen.

Evas Magen verwandelte sich in Blei, als sie Alecs spitzbübisches Gesicht erblickte. Das er der Kommandant des Transporters mit dem wohlklingenden Namen „Misteriosa“ war, konnte sie nur schwer als Zufall abtun. Ähnlich wie bei Balta, waren die Zusammenhänge wohl weitaus komplexer, als sie auf den ersten Blick schienen. Sie waren wieder mitten drin im Intrigenspiel unterschiedlicher Interessengruppen und da es in der Vergangenheit schon zu Schmerz bringenden Begleiterscheinungen führte, war auch hier ein hohes Maß an Vorsicht angebracht. Wie Bauern in einem intergalaktischen Schachspiel, konnten sie jederzeit geopfert werden. Eine Metapher, die Eva gar nicht gefiel.

„Verdammt. Was macht der denn hier?“ Erics Panik hatte jetzt eine Vielzahl an Möglichkeiten. Neben der Furcht als Spion enttarnt zu werden und dem Versagen beim Vorstellungsgespräch, gab es nun zu seinem Leidwesen auch noch den ungeliebten Nebenbuhler.

„Das ist Alec?“ fragte Dina. Sie waren jetzt im Quartier unter sich und die Gelegenheit für eine Abwägung ihrer Situation war günstig.

„Die Sache läuft nicht wie geplant.“ stellte Zaja nüchtern fest.

„Gab es denn je einen Plan? Wenn ja, hat den uns keiner erklärt. Ich habe das Gefühl wir stürzen hier blind in unser Verderben.“ Dina war sichtlich verärgert.

„Er weiß von Sentry und seinen Fähigkeiten.“ brachte Eva ihren Teil zur Verunsicherung mit ein.

„Was? Wir sind verloren.“ Eric war jetzt im dunkelroten Bereich seines Stresspegels.

„Ich wusste nicht, dass er etwas mit der Science zu tun hat. Es ging um dein Leben.“ Eva sah jetzt Dina entschuldigend an.

„Ich bin die Letzte, die dir da Vorwürfe machen wird. Weiß er noch mehr?“ Eva schaute schuldbewusst zu Boden.

„Er kennt unsere Nähe zu den Cree.“ gab sie kleinlaut zu und Eric verstummte hinsichtlich der Überlastung durch Panik.

„Damit haben wir praktisch blank gezogen vor ihm.“ Dina flüchtete sich in Sarkasmus und verarbeitete damit auf ihre eigene Art die unbekannte Ausgangslage. Sie stand damit im Gegensatz zu Zajas unnatürlicher Ruhe und Evas offensichtlicher Scham. Erics Schock über die Entwicklung der Ereignisse komplettierte das Gemisch an vorherrschenden Gefühlen.

„Wir laufen also ins offene Messer?“ presste er hervor.

„Eine gute Frage, die uns nur einer beantworten kann.“ Alle Blicke ruhten nun auf Eva, die irritiert, die von Zaja hervorgebrachte Bemerkung nicht einzuordnen wusste.

„Wir werden zu zweit mit ihm reden. Immerhin muss ich mich ja noch bei ihm bedanken.“ erklärte es ihr Dina und entfernte damit ein paar Hinkelsteine von Evas Schultern.

„Wir gehen zu dritt.“ überraschte Zaja die Gruppe.

„Volle Power. Dann bleibt Bosley vor dem Lautsprecher und wartet auf Anweisungen.“ grinste Dina Richtung Eric und erntete nur fragende Gesichter auf Grund mangelnder Filmbildung. Für Eva stellte sich die ungeahnte Hilfestellung als zusätzliche Motivationsspritze da. Zajas Unterstützung kam zum richtigen Zeitpunkt, da die Last der Verantwortung ein untragbares Gewicht annahm. Es war gut im Notfall einen zweiten Anker neben Dina zu besitzen, auch wenn sie sich über die Motive der unerwarteten Schützenhilfe nicht im Klaren war.

Wenige Minuten später standen sie zu dritt vor der Kabine des Kommandanten und es war an Eva zaghaft an die Tür zu klopfen.

„Volle Power war unser Motto.“ kommentierte Dina das kaum zu vernehmende metallische Geräusch und pochte mit der ihrer Meinung nach angebrachten Energie an die Tür von Alec. Nach einer freundlichen Aufforderung den Raum zu betreten, trat eine nach der anderen durch die Tür. Der Vergleich zu Gerdas privaten Rückzug auf der „perinola“ drängte sich unweigerlich auf und das trotz der wenigen Gemeinsamkeiten in der Einrichtung. Hier war alles auf das Notwendigste beschränkt. Jeder Gegenstand schien einen praktischen Zweck zu besitzen und so sehr sich Eva auch bemühte etwas zwischen den mit Elektronikschrott verstopften Regalen, den offenen Schränken voller Kleidung und dem viel zu großen nicht gemachten Bett zu entdecken, was einen rein dekorativen Sinn erfüllen könnte, sie wurde nicht fündig. Dieser Raum war das männliche Gegenstück zu Gerdas persönlicher Wohlfühloase auf der „perinola“ und schrie förmlich nach einem weiblichen Einfluss auf Veränderung oder zu mindestens nach einem Minimum an Ordnung.

„Gefällt dir mein Reich?“ kommentierte Alec das offensichtliche Interesse von Eva.

„Ich habe das Ganze schon mal gemütlicher gesehen.“ antwortete sie frech. Sie wollte mit möglichst viel Selbstvertrauen in das unausweichliche Gespräch starten.

„Der Raum erfüllt seinen Zweck. Ihr seid sicherlich nicht hier, um mit mir Einrichtungsideen zu diskutieren.“ Alec zeigte mit seiner typisch übertriebenen Höflichkeit auf die Stühle an einem kleinen Tisch gegenüber der Eingangstür und bot allen etwas zu trinken an, was jedoch einvernehmlich ausgeschlagen wurde.

„Schön dich mal persönlich kennen zulernen.“ begrüßte er Dina überzogen höflich. Die hielt sich vorerst zurück mit den üblichen Bemerkungen, die sein Gehabe förmlich provozierte.

„Und du bist von Cree. Interessant. Habe lange keinen mehr von euch getroffen. Ihr seid eurem Stil von jung und attraktiv treu geblieben. Sicherlich nicht ohne die Hilfe eurer kleinen Helfer.“ Alec garnierte die Worte mit seinem antrainierten Charme.

„Was willst du?“ platzte Eva viel zu impulsiv heraus. Ein Gefühlsausbruch, den sie so nicht beabsichtigt hatte.

„Zuerst einmal eine Theorie überprüfen.“ antwortete er sanft und entschärfte damit die unnötig entstandene Spannung.

„Berichtigt mich, wenn ich falsch liege. Ich habe mich gefragt, warum sich eine Cree auf den gefährlichen Weg zu ihrem erklärten Todfeind macht? Den Cree ist eigentlich nur eins wichtig. Andere Cree. Trotzdem ein ziemlicher Akt der Verzweifelung, also musste noch mehr dahinter stecken. Ich habe nachgeforscht. Eure ganze Reise ist arrangiert. Unabhängig was der Clown dort drin zu eurer Qualifikation sagt, am Ende landet ihr als Personalverstärkung auf einem Begleitschiff mit dem Namen „violenta“. Was gibt es also auf einem Schiff, was hauptsächlich Straftäter beherbergt?“ Alec machte eine kurze Pause um den Spannungsbogen zu steigern.

„Da warst du so freundlich mir in der Sache weiterzuhelfen. Sentry der Cree wird also da festgehalten. Er ist eure Mission. Offensichtlich besitzt er Informationen, die die Cree veranlasst hat euch auf dieses Himmelfahrtskommando zu schicken.“ Sein Tonfall war immer noch freundlich, obwohl der negative Teil seiner Erläuterungen bereits zu erahnen waren.

„Wir werden keine Geheimnisse der Cree preisgeben.“ warf eine entschlossene Zaja ein.

„Oh. Ihr missversteht mich. Das würde ich nie von euch verlangen. Obwohl der Wert natürlich einen gewissen Reiz hat. Ich will einfach nur meinen Gutschein einlösen und die Gelegenheit könnte günstiger nicht sein.“

„Ich nehme an, mit einem Kuss komme ich nicht davon.“ Eva war jetzt gespannt, was da auf sie zukam.

„Ich hoffe trotzdem weiter darauf. Aber was ist ein Kuss schon wert, wenn er nicht freiwillig ist.“ Alec machte eine kurze Pause und blieb mit seinem Blick an Evas Lippen hängen.

„Der Gutschein.“ zwang er sich zurück ins Geschäftliche.

„Es gibt noch einen weiteren interessanten Insassen auf der „violenta“. Ich wäre sehr an seinem Ableben interessiert.“ sagte Alec kurz und trocken.

„Auftragsmord?“ fragte Dina ungläubig.

„Mir ist egal, ob ihr es selber macht, jemanden dafür findet oder ob er in der Dusche ausrutscht und sich den Kopf einschlägt. Wichtig ist nur das Ergebnis.“ Seine Stimme ließ jetzt jeglichen Charme vermissen. Dafür lag mehr Heimtücke in seinen Worten.

„Was hat er getan? Deine Ganovenehre beschmutzt?“ fragte Dina schnippisch.

„Der Grund ist unwichtig. Ich will nur das Balta stirbt.“ erwiderte Alec gelassen.

„Balta?“ jetzt war Dina verblüfft.

„Ach ja. Ich war so frei euren Plan etwas abzuändern. Ihr werdet wie geplant eure Stelle auf der „violenta“ antreten und dann könnt ihr das mit Sentry machen, was ihr vorhabt. Nur eure Abreisemodalitäten sind etwas geändert worden. Ihr habt das Privileg auf meinem Schiff die Science wieder zu verlassen. Immer unter der Vorraussetzung, dass meine Bitte zu vollsten Zufriedenheit erledigt wurde.“ Jetzt, wo die Katze aus dem Sack war, musterte er seinen Besuch abwechselnd auf die Reaktion seiner Forderung. Während Zaja höchstens etwas Erleichterung erkennen ließ, immerhin verlangte er nichts was den Cree schaden könnte, waren bei Eva und Dina Misstrauen und Abscheu vorherrschend.

„Ich weiß, dass die ganze Sache sehr unangenehm für euch ist, aber am Ende bleibt euch keine Wahl. Ich biete euch meine Unterstützung an und die hat nun mal ihren Preis.“ versuchte er die eigentliche Erpressung schön zu verpacken.

„Als hätten wir darum gebeten.“ konterte Dina zynisch und nahm damit Eva die Worte aus dem Mund.

„Habe ich nicht schon bewiesen, dass ich meinen Teil der Abmachung einhalte. Seht mich als verlässlichen Partner in einem gefährlichen Vorhaben.“ verteidigte er sich galant und eine Spur zu einschmeichelnd.

„Du kannst die Sache drehen wie du willst, aber es bleibt was es ist. Erpressung. Wir sind gezwungen darauf einzugehen. Worauf wir aber verzichten können, ist diese Masche von einem charmanten Schurken, der den armen, hilfebedürftigen Frauen zur Hilfe eilt. Pures Macho-Gehabe, dass vermutlich irgendwelche Körperteillängen kompensiert. Vielleicht redest du dir ja die ganze Sache auch einfach nur selber schön, damit du dich dieser lausigen Geschichte nicht bewusst stellen musst. Es ist eigentlich egal. Verschone uns einfach mit diesem „Ich bin doch euer Freund“ Getue.“ Dina hatte jetzt diesen eiskalten, herablassenden Tonfall, mit dem sie schon vor Arroganz triefende Leute wie Kain in ihrer Selbstherrlichkeit erschüttert hatte. Eva erkannte so etwas wie Unsicherheit in Alecs Gesichtszügen. Nur ein Bruchteil einer Sekunde vielleicht. Aber schon allein dieser Augenblick schmälerte die Enttäuschung. Sie beneidete ihre Freundin um dieses Talent. Es verlieh ihr eine ungeheure Stärke.

„Schade, dass ihr das so seht.“ erwiderte er mit scheinbar ungebrochenem Selbstvertrauen, aber unter dem Einfluss von Dinas letzten Worten, wirkte dieses nur aufgesetzt. Es gab nichts mehr zu sagen und so ließen sie ihn düpiert allein in seinem Quartier zurück. Auch wenn sie in dieser erzwungenen Vereinbarung am Ende als Verlierer da standen, war es der Triumph des Augenblickes, der sie für einen Moment zum Gewinner machte. Leider hielt dieses Gefühl des Sieges nur bis zu ihrem eigenen Quartier, denn die anschließenden Diskussionen zeigten ihnen die neuen Schwachstellen gnadenlos auf. Sie waren Alec auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Ein Tanz auf einem Minenfeld lag vor ihnen und zu ihrem Unglück gab es jemanden, der die Ladungen auf Knopfdruck zünden konnte, sollten sie nicht nach seinem Takt agieren. Eva war endgültig zurück im Haifischbecken der interstellaren Intrigen und zu ihrem Glück verschonte sie Zaja mit einer weiteren Predigt über die Verkommenheit der menschlichen Rasse, denn dieses Mal wären ihre Gegenargumente ziemlich spärlich gewesen. Die eigentliche Aufforderung zum Mord ließe ihr wenig Raum für eine Rechtfertigung der menschlichen Existenz und obwohl die Diskussionen über die weitere Vorgehensweise ziemlich hitzig verliefen, gab es genau bei diesem Punkt keinerlei Abweichung bei ihren Standpunkten. Balta und sein Verrat waren der Ursprung für dieses Dilemma, in dem sie steckten und nun bot sich ausgerechnet sein Tod als einzige Lösung an. Eine Lösung, die für alle trotzdem inakzeptabel war. Eine Diskussion über alternative Auswege kam nie über den Status wilder Spekulationen hinaus und so musste sich die Gruppe eingestehen dem Kommenden ziemlich planlos entgegen zu steuern.

Die Tage bis zur Ankunft vergingen erfreulicherweise schnell. Das eigentliche Gespräch mit Taye, dem schmächtigen Beamten der Science, verkam zu einer Farce. Gelangweilt spulte er die Fragen ab und jeder der potentiellen Bewerber hatte das Gefühl, dass die Antworten irrelevant für die weitere Entscheidungsfindung waren. Das Angebot an Arbeitswilligen übertraf die Nachfrage der Science um ein Vielfaches und von daher ergaben sich für Leute wie Taye lukrative Nebengeschäfte bei der Auswahl der Kandidaten. Die Cree hatten ihn offensichtlich fürstlich belohnt, denn die Eignung, Teil der Gesellschaft der Science zu werden, wurde nicht ein einziges Mal in Frage gestellt und das trotz des wiedererwachten Sarkasmus von Dina, der sich gerade in solchen Situationen förmlich aufdrängte. Deren alte Schlagfertigkeit war zurück, hatte aber jetzt eindeutig mehr Optimismus und weniger selbst zerstörerische Züge. Auf Cree hatte sie ihren Frieden gemacht und die positive Veränderung ihrer sarkastischen Einstellung war nur eines der Anzeichen dafür, dass sie ihre Dämonen zurück in die Hölle verbannt hatte. Die Getriebene war auf den Weg zu einer ausgeglichenen Persönlichkeit, die ihre Stärke nicht aus dem Hass zog, sondern aus dem Mut zur Veränderung. Eva bewunderte sie dafür und hoffte in ihrem Fahrwasser genug eigene Kraft für die kommenden Ereignisse zu tanken.

Das Farbenspiel am Fenster ihres Quartiers läutete das Ende ihrer Reise ein. Der Bremsvorgang dauerte nur wenige Minuten und das Lichtspektrum wurde einmal komplett durchlaufen bis am Ende nur noch Schwärze übrig blieb, die durch kleine helle Punkte durchbrochen wurde. Für die heimatlose Eva war der Anblick der Sterne mittlerweile zum Anker geworden. Konstanten in einem chaotischen Universum. Egal, ob sie auf einem Planeten um ihr Leben fürchtete oder im All auf der Flucht vor schwer bewaffneten Schiffen war, ein Blick in die Sterne verlieh ihr eine extra Portion Stabilität. Im ständigen Rhythmus der Veränderungen war es ihr Ersatz für Kontinuität. Nichts im Universum konnte ihr die Sterne nehmen, bis auf dieser elendige Überlichtantrieb, der sie in letzter Zeit regelmäßig ihrer Stütze beraubte. Nun waren sie wieder da und die Freude über ihren Anblick ließ sie kurz lächeln.

Sie brauchten eine weitere Stunde bei normalem Antrieb, bis sich erste Konturen am stellaren Horizont abzeichneten. Unangenehme Erinnerungen begleiteten das Wiedersehen mit dem Exson, was sich vor ihnen auftürmte. Auch wenn sie es damals nur kurz zu Gesicht bekamen, blieb das Treffen unweigerlich mit Gewalt und Schmerz in Verbindung. Für das Entkommen hatten sie einen hohen Preis bezahlt und nun kehrten sie freiwillig an diesen Ort zurück, um die Schuld einzutreiben oder den Rest der Rechnung zu bezahlen. Das elendige Gefühl, dass Alec diese Entscheidung nach seinen eigenen Launen beeinflussen konnte, lähmte den Enthusiasmus der Gruppe.  

Unzählige Schiffe in verschiedenen Größen und Gestalten umkreisten die Station. Noch nie hatte einer der Anwesenden soviel Technik in Form von Raumschiffen an einem Ort versammelt gesehen. Riesige Kreuzer, die regungslos im Raum lagen und kleine Transporter, die nur auf Grund ihrer Bewegung überhaupt auffielen, waren die Extreme. Letztere wirkten wie fleißige Bienen, die zwischen ihren größeren Artgenossen ihre Bahnen zogen und im Gegensatz zum Stillleben der Giganten eine hektische Betriebsamkeit an den Tag legten. Ein Kasch mit unbekannten Ausmaßen tat sich vor ihnen auf, dessen einzelne Waben die Königin in Form der Science am Leben hielten.

„Unglaublich. Wie viele sind das?“ zischte Eric ehrfurchtsvoll.

„Unzählige.“ antworte Dina ebenso verblüfft.

„Da sind sogar Kriegsschiffe.“ Eric zeigte auf ein besonders großes Exemplar. Dina löste jetzt ihren Blick und wandte sich an Zaja.

„Was immer ihr auch dagegen zusetzen habt, es muss gewaltig sein, wenn es solche Schlachtkreuzer abhalten kann.“ versuchte sie Zaja zu einem Kommentar zu verführen, aber diese blieb schweigsam und wandte ihren Blick nicht von dem Spektakel außerhalb des Schiffes ab. Im Gegensatz zu den Anderen begutachtete sie die Flotte des Feindes mit stoischer Gelassenheit.

Die „Misteriosa“ machte einen Schwenk, so dass die Station und auch die großen Kreuzer aus dem Blickfeld gerieten und nur noch wenige, nach Ansicht von Eric langweilige Transporter in Normalgröße vor dem Fenster lagen. Sie steuerten zielstrebig auf ein Schiff zu, das Eva an einen überdimensionierten Bleistift erinnerte, der über Stelzen mit kleineren Bleistiften verbunden war. Eric ließ es sich nicht nehmen die Gruppe dahin aufzuklären, dass es sich dabei um die Antriebe handelt, die auf Grund ihrer Abschaltung schwer von dem eigentlichen Hauptteil zu unterscheiden waren. Erst mit der Annäherung war die spärliche Beleuchtung des Mittelstiftes erkennbar und ließ auf Bewohner im Inneren schließen. Zusätzlich dazu gab es kleine Erhebungen, die wie aufgesetzte Pickel die eigentlich glatte Oberfläche verschandelten. Auf die größte der im Nachhinein eingebauten Beulen steuerte die „Misteriosa“ zu. Eine Andockbucht, die von den ursprünglichen Konstrukteuren wohl in dieser Form nicht vorgesehen war und von findigen Tüftlern der Science nachträglich entwickelt wurde.

„Willkommen in eurem neuen Zuhause.“ verkündete Taye in ihrem Rücken. Eine gewisse Heimtücke schwang in seinen Worten mit, die darauf schließen ließ, dass die geplante Arbeit an Bord dieses Gefängnisschiffes nicht unbedingt in persönlicher Erfüllung gipfeln würde. Sämtliche Fragen hinsichtlich der Aufgaben beantwortete er mit nichts sagenden Floskeln über das Arbeitsleben an sich, das seiner Meinung nach voller Herausforderungen und Schweiß stand. Diese Vermeidung alles Konkreten und das herablassende Lächeln, was der Gruppe suggerierte, dass die „Misteriosa“ sich als größere Herausforderung darstellen könnte, als gerade noch hochtrabend erklärt, ließ die Anspannung auf ein unnatürliches Maß ansteigen. Was immer auch sie auf der anderen Seite der Luftschleuse erwartete, es würde vermutlich den ersten Eindruck der Science, der geprägt wurde von Sentrys gewaltsamer Entführung, nicht zum Positiven ändern. Schon gar nicht auf einem Gefängnisschiff.

„Verdammte scheiße.“ wurden sie rüde begrüßt, als sie durch die Luftschleuse die „Violenta“ betraten. Die hagere Gestalt in ihrer abgenutzten grauen Uniform, die eine Konfektionsgröße zu groß dimensioniert schien, musterte sie unverhohlen und schien sich schon mit dem ersten Eindruck auf ein negatives Bild von den Neuankömmlingen festzulegen. Er wandte sich an Taye, um seinen Unmut ein Ziel zu geben.

„Verdammt. Was soll ich mit diesem Hühnerhaufen? Ich brauche Kerle, die diese Scheißhaufen hier an Bord auch mal ordentlich Respekt einprügeln. Ich habe den Pennern der Verwaltung doch klar gemacht, dass ich knallharte Wärter brauche und keine Wichsvorlagen.“ Die derbe Kritik prallte an dem sonst so Respekt verlangenden Taye mit einem Schulter zucken ab.

„Du hast zu nehmen, was wir dir zugestehen.“ sagte er trocken.

„Wohl besser, was dir die meisten Jetons einbringt.“ korrigierte der rüde Wärter seinen Vorgesetzten, der ihm mit eiskalter Miene ein Pad zur Empfangsquittierung hinhielt.

„Ich habe es satt, als Abstellgleis für eure krummen Geschäfte herzuhalten.“ grummelte er, während er den Empfang bestätigte und damit das Übel offiziell anerkannte. Taye riss ihm förmlich das Pad wieder aus der Hand und hatte es unnatürlich eilig wieder zurück an Bord der „Misteriosa“ zu gelangen. Zurück blieben die drei Frauen, Eric und ein der uniformierte Schlacks, der mit seinem Schicksal haderte.

„Na toll.“ entglitt es ihm nach einer weiteren Begutachtung des neuen Personals. Er forderte die Gruppe auf ihm zu folgen und nach einer kurzen Einweisung über die Gegebenheiten an Bord hielten sie vor einer Tür, die sich als neues Quartier für Eva und Dina herausstellen sollte. Gleich nebenan teilten sich Eric und Zaja einen Raum, der in seiner Größe selbst für eine Person nichts weiter als ein Hühnerkäfig mit Etagenbett war.

„Ihr werdet abwechselnd Dienst haben. Jeweils zwölf Stunden Schichten. Ihr werdet drei Tage angelernt, dann solltet ihr es drauf haben.“ wies sie der Oberaufseher mit Namen O’Boyle kurz ein. Mit einer kurzen Anweisung sich in zehn Minuten an der Kleiderkammer einzufinden überließ er sie ihrem Schicksal und verschwand in dem Gewirr von Gängen. Damit endete vorerst das äußerst frostige Willkommen.

Das Unbehagen vollkommen unerwünscht an Bord dieses Schiffes zu sein, konnte sich innerhalb der Gruppe nicht vollends entfalten. Immerhin war ihr Aufenthalt von vorn herein zeitlich begrenzt und daher wog die unfreundliche Begrüßung nicht allzu schwer. Viel mehr Sorge bestand darin einen brauchbaren Plan für die geplanten Ereignisse zu entwerfen. Obwohl keiner wusste wann und wie, gab es zumindest einen Fluchtplan, den sich Alec irgendwie zu Nutze gemacht hatte. Es war nur ein unglaublicher Teil dieses verrückten Unternehmens, dass Außenstehende mehr über die Details ihrer Mission wussten, als die eigentlichen Hauptakteure. Diese sollten erst hier auf dem Schiff durch einen Kontaktmann über die weitere Vorgehensweise unterrichtet werden. Solange dieser sich nicht zu erkennen gab, war jegliche Planung nicht mehr als reine Spekulation. Vorerst blieb nichts weiter übrig, als sich dem Alltag eines neuen Wärters in einem Gefängnis zu stellen.

In der Kleidungskammer bekamen sie Uniformen, deren Zustand auf jahrelangen Gebrauch durch Vorgänger schließen ließ. Da der Beruf des Gefängniswärters selten mit einem zierlichen Frauenkörper einherging, gab es keine passenden Konfektionsgrößen für den weiblichen Anteil der Gruppe. Ein weiterer Beweis für die verfehlte Einteilung der Arbeitsaufgabe, der durch die sichtliche Abneigung des alteingesessenen Personals noch verstärkt wurde. Diese wirkten nicht nur auf Grund ihrer blassen Haut wie Zombies, die nur ein einziges stupides Ziel hatten. Ihre Anstellung nicht zu verlieren, denn hier bei der Science zu arbeiten, erhob sie über den kläglichen Rest der Menschheit der Galaxis. Wie beim Fressen von Gehirnen duldeten sie keinerlei Konkurrenz, die ihnen sogar eventuelle Aufstiegsmöglichkeiten streitig machen konnten. Neuankömmlinge waren potentielle Nebenbuhler im Ringen um die Privilegien, die im Mikrokosmos der Science auf fleißige Angestellte vielleicht irgendwo außerhalb dieses Schiffes warteten.

Ihr neues Zuhause hatte sieben Decks, wobei das Oberdeck als Einziges keinerlei Gefangene beherbergte. Der administrative Teil bestand aus den Quartieren des Personals, einem Aufenthaltsraum mit Großküche, einer Wäscherei und einer Art Kolosseum, in dem Gefangene gelegentlich verschiedenen Freizeitaktivitäten nachgehen konnten. Die Werkstatt auf dem zweiten Deck diente der kostengünstigen Herstellung verschiedener Dinge und ab dem dritten Deck begann der eigentliche Zellentrakt, in dem etwa 700 Gefangene untergebracht waren. Deck sieben hatte zusätzlich zu den Zellen einen separaten Bereich, der offiziell für die Resozialisierung der Gefangenen vorgesehen war, aber die Umstände auf dem Schiff ließen eher auf Umerziehung in Trakt B, als auf wirkliche Therapie schließen. In Anbetracht der Besonderheit von Sentry war es genau jener Teil des Schiffes, an dem die Wahrscheinlichkeit für ein Wiedersehen hoch war.

Zum Schichtwechsel traf es Eva und Zaja, die gemeinsam mit einem übergewichtigen Wärter namens Randolf ihre erste Expedition in die Untiefen der Gefängniswelt starteten. Seine einweisenden Worte beschränkten sich auf eine nichts sagende Wiedergabe der offiziellen Arbeitsordnung, die durch seinen mangelhaften Umgang mit dem fremden Geschlecht eine ungewollt chauvinistische Eigendynamik entwickelte. Die wenigen weiblichen Bewohner des Schiffes entsprachen bisher sogar nicht Randolfs Vorstellungen einer idealen Frau, die er sich in einsamen Nächten durch verschiedene exklusive Filme als Maßstab einer willigen Gespielin als Standard gesetzt hatte. Jetzt standen sogar gleich zwei dieser optisch perfekten Fantasiebilder in Fleisch und Blut vor ihm und gerade Zaja, mit ihrer für diesen Ort unnatürlich dunklen Haut, verleitete ihn dazu sein erlerntes Wissen ungeniert anzuwenden. Zu seinem Leidwesen verhielten sich die Beiden überhaupt nicht nach seinen erbauten Vorstellungen und obwohl die Hauptdarsteller in seiner umfangreichen Kollektion an Filmen durchweg Erfolg hatten, handelte sich Randolf eine demütigende Abfuhr ein, die ihn dazu veranlasste die zickige Einstellung seiner neuen Kolleginnen mit Ignoranz zu strafen. Damit waren Eva und Zaja schon nach einer halben Stunde auf sich alleine gestellt und nur die Tatsache, dass sie auf Deck sieben ausschließlich mit politischen Gefangenen zu tun hatten, verhinderte die totale Katastrophe. Zu ihrer Überraschung stellten sich diese als kooperativer dar, als die eigentlichen Kollegen. Die Freude neue, unverbrauchte Gesichter zu sehen, brachte eine willkommene Abwechslung in den langweiligen Alltag der Gefangenen und die anfängliche Angst von Eva, gewaltbereiten Verbrechern gegenübertreten zu müssen, änderte sich schnell in Zufriedenheit mit ein paar aufbauenden Worten die Tristes von überraschend sympathischen Insassen zu vertreiben. Nach zwölf Stunden Dienst stellte Eva fest, dass mehr Menschlichkeit in den Zellen der siebenten Etage vorherrschte, als in den Gängen des Oberdecks.

Die Arbeit eines Gefängniswärters stellte sich schnell als langweilige Tätigkeit heraus. Der überwiegende Teil bestand aus Beobachten und da die Insassen auf Deck 7 zum Teil kultivierter waren als ihre Bewacher, zogen sich die zwölf Stunden für Eva ins Unendliche. Schon am ersten Tag verfluchte sie ihre Tätigkeit, denn anstatt unschuldig Verurteilte beim Essen oder Aufräumen zuzuschauen, gab es weitaus Wichtigeres zu tun. Die immer gleichen Zellen, die in Größe und Aussehen ihrer eigenen Unterkunft ähnelten und im Falle der Gefangenen sogar dreifach belegt waren, ließen nicht viel Raum für Abwechslung. Alles schrie nach Flucht von diesem Ort und dabei hatten sie noch nicht mal die schwere Bürde der Gefangenschaft zu tragen. Schon die erste Schicht zeigte die Trostlosigkeit ihrer Arbeit auf und drängte sie zu einer schnellen Abarbeitung ihrer eigentlichen Prioritäten. Da aber ihr Kontaktmann unwillig schien sich mit ihnen in Verbindung zu setzen, reifte nicht nur bei ihr die durch Ungeduld getriebene Idee eines Alleinganges. Zu allem Unglück verhinderte der Schichtrhythmus einen längeren Kontakt mit Dina oder Eric und so blieb nur ihre Pause, um gemeinsame Aktivitäten abzustimmen. Diese wurden in Form einer Informationsgewinnung beschlossen und da sich die Arbeitskollegen weiterhin als missgünstige Mitmenschen profilierten, blieben nur die Gefangenen selbst, die im Falle von Dina, die ihren Dienst auf Deck 3 absolvierte, sich als weniger unschuldig herausstellten als die Insassen auf Deck 7.

Obwohl Evas soziale Geflogenheiten seit der Zeit im Tempel einen wahren Quantensprung hingelegt haben, stellte es sich als schwierig heraus soweit Vertrauen aufzubauen, dass sie brauchbare Informationen über die Hintergründe dieser Einrichtung erhalten würde. Drei Tage war sie mittlerweile nun hier und die Gefangenen entsprachen zwar in keiner Weise den erwarteten Vorstellungen von Gewalt und asozialem Verhalten, trotzdem hatten sie fast alle eins gemeinsam. Sie wirkten gebrochen. Ihr Blick war leer, als würden sie den Tod als Erlösung herbei sehnen und da sie die Zelle aller Vorrausicht nach auch nie wieder verlassen würden, war dieser ersehnte Ausweg nur allzu verständlich. Aus den verschiedensten Gründen hatten sie die Science gegen sich aufgebracht und damit diesen Platz auf diesem kargen Schiff ergattert, auf dem sie bis an ihr Lebensende den Schikanen der Wachleute ausgesetzt waren. Eine weitere Hürde, denn Eva gehörte offiziell zu diesem Feindbild und war damit dementsprechend wenig vertrauenswürdig. Sie versuchte trotzdem ihr Glück, bei einem Gefangenen namens Gregor, der offensichtlich noch nicht allzu lange Insasse dieser Einrichtung war, denn sein Optimismus gegenüber einer schnellen Entlassung auf Grund von Missverständnissen war noch ungebrochen. Aus irgendeinem Grund hatte er eine Einzelzelle zugewiesen bekommen und bot sich damit als Informationsquelle förmlich an.

„Haben Sie etwas Neues in meinem Fall?“ wurde sie gefragt, als sie und Zaja eine offizielle Stubeninspektion durchführten. Randolf, als eigentliche Aufsicht hatte beschlossen die beiden weiter zu ignorieren und würde mit seiner eigenen Inspektion, die er zwei Stunden später durchführte, nachweisen, wie unfähig die Neuen doch waren.    

„Was haben Sie denn angestellt?“ fragte Eva. Gregors Konzentration galt Zaja, die wenigstens den Schein einer Durchsuchung erwecken wollte und in seinen spärlichen privaten Sachen wühlte. Selbst die halbherzige Aktion schien ihm zu missfallen und von daher war er zerrissen zwischen den Neuigkeiten zu seinem Fall und dem Schutz seiner Privatsachen.

„Ich habe mein Gewissen wieder gefunden und das hat einigen Leuten wohl nicht so gefallen. Sie können mich aber nicht ewig hier halten. Dafür bin ich zu wertvoll. Das alles ist eine Art Warnschuss, um mir zu zeigen, dass… „ Gregor brach ab und konzentrierte sich wieder auf Zaja, die gerade etwas in das oberste Fach des Regals zurückstellte. Dabei fiel ihr Ärmel nach hinten und entblößte ihr Armband.

„Großer Gott.“ flüsterte er ehrfurchtsvoll, als wäre ihm gerade selbiger begegnet.

„Ich kenne das, was sie da haben.“ Er legte beide Hände vor den Mund, so als hätte er gerade ein Geheimnis enttarnt. Zaja verdeckte schnell das Missgeschick, aber es war zu spät.

„Wer sind sie?“ fragte Eva erstaunt.

„Wer ich bin? Wer ist sie denn? Sie hat da etwas an ihrem Arm, dass …“ wieder brach er ab, jetzt aber überforderten ihn seine eigenen Gedankengänge.

„Das ist nur ein Schmuckstück.“ versuchte Eva zu überzeugen.

„Ein Schmuckstück? Ich bin wissenschaftlicher Mitarbeiter und das ist sicherlich nicht nur ein Schmuckstück.“ Gregors Blick fiel an Eva vorbei und ruhte jetzt auf Zajas Ärmel.

„Kann ich es genauer sehen?“ fragte er verlegen.

„Wenn Sie uns verraten, warum sie hier sind.“ forderte Zaja schnell, um ihre Verlegenheit auf Grund des Fehlers zu kaschieren.

„Das kann ich nicht, aber ich bin kein Gefangener. Ich bin hier wegen eines Auftrages, aber ich wollte es nicht tun und dafür haben sie mich hier eingesperrt.“ Gregors Stimme zitterte und dadurch wirkten seine Worte, wie das Gefasel eines geistig Verwirrten.

„Was tun? Hat es was mit Sentry zu tun?“ fragte Eva jetzt aufgeregt.

„Ich kenne seinen Namen nicht.“ verteidigte sich Gregor.

„Was haben sie ihm angetan?“ fiel jetzt Zaja in die Fragerunde mit ein und baute sich vor Gregor auf. Dieser schaute ängstlich zu ihr hoch.

„Es tut mir Leid. Ich wollte das nicht.“ Gregor war den Tränen nahe und Zaja war drauf und dran ihn den Schritt weiter zu treiben, als eine Stimme aus Richtung der Tür sie davon abhielt.

„Was ist hier los?“ Randolfs massige Gestalt füllte die Tür voll aus und erst jetzt wurden die Nachteile seiner Leibesfülle so richtig deutlich. Es fehlten nur ein paar Kilo und die Zellentür würde sich als unüberwindbares Hindernis erweisen.

„Alles in Ordnung.“ zischte Zaja, die Mühe hatte sich zu beherrschen, aber ihre Logik zwang sie dazu, nichts Unüberlegtes zu tun.

„Dann auf zur nächsten Zelle.“ befahl er, obwohl keinerlei Rangunterschiede vorherrschten. Einzig und allein die Tatsache, dass Zaja eine Frau war, veranlasste ihn zu diesem Kommandoton. Kommentarlos zwängten sich die Frauen an ihm vorbei in den Zellengang, der rechts und links scheinbar unzählige Türen hatte, hinter denen noch viele Kontrollen stattfinden würden.

Zwei Stunden später saßen Zaja und Eva im Gemeinschaftsraum des Oberdecks. Dina hatte sich zu ihnen gesellt und nachdem sie die Geschichte aus Gregors Zelle erfahren hatte, herrschte Einigkeit darüber, dass ihre Tarnung im Begriff war aufzufliegen. Ratlos über das weitere Vorgehen endete ihre Pause und gerade in dem Moment, in dem sie auf den Lift zu Deck 7 zusteuerten, wurden sie abgefangen von O’Boyle, der sie zu sich in sein kleines Büro drängte.

„Mir sind Beschwerden zu Ohren gekommen.“ fing er an, bevor sich die drei Frauen überhaupt auf die klapprigen Stühle niedergelassen hatten. Ein kleiner Tisch, der erstaunlicherweise ziemlich leer wirkte, trennte die ungleich verteilte Gruppe.

„Als ob Beschwerden was Außergewöhnliches wären. Jeder zickt hier gegen jeden. Vielleicht hören Sie es ja nicht gerne, aber das Arbeitsklima lässt zu wünschen übrig.“ erwiderte Dina trocken und versetzte O’Boyle einen Moment in erstauntes Schweigen.

„Das ist auch so ein Punkt. Deine große Klappe. Die und die feuchten Träume, die mit jedem Arsch wackeln von euch das ganze Schiff in eine Onanieorgie verfallen lassen, machen unsere Aufgabe nicht unbedingt einfacher. Wie wäre es mal mit weniger Aufmerksamkeit?“ forderte O’Boyle lautstark.

„Sie sind unser Kontakt?“ fragte Dina ungläubig.

„Gut kombiniert. Da sage noch mal einer Blondinen wären begriffsstutzig.“ maulte er Dina an. Ihre Art und Weise passte ihm überhaupt nicht und so ließ er sich es nicht nehmen, sie permanent zu beleidigen.

„Warum melden Sie sich erst jetzt? Seit Tagen rennen wir uns die Hacken dort unten wund.“ beklagte Dina.

„Tut mir ja Leid, wenn euch der Nagellack gefehlt hat, aber jetzt wisst ihr wie der Hase hier läuft. Ich hätte euch sogar noch länger zappeln lassen, aber auf Deck 7 braut sich Unheil zusammen.“ In Sachen Herablassung gegenüber Frauen stand er Randolf in nichts nach.

„Gregor? Will er uns verraten?“ fragte Eva.

„Sieht so aus. Mit was immer ihr euch auch verraten habt. Er will auspacken. Ich kann das nicht ignorieren, weil er kein gewöhnlicher Gefangener ist. Ein Haufen Eierköpfe ist vor Wochen hier aufgeschlagen und hat Trakt B förmlich besetzt. Ich habe keine Ahnung, was die da drin für einen Schweinkram praktizieren, aber euer Freund spielt wohl die Rolle des Lustknaben. Das einzige Mal, dass sie die Tür öffneten war, als sie dieses Weichei von Gregor ausspuckten. Er wollte wohl nicht mehr den Hintern hinhalten, jedenfalls muss ich mich jetzt ständig über Funk bei denen rechtfertigen. Morgen ist es wieder soweit und wenn der sich über euch ausheult, dann werden die euch dazu holen zu ihrer Gangbang-Party.“ O’Boyles sexistische Grundausrichtung in seiner Kommunikation nervte vor allen Dingen Zaja.

„Und jetzt?“ fragte sie.

„Zünden wir die Bombe etwas eher.“ grinste O’Boyle heimtückisch und traf nur auf fragende Gesichter.

„Eine Revolte. Es wird Zeit diesen ganzen Mistladen hier abzufackeln.“ schob er hinterher.

„Soweit ich weiß, hat Trakt B eine eigene Andockbucht. Also wird sie das da unten nicht weiter tangieren.“ warf Eva ein.

„Tangieren. Ohh. Der Knackarsch kann Fremdwörter. Es wird sie tangieren, denn hier oben sitze ich immer noch am längeren Steuerungshebel. Niemand kommt da unten weg, wenn ich es hier oben nicht will. Brauchen wir sie nur noch auszuräuchern. Auch kein Problem. Ich jage die Ratten für euch da unten raus und ihr müsst sie bloß noch einfangen.“

„Wie sollen wir das anstellen?“ fragte Eva skeptisch und in Erwartung einer weiteren sexuellen Anspielung.

„Das ist nicht mein Problem Schätzchen. Ich liefere nur die Party, den Schnaps müsst ihr schon alleine trinken.“ verschonte sie O’Boyle dieses Mal.   

„Gelegenheiten wird es viele geben, denn immerhin müssen sie sich den Weg voller rachsüchtiger Scheißkerle frei schießen. Kein Vergleich zu den liebenswerten Tölpeln von Deck 7. Die richtig harten Jungs.“ O’Boyle grinste.

„Das ist ihr verdammter Plan? Chaos stiften. Mehr nicht?“ fragte Dina ungläubig.

„Einfach und verständlich. Selbst für Frauengehirne leicht zu begreifen. In zwölf Stunden legt die „Misteriosa“ hier an. Danach steigt die Party.“

„Wir bezahlen nur für eine unversehrte Rückkehr.“ drohte Zaja.

„Süße. Ich habe bereits mein Geld und damit kann ich mich ein Leben lang durch die Puffs der Galaxis vögeln. Mein Gewissen ist rein. Ich helfe euch euren Stecher da unten rauszubekommen. Das war die Vereinbarung und das tue ich hiermit. Für mich ist das auch nicht einfach. Immerhin gebe ich viel auf. Sichere Arbeit. Ein gutes Einkommen. Nette Kollegen.“ O’Boyle zwinkerte kurz.

„Eine wahrlich selbstlose Tat.“ Dinas Worte verbreiterten sein Grinsen und in Kombination mit seinem widerlichen Charakter stellte er damit jeden Dämon in den Schatten.

„Und jetzt zurück an die Arbeit.“ unterdrückte er jeglichen Ansatz von Diskussionen. Die Frauen kehrten zurück in den Aufenthaltsraum und der Spott, den Eva von Dina erntete, als diese ihren Dienst wieder antreten wollte, tat ihr weh. Die Gewohnheit ihre Pflichten zu erfüllen waren Überbleibsel der Doktrin des Tempels und reflexartig hatte sie ihr Handeln selbst in dieser schwierigen Lage darauf ausgerichtet. Wie fehl am Platze dieses antrainierte Pflichtgefühl war, zeigte sich in der Einschätzung ihrer Situation. Vorbereitungen waren notwendig, aber der Mangel an Informationen erschwerte eine präzise Planung. Sicher war nur die bevorstehende Revolte. Das Ausmaß war genauso unklar, wie die Gegenmaßnahmen, die für ein Niederschlagen ergriffen wurden. Ein Punkt ihrer Ausbildung, der bisher keinerlei Erwähnung durch Randolf wert gewesen war, aber der Gesamtzustand des Systems ließ dahin gehend auf wenig Professionalität schließen. Die einzige Bewaffnung an Bord bestand in personalisierten Betäubungsgewehren, die in ihrer Anzahl den Bedarf im Falle eines Aufstandes niemals decken würden. Die Wahrscheinlichkeit war also hoch, dass die Wärter in den bevorstehenden Ereignissen gnadenlos untergehen würden und obwohl sich die Sympathie von Eva für ihre Kollegen in Grenzen hielt, konnte sie ihr Mitleid nicht vollends unterdrücken. Schmerz war einer der wenigen sicheren Vorrausagen für die unmittelbare Zukunft und Eva konnte leicht ein Bestandteil dieser Prophezeiung werden. Selbst wenn sie es schaffte den Schwerverbrechern von Deck 3 und 4 zu entgehen, blieb immer noch das eigentliche Ziel selbst. Die Science schien ihre Neuerwerbung mit Namen Sentry in Trakt B buchstäblich auf Herz und Nieren zu prüfen. Ein Schatz, den sie sicherlich mit ausreichender Konsequenz absicherten und sollten sie wie geplant gezwungen werden den gefährlichen Weg hin zu Deck 1 auf sich zu nehmen, würde dies mit aller Härte geschehen. Das war der Punkt, an dem Evas fehlgeleitetes Pflichtgefühl doch noch ihre Rechtfertigung bekam. Informationen über die Geheimnisse in Trakt B gab es nur an einer Stelle und genau dorthin war sie nun gemeinsam mit Zaja auf den Weg.

Gregor wirkte ängstlich, als die beiden Frauen erneut seine Zelle betraten. Es gab keinen offiziellen Grund für einen erneuten Besuch, aber alle Anwesenden wussten, warum ein Wiedersehen unvermeidlich war.

„Wollt ihr mir wehtun?“ fragte Gregor ängstlich, als Eva die Tür hinter sich schloss. Die Frauen blieben schweigsam und schürten damit seine Angst erst richtig. Zaja ließ sich im Schneidersitz neben der Tür nieder und begann sich in einen meditativen Zustand zu versetzen. Fünf Minuten ließ ihr Eva, dann wandte sie sich an einen ungläubig drein schauenden Gregor.

„Trakt B? Wie viele Leute befinden sich in Trakt B?“ fragte Eva. Diese Form der Fragestellung war nicht das, was sie vorher mit Zaja ausgemacht hatte, also korrigierte sie die Formulierung.

„Gibt es mehr als 20 Leute in Trakt B?“ fragte sie jetzt korrekter und obwohl Gregor kein Wort verlor, wusste sie, dass die Antwort ja lautete. Keiner der fünf Sinne lieferte ihr die Antwort, aber da gab es offensichtlich noch mehr in ihrem Hirn, was äußerliche Signale wahrnehmen und verarbeiten konnte. Zaja hatte eine Art mentales Kraftfeld zwischen den Anwesenden aufgebaut, dass abgestimmt war, auf positive oder negative Schwingungen von Gregor. Eine eigenwillige Variante eines Lügendetektors, der nur mit Hilfe eines hoch gezüchteten Gehirns der Cree funktionierte. Eva hatte Mühe ihre gleichgültige Fassade aufrecht zu erhalten, denn diese Art der Informationsgewinnung war Neuland für sie. Natürlich konnte sich auch Gregor dem Ganzen nicht entziehen.  

„Was ist das?“ Furcht lag in seiner Stimme, aber die Amplitude des Feldes war glatt. Offensichtlich reagierte die neue Sinneswahrnehmung nur auf ja oder nein.

„Mehr als 50?“ fragte sie jetzt und bekam dieses Mal eine negative Rückmeldung. Weitere Fragen grenzten das Personal auf etwa 25 ein, wovon ein halbes Dutzend sich als schwer bewaffnete Soldaten herausstellten. Gregor resignierte auf Grund seiner unfreiwilligen Antworten und nachdem er seine Furcht halbwegs unter Kontrolle hatte, startete er einen Angriff auf die Quelle seines Verrats. Mutig stellte sich Eva zwischen Zaja und ihn. Die Uniform ließ ihn kurz zögern, denn Handgreiflichkeiten an Wärtern würden die Aussichten auf Verbesserung seiner Lage schwinden lassen. Erst die Überzeugung, dass es sich hierbei um Spione handelte, gab ihm neuen Mut. Bevor er erneut auf Zaja losging, blieb Eva noch Zeit für eine weitere Frage.

„Ist er noch am Leben?“ Sie bereute es diese Frage nicht am Anfang gestellt zu haben. Die Schwingung war positiv, aber im Gegensatz zu den bisherigen Fragen folgte dieses Mal kurz darauf eine Negative. Verwirrt über das Ergebnis verpasste sie die erneute Attacke und gerade als sie Zaja zur Hilfe kommen wollte, Gregor schüttelte ihren Körper, so als ob er sie aufwecken wollte, bohrte sich ein gleißender Schmerz in ihr Hirn. Nur kurz, aber heftig verursachte der Zusammenbruch des Feldes eine Art Kurzschlussreaktion in Teilen ihres Gehirns, die sie vermutlich noch nie in Gebrauch hatte.

„Ahh…“ hörte sie Gregor vor sich jammern. Auch ihn traf der abrupte Zusammenbruch schmerzvoll und ließ ihn wimmernd zurückweichen. Nur Zaja schaffte es ihren Schmerz zu kontrollieren und als sie ihn für erträglich hielt, schleppte sie Eva vor die Tür.

„Was war das denn?“ quälte Eva hervor, als wieder halbwegs Ordnung in ihrem Oberstübchen herrschte.

„Wie jeder andere Sinn, kann auch Telepathie überreizt werden. Sieh es als eine Art mentale Blendung.“ erklärte Zaja ruhig.

„Das war der Wahnsinn. Es war als wäre ich in seinem Kopf, aber nur genau in dem Teil, der für Ja oder Nein stand.“

„Mehr als Telepathie auf der untersten Ebene bekomme ich leider nicht hin. Mir fehlen Training und Erfahrung. Ein menschliches Gehirn ist wie ein Klavier. Du kannst zwar schwarze und weiße Tasten drücken, aber am Ende kommt nur Geklimmper dabei rum. Erst die Noten machen die Musik. Genauso ist es mit Telepathie. Zusätzlich dazu brauchst du auch ein gewisses Talent.“

„Wie weit lässt sich das ausweiten?“ fragte Eva neugierig, war sich aber nicht sicher, ob sie die Antwort wirklich wissen wollte.

„Das ist abhängig von der Schwäche des Geistes. Bei vielen Menschen brauchst du ohnehin keine Telepathie damit sie dir gehorchen. Ein paar wohl gewählte Worte oder eine reichhaltige Belohnung und sie folgen dir bis in den Tod.“ Diese Steilvorlage für Zaja um ihr Lieblingsthema über die Verkommenheit der Menschheit ungefragt ins Spiel zu bringen, hatte Eva nicht beabsichtigt. Daher verkniff sie sich weitere Nachfragen und mit den neu erworbenen Informationen von Gregor, gab es keinen weiteren Grund mehr für die Frauen diese Uniform zu tragen. Sie begaben sich zurück in ihr Quartier und trotz der verfrühten Beendigung ihrer Schicht, mussten sie keinerlei Repressalien fürchten. Die Zeit bis zum Inferno lief gnadenlos runter und sie hatten nicht mal ansatzweise so etwas wie einen Plan.

„Es ist sinnlos. Sechs schwer bewaffnete Soldaten gegen uns. Dazu noch die hundert Wahnsinnigen aus den Zellen. Wir haben keine Chance.“ Sie saßen jetzt in dem verwaisten Aufenthaltsraum. In einer halben Stunde würde dieser Raum überquellen vor Angestellten, die ihren quälenden 12-Stundenrytmhus hinter sich hatten und auf eine warme Mahlzeit hofften. Dementsprechend umtriebig waren die Vorbereitungen in der angeschlossenen Küche und vereinzelt hallte die Hektik in der Leere des Raumes wieder.

„Unser Eric hat leider Recht. Spinnen wir den negativen Faden mal weiter. Uns fehlt jegliche Übersicht über Gänge und Ebenen des Schiffes. Dazu haben wir keinerlei Waffen. Selbst die Betäubungsgewehre sind nicht für uns frei geschaltet. Dann unsere Zugangsberechtigungen. Sie gelten für die Decks 1,3 und 7. Nach Ausbruch werden vermutlich auch die gesperrt. Weiter zu unserer Flucht. Wir werden nur mitgenommen, wenn Balta das Zeitliche segnet. Habe ich was vergessen?“

„Wir wissen nicht, ob Sentry noch lebt und wenn ja, in welchem Zustand er ist.“ ergänzte Zaja trocken.

„Eine lange Liste. Und die Lösung fokussiert sich genau auf einen Punkt.“ stellte Dina fest.

„O’Boyle.“ vervollständigte Zaja ihre Gedankengänge.

„Mit seiner Hilfe könnten wir ein paar Punkte von der Liste bekommen.“ fiel jetzt Eva mit ein.

„Besser noch. Wir könnten das Inferno in gewünschte Bahnen lenken.“ spann Dina die Idee weiter.

„Doch wird er uns nicht helfen.“ unterdrückte Eric mit seinem Pessimismus die aufkeimende Hoffnung.

„Er muss, ob er will oder nicht. Wir bilden zwei Gruppen. Eine hier oben und die andere vor Ort.“ Endlich hatten sie ihren Plan, auch wenn der vor unbekannten Faktoren nur so strotzte und die Erfolgsaussichten immer noch gering waren, gab es endlich wieder ein wenig Zuversicht.

Erics technische Fähigkeiten qualifizierten ihn automatisch für das Team auf Ebene 1. Es gab gewisse Differenzen, wer ihn in seinem Tun unterstützen sollte, aber am Ende fiel die Wahl auf Zaja. Dina als Einzige mit halbwegs Kampferfahrung war unverzichtbar in dem Chaos, was in wenigen Stunden über das Schiff hereinbrechen würde und da auf dem Oberdeck weibliche Reize Teil des Plans waren und Eva dahingehend nicht viel Talent aufwies, wurde diese auserkoren Dina auf Deck 7 zu begleiten. Es war nun an Zaja die widerliche Seite von O’Boyle auszunutzen, um ihn entweder zur Zusammenarbeit zu überreden oder ihm die Notwendigkeit einer Kooperation mit Gewalt zu verdeutlichen. Wie auch immer er sich entscheiden würde, es war für das weitere Vorgehen unabdingbar, das jemand die Kontrolle in dem bevorstehenden Aufstand übernahm.  

Der schrille Ton der Alarmsirenen kam Eric wie ein Aufbruchssignal vor und verfehlte damit ihren eigentlichen Zweck als Warnung vor drohendem Unheil. Bis zum Start dieses sich ständig wiederholenden Tons saßen er und Zaja schweigend im Aufenthaltsraum und während seine Begleiterin fast ohne jede Regung auf das Unvermeidliche wartete, verkrampften seine Eingeweide mit jeder Minute, die er untätig auf dem Stuhl hin und her rutschte. Auch wenn seine Angst vor den bevorstehenden Ereignissen überwog, war er froh endlich seine Anspannung in hoffentlich nutzbringende Energie umzuwandeln zu können. Gemeinsam mit Zaja bahnte er sich seinen Weg durch die aufgescheuchte Menge an Schiffsbesatzung und steuerte zielstrebig auf den Kontrollraum zu, dessen Tür sich als erstes Hindernis herausstellen sollte. Das eigentliche Gehirn der „Violenta“ war nur einem begrenzten Kreis des Personals zugänglich und Mitarbeiter, mit einem bisherigen Aufenthalt von drei Tagen standen definitiv nicht auf der Liste. Also strapazierten sie ihr Glück schon in den Anfangsminuten und da Erics Glas von Natur aus immer halb leer war, sah dieser ihrem Unterfangen in den Kontrollraum zu gelangen mit uneingeschränkter Skepsis entgegen.

Es lag auch nicht in seiner Hand den scheinbar unmöglichen Zugang durch technische Fertigkeiten zu ermöglichen. Es war an Zaja sie dort rein zubringen und O’Boyles sexistische Einstellung sollte als Türöffner dienen. Da diese mit Sicherheit nicht dem eigenen Geschlecht galten, presste sich Eric an die Wand neben der Tür und verfolgte die Geschehnisse außerhalb des Kamerafokus. Die alleinige Aufmerksamkeit musste auf Zaja gelenkt werden und die tat Einiges, um diese uneingeschränkt zu bekommen. Die Jacke war das erste Kleidungsstück, dessen sie sich entledigte. Sie band die Ärmel so zusammen, dass sie ein festes Bündel ergaben. Für Eric ein scheinbar sinnloses Ritual, zumal sie das Knäuel einfach achtlos vor die verschlossene Tür warf. Der Zweck dieses Handelns sollte sich noch als hilfreich erweisen, aber bevor Eric sich den Kopf darüber zerbrechen konnte, entledigte sich Zaja auch ihres Pullovers und trieb ihn damit in komplett andere Welten.

Das Unterhemd war alles Andere als modisch ansprechend, aber es betonte durch den hautengen Schnitt ihre perfekte Figur. Das weiß stand im Kontrast zu ihrer dunklen Haut und entfachte in Eric Fantasien, die ihn die unmittelbare Anspannung für einen Moment vergessen ließ. Der Autopilot in seinem Inneren begutachtete das Kunstwerk auf Fehler, aber weder die zerschlissene Hose noch das schäbige Hemd schmälerten die amazonenhafte Ausstrahlung. Sie band sich ihre langen schwarzen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen und atmete ein Mal ordentlich durch. Dieser tiefe Atemzug stabilisierte Erics prüfenden Blick auf ihre Brust und wie unter Hypnose rief er sich die Erinnerungen von Cree wieder ins Gedächtnis. Jener Abend am See, der ihn eine ganze Nacht lang über Form und Gestalt ihrer weiblichen Vorzüge grübeln ließ und ihm förmlich den Schlaf raubte. Damals kam er zu keinem eindeutigen Ergebnis, aber allein die Vielzahl an Möglichkeiten versetzte ihn in einen Rausch. Er seufzte kurz, als ihm die wohligen Erinnerungen übermannten und das kurze Zucken von Zajas Mundwinkeln über diese ungewollte Gefühlsregung bekam er nur am Rande mit. Diese hatte ihre Augen geschlossen und grub bereits in seinem Kopf herum. Sie griff mental nach seiner Erregung und als sie sie ertastet hatte, drückte sie auf den Klingelknopf und schleuderte sie auf alles, was sich hinter der Tür bewegte.

Keine zehn Sekunden vergingen und die Tür öffnete sich. Erics Überraschung hatte noch mit dem geistigen Missbrauch seiner Begierde zu kämpfen, als sie schon wieder neues Futter bekam. Nie und nimmer hätte er gedacht, dass sie auf die andere Seite der Tür gelangen würden und nun wurden sie förmlich eingeladen den Kontrollraum zu betreten. Zaja machte ihm mit einem fast unmerklichen Zeichen klar, dass diese Einladung vorerst individuell auf sie zugeschnitten war, also verharrte er jetzt wieder angespannt an der Wand wartend.

Zaja betrat den Raum und die Vielzahl an leblosen Körpern war das vorherrschende Merkmal der absurden Szenerie. Sie hatte mit einem halben Dutzend Wachleute gerechnet und dahin gehend ihre Dosierung von Erics Erregung angepasst, aber O’Boyle hatte die Anzahl der Empfänger auf Einen reduziert. Der stand jetzt mit satten tausend Prozent Wollust vor ihr und da sein Level an Widerlichkeit im Normalzustand schon jegliche Skala sprengte, war er jetzt unberechenbar geworden.

„Ich trinke meinen Kaffee gerne mit Milch.“ presste er in einem Tonfall hervor, der jeden Triebtäter im Vergleich dazu zum Heiligen werden ließ. Zaja blieb gelassen, obwohl ihr die Gefahr bewusst war. Der ursprüngliche Plan ihn mit sexueller Stimulierung zur Kooperation zu bewegen war mächtig über das Ziel hinausgeschossen. Die Waffe in seiner Hand war ein untrügliches Indiz für ein Scheitern ihres Plans. Langsam kam er auf sie zu und auch ohne Telepathie konnte sie seine eindimensionalen Gedankengänge erahnen.

„Du Schlampe glaubst mich mit deinen Titten beeindrucken zu können, aber ich weiß, was du vorhast. Du willst an diese Konsole, um deinen Stecher zu beeindrucken. Niemand fickt O’Boyle. Andersherum wird er dich ficken. Notfalls auch bewusstlos.“ Er hob seine Waffe und drückte ab. Zaja sackte unmittelbar zusammen. Damit war die Übernahme des Kontrollraumes vorerst gescheitert, aber sie hatten noch einen Joker und der stand zaudernd vor der Tür.

 

Dieser pflichtbewusste kleine Mistkerl machte Dina und Eva das Leben auf Deck 7 unnötig schwer. Male hasste Abweichungen vom langweiligen Alltag eines Gefängniswärters und schon die vorgeschobenen Überstunden von Eva stießen ihm sauer auf. Dass da zusätzlich jemand Fremdes seine heiligen Hallen von Deck 7 mit seiner Anwesenheit beschmutzte, war ein Affront, der ihm zu einer Meldung bei seinem direkten Vorgesetzten förmlich nötigte. O’Boyle machte ihm auf seine eigene, verschrobene Art klar, dass übertriebener Arbeitseifer kein Grund zum klagen wäre und er solle sich nicht beschweren über die feuchten Träume, die ihm die beiden Grazien durch ihre Anwesenheit vermutlich bescheren würden. Das O’Boyle die Dinge öfter mal etwas schleifen ließ war nichts Neues für Male, aber dieses Ausmaß an Regelverstoß war selbst für ihn ungewöhnlich. Er selber hielt sich immer für intelligenter als das gewöhnliche Wärterpack und der Posten des Vorstehers von Deck 7 bestätigte seine unvoreingenommene Meinung über diesen Vorteil. Deswegen erkannte er auch die einmalige Chance, die sich ihm hier bot. Seiner Meinung nach waren O’Boyles Beschwichtigungsversuche nicht vertretbar und ein unverzeihlicher Fehler für einen Angestellten in dieser Hierarchieebene. Die Gelegenheit diesen Posten auf Grund von Fehlverhalten in naher Zukunft mit der richtigen Person zu besetzen, war nie besser als zu diesem Zeitpunkt, da auch Edelhäftling Gregor sich über O’Boyles mangelnde Bereitschaft beklagte. Normalerweise waren Häftlinge nichts wert, aber bei Gregor lag der Fall anders. Koppar, der Gefängnisdirektor, hatte ihn persönlich aus Trakt B hier einquartiert. Es war das einzige Mal seit langer Zeit, dass er seinen obersten Chef überhaupt zu Gesicht bekam. Trakt B war vor Wochen von allen regulären Gefangenen geräumt worden und niemand außer dem Direktor persönlich hatte noch Zutritt zu dieser Sektion. Die Gerüchte über die Vorgänge gipfelten in Menschenversuchen, die an Gefangenen ausprobiert wurden. Trotz aller Befürchtungen wurde das reichlich vorhandene Material nie angefordert und so blieb unklar, was in Trakt B wirklich ablief, aber die Dimensionen an Geheimhaltung waren selbst für eine Organisation wie die Science unnatürlich.

Male brauchte mehr Informationen und er bediente sich derselben Quelle, die auch Eva und Zaja anzapften. Er wagte es nicht Gregor irgendwas über Trakt B zu entlocken, aber O’Boyle und seine Stelle, das eigentliche Ziel seiner Bemühungen, waren es wert die richtigen Fragen zu stellen. Er wurde nicht ganz schlau aus dem wirren Gefasel von übernatürlichen Vorgängen und der Vermischung von Technologie und Spionage, aber was immer auch Gregor wirklich weitergeben wollte, wurde bisher von seinem direkten Vorgesetzten ignoriert. Vermutlich war es sogar besser nicht alle Einzelheiten bis ins Detail zu kennen. Wichtig war eigentlich nur Gregor und Koppar zusammen zu bringen und das alles mit der Beilage O’Boyle als unfähigen Vorgesetzten zu enttarnen. Wenn er es geschickt anstellte, präsentierte er auch gleich den geeigneten Nachfolger. Mit einem Gewinnerlächeln näherte er sich der Tür zu Trakt B und drückte die Taste für die Kommunikation.

Eine halbe Stunde später hatte er endlich Koppar in der Leitung. Trakt B einmal komplett zu durchqueren dauerte im Regelfall nicht länger als drei Minuten und so verschwendete Male den größten Teil der Zeit damit sich gegen hochnäsige Laufburschen zu behaupten, die ihn mit Herablassung die niedere Tätigkeit als Gefängniswärter vorhielten. Auch Koppar war nicht besonders erbaut über die Störung, aber Male schaffte zehn Minuten später das Unglaubliche. Die Tür zu Trakt B wurde das erste Mal seit Wochen wieder geöffnet.

Voller Stolz empfing Male die Delegation aus Koppar und zwei Soldaten, aber keiner von den Dreien zollte ihm den nötigen Respekt. Sie ließen ihn einfach stehen und steuerten auf Gregors Zelle zu. In respektvollem Abstand folgte Male und erst als er aufgefordert wurde die Zellentür zu öffnen, bedachten sie ihn mit einem Minimum an Aufmerksamkeit. Vorsichtig legte er seine Hand auf das elektronische Türschloss und als sich die Tür öffnete, wurde er unsanft zur Seite geschoben. Males Anwesenheit war bei dem kommenden Gespräch nicht erwünscht und so wurde ihm die Gelegenheit genommen, sich als Nachfolger für O’Boyles Posten zu empfehlen. Er verweilte mit gebührendem Abstand auf dem Flur und beobachtete die bewaffneten Soldaten, die vor der Tür auf Koppars Rückkehr warteten.

Nur fünfzehn Minuten dauerte das Treffen, dann wurde Male vor die Tür zitiert.

„Neues Personal. Weiblich. Schwarze Haare. Dunkle Haut. Trägt ein markantes Armband.“ fasste sich Koppar kurz.

„Nicht in meiner Schicht, Herr Direktor.“ kam es von Male unterwürfig zurück.    

„Und was ist mit Blond und blauäugig? Ebenfalls neu.“ fragte Koppar jetzt genervt. Male wollte gerade eine Antwort geben, als sein Blick an der Gruppe vorbei zur nächsten Gangabzweigung wanderte. Wie aufs Stichwort erschien die Gesuchte und sah sich mit zwei Gewehrläufen konfrontiert, die langsam in ihre Richtung schwenkten.

Kapitel 16

Die Topgraphie der Gänge und Türen auf Deck 7 waren praktisch identisch mit denen von Deck 3, aber trotz dieser optischen Kopie hätten die Unterschiede zu den einzelnen Gefängnisebenen nicht größer sein können. Die unterschwellige Aggression der Insassen auf der dritten Ebene hatte Dina in einen dauerhaften Alarmzustand versetzt und der Stresspegel als Wärterin in diesem Bereich war praktisch permanent im roten Bereich. Zwölf Stunden voller Gefahr, als Ablassventil für angestauten Frust missbraucht zu werden. Kriminelle der übelsten Sorte waren ihre Klientel. Das egomanische Auftreten, die Gossensprache, aber vor allen Dingen die seelenlosen Augen identifizierten sie als Mörder, Vergewaltiger oder Psychopaten und ließen damit jede Schicht auf Ebene 3 zum Albtraum werden. Hier dagegen lag die Angst vollständig bei den Gefangenen. Verlorene Seelen, die aus dem Paradies der Science verbannt wurden, weil sie in Ungnade ihrer Götter gefallen waren. Die Aussichtslosigkeit ihrer Situation schlug sich nicht in angestauter Aggression nieder, sondern in vollständiger Aufgabe. Das machte die Arbeit der Wärter zur angstfreien Routine. Die einzige Sorge hier unten bestand darin, erklären zu müssen, dass trotz aller Vorsichtsmaßnahmen es immer wieder zu Selbstmorden kam. Dina tat sich schwer mit der Umstellung von Gerechtigkeit auf Mitleid und so versuchte sie ihre Umgebung auszublenden, um sich voll auf die kommenden Ereignisse zu konzentrieren.

Das es viel Glück und Improvisation brauchen würde, um ihren halbherzigen Plan erfolgreich umzusetzen, da machte sich Dina von Anfang an nichts vor. Sie selber hatte die Schwachpunkte aufgelistet und die Wahrscheinlichkeit für ein Scheitern war dementsprechend hoch. O’Boyle hatte ihnen zusätzlich dazu wenig Zeit für wirklich ausgereifte Ideen gelassen, aber dass sie schon vor dem eigentlichen Start einen Rückschlag erleiden würden, verringerte ihre Chancen weiter. Sie hatte Eva verloren und da ihre Freundin weder für spontane Aktionen noch für eigenmächtige Abwesenheit bekannt war, bestand die Gefahr, dass bereits zu diesem Zeitpunkt einiges schief gelaufen seien musste. Dieses windige Wiesel von Vorsteher hatte von Beginn an sein Misstrauen gegenüber den beiden Frauen offen zur Schau gestellt. Nichts Ungewöhnliches und tatsächlich hatte Dina mit etwas Ähnlichem sogar gerechnet, aber die Hoffnung, dass diese Problematik sich nicht sofort negativ auf ihre Bemühungen auswirken würde, hatte sich scheinbar nicht erfüllt. Nachdem sie Eva nicht fand, änderte sie das Ziel ihrer Suche und traf auf Male in dem kleinen Aufenthaltsraum, der für die Gefangenen als Zuflucht aus ihrer Trostlosigkeit diente.

Die Gelassenheit, mit der Male seine Arbeit als Aufseher verrichtete, war mit einem Schlag dahin, als Dina den Raum betrat. Sein kläglicher Versuch seine angespannte Haltung zu überspielen, bestärkte sie in der Annahme, dass er an Evas Verschwinden nicht ganz schuldlos war. Zielstrebig steuerte sie auf ihn zu und als er seine Aussichtslosigkeit ihr zu entkommen erkannte, ging er in die Offensive.

„Stuart. Festnehmen.“ brüllte er quer durch den Raum. Bevor der Angewiesene auch nur halbwegs verarbeitet hatte, wen sein Vorgesetzter in einem Raum voller Gefangener damit meinen könnte, landete Dinas Faust in Males Gesicht. Das ausgerechnet eine Frau, noch dazu eine aus einer niederen Hierarchiestufe, ihn mit dieser Konsequenz angehen würde, hatte er nicht mal ansatzweise in Erwägung gezogen. Seine Vorstellungen über die Reaktion von Dina lagen zwischen flehentlichem Betteln um Gnade und einer Flucht auf Ebene 1. Das er zusammengekauert wie ein Frettchen auf den Knien  vor den niederen Wesen der Verbrecher im Staub lag, gab nicht nur seinem Ego einen Knacks, sondern würde seiner Autorität für alle Ewigkeit schaden. Dass diese Demütigung noch nicht das Ende seiner Leiden war, machte ihm Dina unmissverständlich klar, als sie ihn an den Haaren wieder nach oben hievte.

„Wo ist sie?“ knurrte sie ihn an. Stuart auf der anderen Seite des Raumes kämpfte mit seinen Möglichkeiten und sah dabei alles andere als souverän aus.

„Hey.“ entschied er sich endlich seinem Vorgesetzten zu helfen, in dem er festen Schrittes auf Dina zuging. Alle Anwesenden duckten sich demütig ab und waren fest entschlossen jegliche Form der Konfrontation zu vermeiden.

„Das ist Privatsache.“ warf sie Stuart entgegen, der zu ihrer Überraschung tatsächlich stehen blieb. Noch war dieser nicht überzeugt und erst ein Blick in Males bestätigendes Gesicht, das unter schmerzlicher Mithilfe von Dina Zustimmung signalisierte, hielt ihn davon ab handgreiflich zu werden.

„Ihr solltet das nicht hier klären.“ raunte er noch und hoffte, dass das Problem damit endlich aus seinem Sichtfeld verschwinden würde. Dina tat ihm den Gefallen und schob Male auf den Flur.

„Also. Wo?“ fragte sie drohend.

„Trakt B. Sie ist in Trakt B.“ kam es wimmernd.

„Verdammter Scheißkerl. Hast du sie dort hin gebracht?“ Dina war jetzt wütend und egal welche Antwort Male auf die Frage bringen würde, ihr Zorn würde sich nur steigern. Zu seinem Glück rettete ihn der Alarmton.

„Was denn jetzt?“ fragte er ängstlich.

„Showtime. Wo ist der Waffenschrank?“ änderte Dina ihre Prioritäten und schob ihn weiter Richtung Zellentrakt. Erst vor einer unscheinbaren Kiste an der Wand kamen sie zum stehen. Seine Genetik passte zu dem Schloss und zum Vorschein kam eine Betäubungspistole.

„Schon wieder so ein Spielzeug.“ Nach Cree war sie erneut gezwungen damit gegen tödliche Waffen vorzugehen. Zu ihrem Bedauern verschärfte sich das Problem sogar noch, als die Pistole in ihrer Hand blockierte. Erst nachdem Male übernahm, gab das genetische Schloss die Waffe frei.

„Ich ziele. Du drückst ab.“ Sie war jetzt hinter ihm und umklammerte sein Handgelenk. Wie ein Kanonenrohr schwenkte sie seinen ausgestreckten Arm die volle Breite des Ganges ab. Wie aufs Stichwort tauchte eine Gestalt aus der eigentlich verschlossenen Zelle auf und bot sich förmlich als Versuchsobjekt an.

„Feuer.“ brüllte Dina nachdem sie den Arm dahingehend ausgerichtet hatte.

Nichts passierte und Dina sah sich gezwungen mit einer schmerzhaften Verdrehung seines Handgelenkes ihm die Wichtigkeit ihres Befehls klar zu machen.

„Das nächste Mal breche ich dir das Gelenk.“ drohte sie und endlich drückte Male ab. Der Mann vor ihnen sackte unmittelbar in sich zusammen.

„Geht doch. Und jetzt bring mich zum nächsten Rechner.“ Sie schob ihn vorwärts den Gang entlang und die Art der Fortbewegung erinnerte an ein Tanzpaar, das ihren Tango in seltsamer Formation zum Takt des Alarmtones vollführte. In dieser ungewöhnlichen Pose tänzelten sie in den kleinen Arbeitsraum und wurden von rechts recht blumig begrüßt.

„Was für eine Scheiße läuft denn hier?“ Dina wirbelte Male um neunzig Grad nach rechts und brüllte jenen Befehl, der gerade in einer schmerzhaften Lektion erlernt wurde. Diesmal gab es kein Zögern und die sensationelle Reaktionszeit verleitete Dina zu einem spöttischen Lob.

„Sag mir, was los ist.“ Sie nahm seine Waffe und drückte Male in den Stuhl vor dem Rechner. Mit jedem Wischen auf dem Monitor wurde sein Gesicht blasser.

„Großalarm. Auf Deck drei ist wohl eine Revolte ausgebrochen. Normalerweise verriegeln die Türen auf dem restlichen Schiff. Es ist aber genau das Gegenteil der Fall. Das totale Chaos. Alles ist offen. Selbst die Verbindungen zwischen den Decks. Jeder kann überall hin. Spinnen die da oben im Kontrollraum?“ Males Stimme war brüchig.

„Und Trakt B?“

„Gas. Auch noch die tödliche Sorte.“ entfuhr es Male.

„Wir müssen sofort dahin.“ Dina ließ keinen Widerspruch zu und brachte die beiden wieder in die falsche Tangoposition. Im Gleichschritt marschierten sie bis zum Durchgang nach Trakt B und zu Males Überraschung war die ewig verschlossene Tür zum zweiten Mal an diesem Tag offen. In panischer Angst versuchten scheinbar eine Million Menschen gleichzeitig den Trakt zu verlassen und da dies in chaotischer Art und Weise passierte, war die Effizienz der Evakuierung unterirdisch. Wie ein verstopftes Rohr blockierten die Flüchtenden den Ausgang und nur ab und zu wurden durch den immer stärker werdenden Druck der Masse einige Wenige förmlich ausgespuckt.

„Da kommen wir nie durch.“ resignierte Dina.

„Das ist auch gut so. Da drinnen ist tödliches Gas.“ erinnerte Male sie unnötigerweise.

„Ich habe in einer euren langweiligen Vorschriften von Schutzmasken gelesen. Wo sind die?“ Male war jetzt genervt, denn sein einziges Ziel war die Flucht von diesem Schiff, bevor alles endgültig eskalierte. Wenn er weiter gezwungen war dieser Frau zu folgen, führte das eindeutig in die falsche Richtung. Von daher benötigte es erneut Dinas spezielle Überredungskünste, um ihn zu dem Schrank mit den Masken zu führen. Sie entnahmen drei Stück und machten sich zurück auf den Weg zu Trakt B.

Dort angekommen herrschte überraschenderweise gespenstische Ruhe. Keine Menge mehr, die versuchte panisch durch ein Nadelöhr zu fliehen und kein Alarm der ohrenbetäubend durch die Gänge schallte. Nur noch Stöhnen und Gewimmer hallte leise durch den Flur. Offenbar waren die Schwächsten auf der Strecke geblieben und sind einfach nieder getrampelt worden oder zeigten erste Auswirkungen des Giftgases. Dina überlegte, ob sie eine der Masken überziehen sollte, merkte aber schnell, dass die Verletzungen der Personen zu ihren Füßen keine unmittelbaren Folgen des Gases waren. Jemand hatte sich einfach den Weg frei geschossen. Der Blick auf die andere Seite der Tür bestätigte ihre These. Knapp ein Dutzend Leichen befanden sich in dem Gang zu Trakt B. Panisch ließ Dina ihren Blick schweifen, aber Eva war nicht unter den Toten.

„Herr Direktor.“ winselte Male und fiel auf die Knie. Eine massige Gestalt lag vor ihm. Die Größe der Blutlache ließ nur noch auf begrenzte Lebenszeit schließen.

„Wo ist Eva?“ brüllte Dina ihn an.

„Lass ihn in Ruhe.“ Auch wenn Male Koppar in letzter Zeit so gut wie nicht zu Gesicht bekommen hatte, war dieser ein konstanter Faktor im Gefängnisuniversum der „Violenta“. Der Tod der wichtigsten Person an Bord würde unweigerlich Veränderungen mit sich bringen und das nicht nur in der lieb gewonnen Struktur des Alltages. Sein mühsam erkämpftes Punktekonto im Ringen um lukrative Posten würde mit einem Schlag auf Null zurückgesetzt werden und wer weiß, ob Koppars Nachfolger ihn mit derselben Wertschätzung für seine Arbeit adeln würde. Sein ganzer Lebenszweck war im Begriff zu sterben.

Dina lief die Zeit davon und die Leichen in ihrem unmittelbaren Umfeld drückten die Hoffnung auf ein Überleben ihrer Freundin ohnehin auf ein Minimum. Entweder war sie als Gefangene mit dem schießwütigen Mob in Richtung Oberdeck ausgebrochen oder sie befand sich immer noch im Trakt B, der stetig mit Giftgas geflutet wurde.

„Wo ist meine Freundin? Ist sie immer noch da drin?“ Dina war innerlich zerrissen. Sie wollte nicht hier sitzen und diesem fetten Kerl beim Sterben zu sehen. Es war dringend notwendig zu handeln, bloß war ihr die Richtung nicht klar. Was, wenn sie die falsche Entscheidung traf? Ihr Blick fiel in den Gang von Deck 7. Eine stattliche Ansammlung von Kriminellen überrannte gerade das Schiff und wenn Eva dieser Weg aufgezwungen wurde, gab es gleich mehrere Varianten für ihren möglichen Tod. Dina musste eine Wahl treffen und da Koppar mit seinem Ableben nicht mehr zur Entscheidungsfindung beitragen konnte, blieb ihr nichts anderes übrig, als ihren Instinkten zu trauen. Sie schloss die Augen, atmete einmal tief durch und sprintete los.

 

Wann fing das an? Ab welchem Zeitpunkt war sein Leben aus dem Ruder gelaufen? Eric kramte in den Erinnerungen und legte sich auf jenen Tag fest, als dieses bezaubernde blonde Wesen in sein Laden auf Lassik spazierte. Hübsch ja, aber da gab es viele in seiner Heimat die anstandslos derselben Kategorie angehörten. Was ihn damals wirklich um den Verstand brachte, war ihre Gelassenheit, als er seinen typischen Mix aus sozialer Inkompetenz und arroganter Weltsicht auf sie herab regnen ließ. Dieser Fluchtreflex, der sich spätestens nach fünf Minuten Unterhaltung bei fast jedem Mädchen im Gesicht ablesen ließ, fehlte bei ihr vollkommen. Die Hoffnung, dass trotz all seiner Macken eine Göttin sich herablassen würde in ihm mehr als einen nützlichen Nerd zu sehen, der zur Reparatur ihres Heißluftföns zwar gut genug war, aber ansonsten auf Abstand gehalten wurde, ließ ihn das Wagnis von krummen finanziellen Geschäften eingehen. Der Anfang einer langen Kette von Ereignissen, die sein gemütliches ruhiges Leben Stück für Stück in einen Kampf ums Überleben mutieren ließ. Staatsfeind in seiner Heimat, Raumschiffschlachten mit maroder Technik, Dschungelaufenthalt bei hyperintelligenten Gehirnzombies und nun diese Gefängnisrevolte, die auf Grund der Enge des Schiffes kaum Möglichkeiten für Flucht boten. Gegen jede Wahrscheinlichkeit hatte er bis hier hin überlebt, was fast ausschließlich dem Handeln seiner Begleiter geschuldet war. Nun stand er an einem Punkt, an dem er entscheidend auf die Geschehnisse Einfluss nehmen musste. Dieser Fakt war ihm bewusst, allein die Tatkraft fehlte ihm. So stand er vor diesem Raum, haderte mit seinem Schicksal und beschwor sämtliche Gehirnzellen für das weitere Vorgehen. Die boten ihm keine brauchbare Lösung an und als er merkte, dass sich die Tür neben ihm zu schließen begann, ergab er sich seinem Zögern. Sein Verstand hatte sich bereits in dem Ersinnen von Ausreden geflüchtet, für den Fall das jemand fragen würde warum er nicht gehandelt hatte, als Zajas zusammen gefaltete Jacke das eigentliche Schließen verhinderte. Sie musste sie beim Eintreten mit dem Fuß so platziert haben, dass sie genau zwischen Tür und Angel lag. Ein paar Sekunden wurde sein Gewissenskonflikt also verlängert, aber das reichte, um seine Meinung zu ändern. Der ausschlaggebende Faktor war Eva, die durch sein Zaudern unwiderruflich den Gefahren der Revolte ausgesetzt war. Bevor er in die Muster einer langwierigen Risikoabschätzung verfiel, stürzte er sich mit aller Macht gegen die Tür und überraschte nicht nur O’Boyle, sondern am meisten sich selbst.

Seine Instinkte hatten das Handeln übernommen und ähnlich wie ihrem Besitzer selbst, fehlte es denen an brauchbaren Erfahrungen, um einen Angriff dieser Kategorie erfolgreich zu gestalten. Mal abgesehen davon, dass er gegen ein halbes dutzend ausgebildete Wärter überhaupt nichts ausrichten konnte, außer sie vielleicht mit Inbrunst anzuschreien, war allein schon die Dosierung der Wucht des Aufpralls eine gewaltige Fehleinschätzung. Gewicht der Tür und Energie des Anrennens waren so gegensätzlich, dass praktisch keinerlei Widerstand sein Anstürmen bremste. Er flog förmlich in den Kontrollraum und zu seinem Unglück stolperte er auch noch über einen leblosen Körper, der kein Meter hinter dem Eingang sein wenig durchdachtes Unterfangen buchstäblich zu Fall brachte.

Er fluchte, als er sich aufrappelte und erwartete in eine Vielzahl an Waffenmündungen zu schauen, aber zu seiner Überraschungen gab es Niemanden, der noch aufrecht stand. Was zum Teufel war hier passiert? Eine einzige Bewegung konnte er noch ausmachen und die wurde begleitet vom Jammern eines blutenden O’Boyles. Dieser musste die Tür frontal an den Kopf bekommen haben, als er erfolglos versuchte den Raum zu verschließen.

„Ha.“ brüllte Eric im Rausch des Endorphins. Von allen Anwesenden war er in der weitaus besten Ausgangslage. Er ging rüber zu Zaja, die keine zwei Meter von ihm leblos auf dem Rücken lag. Der aufgepeitschte O’Boyle konnte ähnlich einem Kleinkind der Geschenkverpackung nicht widerstehen, denn ihre Brüste waren frei gelegt, was Eric zu einem inneren Konflikt trieb. Er entschied sich vorerst gegen eine Änderung des Anblickes und widmete sich O’Boyle. Der hatte seine Waffe verloren und war damit keine unmittelbare Gefahr, aber sollte er sich halbwegs wieder fangen, hätte Eric im direkten Duell vermutlich keine Chance. Schnelles Handeln war somit gefragt. Vorsichtig hakte sich Eric bei ihm unter und half ihm auf die Beine. Der verwirrte Blick von O’Boyle bewies, dass dieser die Nachwirkungen der Tür noch nicht verarbeitet hatte.

„Die Nippel. Schau dir ihre Nippel an.“ faselte O’Boyle in einer Mischung aus Begeisterung und Verwirrung. Offenbar waren seine letzten Gedankengänge aus der Zeit vor dem Türschlag hängen geblieben. Eric widerstand dem Reflex einen Blick auf die viel beschworenen Brüste zu werfen und führte stattdessen O’Boyle zur Tür. Er setzte ihn genau dort ab, wo er seinen Sturmlauf startete und entfernte Zajas Türstopper, damit sie im Inneren ungestört vor ungebetenen Gästen waren.

„Hey aufwachen.“ Eric stand einen guten Meter entfernt und ihm fehlte der Mut sich der halbnackten Zaja zu nähern. Nach einem weiteren verbalen Versuch sah er die Sinnlosigkeit seines Handelns ein und kniete sich neben ihr nieder. Er tätschelte vorsichtig ihre Wange, aber auch das brachte keinen Erfolg. Vorsichtig bedeckte er ihre Blöße und mit einem gewissen Bedauern registrierte er die verpasste Chance seine im Dschungel entstandene Fantasie über ihren Körper mit der Realität abzugleichen. Seine Schüchternheit siegte über seinen verklemmten Trieb und da er ganz auf sich allein gestellt war, beschloss er das zu tun, was ihm Stabilität verlieh. Er widmete sich dem Leitrechner.

Zu den Nebenwirkungen von Zajas sexueller Attacke auf O’Boyle gehörte das Versäumnis die Kontrollen zu sperren. Damit hatte Eric nicht nur Zugriff auf die unmittelbaren Geschehnisse des Gefängnisalltages, sondern auch auf die Steuerung des Schiffes. Lebenserhaltung, Antrieb sogar Navigation waren von dieser Station aus steuerbar. Eine Position, die ihn gottgleich wirken ließ, denn jeder auf diesem verdammten Seelenverkäufer war nun seinen Launen ausgeliefert und wenn er es wollte, konnte er mit einem Tastendruck die „Violenta“ an den Rand der Galaxie befördern. In seinen Vorstellungen jedenfalls und bevor er sich den Kopf darüber zerbrechen konnte, welche Taste denn für den Transport ins Ungewisse gedrückt werden musste, fesselte ihn der Informationsbildschirm, der beunruhigende Nachrichten enthielt.

Neben den üblichen Meldungen zu der Revolte fielen ihm zwei harmlos erscheinende Buchstaben auf. VX. Welche römische Zahl war das doch gleich? Er kramte in einsamen Nächten angelerntem Bücherwissen, musste aber schnell feststellen, dass er hierbei auf dem Holzweg war. Die Erklärung zu VX lag also irgendwo anders in seinem mit Wissen überhäuften Geist und obwohl er noch nicht wusste, um was es sich genau handelte, war diese einfache Kombination von Buchstaben mit etwas Gefährlichem belastet. Dieser verdammte Alarmton verhinderte ein effizientes Nachdenken und so änderte er seine Prioritäten vorerst. Ganze fünf Minuten brauchte er, um das nervige Geräusch abzustellen und die Erkenntnis, dass der Weg an den Rand der Galaxie vermutlich mehr als nur ein Tastendruck benötigte, wurde durch die Erleuchtung über die traurige Wahrheit von VX förmlich pulverisiert. Eine wilde Mischung aus Methylen, Sulfanylen und wer weiß was noch, die nur einen Zweck hatte. Tod. Eine Massenvernichtungswaffe auf chemischer Basis und das der Leitrechner sich veranlasst sah dazu eine Warnmeldung herauszugeben, ließ Erics Eingeweide verkrampfen.

„Abstellen. VX abstellen.“ brüllte er den Rechner an. Panisch wischten seine Finger über den Bildschirm und während er in den Untermenüs nach dem Abstellknopf für die Gaszufuhr suchte, schweifte sein Blick gelegentlich durch den Kontrollraum, immer Ausschau haltend nach grünen Giftwolken, die durch die Lüftung auf ihn zu schweben könnten. Selbst die Logik, die ihm versicherte, dass VX farb- und geruchlos war, konnte ihn nicht davon abbringen gelegentlich nach unbekannten Gerüchen zu schnüffeln.

Entspannung trat erst ein, als er merkte, dass sich VX ausschließlich auf Ebene 7 in Trakt B ausbreitete. Dem Tod nicht unmittelbar ausgesetzt, zwang er sich wieder zu rationalerem Denken. O’Boyle hatte es also nicht bei KO-Gas belassen und damit jede Menge Menschenleben gefährdet. Wie viele konnte Eric nur erahnen, aber die internen Scanner würden vermutlich präzise Zahlen liefern. Auch wenn es ihm in den Fingern juckte sich ein Bild über die Zustände in Trakt B zu machen, gab es vorher andere Dinge, die dringend erledigt werden mussten. Ganz oben auf der Liste stand das VX und nach scheinbar stundenlangem Suchen, fand er endlich das Ventil für den Stopp der Gaszuführung. Wie viel von Trakt B bereits kontaminiert wurde, konnte er nicht feststellen und so suchte er weiter nach einer Möglichkeit dort unten ordentlich durchzulüften, aber die tausend Untermenüs ließen ihn förmlich verzweifeln. Er gab auf und widmete sich jetzt den internen Scannern. Tatsächlich gab es noch Leben in Trakt B, das durch kleine grüne und gelbe Punkte in einer topgraphischen Karte der Gänge angezeigt wurde. Ein Zeichen dafür, dass der Trakt noch nicht komplett mit dem tödlichen Gas überflutet wurde. Warum auch immer diese Punkte die automatischen Giftgaswarnungen ignorierten und Trakt B nicht verließen, der Grund würde früher oder später zu ihrem Tod führen. Als Beweis dieser These verschwanden mehrere Signale in einem großen zentralen Raum. Obwohl Eric die Zufuhr gestoppt hatte, breitete sich das Gas ungehindert aus und würde die Anzahl der Punkte weiter verringern. Gelähmt vor Panik starrte Eric auf den Bildschirm, denn die Gefahr war groß, dass es die einzig wichtige Person in seinem Leben erwischen könnte. Er musste sich was einfallen lassen, denn die letzten Punkte in Trakt B drohten zu erlischen.

 

Dina folgte einer Spur der Verwüstung. Wen immer sie da auch vor sich hertrieb, diese Leute waren nicht zimperlich bei ihrem Vorankommen. Tote und Verletzte säumten die Gänge von Deck 7 und dienten als blutige Wegweiser ihrer Verfolgung. Es fiel ihr schwer, das Gewimmer der Verwundeten zu ignorieren, aber sie musste Prioritäten setzen und die lagen in den Katakomben vor ihr. Die Planlosigkeit, mit der sie sechs bewaffnete Soldaten in unbekanntem Gelände verfolgte, die zu allem Überfluss auch noch Eva und Sentry als Geiseln hielten, wurde ihr erst so richtig bewusst, als es schon zu spät war. Mit eiligem Schritt flog sie um die Kurven, angetrieben durch die Sorge um ihre Freundin. In einem dieser elendig langen Gänge, an denen rechts und links scheinbar unendlich viele Zellentüren für ihre eigene Form der Symmetrie sorgten, passierte das Unausweichliche. Sie traf auf die Verfolgten. Ihr Glück war die Entfernung, die zwischen ihr und der Gruppe lag, so dass der nach hinten absichernde Soldat nicht die benötigte Präzision in den Schuss legen konnte und sie verfehlte. Bevor er einen zweiten Versuch starten konnte, verschwand Dina wieder hinter der Ecke, die sie gerade noch so sorglos umkurvt hatte. Sie presste sich an die metallische Wand, atmete tief durch und war froh nicht einer dieser wehklagenden Verletzten geworden zu sein, die Deck 7 förmlich zum Lazarett machten.

Was sollte sie tun? Sie zwang sich zum logischen Überlegen, aber genau das zeigte ihr die Aussichtslosigkeit ihrer Situation auf. Auch wenn sie gewisse kämpferische Qualitäten hatte, wäre sie vermutlich schon gegen einen dieser Soldaten hilflos unterlegen, selbst wenn dieser vollkommen unbewaffnet war. Ihr blieb also nichts weiter übrig, als die Rolle der passiven Beobachterin einzunehmen und ihren Körper so weit wie möglich aus der Schussbahn zu halten. Vielleicht ergaben sich auf den oberen Decks Möglichkeiten für ein Eingreifen, aber die rigorose Vorgehensweise der Soldaten ließ da nicht viel Hoffnung aufkommen. Vorsichtig schaute sie um die Ecke und war erstaunt den Gang vollkommen leer vorzufinden.

Der Trupp war also weiter gezogen und als Dina die Treppe am Ende des Ganges erblickte, wurde ihr der ursprüngliche Plan wieder bewusst. Wenigsten dieser Teil war aufgegangen und auch wenn sie immer noch nicht wusste, wie sie diesen Erfolg in etwas Zählbares umsetzen konnte, verlieh ihr dieses gewollte Szenario neue Hoffnung und damit neue Energie. Vorsichtig schlich sie den Gang entlang bis zur untersten Stufe und horchte auf die undefinierbaren Geräusche über ihr.

Trotz aller Vorsicht knarrte das Metall, als Dina den Aufstieg begann. Sie hielt den Atem an und hoffte, dass das verräterische Geräusch nicht irgendjemand dort oben veranlasste eine Kugel in ihre Richtung zu schicken. Ihr Blick wanderte die spiralförmig gewundene Treppe hinauf, aber sie konnte Niemanden ausmachen. Die Erleichterung wurde nur durch die gespenstige Stille getrübt, die ihr erst jetzt so richtig bewusst wurde. Das Leben auf der „Violenta“ war geprägt durch den Mangel an Privatsphäre und ein Übermaß an Lärm. Eine Konstante, an die sich Dina die letzten Tage gewöhnt hatte. Jetzt herrschte in der untersten Ebene auf Grund des Amoklaufes mittlerweile unnatürliche Ruhe. Diejenigen, die sich diesem Drama entziehen konnten, verkrochen sich in entlegene Winkel und versuchten jegliche Form von Aufmerksamkeit zu vermeiden. Mit dieser Taktik prägten sie die neue Atmosphäre auf Deck 7, die verstärkt durch die vielen Leichen einem Geisterschiff glich.

Die Treppe endete bereits eine Ebene höher und als Dina auf der obersten Stufe angekommen war, zögerte sie die Tür zu Deck 6 zu öffnen. Was sie auch immer dahinter erwartete, es war mit hoher Wahrscheinlichkeit nichts Gutes. Im besten Fall fand sie nur weitere Leichen und im schlimmsten Fall kam sie erneut ins Kreuzfeuer der Soldaten. Sie musste sich regelrecht zwingen das Unvermeidliche zu tun und als sie endlich die Energie freisetzte die Tür aufzuschieben, gelang ihr das nur mit großer Anstrengung. Irgendwas oder irgendjemand blockierte den Zugang und ermöglichte nur einen Spalt als Öffnung.

Es war schwer einzuschätzen, ob die Öffnung reichen würde, dass sie sich auf welche Art auch immer hindurchzwängen könnte. Nach einem erneuten vergeblichen Versuch die Tür weiter aufzuschieben, sah sie ein, dass es keinerlei Alternative gab. Sie steckte ihren Kopf durch den Spalt und in Erwartung eines Kopfschusses oder eines Einschlages inspizierte sie die Gegend hinter der Tür. Wieder nur eintönige Gefängnisarchitektur, die zu ihrem Glück sich als Stillleben darstellte. Wieder herrschte diese unnatürliche Ruhe, als unmittelbare Folge eines Massakers. Ihr Blick fiel auf den Boden hinter der Tür und die Vermutung, dass eine erneute blutige Hinterlassenschaft des Stoßtrupps die Tür blockierte, bewahrheitete sich. Gleich mehrere Leichen stapelten sich in dem Gang und zeugten von dem Kampf, der keine fünf Minuten her sein konnte. Dieses Mal handelte es sich bei den Toten nicht ausschließlich um Gefangene. Zwei Uniformen konnte sie erkennen. Scheinbar war der Trupp förmlich überrannt worden und hatte nicht ganz so leichtes Spiel wie ein Deck tiefer.

Sie zwang sich weiter durch die Tür, aber ihr Brustkorb stellte sich als großes Hindernis dar. Obwohl sie wahrlich keine üppige Oberweite vorweisen konnte, stoppten ihre Brüste das ohnehin schon mühselige Durchkommen. Unter Schmerzen schaukelte sie ihren Oberkörper Zentimeter für Zentimeter durch den Spalt und der raue Stoff der Uniform scheuerte wie Sandpapier auf ihrer Haut. Mit unbändiger Kraft kämpfte sie sich weiter ins Freie und als sie unmittelbar vor dem Durchbruch stand, ließ ein kleiner roter Punkt ihre Energie auf Null sinken. Dieser bewegte sich ein paar Sekunden entlang ihres Oberkörpers, entzog sich aber irgendwann ihrem Blickfeld, indem er Hals auf wanderte. Das eigentliche Ziel war sicherlich ihre Stirn und die kurze Blendung ihres linken Auges bestätigte diese Annahme. Es gab keine Zweifel mehr. Sie befand sich im Fadenkreuz eines Scharfschützen.

Ihr Henker hatte sich als Opfer getarnt und lag keine zehn Meter entfernt in jenem Gang, den sie in ihrer Erstprüfung fälschlicherweise als unkritisch eingestuft hatte. Vermutlich war sie in all ihren Bemühungen den Spalt zu durchkriechen nie unbeobachtet geblieben und hatte für jede Menge Erheiterung mit ihrer Rüttelorgie gesorgt. Offensichtlich verlor die Vorstellung mittlerweile ihren Reiz, so dass es Zeit wurde für neuen Spaß.

„Bye, bye, Süße.“ raunte die vermeintliche Leiche und die Worte wurden mit einem kurzen, negativ behafteten Piepsignal begleitet. In Dinas Ohren klang dieser Ton wie die Auferstehung ihrer eigenen Seele. Ihr wurde weiteres Bleiberecht in dieser Welt gestattet und diese Waffe war nicht das Werkzeug für den endgültigen Abgang, da ihr Besitzer als genetisch unkompatibel abgelehnt wurde. Die Euphorie wich der Erkenntnis sich ein weiteres Mal geirrt zu haben. Sie hatte eigentlich nur Zeit gewonnen und die paar Sekunden drohten durch die Erleichterung über den entgangen Tod auch noch verschwendet zu werden. Hektisch fing sie wieder an mit dem Rütteln ihres Oberkörpers, als sich ihr Scharfrichter Gewehr schwingend und stolpernd auf sie zu bewegte.

Ihr Angreifer war ein Häftling mit einer Verletzung am rechten Bein, der in seiner Naivität glaubte mit der erbeuteten Waffe wahllos durch die Gegend schießen zu können, kombinierte ihr Geist nebenher, weil der mit dem Schütteln des Oberkörpers geistig unterfordert wurde. Noch bevor diese schwankende Gestalt ihren entscheidenden Schlag ausführen konnte, befreite sich Dina aus der unglücklichen Situation, in die sich aus der Not heraus selbst gebracht hatte. Gekonnt rollte sie sich vor seine Füße und trat ihm gegen den rechten Oberschenkel, an dem sie seine Verwundung vermutete. Ein lauter Schrei gab ihr Recht in dieser Annahme und winselnd sank er auf die Knie. Sie entriss ihm das Gewehr packte es am Lauf und holte aus.

„Bye, bye. Großer.“ raunte sie im selben Tonfall, wie er keine halbe Minute zuvor. Sein Gesicht war voller Angst hinsichtlich des bevorstehenden Schlages. Unfähig um sein Leben zu betteln, verharrte er in Schockstarre auf sein Ende. Der Gewehrkolben sauste auf ihn nieder und stoppte keine zehn Zentimeter vor seiner Stirn.

„Genug Tote für einen Tag.“ sagte Dina leise und ließ von ihm ab.

„Die Soldaten. In welche Richtung sind sie?“ fragte sie scharf. Zitternd zeigte er den Gang entlang.

„Hatten sie eine Frau dabei?“ Das Zittern des Kopfes interpretierte sie als ja und damit machte sie sich in die angezeigte Richtung auf. Der Trupp war jetzt bloß noch zu viert und Deck 1 war bisher nicht entscheidend näher gekommen. Wie eine Bugwelle räumten die Soldaten alle Hindernisse aus dem Weg und Dina fuhr in vermeintlich sicherem Kielwasser hinterher. Es war unklar, wie lange diese Taktik noch aufgehen würde.

Vorsichtig schlich sie den Gang entlang und die unnatürliche Stille verstärkte jedes ungewollte Geräusch ins scheinbar Unendliche. Sie verlangsamte ihre Schritte, aber ganz konnte sie den metallischen Widerhall des Bodens nicht vermeiden. Die Türen rechts und links des Ganges waren unverschlossen und so sehr sie auch auf verräterische Laute dahinter lauschte, sie konnte nichts ausmachen. Es nützte nichts. Selbst wenn hunderte von Gefangenen hinter diesen Türen lauerten und nur darauf warteten im richtigen Moment hinauszustürmen, sie musste diesen Weg gehen. Dieses Überfallszenario setzte sich so in ihrem Geist fest, dass sie drohte in Schockstarre zu verfallen. Also stoppte sie ihre Schritte, atmete kurz durch, sammelte jedes Quäntchen Zuversicht in ihrem Innern zusammen und steuerte vollkommen enthemmt auf die Kreuzung am Ende des Ganges zu. Erleichtert ohne Übergriffe am Ziel angekommen zu sein, gönnte sie sich einen Moment der Entspannung und bevor sie sich das weitere Vorgehen überlegen konnte, brach doch noch das Inferno los.

Das Gebrüll aus scheinbar tausend Kehlen wäre schon ohne den Widerhall der metallischen Wände Angst einflößend, aber diese ungewollte Verstärkung ließ Dina für einen Moment jeglichen Mut verlieren. Soviel geballte Wut drohte auf sie niederzugehen, dass ihr jegliche Gegenwehr sinnlos erschien. Welcher Mob da auch immer seinen Angriff startete, sie ergab sich ihrem Schicksal und nicht der drohende Tod lähmte ihr Handeln, sondern die Erkenntnis über die Aussichtslosigkeit, mit der sie ihrem Ende entgegen sah. Der freie Fall als Naturkonstante ins Verderben, denn die Physik der Schwerkraft kannte nur ein Ergebnis. Den Aufprall. Dass sie gar nicht abstürzte, merkte sie erst, nachdem sie auf die Knie gesunken war, mit den Händen schützend über dem Kopf da hockte und auf den vernichtenden Einschlag wartete.

Zu ihrem Glück hatte sich Dina kräftig geirrt, was das Ende ihres bisher viel zu kurzen Lebens anbetraf. Vorerst jedenfalls. Das Ziel dieser ohrenbetäubenden Attacke war nicht sie, sondern lag in dem Gang rechts vor ihr und dahin verlagerten sich nun auch die Kampfschreie, die überraschend schnell an Intensität nachließen. Ein gelegentliches „plopp“ aus den Gewehrläufen der Soldaten schmälerte den Siegeswillen der Angreifer, die mit dieser Art von Gegenwehr nicht gerechnet hatten. Die Wut hatte sie blind gemacht und der Drang auf Zerstörung nach jahrelanger Demütigung und Isolation hatte sich seinen verhängnisvollen Weg gebahnt und traf jetzt an seine Grenzen. Weitere Leichen auf dem Weg ans Oberdeck.

Erneut trotzte Dina dem sicher geglaubten Tod, aber die Arroganz mit der sie sich eine scheinbare Unsterblichkeit attestieren wollte, konnte sich nicht so Recht entfalten. Das Kampfgetümmel vor ihr erinnerte sie an den eigentlichen Grund dieser selbstmörderischen Verfolgung. Sie wagte einen Blick in den Gang konnte in dem Gewirr aus Gefängniskleidung und Uniformen weder Sentry noch Eva erkennen. In scheinbar sicherer Entfernung beobachtete sie die Kampfhandlungen, die trotz der Waffen keinen guten Ausgang für die Soldaten erkennen ließ. In dem schmalen Gang saßen sie in der Falle und trotz der erstaunlichen Quote an Wirkungstreffern schien die Flut der Angreifer nicht abzuebben.

Der Ausgang ihrer Rettungsmission drohte zu scheitern und jegliche Überlegungen, wie denn Dina die unausweichliche Katastrophe noch verhindern konnte, endeten in dem immer gleichen tödlichen Finale. Sie stand buchstäblich am Scheideweg ihres Lebens. Der Weg nach vorn würde sie unweigerlich zu einem weiteren Opfer machen, dass mit seinem Blut die metallischen Wände in ungewohntes Rot tauchen würde. Die Alternative zu diesem heroischen Abgang wäre diesen Gang zurück zu gehen, sich irgendwo zu verkriechen und das Ende der Revolte abzuwarten. Würde ihr Gewissen ihr diese Entscheidung irgendwann verzeihen? Vor ein paar Wochen stellte sich diese Frage überhaupt nicht. Was zum Teufel war passiert, dass sie in diese vollkommen absurde Situation geraten war? Ihr Leben war doch so simpel. Es gab nur einen wichtigen Inhalt und der war sie selbst. Einfache Struktur gleich einfache Entscheidungen. Eine Formel die ihren Sinn verloren hatte. Die Komplexität des Lebens hatte sie wieder und gipfelte in diesem irrwitzigen Dilemma. Ihr Verstand kramte die scheinbar hundert Jahre alte Erinnerung an eine Wette auf Lassik aus dem Gedächtnis. Damals im „junction“ hatte sie Sentry mitleidig belächelt für seine recht einfältige Sicht auf die Welt. Heute steht sie ihm in Sachen Einfältigkeit in nichts nach und das Verrückte ist die Akzeptanz, mit der sie diese Einstellung teilt. Diese Erkenntnis ist der Abschluss einer Metamorphose, die verhindert, dass sie diesen Gang zurückgeht, um sich irgendwo zu verstecken. Der Schrei einer Frau riss sie aus den Gedanken und wie ein Krieger, der unwiderruflich in seine letzte Schlacht zieht, hob sie das Gewehr über ihren Kopf und tat das, was sie eigentlich nie für möglich gehalten hatte. Sie beglich eine Wettschuld.

Mit neu gewonnenem Mut sprang sie förmlich um die Ecke. Der Gewehrkolben sollte auf den erst besten Angreifer niedersausen, der sich ihr in den Weg stellen würde. Ihr Plan war es danach mindestens noch einen zweiten Angreifer damit nieder zu strecken und mit viel Glück vielleicht sogar einen dritten zu erwischen, aber bevor sie überhaupt aktiv ins Geschehen eingreifen konnte, erschütterte eine ohrenbetäubende Explosion den Gang. Jemand, ob nun aus Versehen oder in einem heroischen letzten Akt vor dem Tod, zündete mitten in dem Knäuel von Menschen eine Granate und sorgte damit für ein unglaubliches Massaker. Der menschliche Schutzwall verhinderte, dass Dina aktiv von herum fliegenden Splittern getroffen wurde, aber trotzdem ging die Explosion nicht spurlos an ihr vorüber. Ihre Ohren stellten die akustische Wahrnehmung komplett ein und sendeten nur noch einen hohen Dauerton an das Gehirn. Der Verlust des Gehörs war das geringere Übel gegenüber dem optischen Desaster, was sich ihr bot. Die Wucht der Granate zerfetzte förmlich den inneren Kreis der Angreifer, die zwar ein schneller Tod ereilte, dieses Privileg aber mit dem Verlust von diversen Körperteilen bezahlten. Diese wurden regelrecht in alle Richtungen geschleudert und manifestierten sich als einer der ekligsten Erlebnisse, die Dina in ihrem bisher nicht ereignisarmen Leben gesehen hatte. Der äußere Kreis hatte dahin gehend mehr Glück und kam mit Verletzungen unterschiedlicher Stärke davon. Die Explosion hatte die Kampfhandlungen zum Erliegen gebracht, da mit Ausnahme von Dina, jeder mit den Nachwirkungen in Form von offenen Wunden zu tun hatte.

„Nein.“ brüllte Dina, die trotz aller Anstrengung ihre eigene Stimme nicht hörte. Es war vorbei. Ihre Freunde lagen vermutlich in Stücke gerissen vor ihr.

 

Es bedurfte nicht viel an Kombinationsgabe, als Eva die vier Personen vor Gregors Zelle erblickte. Sie waren aufgeflogen und der Grund dafür lag in dieser typischen Mentalität der hiesigen Angestellten, die sich aus Rivalität und Missgunst speiste. Male hatte seine Chance ergriffen und für sich wichtige Pluspunkte gesammelt im Ringen um zweifelhafte Privilegien in dieser traurigen Welt aus Tristes. Eva empfand keine Wut über den Verrat, gehörten doch solche Spiele Jahre lang zu ihrem Alltag auf Lassik und da sie diese Phase ihres Lebens mittlerweile als lehrreiches Missverständnis aus der Vergangenheit abgehakt hatte, überwog das Mitleid über die ihrer Meinung nach rückständige Einstellung ihres Kollegen. Die Gewissheit, genau diesem Level aus Egoismus und Gier nach oben hin entkommen zu sein, gab ihr ein gutes Gefühl und bestätigte sie in ihrem eingeschlagenen Weg. Paradoxerweise lächelte sie, als sich die Aufmerksamkeit und damit auch die Gewehrläufe in ihre Richtung verlagerten. Was immer auch jetzt passieren würde, die getroffenen Entscheidungen der letzten Wochen fühlten sich gut an, auch wenn sie vielleicht in ihrem Tod enden würden. Zum ersten Mal in ihrem Leben gab es keine Reue über ihre Taten, denn die Eva aus ihren Vorstellungen hatte noch nie so viele Gemeinsamkeiten mit der Realität, wie in diesem Moment. Mit unerwartetem Selbstvertrauen steuerte sie auf die Bedrohung zu und verblüffte damit vor allen Dingen Male, der nicht glauben konnte, wie gelassen Eva ihr Schicksal akzeptierte.

„Abführen.“ forderte Koppar die beiden Soldaten auf, die nicht sehr begeistert schienen sich von einem übergewichtigen Zivilisten Befehle diktieren zu lassen. Male setzte kurz für einen halbherzigen Versuch an, sich als treibende Kraft bei dieser Festnahme zu profilieren, aber er wurde rüde zum Schweigen gebracht. Damit wurde ihm die Gelegenheit genommen auf die zweite potentielle Bedrohung auf Deck 7 hinzuweisen, die irgendwo in den Gängen ihr Unwesen trieb.

Die Vorstellungen über Trakt B hatten auf Grund der Gerüchte so enorme Auswüchse angenommen, dass Eva regelrecht enttäuscht wurde, als sie unfreiwillig die Sicherheitstür durchschritt. Der erste Eindruck ließ keinerlei Unterschiede zu den üblichen Katakomben auf Deck 7 erkennen. Rechts und links des spärlich beleuchteten Zuganges befanden sich jeweils fünf Zellen und die halboffene Tür am Ende des Ganges suggerierte weiteres eintöniges Gefängnisdesign. Wie falsch diese Annahme war, zeigte sich, als sie in den dahinter liegenden Raum geschoben wurde. Ein dutzend Zivilisten verbreiteten eine Betriebsamkeit, die sie an solch einem Ort nie vermutet hätte. Die Atmosphäre des mit kaltem Neonlicht durchfluteten Saales wurde geprägt durch eine Vielzahl an Monitoren, über die emsige Finger hinweg wischten, begleitet von Gesprächsfetzen, die in ihrer Wichtigkeit keinerlei Zweifel zuließen und Schreibtische, deren Unordnung auf Unmengen von Arbeit schließen ließ. Eva hatte einiges an Unannehmlichkeiten in Form von Verhören oder Folter hinter dieser Tür erwartet, aber die Gewöhnlichkeit eines Großraumbüros überraschte sie dann doch und ließ sie etwas entspannen. Mit ihrem Eintreten erlahmte für einen Moment das emsige Treiben, denn offenbar wurden keine Neuankömmlinge erwartet. Dementsprechend groß war die Besorgnis in den Gesichtern der einzelnen Personen, denn jeder Fremdkörper in diesem kleinen abgeschirmten Bürouniversum, vor allen Dingen aus Richtung des Gefängnistraktes, konnte unvorhersehbare Ereignisse auslösen. Die unmittelbare Zukunft würde dieses Misstrauen bestätigen, aber vorerst war Eva nur eine Unbekannte in einem wochenlang eingespielten Gleichungssystem und von daher nahm die Betriebsamkeit nach kurzer Zeit wieder ihr altes Tempo auf.

Koppar verschwand hinter der Tür genau gegenüber. Eva blieb bei ihren Bewachern und nutzte die Zeit, um sich weiter zu orientieren. Neben ihrem Zugang gab es drei weitere Türen, die mittig in den metallischen Seitenwänden eingelassen waren. Unbekannte Bereiche, die durch die zentrale Lage dieses Raumes miteinander verbunden waren. Links von ihr war die Außenwand des Schiffes keine zehn Meter entfernt. Dort war aller Wahrscheinlichkeit nach die separate Andockbucht. Hinter dem rechten Zugang war die Entfernung zum Schiffsrumpf weitaus größer, was Spielraum ließ für weitere Räume mit unbekannter Funktion. Nur nach vorne, dort wo Koppar verschwunden war, tat sich Eva schwer mit der Einschätzung des verfügbaren Raumes. Irgendwo in diesem selbst entworfenen Lageplan befand sich Sentry und alles, was sie bisher an spärlichen Informationen über seinen Verbleib erfahren konnte, deutete auf keinen angenehmen Aufenthalt hin, trotz der normal wirkenden Umgebung. Die Vermutung lag nahe, dass genau hier dieser Laborzirkus stattfand, dem er sich unbedingt entziehen wollte.

Als Koppar wieder erschien, war nichts mehr von der Arroganz, mit der er Male, Eva und die Soldaten bedachte, zu erkennen. Seine Nervosität hatte die Oberhand gewonnen und sein Auftreten, das mittlerweile jegliches Selbstvertrauen vermissen ließ, verriet die verbale Tracht Prügel, die er gerade hatte einstecken müssen. Wer auch immer die ihm verabreicht hatte, stand in der Hierarchie über ihm und das trotz seines Postens des Direktors. Eva würde dieser Person vermutlich gleich gegenübertreten und es war unwahrscheinlich, dass sie nur mit einer ähnlichen Verunsicherung davon kommen würde. Wenn es schlecht lief, stand ihr ein schmerzhaftes Treffen voller Folter bevor und die Furcht davor lähmte ihre Gedankengänge. Der Autopilot steuerte ihre Bewegungen, nachdem sie von den Soldaten vorwärts geschoben wurde, während ihr Geist sich in allen möglichen Szenarien der Qualen flüchtete. Nahrung für ihre Angst, die sie in solcher Intensität noch nie verspürt hatte. 

Diese Angst legte sich erst wieder, als sie in einen kleinen kargen Raum geführt wurde, in dem sich das grelle Neonlicht als einziges Furcht einflößendes Foltermittel herausstellte. Als Mobiliar gab es nur einen schrecklich verbogenen Metalltisch und zwei Stühle, die in Sachen Abnutzung dem Tisch in nichts nachstanden. Ein Gespräch unter vier Augen stand ihr bevor und nachdem die Soldaten sie allein gelassen hatten, betrat nur wenige Sekunden später eine Frau den Raum. Ohne ein Wort der Begrüßung setzte sie sich ihr gegenüber und die unangenehme Stille ließ Eva weiter verkrampfen. Schweigend musterten sich die beiden, bis die Unbekannte endlich begann zu sprechen.

„Du machst nicht den Eindruck, als stammst du wirklich von Lassik.“ fing sie scheinbar belanglos an. Eva wusste nicht wie weit ihre Spionagegeschichte aufgeflogen war. Vielleicht gab es noch den einen oder anderen Ausweg, also gab sie die Unschuldige.

„Warum bin ich hier?“ fragte sie zittrig. Keinerlei Regung war in dem Gesicht zu erkennen, das für Raumfahrerverhältnisse selbst in diesem Licht eine natürliche Hautfarbe aufwies.

„Das will ich von dir wissen.“ Ihre braunen Augen funkelten.

„Ich bin nur eine Angestellte, die ihren…“

„Blödsinn.“ wurde sie rüde unterbrochen. Die Locken wirbelten umher, als der Kopf der Unbekannten nach vorne schoss. Sie stützte sich jetzt mit beiden Armen auf die Kante und der arg geschundene Tisch ächzte unter der Belastung.

„Keine Spielchen mehr. Wir beide wissen, warum du hier bist, aber ich muss dir sagen, eure Mühen waren vergebens.“ Sie zwang sich jetzt zurück auf den Stuhl.

„In diesem Moment verlässt er die Station.“ fuhr sie fort mit neu gewonnener Beherrschung.

„Also ist Sentry am Leben.“ platzte Eva heraus.

„Sentry existiert nicht mehr.“ sagte sie trocken. Diese zwiespältigen Informationen überforderten Eva.

„Es ist unwichtig. Wie viele von euch sind auf der Station? Wie sah euer Rettungsplan aus? Ich will wissen, was ihr vorhattet. Diese verdammten Cree ...“ weiter kam sie nicht, denn der Alarmton erhallte den Raum.

„Zu spät.“ fauchte sie und im selben Moment flog die Tür auf. Einer der Soldaten stürmte in den Raum.

„Giftgasalarm.“ schrie er nur dieses eine Wort. Die Unbekannte sprang hinter dem Tisch hervor und ergriff Evas Arm. Rüde wurde sie von ihrem Stuhl gerissen.

„Bring sie weg. Soll sie verrotten an ihren eigenen Machenschaften.“ Während sich der Griff an ihrem rechten Arm lockerte, wurde sie von links gepackt und durch die Tür geschleppt. Der Soldat drängte sie den Gang zurück Richtung zentralem Büro. Auf dem Weg dorthin kamen ihnen zwei weitere Soldaten entgegen und die schwer verständlichen Armeefloskeln identifizierte Eva als Evakuierung, die umfassend für Trakt B galt. Wie O’Boyle es vorgesehen hatte, war die Tür zur Andockbucht verriegelt worden, so dass ihnen nur der Weg Richtung Zellentrakt blieb. Der Plan war also aufgegangen, nur leider kam er ein paar Minuten zu spät. Die Prioritäten hatten sich somit geändert. Es ging jetzt nicht mehr darum Sentry zu retten, es ging darum lebend von diesem Schiff zu kommen. Ein Vorhaben, was nicht mehr in ihrer Hand lag, denn als sie zurück im Gang zu Deck 7 waren, ging es zu ihrem Leidwesen in eine der anliegenden Zellen. Panik stieg in ihr auf und lähmte ihr logisches Denken. Als sich die Tür hinter ihr schloss, der Lärm der hektisch fliehenden Menge mehr und mehr verstummte und die einsetzende Stille als Vorbote für das drohende Unheil ihre Angst ins scheinbar Unendliche steigerte, wurde ihr bewusst, dass sie allein zum Sterben zurückgelassen wurde. Ihr finaler Moment stand unmittelbar bevor und die letzten Augenblicke verschwendete sie überraschenderweise nicht in Fantasien über die grausigen Einzelheiten ihres giftigen Todes. Reue und Bedauern forderten ihr Recht auf Dominanz beim Abtreten aus dieser Welt. Bei ihrer ganz persönlichen Reise nach Jerusalem war die Musik am abklingen und bedauerlicherweise hatte sie keinen Stuhl ergattern können. Sie schied aus, weil ihr keine Zeit blieb die Spielregeln des Lebens zu ergründen. Ohne wahre Liebe, ohne wahre Leidenschaft, aber vor allen Dingen ohne das Gefühl, das Universum durch ihre Existenz wenigstens einen Mikrometer verrückt zu haben, würde sie einsam abtreten. Wenigstens bei der Einsamkeit irrte sie sich, denn sie war nicht allein in der Zelle. Erst jetzt bemerkte sie, dass auf der oberen Liege des Etagenbettes jemand ihr Schicksal teilen würde. Es gab einen weiteren Todgeweihten und als sie in die dunklen Augen blickte, erkannte sie ihn sofort. Balta.

 

Es war vorbei. Dina saß angelehnt an einer dieser metallischen Wände und weinte hemmungslos. Ihr Gehör verweigerte ihr immer noch jeden Dienst und anstatt auf die verfügbaren Sinne zurückzugreifen, um mögliche Gefahren abzuwehren, ergab sie sich dem vollkommenen Scheitern. Eine perfekte Gelegenheit für ihren irritierten Geist, um die zahlreichen vorhandenen Misserfolge der Vergangenheit mit übertriebener Bewertung erneut aus ihrem Unterbewusstsein an die Oberfläche zu spülen. Aus all den Niederlagen ihres Lebens drängte sich vor allen Dingen Red wieder in den Vordergrund und die damals hundertprozentige Überzeugung auf ihr Recht nach Rache. Ein Irrweg, dem sie ohne die Hilfe ihrer Freunde noch heute mit voller Inbrunst weiterhin folgen würde. Nun wurde ihr der Kompass genommen und die ruhige See drohte erneut in einen selbst zerstörerischen Orkan zu gipfeln. Dina war wieder allein und im Gegensatz zu den Zeiten auf Eyak sah sie diesen Zustand nicht mehr als Idealvorstellung für ein Leben ohne jegliche Verantwortung irgendjemanden gegenüber an. Sentry und Eva waren zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer Existenz geworden und ihr Tod ließ auch einen Teil in ihr sterben. Erinnerungen aus der Vergangenheit wechselten sich mit Fantasien über eine Zukunft ohne Lebenssinn ab und drohten sie mental zu überlasten. Das wieder genesene Gehör rettete sie vorerst vor dem totalen Zusammenbruch, denn die Geräusche in ihrer Umgebung weckten einen Funken Hoffnung in ihr. Dina beschloss der Realität mehr Aufmerksamkeit zu schenken und so vernahm sie das leise Gewimmer einer eindeutig weiblichen Person.

Ihre Gedanken waren so sehr auf das Geräusch fokussiert, dass sie gar nicht merkte, wie sie der Quelle auf allen Vieren entgegen kroch. Erst als sie sich dem blutigen Epizentrum der Explosion näherte und die Widerlichkeit der Nachwirkung sich nicht mehr ausblenden ließ, änderte sie ihr Vorankommen auf die natürliche Art und Weise. Sie bemühte sich, ihren Blick von den zerfetzten Leichen fern zu halten und ihre Konzentration dem hoffnungsvollem Geräusch zu widmen, aber ihre Fantasie hielt ihr die wildesten Bilder verstümmelter Körperteile vor, so dass sie die Realität um ein Vielfaches an Grausamkeit übertraf. Eine Tür befand sich keine drei Meter entfernt vor ihr und sollte es Eva in diese Zelle geschafft haben, wäre ein Überleben durchaus möglich. Neue Hoffnung trieb Dina voran und das Szenario eines erneuten Wiedersehens spielte sie bereits in ihren Gedankengängen durch, als sie bitter enttäuscht wurde.

Bei Betreten der Zelle waren die ersten Eindrücke widersprüchlich. Konnte es sein, das ihr immer noch lädiertes Gehör ihr eine Hoffnung vorgegaukelt hatte, die sich jetzt als gut gemachte akustische Halluzination herausstellte. Die Gefängnisuniform, die sie im blutigen Brei auf dem Boden erkannte, war nur ein Faktor, der so gar nicht passte und der massige Körper ihres Besitzers war selbst in diesem Zustand noch als Testosteron geformtes Kunstwerk identifizierbar. Der zerfetzte Rücken war ein untrügliches Anzeichen dafür, dass er den Hauptteil der Explosion abgefangen hatte. Trotz des wenig erbaulichen Anblicks zwang sich Dina genauer hinzuschauen und erblickte endlich das, was sie suchte. Einen eindeutig weiblichen Arm unterhalb der Leiche. Sie rollte den menschlichen Schutzschild zur Seite und damit erstarb der letzte Funken Hoffnung ihre Freundin lebend vorzufinden. Statt des blonden Schopfes von Eva kam ein brünetter Lockenkopf zum Vorschein.

„Nein.“ entfuhr es Dina voller Verzweifelung. Sie war bereit sich wieder voll diesem Gefühl hinzugeben, als ein paar Besonderheiten ihr Interesse an dem weiblichen Missverständnis aufrecht hielten. An Bord der „Violenta“ war man entweder Insasse, Wärter oder gegebenenfalls Soldat, wie die armen zerstückelten Seelen vor der Tür. Auf eine Zivilistin mitten in einem Aufstand zu treffen, war schon mehr als außergewöhnlich.

„Wer sind Sie?“ fragte Dina neugierig und inspizierte die Wunde an ihrem linken Bein. Sah übel aus, aber offenbar die einzige Verletzung, denn der Rest wurde durch den menschlichen Schutzschild in der Gefängnisuniform verschont. Diese Frau musste mit dem Stoßtrupp hier rauf gestürmt sein. Es gab keine andere Erklärung für ihre Erscheinung und so blieb nur die Frage, ob als Gefangene wie Eva oder als ziviler Part innerhalb der Soldaten.

„Wer sind Sie?“ fragte Dina jetzt deutlich energischer, aber eigentlich war ihr das vollkommen egal. Es gab wichtigere Fragen und so änderte sie ihr Vorgehen.

„Eva? Was ist mit ihr passiert? Ist sie da draußen gestorben? Wo ist Sentry? Was habt ihr mit ihm gemacht?“ bombardierte sie die arg geschundene Frau mit Fragen. Diese hatte Mühe sich aufzurichten, denn die Schmerzen in ihrem Bein verhinderten schnelle Bewegungen. Wie in Zeitlupe versuchte sich die Unbekannte in eine Sitzposition zu manövrieren. Eindeutig zu langsam für Dina, die keine Skrupel hatte die Sache auf Kosten von zusätzlichen Schmerzen zu beschleunigen.

„Das Pflaster wird in einem Zug abgerissen.“ kommentierte Dina die Flüche über ihr rabiates Vorgehen, was zur Folge hatte, dass ihre Gegenüber sich weiter aufregte.

„Beruhigen Sie sich. Ich will nur Antworten, dann sind Sie mich los.“ versuchte es Dina jetzt diplomatischer. Die Unbekannte wirkte sehr impulsiv und jegliche Provokation schien sie weiter zu verärgern.

„Was haben die Cree dir bezahlt, dass du deine eigene Spezies verrätst?“ Damit gab sie mehr Informationen preis, als sie es beabsichtigt hatte.

„Oh. Wir kennen also die Cree. Ein Grund mehr uns ausführlicher zu unterhalten.“ Dina wirkte jetzt getrieben. Sie brauchte dringend antworten, aber die Unbekannte machte nicht den Anschein darauf einzugehen. Zu allem Überfluss verlor sie viel Blut, was ihre Zeit weiter verkürzen könnte, wenn sie demnächst ohnmächtig oder einfach wegsterben würde. Dina öffnete ihren Gürtel und ging auf die Verletzte zu. In einer Art Reflex begab die sich in Abwehrstellung.

„Keine Angst. Ich werde sie nicht züchtigen. Ich will nur ihr Bein abschnüren. Sie brauchen dringend einen Arzt, sonst sterben Sie uns noch weg.“ Die letzten Worte hatten wohl Eindruck hinterlassen, denn ohne großen Widerstand ließ sie sich den Gürtel anlegen.

„Ich beantworte deine Fragen, aber vorher bring mich in den Hauptkontrollraum. Ich muss das Chaos unbedingt wieder in Ordnung bringen, das eure Leute angerichtet haben.“ forderte die Unbekannte jetzt deutlich beunruhigter.

„Das sind 5 Decks. Keine Chance. Vielleicht müssen wir da auch nicht hin. Mit viel Glück sitzen unsere Leute bereits im Kontrollraum. Wir müssen nur Kontakt mit ihnen aufnehmen.“ schlug Dina als versöhnliches Alternativangebot vor, nicht ohne einen gewissen Triumph in der Stimme, denn die Frau vor ihr war mit Sicherheit keine weitere Gefangene. Mit einem kurzen Nicken bestätigte sie Dinas Plan und nachdem sie unter Schmerzen auf die Beine gekommen war, legte sie widerwillig ihren Arm um die vermeintliche Verräterin der menschlichen Rasse.

„Übrigens sind mir die Cree ziemlich egal. Mir geht’s einzig und allein um Sentry.“ Dina war sich nicht sicher, ob sie mit diesen Worten nur eine weitere Beruhigungspille verabreichte oder ob sie sich nur rechtfertigte. Ihr fiel die große Katastrophe wieder ein und die ungeheuerliche Tat, mit der die Science Milliarden von Menschen vorsorglich tötete. Sie musste sich nicht rechtfertigen. Nicht vor solchen Massenmördern.

Ihr Ziel war der örtliche Kontrollraum, der im Zuge des eigentlichen Aufruhrs sinnlos geworden war, da sämtliche Entscheidungen von Deck 1 überbrückt wurden. Wenn wenigstens da oben alles nach Plan gelaufen war, saßen Zaja und Eric bereits an den Hebeln der Macht und damit könnte die Sache wie erhofft in geregelte Bahnen gelenkt werden. Dina glaubte mittlerweile nicht mehr an den Totalverlust von Sentry und Eva. Mindestens einer ihrer Freunde war noch am Leben und benötigte ihre Hilfe. Dafür brauchte sie allerdings Informationen und irgendwas sagte ihr, dass diese Frau mehr als nur eine zivile Angestellte war. Ihr herrisches Auftreten, ihr antrainierter Befehlston aber vor allen Dingen ihre dominante Ausstrahlung machten sie vielleicht zu einem Juwel in Sachen Informationsgewinnung. Dina brauchte nur ein geeignetes Druckmittel und wenn sie wirklich die Kontrolle über den Kontrollraum auf Deck 1 besitzen sollten, ergaben sich mit Sicherheit geeignete Möglichkeiten.

Im Normalfall brauchten sie keine zwanzig Sekunden bis zum hiesigen Kontrollraum, aber die Verletzung ließ den Weg zum Marathon werden. Die permanente Gefahr von weiteren Gefangenen überfallen zu werden, versetzte die Frauen in zusätzliche Anspannung verhalf unglücklicherweise aber nicht zu einer Beschleunigung ihrer Schritte. Jedes Auftreten des verletzten Beines brachte die Unbekannte an den Rand einer Ohnmacht. Entweder war sie sehr wehleidig oder sie besaß weitere Verletzungen, die nicht so offensichtlich zu ersehen waren. Die Ungeduld in Dina wuchs, aber sie wagte es nicht das Tempo zu verschärfen. Ohnmächtig oder Tod war sie nicht von Nutzen. Zu ihrem Glück war Deck 6 auf Grund der Explosion fast frei von Gefangenen, die sich auf höheren Ebenen in Sicherheit gebracht hatten. So kamen sie trotz ihres erbärmlichen Auftretens an der Tür zum Kontrollraum an.

Die Tür stand zur Hälfte offen und damit blieb Dina ein langwieriger Plan ins Innere zu gelangen erspart. Die Befürchtung, dass sich Wachen oder Gefangene darin verschanzt hielten, bewahrheitete sich zum Glück nicht. Wie Dina es schon eine Etage tiefer mit Male gemacht hatte, drückte sie jetzt die Unbekannte in den Sessel und drückte den Kommunikationsknopf.

„Äh…ja?“ tönte es aus dem Lautsprecher schon fast schüchtern.

„Eric. Schön deine Stimme zu hören. Wie geht es euch da oben?“

„Mir geht es gut, aber Zaja. Naja.“

„Was ist denn mit ihr?“ fragte Dina besorgt.

„Äh… Sie ist gerade etwas weggetreten, aber ich denke mal es ist nichts Schlimmes.“

„Ok.“ Dina schaute etwas skeptisch drein, widerstand aber dem Drang mehr Informationen anzufordern. Endlose Diskussionen mit Eric waren gerade nicht ihr Ziel, deswegen stellte sie nur eine entscheidende Frage.

„Hast du die vollständige Kontrolle über das Schiff?“

„Habe ich. Von daher weiß ich auch, dass ihr in Gefahr seid. Ein wütender Mob ist gerade dabei euer Deck zu überrennen. Ihr solltet die Tür verriegeln.“ Als Bestätigung dieser Aussage nahm der Geräuschpegel auf dem Gang zu. Dina rannte zur Tür und warf sich mit aller Kraft dagegen.

„Witzbold. Die Kontrollen hier unten sind tot. Das geht nur von euch aus.“ brüllte Dina Richtung Kontrollstation.

„Oh. Mein Fehler. Gib mir eine Minute.“ Erics ruhige Stimme versetzte die beiden Frauen in Panik.

„Wir haben keine Minute.“ schrieen sie im Chor. Der ersten Attacke an der Tür konnte Dina noch problemlos standhalten, da der Angreifer mit keinerlei Widerstand gerechnet hatte. Die Überraschung darüber gab ihnen weitere wertvolle Sekunden.

„Loooos.“ Die Angst in Dinas Stimme war auch ohne das lang gezogene O unüberhörbar. Ein zweiter Angriff mit deutlich mehr Druck auf der Tür benötigte schon die volle Energie, um die Tür geschlossen zu halten. Einem dritten Versuch in den Raum zu gelangen, würde Dina nicht verhindern können, aber zum Glück ertönte das „Klack“ des Türschlosses. Wildes Hämmern gegen die Tür zeigte die Unzufriedenheit der Ausgesperrten.

„Das war knapp. Ich melde mich gleich wieder.“ Bevor Eric was erwidern konnte, beendete Dina die Kommunikation und wandte sich an die Unbekannte.

„Du siehst wir haben die vollständige Kontrolle.“

„Es ist von großer Wichtigkeit, dass das Programm Zeta 9 gestartet wird.“ Sie schaute auf ihre Verletzung, dessen Blutfluss zwar geringer, aber nicht vollständig gestoppt wurde.

„Kommt drauf an wie gesprächig du bist.“ entgegnete Dina.

„Was willst du wissen? Die Wahrheit über Sentry oder das Schicksal deiner Freundin?“

„Wo ist Eva?“

„Die gute Nachricht ist. Sie ist nicht bei der Explosion ums Leben gekommen. Die schlechte Nachricht ist, sie ist trotzdem tot und ihr habt sie umgebracht.“

„Blödsinn.“ Dina hatte alle Mühe sich zu beherrschen. Das Getrommel an der Tür hatte mittlerweile etwas nachgelassen.

„Sentry dagegen ist noch am Leben, aber ihr kommt an ihn nicht ran.“

„Wo ist er?“ fragte Dina drohend. Die Geräusche an der Tür waren jetzt vollkommen verstummt.

„Nachdem ihr das Programm gestartet habt.“ Ihre Stimme war jetzt deutlich schwächer, was auf bevorstehende Ohnmacht schließen ließ.

„Was macht dieses verdammte Programm?“

„Es heilt mich.“ drückte sie gepresst hervor.

„Tatsächlich. Wie denn das?“

„Das interessiert dich doch nicht wirklich. Du willst was über Sentry wissen. Er ist ein Vergewaltigter seiner eigenen Spezies. Ein Mensch, kein Cree. Die haben uns dazu gemacht, zu diesen Missgeburten. Es wird Zeit, dass diesem Abschaum im Dschungel Einhalt geboten wird. Jetzt wissen wir wie. Ihr kommt zu spät, um das zu verhindern. Bald sind die Cree nur noch eine Randnotiz in der glorreichen Geschichte der Menschheit.“ Der Blutverlust zeigte sich jetzt in seiner vollen Härte. Die Ohnmacht würde nicht lange anhalten. Diese Frau war drauf und dran vor Dinas Augen zu sterben. Sie ging zu der Konsole rüber und öffnete die Kommunikationsverbindung zum Kontrollraum.

„Eric. Starte Programm Zeta 9. Schnell.“ wies sie ihn an. Ein dumpfer Schlag traf die Tür und ließ Dina zusammen zucken. Mit was immer auch sie das Schloss bearbeiteten, es würde nicht ewig halten, soviel war sicher. Dina ging um den Tisch setzte sich neben ihr auf den zweiten Stuhl und streichelte vorsichtig das Haar der Ohnmächtigen.

„Wer auch immer dich verletzt hat, es ist den Hass nicht wert.“ sagte sie leise. Ihr Blick fiel auf das verletzte Bein, dessen Wunde sich bereits zu schließen begann. Vorsichtig legte sie den Kopf der Fremden auf ihre Schulter und erwartete ihr Schicksal.

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Tag der Veröffentlichung: 21.04.2015

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