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  1. Auflage 2014

 

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendwelcher Form ohne schriftliche Genehmigung des Autors reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Verfahren bearbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden

 

Vorwort

 

Wir bereuen nicht die Dinge die wir getan haben, wir bereuen die Dinge die wir nicht getan haben. Die Liste von Letzterem scheint mir heute in der Mitte meines Lebens furchtbar lang und mit der Zielsetzung doch noch ein paar Punkte abzuhaken bevor ich dem Allmächtigen Rechenschaft ablegen muss, entstand dieses Buch. Ich weiß nicht mehr genau wann mir diese Geschichte im Kopf herum spukte, aber von dem ersten Wort bis zu diesem Vorwort vergingen etwa 40 Monate. Die Konsequenz mit der ich dieses Buch vorantrieb und im Mai 2014 beendete überraschte mich am Ende selber. Ich hoffe, dass ich diese Energie mit in die Fortsetzungen rüber retten kann, denn es ist mir ein persönliches Anliegen die Geschichten ihrer Protagonisten zu einem vernünftigen Abschluss zu bekommen. Schnell wurde mir klar, dass die Komplexität der Geschichte nicht in einem Buch unterzubringen sein würde und so habe ich nur ein Etappenziel erreicht auf den Weg hin zu dem Haken auf der Liste. Der Spaß den ich beim Schreiben hatte ist eine gute Motivation die Trilogie zu beenden und ich hoffe, dass ich dieses Gefühl mit in die Worte einfließen lassen konnte. Immerhin entstand das Buch in neun verschiedenen Ländern und noch habe ich nicht das Alter erreicht um die Kombination aus Schreiben, Reisen und Surfen schon aufgeben zu müssen. Wenn ich zurück schaue auf die einzelnen Kapitel, erkenne ich eine Weiterentwicklung meiner Schreibfähigkeiten und empfinde einen gewissen Stolz auf die Entwicklung. Ich weiß nicht wie oft ich die ersten Kapitel umgeschrieben habe und selbst heute habe ich das Gefühl immer noch den Rotstift ansetzen zu müssen. Mittlerweile sehe ich die laienhafte Einführung als Ansporn in den anderen Büchern meiner persönlichen Perfektion nahe zu kommen. Mögen mir die die Kreativität und die Lust am Schreiben nicht ausgehen und sollte dieses Buch am Ende tatsächlich jemand lesen, wünsche ich demjenigen eine gute Unterhaltung und entschuldige mich im Voraus für das offene Ende.

 

 

I

 

„Die Geburt bringt nur das Sein zur Welt. Die Person wird im Leben erschaffen“

Theodore Jouffroy

 

Es soll aufhören. Wieso tanzt dieses verdammte Eichhörnchen gerade hier? Und überhaupt. Wenn diese Biester unbedingt tanzen müssen, sollten sie das nicht auf vier Pfoten machen? Aufrecht sieht das so lächerlich aus. Bloß nicht lachen. Lachen bedeutet Schmerz. Dieses sadistische Mistvieh gibt sich alle Mühe möglichst witzig zu sein. Was hat es vor? Bloß keine Drehung auf einem Bein, dann war es das. Nun grinst dieser kleine Nager auch noch. Oh nein, ein telepathisches Eichhörnchen. Es weiß wie es einen fertigmachen kann. Nein nicht drehen. Konzentration. Verdammt sind das Schmerzen, aber bitte nicht drehen. Es zögert. Es kann nicht. Ha. Es ist unter Kontrolle. Die Farbe. Kein rot. Grau. Eine Ratte. Weg damit.

„Hey.“

„Er hat’s gepackt.“

„Na jedenfalls atmet er wieder“, verkündete eine kreischende Stimme skeptisch. Diese Tonlage nahe einer Kreissäge traft den optimalen Resonanzpunkt im Schmerzzentrum seines Kopfes und setzte einen Schwall von unendlichen Qualen frei. Sie wollte erneut beginnen, wurde aber von einer lächerlichen Heliumstimme abgehalten.

„Der ist voll gepumpt mit Drogen.“

„Ich glaub sein Verstand ist auf Erbsengröße geschrumpft.“

„So wie der grinst, kommt der nicht zurück in die reale Welt.“

Kann diese verdammte Kreissäge nicht einfach die Klappe halten.

„Du kommst wohl nicht so gut an. Muss wohl an meinem Charme liegen“, grinste der Helium-Junkie.

Ein drittes Gesicht rückte in das Blickfeld und die pure Angst machte sich breit. Die Narben waren ein eindeutiges Indiz dafür, dass man mit diesem Mann nicht in einem Raum sein sollte. Seine ängstliche Reaktion muss wohl überdeutlich gewesen sein, denn dieses Schreckensgesicht schenkte ihm ein kurzes heimtückisches Grinsen und legte für einen Moment die furchtbar schlechten Zähne frei. Dieser Albtraum von einem Mann musterte ihn und ordnete ihn als erbärmliches Elend ein. Dieser Blick war eine Qual. Warum schaltete denn keiner die Kreissäge wieder ein? Er konnte nicht wegschauen, er konnte nicht mal die Augen schließen. Ein Gefühl von vollkommener Paralyse. Die Beute war dem Raubtier vollständig ausgeliefert. Er spielte mit ihm. Panik kroch in ihm hoch. Es war nicht mehr zu verhindern. Ungebremst steuerte er ins Verderben. Mit Vollgas gegen die Wand.

„Verdammt. Der hat dem Boss auf die Schuhe gekotzt.“

Das Helium hatte seine Wirkung verloren. Die unbekannte Tonlage verdrängte das eigentliche Ereignis und steigerte seine Verwirrung. Er ignorierte den säuerlichen Geschmack in seinem Mund und erhob langsam den Kopf. Ihm eröffnete sich eine unbekannte Welt aus kargen Wänden und düsteren Gestalten. Erst jetzt wurde ihm die Bedeutung der eben ausgesprochenen Worte bewusst. Warum konnte er sich nicht erinnern? Weil das Gehirn ihm diese Peinlichkeit erspart hatte. Das Notfallsystem hatte funktioniert. Allerdings mit Nebenwirkungen. Die bessere Alternative wäre gewesen, sich einfach in die Hosen zu machen?

Sein Blick wanderte zu den beschmutzten Schuhen. Er hatte gut getroffen. Panisch erhob er den Kopf und schaute in das narbige Gesicht vor ihm. In Zeitlupe schien die Faust auf ihn zu zufliegen. Hoffentlich funktionierte das Notfallsystem wieder so gut. Zu spät haute jemand auf den roten Taster. Eine Explosion aus Schmerz ergriff ihn, dann folgte das unangenehme Geräusch eines brechenden Kiefers und es wurde dunkel.

Er besaß kein Zeitgefühl. Wie lang war er weg? Das grelle Neonlicht schmerzte, als er mühsam versuchte die Augen zu öffnen. Langsam fuhren die mentalen Systeme wieder hoch und stellten sich auf das Schlimmste ein. Doch da war nichts. Kein Schmerz, kein gebrochener Kiefer, nur ein elendiges Hungergefühl. Ohne Drogen schien es diesmal besser zu klappen. Keine vollkommene Desorientierung. Vernunft und Verstand waren die Herren in seinem Geist, doch die brauchten Zeit, um alles passend einzuordnen. Eine gefühlte Ewigkeit verging bis zur Erkenntnis, dass sich seine Situation nicht verbessert hatte. Er war weiterhin in diesem fensterlosen Raum mit unangenehmer Gesellschaft. Wenigstens war die Sache mit dem gebrochenen Kiefer nur ein furchtbarer Traum gewesen. Halluzinationen durch Drogen. Leise Hoffnung, dass sich alles Andere ebenfalls als ein böser Streich seines Unterbewusstseins herausstellen würde. Das Narbengesicht, die Angst und vor allem das Gefühl vollkommener Hilflosigkeit.

„Unser Wunderknabe wird langsam wach.“

„Lassen wir ihm noch ein paar Minuten.“

Diese Stimmen erschütterten die mühsam erschaffene Ordnung in seinem Kopf. Es fiel ihm schwer, die aufkommenden chaotischen Gedanken zu bändigen. Es brauchte eine Weile, bis er die Worte verarbeitet hatte.

„Was meinst du Igor. Wie lange, wenn ich ihm den Arm breche?“

„Vermutlich zwei Minuten, bis der Boss dir den Arm bricht.“

Das alles klang relativ verständlich, aber der Sinn eröffnete sich ihm nicht. Seine Psyche schien auf dem untersten Level halbwegs stabil zu sein. Zeit seine Beweglichkeit zu testen. Zum Anfang etwas Leichtes. Alle fünf Finger der linken Hand reagierten in erwarteter Weise. Der rechte Arm gehorchte ebenfalls. Die körperlichen Funktionen schienen in Ordnung zu sein, nur sein Magen rebellierte vor Hunger. Langsam richtete er sich auf, was wieder erwarten recht problemlos klappte. Er saß jetzt aufrecht in seinem Krankenbett und die Euphorie über das Gelingen der eigentlich einfachen Übung, wich der Angst vor den zwei Gestalten am anderen Ende der Liege.

Sie standen einfach nur da und beobachteten ihn. Wie zwei Dompteure, die nicht zögern würden ihre Peitsche einzusetzen, falls er etwas Dummes wagen würde. Auf den ersten Blick konnten die beiden nicht unterschiedlicher in ihrem Erscheinungsbild sein. Da war besagter Igor. Ein ausgemergeltes Wesen von knapp zwei Metern. Kein Gramm Fett war an ihm auszumachen. Sein Kopf zierte eine Platte, die eingerahmt wurde von dünnen, grauen Haaren, die bis zu seinen Schultern reichten. Das kantige Kinn, aber vor allen Dingen seine kleinen listigen Augen verliehen ihm eine brutale Ausstrahlung. Es handelte sich definitiv nicht um einen Krankenpfleger.

Die Person neben ihm war deutlich kleiner, dafür füllte er den Raum in der Breite aus.  Der wohlgenährte Zustand und seine lockigen roten Haare standen im Kontrast zu seinem Kameraden. Der Spaß, den solch eine Kombination normalerweise beim Betrachter auslöste, verging mit einem Blick in die Gesichter. In Sachen Brutalität stand der Gesichtsausdruck des Kleinen, dem von Igor in nichts nach. Wie sich herausstellen sollte, war sein Name Olof.

„Bringen wir ihn zum Boss“, sagte Igor

„Ja er will mit ihm bestimmt ein bisschen spielen“, stimmte Olof dem Langen unter einem schmierigen Lächeln zu.

In welche Hölle war er hier rein geraten. Seine Orientierungslosigkeit nahm wieder zu. Das Fehlen jeglicher Erinnerung, potenzierte seine Angst ins Unermessliche.

Sie holten ihn von der Liege und griffen ihm unter die Arme. Unfähig einen selbstständigen Schritt zu machen, zogen sie ihn aus dem Raum. Vor der Tür erwartete ihn ein Gang in gleichem trostlosen Design. Auch hier gab es dieses bedrückende weiße Licht, das kalt und grell von den metallischen Wänden reflektiert wurde. Es wurde Zeit, der unbändigen Angst etwas entgegenzusetzen. In einem verfehlten Anfall von Rebellion, stemmte er sich mit den Füßen Richtung Boden. Überrascht darüber, lockerte das Duo ein wenig den eisernen Griff.

Etwas stimmte mit dem Boden nicht. Möglicherweise eine Nachwirkung der Drogen, denn sein Verstand hatte Probleme die Füße in gewohnter Weise voreinander zu setzen. Wenig nur. Für einen vollkommen nüchternen Menschen stellte der schwankende Untergrund kein Problem da, aber in seinem Zustand war es eine unerwartete Herausforderung. Unsicher versuchte er Halt zu finden, was zu seinem Missfallen nicht ohne die Hilfe seiner Peiniger gelang.

Sie erreichten die Tür am Ende des Ganges und Igor nutzte seinen freien Arm, um kräftig gegen die Tür zu klopfen. Wie von Geisterhand öffnete sich diese und gab den Blick auf eine neue Welt frei. War das ein Wohnraum? Das Metall der Wände rechts und links hatte hier keine Chance seine Trostlosigkeit zu verbreiten. Alles war zugestellt mit Schränken. Zentral stand ein massiver Tisch aus Holz hinter dem ein Mann saß, der sich mit scheinbar furchtbar wichtigen Dingen beschäftigte und die drei keines Blickes würdigte. Das alles wirkte absurd neu für ihn, denn bisher beschränkten sich seine Erfahrungen auf sterile Räume, die jegliche Natürlichkeit verschlangen. Dieser Ort besaß eine persönliche Note und auch wenn er keinerlei Hinweise auf die Persönlichkeit seines Besitzer erkennen konnte, beruhigte ihn die Abwechslung der Innenausstattung ein wenig.

Das sanfte Licht machte es ihm schwer die Person hinter dem Tisch zu erkennen. Erst als seine Begleiter ihn näher brachten, offenbarte sich ihm das bereits bekannte Narbengesicht.   Mit gespielter Langeweile, bearbeitete dieser Albtraum von einem Mann ein elektronisches Pad.

Flankiert von den beiden Gestalten erreichte er den Tisch. Neben der unsäglichen Angst, war das zweite nicht minder starke Gefühl Hunger. Diese beiden Dämonen lähmten ihn komplett. Diese unbekannte Welt hinterließ einen furchtbaren ersten Eindruck, der offenbar nur ein Auftakt für ein weiteres Martyrium war. Was war hier los? Die älteste ihm bekannte Erinnerung war ein tanzendes Eichhörnchen. Was war davor? Wie kam er hier her? Die wichtigste Frage wurde ihm bewusst, als er diesen Dämon hinter seinem Schreibtisch beobachte. Wer zum Teufel war er überhaupt?

Diese ganzen Unbekannten trieben seinen Stresspegel so stark in den roten Bereich, dass die Gefahr bestand komplett durchzudrehen. Er hoffte wieder auf den Notausschalter, falls es soweit kommen sollte. Vorerst musste die Illusion herhalten, dass sich seine Situation nur verbessern konnte.

Igor schob ihn auf einen Sitz dem Narbengesicht direkt gegenüber. Dann verschwanden die beiden Handlanger, ohne ein weiteres Wort zu sagen.

Als hätte er ihn gerade erst bemerkt, schaute sein Gegenüber von seinem Pad auf. Seine fiesen kleinen Augen schienen ihn zu durchbohren. Wenn er glaubte seine Angst war nicht mehr zu steigern, wurde er mit diesem Blick eines Besseren belehrt.

„Trink das!“, befahl das Narbengesicht und hielt ihm eine Plastikflasche mit orangefarbenem Inhalt entgegen.

„Glaub mir wenn ich dich töten wollte, mache ich dies auf eine Art, die mir deutlich mehr Vergnügen bereitet“, kommentierte er das Zögern. Widerwillig schluckte er den „Orangensaft“. Diese Getränk hatte keinerlei Geschmack. Was zum Teufel hatte er gerade getrunken?

„Stellen wir uns erst mal vor. Schließlich sind wir doch alle zivilisiert.“ Jede einzelne Riefe in diesem furchtbaren Gesicht seines „Gastgebers“ schien ihn zu verspotten.

„Red.“ Mehr sagte er nicht, dafür hielt er ihm die rechte Hand als Begrüßung entgegen. Alles sträubte sich diesen Gruß zu erwidern, denn offensichtlich war Red lange nicht so zivilisiert, wie eben noch behauptet. Vorsichtig näherte er sich der dargebotenen Hand, doch bevor auch nur ein Kontakt zu Stande kam, ergriff Red blitzschnell seinen Arm und drückte die Handfläche auf den Tisch. Urplötzlich blinkte in seiner linken Hand ein Messer auf. Ehe er vollständig begriff, was ihm bevorstand, sauste es nieder und bohrte sich in seine Hand.

Das Blut floss sofort und das Warten auf den Schmerz brachte ihn näher an den Abgrund zum Wahnsinn. Nur ein Schritt. Der Eingang ins Paradies war nur ein Schritt entfernt. Der Eintritt war seine Seele und vor allen Dingen sein Verstand. Kein zu geringer Preis für eine Welt ohne Red, Messer oder tanzende Eichhörnchen. Die Versuchung war groß, aber der einsetzende Schmerz holte ihn zurück. Noch zog er den furchtbaren Albtraum dem Wahnsinn vor.

Er gab sich ganz dem Schmerz hin, denn gegenüber den anderen beherrschenden Dämonen war dieser gerade das Einzige, was er halbwegs kontrollieren konnte. Orientierungslosigkeit, Hunger und vor allem Angst traten für einen Moment in den Hintergrund, damit der Schmerz seine volle Wirkung entfalten konnte.

Red drehte das Messer um 45° in der Wunde und das Geräusch von reißenden Sehnen und brechenden Knochen hinterließ ein zufriedenes Lächeln in dem furchtbaren Narbengesicht. Kein Schrei. Die Panik erlaubte ihm nur ein tiefes Stöhnen, dass alles Leid der letzten Stunden komprimierte. Offenbar war diese Art des Schmerzes kein Neuland für ihn.

Nachdem Red das Messer einmal komplett um seine Achse gedreht hatte, zog er es mit einem dicken Grinsen wieder heraus. Trotz der Narben hatte sein Gesichtsausdruck etwas von einem neugierigen Kind, dass gerade freudig Insekten unter einer Lupe geröstet hatte. Er hatte ganze Arbeit geleistet in seinem sadistischen Eifer. Die Wunde sah furchtbar aus. Mit rechts hielt er weiter die malträtierte Hand fest und bewunderte sein Werk.

„Und nun kommt das Beste“, sagte Red aufgeregt.

Dieser einfache Satz brachte den Angstdämonen mit einem Schlag wieder in den Vordergrund. Der Fantasie waren auf einmal keine Grenzen gesetzt. Was hatte er vor? Stand das Kommende in Zusammenhang mit der orangefarbenen Flüssigkeit? Vielleicht wollte Red sich weiter austoben und die ganze Hand abtrennen. Er musste aufhören solche Gruselgeschichten zu erfinden, aber sein Unterbewusstsein hatte sich verselbstständigt.

Sein Peiniger genoss die vorherrschende Angst. Überraschenderweise saß er einfach nur da und wartete ab, was nicht zur Beruhigung seines Opfers führte.

Am Anfang war es nur unmerklich. In einem Meer von Schmerzen waren es einzelne Wellen, die zu geringen Wogen verkamen und plötzlich vollends verschwanden. Mehr und mehr ließ der Schmerz nach, bis die ganze Hand nur einen tauben Grundschmerz darstellte. Sein Körper sendete Signale für die Heilung, aber der blutige Stumpf auf dem Tisch zeugte vom Gegenteil. Diese nicht miteinander vereinbaren Informationen verwirrten ihn und waren Nahrung für den Desorientierungsdämon in seinem Kopf.

„Pass auf jetzt geht’s los“, grunzte Red

Das verstümmelte Körperteil auf dem Tisch entwickelte eine Art Eigenleben. Sehnen, Adern und Knochen heilten vollkommen selbstständig und das im Rekordtempo. Als würde ein unsichtbarer Chirurg alles das wieder herrichten, was Red gerade in mühevoller sadistischer Kleinarbeit zerstört hatte. Für einen Moment lag die Hand als makelloses medizinisches Anschauungsobjekt offen vor ihm. Bei fehlender Haut war jedes einzelne Blutgefäß eindeutig zu erkennen.

Magie. Es konnte nur Magie sein. Wie anders konnte er rational erklären, was gerade passierte. War er doch dem Wahnsinn verfallen und Opfer eines gemeinen Zusammenspiel der Dämonen? Adrenalin überflutete seinen Körper und die Hölle aus fehlenden Erinnerungen und entstellten Gesichtern verlor augenblicklich seinen Schrecken. Seine Muskeln und sein Geist waren in abgestimmter Ordnung. Der ultimative Zustand der Perfektion. Alles schien im Einklang und er fühlte sich, als könne niemand ihn besiegen.

Der finale Akt des unglaublichen Vorgangs, war das Entstehen der Haut aus dem nichts. Kreisförmig zog sie sich zusammen, bis die Innereien vollkommen bedeckt waren. Keine Narbe blieb zurück und nur das Blut auf dem Tisch diente als Beweis für eine weitere unwirkliche Episode seines persönlichen Albtraums.

Der Entzug des Adrenalins zerstörte seine ohnehin trügerische Selbstsicherheit ebenso schnell, wie es erschaffen wurde. Was zurück blieb war Erschöpfung und Hunger. Wieder einmal waren die Gefühle am oberen Ende der Extremskala, alles verstärkt durch Resignation. Er war bereit zu sterben auf die eine oder andere Weise. Hauptsache es gab kein weiteres Kapitel in diesem Horror.

„Trink das.“ Red hielt ihm eine weitere der Flaschen mit orangefarbener Flüssigkeit unter die Nase.

„Verdammt das ist ein Kaloriendrink. Denkst du deine Zaubershow braucht keine Energie. Ich könnte wetten dich zerreißt es vor Hunger.“

Extrem geschwächt griff er nach der Flasche und trank die geschmacklose Flüssigkeit in einem Zug aus.

„Und jetzt sollten wir reden. Besser gesagt du beantwortest mir ein paar Fragen. Die Antworten sollten mir gefallen, ansonsten teste ich aus, wie weit deine Superkräfte reichen.“ Ein fieses Lächeln zierte Reds unheimliches Gesicht.

„Fangen wir mit etwas Einfachem an. Wie ist dein Name?“

Die scheinbar einfache Frage überforderte seinen Verstand. Er wusste es einfach nicht und so sehr er sich anstrengte, in der leeren Kammer seines Gedächtnisses war die Antwort nicht zu finden. Es gab keine Erinnerungen jenseits des tanzenden Eichhörnchens.

„Ich ...“, krächzte er und brach sofort ab, als seine Kehle einen Schub Schmerzen sandte.

„Lass dir Zeit. Irgendwann klingst du wieder wie ein Sängerknabe.“

„Ich weiß es nicht“, quälte er die einfachen Worte heraus. Aufgrund der Erschöpfung klang es  ziemlich erbärmlich.

„Namen sind Schall und Rauch. Du könntest ihn mir sagen, aber du könntest mich auch anlügen. Die Wahrheit ist, es ist mir egal. Also, wie soll ich dich nennen?“

„Ich erinnere mich einfach nicht.“

Die Worte waren so schwach und verlegen, das Red sich für einen Moment angewidert abwandte.

„Ein Superheld ohne Gedächtnis. Da passt nur Sentry“, kicherte er in sich hinein.

„Ich befürchte du weißt auch nichts über das.“ Er deutete auf die Blutlache, die immer noch den Tisch zierte.

Ein ratloser Blick reichte als Antwort.

„Verdammt. Ich würde es ja gern aus dir raus prügeln, aber du hast so viele Femtos in deinen Adern, dass ich fürchte diese kleinen Burschen hauen einfach zurück.“

„Femtos?“, murmelte Sentry leise fragend zu sich selbst.

Red musterte ihn misstrauisch.

„Deine Superkräfte. Kleine mechanische Tierchen, die durch deine Eingeweide kreisen und verrückte Sachen mit deinem Körper anstellen. Wir haben mindestens sieben verschiedene in deinem Blut gefunden. Was die eine Sorte macht, haben wir ja gesehen. Sie werden aktiviert durch Reize oder bewusste Befehle in deinem Gehirn. Zum Glück ist die Festplatte in deinem Oberstübchen im Schlafmodus, sonst hätte einer deiner Femtos mich vermutlich schon gegrillt.“

Er war so verdammt müde und die Informationen aufzunehmen fiel ihm unheimlich schwer. Das Hungergefühl war auf ein erträgliches Maß zurückgegangen, dafür kreisten seine Gedanken in chaotischer Weise von Femtos, Red und seiner Hand. Erneut kam die Frage auf, wo er hier rein geraten war? Dieses endlose Gedankenkarussell drehte sich in unheimlicher Geschwindigkeit und blieb nur kurz an der nächsten Station hängen, bevor es von vorne begann. Wer war er und wo kam er her? So sehr er sich  anstrengte, er schaffte es nicht Ordnung in seinem Kopf zu schaffen. Was er brauchte war Schlaf. Die Selbstheilung hatte so viel Energie gekostet. Red gönnte ihm keine Ruhe und bohrte weiter.

„Wie bist du ran gekommen an diese kleinen Biester? Was machen die anderen sechs?“

Die Wut war ihm deutlich anzusehen und in Kombination mit Ungeduld, konnte das bei Red nicht lange gut gehen.

„Verdammt du musst doch irgendeine Erinnerung haben. Sag was.“

Sentry spürte das irgendwas kommen sollte, was diesen Teufel vor ihm besänftigte. Er wünschte sich Adrenalin als Aufputschmittel und sei es durch Angst erzeugt. Diese Müdigkeit war unerträglich. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen.

„Das Eichhörnchen. Das ist alles, an was ich mich erinnern kann“, murmelte er unter großer Anstrengung.

Er spürte den Schmerz, bevor er überhaupt realisieren konnte, was mit ihm passierte. Reds Hand lag an seinem Hals und zog ihn zu sich über den Tisch. Das Narbengesicht war nur noch eine Hand breit entfernt. Der Wunsch nach Angst war erfüllt und wurde sofort bereut.

„Eishörnchen? Du willst mich wohl verarschen. Welche Sorte war es denn?“, brüllte Red und ließ seinen Daumen genüsslich den Kehlkopf hoch und runter wandern.

„Eichhörnchen. Diese kleinen roten Nager mit buschigem Schwanz“, winselte Sentry, in der Hoffnung, trotz des Quetschens der Kehle jegliche Missverständnisse zu vermeiden.

Red atmete tief aus und der faulige Gestank, der zweifelsohne von den Stumpen die mal sein Gebiss waren ausging, ekelte Sentry.

„Leider hab ich keine kleinen Helfer, die mir neue Zähne aus dem Nichts generieren.“

Seine Hand wanderte zum Unterkiefer und er musterte Sentrys Gebiss.

„Da hab ich mir solche Mühe gegeben dir jeden Zahn einzeln zu zerlegen und die bauen dir eine verbesserte Luxusversion. Ich will das auch und ich werde es bekommen. Leider ist die Sache nicht so einfach. Da benötige ich Spezialisten. Glücklicherweise hab ich gute Kontakte.“

„Igor“, brüllte er so laut, dass sein Opfer vor Schreck zusammen zuckte.

Die Tür öffnete sich augenblicklich und Igors abgemagerte Gestalt trat in den Raum.

„Bring unseren Superhelden in seine Suite. Niemand rührt ihn an. Habt ihr das verstanden?“

Igor nickte unterwürfig, packte Sentry am Arm und schleifte ihn Richtung Tür.

„Und Igor, finde raus was ein Eichhörnchen ist.“

Er war so müde, dass er sogar dankbar für Igors Hilfe bei der Fortbewegung war. Was er brauchte war Schlaf oder wenn es den nicht gab ging zur Not auch Tod. Die Resignation hatte gesiegt und die Hoffnung an einen besseren Ort nach dem ultimativen Ende, ließ ihn die Option des Sterbens, der des Schlafes als bessere Wahl erscheinen. Sein kurzes Leben bestand aus Schmerz, Angst und Femtos. Nichts für was es sich zu leben lohnte.

Der neue Raum, in dem er regelrecht abgelegt wurde, unterschied sich kaum von dem Raum in dem er erwachte. Die metallischen Wände und das grelle Licht schienen das Standarddesign dieses Gebäudes zu sein. Auch hier vibrierte der Boden leicht.

Endlich bestand die Möglichkeit auf Erholung, auch wenn der metallische Fußboden ein wenig geeigneter Ort dafür war. Diese unendliche Müdigkeit ließ jeden Anspruch auf einen weiches Lager unwichtig werden. Er wollte einfach nur die Augen schließen und bestenfalls niemals mehr erwachen, doch die wirren Gedanken verhinderten vorerst seinen sehnlichsten Wunsch. Sein aufgewühlter Verstand wollte besänftigt werden und so war es notwendig eine gewisse Grundordnung herzustellen.

Es war für ihn wie eine Geburt gewesen, obwohl er nicht mühsam erlernen musste, wie man spricht, trinkt oder läuft. Seine Grundfunktionen waren vorhanden, aber das Programm, die eigentliche Aufgabe, der Sinn seines Vorhandenseins, das fehlte komplett. Er fühlte sich wie eine Hülle ohne Inhalt. Wer war er? Was war der Zweck seines Seins? Und als wäre diese Leere nicht genug, besaß er diese mysteriösen Fähigkeiten. Sieben verschiedene hatte ihm Red versichert, wobei nur diese eine mit Gewissheit nachweisbar war. Zu trauen war diesem Red sowieso nicht und es bestand die Möglichkeit auf irgendein perverses Spielchen seines Peinigers. Egal ob nun eine oder sieben Superkräfte, dieses unnatürliche Verhalten seines Körpers war der wesentliche Treiber seiner Angst. Was er  gesehen hatte, war mit Sicherheit nicht normal. Das war ihm trotz seines lückenhaften Wissens klar.

War er am Ende gar nichts Menschliches? Eine Maschine oder ein Roboter, der Angst und Verzweiflung als Befehle eines Zentralrechners verarbeitete. Existierte er überhaupt oder war er eine Anhäufung von Nullen und Einsen? Binärcode, Roboter oder Eichhörnchen. Dinge deren Zweck er kannte und zuordnen konnte. Warum zum Teufel hatte er keine Erinnerungen, die ihm eine Persönlichkeit gaben? Diese Erkenntnisse waren wenig hilfreich, um seinen Verstand zu beruhigen, trotzdem überkam ihm irgendwann der Schlaf.

Es war unklar wie lange er geschlafen hatte und nachdem Aufwachen verspürte er kaum Erholung. Der harte Boden verursachte Schmerzen in so ziemlich allen Bereichen seines Körpers. Er hatte ein wenig Hoffnung, dass die kleinen Kerlchen in seinem Inneren eine Art lindernde Wirkung an den Tag legten, aber offenbar waren das nicht die Reize auf die sie ansprangen. Keinerlei versteckte Hinweise auf Vergangenes in seinen Träumen. Hatte er überhaupt geträumt? Er konnte sich nicht erinnern.

Benommen und steif richtete er sich auf. Seine Augen benötigten eine Weile, um sich an das grelle Licht zu gewöhnen. Seine Müdigkeit war mit einem Schlag verschwunden, als er begriff, dass er sich in Gesellschaft befand. Die Erinnerung an das letzte Erwachen aktivierte sofort sämtliche Schutzinstinkte. Die Angst war mit einem Mal zurück.

Drei Personen konnte er ausmachen. Red und seine Spießgesellen, schoss es ihm durch den Kopf, doch das Verhalten passte nicht. Die brutale Ausstrahlung eines Kerkermeisters fehlte bei allen komplett. Ihm wurde schnell klar, dass diese armen Gestalten sein Schicksal eines Gefangenen teilten. Sie befanden sich in derselben Situation wie er. Gepeinigte in einem unendlichen Albtraum. Ein kleiner Hoffnungsschimmer in all dem Elend.

Er entspannte sich ein wenig und kroch an die ihm nächstliegende Wand. Die Frau diagonal gegenüber sah furchtbar aus. Sie kauerte in der Ecke, ihre Beine an den Körper angewinkelt. Ein Bluterguss zierte ihr Gesicht und ihr blondes Haar war Blut verkrustet. Ihre rechte Halshälfte war so stark gerötet, als hätte man sie dort stundenlang mit Sandpapier bearbeitet. Die andere Hälfte wirkte blutleer und der geisterhafte Teint ihrer Haut erinnerte an totes Gewebe. Ihr Gesichtsausdruck war vollkommen ausdruckslos und obwohl der ganze Körper unter Anspannung stand, war keine Regung von ihr zu vernehmen. Sie hatte den Weg des Wahnsinns genommen, den er persönlich als letzten Ausweg bisher vermied. Ihre Kleidung war so zerrissen, dass nur das notwendigste bedeckt wurde. Ihr ganz privater Höllentrip schien sie für alle Zeit gebrochen zu haben.

Die zweite Frau im Raum zeigte ebenfalls Spuren von Gewalteinwirkungen in ihrem Gesicht. Im Unterschied zu ihrer Mitgefangenen, ließ der Gesichtsausdruck darauf schließen, dass ihr Peiniger nicht ganz so leichtes Spiel gehabt haben musste. Auch sie saß mit angezogenen Beinen an der Wand. Gegenüber der Ausdruckslosigkeit ihrer Leidensgenossin, war sie fest entschlossen, jede Annäherung mit Zorn und Gewalt zu begegnen. Ihr wildes rotblondes Haar verstärkte diesen Eindruck noch. Auch ihr Körper war unter Spannung und vollkommen regungslos, aber nichts ließ auf ängstliche Haltung schließen. Ganz im Gegenteil. Sie wirkte als wäre sie auf dem Sprung. Ein angeschossenes Tier, dass bereit war sich zu wehren, sollte jemand auf weiteren Ärger aus sein.

Diesen unbedingten Überlebenswillen bekam er sofort zu spüren. Sie musterte ihn und ihre blauen Augen ließen keinen Zweifel aufkommen, dass er als potentielle Gefahr eingeordnet wurde. Sofort stand er wieder unter Spannung und sein Adrenalin stieg erneut an. Nichts Künstliches als Unterstützung für biologische Wunder. Dieser Blick war beängstigend. Auch hier schien er von Feinden umgeben. Das bisschen Hoffnung drohte erneut in Resignation umzuschlagen.

Die dritte Person war nicht nur geschlechtsspezifisch das komplette Gegenteil der beiden Frauen. Sein vorherrschendes Merkmal war Hektik. Obwohl auch er saß, schienen sein Kopf und seine Arme keine Ruhe zu finden. Seine Anspannung baute er durch unkontrollierte nervöse Bewegungen ab. Ebenso wie bei den Frauen war er Misshandlungen ausgesetzt gewesen. Seine Wunden, physisch wie auch psychisch, waren denn noch nicht vergleichbar. Sein Geschlecht ersparte ihm bestimmte Praktiken der Folter, was ihn bisher vor dem Schlimmsten bewahrt hatte. Gewisse Aspekte männlicher Gewalt konzentrierten sich naturgemäß auf weibliche Gefangene und nach dem Zustand der beiden Frauen zu urteilen waren da Red und seine Gehilfen nicht besonders zimperlich vorgegangen. Dieser nervöse Kerl gab sich ganz und gar seiner Angst hin, so dass sich die Umgebung seiner Wahrnehmung entzog.

Diese vorherrschende Atmosphäre von Furcht und Misstrauen fügte sich in das bisherige Bild, das er seit seiner „Wiedergeburt“ erfahren hatte. Ihm war Elend zu Mute. Er hatte einfach nur die Wahl zwischen verschiedenen Höllen oder Tod. Sein Blick fiel wieder auf die blutverschmierte Blondine. Sie hatte abgeschlossen und ein neues Gefühl überkam ihn. Neid. Wieder nichts Positives. Sein privater Höllenschlund expandierte in atemberaubendem Tempo.

Er wagte es nicht seine Mitgefangenen anzusprechen und so blieb ihm einzig und allein das Warten. Eine gespenstische Ruhe lag über dem Raum, die nur gelegentlich vom hektischen Gestikulieren des männlichen Insassen unterbrochen wurde. Er versuchte sich zu entspannen, aber ein Blick an die gegenüberliegende Wand reichte, um die Vorsicht keinen Millimeter zurückzufahren.

Die unmittelbare Gefahr bestand in der Rotblonden, die ihn keinen Moment aus den Augen ließ. Regungslos saßen sie sich gegenüber. Als spielten sie dieses Spiel, bei dem derjenige verlieren würde, der zuerst den Blick abwandte. Ihm war bewusst, dass sie den längeren Atem besaß. Unterbrochen wurde ihr mentales Kräfte messen von dem Hektiker, welcher ab und an aufstand, einmal quer durch den Raum lief, vor sich hinmurmelte und dann an derselben Stelle wieder Platz nahm. Die permanente Angst ließ ihn seine Umgebung vollkommen vergessen. Für ihn existierten die Anderen nicht.

Dieses emotionale Gemisch war bereit für eine Explosion. Es bedurfte nur eines Auslösers. Zu seiner Überraschung hielt dieses fragile Gleichgewicht länger als gedacht. Eine Stunde lag belauerten sie sich gegenseitig und die gelegentlichen Ausflüge durch den Raum waren mittlerweile präzise vorherzusagen. 

Es war die Rotblonde, die sich irgendwann nicht zurückhalten konnte. Bei einem der angstgetriebenen Ausflüge quer durch den Raum passierte es. Als der Hektiker auf ihrer Höhe war, sprang sie auf und gab ihm einen gezielten Hieb an die Schläfe. Dabei legte sie eine Eleganz an den Tag, die er ihrem geschundenen Körper nicht zugetraut hätte. Als Ergebnis dieses Manövers sackte ihr Opfer umgehend zusammen und blieb regungslos liegen.

In der Genugtuung endlich ihrer angestauten Wut ein geeignetes Ventil gegeben zu haben, drehte sie sich um. Sie wollte mehr Dampf ablassen, dass war ihr deutlich anzusehen. Zwei Schritte reichten, dann war sie über ihm und ihre Blicke trafen sich.

Was er erkannte war Wut, Hass aber auch Verzweiflung. Diese Emotionen besaßen keine persönliche Note. Dieser unbedingte Trieb jemanden weh zu tun war ein wesentlicher Bestandteil ihres Wesens, unabhängig davon, wer ihr gerade in die Quere kam. Was immer ihr auch angetan wurde, es hatte ihre Persönlichkeit bis in die letzte Faser mit Zorn infiziert.

„Wer bist du?“, grollte sie ihn an.

Er wollte aufstehen, um das bedrückende Gefühl der Unterlegenheit zu mindern. Ein kurzes Zucken ihres rechten Oberarmes reichte als Warnsignal, dass sie damit überhaupt nicht einverstanden war.

„Man nennt mich Sentry“, erwiderte er überrascht darüber, dass seine Stimme diesmal auf Anhieb funktionierte.

„Mir doch egal wie man dich nennt. Normalerweise lassen die hier nur Leute rein, die vorher ein paar Zähne als Pfand hinterlegt haben oder wie die Kleine dort drüben, ihre Seele beim Allmächtigen abgegeben haben. Wer zum Teufel bist du?“

Während er noch grübelte, welche Antwort die geeignete wäre und er zu dem Schluss kam, dass keine Variante ihn am Ende vor Prügel bewahren würde, öffnete sich die Tür. Olof und Igor stürmten herein. Wieder reagierte sie agiler als ihrer körperlicher Zustand es vermuten ließ. Sie gab Olof einen Tritt zwischen die Beine, bevor dieser überhaupt realisierte, dass sie ihr Angriffsziel geändert hatte. Er krümmte sich vor Schmerzen und hatte damit jegliche Möglichkeit auf Verteidigung eingebüßt. Dieser verlockenden Gelegenheit konnte sie nicht widerstehen und während Olofs Nase geräuschvoll brach, setzte sich bei ihr die Erkenntnis durch einen Fehler begangen zu haben. Der süße Triumph, diesem Mistkerl eine passende Begrüßung bereitet zu haben, verhinderte eine zeitnahe Abwehr des zweiten Angriffes. Igor bekam dadurch die notwendige Zeit, sie mittels Elektroschock außer Gefecht zu setzen.

„Miese Schlampe“, zischte Igor und gab ihr eine zweite Dosis Strom. Seine Wut war noch nicht besänftigt und so trat er dem wehrlosen Opfer in die Magengegend.

Während Igor seiner Wut freien Lauf ließ, blieb Zeit für ein Blick auf Olof. Der kniete wimmernd vor der Tür und das Blut floss ihm aus der Nase. Diese Welt war doch nicht frei von Gerechtigkeit.

Igor hatte was von einem Berserker. Seine Wut musste sich entladen und da die Rotblonde ihm durch ihre Ohnmacht keine Genugtuung mehr verschafften konnte, rückten andere Gefangene als potentielle Opfer in seinen Wirkungsbereich. Er war bereit seinen Frust auf Sentry in Form von Prügel abzuladen, doch eine unbekannte Kraft zwang ihn zur Beherrschung. Als spärlichen Ausgleich versetzte er dem leblosen Frauenkörper einen letzten Tritt. Dann packte er Olof und die beiden verschwanden durch die Tür.

Zwei geschundene Körper lagen reglos vor ihm und wenn er es genau betrachtete, steckte auch nicht mehr Leben in der Blondine schräg gegenüber. Er war praktisch allein und hatte keine Ahnung was er machen sollte. Wieder mal war die ganze Situation im Extremzustand und erneut schoss das Adrenalin durch seine Venen. Konnte ein Körper das auf Dauer durchhalten? Mit Femtos sicherlich.

Die Rotblonde stöhnte auf. Ein Zeichen dafür, dass sie noch lebte. Er kroch zu ihr rüber und drehte sie auf den Rücken. Sie zuckte zusammen vor Schmerz. In dem Zustand stellte sie keine Gefahr für ihn da. Von all den Verrückten, die er die letzten Tage kennengelernt hatte, war sie diejenige, für die er so etwas wie Sympathie aufbringen konnte. Das Brechen von Olofs Nase brachte ihr den einzigen Pluspunkt ein und katapultierte sie damit an die Spitze einer ohnehin kurzen Rangliste. Anderseits war sie drauf und dran ihn zu verprügeln, weil er keine Antwort auf seine Herkunft hatte. Das hatte sie dann gemeinsam mit Red. Vermutlich war sie eine weibliche Ausgabe von dem Narbengesicht.

Unter Schmerzen quälte sie sich hoch und saß nun mit dem Rücken angelehnt neben der Eingangstür. Sie ignorierte ihren Helfer vollends und konzentrierte sich auf ihre Blessuren. Sie knöpfte ihre Bluse auf und tastete ihre Rippen ab. Die Auswirkungen von Igors Tritten würden sich in Form von Blutergüssen innerhalb der nächsten Stunden zeigen.

„Igor dieser Witz von einem Kerl. Keine Kraft in seinen Tritten. Jedes zehnjährige Mädchen kann das besser. Nicht eine Rippe gebrochen, alles nur geprellt“, stöhnte sie in seine Richtung.

Er schaute auf die Schwellungen. Kaum zu glauben, dass da nichts gebrochen war. Sein Blick wanderte höher zu ihren Brüsten, die ihm in Form, Farbe und Gestalt der Perfektion nahe kamen. Somit war auch klar, welche sexuelle Orientierung bei ihm vorhanden war.

„Ich habe heute schon zwei Eier aufgeschlagen“, fuhr sie ihn wütend an. Er zuckte zurück.

„Ich will nur helfen“, sagte er entschuldigend.

„Ok. Dann beantworte meine Frage, während ich diesen Elektromist aus meinen Eingeweiden bekomme, die mir dieser Penner verpasst hat.“

Ihm fiel erst jetzt auf, dass sie gelegentlich zitterte.

„Du siehst aus wie das blühende Leben. Reds Handelsware zeigt sonst mehr Abnutzungserscheinungen.“ Sie deutete auf die Blondine, während sie sich die Bluse unter Schmerzen wieder zuknöpfte.

„Ich weiß nicht wer oder was ich bin. Du musst mir glauben. Das ist das die Wahrheit“, antwortete er trauriger, als es ihm lieb war.

Sie hielt kurz inne im zuknöpfen und musterte ihn. Erstmals erkannte er etwas Anderes als Hass in ihrem Gesicht.

„Was soll denn das heißen?“, fragte sie wieder ins alte zornige Muster zurückfallend.

„Meine Welt besteht aus Red, diesen Typen, dir und diesem Gefängnis. Alles was davor geschah, ist im besten Fall verschüttet.“ Er tippte an seine Stirn.

„Na dann willkommen in der Hölle“, brachte sie gerade noch zu Ende, bevor eine weitere Nachwirkung aus Igors Elektrospielzeug ihren Körper erschütterte.

„Was hat er mit uns vor?“, fragte er.

Sie musterte ihn erneut, diesmal mit mehr Geringschätzung. Von einer potentiellen Gefahr war eindeutig keine Spur mehr. Er war zum nervigen Ärgernis herabgestuft worden.

„Sentry, hm. Hat Red dir den Namen verpasst? Sein Comic-Splean wird langsam nervig.“ Sie ignorierte bewusst seine Frage und kümmerte sich weiter um ihre Verletzungen.

„Hast du auch einen Namen?“, fragte er mit wesentlich mehr Mut in der Stimme.

„Dina“, rückte sie nach kurzem Zaudern heraus.

„Und jetzt lass mich in Ruhe“, fauchte sie.

Er kroch zu dem Jungen rüber, der Dinas Zorn als erstes zu spüren bekommen hatte. Im ersten Moment schien er immer noch den Auswirkungen des Schlages erlegen. Ein leises Wimmern bestätigte, dass das Leben in den zusammen gekauerten Körper zurückkehrte.

Er war höchstens 20 Jahre alt und allen Anschein nach war er diesem Wahnsinn hier am wenigsten gewachsen. Eine vorsichtige Berührung ließ ihn leicht zusammenzucken.

„Gehts wieder?”, versuchte er ihn zu trösten. Seine Stimme klang als spräche er mit einem kleinen Kind, welches sich gerade die Knie aufgeschrammt hatte.

Jetzt flossen die Tränen und als wäre dieses Häufchen Elend ein Spiegelbild seines zukünftigen Ichs, überkam ihn erneut dieses Angstgefühl der Ungewissheit über die Dinge, die da folgen würden. Er brauchte Informationen, auch auf die Gefahr hin, dass sie als Nahrung dieser Angst dienen könnten. Konnte es eigentlich schlimmer werden? Wenn er sich so umschaute, war er sich sicher, dass sich dieser Horror noch steigern ließe.

Er half dem Jungen in eine Sitzposition, so dass dieser einen freien Blick auf seine Peinigerin hatte. Der Schlag hatte eine nützliche Nachwirkung auf ihn. Der Junge war zurück in der Realität und seine panische Ausblendung sämtlicher Umgebungsvariablen, wurde ihm mit dem KO praktisch ausgeprügelt.

Wenn er Informationen bekommen wollte, musste er Vertrauen erwecken. Das gelang ihm nur, wenn er die Angst seines gegenüber etwas mindern konnte.

„Wie heißt du? Ich bin Sentry.“ Mit dem letzten Satz akzeptierte er Reds Schöpfung, obwohl alles in ihm gegen diese Namensgebung rebellierte.

Der Junge schaute ihn an und rang mit sich, ob die simple Preisgebung seines Namens ihn wieder in Schwierigkeiten bringen könnte.

„Pius“, entschied er sich und füllte den Raum mit etwas, was hier sicherlich selten vorhanden war. Vertrauen.

„Wie geht’s deinem Kopf?“, nährte Sentry das zarte Pflänzchen.

„Leichte Kopfschmerzen. Wird hoffentlich wieder.“

Da er „wie das blühende Leben“ aussah, war es schwierig weiteres Vertrauen über gemeinsame körperliche Schmerzen aufzubauen. Er wechselte zu der Angst über ihre ungewisse Zukunft. Die konnte er mit Sicherheit mit Pius teilen.

„Verdammt wo sind wir hier? Was ist das für ein Ort?“, fragte er mit ängstlicher Stimme.

Volltreffer. Der Ansatz passte und lockerte Pius Zunge.

„Wir sind auf Reds Schiff“, erklärte Pius ungläubig. Die Überraschung musste Sentry deutlich anzusehen gewesen sein.

„Die leichten Vibrationen sind doch eindeutig zu spüren.“ Als Bestätigung legte Pius die Hand auf den Boden.

„Ein Raumschiff?“, fragte Sentry verwundert. Das hatte gesessen. Schon die erste neue Information war wie ein Schlag in die Magengegend. Wollte er mehr wissen? Er musste mehr wissen.

„Wo will er denn mit uns hin?“

„Ich hab keine Ahnung. Da wo es den besten Preis für uns gibt?“, erwiderte Pius.

Preis? Handelsware hat Dina die Blonde genannt. Sind wir Sklaven? Seine Gedanken überschlugen sich.

„Er will uns verkaufen“, sagte er mehr zu sich selbst, als erschreckende Erkenntnis dessen, was er gerade erfahren hatte.

„Ich bin mir sicher du bereust es gefragt zu haben“, mischte sich Dina von der anderen Seite des Raumes ein.

Pius ging sofort in eine verkrampfte, ängstliche Sitzposition über. Der frische Mut um mit Sentry zu reden, war durch Dinas Worte sofort wieder dahin. Ihre blauen wütenden Augen flößten jedem der klar denken konnte Angst ein. Ihre lädierte Gestalt verstärkte diese Ausstrahlung. Auch Sentry ließ sich anstecken.

„Du musst wissen, dass unserer Sentry hier nicht die geringste Ahnung hat, was auf ihn zukommt“, erklärte sie Pius in verächtlichem Tonfall.

Sie quälte sich hoch und näherte sich den beiden, was den Stresspegel von Pius auf Anschlag brachte.

„Keine Erinnerungen, keine Ahnung wo er ist oder was ihn erwartet. Sein ganz persönlicher Albtraum“, sagte sie immer noch an Pius gewandt. Ihre Stimme klang für Sentry verstörend.

Die Tür öffnete sich und durchbrach die Atmosphäre von Angst, die Dina mit den letzten Worten gezielt erzeugt hatte. Ähnlich wie Red genoss sie diese Form des Sadismus. Nur eine Ausprägung ihres Hasses auf Alles und Jeden.

Igor tauchte auf und Sentry konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Raum überwacht wurde. Zu groß wäre der Zufall, dass er genau dann den Raum betrat, wenn die Nase brechende Insassin auf Ärger aus war.

Er warf vier Kaloriengetränke in den Raum.

„Wie geht’s den Eingeweiden, Schlampe?“, funkelte er Dina an und schwenkte den Elektroschocker vor sich her.

„Vermutlich besser als der Nase deines fetten Freundes“, raunte sie zurück und befand sich trotz der Verletzungen in Lauerstellung.

Auch Igors Muskeln waren angespannt. Die verbale Auseinandersetzung schien jeden Moment in einen handfesten Konflikt umzuschlagen, in dem ohne Zweifel Dina den Kürzeren ziehen würde.

Der Elektroschocker in seiner Hand gab Igor die Sicherheit weiter zu sticheln.

„Von all den miesen Schlampen die Red gevögelt hat, musste er gerade dich am Leben lassen.“ Seine Verachtung war kaum zu überhören.

Diese Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Für den Bruchteil einer Sekunde brach ihre Fassade aus Wut zusammen. Ihr Schmerz und die Verzweiflung lagen offen an der Oberfläche. Sie hatte die Alternative zum Wahnsinn gewählt. Den Hass. Ein perfektes Betäubungsmittel, doch die permanente Dosis machte sie abhängig. Vermutlich war sie längst über die Möglichkeit eines Entzuges hinaus. Der Rausch vollkommen frei von moralischen Grundsätzen zu sein, ließ sie als menschliches Wesen verkümmern. Dieser Hass war ihr Schicksal bis zum erlösenden Tod.

Zu Sentrys Überraschung fiel sie nicht über Igor her. Sie konnte sich beherrschen. Der Rest an Vernunft zeigte ihr die Sinnlosigkeit eines Angriffes auf.

„Ein Fehler, den er noch bitter bereuen wird“, presste sie voller Zorn hervor.

Igor erwiderte nichts mehr und verschwand hinter der Tür.

Dina schnappte sich eine der Flaschen und ging zu der lethargischen Blondine am anderen Ende des Raumes.

„Komm trink das“, kommandierte sie in einem Befehlston, der keinen Widerspruch akzeptierte. Das zeigte zunächst keine Wirkung. Erst eine sanfte Ohrfeige erzeugte eine Regung.

„Komm schon, du tust uns allen kein Gefallen, wenn du uns hier drinnen verhungerst.“

Sie drückte ihr die geöffnete Flasche in die Hand. Zitternd mit zwei Händen trank die Blondine die Flasche nach und nach leer.

„Braves Mädchen.“ Dina verharrte solange bei ihr, bis die Flasche vollkommen geleert war. Es war eine absurde Situation. Die Frau, die bei der kleinsten Angelegenheit bereit war jedem in diesem Raum eine Überdosierung an Schmerz zu verpassen, zeigte plötzlich Mitgefühl. Für Sentry war sie damit unberechenbar geworden.

Sie wandte sich wieder Pius zu. Dieser hockte wimmernd vor ihr, den nächsten Schlag erwartend, denn Hass und Zorn hatten wieder übernommen. Sie entschied sich für eine andere Form der Demütigung und schaute ihn nur verächtlich an, auch wenn eine Tracht Prügel ihr mehr Befriedigung gebracht hätte. Sie trank eine der Flaschen leer, setzte sich in ihre Ecke und schien unheimlich erschöpft. Die letzte halbe Stunde hatte sie viel Kraft gekostet und die Schmerzen taten ihr Übriges.

Jeder der vier Insassen war gefangen in seiner eigenen Welt. Wut und Hass auf der einen Seite, Angst bei Pius, Verwirrung bei Sentry und in welcher Zuflucht die Blonde war, konnte keiner erahnen.

Für Sentry war es dringend notwendig das Chaos zu ordnen. Er befand sich auf einem Raumschiff. Red und sein Trupp hatten ihn vermutlich entführt und wollten ihn verkaufen. Aber woher kam er und warum erinnert er sich nicht an die Entführung? Er stand unter Drogen bei seinen ersten Schritten in diese grausame Welt, da war er sich ziemlich sicher. Hat Red sie benutzt um ihn leichter zu fangen? Waren sie die Ursache für seine Amnesie? Tausend Fragen und zu wenig Antworten. Da sind auch noch die Femtos. Wie viel mag ein Sklave mit solchen Fähigkeiten wert sein? Jede Frage erzeugte neue Fragen. Ein endloses Karussell aus Unwissenheit. Ziellos irrten die Gedanken durch seinen Kopf. Irgendwann würde das alles einen Sinn ergeben. Hoffentlich blieb er lange genug am Leben, um das Puzzle zusammen zu setzen.

Es dauerte etwa zwei Stunden, ehe Pius es wagte etwas gegen seine lähmende Angst zu tun. Dinas angeschwollene Prellungen beschränkten ihre Bewegungsfreiheit und sie verfiel in einen unruhigen Schlaf. Das gab ihm den nötigen Mut, um leise zu Sentry zu kriechen.

„Die ist wahnsinnig und wird uns noch alle umbringen.“

Dass er zu ihm kam, bestätigte ihn in seiner gestarteten Vertrauensoffensive. Er brachte alles andere als Sympathie für Pius auf, aber er brauchte mehr Informationen.

„Wo kommst du her?“, fing er an, obwohl ihn das überhaupt nicht interessierte. Er konnte nicht mit der Tür ins Haus fallen und so heuchelte er Interesse an ihm vor.

„Wir sind von Comox, Lisa und ich.“ Er deutete auf die Blondine.

„Wo die Hexe herkommt weiß ich nicht. Wo stammst du her?“

„Ich habe keine Ahnung.“

„Dann hatte sie Recht, dass du nicht weißt wer du bist?“

Das ging schneller als gehofft. Pius hatte selbstständig das Thema auf ihn gebracht. Nun musste er vorsichtig sein, nicht mit einer unpassenden Bemerkung das Vertrauen zu erschüttern.

„Ja, keinerlei Orientierung. Ich weiß nicht wo ich herkomme oder wo ich hier bin“, gab er ihm eine Steilvorlage.

In dem Gefühl ein größeres Elend, als sich selbst vor sich zu haben, nutze Pius die Gelegenheit Selbstvertrauen zu tanken, indem er bereit war, das von Sentry zu untergraben.

„Red wird dich sicher an die Gilde verkaufen. Die nehmen derzeit alles für ihre Minen“, äußerte sich Pius herablassend, als wäre er sich sicher, dass ihm selber dieses Schicksal erspart bliebe.

Für Pius stand Sentry in der Hierarchie unter ihm und das obwohl es tiefer eigentlich nicht mehr ging. Einzig allein die Tatsache, dass er wusste, was ihn hier erwartete und wie er in dieses Dilemma gekommen war, qualifizierte ihn für diese Überlegenheit. Wüsste er von den Femtos und Reds Angst diese vielleicht zu provozieren, er würde sicherlich ähnlich ängstlich vor Sentry niederkauern, wie er es bei Dina praktizierte.

Die Erkenntnis, dass auch Pius kein Halt in diesem ganzen Elend bot und er dadurch gezwungen war, sich vollkommen ohne Hilfe in dieser Welt zu orientieren, deprimierte ihn.

„Bin ich auch von Comox?“

Mit dieser Frage streichelte er Pius Ego enorm, denn es bestärkte diesen in seiner erhabeneren Position.

„Nein, natürlich nicht. Du kamst erst viel später dazu. Wir sind zwischendurch gesprungen.“

„Gesprungen?“

„Ja in ein anderes System“, erwiderte er mit einem mitleidigen „du weißt ja gar nichts“ Blick.

„Weißt du etwas über meine Entführung?“

„Bis vor ein paar Stunden wusste ich nicht mal, dass es dich gibt.“

Pius schien sichtlich genervt von der Fragerei. Egal, eine musste noch.

„Glaubst du, dass die Sache für uns hier ein gutes Ende nimmt? Gibt es Hoffnung?“

Er schaute Sentry ins Gesicht und in diesem Moment kam ihm wohl die Erkenntnis, dass es egal war, ob sein Wissen über diese Realität ihm einen Vorteil verschaffte oder nicht. Alle hier in diesem Raum würde dasselbe Schicksal ereilen. Die Hoffnung auf eine tröstende Antwort wurde durch das Schweigen gnadenlos zerstört. Hoffnung war hier vollkommen fehl am Platz. Das passte nicht in diese Welt.

Das Fehlen von Tageslicht machte es schwer sich zeitlich zu orientieren. Wie viele Stunden oder Tage vergingen, konnte Sentry nicht mal erahnen. Einzig die Fütterung mit Kaloriengetränke, gab ihm einen gewissen Rhythmus. Trotzdem war es unmöglich das irgendwie einzuordnen und die Vorstellung bis in alle Ewigkeit in diesem metallischen Gefängnis zu verbringen, deprimierte ihn mit der Zeit. Die Psyche drohte permanenten Schaden zu nehmen. Hinzu kam der Überschuss an Energie, der aus Mangel an Möglichkeiten zur Bewegung, ihn unruhig werden ließ. Ein Problem, mit dem er nicht allein zu kämpfen hatte. Dina, die sicherlich eine weit höhere Kesseltemperatur besaß als er, saß zwar ruhig in ihrer Ecke, aber die Spannungen im Raum konnten schnell in handgreiflichen Konflikten eskalieren. Abgesehen von Lisa, die sich trotzig in ihre Welt zurückzog, herrschte  ein Klima von gegenseitigem Misstrauen. Pius drohte jederzeit als Ablassventil für Dina herhalten zu müssen und so ließ er sie keinen Moment aus den Augen. Noch erachtete sie ihn als unwürdig Energie in Form von Prügel an ihn zu verschwenden. Für sie gab es weit besser geeignete Kandidaten auf diesem Schiff, an denen sie ihrer Wut freien Lauf lassen wollte und so zügelte sie ihren Zorn, in der Hoffnung auf den richtigen Moment.

Die gelegentlichen verbalen Demütigungen durch Dina gab Pius in zeitlicher Verzögerung an Sentry weiter. Dieser ignorierte die herablassende Art und nutzte die Gelegenheit, um mehr über diese Welt zu erfahren. Pius war so einfach manipulierbar und so war es ihm mittlerweile möglich, weitere Informationen aus ihm herauszuholen.

Die düstere Inszenierung war nicht immer logisch, aber die Ungereimtheiten in Pius Geschichten konnte Sentry weites gehend mit anderen Teilen seiner Erzählung kompensieren. Es hielt seinen Geist fit die einzelnen Bausteine zusammenzusetzen. Sie lebten in einer posttechnischen Welt. Für die meisten Menschen waren technische Gegenstände zu einer großen Unbekannten verkommen, die sie zum notwendigen Überleben brauchten. Nur wenige kannten noch die physikalischen und mathematischen Zusammenhänge, die dahinter steckten. Die Dinge erfüllten einfach ihren Zweck und damit besaßen sie für den größten Teil der Galaxie-Bewohner etwas Magisches.

Wenn diese Magie erlosch, gab es kaum Möglichkeiten für eine weitere Nutzung. Nicht nur das fehlende Wissen erschwerte eine Reparatur, es herrschte auch ein Mangel an neuen Ersatzteilen. Es gab praktisch keine Produktion mehr und so wurde das genutzt, was bereits Jahrhunderte vorhanden war. Dementsprechend alt und anfällig war die lebenswichtige Technik geworden. Laut Pius wurde das letzte Raumschiff vor mehr als tausend Jahren gebaut.

Die wenigen Spezialisten mussten keine jahrelangen Studien über physikalische Grundlagen absolvieren. Ihr technisches Verständnis begrenzte sich auf das richtige zusammensetzen der einzelnen Bauteile. Erfahrung war der Reparatur-Kit und vergammelte Ersatzteile die Währung im interstellaren Handelssystem geworden. So hatten sich verschiedene Formen von Dienstleistungen etabliert, um das Notwendigste am Laufen zu halten.

Forschung und Entwicklung waren weites gehend zum Erliegen gekommen. Die kläglichen Überreste einer einst fortschrittlichen Zivilisation wurden von ahnungslosen Nachfahren verwaltet. Die technische Welt Ihrer Ahnen hatte aus mathematischen Gleichungen bestanden. Der moderne Mensch dagegen war zum reinen Anwender verkommen und steuerte damit auf sein eigenes Verderben zu. Selbst die beste Technologie konnte ohne Grundlagenwissen nicht ewig erhalten werden. Damit war das Vermächtnis der Vorfahren zeitlich begrenzt und der Niedergang der Menschheit war unaufhaltsam. Der Kampf um die letzten technischen Ressourcen war im vollen Gange.

Diese Vorfahren wirkten in Pius Beschreibungen wie Götter aus einer anderen Welt. Ihr Ursprungsplanet war unbekannt und besaß in seinen Beschreibungen etwas mystisches. Offenbar machten mehrere Welten ihren Anspruch auf diesen Titel geltend. Wirklich gesicherte Erkenntnisse dahingehend gab es nicht mehr. Jedenfalls fand die Expansion ins All von diesem ominösen Ursprung statt. Exponentiell wollte die Menschheit die Galaxis besiedeln und da wenig bewohnbare Welten vorhanden waren, wurden Klumpen aus Gestein und Staub in blühende Landschaften verwandelt. Allein diese Technologie des Terraformings zeigte auf, welch Fortschritt zu diesen Zeiten vorhanden gewesen sein musste.

Diese gottgleichen Fähigkeiten ermöglichten das Besiedeln von mehr als fünfzig neuen Kolonien, was ein enormes Bevölkerungswachstum zur Folge hatte. In diesen Jahren des exponentiellen Aufstieges musste irgendwas schief gelaufen sein. Pius nannte sie die große Katastrophe. In welcher Form, das variierte in seinen Geschichten. Mal war es eine Epidemie, ein andermal ein vernichtender Krieg, selbst außerirdische Kreaturen brachte er in seine wirren Geschichten ein. Fakt war: Der größte Teil der Menschheit starb und keine der neuen Kolonien blieb verschont.

Die große Katastrophe war nur ein Vorspiel im eigentlichen Untergang der Zivilisation. Nach einer kurzen Phase des Machtvakuums zeigte die menschliche Natur scheinbar längst überwundene Verhaltensmuster. Feudale Gesellschaftsformen von Dominanz und Herrschaft entstanden, was durch unterschiedliche Interessen unweigerlich zu Spannungen führten. Es dauerte nicht lange, bis konkurrierende Gruppen in kriegerischen Konflikten übereinander herfielen. Die Unendlichkeit der Galaxie war zu klein geworden und das gemeinsame Überleben wich dem Recht auf Herrschaft des Stärkeren.

Zu dieser Zeit ging die technische Weiterentwicklung auf ein Minimum zurück. Schulbildung wurde durch Kampfausbildung ersetzt. Wer überleben wollte, musste sich zu wehren wissen. Alles wurde auf den Kriegsapparat optimiert. Warlords beherrschten die Systeme und eine Legionärskultur etablierte sich. Hungersnöte und Seuchen entvölkerten die Welten weiter. Niemand konnte sich dem Chaos entziehen und verschiedene militärische Fraktionen machten ihre Ansprüche auf die Vorherrschaft in der Galaxie geltend. Die Kriegsmaschinerie wuchs weiter an und die zivilen Strukturen bluteten nach und nach aus. Ein erneuter Kollaps war unvermeidlich. Ein Krebsgeschwür aus Gier und Machtanspruch ergriff die Galaxie und drohte die eigene Lebensgrundlage zu zerstören. Die Menschheit schien dem Untergang geweiht.

Die Bevölkerung schrumpfte auf ein Minimum und manche Welten waren für alle Zeit unbewohnbar geworden. Kurz vor dem absoluten Ende blieben zwei Kriegsparteien übrig, die sich dem Niedergang halbwegs entziehen konnten. In all dem Wahnsinn, welcher sich die letzten Jahre abgespielt hatte, war Krieg für sie keine Option mehr. Diese Einsicht hatte ihnen das Überleben gesichert und sollte ihnen den Vorteil verschaffen, den sie für den mühsamen Wiederbelebungsversuch der verbliebenen Menschheit benötigten.

Es war die Geburtsstunde der wohl bekanntesten historischen Person in diesem Universum. In der Form, wie Pius ihn darstellte und die glorifizierende Art und Weise wie er über ihn redete, stellte ihn auf eine Stufe mit einem Erlöser. Der als Liberator bekannte Messias legte den Grundstein für ein neues Zeitalter. Mit dem Zusammenschluss der  verbliebenen Kriegsparteien zeigte er die lang ersehnte Alternative zum Krieg auf.

Seine charismatische Ausstrahlung war die Medizin für die vom Krieg geschundene Seele der Überlebenden. Wie schon so oft in der Geschichte klammerten sich die Menschen in ihrer größten Not an schillernde Gestalten, die ihnen eine bessere Zukunft versprachen. Diese Kombination aus vorhandenem Elend und Charisma ermöglichte ihm in imperialer Art und Weise die Kontrolle über die meisten Welten. Ohne großen Widerstand folgten ihm die Menschen in die neue Zeit von versprochenem Frieden und Wohlstand.

Diese Phase dauerte 200 Jahre und endete auch nur, weil der Liberator eines Tages plötzlich verschwand. Über die Umstände seines Verschwindens gab es die wildesten Spekulationen. Für Pius war er ins Himmelreich aufgestiegen und wachte weiterhin über die Systeme in einer gottgleichen Form, bereit zurückzukehren, sollte er gebraucht werden. Wahrscheinlicher war allerdings, dass er einfach entmachtet wurde oder durch einen Unfall ums Leben kam. 200 Jahre schienen eine relativ unwahrscheinliche Zeit, so dass vermutlich ein früheres Abtreten stattfand und allein der Mythos die Welten zusammenhielt.

Seine Nachfolger waren dem schweren Erbe nicht gewachsen und die teuer erkaufte Einheit drohte zu zerfallen. Die einzelnen Welten standen wieder in Konkurrenz zueinander.  Kriegerisches Chaos konnte vorerst vermieden werden, allerdings spitzte sich die Lage in den letzten 50 Jahren gefährlich zu. Gelegentliche Ausbrüche in Gewalt zwischen einzelnen rivalisierenden Gruppen waren mittlerweile an der Tagesordnung. Konnte man Pius glauben, so stand der Rückfall in eine von Warlords kontrollierte Welt unmittelbar bevor. Der Ton wurde merklich rauer in den letzten Jahren und individuelle Ziele standen über denen einer Gemeinschaft.

Wie schon beim ersten Mal war die Technologie der entscheidende Trumpf. Nur war sie deutlich seltener und damit wertvoller geworden. Eine zusätzliche Lunte für das Pulverfass. Sollten Pius Ausführungen nur annähernd stimmen, war er ein wesentlicher Bestandteil dieser neuen Leitwährung. Die Femtos in ihm waren vermutlich sogar die Spitze militärischer Technologie. Die Tatsache, dass Red sein Geheimnis kannte, ließ seine Eingeweide verkrampfen. Der Gedächtnisverlust, die Sklaverei und nun das. Die Steigerungsrate seines Albtraums nahm Schwindel erregende Fahrt auf. Es gab nichts, wofür es sich zu leben lohnte, aber jede Menge Argumente, diesen Wahnsinn auf die eine oder andere Art zu beenden.

Die Zeit in diesem metallischen Gefängnis schien still zu stehen. Die einzigen Abwechslungen bestanden in den regelmäßigen Fütterungen durch Igor und Olof. Begleitet wurden die seltenen Besuche mit widerlichen Bemerkungen gegenüber Lisa. Mit körperlichen Übergriffen hielten sie sich zurück, was ihr wenigstens äußerlich Erholung verschaffte. Ihr Geist dagegen war für immer gebrochen und Sentry vermutete, dass ihr selbst Femtos keinerlei Heilung verschaffen würden.

Diese Zurückhaltung ihrer Aufseher war ein untrügliches Zeichen dafür, dass ihre Reise dem eigentlichen Ziel entgegen ging. Die „Ware“ musste in gutem Zustand präsentiert werden. Sich ihres körperlichen Vergnügens beraubt, bekamen Pius und Lisa dafür die doppelte Ration an verbaler Herablassung. Dina hatte sich mit Olofs Nasenbeinbruch ein gewisses Maß an Ruhe erkämpft und Sentrys Schutz bestand in der Ungewissheit über die Fähigkeiten seiner Femtos. Die ängstliche Zurückhaltung seiner Peiniger ihm gegenüber, weckte Dinas Misstrauen.

„Du bist an Elend kaum zu überbieten und trotzdem kriegen die beiden das Zittern, sobald sie in deinen Dunstkreis kommen. Selbst meine Nasenkorrektur bei dem Fetten hatte nicht annähernd so viel Eindruck hinterlassen. Was zum Teufel hast du mit denen gemacht?“, funkelte ihn Dina an.

Wieder hatte er den Eindruck, dass keine seiner Antworten sie in irgendeiner Weise befriedigen würde. Weder die Wahrheit noch eine gut vorgetragene Lüge würde ihren Zorn besänftigen. Für Letzteres fehlte ihm ohnehin die nötige Überzeugungskraft, um die durchaus vorhandene Intelligenz von Dina täuschen zu können. Resignation erfasste ihn, die sofort umschlug in Trotz und Verzweiflung. Sollte sie gewalttätig werden. Ihm egal. Vermutlich würden Reds Handlanger wieder eingreifen. Die teure Technologie musste ja beschützt werden.

„Wenn du dir die Typen nicht vom Hals halten kannst, ist das dein Problem.“ Das klang trotziger als beabsichtigt. Es war kein Mut, den er an den Tag legte, es war pure Resignation, daher währte Dinas Überraschung nicht sehr lange.

„Wenn du glaubst es könnte nicht schlimmer kommen, kann ich dich gerne vom Gegenteil überzeugen“, drohte sie ihm.

Er schaute sie an und das Treffen ihrer Blicke entwickelte sich zur Machtprobe. Doch hier trafen keine zwei Alpha-Tiere aufeinander, die ihren Führungsanspruch untermauern wollten. Keine Chance für Sentry, Mut war bei ihm nicht vorhanden. Er wendete sich ab, aber ohne den nötigen Respekt für den vermeintlichen Sieg zu zeigen.

Dina gab sich zufrieden und entspannte damit die Situation vorläufig. Er hatte den Eindruck, dass er wieder eine Gefahrenstufe aufgestiegen war. Vermutlich würden auch die Femtos nicht mehr lange im Verborgenen bleiben. Wieder realisierte er, dass die Gefahr auch innerhalb dieses Gefängnisses permanent präsent war. Ihre natürliche Schönheit wurde vollständig kompensiert durch ihre vergiftete Seele.

Das er Red irgendwann wieder gegenüber sitzen würde, war ihm die ganze Zeit bewusst gewesen. Als er dann endlich zu ihm geführt wurde, genoss er die Abwechslung zu seinem fensterlosen und grell erleuchteten Gefängnis. Die Resignation siegte über die Angst und so sah er dem zweiten Treffen entspannt entgegen.

Die Gegensätze zum ersten Mal konnten kaum unterschiedlicher sein. Red stand unter enormer Anspannung und Sentry schien die Ruhe selbst. Keine Spur mehr von Gelassenheit bei seinem Peiniger. Dass seine bewaffnete Leibgarde Olof und Igor mit im Raum waren, untermauerte Reds Nervosität. Sentrys Ruhe, die zweifelsohne durch seine hoffnungslose Aussichtslosigkeit genährt wurde, wich mehr und mehr einer ängstlichen Neugierde und es dauerte nicht lange, bis das Maß an Aufregung, dem seines gegenüber in nichts nach stand. Eine seltsame Erwartungshaltung erfüllte den Raum.

Red versuchte sich zu entspannen.

„Verdammt, vielleicht sollten manche Geheimnisse geheim bleiben, aber es ist einfach zu verlockend“, brach er die unheimliche Stille.

„Diese Biester in deiner Blutbahn sind militärische Technik auf höchstem Level. Vermutlich wären wir schon Knochenmehl, wenn du wüsstest, wie du sie aktivieren kannst. Jetzt kommt das Verrückte. Ich helfe dir deine Superkräfte zu testen.“

Er atmete tief ein, als würde er mit dieser Entscheidung ringen.

„Verdammt ich will wissen, welche kranken Dinge diese Femtos in dir auslösen. Meine beiden Amigos hier passen auf, dass wir das hier überleben.“ Als Bestätigung für die Ernsthaftigkeit seiner Worte richteten Olof und Igor ihre Waffen auf Sentry. Zwei Psychopathen, die ihn mit Waffen bedrohten. Die Lethargie war verschwunden und sein Körper überschwemmte ihn mit Adrenalin. War das ein Vorbote für Femtos oder einfach nur Angst? Egal was die Antwort war, die nächsten Minuten würden schrecklich werden.

„Drei mögliche Schlüssel hab ich, um dich aus der Reserve zu locken. Mal schauen, ob wir dich nicht zum Tanzen bringen.“

Jetzt dämmerte es Sentry. Die Femtos sie werden durch Reize oder Gedanken aktiviert. Offenbar gab es etwas, was Red veranlasste zu glauben sie zum „Tanzen“ zu bringen. Er war im Zwiespalt. Gefangen zwischen Neugierde und Angst. Wollte er wissen zu was er fähig war? Das Unbekannte, es ist faszinierend und beängstigend zugleich. Wie eine emotionale Waage, bei der er nicht wusste, welche Seite am Ende den Ausschlag gab.

„Erster Versuch“, murmelte Red und hielt ihm ein elektronisches Tablet unter die Nase. Igor verstärkte seine bedrohliche Haltung.

Ein Bild von einem Eichhörnchen. Glaubte er wirklich mit diesem possierlichen Nager militärische Hochleistungstechnologie aktivieren zu können. Das wirkte absurd. Sentry entspannte sich und grinste vor sich hin.

„Schön, dass ich dich amüsiere, aber das ist nicht ganz die Reaktion, die ich erhofft hatte“, schnaubte Red ihn beleidigt an.

„Igor könntest du ihm bitte den Ernst der Lage erklären.“

Igor steckte die Waffe weg und zog den Elektroschocker aus der Tasche, mit dem er schon Dina malträtiert hatte.

Es wirkte wie tausend kleine Nadeln, die ihn gleichzeitig piesackten. Als wanderten sie durch seinen Körper, um jeden einzelnen Mikrometer in Schmerzen zu tauchen. Sämtliche Muskeln versagten ihren Dienst. Eine Sekunde dauerte das Martyrium, gefühlt war es eine Ewigkeit. Seine ganze Wahrnehmung bestand nur noch aus Schmerz. Wieder eine Erfahrung in seinem so kurzen Leben, auf die er gerne verzichtet hätte und wieder eine Expansion seines Elends. Die Grenzen wurden permanent erweitert und er war sich sicher, dass er irgendwann dem Wahnsinn verfallen würde. Viel fehlte nicht mehr und zu seinem Bedauern war Tod kein Option, denn so einfach sterben würden sie ihn nicht lassen.

„Das ist die niedrigste von drei Stufen. Wenn du die anderen auch noch testen willst, könnte Igor das sicher einrichten“, zischte Red grinsend in Sentrys Richtung.

Zehn Minuten war er praktisch bewegungsunfähig. Auch wenn der Schmerz relativ schnell nachließ, blieb ihm die Lähmung noch eine Weile erhalten. Tausende elektronische Insekten durchstreiften seinen Körper und störten die Kommunikation zwischen Gehirn und Muskulatur. Es blieb ihm nur die Hoffnung auf eine Rückkehr zu einem normalen Zustand. Ein erdrückendes Gefühl von Hilflosigkeit ergriff ihn. Was, wenn seine Mobilität für immer beeinträchtigt blieb?

„Zweite Runde“, erklärte Red bedeutungsvoll nach einer gewissen Weile. Die Nachwehen von Igors Elektroschocktherapie hatte Sentrys Körper noch nicht vollends verarbeitet. Leichte Bewegungen waren zwar möglich, aber er bezweifelte diesen Stuhl aus eigenen Kräften verlassen zu können. Was immer Red auch plante, er hatte kaum die Möglichkeit auf Gegenwehr

Dieses Mal versuchte er jede Form von Emotion zu vermeiden. Red hielt ihm die geballte Faust unter die Nase. Langsam drehte er sie, so dass seine Finger nach oben zeigten. Als er sie öffnete, lag eine Art Amulett auf seiner Handfläche. Es bestand aus einem Ring von ca. 3cm Durchmesser, welcher einen kleinen blauen Edelstein in der Mitte besaß. Ein sehr schönes Schmuckstück fand Sentry, aber der Zusammenhang zwischen ihm, den Femtos und diesem Amulett war ihm vollkommen unbekannt. Da er auch nicht anfing irgendwelche verrückten Sachen zu machen, scheiterte auch der zweite Versuch.

„Warum gerade das?“, reagierte Red auf den ratlosen Ausdruck in Sentrys Gesicht.

„Es war eine der zwei Grabbeilagen, die wir bei dir gefunden hatten. Der Klunker lag in deinem Kühlschrank.“

Für Sentry war das eine sinnlose Aneinanderreihung von Worten. Red genoss es die Verwirrung zu steigern.

„Kryonik ist das Zauberwort. Irgendwer hat dich irgendwann für irgendeinen Zweck eingefroren. Offenbar hielt er es für wichtig das Teil mit dazu zu legen. Würde mich echt mal interessieren wie lange du weg warst.“

Kryonik schoss es ihm durch den Kopf. Schockgefrieren von organischem Material zur Aufbewahrung über einen längeren Zeitraum. Er wusste was Red meinte, genauso wie er rechts von links unterscheiden konnte oder sogar Eichhörnchen kannte. Der Gedächtnisverlust kam ihm unheimlich selektiv vor, eingeordnet in die Dinge die er wissen sollte um zu funktionieren und Dinge, die man ihm mit Absicht vorenthielt.

„Genug geplaudert. Zeit für den Joker.“

Das klang so selbstsicher, dass Sentry das erste Mal dem Drang verfiel die Augen zu schließen. Die Angst, die Kontrolle an die Femtos abzugeben, steigerte seine Aufregung.

„Wenn du nicht wieder Igors kleines Spielzeug spüren möchtest, würde ich dir raten die Augen auf zu machen.“

Er atmete einmal tief durch und die Gewissheit dem Unvermeidlichen nicht entgehen zu können, drängte ihn zum Handeln. Zweimal war es lächerlich, was Red ihm vorgelegt hatte. Warum sollte es diesmal anders sein? Er kratzte seinen verbliebenen Mut zusammen und öffnete die Augen.

Reds Hand lag flach auf dem Tisch. Was immer er ihm zeigen wollte, es musste sehr klein sein.

„Bereit?“, fragte Red ihn erwartungsvoll, als hätte er wirklich eine Wahl.

Er zog die Hand weg. Was zum Vorschein kam, verursachte weder durch Femtos getriebene Verrücktheiten, noch vollkommen emotionsloses Staunen, wie es bei dem Schmuckstück der Fall war. Ganz im Gegenteil. Ein Gefühls-Tsunami ergriff ihn und löste  widersprüchliche Gefühle in ihm aus. Abwechselnd spürte er Liebe, Trauer, Wut aber auch Angst. Er wollte Red diese Mixtur aus Verletzlichkeit vorenthalten, aber die Intensität dieser Emotionen war einfach zu stark. Es war ihm unmöglich die Tränen zurückzuhalten. Was passierte hier? Noch nie in seinem kurzem Leben hatte er so tiefgreifende Gefühle empfunden. Das alles war echt, das kam von ihm, aus seinem Inneren. Keine Technik, die die Kontrolle übernahm.

Reds Kommentare gingen unter im Versuch einen Grund für das alles zu finden. Für dieses Gefühlschaos musste es doch eine Erklärung geben. Krampfhaft suchte er in der Leere seines Geistes nach einer passenden Erinnerung, aber da herrschte nur Dunkelheit.   Sie war vorhanden, da war er sich sicher, aber irgendwas hinderte ihn am Zugriff. Wer ihm diese Amnesie auch angetan hatte, schaffte es wesentliche Teile seines Lebens verborgen zu halten. Diese Gedankenbarriere war zwar undurchlässig gegenüber autobiographischen Tatsachen, aber löchrig hinsichtlich emotionalen Empfindlichkeiten.

Unter Tränen schaute er wieder auf den Tisch, in der Hoffnung das Bollwerk in seinem Kopf zum Wanken zu bringen. Vergeblich. Red hatte es nicht geschafft Femtos in ihm frei zu setzen, aber er hatte etwas Anderes erreicht. Der Sinn seines so bisher kurzen Lebens, er lag da vor ihm auf dem Tisch. Es gab wieder einen Grund diesem ganzen Wahnsinn hier lebend zu entkommen, auch wenn ihm bisher vollkommen unklar war, was seinen Antrieb befeuerte. Tod war nicht mehr die einzige Option. Sein Selbsterhaltungstrieb war wieder erwacht. Er wollte Antworten auf das, was gerade mit ihm passiert war. Auch wenn er  nicht den Eindruck machte, er war fest entschlossen sich dieser grausamen Welt zu stellen. Er hatte ein Ziel, nun hatte er auch einen Grund zu leben.

 

II

 

„Alles was uns Seufzer entlockt und Schrecken einjagt, ist ein Tribut an das Leben.“

Lucius Annaeus Seneca

 

 

Unordnung. Das traf es wohl am besten. Die Erlebnisse aus Reds Versuchen seine Femtos zu aktivieren, musste Sentry erst mal sortieren. Eine Art mentales Ablagesystem, indem alles nach bestimmten Kriterien fein säuberlich archiviert werden konnte, um einen besseren Überblick zu bekommen. Am wichtigsten war es zu unterscheiden, welchen Informationen er trauen konnte und was Red nutzte, um ihn aus irgendeinem Grund zu verunsichern.

Er musste empirisch vorgehen. Traue nur den eigenen Erfahrungen und nutze sie als Referenz zu den Erlebnissen, doch da stand leider nicht viel auf der Habenseite. Anderseits war sein tabula rasa nicht vollkommen leer. Es war ihm zwar unmöglich auf bewusste Teile seiner Erinnerung zurückzugreifen, doch Emotionen, Empfindungen und Instinkte prägten das bisschen Persönlichkeit, dass sich ihm offenbarte. Von diesen größtenteils unbestimmten Aspekten seines eigentlichen Charakters hängte sein Überleben ab. Verrückt, aber er musste sich erst selbst kennenlernen.

Durch diese Zweifel über die eigenen Fähigkeiten war es ihm unmöglich vernünftige Entscheidungen zu treffen. Die scheinbare Fülle an neuen Informationen war nur ein Bruchteil dessen, was notwendig wäre, um in dieser Welt zurecht zu kommen. Langfristige Pläne für seine Zukunft waren bei diesem Mangel an Wissen unmöglich. Er sah sich gezwungen seinen Instinkten zu vertrauen, die irgendwann in einer unbekannten Vergangenheit geprägt wurden. Das Risiko zu scheitern war enorm hoch, doch er hatte keine Wahl. In dieser Situation war sein Schicksal nur minimal beeinflussbar. Die Erkenntnis frustrierte ihn. Einzig allein das Bild, dass Red ihm zeigte und dass die Vielzahl widersprüchlicher Emotionen in ihm auslöste, war sein Licht in der Dunkelheit. Es sollte für lange Zeit der einzige Grund sein, dem Selbsterhaltungstrieb nachzugeben.

Red war sichtlich enttäuscht gewesen, dass keiner seiner Versuche irgendwelche Reaktionen der Femtos hervorrief. Auf seine für ihn typische Art und Weise lebte er seine Frustration an Sentry aus. So kam dieser noch in den Genuss der Stufe zwei des Elektroschockers. Die Steigerung des Schmerzes war nur minimal, die Wirkung der Lähmung hingegen hielt deutlich länger an. Vollkommen bewegungsunfähig, schleppten Reds Schergen ihn wieder zurück zu den anderen Gefangenen.

Er nutze die kurze Zeit des Anblicks um sich die Details des Bildes möglichst genau einzuprägen. Es war auf Papier gebannt. Eine Photographie. Das war jedenfalls der Begriff, den sein löchriges Gedächtnis freigab. Sicherlich etwas, was in dieser technischen Welt nur noch wenig Anwendung fand. Das verwirrende Gefühlschaos wurde durch die Frau ausgelöst, deren melancholischer Gesichtsausdruck für die Ewigkeit festgehalten wurde. Es fiel ihm schwer die vorherrschende Emotion zu isolieren. Auch wenn die Intensität nachgelassen hatte, brachte die Mischung aus Verlustangst, Liebe und Zorn ihm die notwendige Energie. Er war bereit sich dem Wahnsinn zu stellen. Die Optionen waren weiterhin begrenzt, aber eine Zukunft ohne Gefangenschaft oder Sklaverei, war für ihn der einzige Ausweg. Für dieses erste Ziel war er bereit zu kämpfen.

Die Anzeichen verdichteten sich, dass sie sich dem eigentlichen Ziel ihrer Reise näherten. Die Unruhe der Besatzung, aber auch der bessere Zustand der Gefangenen deutete auf größere Veränderungen hin.

Wie sollte die Sache ablaufen? Kamen sie auf einen Sklavenmarkt, bei dem der höchst bietende ihn ersteigerte? Wie viel mag die Technologie in ihm wert sein? Alles Fragen über eine ungewisse Zukunft, die weiterhin nichts Positives erkennen ließ. Reds Hölle war wenigstens berechenbar geworden. Angst vor dem Unbekannten ergriff ihn. Er brauchte dringend Hilfe, wenn er überleben wollte.

Sie waren wieder gesprungen. Das Schiff erzitterte so extrem, dass Sentry befürchtete es würde auseinander brechen. Vor Tagen, oder waren es sogar Wochen gewesen, waren sie das erste  Mal gesprungen und er geriet dabei so in Panik, dass Pius sich ein herablassendes Lachen darüber gönnte. Mittlerweile wusste er, dass der ganze Zauber nach ein paar Sekunden vorbei war. Welche gewaltige Technologie der Vorfahren ermöglichte es Lichtjahre innerhalb von Sekunden zurückzulegen? Das Prinzip der Raumkrümmung erforderte Unmengen von Energie. Das Problem war ihm bekannt, aber die technische Lösung lag irgendwo jenseits der Gedächtnisblockade. Wer immer die Sortierung in seinem Gehirn vorgenommen hatte, legte in diesem Bereich nicht viel wert auf Präzesion.

Etwa eine Stunde nach dem Abendmahl, das aus den bekannten orangefarbenden Kaloriengetränken bestand, tauchte Olofs Gesicht in der Tür auf. Eigentlich war die rituelle Fütterung der Gefangenen ein Zeichen für eine längere Schlafphase auf dem Schiff und so änderte der ungeplante Besuch die vermeintliche Ruhe in große Anspannung. Urinstinkte der Angst fluteten den Raum und versetzen die Insassen in lähmende Erwartungshaltung.

Dina hatte sich zuerst gefangen und begriff schnell den wahren Grund für den ungeplanten Besuch. Fest entschlossen wollte sie dem bevorstehenden Übel etwas entgegen setzten. Blitzschnell war sie auf den Beinen, aber Olof hatte solche Aktionen vorhergesehen, denn sein Elektroschocker brachte sie buchstäblich auf den metallischen Boden der Tatsachen zurück.

„Du miese Fotze. Sei froh, dass du nachher verladen wirst, sonst würde ich dir jeden Knochen einzeln brechen.“

Er wandte sich den männlichen Gefangenen zu.

„Wollt ihr auch etwas? Ansonsten haltet die Füße still, wenn ich mich mit der Süßen vergnüge.“

Mit „der Süßen“ war natürlich Lisa gemeint. Olofs Stimmungslage wurde gespeist aus einer Mischung von Alkohol, Genugtuung und freudiger Erwartung. Im Rausch der Unbesiegbarkeit blendete er sogar Sentry und die mögliche Gefahr seiner Femtos aus. So überzeugt von sich selbst und der Annahme mit seinem Objekt der Begierde leichtes Spiel zu haben, wandte er sich seinem Opfer zu.

„Heute bin ich zärtlich zu dir. Immerhin wollen wir morgen einen schönen Preis für dich erzielen“, raunte er Lisa entgegen.

Offensichtlich sollte Lisa das letzte Mal Olofs perverse Triebe befriedigen, doch es war unklar, wie weit er dabei gehen würde. Sentry befand sich in einem Zwiespalt. Das Gefühl etwas tun zu müssen, um nicht Zeuge eines widerlichen Schauspiels zu werden, stand seiner eigenen Feigheit gegenüber. Heldenmut oder Angsthase? Dummerweise kannte er das Ergebnis selbst nicht und so führte er seinen inneren Kampf mit der Ungewissheit über seinen eigenen Charakter aus. Alles in ihm sträubte sich gegen das Nichtstun, doch die Erinnerung an den Einsatz des Elektroschockers ließ ihn zögern.

Pius an seiner Seite hatte die Entscheidung für sich getroffen und war keine Hilfe. Der moralische Konflikt war einzig und allein durch ihn selber aufzulösen und obwohl die Furcht nicht geringer wurde, siegte die Entschlossenheit dem ganzen Schauspiel ein Ende zu setzen.

Er hatte keine Ahnung wie er das angehen sollte. Besaß er so was wie Nahkampffähigkeiten? Würde vielleicht eines der Femtos ihn unterstützen? Der Mangel an Informationen über seine eigenen Kampfkünste steigerte die Wahrscheinlichkeit kläglich zu scheitern. Trotzdem wollte er handeln, auch wenn das jede Menge Schmerz bedeuten würde. Das moralische Ich in ihm hatte die Oberhand gewonnen.

Die Gelegenheit war günstig. Olof leckte gerade auf eklige Art und Weise Lisas Gesicht ab.  Diese gab sich vollkommen teilnahmslos und war bereit die Dinge zu akzeptieren, die da auf sie zu kamen. Als seine Hände an ihre Brüste gingen, sah Sentry den idealen Zeitpunkt zum Zuschlagen.

Er war nicht so schnell wie erwartet und sein gegenüber zeigte bessere Reaktionen als befürchtet. Unter diesen Voraussetzungen und der Tatsache, dass sein halbherziger Plan Olof mit einem einfachen gezielten Hieb niederzustrecken nicht wirklich durchdacht war, ging die Erfolgswahrscheinlichkeit gegen null. Olof steigerte seine Demütigung sogar noch mit der Art und Weise wie er seinen Angriff parierte. Der rechte Arm genügte und Sentry wurde abgeschüttelt wie ein lästiges Insekt. Mit jeder Menge Enttäuschung über den Ausgang seines kläglichen Manövers ging er zu Boden. Gleich würde er wieder den lähmenden Strom bekommen, doch der Ablauf nahm eine tragische Wendung, die keiner der Anwesenden so hatte kommen sehen.

Durch den Angriff war Olof für einen Moment abgelenkt. Bisher saß Lisa lethargisch in der Ecke und es war unklar, ob sie die Ereignisse in ihrer Umgebung überhaupt aktiv wahrnahm. Die Pistole an Olofs Halfter holte sie in die Realität zurück und ihr Geist schien mit einem letzten Aufbäumen die sich ergebene Gelegenheit zu erkennen. Sie griff zu, aber der Mangel an Erfahrung machte es ihr schwer die unhandliche Waffe fest zu packen. Ungeschickt hantierte sie herum und nachdem Olof seine Überraschung verarbeitet hatte, setzte er ihrem Versuch des Widerstands ein Ende.

So einfach wie erhofft konnte Olof seine Waffe nicht zurückbekommen. Etwa drei Sekunden dauerte das Handgemenge, dann löste sich ein Schuss. Die metallischen Wände wirkten wie ein gigantischer Verstärker und von einem Moment auf den anderen setzte Sentrys Gehör aus. Nur wenige Sekunden dauerte die absolute Taubheit, dann entwickelte sich ein permanenter Pfeifton im Ohr und verhinderte jegliche akustische Wahrnehmung der Umgebungsgeräusche. Vorerst musste er sich auf die verbliebenen Sinne verlassen und die erkannten einen jämmerlich zugerichteten Olof.

Es hatte ihn übel erwischt. Die Kugel zerfetzte sein rechtes Ohr und die blutigen Überreste ähnelten einem offenen Geschwür, das pulsierend Fontänen aus Körperflüssigkeiten in den Raum spritzte. Das Projektil hatte seinen Kopf aus nächster Nähe gestreift ohne groß auf nennenswerten Widerstand zu treffen, welcher das Geschoss verlangsamen oder sogar aufhalten konnte. Als Querschläger irrte es weiter durch den Raum, bis es auf das erste wirkliche Hindernis traf.

Die Niete in der Lotterie des Überlebens zog ausgerechnet Lisa. Die Kugel schlug in ihrer Wange ein und blieb irgendwo in ihrem Hinterkopf stecken. Ihr ehemals hübsches Gesicht bestand auf der linken Seite nur noch aus einem blutigen Krater. Sentry glaubte einen Hauch von Erleichterung auf ihrem unverletzten Teil zu erkennen. Nur kurz, dann wich das Leben aus ihrem Körper und sie viel vorn über. Die letzte Möglichkeit auf Erlösung wurde ihr gewährt.

Neben dem Knalltrauma hatte jeder in dem Raum sein persönliches Fiasko zu verarbeiten. Dina war immer noch gelähmt, Pius durchlebte gerade eine Panikattacke indem er wilde Worte vor sich hin faselte, Olof fluchte lautstark abwechselnd über die rebellische Lisa oder den Verlust seines Ohrs und Sentry bekam das zerstörte Gesicht nicht aus dem Kopf. Trotzdem musste er schnell handeln. Es würde nicht lange dauern, bis der Rest der Besatzung in den Raum stürmen würde. Das Schmuckstück aus seinem Sarg. Er wusste wo es war.

Für Red war es nach seinen missglückten Versuchen wertlos geworden und so überließ er es Olof, der lautstark den Erlös in Alkohol und Huren investieren wollte. Reds Art von Anerkennung für die Loyalität, die seine Leute ihm entgegenbrachten. Gönnerhaft hatte er es Olof überlassen, der es hoffentlich immer noch in seiner rechten Hosentasche mitführte.

Für Sentry war es zu wertvoll, um es auf irgendwelchen Flohmärkten zu verscherbeln. Dieses Schmuckstück war die einzige Beziehung zu seiner Vergangenheit. Vollkommen taub kroch er zu dem knienden Olof, der jammernd auf seine blutigen Hände starrte. Mit einer gewissen Genugtuung gab Sentry ihm den Hieb, den er vor etwa einer Minute anbringen wollte. Das Fehlen des Gehörs, das blutende Ohr und die Ablenkung durch die tote Lisa, ermöglichten ihm diesmal leichtes Spiel. Noch während Olof zusammen sackte, griff er ihm in die Hosentasche und nahm das Amulett an sich. Hoffentlich war die erwartete Verstärkung nicht bereits in seinem Rücken. Er drehte sich um, denn auf seinen Gehörsinn war immer noch kein Verlass. Gerade noch rechtzeitig verstaute er den Schatz in seiner eigenen Hosentasche, bevor Red in den Raum stürmte. Igor folgte dicht hinter ihm.

„Was für eine Scheiße läuft denn hier?“, brüllte Red und obwohl das Pfeifen in seinen Ohren andere Geräusche überdeckte, konnte Sentry die Lippenbewegungen gut zuordnen.

Da keiner auf seine Frage reagierte, wurde Red wütend. Der Anblick der toten Frau gab der Wut eine Richtung.

„Verdammt noch mal. Was ist so schwer an: Niemand fasst die Gefangenen an zu verstehen? Hast du deinen Schwanz nicht im Griff?“

Red wartete keine Antwort ab und begann auf den ohnehin schon arg geschundenen Olof einzutreten. Seine Wut schien unbändig und in dieser Rage musste jeder in seinem Umfeld mit Prügel rechnen. Alle die dazu in der Lage waren, versuchten soweit wie möglich Abstand zu dem Tobenden zu bekommen. Igor sicherte die Tür ab.

„Mach das hier sauber“, blaffte Red Igor an, nachdem er sich ordentlich ausgetobt hatte.

„Ich muss mich mit meinem Freund unterhalten.“ Das letzte Wort betonte er so extrem, dass die Vermutung nahelag, nicht wirklich ein Gespräch führen zu wollen. Er schleppte Olof raus und mit dem Verschwinden der beiden, entspannte sich die Lage.

Igor brachte die Leiche aus dem Raum und kurze Zeit später tauchte er mit einem Putzeimer wieder auf. Die Tatsache, dass er nicht die geringste Lust zum Putzen verspürte und Dina sich langsam wieder aufrappelte und damit zur potentiellen Gefahr wurde, brachte Pius in die Zwangslage das Gemisch aus Gehirn und Blut zu beseitigen. Er stellte sich nicht besonders clever an, was Igor als Anlass nahm seinen eigenen Frust über die Geschehnisse an ihm auszulassen.

Der Verlust von Lisa machte Sentry mehr zu schaffen als ihm lieb war. Auch wenn sie eher als Einrichtungsgegenstand und weniger als Mitglied der Gruppe seine bisherige Welt bereicherte, empfand er ihren Tod als schwerwiegend. Sie war eine Konstante in dem chaotischen hier und jetzt. Er kannte nicht viel und die Zukunft hielt nichts Gutes für ihn bereit. Ihr Ableben war ein Vorgeschmack dessen, was ihn an potentiellen Gefahren erwartete.

Sentry fehlte noch immer jegliches Zeitgefühl, weswegen es ihm schwer fiel die einzelnen Phasen des Nichtstuns in seinem Gefängnis in Zeiteinheiten einzuordnen. Drei bis fünf Stunden schätzte er, war seit dem tragischen Ereignis vergangen. Sie hatten kein Wort mit einander geredet, obwohl die Geschehnisse mit Sicherheit einer Aufarbeitung bedurften.

Das Schweigen hatte einen Grund, denn Olofs triebgesteuerte Aktion und seine Folgen hatte das Gleichgewicht zwischen den Insassen nachhaltig verändert. Ungeachtet des Ausgangs von Sentrys kläglich vorgetragenen Widerstands, brachte ihm dieses Manöver mehr Aufmerksamkeit und damit erhöhte Vorsicht bei Dina ein. Er konnte förmlich spüren, wie es in ihr arbeitete, um ihn gedanklich neu einzuordnen. Wahrscheinlich schwankte sie zwischen einfältig und naiv bis gefährlich und töricht. Pius dagegen verlor seinen Anker in der Not. Seine Möglichkeit die Qualen dieser Gefangenschaft zu lindern, indem er sie weitergab, schien dahin. Bei ihm herrschte die nackte Panik. Die Konfrontation mit Verstümmelung oder Tod, die jederzeit jeden hier in diesem Raum ereilen konnten, ließen ihn in eine Art permanenten Stresszustand verharren. Verstärkt wurde das ganze durch seine latente Klaustrophobie. Das Pulverfass war kurz vorm explodieren.

Es war Igor vorbehalten den Verkauf vorzubereiten. Er kam in den Raum und schnauzte nur ein Wort.

„Ausziehen.“

Da keiner reagierte, sah er sich gezwungen mit weiteren Worten und der Androhung des Elektroschockers seine Forderung zu erneuern.

„Ihr könnt es einfach haben oder schwierig. Ich habe auf alle Fälle meinen Spaß.“ Er schenkte Dina ein widerliches Grinsen.

Diejenige, von der er den meisten Widerstand erwartet hätte, wurde zuerst aktiv. Dina schaffte es den demütigenden Akt mit einer Würde hinzubekommen, die Igor die Freude am Zuschauen nahm. Trotzdem provozierte sie auch verbal. 

„Seit wann bringen denn 5cm Spaß?“, zischte sie, als sie fertig war.

Sentry konnte nicht anders und musterte den nackten Körper. Es war eine Art angeborener Reflex sich die dargebotenen Kurven des anderen Geschlechts genauer anzuschauen, auch wenn sie unter Zwangsumständen wie hier präsentiert wurden. Aus Anstand wollte er gerade ausschauen, aber die evolutionäre Konditionierung siegte für den Moment.

Sie wirkte etwas abgemagert und ihre blasse Haut war nicht frei von blauen Flecken. Sicherlich eine Nachwirkung der Strapazen der letzten Wochen. Seine Fantasie blendete diese Makel aus und erschuf sich eine eigene Variante des Normalzustandes, die an Perfektion kaum zu überbieten war und die jeder Realität trotzte. Der Trieb hatte Besitz von ihm ergriffen und in diesem Zustand wurde selbst die umgebende Gefahr ausgeblendet. Für den Augenblick befand er sich in einer trügerischen Welt aus Verlangen auf körperlicher Befriedigung, die frei von Qualen oder Sklavenhandel war. Igor holte ihn schneller in die Wirklichkeit zurück als ihm lieb war.

„Wenn ich die Herren bitten dürfte“, forderte er mit drohender Höflichkeit, während er selber Dina von oben bis unten musterte.

Von Würde war keine Spur als die beiden sich entkleideten. Pius stolperte sogar, als er seine Hose auszog. Sie nahmen Dina in die Mitte und stellten sich in einer Reihe auf.

Während die Scham der beiden Männer unübersehbar war, strahlte Dina jene Gelassenheit aus, die Igor zu verstehen gab, dass sie selbst nackt nicht zu unterschätzen war.

Es dauerte eine Weile, ehe sich diese absurde Szenerie änderte. Der Anblick neuer Gesichter rief widersprüchliche Gefühle in Sentry hervor. Zuerst war da eine trügerische Hoffnung auf eine bessere Zukunft, die ihm womöglich bevorstand. Die entwürdigende Situation zerstörte das zarte Pflänzchen wieder und die bittere Tatsache, dass er nicht mehr war als eine Ware, befeuerte seine Angst vor dem Unbekannten wieder.

Der potentielle Interessent war weiblich. Sie war mindestens doppelt so alt wie er, immer vorausgesetzt, dass er mit seinem Alter von etwa 25 Jahren nicht vollkommen danebenlag. Auch sie hatte im Gefolge zwei Leibwächter. Im Gegensatz zu Reds Kumpanen waren diese weitaus imposanter. Sie wirkten gepflegter, besser genährt und vor allen Dingen durchtrainierter und muskulöser. Als letztes betrat Red den Raum. Die Vielzahl an Leuten ließ das Gefängnis viel kleiner und bedrückender wirken.

Sie hatte Stil, dass war auf den ersten Blick erkennbar. Ihre Art sich zu bewegen, ihre Kleidung und der souveräne Umgang mit Red, brachten einen gewissen Glanz in die bisher so trostlose Welt des Schiffes. Ihre schwarze Haut verstärkte die Blässe aller Anwesenden und das gepflegte Haar verlieh ihr den Glanz einer Herrscherin. Ihr Gesicht, vor allen Dingen ihre tief schwarzen Augen, deuteten darauf hin, dass sie in ihrer Jugend den Männern reihenweise den Kopf verdreht haben musste. Was übrig blieb war ihre Eleganz und so weit Sentry das beurteilen konnte, kompensierte diese den Makel des Alterns vollends. Diese Frau besaß eine dominante Ausstrahlung, die bei jedem Mann Unbehagen verursachte.

„Herr Red Sie enttäuschen mich“, sagte sie gelassen und ruhig.

„In ihrer Nachricht boten sie mir zwei weibliche und einen männlichen Lakaien an. Ich denke selbst ein Mann ihrer beschränkten Intelligenz, sollte den kleinen Unterschied der Geschlechter kennen.“

Damit machte sie klar, wer hier in der besseren Position war. Red wurde nervös. Offenbar hatte Lisas Tod seinen Verhandlungsspielraum stark eingeengt. Seine Versuche auf freundliche und einschmeichelnde Art diesen Nachteil zu kompensieren, wirkten mit dem Narbengesicht regelrecht absurd.

„Verehrte Ruby. Wir haben schon viele gute Geschäfte gemacht. Sie kennen mich. Ich stehe normalerweise zu dem was ich sage. Leider gab es einen Unfall, infolge dessen ein Teil der weiblichen Ware verunglückte.“

Red taktierte, dass war deutlich zu erkennen. Der Grund wurde Sentry schnell klar. Auf keinen Fall sollten er und seine Femtos verkauft werden. Offensichtlich war Red mit ihm noch nicht fertig oder er hatte ein besseres Angebot. Trotzdem konnte er ihn ihr nicht einfach vorenthalten, dann wäre Ruby sofort misstrauisch geworden. Er musste es hinbekommen, dass sie ihn nicht wollte. Das würde schwierig werden, denn sie war ziemlich intelligent.

„Ihr Ruf macht Ihnen wieder mal alle Ehre. Vielleicht sollten Sie etwas behutsamer mit der Ware umgehen. Der Verwendungszweck war für gewisse Etablissements vorgesehen, die sie vermutlich gut kennen. Da erfahrungsgemäß männliche Dienstleistungen weniger gefragt sind, frag ich Sie nun, was ich mit der Ware anfangen soll.“

Es lief gut für Red. Notfalls würde er auch alle drei behalten und Ruby eine Aufwandsentschädigung zahlen. Der Nutzen, den er mit Sentry erzielen würde, wäre um das Tausendfache größer. Er wollte die Femtos nicht verkaufen, er wollte sie „ernten“ und sie selber anwenden. Die Fähigkeiten die Sentry hatte, sollten auch seine werden. Seine guten Kontakte würden ihm dabei helfen, die dafür notwendige Technologie zur Anpassung an seinen Körper aufzutreiben.

Ausgerechnet Ruby machte ihm die Sache schwer. Jedem anderen Kunden hätte er ohne Nennung von Gründen den Handel absagen können. Doch Ruby verärgert man nicht. Die Geschichten von gescheiterten Geschäften mit ihr endeten fast immer mit dem Tod. Daher war Red sehr daran gelegen eine vernünftige Einigung zu finden. Natürlich sollte das Geheimnis der Femtos auch eins bleiben. Sollte Sentry sich einfallen lassen etwas darüber zu verraten, hatte er sich schon Möglichkeiten ausgedacht ihn zum Schweigen zu bringen.

Ruby wandte sich Dina zu und ihre Blicke trafen sich. Wieder dieses Kräftemessen im Anstarren, aber der Sieger stand unabhängig vom Ausgang ohnehin bereits fest.

„Selbst diese hier ist unbrauchbar“, sagte sie herablassend und wandte ihren Blick ab. Die Tatsache, dass sie Dina nicht mit der gleichen eloquenten Höflichkeit bedachte wie sie es bei Red tat, verstärkte den Eindruck, dass all diejenigen, die keine Kleidung trugen, nicht den nötigen Respekt jener verdienten, die angezogen waren.

„Ich hatte das Vergnügen sie selbst zu testen. Schauen Sie sie an. Ihr Körper lässt jeden Mann verrückt werden“, verteidigte Red seine Ware.

„Ihr Körper ist wahrlich nicht das Problem. Es ist ihr Wille. Wenn selbst Sie sie nicht brechen konnten, wer sollte denn dann dazu in der Lage sein.“

Red jubelte innerlich. Der Handel schien zu platzen. Er würde ihr die Aufwandsentschädigung zahlen, ihr den nötigen Respekt entgegenbringen und dann würden alle ihrer Wege gehen.

„Da müssen Sie mir mit dem Preis weit entgegenkommen“, sagte Ruby kurz, nachdem sie die anderen nur flüchtig gemustert hatte.

Reds Gesicht versteinerte sich. Ihr Interesse an der Ware war noch nicht erloschen. Sein aufgebrachter Verstand erschuf die ersten Fantasien, welche Qualen er Olof antun würde. Wäre diesem die Sache mit Lisa nicht passiert, hätte Ruby ihre drei Sklaven erhalten und er wäre jetzt einen Schritt näher an den Segnungen der Femtos. Er musste Fassung bewahren, denn noch war nichts verloren.

„Sie nehmen sie trotzdem?“, fragte er so unaufgeregt wie möglich. Vergeblich.

„Ich habe den Anschein Sie wollen dieses Geschäft nicht ernsthaft. Darf ich erfahren weshalb?“

Sie stellte die Frage zwar höflich, aber ihr ganzes Auftreten zeigte Red, dass es keine Bitte war, sondern eine Aufforderung.

Eine von Reds Stärken war die Improvisation, in aussichtslosen Situationen doch noch die Geschehnisse in die gewünschte Richtung zu leiten. Meist war Gewalt die beste Option, aber hier musste er auf feinfühligere Methoden zurückgreifen.

„Ich habe bereits ein gutes Angebot für einen der Männer bekommen. Ich würde den Kunden nur ungern enttäuschen.“

Diese Lüge kam so glaubhaft rüber, dass Ruby beschloss nicht weiter nachzufragen.

„Und da enttäuschen Sie lieber mich?“

Sie wartete einen kurzen Moment um der Frage, die eher wie eine Warnung klang, genug Wirkung zu verleihen.

„Sie sind eine gute Kundin, wenn nicht sogar die Beste die ich habe. Im Interesse weiterer guter Geschäfte würde ich Ihnen eine Entschädigung für die nicht erbrachte Lieferung geben.“

Das war sein letzter Joker, wenn sie darauf nicht eingehen würde, hätte er Sentry verloren.

„Was hätten Sie schon im Besitz, was mich interessieren würde? Ich gebe Ihnen die vereinbarten Waffen mit zugehöriger Munition. Im finanziellen müssen Sie ein paar Abstriche machen. Das sollte Ihren Unfall und die Unannehmlichkeiten, die dadurch für mich entstanden sind, wieder ausgleichen. Zusätzlich dazu gebe ich Ihnen einen kostenlosen Rat. Nehmen Sie das Angebot an. Ich bin sehr verärgert über dieses Geschäft und das Vertrauen in unsere Partnerschaft müssen Sie sich erst wieder verdienen. Also. Willigen Sie ein?“

Red hatte keine Wahl. Wenn er jetzt versuchen würde weiter zu verhandeln, würde er ihr Misstrauen wecken. Er kochte innerlich, musste aber eine gleichgültige Gelassenheit an den Tag legen. Ein Umstand, der ihm nur teilweise gelang.

„Es freut mich mit Ihnen Geschäfte zu machen. Ich nehme mal an, dass ein Amüsierlokal nicht mehr in Frage kommt. Darf ich fragen, für welchen Verwendungszweck die Ware vorgesehen ist?“, heuchelte Red gekonnt über den Abschluss.

„Alle werden sofort an Bord gebracht. Ich erwarte die Lieferung in 10 Minuten auf meinem Schiff“, ignorierte sie die Frage. Damit verließ sie und ihr Gefolge den Raum und demütigten Red vollends.

„Ein Versprechen gebe ich dir auf den Weg. Du wirst mich wiedersehen. Ich werde dich durch die Galaxie jagen und aufspüren. Du gehörst mir und damit alles was darin rumschwimmt“, versprach er Sentry, der sich angewidert durch Reds Mundgeruch abwenden musste. Damit verließ auch er den Raum.

Igor befahl ihnen sich anzuziehen und drängte die Gruppe das Schiff zu verlassen. Wochenlang hatte Sentry in diesem Raum verbracht, immer bemüht den Überschuss an Energie nicht in Frust umschlagen zu lassen. Nun blieb ihm kaum Zeit für einen letzten Blick zurück und die ungewohnte Hektik überforderte ihn kurz. Seine Aufregung machte ihm das Denken schwer und erst als er wenige Minuten später durch die Luftschleuse trat, wurde ihm bewusst, dass sich eine neue Welt mit neuen Möglichkeiten vor ihm auftat.

Während Reds Schiff recht überschaubar war und nicht mehr als fünf Räume besitzen konnte, musste dieses Schiff in seinen Ausmaßen um einiges größer sein. Allein die weitläufigen Gänge ließen auf eine enorme Länge schließen. Sie waren leicht geschwungen, so dass man ihr Ende nicht sehen konnte. Was Sentry dann wirklich faszinierte war der Anblick der typisch metallischen Wände, die hier kaum Abnutzungserscheinungen aufwiesen. Zusätzlich dazu herrschten hier offenbar gewisse hygienische Standards, was die Umgebung viel freundlicher und einladender wirken ließ. Der Dreck, das Chaotische und damit auch die Angst, die für den Aufenthalt auf Reds Schiff standen, all das schien hier nicht vorhanden. Es war auf alle Fälle eine Verbesserung, wenn auch nur eine geringe.

Zwei Sachen fesselten seine Aufmerksamkeit, als Igor sie durch den Gang führte. Da war zum einen die Menge der umhereilenden Menschen, die die Neuankömmlinge komplett ignorierten, als wären sie nur Hindernisse, denen man instinktiv ausweichen musste. Rubys Gewerbe erforderte offensichtlich eine umfangreiche Logistik und damit eine enorme Menge an Personal, welches wiederum ein großes Schiff für die Unterbringung nach sich zog. Der zweite interessante Punkt waren die gelegentlichen Außenfenster, welche ihm den Blick ins All ermöglichten. Er war also wirklich im Weltraum. Durch den Anblick der Sterne fühlte er sich klein und minderwertig. Die riesige Welt dort draußen schien ihn zu erdrücken. Er kannte gerade mal Reds Schiff. Wie sollte er sich zu Recht finden?

Igor drängte ihn weiter zu gehen und zielstrebig folgten sie dem Verlauf des Ganges. Offenbar war das nicht Igors erster Besuch auf dem Schiff, denn ohne große Überlegungen steuerte er auf eine Tür zu, die eindeutig dafür vorgesehen war, dass niemand den dahinter liegenden Raum ohne massive Anstrengungen verlassen konnte. Also erwartete die Gruppe wieder ein Gefängnis.

Die Übergabe verlief recht unspektakulär. Igor ließ sie einfach stehen und verschwand in die Richtung aus der sie gekommen waren. Ein stilles Kopfnicken reichte, um dem wartenden Muskelberg von einem Mann verständlich zu machen, dass die Gruppe jetzt sein Problem war. Nachdem dieser wortlos die Tür öffnete und mit einer eindeutigen Geste alle Anwesenden aufforderte den Raum zu betreten, fühlte sich Sentry mehr denn je als Ware. Das Paket war geliefert und war zur Weiterverarbeitung bereit. Glücklicherweise wurde auf jede Form von Durchsuchung verzichtet, so konnte er das Amulett weiterhin behalten.

Das neue Verlies machte einen besseren Eindruck, als das auf Reds Schiff. Das weiche Licht ließ die metallischen Wände nicht ganz so trostlos erscheinen und der angenehme Geruch wirkte ironischerweise sogar einladend. Die Größe des Raumes verwirrte Sentry anfangs, denn seine einzige Referenz in Sachen Gefängnissen bestand in Reds viel zu kleiner Zelle. Das Mobiliar bestand lediglich aus fünf Hochbetten und wurde bereits belagert von Menschen, denen das gleiche Schicksal der Sklaverei drohte wie ihnen. Mit ihrer Ankunft erhöhte sich die Gruppe der Insassen auf sieben.

„Willkommen, aber macht es euch nicht zu sehr gemütlich. In drei Tagen sind wir bereits auf Lassik.“ Der Tonfall ihrer Begrüßung machte es Sentry schwer die eigentliche Botschaft dahinter zu verstehen. Fordernd, aber nicht drohend mit einer Note von Autorität. Wahrscheinlich waren die gesprochenen Worte unwichtig. Es ging mehr darum vom ersten Moment an die Rangordnung festzulegen. Er schaute in das Gesicht eines groß gewachsenen Mannes, der mit seinen lockigen, blonden Haaren mit Sicherheit die Blicke der Frauen auf sich zog.

Die Wache ließ sie allein und für einige Sekunden herrschte bedrückende Stille. Niemand rührte sich. Alle musterten sich gegenseitig. Dina war die einzige Frau im Raum, was ihr erhöhte Aufmerksamkeit einbrachte. Mit Sicherheit war sie in naher Zukunft einigen Annäherungsversuchen ausgesetzt. Die armen Männer hatten noch keine Ahnung auf was sie sich da einlassen würden. Die Lektion über Dinas Temperament würde bitter und eventuell auch schmerzhaft werden.

Die Hierarchie unter den Alteingesessenen war offensichtlich. Ihr Anführer war dieser blonder Kerl, der sie scheinbar freundlich begrüßt hatte. Sein Alter musste Anfang dreißig sein. Mit seiner imposanten Größe von mindestens 1.90m wirkte er auch körperlich als geborener Anführer. Sein gepflegtes Äußeres passte so gar nicht zu den vorherrschenden Umständen und Sentry musste sich eingestehen, dass seine optische Erscheinung ihn beeindruckte.

Er kam auf ihn zu, fest entschlossen seinen Führungsanspruch zu beweisen. Dabei unterlief ihm der erste Fehler. Nicht Sentry war sein größter Konkurrent.

„Euer Bett ist da drüben“, befahl er in einem Kommandoton, der keinen Widerspruch zuließ.

„Du schläfst dort“, befahl er Dina und deutete er auf die andere Ecke.

Die lächelte nur kurz und ignorierte die Anweisungen, indem sie auf das letzte verbliebene Bett zusteuerte. Sie machte es sich auf der oberen Pritsche bequem.

Die Verblüffung war dem Blonden deutlich anzusehen. Dass ausgerechnet die einzige Frau seine Anweisungen ignorierte, war er offensichtlich nicht gewohnt. Mit dieser Aktion provozierte sie ihn und zwang ihn zum Handeln.

Vorerst blieb ihm eine Entscheidungsfindung erspart, denn ohne große Anweisungen steuerten seine Vasallen auf die Widerspenstige zu.

„Björn, Lars. Bringt sie da rüber“, untermauerte der Blonde die eigentlich selbstständige Aktion und gab ihnen damit das Gefühl, dass sie in seinem Sinne handelten.

Die beiden konnten unterschiedlicher nicht sein. Während Björn der herablassende, selbstzufriedene Egoist war, musste Lars erst dazu genötigt werden aktiv mit einzugreifen. Seine ganze Erscheinung wirkte ängstlich. Man war sofort geneigt Mitleid mit ihm zu haben. In der Welt die Sentry bisher kennen gelernt hatte, würde er nicht lange überleben.

„Komm schon Kleine. Geh da rüber. Dann sind wir auch besonders lieb zu dir.“ Björns unpassende Arroganz erinnerte an Olofs Unterschätzung von Dinas Fähigkeiten in seinem letzten Gefängnis und es drohte ein ähnlicher Ausgang mit gebrochenen Gliedmaßen. Sentry wollte als eine Art Vermittler fungieren, aber dieses schmierige Grinsen in Björns Gesicht ließ ihn zögern. Sollten sie sich gegenseitig verstümmeln, er hatte keinen wirklichen Grund hier den Friedensstifter zu spielen.

Dina ignorierte ihn vollends, als wäre er nicht im Raum. Maximal ein nerviges Hintergrundgeräusch gegen das sie nichts machen konnte.

„Muss ich erst grob werden?“, untermauerte Björn seine Forderung.

Dina setzte sich auf und schenkte ihm endlich die Aufmerksamkeit, die er einforderte.

„Tu mir den Gefallen und werde grob. Wollen doch mal sehen in welcher Tonlage du jammern kannst.“

Björn, der die Worte nicht zuordnen konnte, packte sie genervt am linken Unterarm. Bevor er richtig zugreifen konnte, hatte Dina ihn am Handgelenk. Der Sprung vom Bett und das Verdrehen seines Armes gingen so fließend ineinander über, als hätte sie Jahre für diesen passenden Moment geübt. Björn stöhnte im Bariton. Ein weiteres unnützes Wissen aus Sentrys freigegebener Bibliothek.

Lars reagierte nicht. Dafür war er viel zu ängstlich und erschrocken. Das Eingreifen überließ er dem Blonden und der kam zwei Schritte auf die beiden zu.

„Hey Goldlöckchen, einen Schritt näher und ich mache deinen Handlanger hier zum Linkshänder.“ Sie hatte es geschafft den Arm so zu verdrehen, dass sie ihn mühelos brechen konnte.

Der Angreifer stockte und war nun gezwungen im Bruchteil einer Sekunde eine Entscheidung zu treffen.

„Tut mir leid. Knochenbrüche heilen“, raunte er und ging weiter auf die beiden zu. Nun war es an Dina sich schnell zu entscheiden und wie im Falle von Olofs Nasenbeinbruch, erlag sie der schnellen Versuchung. Die Bariton-Stimmlage änderte sich in einen Tenor, als der Unterarm brach. Durch diese Aktion war es ihr unmöglich den Angriff des Blonden abzuwehren. Die einzige Möglichkeit war Björn zwischen ihr und den Angreifer zu bringen, doch damit hatte er gerechnet und konterte dieses Manöver mit anmutiger Geschicklichkeit aus. Der vermeintliche Schutzschild steckte einen harten Ellenbogentreffer ein. Ein Schlag ins Gesicht, der Björn wie ein Preisboxer zu Boden gehen ließ. Bevor Dina ihre Arme in der notwendigen Abwehrstellung hatte, war sie bereits in der Mangel. Der Griff den er anwendete, gab ihr bei jeder Bewegung Schmerzen. Offensichtlich hatte der Blonde eine Art Kampfausbildung, die es ihm ermöglichte auf diese Art und Weise Leute ruhig zu stellen. Sie hatte verloren. Ihr fehlten die zwei Sekunden zur notwendigen Abwehr, die sie dafür verschwendete, um den Arm zu brechen. Sie hatte den selben Fehler wiederholt und damit war die Reue diesmal auch um einiges größer.

„Verdammtes Weib. War es den Ärger wert, den wir hier bekommen werden“, schrie er sie an, während er sie im Haltegriff zu dem vorgesehenen Bett führte. Hart landete sie auf der Pritsche.

„Da bleibst du oder ich breche dir das Genick.“

Er ging zur Tür und hämmerte mit der flachen Hand dagegen.

„Wir haben hier einen Verletzten.“

Die Tür öffnete sich umgehend und der Hüne betrat den Raum. Er murmelte irgendwas vor sich hin, was sich im nach hinein als Kommunikationsgerät herausstellen sollte. Dann wandte er sich an den Blonden.

„Wer war das?“, fragte er mit tiefer Stimme.

„Ein Unfall“, erklärte dieser, ohne sich auch nur annähernd die Mühe zu machen, die offensichtliche Lüge zu vertuschen.

Der Hüne wandte sich Lars zu und baute sich vor ihm auf, was seine ohnehin schon imposante Erscheinung verstärkte.

„Die Frau“, stotterte Lars.

Damit wandte sich die Wache an Dina.

„Verdammt. Du bist hier keine fünf Minuten drin und machst schon Ärger.“

„Ich bin eine Frau mit vielen Talenten“, antworte sie schnippisch.

In diesem Moment stürmten zwei weitere Männer in den Raum.

„Dort drüben“, maulte der Hüne die beiden sichtlich schlecht gelaunt an.

Ohne auch nur annähernd Rücksicht auf den Verletzten zu nehmen, packten die beiden Björn und verließen mit ihm den Raum.

„Du kommst mit mir.“

Der Muskelberg griff Dina ruppig am Genick und verließ mit ihr den Raum.

„Deine Freundin hat aber ordentlich Feuer“, sagte der Blonde nach etwa fünf Minuten Schweigen, in denen jeder für sich das Geschehene verarbeitete.

„Sie ist nicht meine Freundin. Wir hatten nur zufällig die gleiche Anreise“, antwortete Sentry.

„Sie hätte sich doch nur auf das Bett setzen müssen“, verteidigte er sein Vorgehen mehr gegenüber sich selbst.

„Ein höfliches „Bitte“ hätte da vielleicht eher geholfen.“

Die Art wie Sentry ihm Contra gab, gefiel ihm nicht. Um vorerst weiteren Ärger zu vermeiden, versuchte er es auf die diplomatische Art und Weise. Hier war eindeutig Zuckerbrot angesagt, denn die Peitsche hatte schon bei Dina versagt.

„Mein Name ist Pluto. Das sind Lars und Terra“, stellte er die Anwesenden in versöhnlichem Tonfall vor.

„Mich nennt man Sentry. Der Nervöse da ist Pius“, erwiderte Sentry. Es war unglaublich wie die Anspannungen wichen nach Verkündung der Namen. Als würden die Personen weniger bedrohlich wirken, nachdem das Unbekannte zugeordnet werden konnte.

„Wo kommt ihr her?“, fragte Pluto.

Sentry hatte keine Lust seine Gedächtnisverlust-Geschichte aufzuwärmen. Auch wollte er nicht zu viel von sich Preis geben. Er wusste nicht in wie weit er den Leuten trauen konnte. Sollte ihnen Pius seine Geschichte mit den üblichen Übertreibungen erzählen.

„Viel wichtiger ist wo wir hingehen“, tat er geheimnisvoller als ihm lieb war.

Pluto blieb bei seiner Zuckerbrotstrategie und ignorierte die Unhöflichkeit mit der Sentry seine Frage ignorierte.

„Ausbildungslager auf Lassik“, antwortete er.

„In was werden wir denn ausgebildet?“

„Wir gar nicht.“

Jetzt war es an Pluto geheimnisvoll zu sein. Pius bleiches Gesicht bei der Erwähnung des Ausbildungslagers, ließ nix gutes erwarten. Seine Neugierde ging einher mit Angst. Was zum Teufel haben die mit ihm vor? Wollte er mehr erfahren? Er musste. Die Ungewissheit war schlimmer als alles, was da auf ihn zukommen mochte.

„Was dann?“

Pluto genoss die Aufmerksamkeit.

„Wir Teil einer Jagd. Dummerweise sind wir die Beute.“

„Was?“

„Das sollen sie dir selber erklären.“

Sentrys Angst erhielt neue Nahrung. Wie konnte er glauben alles würde besser, wenn er wüsste was ihm bevorstand? Die wildesten Fantasien geisterten durch seine Gehirnwindungen. Er fand keine, die gut für ihn ausging. Die Möglichkeit auf seine Freiheit war in weite Ferne gerückt. Es ging um das blanke Überleben. In einer Welt, in der jeder Tag sein letzter sein kann, wollte er nicht leben. Sein Überlebenswille war wieder auf ein Minimum zusammengeschrumpft. Der erste Härtetest, ob das Bild in seinem fragilen Gedächtnis ihm die notwendige Lebensenergie zurückgab. Es funktionierte, obwohl die Zweifel, dass er das Geheimnis je ergründen würde, ziemlich stark waren. Sie war das Ziel, der Sinn seines Lebens. Er drückte das Amulett in seiner Hosentasche als wäre es ein Glücksbringer. Der Energiespender, den er brauchte um seinen Mut zu stärken.

Pluto ließ ihn stehen und wandte sich Pius zu. Sein Ziel ihn zu verunsichern war erreicht und damit hatte er die Respektlosigkeit durch das viel zu forsche Auftreten mit Genugtuung gekontert. Zurück ließ er einen zweifelnden Sentry, der sich seinem inneren Konflikt zwischen Logik und Instinkt stellen musste. Einerseits brauchte er Hilfe. Der Preis wäre die Anerkennung von Plutos Führungsanspruch dieser Gruppe. Alles in ihm weigerte sich dagegen. Er war es nicht gewohnt solchen Leuten zu folgen. Wie immer auch seine Vergangenheit aussah, er war auf alle Fälle kein Mitläufer. Anderseits könnte falsch angebrachter Stolz ihm irgendwann das Leben kosten. Vernünftig wäre es Pluto vorerst zu folgen. Er schaffte es nicht sich den instinktiven Eingebungen zu widersetzen und so wählte er den unbequemen Weg des Einzelkämpfers. Das Gefühl gegen jede Logik das Richtige zu tun, steigerte paradoxerweise sein Selbstbewusstsein.

Er konnte nicht hören wie Pluto Pius für sich gewann, aber es ging ziemlich schnell. Die tickende Zeitbombe Pius wurde elegant entschärft. Sichtlich erleichtert in einer Gruppe Halt zu finden, blühte er nach und nach auf. Er fühlte sich dem Außenseiter wieder überlegen und es dauerte nicht lang bis er gemeinsam mit Lars und Terra anfing die Standesunterschiede innerhalb dieses Gefängnisses gegenüber Sentry klarzustellen. Verbal beschimpften sie ihn und waren es am Anfang noch ungelenke Versuche sich zu profilieren, schlugen die Attacken mehr und mehr in primitive Beleidigungen um. Es war ihre Art der Loyalitätbezeugung gegenüber Pluto. Sentry ignorierte das peinliche Verhalten, was seine Peiniger zusätzlich anstachelte.

Pluto ließ sie gewähren und genoss das Gehabe seiner Leute. Die Attacken sollten Sentry weichkochen. Gewalt kam nicht in Frage, da eine Beschädigung der Ware unweigerlich harte Konsequenzen nach sich ziehen würde. Ein gutes Anschauungsbeispiel würde dieses widerspenstige Weib abgeben. Spätestens bei ihrer Rückkehr hoffte Pluto auf die volle Kontrolle. Immerhin lagen schwierige Zeiten vor ihnen. Er war der einzige in diesem Raum, der ungefähr wusste, was auf sie zukam.

Ein paar Stunden dauerte die Abwesenheit von Dina. Als sie in den Raum zurückgebracht wurde, war sie nur noch ein Schatten ihrer selbst. Ihr ganzes rebellisches Wesen war verschwunden und zurück blieb ein verängstigtes kleines Mädchen, welches nicht begriff, was um sie herum passierte. Mit Erschrecken musste Sentry feststellen, dass der Umgang mit vermeintlichen Eigentum hier ähnlich brutal war, wie auf Reds Schiff. Vielleicht waren die Methoden ausgefeilter, aber am Ende waren sie nur Sklaven, die entweder gehorchten oder bestraft wurden.

Die Wache ließ sie mitten im Raum stehen. Sie wirkte orientierungslos, als wäre sie in einer anderen Welt. Ihr Leib zitterte und das Schwanken drohte in einem Sturz zu enden.

Sentry stützte sie und führte sie zu dem Bett, das den Ärger ursprünglich ausgelöst hatte. Ein weiterer Affront gegen Pluto, der von ihm so nicht beabsichtigt war. Er bettete sie auf die untere Pritsche.

„Das „yellow nightmare“ setzen sie eigentlich nur in Härtefällen ein“. Er hatte gar nicht bemerkt wie Pluto sich von hinten näherte.

„Ein Drogencocktail, der dich deine schlimmste Angst wieder und wieder erleben lässt. Das Ganze in zehnfacher Verstärkung. Damit kriegen sie jeden klein. Sie hatte Glück das wenig Zeit ist. Normalerweise dauert eine Sitzung eine ganze Woche. Ich denk mal, das war als Warnschuss gedacht, um zu zeigen, was für Möglichkeiten vorhanden sind.“

Die Absicht Sentry weiter zu verunsichern, verfehlte ihre Wirkung nicht. Er hatte schon genug Angst. Er fragte sich, ob die Femtos so was abwehren könnten. Immerhin hatte er genug Technik in seinem Blut, dessen Funktionen er nicht kannte. Was war überhaupt seine größte Angst? Womit würden sie ihn kriegen? Er hatte keine Ahnung. Vielleicht würde eine Folter ungewollt etwas über ihn in Erfahrung bringen.

Er wusste nicht, ob Dina bleibende Schäden davontragen würde. Auch wenn sie sicherlich keine Verbündete in diesem Albtraum war, brauchte er eine Art Gegenpol zu den anderen Gefangenen. Die Gruppe nervte ihn gewaltig und alles was nicht diesem absurden Gehabe glich, gab ihm die Gewissheit mit seiner ablehnenden Haltung das Richtige zu tun. Diese Frau hatte schon einiges eingesteckt. Vermutlich hatte sie ein ähnliches Ziel vor Augen wie er, welches ihr die nötige Kraft verlieh, das alles durchzustehen. Die benötigte Hilfe, um in dieser Welt nicht den Tod zu finden, könnte er vielleicht von ihr bekommen. Ihr Vertrauen zu gewinnen war unmöglich. Er musste raus finden was sie antrieb, um dann womöglich mit einer Gegenleistung eine gewinnbringende Situation für beide zu erzeugen. Eine Hand wäscht die andere. Ein Sprichwort, was hoffentlich auch in diesen Zeiten seine Rechtfertigung hatte.

„Da hat sie was sie verdient, diese verdammte Hexe.“ Es war Pius, der gerade dran war ihn zu nerven.

„Schaus dir genau an. Das wird dir bestimmt auch passieren. Also halt dich lieber fern von ihr.“

Er brauchte Informationen über Dina und das ging unglücklicherweise nur über Pius. Dafür musste er sich auf sein Niveau herab begeben.

„Du hast ja Recht. Sie ist wirklich ein wenig irre. Zum Glück macht sie keinen Ärger mehr. Weißt du, was sie mit mir machen wollte?“

Pius, der sichtlich überrascht war überhaupt eine Antwort zu bekommen, wusste gar nicht so Recht, wie er auf die Frage reagieren sollte.

„Mir ein Klavier-Muster in die Zahnreihen hauen, nur weil ich sie zu lange angestarrt hatte“, kam Sentry ihm zuvor.

„Dabei wollte sie die weißen Tasten weglassen“, ergänzte er noch. Pius grinste. Das war seine Art von Humor. Durch den gemeinsamen Feind hatten die beiden nun ein zartes Band. Das musste reichen, um einiges über sie zu erfahren.

„Die sollte mal einer richtig vermöbeln, dass sie nicht weiß wo oben und unten ist“, fiel Pius in die Lästerei über die Bewusstlose mit ein. Er war froh, dass es jemanden gab, dem es schlechter ging als ihm. Eine willkommene Möglichkeit sich besser zu fühlen.

„Red scheint sie ja richtig ran genommen zu haben. Weißt du was davon?“, fragte Sentry.

„Ja klar weiß ich das. Seine Leute haben sich nicht ran getraut an sie, aber Red hat sie sich einfach genommen. Hat ihre ganze Familie umgebracht. Ist sie selber schuld“, spie Pius ihr entgegen.

Sentry überlegte, was die Ursache für Pius tiefe Abneigung gegenüber Dina sein konnte, dass er solche unmenschlichen Worte von sich gab. Es interessierte ihn eigentlich nicht. Wichtig waren die Informationen. Sie war von Red vergewaltigt worden. Die ursprüngliche Annahme, dass die beiden eine abartige Art von Beziehung hatten, kam ihm nach der neuen Information des Todes ihrer Familie vollkommen lächerlich vor. Das war vermutlich ihr Antrieb. Eine der tiefsten Empfindungen überhaupt. Rache. Er bohrte weiter in der Hoffnung auf neue Informationen.

„Wieso das denn?“

„Sie hatte wohl die Möglichkeit sie zu retten, aber sie hat es versaut. Was da genau gelaufen ist weiß ich nicht, jedenfalls hat Red ihrer Tochter und ihrem unglückseligen Mann die Kehle durchgeschnitten. Vor ihren Augen.“

Sentry schaute auf Dina nieder. Zum Glück war sie bewusstlos, denn das Mitleid, dass er plötzlich für sie empfand, hätte sie wahrscheinlich dazu genötigt eine weitere „yellow nightmare“ Runde in Kauf zu nehmen, nur um ihm diesen Blick auszutreiben. Ein an für sich positives Gefühl wie Mitleid erreicht bei Invaliden nur das Gegenteil. Sie war emotional verstümmelt worden. Was sie brauchte war Rache, kein Mitleid. Sentry hatte seine Verhandlungsbasis. Nun musste sie bloß wieder die Alte werden.

Pluto mischte sich ein. Ihm gefiel die vertraute Art und Weise, wie die beiden über das vermeintliche Opfer herzogen, überhaupt nicht. Allein seine Nähe ließ Pius ehrfürchtig zurückweichen.

„Ich hoffe sie wird wieder. Das mein ich wirklich ehrlich“, sagte Pluto und ging wieder zu seinem Bett zurück. Pius folgte ihm, so dass Sentry und Dina wieder unter sich waren.

Die Nachwirkung der Drogen ließ sie halluzinieren. Sie gab mehrere Namen Preis, ohne dass ein Zusammenhang zu erkennen war. Vieles war schwer oder gar nicht verständlich. Nur ein Satz tauchte in regelmäßigen Abständen gut hörbar immer wieder auf.

„Ich kann es nicht Ned.“ Offenbar war das ihr „yellow nightmare“. Fünf Worte, die sie an den Rand des Wahnsinns brachten. Welch tieferer Sinn auch dahinter steckte, es brachte sie körperlich an ihre Grenzen. Jedes Mal wurden diese Worte begleitet von kräftigen Anfällen.

Es dauerte geraume Zeit, bis sie in einen halbwegs ruhigen Schlaf verfiel. Die Wirkung der Drogen hatte nachgelassen. Blieb die Frage, wie groß der angerichtete Schaden war. In der ganzen Zeit gab es keinerlei verbale Attacken in ihre Richtung und das obwohl Dinas Halluzinationen die Geduld aller strapazierte.

Sentry schlief irgendwann ein. Ein kurzer traumloser Schlaf, der durch die Unruhe aus Dinas Richtung unterbrochen wurde. Dieses abrupte Ende seiner notwendigen Regeneration  machte es ihm schwer sofort in die Realität zurückzukehren. Er brauchte einige Augenblicke, um wieder klar denken zu können. Sein Blick fiel auf Dina, die aufrecht im Bett saß. Er hatte nicht viele Erinnerungen auf die er zurückgreifen konnte, aber das Erwachen nach einem Drogenrausch kannte er. Die totale Verwirrung, die einen ergreift, weil man unfähig ist Realität von Einbildung zu unterscheiden. Unweigerlich kam ihm das tanzende, sadistische Eichhörnchen in den Sinn, dass ihm damals so unglaublich real erschien.

Dina saß gebückt auf der Pritsche. Sie hatte sich den Kopf am oberen Bett gestoßen. Die Art wie sie dahockte, wirkte alles andere als gesund. Ihr Blick war vollkommen leer, als wäre sie blind und orientierungslos.

Sentry nahm die Matratze des oberen Bettes und legte sie vor die nächste Wand. Sein Plan war sie vorsichtig von dem Bett zur Matratze zu führen, um weitere Verletzungen zu vermeiden, doch allein war er damit überfordert. Sie zuckte kurz zusammen, als er versuchte sie mit dem Ergreifen ihrer Hand zum Aufstehen zu ermutigen. Ihr Blick in seine Richtung enthielt erstmals keinen Argwohn in ihren Augen. Ein Zeichen dafür, dass sie den vollständigen Übergang in die Realität noch nicht geschafft hatte.

„Ned?“, fragte sie mit zärtlicher Stimme. Unbewusst genoss Sentry die fehlgeleitete Zuneigung. Durch den ganzen Hass, den Schmerz und die Angst, die ihn die letzten Wochen begleiteten, akzeptierte er die Lüge. Zu groß war die Sehnsucht nach positiven Emotionen. Auch wenn er nicht der eigentliche Empfänger war, der kurze Moment jemandem etwas zu bedeuten, nahm ihm für einen Augenblick das Gefühl des Verlorenseins und der Einsamkeit in dieser grausamen für ihn unbekannten Welt.

„Spiel hier nicht den Ersatzliebhaber, sondern hilf mir lieber sie hier rüber zu setzen“, tönte Plutos Stimme aus dem Hintergrund und holte wenigstens ihn in die graue Wirklichkeit zurück. Gemeinsam vollendeten sie seinen eigentlichen Plan.

„Und nun?“, fragte Sentry.

„Sie muss es alleine schaffen. Soweit ich das einschätzen kann, hat sie Cojones.“

„Sie hat was?“, fragte Sentry ungläubig zurück. Überraschenderweise kam ihm die neue Sprache bekannt vor, aber die Zuordnung des eigentlichen Wortes viel ihm schwer.

„Hatte er also Recht. Du hast keinerlei Erinnerung“, sagte Pluto mitfühlend. Mit er war wohl Pius gemeint, der vermutlich seine Leidensgeschichte ordentlich übertrieben hatte.

Sentry musste aufpassen. Pluto stellte sich als hilfsbereiter, interessierter und potentieller Freund da. War das wirklich seine Absicht oder steckte Berechnung dahinter? Irgendwas in seinem Inneren läutete gerade die Alarmglocke. Dummerweise konnte er dieses Gefühl der Manipulation nicht richtig zuordnen. Plutos Versuch Vertrauen aufzubauen, kam ihm falsch vor. Er entschied nicht auf seine fehlende Erinnerungen einzugehen und signalisierte Pluto damit, dass er nicht gewillt war sich weiter zu öffnen.

Es dauerte eine halbe Stunde, bis die letzten Auswirkungen ihres Drogenrausches endgültig nachließen. Sentry konnte es förmlich in ihren Augen sehen, wie sie nach und nach vom Abgrund ihrer persönlichen Hölle zurückkehrte.

„Der Superheld hat mich gerettet. Na toll.“ Ihr Sarkasmus war als erstes wieder auf Betriebstemperatur. Der erste Baustein, um ihren Schutzpanzer aus Wut und Hass wiederaufzubauen. Bis alles wieder normal funktionierte, flüchtete sie sich in unterschwellige Beleidigungen.

„Immer bereit zu helfen“, erwiderte Sentry übertrieben lustig. Er wollte ihr nicht die Genugtuung geben ihn damit zu treffen.

„Als ob ich die unbedingt bräuchte“, erwiderte sie abfällig. Nun war er sich sicher, dass sie die alte unberechenbare Dina würde, die bereit war jedem den Hals umzudrehen, der ihr dumm kam. Vielleicht hatte das „yellow nightmare“ sie etwas vorsichtiger gemacht, aber ihre Bereitschaft Gewalt als geeignetes Mittel einzusetzen, war eindeutig noch vorhanden.

Er wusste nicht ob ihr Geist bereits vollkommen nebelfrei war, aber er wollte die Gelegenheit nutzen seinen gefassten Plan umzusetzen. Vielleicht war es sogar ein Vorteil, dass sie noch nicht hundertprozentig klar denken konnte und damit beeinflussbar war.

„Ich denke schon. So wie ich deine Hilfe brauche“, antwortete er auf ihre eigentlich verächtlich gemeinte Aussage.

„Pühh“, erwiderte sie gelangweilt und damit wollte sie sich eigentlich wichtigeren Dingen als Sentry widmen.

„Red. Ich kann dir helfen ihn zu finden.“

„Achja. Schau dich doch mal an. Sentry? Ha. Du wirkst eher wie Clark Kent“, griff sie das Superheldenthema wieder auf.

„Vielleicht habe ich mich falsch ausgedrückt. Nicht ich werde ihn finden, sondern er mich.“

„Hast du ihm einen geblasen und jetzt hat er ein schlechtes Gewissen, weil er sich nicht revanchieren konnte?“, fragte sie spöttisch.

„Ich habe etwas, was er will“, sagte er geheimnisvoll.

„Sicher“, sie wirkte langsam etwas genervt, also musste er schleunigst ihr Interesse wecken.

„Du erinnerst dich an die Schlussansprache, als er uns verkaufte. Das hatte einen Grund und den werde ich dir zeigen.“

Er drehte sich um. Keiner außer Dina durfte sehen, was gleich passierte. Er war bereit jemandem sein größtes Geheimnis anzuvertrauen. Hoffentlich würde er das nicht bereuen, aber das Risiko musste er eingehen. Was hatte er zu verlieren? In dieser gewalttätigen Welt würden früher oder später seine unnatürlichen Regenerationsfähigkeiten ohnehin auffallen und so streckte er ihr Zeigefinger und Mittelfinger der rechten Hand entgegen.

„Mach das, was du am besten kannst. Brich sie.“

„Der letzte Knochen, den ich gebrochen habe, hat mich fast zum Junkie auf Höllenqualen gemacht. So verlockend das auch ist. Kein Bedarf.“

„Ich würds ja selber machen, aber dann denkst du ich liefere dir nur einen billigen Zaubertrick.“

Sie zögerte weiter.

„Ich kann dich solange provozieren bis du mir mehr als die Finger brichst, aber das wäre für beide unangenehm. Also leg los.“

Sie machte eine Faust um seine Finger und ließ sich Zeit. Verdammt konnte sie sich nicht beeilen. Das Warten auf die Schmerzen war schlimmer, als die Schmerzen an sich.

„Du bekommst den vollen Service. Die Vorfreude kannst du so lange wie möglich auskosten“, grinste sie.

„Deine sadistische Neigung in allen Ehren, aber mach endlich. Ich will dir was … arghhh.“

Er durfte nicht schreien. Die Aufmerksamkeit der Anderen wollte er unbedingt vermeiden.

Sie hatte ganze Arbeit geleistet. So wie sich die Finger an seiner Hand darstellten, gab es keinen Zweifel, dass da nichts Gesundes mehr vorhanden war.

„Ich hoffe du hattest deinen Spaß. Was immer dir diese Aktion geben mag, halt mich daraus. Wenn die mich wieder abführen, wiederhole ich vorher die ganze Sache mit deinem Genick. Verstanden?“, drohte sie.

„Halt die Klappe und schau zu.“ Der einsetzende Adrenalinrausch ließ ihn jede Vorsicht ihr gegenüber vergessen.

Die Vorstellung war zwar nicht zu vergleichen mit der offenen Wunde, die sich bei Red schloss, aber es reichte um Dina zu verblüffen. Nach etwa zehn Minuten waren seine Finger wie neu. Zum Beweis öffnete und schloss er mehrmals die rechte Hand, um zu zeigen, dass alles wieder seinen ursprünglichen Zustand angenommen hatte.

„In welche Atomexplosion bist du denn gekommen, dass du solche Tricks drauf hast?“, fragte sie sichtlich beeindruckt.

„Dieser Superhelden-Mist nervt langsam. Das ist Vorfahrentechnologie. Femtos. Die düsen durch meine Blutbahnen und reparieren so ziemlich alles, was kaputtgeht.“

„Klar das Red darauf scharf ist. Er hatte genug Zeit die Dinger aus dir raus zu kitzeln. Ich vermute mal, wenn das so einfach wäre, hätte er das schon längst erledigt.“

„So simpel scheint das nicht zu sein. Er hatte aber Pläne, wie er das anstellen wollte.“

Sie schienen das erste Mal auf einer Ebene zu kommunizieren. Dieser herablassende Unterton, mit dem Dina ihre Worte normalerweise untermauerte, war der Neugierde über die Femtos gewichen. Er hatte ihr ein Geheimnis anvertraut. Die Unsicherheit über die Konsequenzen blieb ihm allerdings erhalten. Was würde sie tun mit dem Wissen? Er musste handeln, immerhin lagen die Karten jetzt offen.

„Du verstehst mich. Ich weiß nicht wer ich bin, habe diese Scheiße in mir und finde mich in diesem Albtraum wieder. Ich pack das nicht allein. Du willst Red. Halt dich an mich und er taucht ganz von allein wieder auf.“

„Warum glaubst du finde ich ihn nicht schneller ohne dich?“, fragte sie.

„Das musst du entscheiden. Ich glaube aber nicht, dass Leute wie Red im Branchenbuch stehen. Deine Optionen sind sicherlich begrenzt.“

„Und was verlangst du von mir?“ Sie hatte offenbar angebissen.

„Ich kenne mich nicht aus in dieser Welt. Ich brauche einen Führer. Jemand, der mich abhält etwas Leichtsinniges zu tun, nur weil ich in meiner Ahnungslosigkeit nicht weiß, was mich einen Raum weiter erwartet.“

Dina wog nicht lange die Optionen ab. Wieder zeigte sich, dass sie eher dem Handeln zugetan war, als ewig über Entscheidungen zu grübeln.

„Einverstanden. Ich nehme die Kindermädchenstelle an. Du stehst jetzt unter meiner offiziellen Obhut. Bilde dir aber nicht ein, dass du dir damit alles erlauben kannst.“ Ihr wurde wohl klar, dass ein Ableben Sentrys ihre Rachemission sehr erschweren würde.

Er hatte sein Ziel erreicht, aber ein richtiges Triumphgefühl wollte sich nicht einstellen. Das Vertrauen war begrenzt. Ihre geplante Rache stellte sie über alles. Auch wenn der Pakt gerade ein Vorteil für sie war, sollten die Bedingungen sich ändern, würde sie vermutlich nicht zögern ihn zu opfern. Er musste sich damit abfinden, dass Red für sie die höchste Priorität hatte. Sentry war ein Werkzeug, um an ihn ranzukommen und wie das so ist mit Werkzeugen, waren sie irgendwann verschlissen.

Dina erholte sich weiter. Ihr Körper hatte die letzten Wochen so viel ertragen müssen, dass sich das „yellow nightmare“ als geringe Herausforderung darstellte. Ein weiterer Prüfstein für ihre Leidensfähigkeit, der souverän gemeistert wurde. Bis zur Landung hatte sie ihre volle geistige Stabilität zurück und die wurde gebraucht, denn die ungewisse Zukunft benötigte volle Konzentration. Sentry hatte es vermieden Dina auf ihre Vergangenheit anzusprechen. Die Kenntnis über Ned und ihre Familie wollte er sich aufsparen. Eine Trumpfkarte, die er vielleicht im richtigen Moment ausspielen könnte.

Nach der Landung vergingen weitere zwei Stunden. Offenbar hatte man es nicht eilig sie aus ihrem Gefängnis zu holen. Seine Anspannung stieg. Vor allem die Femtos machten Sentry Sorgen. Was würde passieren, wenn sie hinter sein Geheimnis kommen würden? Eine einzige Wunde würde reichen. Die Wahrscheinlichkeit sich wehzutun war hoch in dieser gewalttätigen Umgebung. Er musste Ärger aus dem Weg gehen. Allerdings hatte er jetzt Dina an seiner Seite. Eine Tatsache, die die Verletzungswahrscheinlichkeit stark erhöhte. Plötzlich war er sich nicht mehr sicher mit dem Pakt die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Egal. Er musste damit leben oder vielleicht sogar damit sterben.

Seine Anspannung steigerte sich, als sie abgeholt wurden. Die ihm vertraute Wache führte die sechs Gefangenen den gleichen Gang entlang, den sie gekommen waren. Mit jedem Schritt Richtung Schleuse verbesserte sich die Luft. Es wurde deutlich kühler. Er genoss die verbesserten Umgebungsbedingungen und holte tief Luft. Der Drang dieses sterile Gefängnis aus Metall endlich verlassen zu können wurde unbändig. Umso größer war seine Enttäuschung, als sie an den Außenwänden vorbeigingen. Die Fenster zeigten die übliche schwarze Leere. Selbst die Sterne waren verschwunden. Wo waren sie gelandet? Die widersprüchlichen Empfindungen aus sauberer Luft und der Schwärze des Weltalls verwirrten ihn. Erst als er die Luftschleuse komplett sah, war ihm klar, da draußen war es einfach nur dunkel. Das Schiff stand auf festem, harten Grund. Vermutlich war das Lassik.

 

III

 

„Die Hoffnung aufzugeben bedeutet, nach der Gegenwart auch die Zukunft preisgeben. “

Pearl S. Buck

 

Gleich mehrere Faktoren trübten seine Freude endlich der sterilen Atmosphäre des Schiffes zu entkommen. Da war einerseits die Temperatur, die ihn frösteln ließ. Sein dünnes Hemd und die nicht weniger unpassende Stoffhose waren mit Sicherheit die falsche Kleidung für die klimatischen Bedingungen dort draußen. Die geregelte Temperatur innerhalb des Schiffes betrug 20°C. So fühlte sich der erste Schritt in die Nacht von Lassik an, wie ein Sprung in einen Kübel voll Eiswasser.
Ihm blieb nicht viel Zeit die Kälte zu beklagen. Die Temperatur um den Gefrierpunkt war das geringere Übel gegenüber der erhöhten Schwerkraft. Allein die Rampe abwärts zu gehen und die Landeplattform zu erreichen, brachte ihn ins Schwitzen. Das lange Nichtstun auf Reds Schiff und die unbekannte Zeit im Tiefkühler, hatten seine Kondition ohnehin auf ein Minimum schrumpfen lassen. Die höhere Schwerkraft gab ihm den Rest. Es würde Tage dauern, bis die Muskulatur sich an die Bedingungen angepasst hatte. Er hoffte wieder auf die Femtos. Warum sollte sein Fluch sich nicht mal in ein hilfreiches Werkzeug verwandeln.
Dieser Kraftakt einfach nur gerade aus zu gehen, erforderte Unmengen an Sauerstoff. Eine Notwendigkeit, die hier auf Lassik offensichtlich Mangelware war. Die dünne Luft machte ihm das Atmen sichtlich schwer. Die nächsten Stunden würden die Hölle werden und trotz der ganzen negativen Erfahrungen im All, wurden dort seine körperlichen Grenzen selten ausgereizt. Die fehlende Kondition hielt neue Martyrien für ihn bereit. Zehn Minuten auf dieser Welt und er war einfach nur platt. Die Enttäuschung war groß. Die Hoffnung auf eine Verbesserung seiner Lage durch das Betreten einer Welt außerhalb der bedrückenden Umgebung eines Schiffes, hatte sich nicht erfüllt. Ganz im Gegenteil. Er stand einer neuen Herausforderung gegenüber.
Neben den psychischen Qualen, sollten nun die physischen dazukommen. Die Grenzen seiner Belastbarkeit wurden einmal mehr erweitert. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, ob der Zusammenbruch unmittelbar bevorstand. Und wieder musste die Photographie in seinem Kopf herhalten, um sich der Erlösung durch Aufgabe nicht zu ergeben. Noch funktionierte es. Er war gespannt, welche weiteren Hürden ihn hier erwarten würden.
Er schaute sich um. Auch die anderen hatten ihre Probleme, kämpften aber vorwiegend mit der Kälte. Ihre Kondition war weitaus besser als seine. Mit Erschrecken musste er feststellen, dass er das schwächste Mitglied innerhalb der Gruppe war, vermutlich gab es sogar auf dem gesamten Planeten niemand der ihn an Elend überbieten konnte. Diese Erkenntnis spülte die letzten Reste seines Selbstvertrauens davon.
Der Landeplatz schien nichts Offizielles zu sein. Eine Lichtung, umgeben von riesigen Bäumen, deren Konturen nur schemenhaft im Mondlicht zu erkennen waren. Der Boden war sandig, feucht und mit Pfützen übersät. Er konnte eine kleine Baracke in der Nähe ausmachen, die keine 100 Meter entfernt sein musste. Neben der spärlichen Beleuchtung am Schiff war sie die einzige künstliche Lichtquelle, welche das fahle Mondlicht unterstützte.
Diese dunkle Umgebung steigerte die Empfindung einer illegalen Transaktion beizuwohnen. Nur war er weder Käufer noch Verkäufer, die an versteckten Orten mit verbotenen Waren handelten. Es war viel schlimmer, denn er war Bestandteil eines dieser Geschäfte, der moralisch jegliche Legitimierung versagt blieb. Diese Tatsache steigerte seine Angst. Was hatten sie mit ihnen vor, dass sie offizielle Stellen meiden mussten? Er versuchte sich abzulenken, indem er das Entladen von Kisten beobachtete. Offenbar war die menschliche Fracht nicht die einzige Ware, die an die Einheimischen verkauft wurde.
Zehn Meter entfernt von der Rampe wartete eine uniformierte Person. In der Dunkelheit war es lange unklar, ob diese männlich oder weiblich war. Ein kurzes Gespräch mit der Schiffswache und die Übergabe war vollzogen. Im zügigen Gang kam sie auf die Neuankömmlinge zu. Eine eindeutig männliche Stimme mit militärischem Schneid begann Befehle in die Dunkelheit zu brüllen.
„Los gehts. Alles mir nach.“ Ohne groß abzuwarten, ob seine Kommandos verstanden wurden, machte er erste Schritte auf die Hütte zu. Für einen Moment stand die Gruppe vollkommen auf sich gestellt in der Kälte. Keiner bewegte sich. Pius, Terra und Lars warteten auf eine Reaktion von Pluto, während Sentry hilflos zu Dina schaute. Die zuckte auch nur mit den Schultern.
„Ihr solltet mir folgen, wenn ihr überleben wollt. In der Umgebung gibt es nur Wildnis“, schallte es aus der Dunkelheit.
Pluto machte die ersten Schritte und versetze damit die Gruppe in Bewegung. Hundert Meter reinste Qual lagen vor Sentry und nur mit größter Anstrengung erreichte er sein Ziel. Vollkommen ausgepumpt, ließ er sich auf den Stufen der Hütte nieder.
„Alles antreten“, brüllte ihr neuer Herr und gönnte ihnen keine Verschnaufpause. Sie bildeten eine schlampig zusammen gestellte Reihe.
“Erbärmlich”, kommentierte der Soldat die Formation.
„In dieser Kiste da sind warme Sachen.“ Mit einem kurzem Kopfnicken erlaubte er der Gruppe sich neu einzukleiden. Danach ging es zum Aufwärmen in die Hütte.
Sentry wagte eine kurze optische Beurteilung seines neuen Besitzers. Das Alter schätzte er auf Anfang dreißig. Der kahle Schädel und seine stämmige Figur verbreiteten ein gewisses Maß an Einschüchterung. Obwohl er die Rangabzeichen nicht kannte, war Sentry sich sicher keinen Offizier vor sich zu haben. Eher ein Mann fürs Grobe mit beschränkter Intelligenz. Ein Standardtyp des Befehlsempfängers.
„Ihr seid hier auf Lassik. Genauer gesagt auf der Insel Prem.” Er machte eine kurze Pause, um die Reaktion der Gruppe zu analysieren. Offenbar hatte er mehr Staunen oder sogar Respekt erwartet, denn die Gleichgültigkeit gegenüber seiner Aussage ließ ihn leicht drohend fortfahren.
„Ihr solltet immer in der Nähe bleiben, wenn euch euer Leben lieb ist”, erklärte er kurz und knapp. Wenigstens bei Pius erreichte er damit die gewünschte Reaktion. Mit diesem kleinen Triumph verließ er die Hütte ohne sie mit weiteren Informationen zu füttern.
Offenbar warteten sie auf etwas. Sentry bekam dadurch die Möglichkeit seiner brennenden Lunge die erhoffte Pause zu gönnen. Er fühlte sich wahnsinnig schwer. Wie konnte man an diesem Ort nur leben? Jeder Schritt war unglaublich anstrengend.
Nachdem sein Puls wieder den Normalzustand erreicht hatte, wandte er sich an Dina.
„Was ist das hier für ein Ort? Wie kann man denn hier auf Dauer überleben?“
„Sicher kein Vergleich zu dem Verwöhnprogramm auf Reds Schiff“, grinste sie ohne wirklich witzig zu wirken. Auch sie hatte Angst. Der übliche Sarkasmus konnte diesmal nicht darüber hinwegtäuschen.
„Auf Lassik herrscht Bürgerkrieg und wir sind gerade mittendrin“, raunte Pluto aus dem Hintergrund.
„Und was erwartet man von uns? Sollen wir kämpfen?“, mischte sich Pius mit ein.
Pluto ignorierte die Fragen und genoss den Vorteil etwas mehr zu wissen als der Rest. Er hatte Gerüchte darüber gehört, was auf Lassik mit Fremden passierte. Obwohl er auch nichts Genaues wusste und die Variantenvielfalt dieser Gerüchte extrem hoch war, gab es eine Gewissheit. In ein paar Tagen waren sie alle tot. Es war nur die Frage, auf welche Art und Weise ihr Ableben stattfinden würde.
„Dieser Planet ist ein permanentes Fitnesstraining. In Kürze wirst du vor Muskeln kaum Laufen können“, erwiderte er stattdessen.
Sentry war neidisch auf die anderen. Dieser Höllenplanet setzte ihnen deutlich weniger zu als ihm. Er wollte nur weg. Egal wohin. Es konnte kaum schlimmere Orte als Lassik geben. Rubys Schiff startete und tatsächlich empfand er eine gewisse Wehmut hinsichtlich der angenehmen Langeweile der Zelle.
„Der Transporter ist da. Alles aufsteigen“, brüllte der Soldat von der Tür aus.
Neben Temperatur, Schwerkraft und Atemluft, machte Sentry mittlerweile auch die Wahrnehmung Probleme. Es fiel ihm schwer die Gewichte einzelner Dinge richtig einzuschätzen. Jacke, Schuhe sogar das Anheben seines Armes. Alles benötigte eine extra Dosis Energie, um bewegt zu werden. Teilweise nur wenig, aber es reichte um sein Gehirn in eine Art Dauerverwirrung zu versetzen. Er musste die Gewichte den einzelnen Objekten neu zuordnen. Eine Aufgabe, die nicht nur ihm, sondern der gesamten Gruppe zusetzte.
Sie traten durch die Tür ins Freie und erblickten gleich drei der angekündigten Transporter. Sie wirkten riesig. Mindestens zwanzig Meter lang auf mehrere Achsen verteilt. Wie sollten sie damit durch unwegsames Gelände kommen? Es war ihm egal. Hauptsache er musste nicht laufen. Der Soldat trieb sie in den ersten Transporter und im Inneren sahen sie sich mit einem bekannten Gesicht konfrontiert. Es war Björn, dessen rechter Arm notdürftig von einer Schlinge gestützt wurde. Er sah jämmerlich aus. Sie hatten seine medizinische Behandlung auf ein Minimum beschränkt. Apathisch begrüßte er die Gruppe und als er Dina erblickte, konnte Sentry ihm die Angst förmlich ansehen. Diese Frau wusste, wie sie bleibenden Eindruck hinterließ.
Kaum waren sie eingestiegen, rollte der Transporter los. Wie erwartet, war das Gelände so untauglich, dass sie ordentlich durchgeschüttelt wurden. Es gab Gurte, aber man hatte ihnen nicht die Zeit gelassen diese anzulegen. Der schwankende Transporter machte es unmöglich dieses Versäumnis nachzuholen. So gingen die ersten Minuten polternd dahin und erstaunlicherweise schafften es alle keine größeren Verletzungen davon zu tragen.
Eine knappe Viertelstunde ertrugen sie die schlecht ausgebaute Piste, als die spärliche Beleuchtung plötzlich durch ein rotes blinkendes Licht ersetzt wurde. Der einsetzende grelle Alarmton deutete auf schwerwiegende Veränderungen hin und der unmittelbare Stopp ließ die Gruppe fast nach vorne stürzen.
„Was jetzt?“, schrie Sentry gegen den Alarm an.
„Keine Ahnung. Aber rote Lichter bedeuten nie was Gutes. Anschnallen“, schnauzte Dina die ganze Truppe an.
Sentry war aufgeregt. Welche neue Qual würde ihn diesmal ereilen? Er hatte wieder Angst vor dem Ungewissen. Er verfluchte Dina. Das war ihre erste Gelegenheit, der Verpflichtung gemäß den Regeln ihres geschlossenen Paktes nachzukommen. Wollte sie nicht sagen was passierte oder wusste sie es selber nicht? Die Wut auf sie linderte seine Angst und verlieh ihm den nötigen Biss, um auf das Kommende zu reagieren.
Der Alarm verstummte und die roten Lichter erloschen. Mit einem Schlag herrschte absolute Stille. Der Transporter bewegte sich nicht und die ungewohnte Ruhe verschärfte die angespannte Lage aller Anwesenden. Niemand wagte sich zu rühren. Nichts passierte. Das Warten auf das Unbekannte war schlimme Folter. Logik musste Sentry hier helfen. Sie würden ihm kein Leid zufügen, nicht nachdem sie ihn gerade erst erworben hatten. Anderseits, könnte irgendwas Unvorhergesehenes passiert sein, dass sie zwang verrückte Sachen mit ihnen anzustellen. Sein Adrenalinspiegel stieg merklich an und ein leises Wimmern von Pius durchdrang die Stille. Angegurtet an den Seitenwänden erwarteten sie ihr Schicksal.
Am Anfang war es nur unmerklich, als würde jemand seinen mit Schwerkraft vollgestopften Rucksack langsam Stück für Stück auspacken. Er wusste nicht wie, aber sie veränderten sein Gewicht. Von Minute zu Minute fühlte er sich leichter. Was bezweckten sie damit? Er hatte so viel Mist in letzter Zeit erlebt, dass er überzeugt war, die Sache würde nicht gut für ihn ausgehen.
„Antigravitation. Und ich Idiot piss mir fast in die Hose“, schallte es von Terra, der bis dahin kein einziges Wort gesprochen hatte.
„Sie machen den Inhalt des Transporters leichter, um ihn dann vermutlich in die Luft zu bringen“, ergänzte er.
„Das sind Informationen, die hätte ich mir von dir gewünscht“, schnauzte Sentry Dina an, nachdem er zu der Erkenntnis gekommen war, dass Terras Worte Sinn ergaben und der Gefahrenpegel auf ein normales Maß zurückgegangen war.
„Ich hab doch gesagt anschnallen. Du lebst und bist gesund. Was erwartest du mehr? Dein Teil der Abmachung ist doch eh der Einfachere. Du brauchst nur bei mir bleiben“, erwiderte Dina.
Sie hatte Recht, auch wenn er das gerne anders gesehen hätte. Was hatte er groß zu bieten? Wahrscheinlich konnte er froh sein, dass sie sich überhaupt auf ihn eingelassen hatte. Sein Nutzen überstieg den Aufwand bei der Vereinbarung. Sie würde darauf achten, dass er am Leben bliebe. Ihre Aufgabe bestand nicht darin ihm irgendwelche Ängste zu nehmen. Solche Sachen musste er allein durchstehen. Das Gefühl der Einsamkeit machte sich in ihm breit. Immer wenn er dachte die ganze Bandbreite der negativen Emotionen bereits durchlebt zu haben, tauchte ein neues Gefühl auf, um ihm zu zeigen, dass durchaus noch Luft nach unten war. Es wurde dringend Zeit für etwas Positives.
Terra hatte Recht mit der Antigravitation und der einhergehenden Gewichtsreduzierung, nur wollten sie die Transporter nicht in die Luft bringen, sondern auf Boote verschiffen. Wahrscheinlich konnten sie damit das unwegsame Gelände auf dem Seeweg umgehen. Er war es Leid sich Gedanken über Nebensächlichkeiten und seine Unwegbarkeiten zu machen, zumal er sie ohnehin nicht beeinflussen konnte. Was er brauchte war ein freier Geist. Geordnete Strukturen, die ihm die Möglichkeit einer Flucht boten.
Der Wellengang war moderat, aber die bedrückende Enge des Transporters sorgte dafür, dass sich Pius und Terra abwechselnd übergeben mussten. Sentry hatte einen unverhofft robusten Magen. Es gab ohnehin nicht viel, was er hergeben könnte, denn seine Nahrung der letzten Wochen bestand ausschließlich aus flüssigen Kaloriengetränken. Zwei Stunden war ihm Elend zu Mute und als sich seine Innereien endlich beruhigten, endete auch die Seefahrt.
Wieder ertönte der Alarm und der Transporter färbte sich rot vom Licht der Signallampen. Die Rückkehr zur hiesigen Schwerkraft war weitaus unangenehmer als er befürchtet hatte. Es nahm kein Ende. Stück für Stück wurde in seinen unsichtbaren Rucksack gepackt und jedes Mal wurde seine Hoffnung auf das Ende mit weiteren Kilos zerstört. In den zwei Stunden hatte er vollkommen die Relation zu dem eigentlichen Gewicht auf diesem Höllenplaneten verloren.
Er versuchte sich abzulenken. Gewicht ist immer abhängig vom Ort. Masse ist immer gleich, kramte er in dem Wissen, was ihm zur Verfügung stand. Wie zum Teufel konnte man in einem abgeschlossenen Raum sein Gewicht so sehr reduzieren? Vorfahrentechnologie. Vermutlich gab es niemanden mehr, der ihm dieses Mysterium erklären konnte. Der Schalter wurde einfach umgelegt und schon war der komplette Inhalt nur noch halb so schwer. Ging die ganze Sache auch in die andere Richtung? Konnte man die Schwerkraft so weit verstärken, dass er unter seinem eigenen Gewicht erdrückt würde? Erschütternder Gedanke. Er musste unbedingt an was Anderes denken. Sein Blick viel auf Dina und unweigerlich kam ihm ihre Brüste in den Sinn, die er auf Reds Schiff gegen Androhung von Gewalt bewundert hatte.
Auf einmal empfand er Lust. Sein Verstand war im Ausnahmezustand und gegen die Angst zerquetscht zu werden, fiel ihm in seiner Unberechenbarkeit nur einer der primitivsten Urinstinkte überhaupt ein. Die Aufregung war zu groß für eine ausgefeilte Fantasie. Trotzdem bändigte es das Chaos und so erfasste ihn endlich das ersehnte positive Gefühl. Ein trügerisches, dass ihn lang genug in einen ablenkenden Rausch versetzte. Die Realität, mit allen negativen Empfindungen, würde ihn schnell genug wieder zurückbekommen.
Der Transporter kam in Bewegung. Mühsam schleppten die Antriebe das träge Gefährt vorwärts. Der Untergrund schien eben zu sein, denn dieses Mal pressten sie keine Erschütterungen in die ohnehin verschlissenen Gurte. Offensichtlich fuhren sie über einen befestigten Weg oder vielleicht sogar über eine Straße.
Eine halbe Stunde später kam der Transporter zum Stehen und nachdem sich die Tür geöffnet hatte, erhellte Tageslicht das von vereinzelten LED beleuchtete Innere.
Die Augen brauchten eine Weile, um sich an die Helligkeit zu gewöhnen. Sentry eröffnete sich ein Anblick von grünen Bäumen, blauem Himmel und Sonnenschein. Nach wochenlangen Aufenthalten in Neonlicht bestrahlten kargen Räumen fühlte er sich das erste Mal in einer natürlichen Umgebung. Alles an diesem Ort belebte seine Sinne. Keine metallischen Wände mehr, kein leises Brummen von Raumantrieben und vor allen Dingen keine tausendfach aufgearbeitete Luft. Die Geräusche des Waldes verrieten Leben in der Umgebung und das Orchester aus Vogelgezwitscher und Windrauschen entschädigten für den ersten schlechten Eindruck, den dieser Planet bisher hinterlassen hatte. Selbst die Kälte war für den Moment vergessen. Ihn überkam das Bedürfnis sich auf den Boden zu werfen und sich im Dreck zu wälzen, um all die Wochen in seinem metallischen Gefängnis mit guter alter Erde abzustreifen.
Die Gelegenheit bekam er nicht, selbst wenn er es gewollt hätte. Der scharfe Befehlston unterband jede Form von Unabhängigkeit.
„Alles aussteigen und dann mir nach“, brüllte die bekannte Stimme des begleitenden Soldaten.
Der Gruppe blieb kaum Zeit sich zu orientieren. Sentry konnte ein paar Holzhütten vor der Kulisse von mächtigen Bäumen ausmachen. Davor herrschte geschäftiges Treiben zahlreicher uniformierter Einwohner, die mit ähnlich leeren Gesichtern wie ihr Begleiter irgendwelchem Tagewerk nachgingen. In Sentrys Augen wirkten sie wie gestresste Insekten, die seine Illusion vom Paradies schändeten. Als wäre das nicht störend genug, kurvten kleine Transporter scheinbar planlos, mit schlecht gewarteten Antrieben geräuschvoll durch die Reihen der ordentlich platzierten Holzbauten.
Die Lichtung war offensichtlich nichts Natürliches. Viele Bäume hatten weichen müssen, um aus ihrem Holz diese Siedlung zu erschaffen. Ihre uniformierten Einwohner ließen auf ein Militärlager schließen, allerdings konnte er keinerlei mobiles Kriegsgerät erkennen. In dieser Umgebung hätten Panzer ohnehin keine Berechtigung. Soweit reichte sein taktisches Verständnis und es blieb nur die Schlussfolgerung, dass sie sich inmitten einer Guerillatruppe befinden mussten. Militärische Anweisungen peitschten durch die kalte Luft und bewaffnete Wachen beäugten die Neuankömmlinge misstrauisch. Die Gerüchte über den Bürgerkrieg passten zu dieser Szenerie. Was zur Hölle erwarteten die Leute hier von ihnen?
Sie folgten einem der sorgfältig angelegten Pfade Richtung Zentrum, vorbei an Baracken, die alle einem Standard entsprachen. Ein scheinbar endloses Martyrium aus dünner Luft und hoher Schwerkraft. Sentry hatte keinen Blick für die einfachen Unterkünfte rechts und links ihres Marsches, zu sehr kämpfte er mit den widrigen Umweltbedingungen. Der Weg schien ihm unendlich und so fiel ihm das auffällige Steingebäude erst auf, als sie plötzlich zum Stehen kamen. Offenbar das Hauptgebäude, denn alle Wege begannen sich sternförmig in alle Richtungen auszubreiten.
Als sie durch die Eingangstür das Innere betraten, überraschte Sentry die ideenlose Aufmachung. Ein einziger großer Saal offenbarte sich ihnen. Die Ablehnung diesen Ort zu betreten, sprang einem aus jeder Ecke entgegen. Der verantwortliche Innenarchitekt hatte jeglichen Drang an Kreativität erfolgreich unterdrückt. Praktische Anordnung wurde Gemütlichkeit vorgezogen. Das einfallende Sonnenlicht verstärkte die Trostlosigkeit der kalkweißen Wände und verlieh ihnen einen extra schäbigen Eindruck. Tische und Stühle standen vor einer kleinen Bühne und erinnerten den Betrachter an einen Festsaal, dessen Gäste mit militärisch verordneter guter Laune beglückt werden sollten. In der Mitte hatte man einen freien Gang gelassen, der bis zu einem knapp einen halben Meter erhöhten Podest führte.
Ihnen wurde befohlen die vordersten Stühle beiseite zu räumen, damit genug Platz zwischen ihnen und dem Podest entstand. Dann bildeten sie eine Reihe und dieses Mal verkniff sich der Soldat Kommentare zur Anordnung. Er wirkte aufgeregt, als müsste er in Kürze einen Bericht abliefern, bei dem er sich nicht sicher war, ob er auf Gefallen stoßen würde .
„Wenn der General gleich eintrifft, werdet ihr euer bestes Benehmen zeigen. Er ist euer neuer Gott. Der Herr über das Wohlbefinden von euch Maden. Ihr redet nur, wenn es von euch verlangt wird. Solltet ihr euren Heiland verstimmen, werde ich persönlich dafür sorgen, dass ihr ihm zu Ehren geopfert werdet.“ Die Anerkennung für die kreative Demütigung musste ihm Sentry auf Grund der Schwerkraft schuldig bleiben. Wieder einmal rang er lautstark nach Luft. Jede Tätigkeit war eine Qual für ihn.
Die Eingangstür öffnete sich und zwei Uniformierte betraten den Versammlungssaal. Die Art und Weise wie sie den Gang entlang gingen, verriet sie als Offiziere. Es war jene Gelassenheit, die man Leuten der unteren Hierarchiestufe entgegen brachte.
Obwohl Sentry mit dem Rücken zu den Neuankömmlingen stand, gelang es ihm die beiden flüchtig zu mustern.
„Augen nach vorn“, blaffte ihn der Soldat an.
Eine der beiden Personen war weiblich, soviel hatte er auf die Schnelle erkennen können. Ihr Bewacher baute sich vor einem Mann mit charismatischer Ausstrahlung auf und begann zu salutieren.
„Herr General, die Zivilisten sind vollständig angetreten“, brüllte er seinen Vorgesetzten respektvoll an.
Der Offizier musste um die 50 sein. Die entspannte Körperhaltung verriet, dass er die brutale, militaristische Einstellung seines Untergebenen nicht teilte. Der Vorteil seiner Intelligenz gegenüber dem grobschlächtigen Soldaten war deutlich in seinen Gesichtszügen zu erkennen. Dazu kam seine ruhige aber bestimmte Art der Unterhaltung mit seiner Begleiterin. Dieser Mann strahlte vor Selbstsicherheit und befand sich damit nahe an der Grenze zur Arroganz. Sein Auftreten glich dem eines großen Feldherren. Sicherlich ein erster Eindruck, der so beim Betrachter beabsichtigt war.
Ein kurzes Nicken reichte ihm, um die Meldung als zufriedenstellend abzuhaken. Er stand jetzt direkt vor ihnen und musterte schweigend die Gesichter der Neuankömmlinge. Ohne ein Wort zu sagen schüchterte er allein mit seinem Machtanspruch die Anwesenden ein. Es war weniger die körperliche Erscheinung, die Sentry beunruhigte. Die Art und Weise wie er sie ansah, sich ein inneres Urteil bildete und dann zum nächsten überging, erzeugte eine Angst, die schwer erklärbar war. Alle wussten, dass sie ihrem Richter gegenüberstanden, der je nach Laune den Daumen nach oben oder unten zeigen konnte. Nach einer gefühlten Ewigkeit nonverbaler Einschüchterung fing er endlich an zu sprechen. Ruhig, fast wie ein Geschichtenerzähler, aber doch immer präzise und prägnant die ungeschönte Wahrheit gerade heraus. Der Tonfall passte nicht wirklich zum eigentlichen Inhalt, als würde man einem Kind die Notwendigkeit einer Spritze erklären. Der Schmerz war unvermeidbar, auch wenn man sich noch so sehr bemühte alles in schöne Worte zu packen. Die unterschwellige Botschaft, dass die Sache hier nicht gut ausgehen würde, war jedem Anwesenden klar und schwang in all seinen Worten mit.
„Ich bin General Kain“, begrüßte er die Anwesenden. Es war unglaublich. Obwohl das Gesagte ohne große Bedeutung war, schaffte er es mit vier einfachen Worten einen nötigen Respekt einzufordern. Nur durch die Vorstellung seiner Person vermittelte er den Gefangenen seinen Führungsanspruch. Missachtet die Regeln und ich werde euch bestrafen, dass war es, was er subtil mitteilen wollte. Jedem war klar, dass die Regeln, wie immer sie auch aussahen, zwischen ihm und dem Schmerz, vielleicht sogar dem Tod standen.
Nachdem sich Kain sicher war, dass seine Eröffnung ihre Wirkung nicht verfehlt hatte, fuhr er fort.
„Ihr werdet euch fragen warum ihr hier seid. Sicher seid ihr verängstigt, weil ihr nicht wisst, was wir eigentlich von euch wollen“, sagte er in seinem typischen Märchenonkel Plauderton, der oberflächlich harmlos klang, aber Sentry eine unglaubliche Angst einjagte.
„Ich würde euch ja gerne mit etwas Angenehmen überraschen, aber das, was vor euch liegt, würde mir persönlich auch nicht gefallen. Aber wir haben nun mal für euch bezahlt und da wir keine wohltätige Einrichtung sind, müsst ihr da jetzt durch.“
Er hielt einen Moment inne, um die Reaktion von Terra abzuschätzen.
„Wie ihr sicherlich bemerkt habt, befinden wir uns hier in einem Ausbildungslager. Das Training ist sehr gut, aber es fehlt eine gewisse Praxisnähe. Der Feind kann jederzeit durch diesen Wald kommen und unser Lager angreifen. Wir kennen den Wald besser als jeder andere auf Lassik, allerdings fehlt uns militärische Erfahrung was Verteidigungstaktiken angeht. Manöver ohne richtige Gegner führen nur zu bedingten Verbesserungen.“
Wieder unterbrach der General seine Märchenstunde. Diesmal wartete er auf eine Reaktion von Dina.
„Ohne richtige Herausforderung werden solche Manöver schnell zur langweiligen Routine. Daher gibt es in regelmäßigen Abständen für meine Leute etwas Abwechslung. Training am lebendigen Feind. Da unser eigentlicher Widersacher sich bisher äußerst selten hier draußen blicken lassen hat, müssen wir auf Ersatz zurückgreifen. So leid es mir tut, diese Aufgabe fällt euch zu.“
Diesmal brauchte er die kurze Pause, um die unangenehme Botschaft möglichst einfach zu verkünden.
„Kurz und knapp. Ihr seid die Hasen und wir jagen euch.“
Er machte ein freudiges Gesicht, als erwartete er großes Gelächter über seine Bemerkung.
„Die Begeisterung hält sich jedes Mal in Grenzen, aber auch nur, weil ihr nicht wisst, was für euch dabei rausspringt. Ihr habt nämlich die Möglichkeit auf eure Freiheit.“
Er machte eine Geste, als erwartete er Jubel. Immerhin hatte er ihnen die Aussicht auf ein Ende ihres Elends gegeben.
„Ich sehe schon. So richtig motiviert seid ihr immer noch nicht. Vielleicht muss ich euch das doch besser erklären. Wir geben euch zwei Wochen um sich hier anzupassen. Die Schwerkraft ist wirklich nicht einfach, aber die Zeit sollte reichen um fit zu werden.“ Er schaute zu seiner Begleiterin hinüber, die im Rücken der Gruppe stand und bisher kein Wort gesagt hatte.
„Danach bekommt ihr die Möglichkeit euer Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Seht es als Spiel, indem das Leben euer Einsatz ist. Ihr werdet in der Mitte der Insel ausgesetzt und müsst nur die Küste erreichen. Schafft ihr das, bringen wir euch in die Hauptstadt und ihr seid frei.“
Sentry schöpfte Hoffnung. Alle Überlegungen zu einem Fluchtplan wurden damit deutlich vereinfacht. Dieses „Spiel“ war die Möglichkeit sein Schicksal in die richtige Richtung zu lenken. Aus Mangel an Erfahrung wären alle Alternativen ohnehin zum Scheitern verurteilt gewesen. Kain zwang ihn mit diesem Angebot zum Handeln. Die Rahmenbedingungen waren abgesteckt, jetzt galt es das Beste daraus zu machen. Seine Gefühle waren wieder eindeutig die seiner unbekannten Persönlichkeit. Eine Persönlichkeit, welche die Herausforderung annahm, ja sogar genoss. Er hatte wieder etwas Entscheidendes über sich gelernt.
„Natürlich schicken wir euch nicht auf einen gemütlichen Waldspaziergang. Ihr werdet es mit dem vierten Zug zu tun bekommen. Entkommt ihr ihm, erwartet euch die Freiheit. Erwischen sie euch, endet ihr als Organspender.“ Dieses harte „Alles oder nichts” steigerte Sentrys Motivation sogar. Unabhängig vom Ausgang dieser Jagd hatte sein Elend ein Ende.
Kain wandte sich an Björn.
„Ich fürchte für dich mein Freund kommt das Spiel nicht in Frage. Wer oder was immer dir auch den Arm gebrochen hat, nahm dir die Möglichkeit zum Überleben. Vielleicht ist es dir ein Trost, dass deine Innereien unseren Soldaten und damit unserer Sache dienlich seien werden.“ Björn schaute erst Kain und dann Dina fragend an. Offensichtlich hatte er nicht begriffen, dass seine Reise des Lebens in Kürze zu Ende seien würde.
„Sie war es? Interessant. Nicht nur außergewöhnlich hübsch, sondern scheinbar auch außergewöhnlich kräftig. Schöner sauberer Knochenbruch. Wie hast du es hinbekommen?“, fragte er in einem Tonfall, als wäre er ihr Großvater, der gerade die neuste Bastelei seines Enkels lobte.
„Ich kann es dir zeigen. Ich bräuchte nur einen deiner Halswirbel“, antwortete sie in ihrer typischen Art und Weise.
Der Unteroffizier machte sofort einen Satz in ihre Richtung, um der Respektlosigkeit in seiner eigenen brachialen Art entgegen zu treten.
„Lassen Sie mal Zugführer. Sie bekommen in zwei Wochen ihre Möglichkeit. Vorfreude ist bekanntlich die schönste Freude und so wie es aussieht, können sie mit ihr viel Spaß haben“, grinste er wie es nur Männer hinbekommen.
„Bringen sie den Verletzten in die medizinische Einrichtung. Für den Rest beginnt das Training noch heute.“
Damit wandte er sich ab und folgte seiner stillen Begleiterin ins Freie.
Bevor das Training startete, wurde die Gruppe in eine leer stehende Hütte geführt. Ihre Unterkunft bis zum Beginn der Spiele, die ohne Möbel einer Gefängniszelle mit geöffneter Tür glich. Es war nicht nötig sie einzusperren, denn der Wald dort draußen diente als natürliche Barriere zur Freiheit. Ihnen blieb genug Zeit mögliche Varianten der Jagd durchzugehen. Während Dina und Sentry sich ein wenig abseits setzten, diskutierten die Übrigen separat über die Möglichkeiten des Überlebens, Scheiterns oder Todes.
„Was meinst du? Haben wir eine Chance da lebend rauszukommen?“, fragte Sentry.
„Nicht sehr vertrauenswürdig die ganze Geschichte. Wie auch immer, es ist unsere einzige Möglichkeit. Wir sollten die zwei Wochen nutzen, um möglichst viele Informationen über diesen Haufen zu bekommen. Ich werde es denen so schwer wie möglich machen. Vielleicht kann ich ein zwei Bastarde mitnehmen, wenn ich draufgehe.“
Er wusste nicht, was er als Antwortet erwartet hatte. Vielleicht so eine Art „Blut und Schweiß“ Ansprache, irgendetwas, was ihn motivierte seiner Freiheit näher zu kommen. Stattdessen schien Dina abgeschlossen zu haben. Wenn sie ihn nicht motivieren konnte, ging es vielleicht andersherum.
„Wir haben immer noch einen Trumpf. Die Mistviecher, die durch meine Eingeweide kriechen. Vielleicht können wir uns damit freikaufen?“
„Der Gedanke kam mir auch schon, aber ich fürchte den Leuten hier ist nicht zu trauen. Die sehen dich als ihr persönliches Eigentum an. Wenn die davon wüssten, zerlegen die dich vermutlich in deine Einzelteile und verkaufen dich Stückchenweise. Also bleib lieber unauffällig.“
Sentry überlegte kurz, ob Dina ihn verraten würde, um ihren eigenen Kopf zu retten. Er war nicht besonders gut seine Gedanken zu verbergen, denn sie nahm ihm sofort die Zweifel.
„Du vertraust mir nicht. Schlauer Bursche. Aber dein Geheimnis ist vorerst bei mir sicher. Ich denke mal, dass wir bessere Chancen haben hier raus zu kommen, wenn die nichts von deinem Talent wissen.“
Die direkte Art verunsicherte ihn. Man konnte Dina viel vorwerfen, aber dass sie hinterhältig war, gehörte eindeutig nicht dazu. Sie spielte mit offenen Karten und das machte sie mehr und mehr berechenbar. Sie besaß ein gewisses Maß an Intelligenz und nach Abwägung der Möglichkeiten war sie zu der Erkenntnis gekommen seine verborgenen Fähigkeiten nicht zu offenbaren. Sicherlich kein Akt der Nächstenliebe, sondern reine Kalkulation. Natürlich bestand immer die Gefahr einer Anpassung dieser Einschätzung, aber vorerst hatte Sentry ihre Loyalität. Vielleicht begriff sie auch endlich, dass sie alleine schlechtere Chancen hatte zu überleben. Sie waren sicherlich keine Gemeinschaft im freundschaftlichen Sinne. Es war ein gewisses Maß an Zusammenarbeit nötig, um hier lebend rauszukommen. Es wurde Zeit wieder einen Schritt auf sie zu zugehen.
„Diese Selbstheilung ist nicht mein einziges Talent“, sagte er kurz und trocken. Jetzt hatte er Dinas vollständige Aufmerksamkeit.
„Wer bist du?“, fragte sie diesmal mit ungespielter Neugierde.
„Wenn ich das wüsste. Red und seine miesen Getreuen haben mich aus einem Tiefkühler geholt. Das einzige was ich dabei hatte, war dieses Amulett.“
Sein Schicksal wiederholt zur Schau stellen zu müssen, deprimierte ihn. Er wollte eigentlich stark sein gegenüber Dina, hatte aber nun das Gefühl sich vollends auszuliefern.
Er zog das Schmuckstück aus der Tasche und hielt es Dina hin.
„Nett. Ist wohl aber eher nutzlos in unserer Situation“, reagierte sie gelassen.
„Kannst du es mit irgendwas in Verbindung bringen. Jeder Hinweis würde mir weiterhelfen.“
„Tut mir leid, aber mit Schmuck konnte ich nie viel anfangen.“
„Ich hoffe die nehmen es mir nicht ab.“
„Schlucken würde ich das nicht, aber es gibt noch eine andere Körperöffnung, in der du es verstecken könntest.“ Sie grinste bei der Vorstellung, wie er sich abmühte es sich einzuführen.
„Was hast du denn noch drauf?“, fragte sie plötzlich wieder vollkommen ernst.
„Was ich drauf habe?“
„Ja. Hast du den Röntgenblick? Kannst du fliegen? Irgendwas, was uns weiterhilft hier raus zu kommen.“
„Ich weiß es nicht. Die Femtos sind wahrscheinlich militärische Spitzentechnologie. Ich kann sie leider nicht aktivieren.“
„Himmel du bist eine Waffe. Eine, die nicht weiß, wann sie losgeht.“
„Danke jetzt geht’s mir viel besser“, antwortete er sarkastisch.
„Du hast zwei Wochen Zeit deine speziellen Talente zu ergründen. Offenbar warst du mal Soldat. Ich hoffe bloß keine Ordonnanz, denn Tabletts jonglieren bringt uns auch nicht hier raus. Du bist unserer Joker in diesem Spiel. Keine Angst. Ich werde dich nicht ausliefern, ich hab dich lieber auf meiner Seite.“
Sie hatte Recht. Die Femtos waren der entscheidende Faktor in den nächsten Wochen. Werden sie entdeckt, untersuchen sie ihn wie eine Laborratte. Kann er vorher ihre Geheimnisse ergründen, haben sie vielleicht eine Überlebenschance.
Ohne es zu wollen, hatte er an Zuversicht gewonnen. Schmerzhaft wurde ihm bewusst, wie sehr er ihre Hilfe brauchte. Alleine würde er das Ganze hier nicht durchstehen. Das Vertrauen zu ihr war gering, aber er würde noch eine Ewigkeit brauchen sich allein zu Recht zu finden.
Am nächsten Morgen startete das Training und bereits die ersten Übungen brachten ihn an die Grenzen seiner Belastbarkeit. Er war dem Spott eines kleinen zierlichen Zugführers ausgesetzt, der ihn mit stoßförmig vorgetragenen Atemgeräuschen parodierte. Die Luft war so dünn, dass seine Lungen nicht hinterherkamen sein Blut mit dem nötigen Sauerstoff zu versorgen. Die Wut auf diesen kleinen Troll trieb ihn an das Brennen in seiner Brust zu ignorieren und die Übungen trotz mangelnder Kondition bis zur Erschöpfung zu wiederholen.
Diese Wut war nicht der einzige Antrieb. Die Aussicht diesem Militärlager zu entkommen, spornte ihn zusätzlich an. In ein paar Tagen ging es um Leben oder Tod und da sein Selbsterhaltungstrieb noch nicht erloschen war, tat er alles, um sich dem Unausweichlichem stellen zu können. Nach einer Woche verbesserte sich sein Körpergefühl und damit steigerte sich die Zuversicht das Spiel gegen jede Vorhersage erfolgreich meistern zu können. Es war ihm egal, ob sich Kain an sein Versprechen halten würde. Dina und er würden notfalls ihre eigenen Regeln aufstellen, um hier wegzukommen.
In dieser Zeit der Vorbereitung lernten sie viel über das Lager und seine Bewohner. Lassik war zu dieser Jahreszeit ein kalter Planet. Selbst wenn die Sonne schien, wurde es nie wärmer als 5°C und überwiegend gab es einen peitschenden Regen, der alle in eine depressive Grundhaltung versetzte. Diese Depression wurde höchstens ersetzt durch Angst, die sich einmal in Gang gesetzt durch das Lager fraß, wie Heuschrecken durch ein Kornfeld. Am Anfang konnte Sentry nicht nachvollziehen, worin der Grund lag. Die Soldaten, die ihnen zugeteilt wurden, befanden sich in permanenter Anspannung und Sorge, so als hätten sie Furcht vor Bestrafung aufgrund von kleinsten Fehlern. In den zwei Wochen des Trainings gab es von ihnen nie ein Lächeln oder aufbauende Worte untereinander. Die Moral war gelinde gesagt auf dem Tiefpunkt. Einen Grund vermutete Sentry in dem völligen Fehlen von privatem Besitz. Alles war hier Gesamteigentum. Selbst lebensnotwendige Medikamente wurden nur auf Zuteilung herausgegeben. Zivile Kleidung oder Genussmittel wie Alkohol waren verboten. Die Truppe war gleichgeschaltet. Individualismus gab es nicht. Er war sich nicht mal sicher, ob eigene Gedanken vorhanden waren. Die einzige Freude der Soldaten bestand im Schikanieren der Gefangenen. Es gab ihnen eine Art Genugtuung, zu sehen, dass es in dieser Hölle noch schlimmer hätte kommen können.
Ansonsten glich das Lager einem Bienenstock, in dem jeder seiner Aufgabe nachging. Es existierte sogar eine Art Königin, die von allen ehrfurchtsvoll als Führer bezeichnet wurde. Er thronte über allem. Seine Anweisungen wurden ohne großes Hinterfragen ausgeführt und obwohl ihn die wenigsten zu Gesicht bekamen, war er die treibende Kraft in dieser Gesellschaft. Eine unsichtbare Peitsche, die alle hier permanent auf Trab hielt und im Gegenzug für ein unnatürliches Maß an Misstrauen untereinander sorgte. Die unausgesproche Hauptregel bestand darin diesen Heiland nicht zu verstimmen und das gelang am besten, indem man es vermied überhaupt aufzufallen.
Sentry lernte schnell, dass es einfach war seinen Unmut zu erregen. Ein wesentlicher Grund lag darin, dass es keine klaren Regeln hinsichtlich des Verhaltens gab. Was heute noch richtig war, konnte morgen genau das Falsche sein. Der Führer war launisch und so wechselten ihre Ausbilder je nach Stimmungsschwankung des Allmächtigen. Ein nachvollziehbarer Grund war nicht ersichtlich, aber Kleinigkeiten reichten für den absolutistischen Herrscher. Er hielt sich rar mit persönlichen Auftritten und organisierte die Abläufe über wenige Vertraute wie Kain. Trotzdem schaffte er es permanent präsent zu sein.
Das ohnehin schon primitive und entbehrungsreiche Leben im Lager wurde durch ein umfassendes Lautsprechersystem erschwert. Das buchstäbliche Sprachrohr des Führers an seine Untergebenen. Mit permanenten Ansprachen hielt er einseitigen Kontakt zu den Soldaten. Überall und zu fast jeder Zeit beschallten sie die Bewohner in kurzen und prägnanten Reden. Bei den zu verrichtenden Arbeiten oder bei den Kampfausbildungen, selbst in in den wenigen Pausen zur Aufnahme von Mahlzeiten waren seine zugegebenermaßen mitreißenden Worte zu vernehmen.
Diese feurigen Ansprachen, die offenbar als Motivation gedacht waren, um den teilweisen stupiden Arbeiten einen Sinn zu geben, enthielten verheißungsvolle Zukunftsvisionen. Die Worte waren so allgemein gehalten, dass es Außenstehenden wie Sentry schwer fiel die viel gepriesene Sache überhaupt zu verstehen, aber am Ende lief es vermutlich auf eine bessere Welt für alle Anwesenden hinaus. Wie diese aussehen sollte, war im Detail vollkommen unklar, aber allein die Aussicht auf Verbesserungen spornte die Soldaten an die Entbehrungen zu ertragen.
Die nie enden wollende Arbeit und die hoffnungsvollen Worte ließen keine Zeit für die Auseinandersetzung mit unpassenden Gedanken. Das ganze System schien darauf ausgelegt, die Soldaten an ihre mentalen Grenzen zu bringen und dort zu halten. Der Geist sollte gar nicht erst die Möglichkeit bekommen zur Bildung einer eigener Meinung oder schlimmer noch den Zweck ihrer Anwesenheit im Lager zu hinterfragen. Was hier passierte, war für Sentry lange unklar geblieben. Alle mussten sich einer gigantischen Gehirnwäsche unterzogen haben, denn dieses unterwürfige Verhalten der Masse gegenüber einem Einzigen war schwer nachzuvollziehen. Wie auch immer es der Führer geschafft hatte, die Angst, die er unter seinen Soldaten gesät hatte, machte ihn zu einer gottgleichen Person.
Das Ganze war erstaunlich, da auch die Grundbedürfnisse auf ein Minimum reduziert wurden. Die Ernährung bestand aus rationierten Kaloriendrinks. Durch die Härte der Ausbildung und die anfallenden Arbeiten, war neben dem Misstrauen untereinander, der Hunger ein ständiger Begleiter. Sentry vermutete, dass das sogar die Grundsäulen des Führungsanspruches des Führers waren. Erschöpfte Soldaten würden zwar nie Krieg führen können, stellten aber auch keine Fragen gegenüber dem bestehenden System. Das Ganze glich mehr einer Sekte, die einem Führerkult huldigte. Diese Verherrlichung eines allmächtigen Anführers wurde mit regelmäßigen Treffen vertieft.
Für die Gefangenen wurden keine Kaloriengetränke verschwendet. Während die Soldaten in regelmäßigen Abständen sogar Brot bekamen, war die Gruppe um Sentry gezwungen Fleisch zu essen. Die biberartigen Geschöpfe, die in den umliegenden Wäldern hausten, waren leicht zu jagen. Ihr Fleisch war zäh und schwer verdaulich. Hatte man den Ekel überwunden, begann der eigentliche Kampf es nicht auszuspeien. Niemand war es gewohnt feste Nahrung zu sich zu nehmen, schon gar nicht Fleisch. Daher waren die Magenkrämpfe ein ständiger Begleiter jeder Mahlzeit.
Die Tage bis zum finalen Spiel wiederholten sich in ständiger Routine, so dass Sentry die einzelnen militärischen Rituale vorhersagen konnte. Zeitiges Aufstehen mit anschließendem Antreten, gefolgt von einem kargen Frühstück aus zähem Biber und einem ersten Dauerlauf durch den umliegenden Wald. Danach gab es Krafttraining bis zum Mittag und nach einer erneuten Bibermahlzeit einen Gewaltmarsch über mehrere Kilometer. Mit zunehmender Ausdauer wechselte das verzweifelte Schnappen nach Luft mehr und mehr in sportlichen Alltag.
Was Sentry nach einer Woche wirklich zu schaffen machte, waren die permanenten Durchsagen des Führers. Sie beeinflussten seine psychische Stabilität und langsam wurde ihm klar, warum alle sich so hörig einem Einzelnen unterwarfen. Obwohl sie ihn nie persönlich zu Gesicht bekamen, imponierte Sentry das Gespür, dass er für die Stimmung im Lager besaß. War der Hunger besonders groß, wurden denjenigen extra Portionen versprochen, die sich durch besondere Leistungen hervortaten. Diese besonderen Leistungen bestanden meistens aus Denunziationen. Gab es ein unbedachtes Wort eines Soldaten, fand sich mit Sicherheit jemand, der sich damit einen Kanten Brot ergatterte. War die Stimmung schlechter als das herkömmliche Maß, gab es mitreißende Durchsagen, die Erfolge in der Vergangenheit heroisch übertrieben. Die Gehirnwäsche, mit der die Soldaten davon überzeugt wurden Schmerz und Leid im Sinne der Sache zu ertragen, wurde durch das verbale Geschick des Führers am Leben erhalten.
In den Tagen vor dem großen Ereignis änderte sich die Stimmung der Soldaten. Die depressive Grundhaltung änderte sich in erwartungsvolle Vorfreude. Der Führer bezog sich in seinen endlosen Ansagen immer mehr auf die geplante Treibjagd. Mitreißend und rhetorisch ausgefeilt, schaffte er es die Stimmung auf eine bis dahin ungewohnte Höhe zu bringen. Im Gegensatz dazu schlug die Hoffnung der Gefangenen in Resignation um. Jedem wurde klar, dass alles andere als ihr Tod die Meute nicht zufrieden stellen würde. Das war keine militärische Übung, geplant war ein Schauspiel, dessen Finale so blutig wie möglich sein sollte. Durch mitgeführte Kameras wurde sichergestellt, dass jede Kleinigkeit im Lager bejubelt werden durfte.
Das nahende Spektakel ließ auch Sentrys Anspannung weiter steigen. Seine Nächte waren unruhig und wenig entspannend. Ihm war bewusst, dass die kommenden Tage über Leben und Tod seines kurzen Daseins entscheiden würden. Wie auch immer das hier ausgehen möge, es wäre auf die eine oder andere Art eine Verbesserung. Nur die Femtos ließen eine dritte Möglichkeit zu. Es bestand die Gefahr als Untersuchungsgegenstand in einem Labor zu enden und so handelte er so vorsichtig wie möglich. Keine Verletzung, nicht einmal kleinste Kratzer konnte er sich leisten. Alles könnte auf die Femtos hindeuten. Größere Sorgen machten ihm die unbekannten Funktionen. Wie sollte er etwas verhindern, was er selbst nicht kannte? Wenn er aus Versehen etwas aktivierte, wie sollte er sich verhalten? Er legte sich mehrere Ausreden zu Recht, die er je nach Fall hätte bringen können, merkte aber sehr schnell, dass großes Improvisationstalent notwendig wäre, um glaubhaft irgendwelche Phänomene zu erklären.
Während die Moral der Soldaten mehr und mehr stieg, erreichte die Zuversicht unter den Gefangenen einen neuen Tiefpunkt. Kain versuchte mit seinen Märchen von der möglichen Freiheit dagegen zu halten, doch das Jagdfieber in den Gesichtern der Soldaten demoralisierte die Gruppe. Durch die Verunsicherung der Gefangenen drohte die Jagd zu einem gewöhnlichen Abschlachten zu verkommen. Die Erkenntnis setzte sich nach und nach im Lager durch, so dass sämtliche zermürbenden Aktionen irgendwann auf Geheiß des Führers eingestellt wurden. Die Gefangenen wurden isoliert und hatten nur noch mit ausgewählten Personen zu tun.
Die Führung dieser Auserwählten wurde jener Soldatin übertragen, die sich dezent im Hintergrund hielt, als General Kain den Gefangenen ihr eigentliches Schicksal im Stile einer „Gute Nacht“ Geschichte näherbrachte. Sie hatte langes blondes Haar und war entgegen ihrer Kameraden, deren Körper durch die erhöhte Schwerkraft übermäßig muskulös wirkten, eher zierlich gebaut. Sie mied den persönlichen Kontakt mit den Gefangenen und beschränkte sich auf das Anweisen der ihr unterstellten Soldaten. Aus sicherer Entfernung kontrollierte sie, ob alles zu ihrer Zufriedenheit umgesetzt wurde. Die Art und Weise, wie sie Sentry und die anderen beobachtete, glich einer taktischen Analyse von unterlegenen Gegnern, die trotzdem nicht zu unterschätzen waren. Diese Art der Kontrolle verlieh ihr etwas Mysteriöses. Die „unbekannte Schöne im Hintergrund“ taufte sie Terra. So dauerte es nicht lange, bis jeder seine eigene Geschichte über sie kreierte.
Eine präzise Einschätzung der mysteriösen Schönen konnte Sentry erst in dem Moment vornehmen, als sie für das eigentliche Ereignis eingewiesen wurden. Wie bei allen Soldaten war es schwierig den vorherrschenden Gemütszustand zu ergründen. Ihre ausdruckslose Mine diente nicht nur als Schutz vor den Kameraden, sie war auch ein Zeichen für die Gleichschaltung der Truppe. Das eigentlich hübsche Gesicht wurde verunstaltet durch das Fehlen einer Persönlichkeit. Eine Schaufensterpuppe war vermutlich interessanter als dieses Mädchen.
Die Gefangenen wurden wieder in das Hauptgebäude geführt. Die kalte sterile Atmosphäre aus Nützlichkeit war einem gemütlichen Ambiente aus Volksfeststimmung gewichen. Offenbar war das der Ort, an dem das Schauspiel übertragen werden würde. Anwesend waren diesmal neben General Kain, der mysteriösen Blonden und dem Gruppenführer noch vier weitere Soldaten mit geringerem Dienstgrad. Ihre Muskulatur war selbst für Lassik-Verhältnisse überdimensional ausgebildet und auf einmal kam sich Sentry verdammt schwach vor. Die Angst ergriff ihn und nach den Gesichtern seiner Kameraden zu urteilen, war er damit nicht alleine. Für das perfekte Schauspiel wurden die besten und vermutlich brutalsten Protagonisten erwählt.
„Rühren“, befahl Kain.
Die Soldaten entspannten sich und der General baute sich vor den Gefangenen auf.
„Nun ist es soweit“, eröffnete er in seinem unverwechselbaren Stil.
„Innerhalb der nächsten halben Stunde werdet ihr im Inneren der Insel eurem Schicksal überlassen. Anhand dieser Karte wird es euer einziges Ziel sein den markierten Punkt zu erreichen. An der Küste erwartet euch folgendes.“
Er zog eine Fernbedienung aus der Tasche, startete den Projektor und die bisher weiße Leinwand offenbarte ihnen einen Strand. Befestigt an einer Leine, flatterten drei rote Wimpel im Wind, die an Holzstangen festgebunden waren.
„Eure Fahrkarten in die Freiheit. Habt ihr einen der Wimpel in der Hand, seid ihr frei“, kommentierte er das Livebild.
Er legte eine kurze Pause ein, um die Reaktionen der Anwesenden zu mustern.
„Ihr fragt euch sicherlich warum nur drei? Die Frage ist berechtigt.“ Er führte den Monolog als würde er Kindern erklären, warum nicht jeder ein Stück Kuchen bekommen würde.
„Ich hatte den Eindruck, dass einige die Sache nicht mit dem gewissen Ernst betrieben haben. Diejenigen, die mitgezogen haben, werden sicherlich keine Probleme haben einen der Wimpel zu bekommen.“
Er blieb bei Dina stehen, um seinen Unmut über die mangelnde Kooperation zu untermauern. Tatsächlich hatte diese in ihrer rebellischen Art und Weise für das eine oder andere Missfallen gesorgt.
„Wie auch immer. Ich hatte ja bei unserem ersten Treffen angedeutet, dass der vierte Zug euch die ganze Sache etwas erschweren wird.“
Er grinste über sich selber, da er es geschafft hatte, das längst verhangene Todesurteil so zu verharmlosen.
„Gruppenführer. Sind ihre Leute bereit den vollen Einsatz in diesem Manöver zu geben?“, wandte er sich an seinen Untergebenen.
„Jawohl Herr General“, antwortete der Gruppenführer inbrünstig. Er baute sich vor seinen Leuten auf und brüllte sie an.
„Vierter Zug. Dran. Drauf. Drüber.“
„Dran. Drauf. Drüber“, brüllten die vier zurück.
„Was wollen wir?“
„Sieg.“
„Was haben wir nicht zu verschenken?“
„Gnade“
„Herr General ich melde, vierter Zug ist bereit für das Manöver.“
Das Gebrüll verfehlte seine Wirkung nicht. Das Maß an Angst erreichte neue Ausmaße und der letzte Rest an Zuversicht wurde mit den Worten davon getragen. Kain grinste genüsslich.
„Und nun zu den weiteren Spielregeln“, wurde er urplötzlich wieder ernst.
„Sechs Ziele, sechs Jäger. Das ist nur fair“, sagte Kain fast beiläufig.
„Herr General es ist nicht notwendig unseren Zug aufzustocken“, kam es protestierend vom Gruppenführer.
„Was notwendig ist entscheidet immer noch der ranghöhere Offizier und wenn ich mich so umschaue, gibt es hier mindestens zwei Anwesende, die Ihren Dienstrang überschreiten“, antwortete er in einem drohenden Tonfall, der keinerlei Widerspruch zuließ.
Die Zurechtweisung verfehlte ihre Wirkung nicht. Der Gruppenführer, aber auch die Soldatin ließen für einen Moment die jahrelang antrainierte Fassade fallen. Während auf der einen Seite devote Zurückhaltung erkennbar war, konnte die Blondine ihre Furcht über die zukünftige gemeinsame Jagd nicht verbergen. Es war offensichtlich, dass sie in dieser Gruppe nicht willkommen war. Der erste Schwachpunkt ihrer Jäger war erkennbar.
“Verstanden”, resignierte der Gruppenführer und obwohl er dieses eine Wort mit Inbrunst herausbrachte, konnte er seine Abneigung gegen diese Anweisung nicht vollends unterdrücken. Kain ließ sich einen letzten drohenden Blick nicht nehmen. Er hasste Widerspruch und in der Regel gab es den auch nicht. Das genau diese Regel ausgerechnet vor Fremden gebrochen wurde, konnte er nur schwer ertragen. Zu seinem Missfallen passte der Zeitpunkt für eine Bestrafung nicht und so nahm er sich vor, den Gruppenführer nach dem Manöver für dieses Benehmen mit kreativen Zusatzaufgaben wie Extra-Wachdienst zu würdigen.
„Jeder bekommt eine Waffe mit begrenzter Anzahl Munition“, sagte er scharf.
Die Anzeichen von Hoffnung in den Gesichtern der Gefangenen, zwangen den General noch einen Satz nachzuschieben.
„Damit war natürlich nur der vierte Zug gemeint. Gruppenführer zu mir.“
Gemeinsam gingen sie zu einem Tisch, auf dem mehrere Waffen militärisch präzise aufgebahrt waren.
„Ah, die Wahl der Waffen. Für mich persönlich der beste Teil der Vorbereitung,” kam es von Kain aufgeregt.
„Fangen wir mit dem Scharfschützengewehr an.“
Er nahm eine Waffe mit langem Lauf und Visier in die Hand.
„Etwas veraltet, aber tödlich präzise. Patronen mit chemischer Treibladung, wie es in den guten alten Zeiten üblich war“, schwärmte Kain mit glänzenden Augen.
„Kossak. Das wird Ihre Waffe“, brüllte der Gruppenführer.
„Verlieren Sie die Waffe nicht. Sie ist nicht genetisch verriegelt. Fällt sie dem Feind in die Hand, kann er sie für eigene Zwecke nutzen. In dem Fall ziehen Sie besser den Kopf ein,“ gab ihm Kain mit auf den Weg.
„Was haben wir denn noch?“ Er wirkte wie ein Kind im Süßwarenladen.
„Unsere Standardwaffe. Die GW3. Projektilwaffe. Patronen werden durch ein elektromagnetisches Feld beschleunigt. Sie sollten zwei mitnehmen. Packen Sie auch Ersatzakkus mit ein. Man weiß ja nie.“
„Frend, Dolph.“ Etwas enttäuscht mit dem Standard abgespeist zu werden, nahmen die beiden ihre Waffen entgegen.
„Ah die Königin unter den Waffen. Biologischer Kampfstoff im Projektil. Ein Streifschuss genügt und ein paar Minuten später stirbt man den schlimmsten aller Tode.“ Er schaffte es diesen Satz in einem so harmlosen Tonfall rüber zu bringen, dass die Gejagten die Bedeutung nicht verstanden. Das unscheinbare Gewehr in seiner Hand wirkte gegenüber dem GW3 eher zerbrechlich.
„Wenn ihr die Wahl habt, wie ihr sterben wollt, kommt lieber nicht vor den Lauf dieser Waffe. Gruppenführer das sollte ihre Waffe werden.“
„Jawohl Herr General.“
„Bleiben noch zwei übrig. Für die perfekte Vorstellung sollten sie noch etwas mit mehr bums mitnehmen.“
„Juth, die Dunken.“
„Explosivgeschosse, eine hervorragende Wahl. Ist nicht ganz einfach zu handhaben, ich hoffe Sie kennen sich damit aus Soldat.“
Der Gruppenführer wirkte besorgt. Als hätte man einem Kind gerade den größten Feuerwerkskörper und ein Feuerzeug in die Hand gedrückt. Offenbar bereute er es gerade Juth die Explosivwaffe anzuvertrauen. Es war für ihn trotzdem das geringere Übel, denn dem aufgezwungenen Mitglied seiner Truppe gab er nur eine Handfeuerwaffe.
„Ihre Entscheidung“, kommentierte der Hauptmann die Wahl enttäuscht.
Nach einem kurzen „Stillgestanden” von Kain versteiften sich die Soldaten mit ihren neu erworbenen Waffen. Es folgte ein unendlich langwieriger Monolog des Generals, der im Wesentlichen den Führer oder die Sache verherrlichte. Fast zwanzig Minuten quälte er Jäger und Gejagte mit Phrasen, die ohne weiteres aus einem Handbuch für schlecht gemachte Propaganda stammen konnte. Eine perfekte Selbsttäuschung, bei der sich nicht die Mühe gemacht wurde die offensichtlichen Widersprüche zu vertuschen. Trotz dieses eklatanten Mangels an Logik beflügelte es den Jagdtrupp. Die Indoktrinierung war zu weit fortgeschritten für die Nutzung des eigenen Verstandes und so wurde alles der Ideologie untergeordnet. Ein möglicher weiterer Schwachpunkt, denn damit war eine gewisse Berechenbarkeit vorhanden.
„… und so preisen wir den Führer, der uns das alles hier ermöglicht hat“, beendete der General seine Rede.
„Der Führer sei mit uns“, erwiderten die Soldaten.
„Es wäre angebracht, dass auch uns noch ein paar Worte zustehen“, meldete sich Pluto, als Kain die Soldaten abtreten lassen wollte.
„So, was willst du denn sagen?“, fragte Kain in herablassenden Tonfall.
„Es ist wohl für jeden erkennbar, dass die ganze Sache hier eine Farce ist. Jedenfalls erkennbar für jeden, der weiß was das Wort Farce bedeutet“, fing er seine Einschätzung der Lage mit einer subtilen Beleidigung gegenüber seinen Scharfrichtern an. Kain zuckte kurz, bekam sich aber im Bruchteil einer Sekunde wieder unter Kontrolle.
„Ihre Truppe ist miserabel ausgebildet und ich denke mal bei einem fairen Gefecht wären sie nichts weiter als Kanonenfutter“, fuhr Pluto mit einer souveränen Selbstsicherheit fort, die Kain überraschte.
„Dieser Schwachsinn dient lediglich dazu die Moral Ihrer Truppe zu stärken, ihnen das Gefühl zu geben sie wären gute Soldaten. Ich glaube ich verrate kein Geheimnis, wenn ich behaupte, dass sie das nicht sind.”
Er wandte sich seinen Widersachern persönlich zu.
„Ihr könnt euch eure Wimpel dahin schieben, wo die Sonne nicht scheint. Wir werden nicht weglaufen. Ihr bekommt euren Kampf und damit auch Schmerz und Tod. Ihr glaubt ihr seid im Vorteil, weil ihr diese schicken Waffen habt. Ein Irrtum. Heute bekommt ihr Lektionen, wie man auch unbewaffnet vermeintlich überlegene Gegner in den Tod schickt. Zu eurem Unglück könnt ihr dieses Wissen nicht mehr nutzen, denn diese Erkenntnis werdet ihr mit ins Grab nehmen.“ Die Ruhe und das Selbstvertrauen mit denen er das Gesagte untermauerte, verfehlte seine Wirkung nicht. Die Euphorie war bei den Jägern für den Moment dahin.
„Wunderbar. Da hat jemand die richtige Einstellung“, kaschierte der General seine Verärgerung mit gespieltem Enthusiasmus. Bei den Soldaten konnte man die aufsteigende Angst deutlich erkennen. Im Gegensatz dazu schien der Mut bei den Gefangenen zurückzukommen, obwohl höchstens Dina den Kampfeswillen von Pluto teilte.
„Dann ist ja alles gesagt“, beendete Kain das Vorgeplänkel.
„Lasset Taten folgen. Bringt sie zum Transporter und dann möge das Ganze beginnen.“
Der Transfer in das Innere der Insel erfolgte durch die Luft. Ein kleiner Flugtransporter in dem sie gedrängt für kurze fünf Minuten aushalten mussten. Welche Entfernung in der Zeit zurückgelegt wurde, war schwer zu beurteilen, denn die geschwärzten Fenster erlaubten keinen Blick nach draußen. Nach der wackligen Landung verabschiedete sie der Pilot in sadistischer Vorfreude.
„Ihr habt drei Stunden zur Orientierung, danach wird’s lustig“, grinste er und flog davon. Ein trügerisches Gefühl von Freiheit ergriff Sentry. Zum ersten Mal in seinem kurzem Leben war er in der Lage eigene Entscheidungen zu treffen, auch wenn er damit höchstens die Art und Weise seines Ablebens beeinflussen würde. Egal. Er wollte mehr und so nutzte er den von Pluto entfachten Mut und war bereit sich seinem Schicksal zu stellen.

 

IV

„Macht hat wer reden kann.“

Robert A.T. Casccoyne-Cecil

 

 „Evie, wir müssen jetzt alle sehr stark sein.“ Diese wenigen Worte ihres Vaters markierten das viel zu frühe Ende von Evas Kindheit. Der Tag an dem sie sie hörte, sollte einer dieser Wendepunkte in ihrem Leben werden, der mit Schmerz und Leid ihren zukünftigen Weg prägen würde. Es folgten weitere Erklärungen, die alle versuchten den Tod ihrer Mutter umständlich zu offenbaren, aber ihr sonst so eloquenter Vater besaß keine Mittel, um das Unbeschreibliche sinnvoll zu formulieren. Es war ohnehin vergebene Mühe, denn Evas Gehirn weigerte sich von diesem Punkt an den Verlust zu akzeptieren und reagierte mit einer Art trotziger Notabschaltung. Die kläglichen Erklärungsversuche hatten dadurch keine Möglichkeit sich in Evas Gedächtnis festzusetzen.
Das Wetter war regnerisch an jenem schicksalhaften Tag, selbst für Lassik-Verhältnisse. Gelangweilt vom Mathematikunterricht sehnte sie das Ende eines Nachmittags heran, wie sie ihn tausend Mal vorher erlebt hatte. Der Regen peitschte gegen die Fenster des Klassenraums, als Beweis für die Regelmäßigkeit des schlechten Wetters in ihrer Heimat. Wie auf Kommando flaute der Sturm mit dem Ende der letzten Stunde ab. Auf dem Heimweg ignorierte sie die unzählige Auswahl an verlockenden Pfützen. Sie war kein kleines Mädchen mehr, das durch dreckiges Wasser sprang. Auch wenn sie die Versuchung regelmäßig überkam, wollte sie an jenem Tag mit sauberen Sachen vor ihrer Mutter stehen, um ihre Reife zu zeigen.
Wie immer öffnete sie die Eingangstür, betrat den kleinen Flur und hängte ihre Tasche an den vorgesehenen Haken. In der Regel bereitete ihre Mutter einen kleinen Imbiss zu und voller Vorfreude begab sie sich in die Küche. Zu ihrer Überraschung traf sie dort auf ihren Vater. Ein normalerweise lebenslustiger Mann kauerte eingefallen in der Ecke und erste Zweifel machten sich in Eva breit, dass dieser Tag wie jeder andere enden würde. Mühsam machte er ihr eine heiße Schokolade, etwas was eigentlich nur an hohen Feiertagen vorkam. Mit jedem seiner Handgriffe verstärkte sich ihr ungutes Gefühl und was immer er ihr auch sagte, ihr Gedächtnis weigerte sich nach dem begreifen der eigentlichen Botschaft seine Worte zu archivieren. Eine Abwehrreaktion, um das Gehörte nicht glauben zu müssen. Tage lang kämpfte sie gegen die traurige Gewissheit an, immer in der festen Überzeugung ihre Mutter käme zurück. Die Kapitulation kam ausgerechnet an ihrem Geburtstag. Jener Tag, an dem die Welt regelmäßig für sie stillstand und ihre Mutter hundert Prozent ihr gehörte. Erst da kamen die Tränen und Eva hätte ihre Seele hergegeben, um nie wieder etwas fühlen zu müssen. Nachdem der Damm gebrochen war, überwältigte sie die Trauer und erstickte alle anderen Empfindungen in ihr. Der Tsunami spülte alles Lebendige aus ihrem Geist und hinterließ einen Moloch aus grauer Tristes.
Es starb eine Politikergattin, deren Lebensinhalt darin bestand, die sich abzeichnende Kluft zwischen der stetig anwachsenden Armut der Bevölkerung und der Reichtum scheffelnden Elite entgegen zu wirken. Als Frau eines aufstrebenden Lokalpolitikers war sie beliebt beim Volke von Lassik. Ihr tragischer Tod wurde unabhängig vom gesellschaftlichen Stand mit tiefer Trauer empfunden. Die Leute verehrten sie und sahen sie als den glamourösen Gegenpol zur Realität verlierenden Politikerkaste an. Ihre Art und Weise, wie sie mit den Leuten sprach, sich ihre Probleme anhörte und es wagte Spitzenpolitiker für Entscheidungen öffentlich zu kritisieren, brachte ihr viel Vertrauen in der Bevölkerung ein. Ihr Mann profitierte davon. Er war im Begriff eine steile politische Laufbahn hinzulegen. Sein Talent aus Kontakten und Beziehungen den optimalen Nutzen zu ziehen und ihre charismatische Art, sollten den Weg bis in die höchsten politischen Kreise ebenen. Er stand kurz davor aus der lokalen Provinzpolitik in die Ratskammer einzuziehen. Das Parlament von Lassik sollte ihre gemeinsame Bühne werden. Zusammen wollten sie die Welt verbessern.
Die Tragödie hinterließ einen gebrochenen Vater mit zwei Töchtern. Eva die Älteste, die Starke. Zwölf Jahre alt und voller Selbstbewusstsein. Sie hatte das Empfinden für Gerechtigkeit von ihrer Mutter und in jugendlicher Naivität brachte ihr das regelmäßig Ärger ein. So mancher Mitschüler bekam ihre eigene Version von Selbstjustiz zu spüren. Ohne Reue und im Glauben das Richtige getan zu haben, brach sie die Nase eines Schulkameraden, der sich regelmäßig an Schwächeren verging. Ihre eigene Interpretation von Auge um Auge und Zahn um Zahn.
Ihre Mutter diente in solchen Situationen als Vorbild. Die Stärke und die Entschlossenheit für ihre Überzeugungen einzustehen, inspirierte Eva. Ihr jugendlicher Elan ließ sie zu extremeren Mitteln greifen. Paradoxerweise führten genau diese Tätlichkeiten zu Spannungen innerhalb der Familie und verwirrten den von Eifer besessenen Geist des jungen Mädchens. Die einsetzende Pubertät drohte das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter endgültig eskalieren zu lassen. Der Tag an dem Tela in den Flammen einer Arztpraxis starb, beendete den aufkommenden Konflikt auf brutalste Art und Weise.
Für Eva starb nicht nur die Mutter. Es verschwand ihre Leitfigur. Die wichtigste Person in ihrem kurzen Leben hatte sie auf einen Schlag verlassen. Niemand war mehr da, um ihr wildes, ungezähmtes Benehmen in geordnete Bahnen zu lenken. Ihr Vater, mit der Trauer und den beiden Töchtern vollkommen überfordert, versuchte mit dem Aufstellen klarer Regeln seine kleine Evie wieder zu bekommen.
Er fing an ihre Welt in schwarz und weiß einzuteilen. Seine eigene kleine Therapie, um die Nachwirkungen seines Verlustes zu verarbeiten und die Kontrolle über sein Leben zurück zu bekommen. Es gab das Gute und das Schlechte, ob nun bei bestimmten Orten oder bei ihren Freunden. Völlig willkürlich wurden Personen oder Dinge in akzeptabel oder verboten eingeordnet. Das diese Zuordnung nicht mit der Einschätzung einer mittlerweile pubertierenden 13-jährigen übereinstimmte, machte es für Eva einfach um ordentlich gegen alles zu rebellieren. Nach unzähligen Streits resignierte er und stellte eine professionelle Kinderhilfe ein. Sein Selbstbetrug brachte ihm die Ordnung, die er brauchte. In dem Glauben das Beste für seine Tochter getan zu haben, konnte er sich wieder seiner politischen Karriere widmen. Jemand anderes hatte nun das Problem, dabei war er die einzig mögliche Lösung für seine kleine Evie. Jahre später sollte ihm bewusst werden, dass er seine Tochter in diesem Moment aufgegeben hatte.
Trotz der einwandfreien Referenzen schaffte es das Kindermädchen nicht über den Status einer Aufseherin hinaus zu kommen. Eva fühlte sich als Außenseiterin. Der Verlust ihrer Mutter und der Verrat ihres Vater verursachten Trauer, Zorn und Demütigung. In regelmäßigem Wechsel fuhr sie tagtäglich das Gefühlskarussell hoch und runter. Ihre unmittelbare Umgebung beschleunigte dabei das Tempo, indem ihr von einfältigen Leuten versucht wurde die Welt zu erklären. Therapeuten, Lehrer sogar Geistliche bombardierten sie mit hohlen Phrasen über Tod und Schicksal einer Halbwaise. Was wussten solche Leute von den Empfindungen eines 13-jährigen Mädchens ohne Mutter?
Ihre Einsamkeit drohte in Weltschmerz umzuschlagen. Die nächste Stufe wäre Verbitterung und am Ende stand der Hass gegenüber allem und jedem. Dabei lag die Lösung so nah, aber sie wollte sie nicht sehen. Wut war gut. Es war ihr Antrieb jeden Morgen aufzustehen. Das einzige, was sie derzeit am Leben hielt. Sie hatte es sich bequem gemacht in der Opferrolle und spie ihr Gift auch in Richtung Unschuldiger. Die mangelnde Unterstützung ihres Vaters gab sie weiter an ihre jüngere Schwester, die damit den doppelten Entzug familiärer Bindungen durchleben musste. Die Option, durch gegenseitigen Halt die Katastrophe zu verarbeiten, gab es für Eva nicht. Zu süß war das Gift.
Die Wut ihres Außenseiterdaseins bündelte sie zuerst gegen ihren Vater. Es war einfach den Schmerz weiterzuleiten und da sie jede Menge davon hatte, begann sie auch andere Bereiche mit einzubeziehen. Die bisher guten Noten in der Schule verwandelten sich durch häufiges zu spät kommen oder Fehlen in eine Katastrophe. Sie war nicht dumm, ganz im Gegenteil. Sie wollte einfach nicht das sein, was ihr Vater von ihr erwartete.
Dieser Antrieb und das Gefühl mit Leuten zusammen sein zu müssen, die ebenfalls Trauer und Schmerz erlitten, trieb sie in Kreise, in der Drogen und Kriminalität mehr die Regel als die Ausnahme waren. Ihre neuen Freunde waren genau das Gegenteil von dem, was sich ihr Vater für sie vorgestellt hatte. An ihrem fünfzehnten Geburtstag nahm sie das erste Mal Meth. All die Wut und die Probleme, die ihre ständigen Begleiter waren und sie von innen her aufzufressen drohten, gab es nicht während des Rauschs. Sie war ausgeglichen, mit der Welt im Reinen. Keine Außenseiterin mehr. Die Überlegenheit, mit der sie auf die anderen herab blicken konnte, verursachte eine nie da gewesene Euphorie.
Wie alle Mädchen in ihrem Alter erwachte auch die Neugierde am anderen Geschlecht. Eine Sehnsucht nach jemandem, der sie verstand und dem sie uneingeschränkt vertrauen konnte. Eine Person, die die Lücke schließen konnte, die ihre Eltern hinterlassen hatte und die sie endlich wieder was anderes fühlen lassen würde als Wut und Einsamkeit. Das Gemeinschaftsgefühl von Elend, dass sie in die Unterschicht trieb, reichte eines Tages nicht mehr. Sie war auf der Suche nach dem ganz großen Gefühl.
Ihre jetzigen Freunde waren in der Entwicklung stehen geblieben. Der Sinn ihres Daseins beschränkte sich auf das Ausleben von Gewalt an allem, was ihrer Meinung nach Schuld an ihrem Elend war. Das Interesse bestand nicht darin etwas zu verändern, sondern etwas zu zerstören. Vielleicht lag es daran, dass Eva in besseren Verhältnissen aufwuchs, vielleicht war es auch das Gerechtigkeitsempfinden ihrer Mutter, dass sie immer noch verehrte, jedenfalls konnte sie diese Einstellung nicht länger teilen. So entfremdete sie sich immer mehr von ihren vermeintlichen Freunden. Das Gefühl wieder am Spielfeldrand zu stehen, wuchs von Tag zu Tag und damit auch die Erkenntnis, dass sie sich in dem Labyrinth ihres Lebens das erste Mal ordentlich verlaufen hatte.
Sie setzte die Drogen ab, gerade noch rechtzeitig, bevor die Sucht endgültig Besitz von ihr ergriff. Die Überlegenheit, in die sie der Rausch des Meths versetzte, war falsch. Es war ein künstliches Gefühl, ein Betrug auf den sie lange genug reingefallen war. Die Scham etwas Dummes gemacht zu haben, brachte sie zurück zu ihrem Vater. Es würde keine Vergebung geben, denn das Gefühl des Verrats schien für alle Ewigkeit mit ihm verbunden. Sie wollte einfach einen Waffenstillstand aushandeln. Im besten Falle war es ein erster Schritt hin zum endgültigen Frieden, aber dafür bedurfte es ein gegenseitiges Verzeihen und zu dem war Eva nicht bereit.
So stand sie planlos vor ihm. Keine passenden Worte zur Hand. Die Hoffnung, dass allein ihre demütige Anwesenheit den Vater zu Kompromissen erweichen würde, zerschlug sich relativ schnell. Ihre Streitereien hatten auf beiden Seiten viel Vertrauen zerstört und so war er nicht bereit ihr einen Schritt entgegen zu kommen. Der Tod von Tela hatte unendlich viel Trauer, Schmerz und Wut bei beiden hervorgebracht und sie hatten es nicht verstanden, vereint damit fertig zu werden. Ganz im Gegenteil. Es gab keine gemeinsame Verarbeitung der Tragödie. Egoistisch nutzten sie den jeweiligen Anderen, um ungewünschte Emotionen abzuladen. Mit diesem Verhalten beschädigten sie das Andenken an ihre Frau und Mutter.
Die Unfähigkeit Evas, ihre Reue in passende Worte zu packen und die Tatsache, dass genau an diesem Tag der Verweis von der Schule eintraf, verschlechterten die Voraussetzungen für eine Versöhnung. Plato war drauf und dran politisch wieder auf die Füße zu kommen. Er hatte mittlerweile eine neue Frau, was im eher konservativen Lassik als Mindestvoraussetzung für eine ordentliche Karriere galt. Eine problematische Tochter ließ ihn in den politischen Kreisen, in die er vordringen wollte, als schwach erscheinen. Ungewollt nötigte Eva ihn mit diesem Schulverweis eine endgültige Entscheidung zu treffen. Es war seine letzte Chance sich für die Familie zu entscheiden und damit seine politische Laufbahn endgültig zu begraben. Von Wut getrieben, fällte er eine dieser Entscheidungen, die jeder an seinem Totenbett zu tiefst bereut. Eva sollte auf eine der konservativsten Schulen, die Lassik zu bieten hatte. Wieder reagierte er auf das Problem mit dem Abschieben auf dritte. Für sie war das wie eine erneute Ohrfeige. In ihrem verletzlichsten Moment, in dem sie bereit war sich anzupassen, genau dann, als sie auf seine Führung angewiesen war, stieß er sie erneut zurück.
Das Gefühl der Zurückweisung war in einer Intensität vorhanden, die sie vorher nicht gekannt hatte. Für einen Moment war die Versuchung zur Rückkehr zum Meth übermenschlich. Die Freude, die sich einstellt, wenn die Droge im Begriff war ihre volle Wirkung freizusetzen. Das anschließende Gefühl von Euphorie. Keine Probleme, keine Sorgen, nur absolute Entspannung. Aber auch das wäre nur Betrug. Davon hatte sie wahrlich genug in letzter Zeit. Echte Gefühle sollten die Lehre in ihr ausfüllen. Liebe und Zuneigung waren nicht zu bekommen. Sie war allein. Also musste wieder ihre Wut als Mittel der Kompensation herhalten. Der Zorn auf die Zurückweisung ihres Vaters verleitete sie zu einer Tat, die ihn schwer treffen sollte. Sie wollte ihm wehtun, genauso wie er ihr weh getan hatte.
Ihr Interesse an körperlichen Kontakten mit Jungs hielt sich zwei Wochen vor ihrem sechzehnten Geburtstag in Grenzen. Die Gelegenheiten waren zahlreich, denn ihre makellose Figur und ihr naturblondes Haar ließen die Hormone der männlichen Altersgenossen Achterbahn fahren. Sie opferte ihre Jungfräulichkeit nicht aus Lust, sondern in der Gewissheit, dass sie damit bei ihrem Vater ein Maximum an Verärgerung hervorrufen würde. Er hatte ihren Waffenstillstand abgelehnt und damit ihr den totalen Krieg erklärt. So war ihre Wahl des Partners auch nicht getrieben von gutem Aussehen. Sie wollte das letzte bisschen Schmerz bei ihrem Vater herauskitzeln, wenn er ihre Tat erfuhr. Ein bekannter Drogenhändler, bei dem sie früher öfter ihr Taschengeld investierte, schien die geeignete Wahl. Er war nicht nur das absolute Gegenteil des perfekten Schwiegersohns, er gab auch gerne an mit seinen Taten. Gerade Frauengeschichten zierten seine Vita. So genoss sie die Schmerzen, als er hart in sie eindrang. Die raue Art und Weise wie er den Akt vollzog, tötete all die anderen negativen Gefühle, die sie gerade beherrschten. Sie bekämpfte Feuer mit Feuer. Ihr ging es nicht wirklich gut dabei, als sie der stinkende, eklige Kerl bearbeitete. Aber für zehn Minuten andere Emotionen zu erfahren, als Einsamkeit und Zurückweisung waren es wert. Sie dachte an ihren Vater als er kam, was er wohl empfinden würde, sie in diesem Moment so zu sehen.
Das Gefühl des Triumphes ihn verletzt zu haben, währte nicht lange. Zur Einsamkeit gesellte sich Scham. Das selbe Gefühl der Reue wie nach ihrem Drogenausflug stellte sich ein. Eine Getriebene, die fremdbestimmt das Leben nach ihrem Vater ausrichtete und trotz selbstzerstörerischem Aufwand keinen Schritt voran kam. Wie ein Bergsteiger, der versuchte den höchsten Berg zu erklimmen und immer wieder durch die Schwerkraft ins Tal zurückfällt, empfand sie ihre Einsamkeit als physikalische Konstante. Auch dieser Hilfeschrei würde ignoriert werden. Es war ihr Schicksal allein zu sein und unweigerlich kamen die Selbstmordgedanken. Aber das war nicht ihr Wesen. Sie wollte stark sein, wie ihre Mutter.
Ihre Schwester verkörperte das komplette Gegenteil und so war es nicht verwunderlich, dass sie ihren Verlustschmerz auf eine andere Art und Weise zu verarbeiten versuchte. Freya war vierzehn und ebenso wie Eva voller Einsamkeit. Doch sie wählte den Ausweg ohne Wiederkehr und nur die Fügung glücklicher Umstände verhinderte die Katastrophe. Eine Woche nach Evas sechzehnten Geburtstag wollte Freya ihrem Leben ein Ende setzen.
Die Saat für ihren Entschluss wurde bei der eigentlichen Feier gesetzt. Diese stand von Anfang an unter keinem guten Stern und endete erwartungsgemäß in einem offenen Konflikt zwischen Eva und Plato. Der Streit hatte ihre Entjungferung zum Thema, die ausgerechnet an diesem Tag die Runde machte und schließlich wie gewollt auch ihren Vater erreichte. Es folgte mehr als die herkömmliche Tochter-Vater Rebellion, wie sie fast täglich stattfand. Beide übertrafen sich im gegenseitigen verbalen verletzen.
Die Leittragende war Freya. Es war der letzte Baustein im fragilen Gebilde ihrer Psyche der entfernt wurde und damit den Zusammenbruch hervorrief. Der Sprung von einer Brücke konnte zwar nicht verhindert werden, aber durch rechtzeitige Maßnahmen wurden die Auswirkungen des Aufpralls auf den Bruch des rechten Schienbeins begrenzt.
Während Eva so versessen darauf war ihrem Vater zu schaden, hatten ihre Angriffe eine Streuung erhalten, die mehr und mehr ihre Schwester trafen. Die Geschwister waren so verschieden, dass sie kaum gemeinsame Berührungspunkte hatten. Nach ihrem Selbstmordversuch wurde Eva bewusst, dass sie ihrer Schwester das vorenthielt, was sie von ihrem Vater verlangte. Freya hatte nicht die Kraft, Eva oder Plato damit zu konfrontieren. Sie fraß die Probleme in sich hinein. Der Sprung war ihre Art der Konfliktbewältigung gegenüber ihrem Vater. Wie schon bei Eva, zeigte dieser wenig Verständnis und Können gegenüber seiner jüngeren Tochter. Ein Unfall, mehr war es für die Öffentlichkeit nicht. Ein weiteres problematisches Familienmitglied hätte definitiv das Ende sämtlicher politischer Ambitionen bedeutet. Diesmal mussten Psychologen als Abstellgleis für seinen unwilligen Nachwuchs herhalten.
Für Eva war Freya vor dem Sprung kaum existent. Sie übersah vollkommen die Notwendigkeit einer Hilfe, zu groß waren ihre eigenen Sorgen. Die Reue war groß und zu allem Unglück konnte sie das Versäumte nicht nachholen. Noch während des Krankenhausaufenthaltes verschwand sie hinter den Mauern ihrer neuen Schule und damit aus dem Leben ihrer verbliebenen Familie.
Von diesem Zeitpunkt an war sie nicht nur mental auf sich allein gestellt. Die Betreuung in ihrem neuen Zuhause beschränkte sich auf das Einhalten von Regeln, die sie größtenteils als getarnte Verbote für alles was einer sechzehnjährigen Spaß bringen konnte, wahrnahm. Die nasskalte Umgebung von Lassik sorgte für zusätzlichen Verdruss. Sie wusste es nicht hundertprozentig, aber mit hoher Wahrscheinlichkeit war der Planet ein künstliches Werk der Vorfahren. Die Geologie war geradlinig und flach. Alles wirkte praktisch und wenig verschwenderisch. Flora und Fauna waren an Langeweile und Eintönigkeit kaum zu übertreffen. Hier hatten die Ingenieure als Schöpfer einer neuen Welt Rationalität und Vernunft den Vorzug gegeben und jegliches Gespür für Ästhetik ausgeblendet. Ein einzelner kreisrunder Kontinent diente als kreativer Höhepunkt. Umgeben wurde er von kleinen Inseln, die wie Kirschen um eine Torte angerichtet wurden. Das Klima variierte nur zwischen kalt und eisig, was den häufigen Regen ab und an in Schnee verwandelte. Selten war es wärmer als 15°C. Nasses Wetter war die Konstante auf Lassik und sonnige Tage wurden als willkommene Abwechslung ausgiebig zelebriert.
Zu den Zeiten der Vorfahren diente Lassik als Kornkammer der Galaxie. Der Geschichtsunterricht vermittelte ein ehemaliges Paradies, was sich durch widrige Umstände in den nasskalten Moloch ihrer Heimat verwandelt hatte. Damals gab es eine Nahrungsmittelindustrie, die durch genetisch angepasste Getreidesorten, speziell erzeugten Dünger und der Kontrolle des Wetters das ganze Jahr über Erträge einfuhr. Die Techniker, die Wissenschaftler, aber auch die Bauern, alle waren sie in riesigen Städten auf den Inseln untergebracht. In dieser besten aller Zeiten mussten unzählige Menschen auf Lassik gelebt haben, die alle ihren Unterhalt damit verdienten ein Maximum an Getreide zu erzeugen.
Die große Katastrophe setzte diesem goldenen Zeitalter ein Ende. Wie überall in der Galaxie begann das große Sterben. Innerhalb weniger Wochen reduzierte sich die Bevölkerung auf einen Bruchteil der ehemaligen Bewohner, die vorher so emsig die Menschheit gefüttert hatte. Hartnäckig hält sich die Legende, dass das von Menschenhand veränderte Getreide, welches durch die Wissenschaftler permanent angepasst und verbessert wurde, zur Vergiftung der Einheimischen führte und seinen Weg raus in die Galaxie fand. Eine weitere löchrige Theorie, die versuchte die Katastrophe, die vor Jahrhunderten stattfand, zu erklären.
Nachdem die Verteilungskämpfe ausbrachen, war Lassik eine taktisch wichtige Welt geworden. Die kommenden Jahre geriet sie unter wechselnde Kontrolle, konnte aber nie lange von den einzelnen Konfliktparteien gehalten werden. Einer dieser kurzfristigen Besatzer setzte dem Ringen um die Kontrolle über das Getreide ein Ende. In einem barbarischen Akt beschloss er Lassik seines taktischen Vorteils zu berauben. Die einst so fruchtbaren Böden wurden mit Hilfe einer Chemikalie in karge Wüsten verwandelt. Bis heute besteht der riesige Kontinent aus einer nutzlosen Steppe, auf der höchstens robustes Unkraut wächst. Damit setzte die zweite Entvölkerungswelle auf Lassik ein. Wer konnte verließ den Planeten. Wer nicht das zweifelhafte Glück hatte, sah sich permanenten Hunger ausgesetzt. Unzählige Menschen starben an Nahrungsmittelmangel. Was einst im Überfluss vorhanden war und die ganze Menschheit ernährte, war zum Luxusgut für eine kleine Anzahl Überlebender geworden.
Erst im Zeitalter des Liberators besserte sich die Lage auf Lassik. Bis zu seiner Ankunft war die geschrumpfte Bevölkerung kaum in der Lage zu überleben. Das raue Klima forderte nicht nur aufgrund der Temperaturen zahlreiche Opfer. Hungersnöte reduzierten die Anzahl der Einheimischen auf ein Minimum und die einst so prächtigen Bauten auf den Inseln verfielen in trostlose Ruinen. Unter der Kontrolle des Liberators konnte unter Aufwendung von enormen finanziellen Mitteln wenigstens eine Eigenversorgung wiederhergestellt werden. Es gelang zwar nicht die Wetterkontrollen zu reaktivieren, aber der Einsatz von riesigen Gewächshäusern auf den vom Gifteinsatz verschonten Inseln erlaubte eine regelmäßige Ernte, die je nach Ertrag gute und schlechte Jahre hervorbrachte. Defizite oder Überschüsse wurden im interstellaren Handel ausgeglichen und so gelangten lang vermisste Güter wieder auf den Planeten.
In einer Galaxie in der sich die meisten Menschen von industriell erzeugten Kalorien ernährten, avancierte Getreide zu einem Luxusgut, welches außerhalb von Lassik einen gewissen Wert besaß. Auch wenn sie meilenweit von den goldenen Zeiten der Vorfahren entfernt waren, erblühte Lassik aufs Neue. Mit dem Verschwinden des Liberators begann der Überlebenskampf aufs Neue, aber seine Hinterlassenschaften verhinderten die nächste Katastrophe.
Die Wiedergeburt einer halbwegs stabilen Gesellschaft erschuf neue Probleme. Bestand in den dunklen Jahren eine gewisse Solidarität, die getrieben durch Hunger und Elend die Bevölkerung vor dem Aussterben bewahrte, änderte sich die Struktur zunehmend in eine Klassengesellschaft. Elitäre Kräfte entstanden, die das Machtvakuum nach dem Verschwinden des Liberators nutzten, um ihre eigenen Strukturen aufzubauen. Die Kontrolle des interstellaren Handels war ihr Stützpfeiler zur Ausweitung ihrer Bestrebungen. Mit Hilfe von Korruption und dem Aufbau eigener Seilschaften formten sie den Planeten nach ihren Vorstellungen. Das führte zu Zuständen, die man glaubte längst überwunden zu haben.
Der Hunger war zurück und das einhergehend mit einem Überschuss an Getreide. Während der größte Teil der Bevölkerung nicht wusste, ob sie die nächste Woche überleben würde, gab die privilegierte Minderheit sich Exzessen hin. Die Gewinne des Getreidehandels füllten die Taschen weniger Mogule, was naturgemäß zu Spannungen auf Lassik führte. In ihrem Streben nach maximalen Profit hatten die Mächtigen es übertrieben und die hungrige Masse drohte außer Kontrolle zu geraten. In diese Zeit des brodelnden Vulkans wurde Eva geboren.
Ihrer Familie ging es verhältnismäßig gut. Das politische Amt gewährleistete volle Teller und so blieben die größten Probleme außerhalb ihrer Wahrnehmung. Trotz dieser behüteten Kindheit spürte sie den Wandel von einer halbwegs freien Gesellschaft zu einem Polizeistaat. In jedem Jahr gab es neue Verbote oder Restriktionen, die bis in die Realität einer Grundschülerin durchsickerte. Ein totalitäres System sollte die Revolution des hungernden Prekariat verhindern und alles schien darauf hinzudeuten, dass die Pläne der Elite aufgehen würden.
Es entstand eine Kluft zwischen einer gebildeten Elite mit Zugang zu technischen, militärischen und finanziellen Ressourcen und einer verängstigten Unterschicht an Überlebenskünstlern, deren einziger Daseinszweck darin bestand durch Unauffälligkeit nicht im Gefängnis zu landen. Entlud sich diese Diskrepanz trotz aller Einschüchterung in Gewalt, griffen die Behörden mit voller Härte durch. Im Anschluss an solchen Niederwerfungen von Aufständen folgten brutale Repressalien. Den großen Säuberungen fielen Tausende zum Opfer. Willkürliche Verhaftungen und Standprozesse bändigten die Masse wieder und sicherten das Machtgefüge der wenigen Herrschenden. Das alles wurde gebündelt in der Cereal Inc., die offiziell als Handelsgesellschaft für den interstellaren Handel verantwortlich war. Dort saßen die Strippenzieher von Politikern, Justiz und Militär. Die Hauptstadt stand vollständig unter ihrer Kontrolle und nichts passierte ohne das Wissen der Inc. Einzig ein paar rebellische Inseln entzogen sich den Machenschaften.
Plato war mittlerweile Teil des Systems geworden. Eine erfolgreiche Karriere in der Politik ging einher mit der vollständigen Anpassung an die gesellschaftlichen Gegebenheiten und diese wurden weites gehend von der Inc. vorgegeben. Die Ideale seiner verstorbenen Frau von einem gerechteren Lassik waren längst von der grauen Realität überrollt worden. In dieser Gesellschaft war kein Platz mehr für Träumereien. Moral füllte keine Mägen und so musste er wie die meisten auf diesem kalten Planeten seinen persönlichen Überlebenskampf führen.
Durch diese Anbiederung an die Mächtigen wurde die Inc. ähnlich unausstehlich wie ihr Vater. Für eine rebellische Heranwachsende ein idealer Grund Schule, Gesellschaft und System abgrundtief zu verachten. Ein optimaler Boden für allumfassenden Weltschmerz, aber trotz all dieser Vorlagen fraß sie ihren Frust in sich hinein. Es war gefährlich das vorherrschende Narrativ zu hinterfragen. Eine gewisse Angst konnte sie nicht leugnen, denn die Inc. hatte längst in allen Bereichen ihren Einfluss ausgedehnt. Der Lehrplan triefte nur so vor heiligsprechender Historie der allumfassenden Krake. Die glorreichen Geschichten über die Bekämpfung des Hungers durch die Inc. und die grausamen Schicksale jener, die sich egoistisch gegen das Volk von Lassik wandten und damit tausende Hungertode zu verantworten hatten, wurden bei gesponserten Nachmittagen so lange wiederholt bis auch der letzte Schüler von den guten Absichten überzeugt war.
Die Öffentlichkeitsarbeit der Inc. drang bis in die letzten Winkel der Hauptstadt ein und diente nicht ausschließlich zu Verbesserung des Ansehens. Viel wichtiger war die Erzeugung einer subtilen Angst in der Bevölkerung, um mögliche Gedanken an Aufruhr bereits im Keim zu ersticken. In den letzten Jahren wurde neben der Glorifizierung auf der einen Seite auch ein Alltag aus Denunziationen und Gewalt erschaffen, der schleichend in die Gesellschaft Einzug hielt. Offiziell distanzierte sich die Regierung von den Schlägertrupps, die nach Hinweisen von eifrigen Bewohnern Unzucht, Besitz von illegalen Gegenständen oder Planungen von terroristischen Vereinigungen nachgingen. Trotz der hohen Fehlerquote solcher Aktionen, die nicht selten in Lynchjustiz endeten, gab es höchstens einen formalen Protest. Die Inc. hatte die Lizenz, um Leute für alle Zeit verschwinden zu lassen und das unter dem Deckmantel des Erhalts der gesellschaftlichen Stabilität. Die Trupps etablierten sich im städtischen Erscheinungsbild und wurden irgendwann als normaler Bestandteil des urbanen Lebens eingegliedert.
Ein weiterer Baustein zur Festigung der Machtstrukturen war die freiwillige Mitgliedschaft eines jeden aufrichtigen Bürgers in Inc. nahestehenden Organisationen. Ein soziales Bewertungssystem regulierte die Nahrungsverteilung, die sich hauptsächlich nach Aktivitäten in den verschiedenen Gruppierungen richtete. Niemand wurde gezwungen sich einzubringen, aber der Hunger nötigte zur indirekten Unterstützung der Mächtigen. Evas Mitgliedschaft im Bund der Jugend sicherte ihrer Familie neben gesellschaftlichem Ansehen, auch zusätzliche Nahrungsrationen. Die Inc. war überall. Das große Auge, das alle überwachte und kontrollierte. Wer sich quer stellte, wurde isoliert und sollte das nicht zur Einsicht führen, verschwand der Delinquent als Abschreckung für Nachahmer auf Angst einflößende Weise. Schritt für Schritt wandelte sich Lassik damit zu einem totalitären System.
Einige der wenigen von der Inc. unabhängigen Organisationen war der „Tempel des Friedens”. Ein religiös geführter Personenkult. Der Führer hatte einen Status Quo zur Inc. und obwohl er sich in immer schärferen verbalen Attacken gegen den Einfluss wehrte, blieb die Sekte relativ unbehelligt. Für Eva war es das Auffangbecken, was sie brauchte. Es sollte ihr Gefühl der Einsamkeit lindern.
Der Kontakt entstand über eine Mitschülerin. Diese hatte bereits einige Veranstaltungen des Führers besucht und einen sichtbaren Wandel ihres Wesens durchlaufen. Ähnlich wie Eva befand sie sich im Irrgarten ihrer eigenen Jugend und Frust bestimmte ihr Erwachsen werden. Dieser Zustand der Unruhe änderte sich zuerst in Gelassenheit und entwickelte sich zunehmend in Enthusiasmus. Mit glänzenden Augen und verehrendem Tonfall schwärmte sie für den „Tempel des Friedens” und seine Ideale. Damit drückte sie die richtigen Knöpfe im von Vernachlässigung geprägten Verstand einer Heranwachsenden. Eva opferte eine der wenigen Stunden ihrer Freizeit für einen Besuch und mit der Sehnsucht endlich irgendwo ankommen zu können, folgte sie ihrer Mitschülerin erwartungsvoll. Die ließ es sich nicht nehmen den übergesprungenen Funken weiter anzuheizen.
„Er ist die selbstloseste Person die ich kenne. Für ihn gibt es keine schlechten Menschen. Alle sind es wert geliebt zu werden. Er ermutigt uns dazu seinem Beispiel zu folgen und die Welt mit Zuversicht und Liebe zu betrachten. Ich bin so gespannt, was du von ihm hältst.“ Sie war so aufgeregt und wirkte wie eine frisch Verliebte, die es nicht erwarten konnte ihren neuen Freund vorzustellen. Die Schwärmerei nahm kein Ende und die Geschichten, wie er es schaffte ihr Führung zu geben, glichen einer Erlösung nach jahrelangem Seelenschmerz.
Das Tempelgebäude hatte keinerlei Ähnlichkeit mit einem Hort der Spiritualität. Für einen Erstbesucher wie Eva konnte die Enttäuschung nicht größer sein. Sie standen vor einem seelenlosen Betonklotz, der in seiner quadratischen Form vor Normalität schrie. Der Putz der Fassade war zwar fehlerlos in seiner Zusammensetzung, aber das eintönige Grau wirkte durch grasgrüne Flecken alt und verwittert.
„Du wirst sehen. Was als unanschaulich gilt, zeigt oft mehr Charakter. Das ist es, worum es geht. In dir drin ist dein wahres Ich. Nicht nur das, was deine Hülle den anderen vermittelt“, verteidigte sie das verfallen wirkende Gebäude. Ihre Mitschülerin zitierte den Führer mit einer Begeisterung, die Eva etwas irritierte. Diese Leidenschaft wirkte unheimlich, aber auch ein wenig beneidenswert.
Mit gemischten Gefühlen folgte sie ihr ins Innere. Nach einem schmalen Vorraum betraten sie einen großen Saal, an dessen gegenüberliegender Seite sich eine kleine Kanzel befand. Der ehrfurchtsvolle Blick ihrer Begleiterin auf den Mikrophonständer verriet Eva, dass genau dort die Predigten gehalten wurden. Große Dachfenster erhellten den Raum mit natürlichem Tageslicht und da auf Lassik Sonnenschein eher selten vorhanden war, unterstützten Scheinwerfer mit perfekt abgestimmter Beleuchtung die Wohlfühl-Atmosphäre. Die unnatürliche Stille wurde höchstens durch das Rascheln von Kleidung oder einem kurzen Flüstern unterbrochen. Niemand wagte die heilige Aura des Saals mit unnötigen Geräuschen zu stören. Fast lautlos suchten sie sich zwei Sitze im vorderen Drittel der ordentlich aufgestellten Bankreihen und warteten schweigend auf den Beginn der Predigt. Eva nutzte die Zeit, um die anderen Gäste zu mustern. Offenbar war die Zielgruppe dieser Veranstaltung in ihrem Alter, denn älter als zwanzig schien hier niemand zu sein. Einzig das Personal in den weißen Roben wirkte in ihren ruhigen Bewegungen reifer und ausgeglichener.
Zehn Minuten später war es soweit. Kein Rascheln mehr, kein Flüstern, nur absolute Stille. Als wäre es ein Sakrileg sich in irgendeiner Form zu bewegen, während sich der Führer der Kanzel näherte. Seine Schritte waren ruhig und gelassen, versprühten aber trotzdem eine unbändige Energie, die er bereit war mit seinen Anhängern zu teilen. Eva merkte, wie sie Teil einer Masse wurde, die bereit war seinen unendlichen Vorrat an Güte aufzusaugen. Er postierte sich vor dem Mikrophon und ein mildes Lächeln zierte sein Gesicht. Dieser Mann brauchte keine Worte, um die Menge in seinen Bann zu ziehen. Mit minimaler Gestik schaffte er es erwartungsvolle Blicke in verehrende Begeisterung zu wandeln. Die Ruhe änderte sich in ehrfurchtsvolles Raunen und durch die ermutigende Gestik des Führers dauerte es keine zwei Minuten bis frenetischer Jubel ausbrach. Obwohl er noch kein einziges Wort gesagt hatte, lag ihm die Menge zu Füßen. Er füllte den Saal mit einer Aura aus Güte, Verletzlichkeit und Stärke. Die Natur hatte ihm nicht nur ungewöhnlich gutes Aussehen gegeben, er hatte auch dieses Charismatische an sich, dem sich keiner leicht entziehen konnte. Diese Zusammenstellung aus perfekt abgestimmter Gestik, geheimnisvollem Auftreten und imponierender Ausstrahlung zogen die Loyalität seiner Anhänger an wie ein Magnet.
Eine einzige beruhigende Handbewegung reichte und die Menge änderte ihre euphorische Einstellung in spannungsvolle Erwartung. Seine ersten Worte waren ruhig, aber bestimmt und trotz der hundertprozentigen Aufmerksamkeit konnte Eva keinerlei Aufregung bei ihm ausmachen. Er sprach über die Ungerechtigkeiten dieser Welt und dass gerade die Jugend die Leidtragenden dieser Zeit wären. Seine Stimme gewann an Leidenschaft, als er seinen Schmerz über die Benachteiligung einer ganzen Generation thematisierte und als Schuldige die Politiker von Lassik an den verbalen Pranger stellte.
„Wir können das ändern. Es wird nicht leicht, vielleicht sogar schmerzhaft, aber am Ende sind wir alle bessere Menschen. Die ganze Gesellschaft erfährt einen Wandel zum Guten. Die Ungerechtigkeit, die diese Welt beherrscht, können wir nur gemeinsam bekämpfen. Allein bin ich nicht stark genug und brauche dringend eure Hilfe. Sie brauchen eure Hilfe. Diejenigen, die zu schwach sind.“ Seine Stimme hatte jetzt einen mitreißenden Tonfall angenommen und seine unbändige Energie verschmolz mit der Ehrerbietung seiner Anhänger.
„Schließt euch uns an. Lasst uns gemeinsam Hass, Neid und Missgunst besiegen. Es wird nicht leicht werden, aber wenn ihr die Herausforderung sucht, diese Welt zu einem besseren Ort zu machen, dann lade ich euch ein unter meiner Führung Geschichte zu schreiben. Macht den ersten Schritt und besiegt euren Egoismus, indem ihr den Bedürftigen helft den Ausweg aus der Armut zu finden, hin zur Erleuchtung, die in ein selbst bestimmtes Leben führen wird.“
Er machte eine kurze Pause, um die Wirkung seiner Rede zu verstärken. Jeder sollte die Möglichkeit bekommen, das gerade Gehörte zu verarbeiten. Sein rhetorisches Talent erlaubte ihm genau zum richtigen Zeitpunkt wieder anzusetzen.
„Ihr habt die Möglichkeit euch unter meiner Leitung zu entwickeln, euch selbst zu verwirklichen. Was ich euch biete ist Führung. Was ihr bekommt ist Erleuchtung. Ihr fragt euch sicherlich, was bedeutet diese Erleuchtung?” Wieder eine kurze Pause.
„Ich kenne euren Schmerz und verstehe ihn. Auch ich habe die Qualen der Jugend in diesem System der Unterdrückung erdulden müssen. Nun seht mich an. Ich habe sie überwunden.” Hunderte Augen waren auf ihn gerichtet, so als wollte jedes einzelne das Geheimnis der Erleuchtung erforschen.
„Genauso wie ihr, fühlte ich mich unterprivilegiert, missverstanden und einsam. Ich habe den Ausweg gefunden und ich will euch aufzeigen, wie ihr euer volles Potential ausschöpfen könnt. Ihr alle seid wertvoll und mit Liebe und Hingabe für euch selbst, aber auch für andere, entfalten wir euer wahres Wesen. Folgt mir auf dem Pfad zu eurer Erleuchtung und ich verspreche euch, dass ihr nie wieder einsam seid.“ In diesem Moment fiel sein Blick auf Eva. Diese Güte, aber auch Zielstrebigkeit in seinen Augen zeigte ihr einen Ausweg auf. Zum ersten Mal seit der Tragödie verspürte sie die notwendige Energie den falschen Lebensweg zu verlassen und endlich dem Vermächtnis ihrer Mutter zu folgen. Dieser Mann dort vorne schaffte es den jahrelang angehäuften Frust mit nur wenigen Worten in nützlichen Antrieb zu ändern. Seit vielen Jahren spürte sie wieder lang vermisste Lebensenergie. Der „Tempel des Friedens” war die Möglichkeit neues Vertrauen in ihr Innerstes zu lassen. Noch überwog die Angst erneut verletzt zu werden, aber sie war bereit das Risiko einzugehen. Ihre eigene Familie war nicht in der Lage ihr Halt zu geben und so ergriff sie die Gelegenheit mit der Mitgliedschaft das ersehnte Auffangbecken zu finden.
Ihre schulischen Verpflichtungen verhinderten anfangs ein aktives Mitwirken im Tempel. Die Freizeit war so eng bemessen, dass wöchentlich höchstens zwei Stunden Zeit für den Führer übrigblieben und die nutzte sie, um die Predigten mit Hingabe zu verinnerlichen. Die anfänglichen Vertrauensängste wurden mit jedem seiner Worte weniger und verschwanden irgendwann komplett.
Ihr Alltag bestand hauptsächlich aus Unterrichtsstunden oder betreuten Nachmittagen. Dinge, die nach und nach an Bedeutung verloren. Schleichend kaperte der Führer ihren Verstand und eroberte mit seinen Lehren einen willigen Geist. Die begrenzte Zeit im Tempel wurde mehr und mehr zu ihrem Lebensinhalt. Dieser Ort bescherte ihr Kraft, Zuversicht und vor allen Dingen Hoffnung. Sie machte die Gemeinschaft zu ihrer eigentlichen Familie, die sich nicht über eine gemeinsame Blutlinie definierte. Ihre Verbindung war viel tief gehender und nobler. Ihre Bestimmung war nichts geringeres als die Welt zu verändern.
Wie genau das passieren sollte war vollkommen unklar. Es war ein Teil des Findungsprozesses, eine Reise ins Ungewisse, bei der sich der Führer als erfahrener Mentor zur Verfügung stellte. Gemeinsam würden sie am Ende des Weges die Welt aus den Angeln heben, um eine bessere und schönere Gesellschaft zu erschaffen. In diesem Paradies existierte kein arm oder reich. Keiner würde wegen der Hautfarbe oder einer Behinderung benachteiligt werden und vor allen Dingen würde niemand mehr Hunger leiden müssen. In dieser Vision ohne Standesunterschiede könnten alle ein selbstbestimmtes und erfülltes Leben führen. Das deckte sich mit den Vorstellungen ihrer verstorbenen Mutter. Eva war überzeugt, dass sie in ihrem Sinne handelte und so stieg die Motivation ins Unendliche. Sie sehnte das Ende des Schuljahres herbei. Die vier Wochen in den Ferien wurden in der Regel mit gemeinschaftlicher Arbeit verbracht, was nichts anderes bedeutete als in Inc. nahen Organisationen die Taschen der Mächtigen weiter zu füllen. Die Kontakte des Führers befreiten sie von der freiwilligen Pflicht. Damit konnte sie sich voll und ganz dem Tempel widmen.
Der Zulauf bescherte der Gemeinschaft einen steigenden Zuwachs an Mitgliedern. Wie im Falle von Eva handelte es sich um junge Leute, die sich mit den Idealen kritiklos und schnell anfreundeten. Der Führer lief zur Hochform auf und jedes neue Mitglied schien ihm zusätzliche Energie für seine mitreißenden Ansprachen zu verleihen. Sie waren auf dem Weg die kritische Masse zu erreichen. Jener Punkt an dem die Lawine in Bewegung kommen sollte und alles alte und schlechte davon reißen würde, um Platz für die unendliche Güte des Tempels zu schaffen. Eva spürte die wachsende Kraft, die die Idee zu einer Vision reifen ließ, welche am Ende Realität werden würde. Die Gewissheit unaufhaltsam zu sein, setzte sich in den Köpfen der Jünger fest.
Diese große Bewegung beruhte trotz seines Gemeinschaftsgefühls auf wenig persönliche Nähe. Individuelle Beziehungen jeglicher Art wurden unterbunden und wurden als Sabotage geächtet. Der Schwarm hatte sich der Vision unterzuordnen und sollte seine Energie nicht mit persönlichen Gefühlen innerhalb der Masse verschwenden. Einzige Ausnahme war die Hingabe an den Führer, der sich als eine Art Bienenkönigin berufen sah die wirren Gefühle von Heranwachsenden als Mentor in die passende Richtung zu lenken. Besonders die überkochende Libido, die in der Jugend seiner Mitglieder begründet lag, stellte sich als echte Herausforderung dar. Er schaffte es Enthaltsamkeit als Zeichen von Stärke zu etablieren. Passierte es doch einmal, wurden die Delinquenten öffentlich bloßgestellt und die Enttäuschung mit markigen Worten untermauert. Vor der versammelten Mitgliedschaft mussten sie ihre Sünden beichten und die Missachtung ihrer Tat wurde ausführlich von jedem Anwesenden verurteilt. Die Gemeinschaft zu verärgern galt als größte Sünde im „Tempel des Friedens”.
Die ständig wachsende Gemeinschaft erforderte zwangsläufig die Einführung einer Hierarchie und mit dem entfachten Ehrgeiz alles für die Ideale des Tempels zu tun, sah Eva es als Berufung an von möglichst hoher Position aus die richtigen Weichen zu stellen. Dafür benötigte sie den Respekt ihres Heilands, der den Wettstreit mit ihren Konkurrenten als eine Art Ringen um die besten Positionen genoss. Das Überbieten an blindem Gehorsam und der Eifer die übertragenden Aufgaben mit übertriebenen Tatendrang zu erfüllen, nahm absurde Formen an.
So war es nicht verwunderlich, dass sie eines Tages über das Ziel hinaus schoss. Einer der Bedürftigen wollte von den Anhängern des Tempels nicht erleuchtet werden. Das war im Grunde nichts ungewöhnliches, aber Eva sah ihre Zeit gekommen zu beweisen, dass sie mehr als hundert Prozent hinter der Sache stand. Die Gnade des Führers wischte man nicht mit einer beleidigenden Handgeste einfach hinweg. Sie verbiss sich regelrecht in ihr Opfer, dass sichtlich genervt irgendwann handgreiflich wurde, was sie wiederum mit einer Ohrfeige quittierte. Zu ihrem Unglück wurde das Ereignis medial ausgeschlachtet. Die von der Inc. kontrollierte Presse zerriss die Gemeinschaft nach allen Regeln der Kunst. Eine willkommene Empörung, denn die erneute Nahrungsmittelrationierung ging bei solchen aufgeblähten Skandalen unter.
Die Begeisterung des Führers über ihren Fehler hielt sich erwartungsgemäß in Grenzen und so stand Eva das erste Mal auf der falschen Seite der ritualisierten Demütigung. Vor der gesamten Gemeinschaft musste sie ihren Fehltritt offen kundtun.
„Diese Tragödie darf sich nicht wiederholen. Ich erwarte von jedem absoluten Gehorsam. Die Anweisungen für die Hilfe der Bedürftigen sind eindeutig und wurden hier auf das Gröbste verletzt. Wir müssen zusammenarbeiten. Da draußen gibt es Elemente, die unsere Sache nicht verstehen und uns aktiv behindern. Sie wollen keine Veränderung und versuchen ihre parasitären Vorteile mit allen Mitteln zu verteidigen. Wie können wir solchen Bedrohungen von außerhalb standhalten, wenn wir nicht mal im Inneren eine Gemeinschaft bilden. Darum bitte ich euch Sorgen, zweifelhafte Gefühle oder Gedanken sofort innerhalb der Gruppe zu kommunizieren. Bedenken über andere Mitglieder werden mir sofort mitgeteilt“, hielt der Führer die Standpauke gegenüber der in Ungnade gefallenen Eva und rief damit unverhohlen zur Denunziation innerhalb der Gemeinschaft auf.
Der Rückschlag entmutigte Eva nur kurz und diente als Brandbeschleuniger ihren Ehrgeiz weiter anzuheizen. Sie musste einfach nur lernen diese Energie in bestimmten Situationen zu drosseln, um nicht genau das Gegenteil von dem zu erreichen, wofür sie brannte. Ihre Loyalität galt uneingeschränkt dem Tempel und obwohl die Ungereimtheiten innerhalb der Organisation langsam unübersehbar wurden, erschütterte nichts ihren unbedingten Willen die Vision voranzutreiben. Der Führer war in ihren Augen unfehlbar und all die Zweifel würden sich am Ende als unbegründet herausstellen. Die Verletzung seiner eigenen Grundsätze hatte mit Sicherheit einen tieferen Sinn und sie war sich sicher, dass solche öffentlichen Demütigungen ihn enorm schmerzten. Sie mussten lernen diese ärgerlichen Störungen zu vermeiden. Das ging nur über eiserne Disziplin und so sah sie die Zurschaustellung ihres Fehlers als heilsame Lektion an. Wenn Evas Entwicklung abgeschlossen war, würde sie verstehen, warum die Dinge so sind, wie sie sind.
Nach den Ferien ging es zurück auf die Schule und Eva bedauerte es abseits ihres eigentlichen Lebensinhaltes zu stehen. Es war schwierig den Respekt des Führers wiederzuerlangen, wenn sie ihn höchstens zweimal die Woche zu Gesicht bekam. Zusätzlich dazu fehlte ihr die Gemeinschaft. Im gebündelten Willen der Anhängerschaft die Ziele mit einem Maximum an Energie zu verfolgen, fand sie ihren Sinn des Lebens. Alles was sie vor dem Tempel getan hatte, wirkte bedeutungslos.
Die Inc. kam ihr diesmal zur Hilfe. Im Rahmen der allgemeinen Vereinheitlichung wurde die Schule auf Grund zweifelhafter politischer Auffassungen geschlossen. Ein vorgeschobener Grund, denn politisch war die Schule gar nicht aktiv. Diese Neutralität wurde ihr zum Verhängnis. Der letzte Schritt hin zur vollständigen Kontrolle. Die Inc. ging gegen jene Organisationen vor, die keine unmittelbare Gefahr für sie darstellten, aber mit ihrer Selbstständigkeit nicht hundertprozentig kontrollierbar waren.
Der Tempel blieb weiter unbehelligt, obwohl der Vorwurf zweifelhafter Politik durchaus gerechtfertigt wäre. Das Wissen des Führers über die Leichen im Keller einiger Spitzenpolitiker, ermöglichte ihm die Freiheit seine Visionen der Gleichheit weiter voranzutreiben. Natürlich war auch er nicht frei von Altlasten und so entstand eine Art Status Quo, der ihm vorerst gewisse Freiheiten erlaubte, solange er die Ambitionen der Inc. nicht behinderte. Ein Zustand, der sicherlich nicht ewig halten würde, aber neben seinen rhetorischen Fähigkeiten besaß er ein ähnliches Gespür für das Intrigenspiel der Mächtigen. Der Tempel behielt seine Daseinsberechtigung innerhalb des Mikrokosmos der Inc. Diese entwickelte sich zunehmend zu einem Konglomerat, welches im abzeichnenden Konflikt mit anderen intergalaktischen Großmächten ihren Einfluss von Lassik stetig ausweitete.
Die Gemeinschaft des Tempels, die sich dem Frieden und der Gleichheit aller Menschen verschrieben hatte, begann im Angesicht der fortschreitenden Macht seiner Gegner paramilitärische Übungen durchzuführen. Einer dieser Widersprüche, die das ganze System eigentlich ad Absurdum führen musste, aber die Loyalität erlaubte keine Nachfragen nach dem Sinn von möglicher Gewalt. Die Vision war zum Heiligtum erklärt worden und die Erreichung dieses Ziels rechtfertigte jedes Mittel. Trotz großer Nachfrage stoppte der Führer die Aufnahme neuer Mitglieder und erklärte damit seine Jünger zu einer neuen Elite, die nicht die vorherrschende Meinung der Inc. teilte und damit vorläufig bewaffneten Schutz benötigte. In diesem Moment fühlte sich Eva als eine Art Apostel und mit tiefer Überzeugung verbreitete sie die Ansichten des Tempels auf Lassik. Sie sah sich als privilegierte Abgesandte einer höheren Macht, der sie sich voll und ganz verschrieben hatte.
Mittlerweile 18 und dem Einfluss des Führers ohne große Unterbrechung ausgesetzt, entwickelte sie sich zu einer mustergültigen Idealistin. Ihre Cleverness und ihr unbedingter Wille halfen ihr die Niederungen der unteren Kommandostruktur schnell zu verlassen. Diese Überlegenheit und die Position ihres Vaters, der mittlerweile durch Anpassung an die der Inc. vorgegebenen Spielregeln endlich hohe Ämter in der Politik einnahm und damit auf Grund familiärer Bindungen als potentielle Informationsquelle angesehen wurde, waren entscheidende Vorteile für eine Karriere innerhalb des Tempels.
Als stellvertretende Leiterin der Finanzen hatte sie Einblicke in die Bücher ihrer Gemeinschaft und bereits ein erster Überblick erforderte ein Maximum an Idealismus. Die verwirrenden Geldströme strotzten vor Illegalität und zeigten Verbindungen in die höchsten Ebenen der Politik auf. Sie ignorierte die aufkommenden Zweifel erfolgreich. Was zählte war die Anerkennung des Führers und mit dieser Funktion genoss sie jede Menge Vertrauen bei ihm, dass sie nicht mit unangemessenem Bedenken kontaminieren wollte. Sie lernte schnell keine Fragen zu stellen und dem Dogma „Der Zweck heiligt die Mittel” uneingeschränkt zu vertrauen.
Mit Erreichen der Volljährigkeit brach sie den Kontakt zu ihrem Vater vollständig ab. Die Hoffnung, der Tempel würde aus diesem Grund darauf verzichten ihre familiären Beziehungen zum Wohle der Gemeinschaft zu nutzen, war eine naive Annahme. Der Tag an dem sie vor ihm stehen würde um die Interessen des Führers zu vertreten, würde kommen und obwohl sie dieses zukünftige Ereignis mit aller Macht ihres Verstandes auszublenden versuchte, schwebte es wie ein Damoklesschwert über ihrem Kopf. Die Position innerhalb des Tempels hatte einen furchtbaren Preis und sie ertappte sich des Öfteren, wie sie darüber grübelte, auf welche Art und Weise der Führer diesen Tribut einfordern könnte.
Abgesehen von nützlichen Beziehungen waren Kontakte außerhalb des Tempels nicht gern gesehen. Ausnahmen bestanden in der Beschaffung von Informationen und da wurde ausgerechnet die viel gepriesene Regel der Enthaltsamkeit außer Kraft gesetzt. In den Betten lokaler Politiker wurden einige Geheimnisse preisgegeben, meist mit Hilfe verführerischer weiblicher Reize. Dieses unkeusch erlangte Wissen wurde gebündelt und ausgewertet in einer eigens geschaffenen Abteilung. Gemeinsam mit den Denunziationen innerhalb der Gemeinschaft entstand eine Art Kompendium der Schattenseiten von Lassik. Herrscher über dieses geheime Wissen war Kain.
Auch Eva konnte sich Kains Sammelwut an Informationen nicht entziehen. Ihre Loyalität wurde mehr als einmal auf die Probe gestellt. Auch sie denunzierte Mitglieder und wurde ihrerseits bespitzelt. Sie empfand es als eine Art Disziplinierung, die notwendig war um die eigentliche Vision schneller voran zu treiben. Da es sich meist nur um Kleinigkeiten handelte, akzeptierte sie die Notwendigkeit. Jede Form von unnötiger Ablenkung musste vermieden werden. Die Zunahme an Meldungen ungebührlichen Verhaltens hatte den unangenehmen Nebeneffekt, dass innerhalb des Lager ein Klima des Misstrauens geschaffen wurde. Dein Gesprächspartner konnte in dem Gesagten zweifelhafte Gedanken interpretieren und im schlimmsten Fall Verrat gegenüber der Sache anzeigen. Dieser Mangel an Vertrauen reduzierte Konversationen auf das Notwendigste und so blieben Missverständnisse auf Grund mangelnder Bereitschaft zum Sprechen nicht aus.
In dieser Atmosphäre aus Misstrauen und ständiger Beschäftigung bestanden kaum Möglichkeiten eventuelle Zweifel näher zu hinterfragen. Der Alltag im Tempel war so ausgefüllt, dass für eine Auseinandersetzung mit Widersprüchen keinerlei Zeit blieb. Der Führer hatte es geschafft die Gehirne seiner Jünger in eine Art Dauerstress zu versetzen. Predigten, militärische Ausbildungen und vor allen Dingen die Dogmen und Ziele des Tempels zu verinnerlichen, erlaubten keine Freizeit. Sechzehn Stunden am Tag war die Regel. Das Universum des Tempels hatte seine eigenen Gesetzmäßigkeiten entwickelt und die Tatsache, dass sämtliche Störquellen von außen eliminiert wurden, ließen die mittlerweile absurden Ansichten des Führers zur Normalität werden.
Wie jeder Mann, der vom Nektar der Macht probiert hatte, wollte auch der Führer mehr. Kains Sammlung über die Sünden der Herrschenden von Lassik ermöglichten ihm einen Aufstieg innerhalb der lokalen Regierung. Mit geschickten Erpressungen ergatterte er einen Ministerposten, der auf den ersten Eindruck wenig Einfluss versprach. Von diesem Moment an hatte er Zugang zu den Schaltzentren der Macht. Im Amt für kulturelle Angelegenheiten spann er die ersten Fäden für sein Spinnennetz an Kontakten innerhalb der Regierung. Sein intrigantes Talent ermöglichte ihm schnelle Fortschritte und es dauerte nicht lange bis er von seinen politischen Gegenspielern als ernstzunehmender Kontrahent wahrgenommen wurde. Wie bei einem Schachspiel positionierte er seine Figuren an strategisch wichtigen Stellen, um seinen Einfluss weiter auszubauen. Sein Ziel war die Führungsriege, um langfristig die Geschicke des gesamten Planeten leiten zu können. Seine Vision des Tempels, sollte die Vision von Lassik werden. Gegenspieler würden verschwinden und durch seine Getreuen ersetzt werden. Ein Vorhaben nahe am Größenwahn, aber die Anfänge waren vielversprechend. Stück für Stück tastete er sich an die Macht heran.
Seine großen Pläne brachten zwangsweise Gegenspieler hervor, die naturgemäß andere Vorstellungen von den Regierungsgeschäften hatten. Es war einem Mann namens Dart vorbehalten seinen Machtanspruch zu durchkreuzen. Offenbar war die Munition, die Kain gegen diesen Mann zur Verfügung hatte, nicht ausreichend. Ein ausgeklügelter Plan, ihn durch einen Skandal aus dem Weg zu räumen, scheiterte ausgerechnet an der Loyalität einer seiner Jüngerinnen. Ihr sollte die Schlüsselrolle in der Intrige gegen seinen politischen Kontrahenten zukommen. Angesetzt auf Dart, ihn durch sexuelle Gefälligkeiten angreifbar zu machen, konnte die jahrelange Gehirnwäsche gegen das ganz große Gefühl nicht mehr standhalten. Die viel gepredigte Liebe war in ihrem Falle fehlgeleitet. Sie verriet nicht nur ihren Führer, sondern wirkte auch mit dem Wissen über den Tempel aktiv an der Gegenkampagne mit, die zur Zerstörung seines Lebenstraums führte. Die Sekte war gezwungen die Hauptstadt zu verlassen. Als Folge der Flucht hinterließen sie ein politisches Erdbeben und sorgten für Unruhen innerhalb der Hauptstadt, die nur durch massiven Einsatz des Inc. getreuen Militärs niedergeschlagen werden konnte. Ein paar Bomben aus Kains Arsenal der Informationen kosteten einigen Politikern ihre Ämter. Obwohl die Inc. mittlerweile das alleinige Sagen auf Lassik hatte, war es notwendig geworden Bauernopfer zu bringen, um das Ausweiten der Straßenschlachten zu einer Revolution zu verhindern.
Der Tempel des Friedens war über Nacht zum Inbegriff der Opposition geworden. Die Sehnsucht nach einem besseren Leben für das einfache Volk, ohne die Allmacht der Inc. setzte sich in den Köpfen der Hunger leidenden Unterschicht fest. Die Manifestation als Gegenpol zur herrschenden Kaste war vom Führer so nicht geplant und entwickelte eine ungewollte Eigendynamik.
In der Gewissheit, dass der Veränderungswille eines Volkes nicht vollständig unterdrückt werden konnte, baute die Inc. den Tempel des Friedens gezielt als politischen Gegner auf. Er sollte all die Hoffnung und Sehnsüchte kanalisieren, die ohnehin nur illusorische Trugbilder waren. Damit transportierten sie die Revolutionsgedanken in den Dschungel von Prem und so weit draußen konnten sie keinen Schaden anrichten. Ein Spiel mit dem Feuer, denn das Charisma des Führers konnte schnell in Liebe umschlagen und dann drohte der Inc. ein permanenter Verlust der Kontrolle in der Bevölkerung.
Für diesen Fall konnte der vermeintliche Hoffnungsträger schnell zum Staatsfeind transformiert werden, der Schuld am Elend, dem Hunger und dem schlechten Wetter hätte. Auf Basis ihrer eigenen Informationen über Führer und Tempel starteten sie eine Kampagne, um die neue Hoffnung in ihrem Sinne lenken zu können. Dieser Feind war berechenbar und so steuerten sie gezielt die öffentliche Meinung, um auf unterschiedliche Stimmungen in der Bevölkerung zu reagieren. War die Hungersnot besonders groß, ließ man der Hoffnung auf Verbesserung durch den Tempel besonders viel Leine. Es hielt den Zorn zurück, der sich sonst auf den Straßen der Hauptstadt unkontrolliert seinen Weg bahnen könnte. Auf der anderen Seite brauchte die Inc. einen Sündenbock für unangenehme Entscheidungen und so mutierte der Tempel zu einer zwielichtigen Organisation. Für einen großen Teil der Bevölkerung repräsentierten die Rebellen auf Prem eine Utopie von einer besseren Zukunft für alle. Doch nicht wenige sahen den Führer und seine Eskapaden als wesentlichen Grund für ihr Elend. Eine sehr perfide Form von „teile und herrsche“.
So war es nicht verwunderlich, dass die Inc. den Tempel des Friedens an ihrem Zufluchtsort gewähren ließ. Die Insel Prem war weit weg. Es wäre ein Leichtes für das Militär der Inc. gewesen die schlecht ausgebildeten und technisch heillos unterlegenen Mitglieder des Tempels zu überrollen. Daran war den Mächtigen nicht gelegen. Märtyrer würden unkontrollierbaren Schaden anrichten und so nutzte man den Feind zur Manipulation der eigenen Bevölkerung. Es war der Joker, sollten die Dinge in der Hauptstadt vollends aus dem Ruder laufen. Erst wenn das Volk blutdürstig wurde, käme die Inc. auf den Tempel zurück. Bis dahin war das Treiben auf Prem eine willkommene Ablenkung für die eigentlichen Probleme auf Lassik.
Die Flucht aus der Hauptstadt machte es notwendig neue Wege zur Verwaltung des Tempelvermögens zu finden. Über Außenstehende wurden die Geschäfte weiter geführt, welche naturgemäß nicht mehr so einfach koordiniert werden konnten. Ein hoher finanzieller Verlust stand am Anfang, aber mit der Zeit entwickelten sie ein ausgeklügeltes System. Die Komplexität erschwerte Evas Arbeit enorm und sie brauchte eine Weile ehe sie sich in die veränderten Gegebenheiten eingearbeitet hatte. Die neuen Finanzflüsse waren schwer zu durchschauen, doch am Ende war sie eine der wenigen, die sich einen Gesamtüberblick verschaffen konnte.
Bei ihren Strohmännern in der Hauptstadt handelte es sich zum größten Teil um willige Sympathisanten, die im Tempel eine Art Hoffnung auf ein besseres Leben sahen. Die Treffen fanden ausschließlich persönlich statt und so war einer der Vorteile von Evas Posten, dass sie regelmäßig Prem verlassen konnte, um Einzelheiten über bestimmte Transaktionen zu erörtern.
Der Einblick in die komplexen Geschäfte nährten Evas unterdrückte Zweifel über das System des Tempels aufs Neue. Die große Geldschieberei über Mittelsmänner verschleierte die wahre Identität der Investoren im Hintergrund. Genau genommen kopierte der Führer die Methoden der Inc., denn auch dort befand sich die eigentliche Machtzentrale im Verborgenen. Nicht das öffentliche politische Leben entschied über das Wohl der Bevölkerung, sondern die finanzielle Elite im Hintergrund. Somit bestimmten auswärtige Kräfte über grundlegende Entscheidungen innerhalb der Gemeinschaft. Der Führer konnte sich den Interessen der Strippenzieher kaum entziehen und war zu Entscheidungen gezwungen, die seinen Jüngern immer schwerer zu vermitteln war.
Dieses Handeln widersprach den sozialistisch geprägten Strukturen von Gleichheit innerhalb der Organisation. Doch das geschaffene Klima aus Angst und Misstrauen verhinderte ein Auseinandersetzen mit seinen offensichtlichen Fehlentscheidungen. Unangemessene Fragen zu stellen oder sogar Hinweise auf die Verletzung der eigenen Regeln, konnten einem schnell die Stellung kosten. Eine Zwangsversetzung zu den Bautruppen, die ihren neuen Heimatort auf mehr oder weniger sinnvolle Art veränderten, brachte so manchen Zweifler auf den Weg des Glaubens zurück. Eine Gewissheit durfte innerhalb des Lagers nie angezweifelt werden. Der Führer war unfehlbar. So schwieg Eva, um die wenigen Privilegien ihrer Position nicht zu verlieren. Sie vergrub ihre Zweifel tief in sich hinein und passte sich damit den vorherrschenden Bedingungen an.
Einer ihrer Klienten war ein Ladenbesitzer namens Eric. Seine Begeisterung für den Tempel war eher geringer Natur, dafür war das persönliche Interesse an Eva äußerst ausgeprägt. In Kombination mit dem guten Gefühl außerhalb des drögen Alltags etwas Aufregendes zu erleben, riskierte er seine ganze Existenz, indem er für eine geringe Provision sein Konto den finanziellen Machenschaften der Gemeinschaft zur Verfügung stellte. Offensichtlich war es Eric gar nicht bewusst, welche Konsequenzen ihm drohten, sollte die Inc. dieses Treiben bemerken. Seine naive Einstellung machte es Eva leicht ihn zu beeinflussen. Sie spielte gekonnt mit ihren Reizen und hatte jedes Mal ein schlechtes Gewissen, ihn auf diese Art und Weise zu Dingen zu bewegen, die ihm im schlimmsten Fall als Hochverrat ausgelegt werden konnten.
Eric war der Typ Mensch, der überwiegend Abneigung hervorrief. Dieses zweifelhafte Privileg der Einsamkeit hatte seinen Ursprung in seiner Jugend. Ein Einzelgänger, der sich lieber mit technischen Zusammenhängen beschäftigte, als sich bei Partys zu vergnügen oder wie andere in seinem Alter das weibliche Geschlecht zu erforschen. Freunde hatte er ohnehin nicht und so konnte er seinem Faible für Technik uneingeschränkt nachgehen. Dieses Abtauchen in eine Welt voller Schaltkreise und dem vollständigen Mangel an sozialen Kontakten, ließ ihn schnell sonderlich werden. Er erschuf sich sein eigenes kleines Universum, dass gespeist wurde aus unzähligen Büchern, die größtenteils aus mathematischen Gleichungen bestanden. Hier war alles logisch und nachvollziehbar, ganz im Gegenteil zu seinen Mitmenschen die irrational und triebhaft zweifelhafte Entscheidungen trafen.
Er begriff die grundsätzlichen physikalischen Zusammenhänge und auf dieser Basis betrieb er diesen Laden, der im Wesentlichen aus dem Handel von technischen Komponenten bestand. Ein einträgliches Geschäft, was ihm ein recht angenehmes, aber auch eintöniges Leben ermöglichte. Die wahren Abenteuer fanden außerhalb der Hauptstadt statt und die meisten Schatzsucher, die es wagten in den umliegenden Ruinen nach Technikschrott zu suchen, kamen in seinen Laden, um ein paar Jetons für ihre Beute zu ergattern. Sein technisches Verständnis erschuf daraus neue brauchbare Dinge. Vieles geschah dabei intuitiv und manchmal überraschten ihn die Ergebnisse selber. Wie ein Künstler kombinierte er bestimmte Teile zu eigentlich nicht funktionalen Werkzeugen. Sein Wissensdurst versuchte dann eine Erklärung für die Wunder zu finden, aber die unzureichend ausgestatteten Bibliotheken waren dahingehend nicht ergiebig. Ab einem bestimmten Punkt bestanden auch für ihn die Relikte der alten Welt hauptsächlich aus Magie. Ein unbefriedigender Zustand, die Dinge auf Grund mangelnden Wissens nicht erklären zu können. Zum Glück hatten die Vorfahren ihre Technik aus modularen Bausteinen entwickelt, um ein Maximum an Flexibilität zu erreichen. Das Wissen, wie Energiequelle, Steuerung und operativer Teil modifiziert werden mussten, um Dingen wie elektronischen Spielzeugen bis hin zu industriellen Schneidlasern Leben einzuhauchen, brachten ihm einen guten Profit in einer Welt von ahnungslosen Anwendern.
Neben seiner Naivität und seinem enormen technischen Wissen, war seine Arroganz ein wesentlicher Bestandteil seiner Persönlichkeit. Seine Eltern waren roboterhafte Wesen, die ihren Nachwuchs mit dem Ziel maximaler gesellschaftlicher Akzeptanz groß zogen. Dieser Versuch einen Spitzenbeamten von Morgen zu schaffen, der durch ein Übermaß an Anpassung ein Netzwerk von Kontakten knüpfte und somit in die besten Kreise der Gesellschaft vorstoßen würde, ging furchtbar schief. Durch den Entzug von elterlichen Bindungen lernte er nie die grundlegenden Verhaltensweisen im Umgang mit anderen Menschen. In seiner Leid geprägten Jugend entwickelte er eine Art Schutzfunktion, die in dem Glauben bestand, er sei was Besseres. Der einzig wahre Weg zum Erfolg bestand darin nicht den üblichen Verhaltensmustern zu folgen. Als er merkte, dass er mit seinem angelernten technischen Wissen und seinem gut laufenden Geschäft immer mehr Vorteile gegenüber seinen ehemaligen Schulkameraden besaß, bestärkte es ihn in dem Glauben, seine sonderliche Art wäre die einzig Richtige und alle anderen würden dem Irrweg der Masse folgen. Seine Naivität ergänzte das übersteigerte Bild von sich selbst und brachte den seltsamen Menschen hervor, den Eva heute vor sich hatte. Für ihn bestand keine Notwendigkeit sich der Welt anzupassen, eher war es von Vorteil, dass sich die Welt an ihn anpasste.
Mit dieser Einstellung tendierte seine Anzahl an Freunden gegen null. Mit seinen dreiundzwanzig Jahren hatte er keine nennenswerten sozialen Kontakte. Nur die gezielt gedrückten Knöpfe von Eva gaben ihm das Gefühl jemanden etwas zu bedeuten. Da auch sie innerhalb des Tempels niemanden mehr trauen konnte und damit sozial isoliert war, hatten die beiden eine Art Beziehung, deren Beschreibung jeder Psychologe als Herausforderung betrachten würde. Symbiotisch war wohl das Wort, was es am ehesten beschrieb. Er war ihr Kontakt zu einer Welt, in der sie sich nur schwer zu Recht finden würde. Über ihn bekam sie Informationen außerhalb der Zensur des Tempels. Neue Nahrung für die Zweifel am System auf Prem. Trotzdem gab es für sie keine Alternative zum Führer. Das änderte sich erst, als sie von der Krankheit ihrer Schwester erfuhr. Der Wille alles zu tun, um sie zu retten, stand dem unbedingten Gehorsam ihrer Kameraden gegenüber. Dieser Konflikt verschärfte sich, nachdem der Führer jegliche Unterstützung verweigerte. Die knappen Ressourcen konnten seiner Meinung nach nicht für tot geweihte Außenstehende verschwendet werden. Als stellvertretende Leiterin der Finanzen war ihr der Hohn dieser Worte bewusst. Der finanzielle Aufwand geeignete Maßnahmen einzuleiten, wäre verhältnismäßig gering gegenüber dem vorhandenen Vermögen. Auf Grund dieser Ungerechtigkeit, war sie bereit für den Bruch mit dem Tempel, sollte es ihrer Schwester helfen.
Es war ihr nicht möglich persönlich mit Freya oder ihrem Vater zu sprechen. Eine der ungeschriebenen Regeln des Führers bestand darin familiäre Kontakte zu meiden. Offiziell gab es das Verbot nicht, aber das Ansehen innerhalb der Gemeinde und damit lukrative Posten waren abhängig von der Disziplin gegenüber nicht erwünschter Aktionen mit Außenstehenden. Das sie durch Eric überhaupt auf dem neusten Stand war, stellte sich als Glücksfall heraus. Jeder Besuch brachte Neuigkeiten über den Zustand ihrer Schwester, der sich zu ihrem Bedauern weiter verschlechterte.
Dieser Austausch von Nachrichten stellte sich nicht so einfach da, wie sie erhofft hatte. Aus den Erfahrungen der Vergangenheit, war es keinem Mitglied erlaubt sich alleine den Versuchungen der Hauptstadt auszusetzen. Regelmäßig wurde sie bei ihren Reisen von Dana begleitet. Einer besonders eifrigen Jüngerin, die glücklicherweise mit einer gesunden Portion Naivität gesegnet wurde. Eine solide Grundvoraussetzung für die Aufnahme im Tempel. Laut dem Führer sollte niemand in der feindlichen Welt vom rechten Weg abkommen. Bei Zweifel war immer jemand da, der die Lehren zitieren konnte. Bei jeder Rückkehr nach Prem, gab es ausführliche Berichte über die Ereignisse, in der eventuelle Verfehlungen des Partners besonders hervorgehoben wurden.
Für Dana war Eric nicht nur ein Ungläubiger, der sich über den Führer und die Gemeinschaft lustig machte. Ihre Abneigung ging viel tiefer. Seine arrogante Einstellung ihr gegenüber, seine verletzende Art zu sprechen und diese Attitüde dem Rest der Menschheit überlegen zu sein, nährte ihren ungesunden Hass. Dieser Umstand gab Eva die Möglichkeit, mit ihm allein zu sein. Sie heuchelte ihr vor, besondere Maßnahmen wären notwendig, um die Kooperation von Eric zu ermöglichen. Besonders keusch erzogen und überglücklich, die vom Führer genehmigten Sondermaßnahmen nicht selber ausführen zu müssen, ließ Dana die beiden für jeweils eine halbe Stunde allein. Zu den angedeuteten sexuellen Handlungen kam es allerdings nie. Eva war froh, dass sie zum Wohle des Tempels nie zu solch drastischen Maßnahmen greifen musste. Was für andere Mitglieder gewohnte Praktiken und abgesegnete Mittel zum Zweck waren, kam für sie nicht in Frage.
Es war riskant Nachrichten auszutauschen und noch riskanter war es in irgendeiner Form ihrer Schwester aktiv zu helfen. Sie musste etwas gegen ihre Hilflosigkeit tun und sei es auch noch so banal. Zum Glück war Eric leicht davon zu überzeugen gewesen und er hatte die Idee mit den Bluttests, die eventuell einen geeigneten Spender hervorbrachten. Die praktische Umsetzung stellte sich als schwierig da, aber gemeinsam hatten sie einen guten Weg gefunden. Mit Hilfe eines eigens für diesen Zweck von Eric konstruierten medizinischen Instruments, schaffte sie es fast die komplette Mitgliedschaft des Tempels zu testen und das ohne ihr Wissen. Für die paar Tropfen Blut reichte ein minimaler Einstich, der durch ein Narkotikum vollends unbemerkt blieb. Eric sorgte dafür, dass die Proben gegen einen gewissen Obolus analysiert wurden.
Für diese Tests brauchte sie Geld und da kam ihr das perfide Finanzsystem des Tempels zu Gute. Obwohl sich kaum einer besser auskannte in dem Zahlendschungel, musste sie vorsichtig sein. Sie leitete kleine Beträge um, so dass innerhalb des verschlungenen Geldwäschesystems mit seinen tausenden Transaktionen die Zweckentfremdung dem normalen Beobachter nicht auffiel. Ein mühsamer Weg, denn durch die minimalen Beträge begrenzte sie die Anzahl der Untersuchungen.
Es war an Evas 25. Geburtstag, als sie wieder auf dem Weg in Erics Laden war. Nicht dass man auf Prem die Geburtstage feierte, aber es war einer ihrer wenigen Stützen, eine Art inneren Kalender zu behalten. Das Leben vor dem Tempel verblasste immer mehr und der Kult wurde zur Gewohnheit. Auch wenn der Führer hundert Prozent für die Idee forderte, war sie nie der Überzeugung gewesen alle Geschehnisse der Vergangenheit auslöschen zu müssen. Erfahrungen waren ein Teil von ihr. Sie formten ihren Charakter und als die ersten Zweifel an der Vollkommenheit der Sache aufkamen, hielt sie sich umso fester an den wenigen Erinnerungen außerhalb des Tempels fest. Die spirituelle Reinigung, die der Führer predigte, war nur die Bereitung des Nährbodens für die Saat seines verkorksten Dogmas. Wie ein Gärtner, beackerte er die Gedanken seiner Jünger, aber für Eva stand fest, dass nicht alles Unkraut in ihrer Vergangenheit war. Gerade die Erinnerungen an ihre Geburtstage wollte sie nicht so einfach dem Tempel opfern, beinhalteten sie doch die schönsten gemeinsamen Momente mit ihrer Mutter.
Den Drang ihrer Schwester zu helfen, betrieb sie mit dem gleichen Ehrgeiz, den sie aufbrachte, um gegen ihren Vater zu rebellieren oder um den Führer zu beeindrucken. Natürlich wurde auch unabhängig von ihr nach geeigneten Spendern gesucht, aber die Ergebnisse waren bisher alle negativ. Auch sie hatte kein Glück. Einen Plan, für den Fall der Fälle den geeigneten Spender dann dazu zu bringen die Transfusion durchzuführen, gab es bisher nicht. Ihr Gebilde aus Diebstahl und Heuchelei gegenüber dem Tempel war fragil und sie war sich bewusst, dass es nicht ewig so weiter gehen würde. Ausgerechnet bei diesem Besuch bei Eric drohte alles zu kippen.
„Müsst ihr immer zu zweit kommen?“, fragte Eric während er abschätzig auf Dana blickte. Normalerweise gab es erst ein verhaltenes Lächeln für Eva, bevor er sich über ihre Begleiterin ausließ. Eine Änderung des Rituals beunruhigte sie. Irgendwas stimmte nicht.
„Auch du wirst irgendwann von der Erleuchtung des Führers erfüllt werden. Materieller Besitz und unkeusche Gelüste wird es dann für dich nicht mehr geben. Nur noch Zufriedenheit und Erfüllung“, antwortete Dana in ihrem gelassenen Tonfall, mit dem sie solche Unhöflichkeiten zu kontern pflegte.
„Ja ja, da freue ich mich schon drauf. Könntest du jetzt bitte gehen?“ Er deutete ungeduldig auf den Raum nebenan.
Eva wandte sich Dana zu und flüsterte ihr ins Ohr.
„Er scheint heute besonders begierig zu sein. Ich habe ein wenig Angst“, schürte sie den Fluchtreflex. Auf Danas Feigheit war Verlass.
„Denke immer an den Führer dabei, das wird dir Kraft geben. Er ist bei dir in der schweren Zeit“, erwiderte sie aufmunternd und ihre Erleichterung nicht an Evas Stelle zu sein, konnte sie nur schwer verbergen.
„Danke. Ich werde dir hinterher alles Notwendige erzählen.“ Dana verließ mit schnellen Schritten den Raum.
„Glaubt die immer noch wir würden … Wie naiv ist die denn? Manchmal sind wir nur zehn Minuten allein.“ Er grübelte kurz.
„Moment mal. Was erzählst du ihr denn, wenn es nur zehn Minuten dauert?“, fragte er misstrauisch.
„Da fällt mir schon eine Geschichte ein. Aber das ist jetzt nicht wichtig.“
„Doch ich finde schon“, unterbrach er sie.
„Eric. Was ist los? Stimmt irgendwas nicht?“
Das Männer sich nur auf ein Problem konzentrieren können war ein Klischee, aber bei Eric stimmte es. Es dauerte einen Moment, ehe er den Schalter von seinen angeblichen sexuellen Unzulänglichkeiten wieder auf die eigentliche Frage umlegte.
„Oh ja. Großes Problem. Die Blutproben, die du mir gegeben hast.“
„Haben wir einen Treffer?“, unterbrach sie ihn.
„Würde ich dann von einem Problem sprechen?“, fragte er ziemlich herablassend. Am Anfang hatte Eva Probleme mit dieser Art von Kommunikation gehabt, aber mittlerweile wusste sie diese Worte im Kontext mit Erics Persönlichkeit gut einzuordnen.
„Stimmt irgendwas mit den Ergebnissen nicht?“ Sie musste ihre Stimme dämpfen, damit Dana im Nachbarraum nicht misstrauisch wurde.
„Ich habe keine Ergebnisse. Das ist aber nicht das Schlimme. Alle, die mit diesen Proben zu tun hatten, sind tot oder verschwunden. Larry, unser Mittelsmann. Weg. Der Assistent, der die Untersuchungen vornimmt. Vom Dach gestürzt. Der Dienst habende Arzt. Verschwunden. Das sind nie und nimmer Zufälle. Ich habe Angst, dass ich der Nächste bin.“ Er klang panisch. Seine Stimme überschlug sich.
Eric hatte nie persönlich Blutproben im Krankenhaus abgegeben, was ihm jetzt vermutlich zu Gute kam. Eva war es, die darauf gedrängt hatte noch eine Station dazwischen zu schalten. Ein Tagelöhner namens Larry war der eigentliche Bote.
„Was ist passiert?“, fragte sie angesteckt von der Panik.
„Das „Bayreuth“. Die üble Spelunke in der Larry praktisch wohnt. Ich wollte ihn wie immer da treffen. Er war wohl seit zwei Tagen nicht mehr da. Den Tod und das Verschwinden der Mediziner hab ich aus der Zeitung.“ Er reichte Eva das Pad, die sofort nach den passenden Artikeln suchte. Wie immer musste sie zwischen den Zeilen lesen. Ein Todesfall in öffentlichen Gebäuden konnte auch von der Inc. kontrollierten Presse nicht einfach ignoriert werden. Von einem tragischen Selbstmord des Assistenten war die Rede, während ein anderer Artikel die Abwesenheit des zuständigen Arztes mit der Befragung bei der Behörde für staatliche Angelegenheiten erklärte.
„Die BsA. Selbst ihr in eurem Wald wisst, was das bedeutet. Ich geh jede Wette ein, dass Larry ebenfalls da ist.“
Soviel Kombinationsgabe hätte sie Eric nicht zugetraut. Sie hielt ihn immer für den naiven, weltfremden Eigenbrödler und jetzt musste sie feststellen, dass sie selber nie die richtigen Schlüsse gezogen hätte. Wieder wurde ihr schmerzlich bewusst, dass ihr die Welt dort draußen vollkommen fremd geworden war. Ein Grund mehr dem Tempel den Rücken zu kehren.
„Der Geheimdienst ist hinter uns her?“
„Ganz genau. Das nächste Glied in der Kette bin ich. Dann kommst du und dann derjenige, dem die Proben gehören. Was sind das eigentlich für Leute?“, fragte er Eva.
„Neumitglieder“, wiegelte sie ab. Tatsächlich waren es „Erwerbungen“, die zur Belustigung der Truppe dienten. Die Moral auf Prem war schlecht und um der Unzufriedenheit etwas entgegenzusetzen, bediente sich der Führer des Brot und Spiele Prinzips. Die Angst vor alles und jedem im Lager war so groß, dass die armen Geschöpfe als Ventil herhalten mussten. Der angestaute Frust jedes Einzelnen sollte sich in einem barbarischen Schauspiel entladen und so gab es regelmäßige Treibjagden durch den Wald. Sie hatte es geschafft noch am selben Tag ihrer Ankunft allen sechs Opfern Blutproben zu entnehmen. Trotz des großen Risikos war sie sich sicher gewesen, dass niemand etwas bemerkt hatte. Einen Tag später war sie über die üblichen Schleichwege in die Hauptstadt gelangt und hatte die Proben Eric übergeben. Drei Tage danach, hatte sie Dana unter einem halbwegs plausiblen Grund überzeugen können, noch mal hier her zu kommen. Diese würde sicherlich Kain darüber informieren, aber Eva hatte eine gute Geschichte, um den erneuten Besuch zu rechtfertigen.
„Was immer das auch für Leute sind. Ihr Blut hat hier für mächtig Aufregung gesorgt.“
„Wie gut kannte Larry dich? Hast du meine Empfehlungen beherzigt?“, fragte sie leicht panisch, weil Erics Kettengeschichte ihr bewusst machte, dass sie sich mehr als sonst in Gefahr befand.
„Nur mein Gesicht. Keine Kontaktdaten, weder Namen noch Adresse. Mit solchen Typen schließt man zum Glück keine langfristigen Freundschaften.“ Er klang etwas erleichtert.
„Gut. Jetzt müssen wir nur noch rausfinden, warum das BsA sich eingeschaltet hat.“
„Was? Bist du verrückt?“ Die Panik war zurück in seiner Stimme.
„Ich habe keine Lust auf den BsA-Bunker. Wenn man da überhaupt wieder rauskommt, ist man nicht mehr derselbe.“ Seine Stimme war jetzt so laut, dass Dana mit Sicherheit jedes Wort mitbekommen hatte.
„Na toll. Jetzt muss ich mir Dana gegenüber was einfallen lassen.“ Sie war genervt und das bisschen Sympathie, was sie Eric gegenüber aufbrachte, reichte nicht mehr, um ihre Wut zu unterdrücken.
„Ich bin sicher, da bist du ähnlich kreativ, wie in deinen zehn Minuten Geschichten.“ Auch er war genervt. Unter diesen Umständen war es unmöglich ein konstruktives Gespräch hinzubekommen.
„Du hast damals beschlossen uns zu helfen. Mit der Entscheidung musst du jetzt leben. Halt dich bedeckt. Ich werde in drei Wochen wieder hier sein und dann weiß ich vielleicht genaueres.“ Sie wollte gehen, als ihr einfiel, weshalb sie die Schwierigkeiten eigentlich auf sich nahm.
„Hast du Neuigkeiten von Freya?“, fragte sie, als hätte es den Disput gerade nicht gegeben.
„Nein. Seit den letzten zwei Tagen nichts Neues. Und jetzt geh.“ Sein Tonfall verriet, dass er nicht gewillt war weiter mit ihr zu diskutieren. Sie verließ den Raum und wenig später gemeinsam mit Dana auch das Geschäft.
Die Schwebebahn war das öffentliche Verkehrsmittel der Hauptstadt. Ein Relikt aus besseren Zeiten, dass aus Mangel an Ersatzteilen wenig Sicherheit ausstrahlte. Trotz der steigenden Zahl an Unfällen, wurde es durch die Inc. weiter betrieben. Das ideale Transportmittel um in die Außenbezirke zu gelangen. Auf dem Weg zur nächsten Haltestelle nutzte Eva Danas naive Einstellung, um eine Geschichte über Erics angsterfüllte Bemerkung über die BsA zu ersinnen. Ein wirrer Mix aus sexueller Verweigerung und Drohung mit dem Geheimdienst. Dana würde das sicherlich in dieser Form an Kain weitergeben und da bestand die wahre Herausforderung für ihr Lügengebilde.
In der Schwebebahn unterhielten sich die beiden nicht. Zu groß war die Gefahr, dass jemand zuhörte und die richtigen Schlüsse zog. Eva hatte Zeit ihren Gedanken nachzuhängen. Ihr wurde bewusst, dass der Aufenthalt auf Prem dem Ende zuging. Auf die eine oder andere Weise würde sich ihr Leben in naher Zukunft verändern. Die wahrscheinlichste Option war das Entdecken ihrer finanziellen Machenschaften gegen den Tempel. Das Abzweigen konnte nicht für immer unentdeckt bleiben und bei Diebstahl kam sie nicht mit einer Strafversetzung zu den Bautruppen davon. Der Tod war in solchen Angelegenheiten die Mindeststrafe. Sie würde einfach verschwinden und im Lager war ihr Name, ihr Tun, ihre ganze Existenz ein Thema, dass nie wieder angesprochen werden durfte.
Die einzige Möglichkeit dem zuvor zu kommen, war die Flucht in die Hauptstadt. Eines Tages würde sie sich einfach absetzen und Dana allein zurückkehren lassen. Aber was dann? Wo und vor allen Dingen wie sollte sie leben?
Sie schaute hinab auf die Umgebung unter ihr. Der Regen verstärkte das graue Elend auf Lassik. Wie Insekten, die Schutz vor der Nässe suchten, wuselten die Bewohner über die Straßen. Die wenigen elektrischen Personentransporter wirkten wie Käfer, die sich durch ein Gewimmel von Ameisen drängelten. Über allen zogen sich die Schienen der Schwebebahn, wie Spinnweben hinweg. Nur noch wenige Bahnen waren aktiv. Strom war auf Grund eines geothermischen Kraftwerks im Überfluss vorhanden, doch das Ersatzteilproblem beschränkte sich nicht nur auf komplizierte Steuerungschips. Auch simple Dinge wie Kupfer oder Glasfaserkabel waren nicht ausreichend vorhanden. Das einst schier unerschöpfliche Reservoir von Elektronikschrott, aus den Städten der umliegenden Inseln, ging dem Ende entgegen. Als die Sachen noch im Überfluss vorhanden waren, wurden sie verschachert an intergalaktische Händler. Wie viele Politiker vor ihnen, machte die Regierung den Fehler, den kurzfristigen Profit über vorausschauende Weitsicht zu stellen.
Die Verwaltung konzentrierte sich darauf, das Zentrum mit Strom, Wasser und sonstigen notwendigen Dingen zu versorgen. Die Randgebiete verfielen und beherbergten Flüchtlinge, die bei der Regierung in Ungnade gefallen waren. Ein Überlebenskampf, den sie schwer gewinnen konnten. Auf der Flucht vor dem Tempel und als Staatsfeind der Inc., drohte Eva das gleiche Schicksal. Ihr Weg kannte am Ende nur den Tod. Diese Erkenntnis minderte nicht den Willen, alles für das Überleben ihrer Schwester zu tun. Ganz im Gegenteil. Es spornte sie an, dem Unausweichlichen einen guten Grund zu geben. Nachdem sie in ihrem kurzen Leben mehrfach falsche Entscheidungen getroffen hatte, war sie sich diesmal sicher das Richtige zu tun. Im Tempel waren die Hilfsmöglichkeiten für Freya erschöpft. Es wurde Zeit für die letzte und entscheidende Stufe des Verrates und dafür brauchte sie umfangreiche finanzielle Mittel.
Die Schwebebahn erreichte die Endhaltestelle. Von hier aus mussten sie zu Fuß weiter. Etwa zwei Stunden dauerte der Marsch durch die Ruinen, bevor sie mit einem Personentransporter bis zur Küste fuhren und mit Hilfe eines Bootes nach Prem übersetzten.

V

„Es ist gefährlich Anderen etwas vorzumachen, denn es endet damit, dass man sich selbst etwas vormacht.“

Eleonora Duse

 

Im Lager angekommen, ging es umgehend zu Kain. Es jagte ihr jedes Mal eine zusätzliche Angst ein, ihm Bericht zu erstatten. Sie brauchte dieses Gefühl ihm gegenüber nicht kaschieren, denn Furcht war das vorherrschende Element auf Prem. Misstrauisch würde er werden, wenn sie keine hätte. Zu ihrer Überraschung war auch der Führer anwesend. Mit entsprechend ungutem Gefühl, traten Dana und sie den beiden gegenüber.

„Hallo Dana, hallo Eva. Ich hörte von eurer aufopfernden Arbeit dem Tempel gegenüber und wollte sicher gehen, dass ihr gesundheitlich in Ordnung seid.“ eröffnete der Führer fürsorglich die Rapportrunde. 

Wie fast immer in Gegenwart des Führers, herrschte eine Art Beklemmung unter seinen Jüngern. Eva war überzeugt in Gegenwart einer solchen starken Persönlichkeit konnten Worte ihrerseits nur dummes Geschwätz sein. Wie auch die meisten anderen, zog sie es daher vor lieber nichts zu sagen.

„Solch wichtige Angelegenheiten, mit denen ihr betraut seid, bedarf es einer gewissen Sorgfaltspflicht euch gegenüber. Ich kenne diese Welt dort draußen mit ihren Sünden und Versuchungen. Der Pfad zur Erleuchtung ist steinig und schwer. Es ist mir ein persönliches Anliegen, dass ihr die guten Fortschritte hin zu einem erfüllten Leben, nicht durch leichtfertige Fehltritte wieder zu nichte macht. Daher bitte ich euch, Hauptmann Kain ohne falsche Scham alle Tätigkeiten bis ins kleinste Detail zu erzählen. Ich will sicher gehen, dass euch da draußen kein geistiger Schaden zugefügt wird.“

Die Panik stieg in Eva hoch. Es war schon schwer genug die Lügengeschichte gegenüber Kain glaubhaft rüber zu bringen. Wie sollte sie den Führer täuschen? Es war unmöglich. Selbst wenn sie es wollte, die Indoktrinierung hatte eine Art Blockade in ihrem Inneren aufgebaut. Tot umfallen würde sie, wenn auch nur ein falsches Wort über ihre Lippen käme.

Wie immer war es Dana, die anfing ihren Aufenthalt zu erläutern. Eva hakte an Stellen ein, an denen sie nicht gezwungen war zu lügen. Finanzielle Details, in denen Dana nicht so bewandert war, erklärte sie ausführlicher als es notwendig war. Nach und nach übernahm sie das Reden. Sie brauchte die Kontrolle. Ihr war klar, wollte sie hier heil rauskommen, musste sie den Schwerpunkt des Rapports auf Sachen lenken, die für sie unverfänglich waren. Sie durfte es aber auch nicht übertreiben, da ein zu offensichtliches Ablenken, das Misstrauen Danas hervorgerufen hätte. Es war eine Frage der Dosierung, denn am besten versteckt man potentielle Lügen, in dem man sie in einem Meer von Wahrheiten ertränkt.

Diese Taktik der Ablenkung klappte eine Weile ganz gut, bis Dana explizit auf die Treffen mit Eric zu sprechen kam. Sie wollte sich profilieren vor dem Führer und das auf Kosten von Evas angeblichen Praktiken. Nun war diese gezwungen in die Offensive zu gehen.

„Wir haben da einen etwas schwierigen Fall. Einen Händler, der Elektronikschrott verkauft.“ fing Dana an und überlegte kurz, wie sie fortfahren sollte. Diese Pause nutzte Eva, um das Wort an sich zu reißen.

„Schwierig ist etwas übertrieben. Dana hat Probleme mit ihm. Ihr fällt es schwer, mit ihm zu kooperieren.“ übernahm Eva und kam Dana damit zuvor die Aufmerksamkeit nicht auf sich selber zu ziehen.

Dana wollte gerade etwas erwidern, als ihr der Führer ins Wort fiel.

„Fahr fort. Erzähl mir von den Schwierigkeiten.“

Es hatte geklappt. Das heikle Thema Eric konnte sie damit ausfüllen, indem sie die Beziehung zu Dana ausweitete. Sie schaffte es tatsächlich geschlagene zwanzig Minuten über die Probleme zwischen den beiden zu referieren, ohne auch nur eine einzige Lüge anbringen zu müssen. Sie hatte Dana als Schutzschild missbraucht und dem Führer vertrauliche Gespräche der beiden Frauen verraten. Danas Abneigung gegenüber Eric und die Erleichterung sich nicht näher mit ihm beschäftigen zu müssen, nutze Eva zum Rundumschlag. Ihre Eloquenz erlaubte es ihr, die Tatsachen zum Nachteil von Dana darzustellen. Sie steigerte sich in einen Rausch. Am Ende musste der Eindruck entstehen, ihre Gefährtin würde nicht alles tun für den Tempel.

Das Gefühl von Reue verdrängte sie erfolgreich. Zu sehr war sie damit beschäftigt ihre Begleiterin zur Schlachtbank zu führen. Solch störende Gefühle würden nur ihre Konzentration stören. Sie sah es als Notwendigkeit an Dana zu verraten. Der Tempelkult hatte gerade das Schlimmste in ihr zum Vorschein gebracht. Sie hatte ihre eigenen Prinzipien von Gerechtigkeit verraten, die Dinge, für die sie ihre Mutter bewunderte. Für Mitleid war kein Platz an diesem Ort. Wichtig waren nur ihre Schwester und die Lektion, die sie im Tempel gelernt hatte. Der Zweck heiligt die Mittel.

„Ich danke dir für diese Informationen. Es wäre ein Leichtes sie pauschal zu verurteilen. Es ist wichtiger die Zweifel zu ergründen und sie zu zerstreuen. Ich denke mit gemeinsamen Anstrengungen werden wir Dana auf den richtigen Weg zurückführen.“ Es war jede Menge Sorge in seiner Stimme. Er wandte sich jetzt direkt an sie.

„Bei den Brüdern und Schwestern der Baukolonne wird das einfache beschwerliche Leben dich zur Besinnung bringen. Die Arroganz, mit der du dein eigenes Wohl über das Wohl des Tempels gestellt hast, diese schlechte Charaktereigenschaft ist ein Hindernis zum Erreichen der Erleuchtung. Harte Arbeit lehrt dich die Demut, die alle anderen von dir erwarten. Wir helfen dir, wieder ein nützliches Mitglied dieses Tempels zu werden.“

Dana war am Boden zerstört und keiner Worte mehr fähig. Vermutlich war ihr nicht mal bewusst, dass Eva sie zu ihren persönlichen Zwecken geopfert hatte. Sie glaubte tatsächlich einen Fehler begangen zu haben und die Strafe wäre gerechtfertigt. Die Thesen des Führers erlaubten keine Zweifel. Sie würde, ähnlich wie Eva bei ihrer Verfehlung mit dem unwilligen Jungen bei dem sie handgreiflich wurde, mit vollem Einsatz das Vertrauen des Führers zurückerlangen wollen.   

Den Rest des Rapportes langweilte sie Kain mit finanziellem Datenkolonnen. Sie wusste, wie sie sein Desinteresse weckte und auch der Führer schien mit der zu Schaustellung von Dana befriedigt. Ihre Konzentration ließ etwas nach, aber auch die der anderen Anwesenden war nicht mehr vollständig erhalten, schließlich waren sie schon über zwei Stunden zu Gange. Die gefürchtete Frage nach dem Grund für den zweiten Besuch bei Eric, bei der Eva sicherlich noch einmal ins Schlingern gekommen wäre, umging sie geschickt mit der Steuerung des Gespräches in eine Richtung, die für sie ungefährlich war. Sie baute gezielt Ungereimtheiten in ihre Schilderungen ein. Die anschließenden Fragen von Kain nutze sie, um den Gesprächsfaden weiter weg von Eric und den notwendigen Lügen zu spinnen. Keine Ahnung wie, aber sie hatte es geschafft die kompletten drei Stunden ohne eine Lüge klar zu kommen und das nur, weil sie es geschickt anstellte die heiklen Themen zu meiden.

„Wir werden für dich einen neuen Partner finden müssen. Jemand, der von deinen Fähigkeiten lernen kann und der zu dir passt. Eine perfekte Ergänzung zu deinen Stärken und Schwächen.“ sagte der Führer zufrieden. Eva hatte ihre Loyalität bewiesen, indem sie Dana ans Messer geliefert hatte. Früher wäre es das Größte gewesen, solche Worte zu hören, heute musste sie den Stolz vorheucheln, was ihr erstaunlicherweise gut gelang.   

Der Führer und Dana verließen Kains Raum. Ein Gefühl des vollkommenen Erfolges durchflutete Eva. Sie hatte unter widrigsten Bedingungen standgehalten. Mehr noch, sie hatte gelernt die Umstände, die im Lager herrschten, zu ihrem Nutzen zu missbrauchen. Das Wohl ihrer Schwester hob das schlechte Gefühl des Eigennutzes auf. Das Ziel war nobel, auch wenn der Weg dorthin mit dem Blut Unschuldiger gepflastert war. Sie hatte die Spielregeln nicht aufgestellt. Unfreiwillig war sie Teil des Systems geworden und ein großer Teil der alten Eva wurde ignoriert in diesem Moment. Sie missachtete die Teile ihrer Persönlichkeit, die sie bisher vor der vollkommenen Anpassung bewahrte. Sie war auf einem guten Weg jetzt endgültig eine von Ihnen zu werden, dass was sie immer verabscheute. Der Zweck heiligt die Mittel, besonders bei einer so selbstlosen Tat, wie die Rettung ihrer Schwester.

Sie wollte gehen und ihren Erfolg in der Abgeschiedenheit ihrer Hütte vollständig genießen, als sie Kain zurückhielt.

„Wie geht es eigentlich ihrer Schwester?“ fragte er ganz beiläufig, als ob er ein Alltagsgespräch ohne Belang beginnen wollte. Eva musste sich wieder zusammen reißen. War es doch noch nicht vorbei oder wollte er wirklich nur etwas Zerstreuung nach dem komplizierten Zahlendurcheinander, was ihm Eva gerade ausführlich vorgelegt hatte.

„Ich habe leider keine Informationen über ihren Zustand.“ log sie und war überrascht, wie leicht es ihr fiel ihn anzulügen.

Kain schaute ihr ein paar Sekunden tief in die Augen, als wolle er ergründen, ob diese harmlose Aussage nicht tiefer gehende Bedeutung hatte.

„Es ist sicherlich schwer einen Spender zu finden.“ fuhr er fort.

In Eva stieg die Panik hoch. Sie hatte das Gefühl, dass diese allgemeine Aussage an sie persönlich gerichtet war. War es eins dieser berüchtigten Spiele, für die Kain bekannt war oder wollte er wirklich nur Zerstreuung im allgemeinen Palaver? Er hatte sie verunsichert.

„Ich hoffe, dass mittlerweile ein geeigneter Spender gefunden wurde.“ entgegnete sie in ihrem bestmöglichen Plaudertonfall.

 „Mich würde es zerreißen, nichts tun zu können.“ kam es von Kain zurück. Da es diesmal keine direkte Frage war, sah sich Eva nicht genötigt zu antworten.

„Ich muss zurück, die finanziellen Transaktionen unserer Helfer mit unserer Buchhaltung abgleichen.“ antwortete sie, um endlich hier raus zu kommen.

„Ich bin sicher Sie haben da einen guten Überblick, welches Geld wohin fließt.“ kam es immer noch zurück, als würde er über den langweiligen Alltag sinnieren.

„Ihr Feld sind die Zahlen, genauso wie meins die Informationen sind. Ich weiß so ziemlich alles über jeden hier.“ Immer noch diese zermürbenden Bemerkungen, die jegliche Interpretationen offen ließen. Eva war kurz vorm innerlichen zerreißen. Sie war sich mittlerweile sicher, dass er mit ihr spielte. 

„Sie haben sich gut geschlagen gerade beim Rapport. War sicher nicht einfach, sich vor dem Führer zu behaupten.“ Es klang wie Lob, aber in seiner Stimme lag etwas Lauerndes.

„Ich habe nur…“ setze Eva an, aber Kain unterbrach sie.

„Sie haben sich gewunden, aber das ziemlich geschickt. Ich bewundere Leute, die unter solchen Bedingungen kühlen Kopf bewahren. Wie haben Sie es geschafft den Elektronikhändler zu überreden die Inc. und den Tempel gleichzeitig zu hintergehen? Ich tippe mal auf weibliche Reize. Würde mich interessieren, wie weit Sie da gegangen sind.“ Er brachte diese Sätze in einem gleich bleibenden Tonfall hervor, als würden sie sich immer noch über das Wetter unterhalten. In Evas Kopf herrschte Chaos. Tausend Gedanken drängten in den Vordergrund. Flucht, Hilflosigkeit, Angst, Resignation, Versagen. Jedes dieser Gefühle wollte hundert Prozent Aufmerksamkeit. Sie drohte mental zu überlasten. Die rechte Hand des Führers wusste über ihre Verfehlungen bescheid. Das Ende schien schneller gekommen, als erwartet.

„Ich bin kein Finanzexperte, aber diese kleinen Ungereimtheiten, die normalerweise im Rauschen der großen Summen untergehen, fielen nur auf, weil sich jemand in ihrer Abteilung lieb Kind beim Führer machen wollte. Genau das war der Fehler. Sie haben den Ehrgeiz der Tempelmitglieder unterschätzt und jetzt sind Sie mir ausgeliefert.“ Er sagte es eher freundlich, als wolle er sie foppen.

„Wie ich schon sagte, sind Informationen mein Geschäft und den Joker, den Sie mir zu geschanzt haben, werde ich nicht bei dem niederen Vergnügen ausspielen Sie vor dem Führer anzuschwärzen. Sie sind viel zu clever, um Sie auf diese Art und Weise zu opfern. Ich habe Sie lieber in meiner Umgebung. Die Vorführung gerade hat mir bewiesen, dass Sie in meinen Diensten wertvoller sind. Ich werde daher den Führer bitten, Sie in meine Abteilung zu versetzen, praktisch als persönliche Assistentin.“ 

Sie war nun keines klaren Gedankens mehr fähig. Die Aussicht auf das wartende Schafott änderte sich in sekundenschnelle in eine Beförderung, die sicherlich auch einige Privilegien mit sich bringen würde.

„Ich bin sicher es überfordert Sie gerade ein wenig, aber im Grunde haben Sie keine Wahl. Entweder Sie kommen zu mir oder der Führer wird an Ihnen ein Exampel statuieren, denn bei Diebstahl versteht er keinen Spaß.“ Er kam zu ihr rüber und strich ihr eine blonde Strähne aus dem Gesicht.

„Wer weiß? Vielleicht kommen wir uns auch privat etwas näher. Soweit ich weiß wurde Ihnen noch kein Partner zugewiesen. Ein Umstand, der längst einer Korrektur bedarf.“ Eva wurde schlecht. Neben Flucht oder Tod, gab es nun eine dritte Variante, wie die Geschichte für sie ausgehen könnte. Leider waren auch hier die Aussichten nicht viel angenehmer. Sie war erpressbar geworden und Kain würde keinen Moment zögern seinen „Joker“ einzusetzen, sollte es zu seinem Vorteil sein. Was immer er auch mit ihr vorhatte, es war nicht frei von privaten Interessen. Eine Assistentin, die seine Wünsche befriedigte, auf die eine oder andere Weise und das alles zu Lasten der Hilfe für ihre Schwester. Sie befand sich in einer Sackgasse.

Es dauerte nicht lange, bis die Anweisung des Führers kam. Mit sofortiger Wirkung arbeitete sie für Kain. Dieser war verantwortlich für die Organisation der bevorstehenden Jagd und ihre erste Aufgabe bestand darin, die „Beute“ vor dem Mob zu schützen. Die Stimmung im Lager war aufgeheizt und es bestand die Gefahr eines Frühstarts, was die blutigen Spiele betraf. Es gab nur noch das eine Thema. Die Jagd. Sie bekam zwei Soldaten, die ihr persönlich unterstellt waren. Zu diesem Zweck wurde ihr der Rang eines Leutnants verliehen, damit sie auch die notwendige Befehlsgewalt gegenüber ihren neuen Untergegebenen ausüben konnte. Sie fiel die Karriereleiter hinauf. Etwas, was sie vor einem Jahr noch herbeigesehnt hatte. Jetzt, wo ihre persönlichen Interessen über der des Tempels standen, war die neue Verantwortung hinderlich. Sie stand unter der Kontrolle von Kain und der hatte wie angedroht eine Partnerschaft mit ihr beantragt. Freie Liebe war im Tempel nicht zugelassen. Der Führer entschied, wer mit wem eine Beziehung einging. Eva war das Sahnestück, dass für einen besonderen Anlass aufgehoben wurde und die Zeit war wohl gekommen, das Tafelsilber zu investieren. Gegenüber den meisten Frauen von Lassik, hatte sie nicht den stark ausgebildeten Nacken, den die erhöhte Schwerkraft normalerweise mit sich brachte. Das und die langen blonden Haare, machten sie besonders attraktiv für das männliche Geschlecht. Kain sah es als das Recht des Stärkeren, dieses Juwel für sich zu beanspruchen.

Es waren nur noch wenige Tage bis zum Start des eigentlichen Spektakels. Eva vermied den direkten Kontakt mit den armen Seelen, die mit ihrem Tod zur Stabilisierung des langsam bröckelnden Kultes des Tempels dienen sollten. Ein Gebilde, was nach der Flucht aus der Hauptstadt langsam zerfiel. Zwar versprach man den Gefangenen die Möglichkeit eines Überlebens, aber das war, wie so vieles hier im Lager, nur eine offensichtliche Täuschung. Nicht nur Eva bekam Zweifel. Die im Alter von 16 bis 18 Jahren rekrutierten Jugendlichen wurden langsam erwachsen und es stellte sich als immer schwieriger da, mit den immer gleichen Phrasen die Jünger zu begeistern. Brot und Spiele. Gib ihnen was zu essen und etwas Zerstreuung in blutigen Schauspielen, schon wirken der Bürgerkrieg, das Lager und das sonstige Elend weniger deprimierend. Garniert mit der ständig vorherrschenden Angst ergeben sich dem Führer willige Untertanen. Zum Bedauern von Eva funktionierte es. Noch.

Sie hatte den Handel mit der intergalaktischen Händlerin Ruby betreut. Der Tempel fragte kurzfristig nach möglichen Sklaven an und Ruby konnte liefern, da Ware, Position der Kundschaft und Zeitpunkt der Anfrage in glücklicher Konstellation standen. So kam für beide Seiten ein gutes Geschäft zu Stande und das obwohl einer der Sklaven verletzt war. Der Lagerarzt, geschickter mit dem Messer als im heilen von Krankheiten, weidete ihn förmlich aus. In einer speziellen medizinischen Transportkiste brachten Dana und Eva seine Organe in die Hauptstadt, wo diese über Mittelsmänner am Ende in einem Krankenhaus landeten und dort hohen Funktionären der Inc. ein längeres Leben ermöglichen. Selbsverständlich gegen ordentliche Bezahlung. Zum wiederholten Male fragte sich Eva, ob der Führer schon eine Zeit nach dem Tempel plante. Das Ableben des Sklaven war nicht notwendig, aber in letzter Zeit bestand das Interesse des Führers mehr im anwachsen des Kontostandes und der Anbiederung bei einigen hohen Mitgliedern der Inc.

Sie musterte die Gefangenen und fragte sich gelegentlich, welche Geschichten hinter ihren Schicksalen standen. Die meisten hatten Angst, aber ausgerechnet die einzige Frau in ihrer Mitte wirkte, angetrieben von innerer Wut, fest entschlossen sich ihrem Schicksal zu stellen. Was immer auch sie erlebt hatte, ihr Aufenthalt auf Lassik schien nur ein weiterer trauriger Höhepunkt in einer Kette von zu meisternden Schicksalsschlägen zu sein. Sie bewunderte ihre Stärke, mit der sie sogar Kain die Stirn bot. Dieser revanchierte sich für die Unverfrorenheit, die sie sich bei der ersten Begegnung erlaubte, mit gelegentlicher Isolation von den anderen Gefangenen. Eva nutzte diese Gelegenheit, um zwei Tage vor der Jagd persönlichen Kontakt aufzunehmen.

Sie waren allein in der Hütte und mit pochendem Herzen öffnete sie das Schloss zu dem Raum, in dem die Gefangene saß. Sie war sich nicht sicher warum sie das tat, aber ihre Intuition zwang sie dazu. Vielleicht glaubte sie, dass ein gewisser Anteil ihres Selbstvertrauens auf sie überginge, dass sie eigene Kraft aus ihrer Stärke fände.

Mit dem Gesicht zur Tür saß die Gefangene ungefesselt und reglos hinter dem Tisch. Nur ihre Augen bewegten sich und verfolgten jeden Schritt, als würde Eva in ihr Revier eindringen. Es war jetzt wichtig Dominanz zu zeigen, denn sie wollte aus einer Position der Stärke mit ihr reden. Sie schaute ihr direkt in die Augen, nahm blind den zweiten Stuhl und setzte sich demonstrativ ihr gegenüber, ohne auch nur einmal den Augenkontakt zu verlieren. So saßen sie etwa zehn Minuten da, sich musternd, belauernd, wie zwei Raubtiere, die beide keine Konfrontation wollten, aber bereit waren das notwendige zu tun, sollte die Gegenüber den unausgesprochenen Nichtangriffspakt brechen. Obwohl beide regungslos da saßen, veränderten sich ihre inneren Gemütszustände. Der gemeinsame Schmerz schien eine Art telepatische Verbindung aufzubauen. Eva fühlte sich mit einem Schlag seelenverwandt. Ihr kam es vor, als schaue sie in einen Spiegel. Dasselbe Alter, dieselbe Stärke, das Gefühl von Enttäuschung und Einsamkeit, die Wut verraten worden zu sein und schließlich die Notwendigkeit des Überlebens in einer für sie feindlichen Welt. Dass alles erkannte sie, ohne jegliche Kommunikation oder Bewegungen. Die Augen sind das Fenster zur Seele. Sie verstand diese Frau, ohne auch nur ein einziges Wort mit ihr gewechselt zu haben. Sie wusste zwar nicht warum, aber sie hatte etwas längst Vergessenes wieder gefunden. Sich selbst. Ihre gescheiterten Träume, ihre verlorene Jugend, die verpasste Möglichkeit auf Mann, Kind und ein glückliches Leben. Alles manifestierte sich in der Person gegenüber. Die Aussicht auf ein Leben in allen Facetten menschlichen Leids in Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft einte sie mit ihr. Konfrontiert mit der bitteren Wahrheit, war ihr zum Weinen zu Mute, aber sie musste stark sein. Sie konnte sich jetzt nicht fallen lassen, auch wenn ihre Seele etwas einforderte, was sie bisher nie bekommen hatte.

„Und? Wollen wir uns jetzt bis in alle Ewigkeit gegenseitig bedauern?“ unterbrach die Gefangene das Schweigen. Also war das Gefühl des geteilten Leids keine Einbahnstraße. Auch sie hatte diese Verbundenheit im Schmerz gespürt. In Eva stieg der Drang etwas Vertrauen aufzubauen.

„Wie heißt du?“ fragte sie so freundlich wie möglich, was ihr aber auf Grund mangelnder Umgangsformen gegenüber Nichtmitgliedern nur eingeschränkt gelang.

„Seit wann wollt ihr denn Namen wissen? Ein Grabstein ist doch gar nicht vorgesehen.“ antwortete sie schnippisch.

„Ich heiße Eva.“ versuchte sie erneut das Eis zu brechen.

„Die Frau, die im Paradies wohnt. Das ist wahre Ironie.“

„Verratest du mir deinen Namen?“ gab sie selbstbewusst zurück. Die Gefragte beugte sich über den Tisch, so dass ihre Gesichter nur durch wenige Zentimeter Luftlinie von einander getrennt waren. Sie schaute Eva fünf Sekunden lang tief in die Augen, als ob sie erst prüfen müsste, ob sie es wert wäre ihren Namen zu erfahren.

„Dina. Es wird dir aber nicht helfen dein schlechtes Gewissen zu beruhigen, nur weil du jetzt weißt, wen ihr da opfert.“ antwortete sie leise.

„Es tut mir leid.“ kam es noch leiser zurück und von ihrer Stärke war in dem Moment nichts zu spüren.

„Irgendwann ist dieser ganze Zauber mit dem Tempel des Friedens vorbei und wenn du Glück hast überlebst du sogar die ganze Sache, lernst einen netten Kerl kennen, gründest eine Familie und ihr zieht ins Grüne. Das volle Programm, bis hin zum weißen Gartenzaun. Wenn dann klein Eva vor dir steht und fragt: Wie war das damals mit dem Tempel? Dann wirst du dich vielleicht an meinen Namen erinnern.“ Sie lehnte sich wieder zurück und fuhr fort.

„Merke dir diese vier Buchstaben. Sie werden auf Lebenszeit mit dem Mist verbunden sein, der hier abgehen wird.“

Sie hatte es geschafft Evas Selbstvertrauen in kürzester Zeit zu zerstören. Plötzlich wusste diese warum sie unbedingt hier rein wollte. Sie war drauf und dran Kains süßer Versuchung nachzugeben. Ein Leben voller Privilegien, wenn sie nach seinen Regeln spielte, brav die Beine auf Kommando breit machte und niemals aufmuckte. Dina hatte ihr den Spiegel vorgehalten. Besser noch, sie hatte ihr eine verbale Ohrfeige verpasst, damit sie wieder zu Sinnen kommt. Plötzlich wurde ihr alles wieder bewusst. Die Intrigen, die Denunziationen, die Demütigungen, das Gefühl ständig in Angst leben zu müssen, bis hin zum töten von Unschuldigen. Das alles hatte sie verinnerlicht, als gegeben hingenommen. Es war noch nicht zu spät für Änderungen. Die zweifelnde Eva hatte gerade wieder mächtig Punkte gesammelt. Sie war zurück im Spiel. Die Zukunft ist nicht unser Schicksal. Jeder kann die Welt verändern. Was es braucht ist Mut. Den hatte sie urplötzlich wieder.

„Wir sehen uns morgen wieder.“ Sie stand auf und ging zur Tür, ohne noch einmal zurückzuschauen.

Der Tag vor der Jagd war ausgefüllt mit organisatorischen Sachen. Kain und seine Leute hatten gut vorgearbeitet, so dass Eva nur noch die Aufgabe der Kontrolle blieb. Der Hauptsaal für die Übertragung wurde hergerichtet, die Essensrationen erhöht und die eingesetzten Waffen kontrolliert. Das ganze Lager war in erwartungsvoller Vorfreude. So war es nicht verwunderlich, dass die Aufmerksamkeit auf die bevorstehende Jagd fokussiert wurde. Ein Umstand der Eva gelegen kam, um ihre eigenen Pläne zu schmieden. Am Abend befand sie sich wieder bei Dina.

„Ihr werdet eure Freiheit nicht an der Küste finden, selbst wenn ihr sie erreichen solltet.“ begann sie die Unterhaltung.

„Was du nicht sagst.“ antwortete ihr Dina.

„Ich bin eure einzige Chance.“ Sie klang voller Tatendrang.

„Ihr habt dreißig Stunden Zeit, um hier ins Lager zurück zukommen. Ich werde nach Ablauf dieser Frist die Insel mit dem Boot verlassen. Die Frage ist nur, seid ihr dabei oder nicht? Ihr sollt eure Möglichkeit bekommen den Wahnsinn zu überleben.“

Sie holte eine Karte aus ihrer Tasche.

„Das ist das einzige, was ich euch geben kann. Alles andere könnte entdeckt werden. Versucht die zerfallene Stadt zu erreichen. Da habt ihr die beste Möglichkeit euch eurer Verfolger zu entledigen. Die Bewegungssensoren könnt ihr überlisten, indem ihr die Schafsherden nutzt. Mehr kann ich nicht für euch tun. Ich werde nicht warten. Eure Chancen sind immer noch sehr gering, aber ich fürchte mehr ist nicht drin.“

Dina hatte bisher kein Kommentar zu dem Plan abgegeben und hielt sich auch weiter zurück. Eva hatte das Gefühl nicht genug getan zu haben, aber mehr war in der Kürze der Zeit nicht machbar. Das Zuschanzen der Karte war schon extrem risikobehaftet. Sie hoffte, dass ihr Verschwinden nicht sofort bemerkt wurde. Das Boot war genetisch gesichert, aber mit dem Rang des Leutnants hatte man ihr die Rechte zur Nutzung übertragen. Ihr Plan war ziemlich wacklig. Mehr als ein Mal kam ihr der Gedanke, die Gefangenen mit in die Flucht einzubeziehen wäre ein großer Fehler. Sie könnte gut und gerne alleine fliehen. Ihr Start in das Leben nach dem Tempel sollte aber nicht mit einer egoistischen Aktion beginnen. Zu oft hatte sie in ihrer Vergangenheit gegen ihre Natur gehandelt. Das Gefühl, den neuen Pfad wieder unter den falschen Vorraussetzungen zu betreten, ließ sie das Risiko eingehen.

„Viel Glück.“ brachte sie noch heraus.

Dina kam auf sie zu. Zum ersten Mal erkannte sie keine Wut in ihren Augen. Die Überraschung, dass die Frau auch ohne ihren Zorn existieren kann, ließ sie jegliche Vorsicht vergessen. Sie nahm Evas Kopf zwischen ihre beiden Hände und küsste sie so leidenschaftlich, dass sie keine große Gegenwehr ansetzte. Nach etwa zwei Sekunden ergab sie sich dem Angriff und entgegnete den Kuss ihrerseits. Erfasst von ihren Gefühlen, erhoben sie sich in die Unendlichkeit. Zeit war irrelevant. Schmerz war irrelevant. Es gab nur noch diesen Augenblick, der sich anfühlte, als würde das ganze Universum nur für diesen Moment existieren. Die undefinierte Verbindung, die beide die ganze Zeit spürten, aber nicht erklären konnten, bekam Struktur. Es war die gemeinsame Sehnsucht nach Zuneigung. Nicht zueinander, da waren sich beide sicher. Der jahrelange Mangel an Zärtlichkeiten und Leidenschaft, ließen sie den Augenblick genießen. Wie ein zu Tode Verurteilter, der seine Henkersmahlzeit bekommt, war es vermutlich die letzte Möglichkeit auf Empfindungen dieser Art.

„Mein letzter Kuss soll nicht von einem Mann gewesen sein.“ sagte Dina trocken, als hätte es diesen erhebenden Moment außerhalb von Raum und Zeit nie gegeben. Ohne weitere Worte gingen sie auseinander. Wehmut war das vorherrschende Gefühl in Eva. Wie lange war es her, dass sie sich in Gesellschaft befand, in der nicht Heuchelei und Angst, sondern Ehrlichkeit die entscheidende Komponente war? Als hätte sie einen tiefen Atemzug frischer Luft genommen, war sie wieder zurück im Mief ihres traurigen Alltages.

Die Nacht war unruhig. Abwechselnd hielten sie die vergangenen Ereignisse und ihre ungewisse Zukunft wach. Es war unmöglich erholsamen Schlaf zu finden. Ihr gingen alle möglichen Varianten der kommenden Tage durch den Kopf. Für jedes Szenario grübelte sie über Mittel, wie sie die Geschehnisse aktiv beeinflussen könnte. Vielleicht waren nach kurzer Zeit schon alle tot, dann müsste sie eher fliehen oder sie würden Dina lebend erwischen und die Karte bei ihr finden. Auch dann wäre eine schnelle Flucht notwendig. Was wäre, wenn sie es schaffen würden, aber länger bräuchten als die dreißig Stunden. Würde sie doch warten? Die Variantenvielfalt war unendlich und am nächsten Morgen kam eine Störgröße hinzu, die alle bis dahin durchgespielten Überlegungen überflüssig machten.  

Kain erwartete sie wie jeden Morgen bei sich im Büro. In Erwartung der letzten organisatorischen Aufgaben stand sie vor ihm.

„Meine Liebe, für Sie gibt es heute Morgen einen Sonderauftrag, der zugegeben etwas kurzfristig kommt.“ Kain hatte das Talent unangenehme Sachen so zu verkünden, als wäre er nur der Bote.

„Der vierte Zug besteht bedauerlicherweise nur aus fünf Mitgliedern. Daher ist eine Aufstockung notwendig. Ich habe Sie dafür vorgeschlagen.“ sagte er in seinem gewohnt nüchternden Tonfall.

Eva brauchte einen Moment, um das Gesagte zu verdauen. Kain nahm ihr die nächstliegende Frage vorweg.

„Wieso? Verständliche Frage. Ich bin mir nicht sicher, ob sie Ihren neuen Posten wirklich mit der von mir geforderten Professionalität ausfüllen.“ Wie immer spielte Kain gerne mit seinen Opfern, indem er unkonkrete Andeutungen vorweg stellte. Dieses psychologische Zermürben verfehlte seine Wirkung nicht.

„Ihnen wird es vorbehalten sein die Frau innerhalb der Truppe des Feindes zu eliminieren. Kein anderer wird sie erledigen. Es wird ein erhebendes Schauspiel. Der Kampf der Amazonen.“ Seine Stimme überschlug sich förmlich vor Begeisterung. In Eva arbeitete es. Offenbar war ihr Kuss nicht unbemerkt geblieben. Aber wie? Die Tür. Sie hatte sie in ihrem Eifer nicht richtig geschlossen. Beim Rausgehen hatte sie es bemerkt, aber dem ganzen keine große Bedeutung zugeschrieben, da sie niemanden gesehen oder gehört hatte. Ein Fehler wie sich zeigte. Wie viel wusste Kain? Kannte er den Fluchtplan? Dann wäre sie vermutlich schon längst beim Führer. Vielleicht spielte er auch nur mit ihr. Das gekränkte Ego, weil sie eine Gefangene in Sachen Zuneigung ihm vorzog? Sie war seinem perfiden Racheplan unwissend ausgesetzt.

„Es wäre hilfreich, wenn Sie mir Ihre Zweifel erklären könnten, damit ich in Zukunft meine Arbeit besser erledigen kann.“ versuchte sie zu bluffen. Der Versuch ging mangels Selbstbewusstsein ordentlich daneben.

Sein Lächeln beunruhigte sie weiter. Er würde sie weiter im Unklaren lassen.

„Jegliche Zweifel sind beseitigt, wenn Sie uns da draußen eine gute Vorstellung liefern.“ Damit gab er zu verstehen, dass keine weiteren Diskussionen erwünscht waren.

Evas Gedanken fuhren Achterbahn. Wollte er ihre Loyalität testen? Irrelevant. Was immer Kain auch vor hatte, es spielte keine Rolle. Sie hatte keine Wahl. Kein zurück mehr. Mit dem Überreichen der Karte hatte sie ihren Weg bestimmt. Es war eine Probe ihres Willens. Jetzt musste sie alles dafür tun, ein möglichst gutes Ende hinzubekommen. Sollte ihre geplante Flucht bekannt sein, würde sich das Unweigerliche nur verzögern, dann war sie bereits tot und diente nur noch zur Befriedigung von Kains Rache.

Der vierte Zug war eine Anhäufung von vulgären Primitivlingen. Ihre Rekrutierung erfolgte in einer Phase, in welcher die Begeisterung innerhalb der Bevölkerung für den Tempel ihren Höhepunkt hatte. Der Fokus lag damals nicht nur auf mangelnde Intelligenz potentieller Bewerber, sondern in der zusätzlichen Bereitschaft unangenehme Dinge zu erledigen. Der Führer hatte damals begonnen seinen paramilitärischen Arm aufzubauen. Leute fürs Grobe, die nicht groß der Doktrin des Tempels folgten, sondern Spaß daran hatten, in blindem Gehorsam den geistig besser Gestellten durch Gewalt ihre scheinbare Überlegenheit zu demonstrieren. Außerhalb von Recht und Ordnung prügelten sie die Ansichten des Tempels von Frieden und erfülltem Leben in die Ungläubigen von Lassik. Nach der notwendigen Flucht waren sie für die Lagersicherheit zuständig. Durch das mangelnde Interesse der Inc. dem vermeintlichen Bürgerkrieg Substanz zu geben, beschränkte sich ihr Dasein auf militärischen Drill und die Kontrolle der internen Strukturen. Kain verkörperte den Anführer als eine Art Feldherr. Die dadurch entstehenden Spannungen erhöhten den Druck im Dampfkessel mit der Aufschrift Prem. Als Ventil mussten Unschuldige in blutigen Spielen ihren Kopf hinhalten. Die finale Etappe auf dem Weg von einer Vision des friedlichen Miteinanders, hin zum Abschlachten von Ungläubigen. Mitgefühl, Liebe und Freude blieben auf der Strecke. Die Gemeinschaft vollendete die Entwicklung zu ihrem eigenen elitären Kreis, mit eigenen Regeln. Das Interesse an Dingen außerhalb des Tempels beschränkte sich auf die Bündelung des Hasses in Richtung Außenstehender. Eva wollte niemanden töten. Der erste Schritt weg von der eingebläuten Doktrin war die Wiedererlangung der grundsätzlichsten menschlichen Gefühle. Dina hatte ihr einen kurzen Einblick in eine Welt gezeigt, jenseits dieses Wahnsinns. Wie ein Erblindeter, welcher nach langer Zeit wieder Farben sah, wurde ihr klar, auf was sie viel zu lang verzichtet hatte. Der abschließende Schritt vom Zweifel, hin zum Bruch mit dem Tempel war endgültig vollzogen.

Aus der Ablehnung, die ihr der vierte Zug entgegenbrachte, machten die fünf keinen Hehl. Ihr Gruppenführer hieß Dirk. Den leitenden Posten hatte er sich durch besondere Brutalität erarbeitet. Die Gerüchteküche brodelte und gab ihm damit ein Ansehen, was ihm jegliche potentielle Konkurrenz vom Halse hielt. Er hatte getötet, so viel war sicher und damit unterschied er sich von den meisten im Tempel. Die Anzahl seiner Opfer variierte jeweils nach Herkunft des Gerüchtes und vermutlich war Kain der einzige, der die genaue Zahl kannte. Dirks Eignung als Totschläger stand der Talentfreiheit als Soldat gegenüber. Kain hatte seine Mühe ihn an die Befehlskette zu gewöhnen. Ganz ohne Widerworte ging es fast nie ab, allerdings hatte Dirk gelernt sein Temperament zu zügeln, von militärischer Disziplin war allerdings die gesamte Truppe weit entfernt. Das Wissen über das Töten täuschte nicht über die Unfähigkeit hinweg eine Schlacht gegen halbwegs ausgebildete Soldaten zu überstehen. Ihnen fehlte einfach die Erfahrung im Felde wirkliche Glanztaten zu erbringen.

Geplant waren höchstens zwei Tage, in denen sich Dirk und seine Kumpanen an ihren Opfern austoben durften. Jeder bekam eine Kamera mit, so dass das Lager in jeder Minute an dem Spektakel teilhaben durfte. Eine Plattform, bei der sich der vierte Zug weiter profilieren konnte. Eine Außenstehende war da nur hinderlich. Seit langer Zeit hatte Eva wieder das Gefühl nicht dazu zugehören. Ein Vorgeschmack dessen, was sie in einer Welt nach dem Tempel erwartete. Der Entzug würde schmerzhaft werden.

Die Waffenübergabe wurde förmlich zelebriert. Kain tobte sich aus in den Lobdudeleien über den Führer. Wie jeder Selbstdarsteller langweilte er sämtliche Anwesenden mit unnötigen Anekdoten längst vergangener Tage. Dem vierten Zug war es vorbehalten durch auswendig gelernte Phrasen und Schlachtrufe die Angst, welche die Waffenvorstellung bei den Gefangenen hervorrief, weiter zu verstärken. Gerade als alles seinen gewohnten Gang gehen sollte, hakte einer der Gefangenen ein. Er schaffte es mit ein paar gezielten Worten den einsetzenden Blutrausch des vierten Zuges in nagenden Selbstzweifel zu verwandeln. Aus Tötungsmaschinen wurden urplötzlich ängstliche Hobbyjäger. Erstmals war die Beute so unverfroren sich zu wehren. Wo es jetzt aufbauender Worte ihres Führers bedurfte, war nur ängstliches Schweigen. Dirk, der einzige, der sich wirklich auf die Herausforderung freute, war unfähig die aufkommende Angst seiner Untergebenen zu lindern. Sie befanden sich in Lebensgefahr und der Gefangene machte nicht den Eindruck als würde er bluffen. Eva war sich sicher, hier würde nicht nur fremdes Blut vergossen werden.

Zu diesem Zeitpunkt kamen ihr die Erlebnisse in Erics Laden wieder in den Sinn. Die Blutproben. Etwas stimmte damit nicht und machte das kommende Unterfangen noch undurchschaubarer. Das ungute Gefühl, die Sache würde nicht gut ausgehen, verstärkte sich mit jeder Minute und zu ihrem Unglück war sie ein wesentlicher Bestandteil der aufziehenden Ereignisse. Keine gute Vorraussetzung für eine angehende Flucht.

Sie hatte mit Dina nur kurz einen Blick austauschen können, war sich aber sicher, dass sie mit Hilfe ihrer geheimnisvollen Verbindung ein „Alles bleibt beim Alten“ Signal übertragen konnte. Eine Flucht war nur auf diese Art und Weise möglich. Es gab keine andere Alternative die Insel zu verlassen, als mit dem Transportboot des Tempels.

Die Gefangenen wurden ausgesetzt und die Jäger zogen sich zurück zur Taktikbesprechung. Eva hatte kein Mitspracherecht und dementsprechend war ihr die Rolle der schweigenden Zuhörerin angedacht. Sie fühlte sich mehr und mehr als Außenseiterin. Wie sehr hatte sie sich an die Gemeinschaft gewöhnt und dem Gefühl Teil eines großen Ganzen zu sein. Hier war sie einfach nur Ballast. Die Spielverderberin, die keiner wollte. Es traf sie härter als gedacht.

Als Waffe bekam sie eine Pistole und dazu gerade mal sechs Schuss. Gänge es nach Dirk würde die eine Kugel, die für Dina vorgesehen war, reichen. Ihre Waffe war genetisch codiert und selbst ihre eigenen Leute hätten keine Möglichkeit sie einzusetzen. Anderseits konnte sie die restlichen Waffen auch nicht nutzen. Einzige Ausnahme war das Scharfschützengewehr von Kossak. Eine etwas altertümliche Waffe, die in Zeiten aussterbender Hochtechnologie mehr und mehr beliebter bei Söldnern wurde. Ersatzteile und Munition ließen sich mit gewissem handwerklichem Geschick leicht selbst herstellen.

Der Vorsprung, den die Gefangenen bekamen betrug drei Stunden. Nach der taktischen Besprechung hatte Eva seit langem das erste Mal wieder geistigen Leerlauf. Das Gefühl des Wartens war ihr so fremd geworden, dass sie nicht wusste, was sie mit der freien Zeit anfangen sollte. Im Lager gab es sonst immer was zu tun, dafür wurde gesorgt. Die Ruhe über bestimmte Dinge intensiv nachzudenken, sollte gar nicht erst entstehen. Im Angesicht des nahenden Spektakels gönnte man ihr den Luxus. Trotzdem war sie froh, als sie den Flugtransporter betrat und das lästige Gefühl des Nichtstuns endlich durch die volle Konzentration auf die Jagd abgelöst wurde.

Sie wurden an derselben Stelle abgesetzt, wie die Gefangenen drei Stunden vor ihnen. Außer Eva hatten alle ein Ortungsgerät dabei, welches Bewegungen von größeren Objekten erfasste. Die erste Maßnahme bestand in der Lokalisierung der potentiellen Opfer.

„Was hast du?“ fragte Dirk den etwas aufgedreht wirkenden Juth.

„Verdammt. Ich habe jede Menge Signale, aber nichts was auf unsere Freunde hindeuten würde.“ Er wirkte leicht überfordert, als hätte er Angst Fehler zu machen.

„Lass mal sehen.“ Er schaute etwas skeptisch, als würde Juth das Gerät falsch bedienen.

„Diese verdammten Viecher versauen uns die Ortung.“ fluchte Dirk. Die ursprünglich als zusätzliche Nahrungsquelle angesiedelten Schafe, weideten in kleineren Gruppen auf der gesamten Insel. Selbst der größte Hunger in den vergangenen Jahrzehnten, schaffte es nicht den Fleischkonsum auf Lassik salonfähig zu machen. Etwas mit Bewusstsein zu essen widerstrebte den meisten Bewohnern. Zusätzlich dazu war es ein Zeichen von besonderer Armut und Not, war man gezwungen, sich wie ein Raubtier am blutigen Kadaver eines Tieres zu nähren. Der Führer begrenzte die Population, hielt sich die Schafe aber als notwendige Option offen. Diese Weitsicht erschwerte der Jagdgemeinschaft das Handeln.

„Die sind cleverer als wir dachten.“ kam es von Frend fast ehrfurchtsvoll.

„Das wird ihnen auch nicht viel helfen.“ erwiderte Dirk trotzig.

„Es gibt nur zwei Möglichkeiten, wo sie sich verstecken können.“ Er holte ein kleines elektronisches Pad hervor, auf dem die Karte der Umgebung das Display zierte. In Verbindung mit dem Ortungsgerät und der praktisch zeitnahen Übertragung ins Lager, erörterte er seinen Plan fast schon übertrieben euphorisch.

„Die Signale im Nordosten werden von Frend untersucht. Im Westen wird Dolph nach dem rechten schauen. Die Mission dient nur der Aufklärung. Wir müssen wissen, wo sie sich verkriechen. Treffpunkt ist bei diesen Koordinaten.“ Er zeigte auf einen Punkt der Karte, der sich ungefähr mittig zwischen den beiden potentiellen Aufenthaltsorten befand.

„Keiner unternimmt selbständig was. Wir werden koordiniert gemeinsam vorgehen.“ Er wollte zielstrebig vor dem Publikum im Lager wirken, aber schauspielern war nicht seine Sache, so dass seine Anweisungen etwas hölzern daher kamen.

„Eure Kameras bleiben an. Kommunikation geschieht einseitig. Wir geben die Anweisung, ihr führt aus. Auf geht’s.“ Während Dolph und Frend ihre Aufklärungsmissionen starteten, machte sich der Rest der Gruppe auf zum Treffpunkt.

Das Vorankommen war wenig militärisch. Alle hetzten blind drauf los, sich verlassend auf die Ortungsgeräte, welche zuverlässig die Position aller beweglichen Objekte anzeigte. Dirk und der Rest der Gruppe erreichten zuerst ihr Ziel und verfolgten anhand der Kameras ihrer Aufklärer das weitere Vorgehen der Späher.

Es war Dolph vorbehalten den ersten Misserfolg zu verkünden. Seine Signale entpuppten sich ausschließlich als Schafe und so war die Wahrscheinlichkeit, dass Frend auf die Beute traf relativ hoch. Gebannt schauten die Gruppenmitglieder auf das Pad, wohl wissend, dass diese Bilder auch ins Lager übertragen wurden. Die Perspektive verriet, dass Frend sich liegend voran robbte. Dirk wurmte es den ersten Auftritt seiner Gruppe nicht höchstpersönlich präsentieren zu dürfen.

Die eingebaute Nachtsichtfunktion zeigte die Konturen der von der Dunkelheit eingehüllten Objekte. Bäume, Sträucher und Schafe waren deutlich voneinander zu unterscheiden. Langsam bewegte sich das Bild vorwärts in Richtung einer Lichtung. Die Spannung war unglaublich. Alle starrten gebannt auf das Pad und jeder wollte als erste ungewöhnliche Silhouetten erkennen.

„Wo stecken die?“ fluchte Juth ungeduldig.

„Geduld. Ich glaub hinter den beiden Viechern ist was.“ erwiderte Kossak.

Wieder nichts. Zu sehen war nur ein drittes Schaf, was einträchtig hinter den beiden anderen graste.

„Das gefällt mir überhaupt nicht.“ murmelte Dirk in Vorahnung nahenden Unheils. Er schaltete das Kommunikationssignal an seiner Kamera ein.

„Frend, nicht weiter, das riecht nach einer Falle.“ Das Ruckeln, welches die Anzeige auf dem Pad begleitete, hörte schlagartig auf. Er lag vollkommen bewegungslos da.

„Das Signal hinter dir. Was ist das?“ fragte Dirk. Das Bild drehte sich und zeigte Frends Rücken und den Bereich hinter ihm. Da war rein gar nichts. Die Wärmeortung bestand auf das Gegenteil. Irgendwas musste da sein. Während Dirk noch grübelte wie hoch die Abweichung bei den Ortungsgeräten war, änderte sich das Bild ein weiteres Mal. Er ließ fast das Pad fallen, so sehr erschrak er sich. Etwas Schweres war direkt vor die Linse gefallen. Die Bilder überschlugen sich und waren unscharf. Was immer auch passierte, offenbar hatte Frend seine Deckung aufgeben müssen. War er angegriffen worden? Der Schwenk der Kamera hatte nichts ergeben, aber da war ja noch dieses Signal. Da die Bilder keinen Aufschluss über die Situation gaben, konzentrierte sich die Gruppe auf akustische Geräusche. Zwei Stimmen übertrafen sich im gegenseitigen Jammern, alles wirkte sehr chaotisch, aber er war eindeutig nicht mehr alleine.

„Verdammt, was ist los?“ Dirk wirkte überfordert. Es lief nicht so, wie es sollte. Dem geplanten Triumphzug des vierten Zuges drohte ein Fehlstart. Aus den Bildern war immer noch nichts zu erkennen, aber immerhin waren jetzt Schüsse zu hören. Plopp, plopp. Noch ein drittes plopp. Das typische Geräusch eines elektromagnetisch angetriebenen Projektils. Das konnte niemals was Gezieltes gewesen sein, zu hektisch waren immer noch die Bewegungen.

„Hast du was getroffen?“ brüllte Dirk ins Mikro. Endlich stand das Bild wieder still. Alle Augen waren wieder auf das Pad gerichtet. Die Kontur eines Kopfes war jetzt eindeutig zu erkennen. Frends Angreifer war im Visier und der tödliche Schuss würde jeden Moment erfolgen. Das plopp löste die Anspannung. Wieder nur chaotische Bilder und Kampfgetümmel. Es war unmöglich zu sagen, ob der Schuss gesessen hatte. Offenbar war es noch nicht vorbei. Diesmal dauerte es nur zwei Sekunden bis das Bild wieder ruhig war. Die Kamera lag auf dem Boden und zeigte die Umgebung auf der Seite liegend an. Hatte Frend die Kamera verloren? Dirk brüllte weiter in das Mikrophon.

„Scheiße Frend, was ist da los? Bericht Soldat.“ Seine Taktik mit Aufklärungsmissionen zuerst den Feind zu lokalisieren, war ordentlich daneben gegangen. Schlimmer noch. Sie hatten es erwartet und Gegenmaßnahmen ergriffen. Was zum Teufel war da passiert? Wie haben sie es geschafft seinen Trupp so zu demütigen? Seine Wut verhinderte klares Denken. Um den Druck abzubauen, musste er irgendwas kaputt machen, aber seine Aufmerksamkeit wurde wieder auf das Pad gelenkt. Die Kamera bewegte sich erneut und was er zu sehen bekam, ließ ihn vollends den Verstand verlieren. So hatte er sich dass nicht vorgestellt. Sie hatten die erste Runde deutlich verloren.

 

 

 

 

 VI

„Es gibt keine Grenzen. Nicht für die Gedanken, nicht für die Gefühle. Die Angst setzt die Grenzen.“

Ingmar Bergmann

 

Sie waren umgeben von Wald. Die kleine Lichtung, auf der sie standen, war gerade so groß, dass der Transporter senkrecht landen konnte. Die Sonne schien und erhellte fast ausschließlich den Platz, an dem sie abgesetzt wurden. Einzelne Vogellaute waren vernehmbar, trotzdem wirkte der Wald dunkel und bedrohlich. Nach den Erfahrungen der letzten Wochen war es etwa noch drei Stunden hell. Danach würde die Temperatur in den Minusbereich fallen und da ungewohnter Weise keinerlei Wolken am Himmel waren, wird sich die Kälte mit voller Härte entfalten können. Sie hatten zwar Kleidung bekommen, die diesen Temperaturen standhielt, trotzdem war die Aussicht biologischen oder explosiven Geschoßen unter diesen Bedingungen auszuweichen, alles andere als ermutigend. Sentry war elendig zu Mute. Das bisschen Zuversicht, was die Ansprache von Pluto in ihm hervorbrachte, war jetzt da die ganze Sache konkrete Formen annahm, wieder verschwunden. Wo sollten sie hin? Er hoffte das Dina oder Pluto wussten was zu tun war.

„Schauen wir mal auf die Karte, die sie uns gegeben haben.“ brach Pluto die unangenehme Stille.

„Vergiss es. Da wurden Details verändert oder weggelassen.“ unterbrach ihn Dina.

„Ach ja. Und wieso weißt du das so genau?“ fragte er provozierend zurück. Sie waren keine zwei Minuten hier und schon gab es die ersten Spannungen.

„Weil ich was Besseres habe.“ antwortete sie triumphierend und holte ihrerseits eine Karte hervor.

Pluto war sprachlos. Sie verglichen die Karten miteinander und tatsächlich war Dinas Exemplar weitaus genauer, was mögliche Wege und verlassene Gebäude betraf.

Pluto fehlten weiterhin die Worte und daher übernahm Sentry die Aufgabe Dina danach zu fragen, wo sie denn die genauere Karte her hätte.

„Da ich den nicht zu unterschätzenden Vorteil besitze weiblich zu sein, habe ich damit bessere Möglichkeiten diesen ganzen Wahnsinn hier zu überleben. Das ist noch nicht mein letzter Trumpf. Haltet euch an mich und die Chancen hier lebend raus zu kommen werden steigen.“

Das war ein offener Angriff auf Plutos Führungsanspruch und dieser ließ sich das natürlich nicht gefallen.

„Mit wem hast du denn geschlafen, um deine Trümpfe zu bekommen?“ fragte er ungewohnt primitiv und betonte das Wort „Trümpfe“, als glaubte er nicht wirklich daran, dass Dina irgendwelche Vorteile hätte, die ihm verweigert blieben.

Dina genoss den Augenblick bei Pluto einen schwachen Moment erwischt zu haben. Gerade als sie süffisant kontern wollte, fiel ihr Sentry ins Wort.

„Offenbar haben wir mehrere Optionen und wir sollten unsere Zeit nicht damit verschwenden uns gegenseitig Beleidigungen an den Kopf zu werfen. Die einzige Chance hier irgendwie zu überleben, ist zusammen zu arbeiten.“ kam es ihm unerwartet selbstsicher über die Lippen.

Dina funkelte ihn an und überlegte für einen Moment, wie sie die gerade für Pluto entworfene Spitze auf Sentry ändern konnte, sah dann aber ein, dass er Recht hatte.

„Für mich gibt es nur eine Option und die werde ich euch jetzt erklären.“ Alle versammelten sich um die Karte und zum ersten Mal war so etwas wie Gemeinschaft zu spüren.

Sie hatte einen genauen Fluchtplan, abgestimmt auf die Umgebung. Offenbar war der Wald nur an dieser Stelle so dicht. Nicht all zu weit nördlich, grob in der Richtung zum Ausbildungslager, gab es weite Ebenen, bevor ein riesiges Waldstück den ganzen Norden einschließlich des Lagers bedeckte. Ihre mysteriöse Quelle hat ihr einige Einzelheiten zu den Verfolgern zu kommen lassen. Sie wusste, dass Bewegungs- und Wärmesensoren mit fast unbegrenzter Reichweite im Einsatz waren. Also waren sie praktisch jederzeit auf dieser Insel zu orten. Das war der entscheidende Nachteil, den es galt auszugleichen. Dinas Idee schien viel versprechend. Die einzigen größeren Tiere auf dieser Insel waren friedliebende Pflanzenfresser. Ehemalige Nutztiere, die in verschiedenen Herden auf der Insel verstreut grasten. Die eingesetzte Sensortechnik konnte Tiere und Menschen nicht unterscheiden. Sie zeigte einfach nur ein paar Punkte auf dem Bildschirm an. Ihr Plan war riskant, aber versprach das perfekte Versteck sollte er aufgehen. Sie würden etwa zweieinhalb Stunden brauchen, bis zu einer Wasserstelle, an der sie Tiere vermutete. Vielleicht hatten sie Glück und trafen auf dem Weg schon eine Herde. Im Schutze dieser Herde wollten sie die erste Nacht überstehen. Pluto zeigte dem Plan seine Schwächen auf, die nicht von der Hand zu weisen waren. Immerhin könnten sie die Scanner schon vorher einsetzen, so dass beim eigentlichen Start schon bekannt war, wo sie Unterschlupf gefunden hatten. Trotz der begrenzten Intelligenz der Verfolger würden sie schnell drauf kommen, wo sie sich versteckten und wenn es nur eine Herde innerhalb des drei Stundenradius gäbe, wäre das Versteck kein wirkliches mehr.

Sollten sie die Nacht überstehen, wäre eine verlassene Stadt, dass nächste Ziel. Hier wollte Dina die Verfolger stellen und das war das Argument mit dem sie Pluto für den Plan begeisterte. Ihre Chancen standen besser im Häuserkampf, als im freien Gelände. Auf der Karte von Dina war die Stadt deutlich eingezeichnet, während sie auf Plutos Karte fehlte. Scheinbar sollte vermieden werden, dass Flüchtlinge diese Versteckmöglichkeit in Betracht ziehen.

„Und dann?“ fragte Pius in seiner destruktiven Art und Weise.

„Nehmen wir an das klappt alles so schön wie das deinen Hirngespinsten entsprungen ist. Was dann? Willst du es mit dem ganzen Lager aufnehmen?“

„Da wird sich schon was finden.“ sagte sie beiläufig und Sentry rechnete es ihr hoch an, dass sie ihn nicht komplett ignoriert hatte.

Aber offenbar reichte das Pius nicht. Er war kurz vorm durchdrehen. Das alles war zu viel für ihn und wieder schaffte es Pluto die Zeitbombe rechtzeitig zu entschärfen. Er hatte eine gute Art mit Leuten umzugehen, die ihm den nötigen Respekt zollten. Vor diesem Wahnsinn musste er eine Art Führungsposition inne gehabt haben.

Pluto und Dina waren sich einig die Stadt zu erreichen, obwohl Pluto immer noch Zweifel an der Glaubwürdigkeit von Dinas Quelle hegte. Bis dahin würden sie an einem Strang ziehen, was auch den restlichen Gruppenmitgliedern zu Gute kam. Jeder hatte seine eigene Art mit dem Stress und der Angst fertig zu werden. Während Dina und Pluto versuchten keine Schwäche zu zeigen und damit ihren Alpha-Tierstatus untermauerten, vermittelte Sentry bei gelegentlichen Disharmonien zwischen den beiden. Wie in einer guten Beziehung, gab mal der eine mal die andere nach. Wirklich destruktiv war nur Pius, der mit seinen grundsätzlich negativen Kommentaren mittlerweile die ganze Gruppe verärgerte. Lars war der Schweigsame, der sich in sein Schicksal fügte und hoffte, dass die anderen das Beste für ihn versuchten, bereit seinen Teil zu tun, wenn er gebraucht würde. Wie weit dabei sein Mut gehen würde, war schwer einzuschätzen. Blieb noch Terra, der seine Angst damit überspielte, indem er sinnlos drauf los plapperte. Meist alte Geschichten und Märchen von seiner Heimatwelt. Sentry schaffte es diese Geschichten als beruhigendes Hintergrundgeräusch abzuschwächen.

Sie liefen zwei Stunden ein flottes Tempo. Trotz des zweiwöchigen Vorbereitungskurses hatte Sentry Probleme die Geschwindigkeit von Pluto zu halten und dementsprechend froh war er, endlich die erhoffte Herde zu finden. Es waren etwa zwanzig Tiere, welche vollkommen verwildert schienen. Sie reichten etwa hüfthoch und ihr Fell war flauschig.

„Mäh“ begrüßten einige sie und als sie merkten, dass die Neuankömmlinge keine Gefahr darstellten, widmeten sie sich wieder ihrem grünen Graß.

„Schafe, es sind Schafe“ rief Sentry aus seiner inneren verschütteten Bibliothek ab.

„Hier bleiben wir eine Weile. Es macht keinen Sinn im Dunkeln weiter zu gehen.“ sagte Pluto, als wäre der ganze Plan seine Idee.

„Wir sollten Maßnahmen gegen ungebetenen Besuch ergreifen. Wenn wir die Tiere weiter zum Wald hin treiben, wird es schwerer sich uns unerkannt zu nähern.“ fuhr er fort.

„Außerdem müssen wir Wachen einteilen.“

Die klaren Anweisungen belebten die Gruppe und erzeugten ein Gefühl von nützlichem Tatendrang. Auch wenn ihr Bestreben nach wirksamen Abwehrmaßnahmen im Angesicht tödlicher Waffen eher lächerlich wirkte, lenkte es kurz von der permanenten Angst ab. Pluto kam rüber zu Sentry und Dina, die etwas abseits der Gruppe standen.

„Wir werden heute Abend sicherlich Besuch bekommen. Sie werden Späher aussenden und dann im Morgengrauen zuschlagen. Wir müssen unbedingt den Späher erwischen. Das wird unsere Aufgabe. Die anderen drei sind die Lockvögel. Bekommen wir einen der Scanner, können wir ihre Signale stören.“

„Ich nehme an du hast dafür schon einen Plan?“ fragte Dina in freudiger Erwartung jemanden weh zu tun.

„Die Annäherung wird nicht von der Ebene her geschehen. Er oder sie werden aus dem Wald kommen und da werden wir sie erwarten.“ Sein ganzes Auftreten war das eines erfahrenen Soldaten. Sentry fragte sich, ob und wie viel Kampferfahrung er besaß.

„Ich kenne diese Art von Soldaten. Sie verlassen sich komplett auf die eingesetzte Technik. Die Wirkungsweise ihrer Scanner ist zweidimensional und da setzen wir an.“ Sentry schaute die Bäume hoch.

„Wir sind über den Schafen?“ fragte er. Pluto grinste nur zustimmend.

„Die drei Lockvögel passen auf, dass die Schafe hier am Waldesrand bleiben. Wir sichern die möglichen Zugänge ab.“

„Wie sollen wir sie erledigen?“ fragte Sentry, dem vollkommen unklar war, wie er einen ausgebildeten Soldaten überwältigen sollte.

„Überraschungsmoment und hoffentlich Überzahl sind das Wichtigste. Der jeweilige Beobachtungsposten muss angreifen, der Rest der Gruppe erledigt das Notwendige.“ Sentry wurde klar, würde ihn das Schicksal treffen, die Wahrscheinlichkeit gegen einen der muskelbepackten Jäger zu sterben, wäre sehr hoch. Auch eine Verletzung, mit anschließender Selbstheilung, würde einen so hohen Energiebedarf seines Körpers erfordern, dass er vermutlich einen Hungertod erleiden würde. Er hatte keine Ahnung wie er angreifen sollte, daher nahm er einen Stein mit auf seinen Hochsitz, um wenigstens das Gefühl einer Bewaffnung zu haben.

Jeder nahm seinen Platz ein. Die drei Lockvögel geduckt unter den Schafen, der Rest Ausschau haltend nach möglichen Veränderungen auf dem Boden unter ihnen. Das fahle Licht der zwei Monde erforderte ständige Konzentration und die Erschöpfung des Marsches drohte in Müdigkeit umzuschlagen. Sentry zweifelte, ob wirklich rechtzeitig Hilfe durch Pius, Terra oder Lars kommen würde. Trotzdem war er bereit, sich auf mögliche Feinde zu stürzen, sollten diese in seinem Bereich eindringen.

Es vergingen fünf Stunden und so langsam zweifelte Sentry, ob überhaupt jemand kommen würde oder schlimmer noch, der Späher ihm entgangen war und schon mittlerweile die komplette Truppe auf dem Weg zu ihnen wäre. Er bereute es den Stein mit auf den Baum genommen zu haben, denn zwei oder dreimal hätte die Schwerkraft beinahe dafür gesorgt, dass er seine Position verriet. Am schlimmsten war der Halbschlaf. Der Zustand, indem sein Gehirn nicht eindeutig zwischen Realität und Fantasie unterscheiden konnte. Er machte sich natürlich Gedanken über die weiteren Funktionen seiner Femtos. Die wildesten Fantasien wurden zeitweise zur vorgetäuschten Realität und ließen ihn schreckhaft in die Wirklichkeit zurückkehren.

Es waren die Schafe, die das Unheil ankündigten. Nur unmerklich, aber sie wurden unruhiger. Sentry merkte, wie sich ein halbes dutzend Tiere gleichzeitig dem Walde abwandten. Die instinktive Reaktion von Herdentieren, wenn eine Bedrohung nahte. Er bewegte sich keinen Millimeter mehr und horchte auf unbekannte Geräusche im Wald. Das Adrenalin durchflutete seinen Körper. Er wagte es den Kopf so zu drehen, dass er den Boden unter sich beäugen konnte. Zu dunkel, um klare Konturen zu erkennen. Seine Konzentration galt nun Veränderungen oder Bewegungen. Nichts, absolut nichts. War da etwas? Er war sich nicht sicher. Was, wenn er nur auf einen dieser Nager reinfiel, die man ihnen im Lager zu essen gab. Er musste absolut sicher sein. Da war eine Bewegung, aber was war es? Wo war das Nachtsichtfemto, wenn man es brauchte? Er konzentrierte sich auf den Punkt, an dem er die vermeintliche Regung wahrnahm. Wieder. Diesmal hatte er die Bewegung eindeutig gesehen. Er konzentrierte sich noch stärker. Dann sah er sie, die massive Gestalt unter ihm. Als hätte er erst das 3D Objektiv seiner Augen auf die richtige Ebene einstellen müssen. Sie lag klar und deutlich vor ihm, wie hatte er sie nur zehn Sekunden vorher nicht erkennen können. Damit war klar, er hatte den kurzen Strohhalm gezogen. Ihm war es vorbehalten zu reagieren. Er überprüfte den Boden nach weiteren möglichen Eindringlingen. Nichts zu erkennen. Ein Restzweifel blieb, aber damit konnte er sich nicht befassen. Wichtig war jetzt dieser Koloss unter ihm. Die beste Stelle für einen Angriff hatte er schon passiert. Also musste er einen Sprung wagen, um ihn zu erreichen. Er durfte nicht länger warten, sonst war er außer Reichweite. Seine Gedanken reduzierten sich auf das Notwendigste. Den Absprung. Den Rest musste sein angeborener Überlebenswille richten. Er stieß sich ab und von da an ging alles im instinktiven Automatikmodus weiter. Den Stein in der Hand, brüllte er sich den notwendigen Mut an.

Die Kraft war da, aber selbst das Adrenalin glich das lähmende Gefühl in seinen Muskeln nicht aus. Fünf Stunden im Baum sitzen erlaubten keine großen Sprünge. Eine Erkenntnis, die ihn zwang seinen Angriffsplan zu ändern. Der anvisierte Nacken war nun ein unerreichbares Ziel geworden. Als Ersatz musste der Rücken herhalten und die Genauigkeit, mit der er auf das Ziel zusteuerte, verlieh ihm zusätzliche Kräfte. In der Überzeugung ein Maximum an Schaden anzurichten, stürzte er sich laut schreiend auf sein Opfer. Zu seinem Leidwesen steckten die antrainierten Muskeln den Schlag weitesgehend unbeschadet weg. Mehr aus Überraschung, als aus Schmerz, überrumpelte er seinen Gegner.

Da er sich so sehr auf das Ziel konzentriert hatte, war es ihm unmöglich den knapp zwei Meter hohen Sprung ordentlich zu Ende zu bringen. Die Folge war ein Bruch des rechten Schienbeines und der Schrei, der ursprünglich als Verstärkung seines Angriffes diente, änderte sich in einen schmerzverzehrten Tonfall.     

Unverhofft schnell hatte sich sein Opfer von der Überraschung erholt. Die Panik angegriffen zu werden verhinderte vorerst einen gezielten Schuss aus seiner Waffe. Die ersten drei Kugeln verfehlten ihr geplantes Ziel deutlich, so dass an Stelle von Sentry eines der Schafe seinen Kopf einbüßte und damit das Zeitliche segnete. Den Fehler einsehend, nahm sich nun der Schütze einige Sekunden Zeit, um gezielter gegen seinen Angreifer vorzugehen. Sentry, mit dem Lauf der Waffe konfrontiert, sah seine einzige Überlebensmöglichkeit darin, sich mit dem verletzten Bein abzustoßen und in eine Vertiefung zu rollen. Das gab ihm ein paar zusätzliche Sekunden mehr Leben, auf Kosten eines erhöhten Schmerzpegels. Zwei einfache Schritte des Jägers und er war wieder im Visier. In der Erwartung nur noch seinen Gnadenschuss zu bekommen, fügte er sich dem unausweichlichen Schicksal.

Das Mondlicht erleuchtete die Gesichtszüge seines potentiellen Vollstreckers. Es war eine Mischung aus verletztem Stolz und Vorfreude, endlich das tun zu dürfen, weshalb man ihn ausgewählt hatte. Genüsslich legte er die Waffe an und zielte. Im Bruchteil einer Sekunde beeinflussten drei Faktoren die Tombola, die Sentrys Überleben am Ende doch noch garantierten. Einerseits zögerte der Schütze zu lange, was wohl der vermeintlichen Sicherheit geschuldet war, dass sein Opfer nicht mehr entkommen konnte und anderseits traf ein Ast mit voller Wucht sein Genick, so dass er die Waffe verriss. Wirklich entscheidend war Sentrys Ausweichreflex, der seinen Kopf erfolgreich aus der Schusslinie brachte. Der Luftzug des Projektils verriet ihm, dass es äußerst knapp am linken Ohr vorbei ging. Er schaute nach oben und sah in das Gesicht von Terra, der mit dem Ast in der Hand, wie ein Krieger aus längst vergangenen Zeiten wirkte. Er hatte ihm das Leben gerettet oder zumindest verlängert, denn seine Verletzung würde unangenehme Folgen nach sich ziehen.

„Yeahhhhhh“ brüllte Terra, als er sein Opfer bewusstlos vor sich liegen sah. Er war im Adrenalinrausch und den kostete er jetzt vollständig aus. Mittlerweile waren auch Pluto und Dina da und der Anblick von Frend, dem Jäger zu ihren Füßen, versetzte alle in ein Hochgefühl. Pluto griff die Kamera.

„An alle da draußen. Es steht eins zu null für uns.“ schrie er freudig in den Kasten.  

„Und noch etwas. Wir machen keine Gefangenen.“ Er gab Dina die Kamera.

„Halt auf ihn.“ sagte er trocken. Er griff nach dem Gewehr und sofort blinkte die rote LED. Die genetische Sperre verhinderte eine Nutzung durch Pluto. Er drehte Frend auf den Rücken, nahm seinen rechten Arm, legte seine Hand auf den Abzug und den Lauf an sein Kinn. Er lag nun da, wie zur letzten Ruhe gebettet. Die rote Lampe hörte auf zu blinken. Die Waffe war wieder scharf. Er drückte etwas umständlich Frends Hand am Abzug, dann verteilte sich das Gehirn in die Umgebung. Er hatte ihn exekutiert.

Er schaute wieder in die Kamera.

„Bleiben noch fünf“ sagte er in einem gespenstischen Tonfall, der bei allen Anwesenden Gänsehaut verursachte. Diese eiskalte Brutalität hatte keiner von ihm erwartet und stellte Pluto in ein ganz neues Licht. Urplötzlich waren alle froh, dass er auf ihrer Seite war. Diesen Mann hatte keiner gern zum Feind. Er nahm die Kamera und zerstörte sie an einem Baum.

„Sendeschluss.“ sagte er sarkastisch.

Dann holte er den Scanner und stellte den Störmodus ein.

„Jetzt wissen sie zwar wo der Scanner ist, aber sie können uns erstmal nicht mehr finden. Jedenfalls so lange, bis sie das Ding wieder gefunden haben.“ Er legte das Gerät hinter eine Wurzel. Er war jetzt der uneingeschränkte Anführer der Gruppe und Dina wagte es nicht mehr nach der Sache mit Frend irgendwelche Ansprüche zu stellen.

„Wir haben etwa drei Stunden, dann werden sie hier sein. Wir brauchen etwa sechs Stunden bis zur Stadt. Wir sollten so schnell wie möglich los.“ Er sah zu Sentry rüber.

„Wir lassen dich nicht zurück. Dafür hast du zuviel Mut bewiesen. Leider wirst du uns aufhalten. Also acht Stunden bis zur Stadt. Das wird verdammt knapp.“ rechnete er durch.

„Gib mir zehn Minuten dann bin ich wieder fit. Ich brauche bloß etwas zu essen. Energie für meinen Körper, sonst verrecke ich.“ gab Sentry gequält zurück. Der Heilungsprozess hatte mittlerweile begonnen.

Pluto sah ihn mitleidig an. Als sich der Bruch zu schließen begann, änderte sich der Gemütszustand aller Anwesenden in blanke Verblüffung. Nie zuvor hatten sie so etwas gesehen.

„Wow.“ kam es ausgerechnet vom sonst so stillen Lars.

„Was zum Teufel? Hat denn hier jeder seine Geheimnisse?“ fragte Pluto sich selbst, nicht glaubend, was er gerade gesehen hatte.

„Ja unserer Wunderknabe steckte voller Überraschungen.“ sagte Dina.

„Die ganze Sache hat nur einen entscheidenden Nachteil.“ kam es von Sentry ziemlich geschwächt.

„Das ganze verbraucht wahnsinnig viel Energie.“

Dina hatte am schnellsten reagiert und den toten Jäger durchsucht.

„Eine Flasche Kalorien und ein Messer, dass ist alles, was er bei sich hatte.“ Hektisch stürzte sich Sentry den erlösenden Trunk die Kehle runter. Es würde vermutlich nicht reichen, aber das schlimmste Hungergefühl dürfte damit gestillt werden.

„Hey. Wer sagt denn, dass wir nicht auch was wollten.“ warf Pius ein. Das war der Moment indem Pluto seine freundliche Art ihm gegenüber aufgab.

„Hör zu.“ sagte er scharf.

„Dieser Mann, hat sein Leben für uns riskiert. Wir lassen ihn nicht verrecken.“ Er nahm das Messer an sich und hielt es Pius vor die Nase.

„Wir wollen alle essen. Also mach dich nützlich und schneide ein paar Fleischfetzen aus dem Kadaver.“

„Menschenfleisch?“ fragte er zögerlich, immer noch das Bild vor Augen, wie Pluto das Gehirn des Jägers in alle Richtungen verteilte.

„Wenn du Appetit darauf hast, kannst du dir gerne etwas abschneiden. Ich bevorzuge Schaf.“ Er zeigte auf den irrtümlich getroffenen Kadaver, der etwas abseits lag. Damit ging er zu Sentry rüber.

„Wie geht’s dir?“ fragte er ihn.

„Ich habe immer noch einen riesigen Hunger. Jetzt kommt auch noch die Erschöpfung mit dazu.“ sagte er froh, dass man sich offenbar um ihn kümmerte. Zum ersten Mal hatte er das Gefühl mehr als nur ein Sklave zu sein. Ihm war klar, dass die nächsten Stunden anstrengend für ihn werden würden.

„Nette Vorstellung, die du da gezeigt hast. Erklärst du mir, wie du das gemacht hast?“ fragte Pluto mit einem gewissen Respekt.

„Ich weiß es selber nicht so genau. Irgendeine militärische Scheiße, die da meine Blutbahnen durchkreuzt.“ Er hatte keine große Lust auf langwierige Erklärungen. Seine Energie war begrenzt.

„Ein Jammer das du nichts über deine Vergangenheit weißt. Das wäre sicherlich hilfreich bei dem ganzen Spielchen hier.“ Damit ließ er ihn in Ruhe und das kam Sentry sehr zu Gute. Sein Bild über Pluto hatte sich nach der Hinrichtung komplett geändert. Als hätte er einen Teil des Respekts ihm gegenüber verloren. Was sie mit dem Gefangenen hätten machen sollen war ihm unklar, aber Mord wäre für ihn keine Option gewesen. Wenn er in seinem früheren Leben Soldat war, kam ihm die Abneigung gegenüber dem Töten doch sehr verwirrend vor. Es passte irgendwie nicht zusammen.

Er quälte sich hoch und stellte sich dem unausweichlichen Martyrium. Hoffentlich würde er durchhalten. Alle waren marschbereit. Etwas wackelig steuerte er auf Terra zu.

„Danke. Du hast was gut bei mir.“ sagte er mit schwacher Stimme    

„War mir ein Vergnügen.“ sagte er sichtlich gerührt. Offenbar waren solche Worte auch für ihn schon etwas länger her.

Der Fußmarsch übertraf alles an Qualen was er bisher erlebt hatte und das war ja nicht gerade wenig. Mehrfach brach er zusammen vor Schwäche. Irgendwann wurde das Hungergefühl so stark, dass kein Weitergehen mehr möglich war. Sie legten eine Pause von etwa dreißig Minuten ein, grillten die Fleischstücken, verzehrten sie hastig und gingen dann weiter.

Die Rast tat allen gut. Sentry fühlte sich zwar immer noch als könnte er drei Tage lang durchschlafen, aber immerhin war das Hungergefühl auf ein erträgliches Maß zurückgegangen. Sie näherten sich der Stadt und die Angst, kurz vorher von den Verfolgern gestellt zu werden, stieg mit jedem Schritt. 

Langsam wurden die Gebäude größer. Das ganze Ausmaß der Stadt war gar nicht ersichtlich. Unmöglich auszumachen, an welcher Stelle sie begann. Reste aus längst verfallenen Häusern glichen einer überwucherten Hügelkette aus Schutt und Geröll. Dieser halbnatürliche Höhenzug ging über in Ruinen, die so verkommen waren, dass teilweise nur noch eine Außenwand stand. Je mehr sie der vermeintlichen Innenstadt entgegen kamen, umso deutlicher wurden die Konturen der Gebäude. Als hätte man im Zentrum mehr Wert auf Bauqualität gelegt. Sie passierten gerade eine Ruine, dessen obere nördliche Ecke fehlte und damit aussah als hätte jemand ein Stück abgebissen, als sie ein intaktes Gebäude sahen, dem einzig sämtliche Fensterscheiben fehlten. Ansonsten war der quadratische Bau noch vollkommen intakt. Er hatte etwa zwanzig Etagen und war weit und breit das einzige Gebäude, das den trügerischen Eindruck vermittelte, es könne durch eine Renovierung wieder nutzbar gemacht werden. Da es die umliegenden Ruinen überragte, hatte man von dort aus einen perfekten Überblick.

„Unser neues zu Hause.“ bestätigte Pluto die Wahl für den Schauplatz, an dem er die Jäger stellen wollte.

Sie betraten die Lobby und der vernünftige Eindruck, den das Gebäude von außen machte, wurde schon im Eingangsbereich widerlegt. Offenbar waren einige Zwischendecken eingestürzt. Alles war voller Schutt und wirkte innerlich ausgehöhlt. Hier würde nicht nur eine Ecke abbrechen, die komplette Ruine stand kurz vor dem Kollaps und gefährdete damit die gesamte Umgebung. Blieb zu hoffen, dass sie eine weitere Nacht stehen bleiben würde.

Die Gruppe absolvierte den Weg auf die Dachterrasse unter größten Gefahren und des Öfteren gab es Stellen, die man gerade so aufwärts bewältigte, deren Rückkehr aber fast unmöglich erschien. Oben angekommen, offenbarte sich ihnen ein überwältigender Ausblick auf die Umgebung. Eine Unzahl an Ruinen befand sich rund um ihren Standpunkt. Ein Mahnmahl vergangener Zeiten. Wie viel Menschen haben hier mal gewohnt? Wie haben sie gelebt? Die Zeiten waren vermutlich besser als jetzt. Zum ersten Mal zeigte sich Sentry das Ausmaß der Katastrophe, die den Knick in der Entwicklung der Menschheit verursacht hatte. Warum hatte man kein Wissen über die Ursache einer solchen Tragödie? Selbst wenn es tausend Jahre her war, musste doch irgendwo hinterlegt sein, was dies alles hier verursacht hatte.

„Relikte aus längst vergangener Zeit.“ sagte Terra wehmütig.

„Was ist hier bloß passiert?“ fragte Sentry.

„Das ist so lange her, dass nur noch Gerüchte und Legenden vorhanden sind. Nicht nur hier. Die komplette Menschheit hat irgendwann mal einen kompletten Reset bekommen.“ antwortete ihm Terra. 

„Auf einmal kommt mir meine eigene verschüttete Vergangenheit so klein vor. Es gibt weit größere Rätsel da draußen, als mich.“ sagte er mehr zu sich selbst. 

„Wir müssen die Gegend absichern, es könnten sich Feinde nähern. Lars du den Norden und den Osten. Terra du gehst auf die Südwestseite. Ich glaube zwar nicht, dass sie sich vor Einbruch der Dunkelheit nähern, aber man weiß ja nie. Wir beide werden das Gebäude erkunden und schauen, ob wir eine geeignete Stelle für einen Hinterhalt finden.“ unterbrach sie Pluto. Mit „wir“ meinte er Dina und ihn. Offenbar hatten die beiden sich nach dem Zwischenfall im Wald gut arrangiert.

„Und was ist mit uns?“ fragte Pius, der merkte, dass er ordentlich Kredit bei Pluto eingebüßt hatte. Nicht nur das er Sentry die notwendige Energiezufuhr nicht gegönnt hatte, auch sein feiges Verhalten beim Waldangriff, ließen sein Minuspunktekonto bei Pluto enorm ansteigen.

„Mach etwas zu essen. Halte aber das Feuer klein.“  sagte er mehr beiläufig und ließ ihn damit wissen, dass er ihm nicht mehr zutraute.  

„Und du mein Freund hast drei Stunden um wieder fit zu werden. Also ruhe dich aus. Wir brauchen dich.“ wandte er sich an Sentry. Damit glitt dieser von der unendlichen Erschöpfung in einen hoffentlich erholsamen Schlaf.

Sein Schlaf war wieder traumlos. Nicht zum ersten Mal hatte er gehofft das Träume ihm etwas über ihn verraten könnten. Nichts. Wer immer verantwortlich für diese Blockade in seinem Kopf war, hatte ganze Arbeit geleistet. Die letzten Hinweise gab es auf Reds Schiff, als dieser ihm das Bild dieser Frau vor die Nase hielt. Da war die Tür zu seinem verlorenen Ich einen Spalt offen. Zu kurz für Antworten, aber lang genug, um weitere Fragen aufzuwerfen.

„Ich glaube es geht los.“ wurde er von Lars geweckt. Er brauchte ein paar Sekunden um zu realisieren, wo er war und was ihm bevor stand.

„Das Gebäude ist unser Trumpf. Ihre zweidimensionalen Scanner können nicht anzeigen auf welcher Etage wir uns befinden.“ sagte Pluto vor versammelter Gruppe. Es dämmerte inzwischen.

„Die siebzehnte wird unser Schlachtfeld. Einerseits könnten sie sich schon in den unteren Etagen das Genick brechen, anderseits sind die Verhältnisse auf der Etage am günstigsten für uns. Ihre Scanner können Wärmequellen anzeigen, wir haben nur das Mondlicht und das ist unser Freund auf der siebzehnten.“

„Wir greifen sie wieder an?“ fragte Terra voller Vorfreude auf einen weiteren Rausch, der ihm die Aktion im Wald einbrachte.

„Natürlich. Sie sind im Zugzwang. Sie können uns nicht einfach aushungern. Sie werden bluten und bereuen, dass sie gerade uns versuchen zu ficken.“ Er legte die Hand auf Terras Schulter.

„Das wird unser Abend.“ ergänzte er, wie ein Spielführer, der bereit war sich siegessicher einem scheinbar unterlegenden Wettkampf zu stellen. Nur das es hier keinen zweiten Platz gab. Kein Fairplay für den Verlierer. Nur Tod.

Sie nutzen einen anderen Weg nach unten. Dieser war weitaus sicherer, gerade bei einsetzender Dunkelheit. Pluto ging vorweg und untermauerte damit seinen Status als Anführer. Sentry überlegte ihn zu seinen militärischen Erfahrungen zu befragen, befürchtete aber, dass ihn das unabhängig von der Antwort, nur unnötig verunsichern würde. Die ganze Gruppe wirkte alles andere als entschlossen. Mal abgesehen von Pluto und Dina, gab es niemanden der im Falle von Konfrontationen die Kaltschnäuzigkeit besaß jemanden zu töten. Die Drecksarbeit würde an den beiden hängen bleiben und dadurch sah sich Pluto genötigt die Gruppe zu teilen.

Die siebzehnte Etage war in furchtbarem Zustand. Offenbar befand sich in der Vergangenheit auf dieser Ebene das technische Zentrum des Gebäudes. Über die letzten Jahrzehnte wurde dann nicht viel wert auf Filigranarbeit beim Plündern gelegt. Ganze Wände waren verschwunden. In den Böden klafften teilweise riesige Löcher. Das alles jenseits der siebzehnten noch in diesem Zustand existierte, glich einem Wunder. Wenn der Halt hier nachgeben würde, wäre von dem gesamten Gebäude nur noch ein gigantischer Schutthaufen übrig. Sentry redete sich ein, dass Pluto diesen offensichtlichen Schwachpunkt absichtlich aussuchte, um den Einsatz von Explosivgeschossen unmöglich zu machen. Hoffentlich sahen das ihre Verfolger genauso.

Plutos Taktik war äußerst defensiv. Verschanzen an einem möglichst schwer zugängigen Ort und dann beim Versuch der Verfolger sie zu stellen, einfach überrumpeln. Dina und er hatten die idealen Orte dafür gefunden, trotzdem klang das für die in Kampftechniken ungeübten Gejagten nicht sehr viel versprechend. Selbst wenn ihre Peiniger gezwungen waren auf ihre Projektilwaffen zu verzichten, hätten sie immer noch einen Vorteil im Nahkampf. Auf einen toten Jäger würden zwei getötete Gejagte kommen. Ein Ungleichgewicht zu Ungunsten ihrer Gemeinschaft. Es ging nicht darum zu gewinnen. Hier soll einfach niemand lebend raus kommen. Am Ende nicht kniend um Gnade flehend, das war Plutos Ziel. Aufrecht untergehen, mit möglichst viel feindlichem Blut an den Händen.

Gerade als sie sich die zwei Gruppen aufmachten die auserwählten Verstecke zu beziehen, brach das Unglück über sie herein. Sie betraten einen großen Raum, durch dessen offenen Boden man einen freien Blick auf die sechzehnte Etage hatte. Nur ein Steg von etwa einem halben Meter an der Wand war noch vorhanden. Über diesen wollte sich das erste Team in einem Nebenraum verschanzen. Dieser einzige Zugang würde Dinas Gruppe offene Flanken bei ihren Angreifern bieten, die mit gezielten Gegenangriffen zu einem möglichen Erfolg führen könnten. Sie waren gerade dabei diesen Plan umzusetzen, als sich plötzlich alles änderte. Der Schuss war vollkommen geräuschlos und nur der Einschlag verursachte in der Dunkelheit einen unangenehmen Klang. Die Reaktion auf das Splittern von Pius Schlüsselbein war daher mehr als verhalten. Außer Pluto reagierte niemand. 

„Wir werden angegriffen. Volle Deckung.“ brüllte er und verschwand hinter der nächsten Wand. 

Mit einsetzendem Schmerz realisierte Pius als nächstes was passiert war. Sie hatten ausgerechnet ihn getroffen. Er taumelte und suchte Halt an Lars. Unfähig den Angriff, die Verletzung und das Klammern von Pius gleichzeitig zu verarbeiten, stürzte Lars mit seinem Anhang in das vor ihnen klaffende Loch im Boden. Der Fall verhinderte weitere Treffer. Die Einschläge in der Wand hinter ihnen hätten gesessen. Auch wenn der Absturz schmerzhaft war, es rette beiden das Leben. Vorerst.

Da die Angreifer sich auf Lars und Pius konzentrierten, blieb den Verbliebenen die notwendige Zeit hinter halbverschütteten Wänden Deckung zu suchen. Im Bruchteil einer Sekunde musste sich Sentry entscheiden hinterher zu springen oder die zwei Meter bis zum schützenden Gang zu rennen. Obwohl ein Sprung auf den Schutthaufen unter ihnen keine schwerwiegenden Verletzungen hervorrufen würde, entschied er sich auf dieser Etage zu bleiben und rannte los. Dina vor ihm war bereits in Sicherheit. Terra neben ihm versuchte sein Glück in die andere Richtung, Pluto hinterher. Er hatte also freie Bahn. Plopp, plopp, plopp, schlug es an der Stelle ein, an der er eine halbe Sekunde vorher noch gestanden hatte. Noch einen Schritt und dann war es geschafft. Sein Herz raste als er sich an die Rückseite der schützenden Wand drückte. Im Mondlicht wirkten die neuen Konturen gefährlich und trübten die Freude über die kurzfristige Sicherheit. Er tastete sich ab, als wolle er sicher gehen, nicht einen Treffer übersehen zu haben. Keine Verletzungen. Sein Leben hatte sich gerade um ein paar Minuten verlängert.

Terra hatte weniger Glück. Ihn erwischte es mitten in den Oberschenkel. Bei einem normalen Projektil wäre die Verletzung nicht unmittelbar tödlich gewesen, aber der biologische Kampfstoff im Projektil hatte verheerende Wirkung. Die Lähmung setzte sofort ein. Waren es zuerst nur die Gliedmaßen, griff das Gift nach und nach auf lebenswichtige Organe über. Als die Lungen ihren Dienst einstellten, erstickte Terra qualvoll. Es dauerte etwa dreißig Sekunden bis das letzte Röcheln erstarb. Die fürchterlichste Waffe in diesem Spiel forderte ihr erstes Opfer und da ihr Besitzer Gefallen an dieser Art von Tötung gefunden hatte, stand zu befürchten, dass weitere folgen würden. Dieser Wahnsinn hatte eine neue Dimension.

Irgendjemand musste nicht aufgepasst haben. Anders konnte sich Sentry nicht erklären, wie ihre Angreifer so schnell an sie ran gekommen waren. Die Posten auf dem Dach hätten ihre Annäherung bemerken müssen. Alles war total schief gelaufen. Jetzt war jeder auf sich selbst angewiesen. Pluto war verschwunden, Terra war tot und Lars und Pius drohte ein ähnliches Schicksal eine Etage tiefer. Einzig Dina stand neben ihm. Sein vielleicht einziger Trumpf.

Die Lage hatte sich etwas beruhigt und der Wind, der durch die Ruine pfiff, war wieder das alleinige Geräusch im Hintergrund.

„Was jetzt?“ flüsterte Sentry zu Dina. Diese hatte die Überraschung noch nicht verarbeitet. Ähnlich wie er konnte sie nicht glauben, was gerade passiert war.

„Hey. Was jetzt?“ wiederholte er.

„Scheiße. Sie haben uns erwischt.“ antwortete sie. Es schien so, als ob sie mit dieser Erkenntnis endlich wieder zu alter Tatkraft zurückkehrte.

„Wir können nur noch nach oben. Und wenn sie clever sind, haben sie uns den Weg abgeschnitten.“ Das alles klang nicht sehr ermutigend. Sie sprach so leise, das es kaum zu verstehen war.

„Bleiben wir erst Mal hier. Es ist nichts in unmittelbarer Umgebung was uns weiterhelfen würde.“ Es widerstrebte ihm seine Position zu halten. Egal. Die Angreifer wussten nun auf welcher Etage sie waren. Mit Hilfe der Ortungsgeräte wäre es ein Leichtes sie aufzuspüren. Es war nur eine Frage der Zeit, wann der erste Jäger auftauchen würde.

Dina schien sich mit dem Abwarten auch nicht wirklich anfreunden zu können. Was waren die Alternativen? Es nach oben zu probieren, wäre zu gefährlich. Da waren auch noch Lars und Pius, die Hilfe benötigten. Auch wenn das Verhältnis eher distanzierter Natur war, sie gehörten zur Gruppe und Sentry wollte ihnen wenn möglich helfen.

„Einfach nur da sitzen und warten dass sie uns finden. Nicht mit mir. Wenn wir schon drauf gehen dann mit Anstand.“ Dina wirkte fest entschlossen. 

„Wir sollten auch eine Etage tiefer. Das verwirrt sie ein paar Minuten. Irgendwo in den Räumen dahinten gab es Löcher durch die wir durch können.“ Sie wartete keine Reaktion von Sentry ab, ein Zeichen dafür, dass sie nicht auf Diskussionen aus war. Jetzt wo Pluto weg war, sah sie sich wieder als unumstrittene Anführerin. Sie stürzte in die Dunkelheit und Sentry beschloss zu folgen, bevor er sie aus den Augen verlieren würde. Wenn Pius und Lars noch am Leben waren, würden sie in der Gruppe vielleicht wieder bessere Chancen haben. Wem machte er was vor? Derzeit ging einzig und allein darum, nicht als nächster hingerichtet zu werden.

Dina zu folgen war ziemlich halsbrecherisch, trotzdem schaffte er es nicht zu stürzen. Ein paar Abschürfungen und eine Risswunde war das Einzige, was er einstecken musste. Nichts, was die Femtos nicht in Kürze wieder hinbekommen würden. Nicht zum ersten Mal kam ihm der Gedanke, dass sie ihn vielleicht sogar von den Toten auferstehen lassen könnten. Absurd und selbst wenn, wäre das vermutlich kein angenehmer Vorgang. Trotzdem interessierte es ihn, wo die Grenze dieser kleinen Kerle war und wie sehr er damit seinen Körper belasten konnte.

Sie standen wieder vor einem dieser Löcher im Boden. Der zugehörige Schutthaufen hatte keine angenehme Höhe zum gefahrlosen Springen, so mussten sie sich mühsam runter hangeln, was im Dunkeln nicht ganz ungefährlich war.

Es war schwierig geräuschlos voran zu kommen. Jedenfalls für ihn. Dina dagegen bewegte sich katzengleich durch die halb verschütteten Gänge. Eine gewisse Anmut war ihr nicht abzusprechen. Plötzlich stoppte sie und gemeinsam lauschten sie in die Stille. Die leise Stimme vor ihnen war eindeutig Lars zuzuordnen. Offenbar schaffte der es, das erbärmliche Wimmern von Pius zu beruhigen. Mehrere Minuten standen sie regungslos da. Sie mussten was unternehmen, aber Pius Gewimmer hatte vermutlich bereits jeden Feind in der Umgebung angezogen. Die Überlegungen, den beiden zur Hilfe zu kommen, erledigten sich, als das tödliche plopp zu vernehmen war. Die Panik ein paar Meter vor ihnen war deutlich spürbar. Sie konnten nichts tun, ohne selber in die Schusslinie zu geraten. Resignation erkannte er trotz der Dunkelheit in Dinas Gesicht. Sie würden die nächsten sein. Die Kugeln würden aus dem Dunkeln kommen, wenn sie am wenigsten damit rechneten. Bevor seine Fantasie in blanke Panik umschlug, holten ihn Explosionen in die graue Realität zurück. Nicht Kugeln würden sein Schicksal sein. Nein. Diese Ruine würde ihn begraben. Bitte holt mich nicht zurück, gab er noch als unterschwellige Botschaft an seine Femtos. Dann stürzte die Wand neben ihn ein und begrub ihn unter sich.   

 

 

 VII

„Nicht den Tod sollte man fürchten, sondern ein Leben ohne Prinzipien. Wer für jene einsteht fürchtet sein Ende nicht.“

Silas Winkelmann

 

Sie hatten ihn einfach exekutiert. Das die ganze Sache keine harmlose Spielerei bleiben würde, war Eva bewusst. Auch das es den einen oder anderen Toten geben würde, damit hatte sie gerechnet, aber dieses sinnlose Töten nahm ihr kurzzeitig die eh schon zu dünne Luft zum Atmen. Das Bild, wie sich die Gehirnmasse von Frend im Grün des Nachtsichtgerätes darstellte, würde sie nie wieder aus dem Kopf bekommen. Das ganze Schauspiel kam ihr immer absurder vor. Warum musste man sich gegenseitig in einem Wald töten? Lag es nicht in der Natur des Menschen friedlich in einer Gemeinschaft für einander da zu sein? Kinder, Familie und gegenseitiger Respekt sollten die Eckpfeiler einer funktionierenden Gesellschaft sein. Hier herrschten Angst, Grausamkeiten und Leid. Würde die ursprüngliche Philosophie des Tempels auch nur annähernd umgesetzt werden, wäre Prem der freundlichste Platz auf ganz Lassik. Wo sind sie vom Weg abgekommen? Wie oft in der Geschichte der Menschheit endeten gute Ansätze in solchen Katastrophen? Ganze Religionen fußten auf Ideen großer Männer und wurden anschließend missbraucht für die Zwecke weniger Mächtiger. War die Menschheit verdammt ihre Fehler immer und immer wieder zu wiederholen? Der Teufelskreis musste doch zu durchbrechen sein. Eva weinte. Nicht um Frend oder die armen Gejagten. Sie weinte, weil ihr bewusst wurde, dass es auf dem ganzen Planeten keinen gab, der auf die Definition Mensch passte. Wollte das Volk von Lassik überleben, war ein Neustart jenseits egoistischer Bestrebungen notwendig. Etwas, indem das Glück des Individuums im Glück der Gesellschaft aufging. Ein perpetuum mobile der Philosophie. Die Naturgesetze des menschlichen Wesens waren unumstößlich und mit dieser Erkenntnis flossen die Tränen. 

Die Reaktion von Dirk war bemerkenswert ruhig. Er stand einfach nur da und starrte ungläubig auf das Pad. Seine große Chance sich zu beweisen war dahin, bevor er überhaupt aktiv eingreifen konnte. Die ganzen Phantasien über den glorreichen vierten Zug, der unter dem Jubel aller Tempelmitglieder die Trophäen ins Lager zurückbrachte, wichen der Ernüchterung über das Scheitern. Noch niemals kam ein Mitglied der Jäger ums Leben. Alles was er jetzt noch tun konnte, war Schadensbegrenzung um seine Stellung im Lager nicht vollends zu verlieren. Das Gefühl irgendwas kaputt machen zu müssen, war immer noch übermächtig, aber er begriff, dass seine Wut warten musste. Was er jetzt brauchte, war ein kühler Kopf. Er würde seine Gelegenheit der Rache bekommen. Mit dieser Gewissheit konzentrierte er sich auf die kommenden Aufgaben.

„Sie haben unsere Ortung gestört.“ holte Kossak ihn in die Gegenwart zurück. Dirk schaute auf das Pad und sah einen einzelnen blinkenden Punkt auf dem Bildschirm.

„Vielleicht eine weitere Falle. Diesmal gehen wir geschlossen vor. Sobald Dolph hier ist, brechen wir auf und beenden das Störsignal.“ Es würden noch etwa zwanzig Minuten bleiben bis die Gruppe wieder komplett wäre. Das Aufteilen der Gruppe war schief gegangen und in dem Glauben diesmal würde er alles besser machen, gab er damit den Gejagten den nötigen Vorsprung, den sie brauchten.

Der Aufbruch wirkte wenig koordiniert. Von einer militärischen Ordnung war der Trupp weiter entfernt als je zuvor. Mit dem Verlust der Ortung konnte der Feind praktisch hinter jedem Baum lauern und was dieser mit seinen Verfolgern machte, wurde bereits eindrucksvoll vorgeführt. Trotz starker Bewaffnung war die Angst das vorherrschende Gefühl und bremste die Marschgeschwindigkeit maßgebend. Plötzlich war ganz Prem gefährliches Terrain. Erst nach Erreichen der Lichtung und mit der Beseitigung des Störsignals, kam die bekannte Sicherheit zurück. Sie wurden bisher nicht angegriffen, aber der Anblick von Frends Leichnam führte ihnen ein mögliches Ende vor Augen.

In Dirk glimmte die Wut erneut auf und wurde verstärkt durch den Fakt, dass ihre Opfer gezielt auf die Ruinen der alten Stadt zusteuerten.

„In den Ruinen wird es unmöglich sein sie zu stellen.“ In Juths Stimme klang blanke Panik mit. Für Dirk gab es nun kein Halten mehr. Er zog sein Messer und hielt es Juth an die Kehle. An den Stamm eines Baumes gepresst, genoss er es seinen Zorn endlich von der Leine zu lassen.

„Hör zu. Für dich gibt es nur zwei Optionen. Entweder du gehst mit uns da rein und stellst dieses Pack oder wir lassen dich hier verrotten. Ich werde in nächster Zeit so einiges töten. Es liegt an dir, ob du mit dabei bist.“ Die Drohung verfehlte ihre Wirkung nicht. Die ganze Gruppe bereute es mittlerweile an diesem Ort zu sein. Geplant war ein Schauspiel, das vom ersten Moment an auf einen unumstrittenen Triumph ausgelegt war. Das Gefühl auserwählt worden zu sein, um dem Tempel die eigene Loyalität zu beweisen, änderte sich in pure Sorge um ihr Leben. Sie hatten die Waffen, sie hatten die Technik und kannten das Gelände. All diese Vorteile schienen nichtig gegenüber dem Überlebenswillen ihrer Opfer. Der Trupp war ordentlich verunsichert.

Für Dirk war es egal, dass seine Drohung gegenüber Juth durch die Übertragung im Lager auf Unmut stieß. Es gab nur noch die Rache für die zugefügte Schmach und die sollte so blutig wie möglich ausgelebt werden. Als kein Widerspruch mehr zu erkennen war, ließ er ab. Sie machten sich nicht die Mühe Frend zu beerdigen. Es war nicht die Zeit für Trauer, dass musste warten, bis die offene Rechnung beglichen war. Umgehend folgten sie den Punkten auf dem Pad und gegen Mittag erreichten sie den Rand der ehemaligen Stadt. Seit zehn Minuten war keine Bewegung der Ziele mehr zu vernehmen, was ihnen die Möglichkeit einer Pause gab.

„Sieht nicht so aus als würden sie weiter wollen. Könnte wetten die haben sich in der großen Ruine im Zentrum verschanzt.“ kam es von Kossak.

„Scheiße, das sind über zwanzig Etagen. Da nützen unsere Scanner nicht viel.“ Dirk klang resigniert.

„Vor allen Dingen sehen die uns von da aus schon meilenweit vorher kommen.“ Es war der erste Beitrag den Eva beisteuerte.

„Ich sags nur ungern, aber sie hat Recht. Wir sollten warten bis es dunkel wird.“ pflichtete ihr Kossak bei.

„Es gibt einen Hügel in der Nähe. Von dem haben wir freien Blick auf die Ruine, ohne dass sie uns selber sehen. Da haben wir genug Deckung.“ Dirk konnte den Gedanken nicht ertragen das die Gejagten einen weiteren Angriff gegen sie starten könnten. Trotz der Ortung hatten diese Bastarde die Unverfrorenheit besessen sie zu attackieren. Länger an einem Platz zu verweilen, war daher alles andere als vorteilhaft, aber Kains aufgedrückte Bürde hatte Recht. Eine Annäherung bei Tageslicht würde ihnen einige taktische Vorteile nehmen. Ihm blieb nichts anderes übrig als zu warten.

Sie bezogen Stellung an dem geplanten Platz. Kossak beobachtete mit seinem Scharfschützengewehr das verfallene Gebäude, konnte aber keinerlei Aktivitäten ausmachen. Dolph und Juth sicherten das Lager und Eva kam wieder die Rolle des unnützen Anhangs zu. Es würde ein paar Stunden dauern, ehe es dunkel würde. So nutze sie die Zeit, um den verlorenen Schlaf der letzten Nacht nachzuholen. Sie wollte ausgeruht sein zum finalen Schlag, allerdings war es ihr unmöglich wirklich zu regenerieren. Zuviel ging ihr im Kopf herum. Sie würde sich für eine Seite entscheiden müssen. Falsch, eigentlich war die Wahl entschieden, es ging nur um den Zeitpunkt, wann sie allen Mitwirkenden ihren Verrat offenbarte. Wieder und wieder stellte sie vor ihrem geistigen Auge Situationen nach, in denen sie möglichst schadfrei die Seiten wechseln konnte. Irgendwann stellte sich Resignation ein. Die vor ihr liegenden Ereignisse waren nicht mal annähernd vorherzusagen. Es würde eine Frage der Intuition werden und hoffentlich hatte sie in den Jahren des Tempels nicht alles in der Richtung eingebüßt. Ihre Selbstzweifel waren gerade nur hinderlich, weswegen sie sich mit Gedanken zu der Zeit vor dem Tempel ablenkte, Erinnerungen an ihre Mutter, an ihre Schwester, an die heile Welt, in der alles so einfach schien. Wie ist sie nur hier her gekommen? Wie konnte das alles nur geschehen? Wehmütige Gedanken waren nur lähmend und so suchte sie die Konfrontation mit Dirk.

„Was ist meine Aufgabe beim bevorstehenden Angriff?“ fragte sie ihn. Die Kameras waren aus, so dass Dirk keinerlei Skrupel haben musste derb zu werden.

„Einfach nur gut aussehen. Wir werden dir das Weib schön präsentieren und wenn du Angst hast dir einen Nagel abzubrechen, wird schon jemand für dich einspringen, um das Ganze zu beenden.“ Die herablassende Feindseligkeit tat Eva weh. Im Mikrokosmos des Tempels war sie solche Worte nicht gewöhnt. Das Gemeinschaftsgefühl, auch wenn es auf falschem Fundament aufgebaut wurde, war wie eine Droge und sie setzte man gerade auf kalten Entzug. Da war es wieder, das Empfinden der Einsamkeit. Der Grund, warum sie damals den Lehren des Führers folgte. Sie gehörte nun nicht mehr dazu, nicht zur Gruppe und auch nicht mehr zum Tempel. Verrat war niemals einfach, aber ihre Familie der letzten Jahre zu hintergehen, war ungeheuer schwer. Zum Glück tat Dirk alles dafür, ihr diesen Schritt zu vereinfachen. 

„Ich kann nicht nur einfach daneben stehen. Ich brauche eine Aufgabe.“ sagte sie trotzig.

Dirk war genervt. Zwei Schritte, dann stand er Eva gegenüber. Die Faust flog auf sie zu. Sie schaffte es mit einem Ausweichmanöver das Schlimmste zu verhindern, aber der Treffer hatte es trotzdem ordentlich in sich. Sie sackte zu Boden.

„So was wie dich fick ich normalerweise dreimal täglich. Das ist das Einzige, wofür ihr gut seid. Du bist nur hier, weil du den Schwanz von Kain lutschst. Glaub nicht, dass du mir deswegen irgendwas vorschreiben kannst.“ Dirk war wieder außerhalb jeglicher vernünftiger Verhaltensweisen. Ein Zustand, in dem er jemanden töten würde, ohne es auch nur annähernd zu registrieren. Die Bestie war wieder von der Leine und befand sich in einem Blutrausch.

„Dreimal täglich. Du kannst doch froh sein, wenn du ihn überhaupt noch hoch bekommst.“ spuckte sie ihm mit einem Blutstrom entgegen und rappelte sich mühsam wieder auf. Die Ohnmacht stand unmittelbar bevor. Sie musste unbedingt wach bleiben, denn nach dieser Bemerkung würde Dirk sie nicht mehr aufwachen lassen.

„Du miese ...“ er brach ab, als er die Pistole auf sich gerichtet sah.

„Und jetzt? Du schaffst es doch nie mich zu töten.“ spie er verächtlich aus.

„Vielleicht nicht. Aber es gibt andere Möglichkeiten.“ Sie zielte einen halben Meter tiefer, genau auf sein Gemächt.

„Vielleicht breche ich mir dabei den Nagel ab, aber der Frauenwelt werde ich damit einen Gefallen tun.“ Sie war kurz vorm Umkippen. Es war jetzt an Dirk eine Entscheidung zu fällen. Er musste sein Gesicht wahren, denn sich von einer Frau Bedingungen diktieren zu lassen, passte nicht in sein Weltbild.

„Gruppenführer melden Sie sich.“ tönte es aus dem Kommunikationsgerät. Es war die Stimme von Kain, welche die Situation leicht entschärfte. Keinen Moment zu früh, denn in Dirk reifte der Gedanke das Risiko einer Bestrafungsaktion einzugehen. Ein kurzes Zögern, dann entschied er sich zu antworten.

„Herr General.“ Das Bild auf dem Bildschirm zeigte Kains Gesicht.

„Ich verkneife mir die Frage wie es läuft. Ich denke das wissen Sie besser als ich.“ Dirk wollte zu einer Ausrede ansetzten, aber Kain unterbrach ihn sofort wieder.

„Das müssen Sie mit sich selber ausmachen. Wichtig ist nur die neue Anweisung. Keiner der Gejagten wird getötet. Wir brauchen sie lebendig. Haben Sie mich verstanden Gruppenführer?“

Dirks Zorn über Eva war schlagartig verraucht. Hatte er noch gerade überlegt, wie er nach der Kommunikation mit Kain ihr größt möglichen Schaden zufügen könne, war er nun so überrascht, dass er für einen Moment keinen klaren Gedanken fassen konnte.

„Ich brauche eine Bestätigung, Gruppenführer.“ Kain klang ungeduldig.

„Wieso die Änderung der ...“ er wurde von Kain unterbrochen.

„Das hat Sie nicht zu interessieren. Ich werde Ihnen den ersten und zweiten Zug zur Unterstützung schicken. Sie machen gerade mobil. Warten Sie auf dieser Position, bis sie da sind. Das Kommando werde ich dann übernehmen. Ich brauche eine Bestätigung, dass sie meine Anweisung verstanden haben.“

In Dirk arbeitete es. Obwohl ihm Kain nur eine Möglichkeit aufgezeigt hatte, schien er andere Optionen abzuwägen.

„Gruppenführer, es gibt nur eine Antwort auf meine Anweisung und die würde ich jetzt gerne von Ihnen hören.“ drängte Kain.

„Ich habe verstanden Herr General.“ antwortete Dirk pflichtbewusst.

Das Bild erlosch und Dirk setzte seine unterbrochene Abwägung der Möglichkeiten fort. Es dauerte nur ein paar Sekunden, bis er für sich eine Entscheidung traf. Er nahm sein Gewehr und kam rüber zu Eva. Die wiederum ging in Abwehrstellung.

„Siehst du diese Waffe. Die grausamste Art und Weise jemanden zu töten. Hör ich ein Wort von dir, kannst du dich persönlich davon überzeugen, was ich damit meine.“ Er wartete noch einen Moment um sich zu versichern, dass seine Drohung die gewünschte Wirkung hinterließ und brüllte dann los.

„Alles sofort antreten.“ Keine zwanzig Sekunden und der Trupp war vollständig angetreten.

„Wir rücken aus. Unser Püppchen hier wird uns den Rücken frei halten und bleibt hier.“ Er zeigte mit dem Gewehrlauf auf sie, so als wollte er sie dran erinnern, was er ihr gerade angedroht hatte. Es dämmerte mittlerweile, aber so richtig dunkel war es noch nicht. Kossak wollte seinen Einwand erst die Dunkelheit abzuwarten erneuern, aber Dirk brachte ihn mit einem Blick, der keinen Widerspruch duldete, zum Schweigen.

Sie rückten zu viert aus und Eva blieb allein zurück. Mit dem Verschwinden von Dirk verflüchtigte sich auch die unmittelbare Gefahr, was ihr Körper mit der Einstellung der Adrenalinproduktion feierte. Der zusätzlichen Energie beraubt, drohte ihr nun doch noch die Ohnmacht, also setzte sie sich und sammelte ihre Kräfte. Es dauerte etwa zehn Minuten, bis sie die Nachwirkungen des Schlages halbwegs verarbeitet hatte. Zeit, die sie nutzte, um die Ereignisse der letzten Minuten nachzuvollziehen. Kain hatte Dirk zurückgepfiffen, was dieser offensichtlich ignorierte. Damit war für ihn das Kapitel Tempel endgültig erledigt. Niemand hinterging Kain und machte so weiter wie bisher. Mal abgesehen von ihr selbst, allerdings würde sie dafür einen hohen Preis zahlen müssen. Sicherlich nichts, womit Dirk punkten könnte. Viel wichtiger schien ihr jetzt aber der Grund warum die Gejagten auf einmal verschont werden sollten. An der Gruppe war wohl mehr dran, als es im ersten Moment den Eindruck machte. Sie musste hinterher. Einfach sitzen bleiben und hoffen dass die Richtigen überlebten, kam nicht in Frage.

Sie hatte sich bereits für eine Seite entschieden und nun galt es alles dafür zu tun den richtigen Ausgang der Ereignisse zu erzwingen. Damit hatte sie nicht nur die Gejagten als Feinde, sondern auch Dirk und seine Leute. Es war genau die Phase ihres Verrates, in der sie alle gegen sich hatte. Nur sechs Kugeln. Zu wenig für die Gefahr, die sie umgab.

Das sie Dirk die Stirn geboten hatte, gab ihr zusätzliches Selbstvertrauen. Die neue Eva war geboren. Sie war so winzig, dass sie drohte neben der Tempel-Eva erdrückt zu werden. Trotzdem, die Saat war gesät. Jetzt galt es das zarte Pflänzchen zu hegen und zu pflegen. Sie wusste zwar nicht was sie am Ende ernten würde, aber es wäre frei von Fremdeinflüssen. Kein Vater, kein Tempel nur hundert Prozent Eva. Hoffentlich würde sie lang genug am Leben bleiben.  

Die Verfolgung startete Eva etwa zwanzig Minuten später. Sie schätzte, dass Dirk und seine Leute zu dem Zeitpunkt an den Pforten der Ruine standen. Ihre Ortungsgeräte würden sicherlich registrieren, dass sie ihren Posten verließ. Sollten sie doch. Das Zeitfenster für Dirks Trupp die Jagd zu beenden war so gering, dass ihnen gar nichts anderes übrig blieb, als Eva zu ignorieren. Innerhalb des Gebäudes wäre sie dann praktisch unauffindbar für die Ortung. Stockwerk für Stockwerk würde sie bewältigen. Blieb bloß die Hoffnung, dass sie rechtzeitig den Schauplatz erreichen würde, um aktiv eingreifen zu können. Nur Dina kannte ihren Sinneswandel. Alle Anderen in diesem Gebäude würden nicht zögern sie zu töten. Die Einsamkeit schlug mit längst vergessener Intensität durch. Etwas Gutes hatte es. Die Angst war nicht mehr das vorherrschende Gefühl.

Ein riesiger Schuttberg bedeckte das Erdgeschoß. Nur die Treppen waren in relativ gutem Zustand. Die unteren drei Etagen waren zwar fast komplett eingestürzt, aber die Stufen an den Seiten ermöglichten ein relativ sicheres Vorankommen. Es gab ein paar wenige Stellen, an denen sie größeres Geschick aufweisen musste, um nicht abzustürzen. Zu ihrem Glück waren die oberen Etagen in besserem Zustand, denn die zunehmende Dunkelheit erwies sich als großes Problem. Die beiden Monde erhellten nicht jede Stelle ihres Aufstieges, so dass sie öfter gezwungen war in zeitaufwendigen Tastaktionen den sichersten Weg zu erkunden. Sie lauschte auf jeder Ebene nach ungewöhnlichen Geräuschen, konnte aber nichts ausmachen, was auf irgendwelche Kämpfe hindeutete. Erst auf der fünfzehnten Etage hörte sie neben dem Wind, der durch die zerstörten Fenster pfiff, etwas was nicht natürlichen Ursprungs war.  

Als hätte jemand bei ihr einen Schalter umgelegt, war sie augenblicklich im Kampfmodus. Nicht das sie viel Erfahrung in militärischen Aktionen hatte, aber die Notwendigkeit im richtigen Moment in Deckung zu gehen, war in diesem Zustand deutlich erhöht. Sie hielt den Atem an, um besser die Umgebung wahrzunehmen. Es war unmöglich das Geräusch zu zuordnen, aber in dem Moment war es auch wichtiger eine Entfernung zur Quelle zu schätzen. Eine vielleicht zwei Ebenen über ihr. Die Treppe sah gut aus, nichts was ihr den Hals brechen könnte. Langsam, versuchend jedes Geräusch zu vermeiden, nahm sie Stufe um Stufe.

Sie war nun auf der sechzehnten Ebene. Vollkommen reglos lauschte sie in die Dunkelheit. Noch immer war es ihr unmöglich festzustellen, was sich da vor ihr befand. In Zeitlupe verließ sie die Treppe, immer noch bemüht jegliche Aufmerksamkeit zu vermeiden. Die Wände auf dieser Ebene waren nur noch rudimentär vorhanden. Durch die Löcher in den Decken schien das Mondlicht. Die Etage über ihr war eindeutig die baufälligste im ganzen Gebäude. Als hätte man gezielt Steine entnommen, um zu testen wie weit die Außenwände die Last der oberen Stockwerke aushielt. Alles über ihr drohte jeden Moment einzustürzen. Ihr kam Juth mit seinen Explosivgeschossen in den Sinn. Plötzlich war der Drang diese Ruine zu verlassen übermächtig.

Bis auf dieses unbekannte Geräusch war es ruhig. Zu ruhig für zehn Leute, die sich garantiert über ihr befanden. Entweder war der Kriegsschauplatz auf höheren Etagen oder sie lauerten reglos hinter halb eingefallenen Wänden, bereit sich auf alles zu stürzen, was so naiv war sich ihrer Position zu nähern. Langsam aber stetig kam sie voran, die Pistole im Anschlag und immer die best mögliche Deckung suchend. Obwohl sie sich zwang natürlich zu atmen, war ihr das auf Grund der Anspannung unmöglich. Ihre ganze Konzentration galt der Verminderung jeglicher Geräusche und das schloss das Luft holen mit ein. Ihr Hörsinn war so geschärft, dass sie auf jeglichen abweichenden Laut sofort reagieren würde. Mit dieser Taktik kam sie gut voran, bis sie auf ein Hindernis traf, welches eine Änderung ihres bisherigen Vorgehens notwendig machte. In der Wand vor ihr klaffte ein riesiges Loch. In dem bisherigen Tempo würde sie mindestens eine Minute brauchen, um dieses zu passieren. In der Zeit wäre sie gleich von mehreren Seiten ohne Deckung. Daher entschied sie sich für die Alternative. Vorbeirennen und am Ende der Wand in Deckung gehen.

Wieder versuchte sie in der Stille etwas Ungewöhnliches zu vernehmen. Nichts. Doch da war etwas, ein Bruchteil einer Sekunde bevor sie ihren Plan in die Tat umsetzen konnte. Ein Flüstern versetzte sie in Starre. Sie war unfähig sich zu rühren. Jemand rief einen Namen, so leise, dass sie nur anhand der Stimmlage erkannte worum es ging. Es waren also mindestens zwei Leute keine zehn Meter von ihr entfernt. Sie war sich sicher, dass sie noch nicht bemerkt wurde, immer vorausgesetzt, die Ortungsgeräte der Jäger verrieten sie nicht. Sie beschloss zu warten, die Dinge laufen zu lassen und einzugreifen, wenn es notwendig werden würde.     

 

Dirk konnte keinen klaren Gedanken fassen. Die Ereignisse überrollten ihn gerade. Erst dieses widerborstige Miststück und jetzt diese vollkommen irrwitzige Anweisung. Das alles garniert mit Frends Tod und dem totalen Versagen bei dieser Jagd, ließ ihn den geistigen Ausnahmezustand zur Regel machen. Kein Tempel mehr, kein Kain, nur noch persönliche Rache. Wieder kam ihm das Bild in den Sinn, wie dieser Mistkerl seinen Kameraden einfach hingerichtet hatte. Dieses Triumphgefühl, was sein Henker dabei an den Tag legte, nährte seine Wut. Diese Verhöhnung war die Spitze dessen, was die letzten Stunden schief gelaufen war. Er kannte nur noch ein Ziel. Den möglichst schmerzhaften Tod dieses Bastardes.

Seine letzte rationale Aktion bestand darin, Kains Schlampe am Leben zu lassen. Er verzichtete auf die kurzfristige Befriedigung, da er eine Meuterei oder mindestens Komplikationen seiner verbliebenen Leute befürchtete. Für so was hatte er gerade keine Zeit. Außerdem war sie ein zähes Luder, was sich zu wehren wusste und Dirk hoffte, dass es eine zweite Chance für die Lektion gäben würde, die er ihr unbedingt erteilen wollte. Die Wahrscheinlichkeit dafür war relativ gering, denn Kain würde die Missachtung seiner Befehle nicht ungestraft hinnehmen. Was ihn für sein eigenmächtiges Handeln erwartete, war ihm derzeit unwichtig. Sie würden ihn nicht gleich vor die Tür setzen. Seine Fähigkeiten würden noch gebraucht werden. Ein paar Wochen Bautruppen war ihm seine Rache wert.

Die Mobilmachung der Verstärkung würde nicht lange dauern, daher mussten sie sich beeilen. Das Vorrücken zum Gebäude glich einem Sturmlauf. Keine militärische Taktik, einfach so schnell wie möglich voran kommen. Völlig außer Atem standen sie in der Lobby. Dirk verzichtete auf Erklärungen für den überstürzten Aufbruch und ignorierte damit die fragenden Gesichter seiner Kameraden.

„Sie sind hier. Am besten wir fangen von oben an die Stockwerke zu durchsuchen.“ Er schaute auf sein Pad. Der einzelne Punkt, den sie zurückgelassen hatten, begann sich ebenfalls zu bewegen. Also legte sie es drauf an. Vielleicht bekam er doch noch seine Chance. Wenn sie ihm zufällig vor den Lauf käme, würde er nicht zögern abzudrücken. Ein tragischer Unfall.

Es war wiederum Kossak, der auf die Schwächen des Planes hindeutete.

„Es besteht die Gefahr, dass sie uns entwischen, wenn wir von oben anfangen.“

Dieser Kossak ging ihm auf die Nerven. Ständig stellte er seine Entscheidungen in Frage. Nicht zum ersten Mal überlegte Dirk ihn zu ersetzen. Mit seiner Besserwisserei sollte er andere nerven.

„Wenn sie uns entkommen wollten, wären sie nicht in diese Ruine geflohen. Die lauern da drin und glauben uns dran zu kriegen. Die werden sich furchtbar irren.“

Dirk ging voran. Obwohl die unteren Etagen fehlten, kamen sie über die Treppen gut voran. Sie sprachen kein Wort, was nicht zuletzt auch dem Tempo ihres Anführers geschuldet war. Innerhalb von zehn Minuten hatten sie die ersten zwölf Etagen geschafft und das obwohl einige Passagen nicht ganz ungefährlich waren. Mittlerweile war es dunkel und die Gruppe sah sich gezwungen die Nachtsichtgeräte aufzusetzen. Dirk schaute wieder auf das Pad. Ihre Verfolgerin hatte mittlerweile ebenfalls das Gebäude erreicht. Elf Punkte blinkten nun auf dem Bildschirm. Höchstens vier werden am Ende übrig bleiben, das war Dirks Ziel. Er hoffte er könnte sein Vorhaben beenden, bevor die Verstärkung eintreffen würde.

Mit Nachtsichtgerät war das Erklimmen der Stufen nicht ganz so einfach, aber sie mussten auch nicht mehr weit. Auf der Treppe kamen die Flüchtigen ihnen einfach entgegen. Er bemerkte sie, bevor sie ihn bemerkten. Sofort gab er das Signal zur Deckung an seine nachfolgenden Begleiter. Das undefinierbare Gebrabbel war etwa drei Etagen über ihnen. Sie fühlten sich verdammt sicher in diesem Betonklotz. Dirks Wut wich zu Gunsten der Vorfreude leichtes Spiel zu haben. Die Befürchtung, dass er seine Rache nicht mehr rechtzeitig ausführen konnte, hatte sich damit erledigt. Sie würden ihm direkt in die Arme laufen. Vielleicht könnten sich ein oder zwei von ihnen auf die Etage retten, aber das würde das Unausweichliche nur geringfügig aufschieben. Endlich hatte er mal Glück.

Zu seiner Überraschung verließen sie die Treppe, bevor sie in seine Reichweite kamen. Die siebzehnte registrierte er, da wollten sie sich also verstecken. Er ließ Kossak die Treppe bewachen, beorderte Dolph auf die gegenüberliegende Seite zur Absicherung und verfolgte mit Juth die Gruppe. Dirk hatte die Waffe von Frend für Juth nutzbar gemacht Der Gedanke diesen nervösen Kerl allein mit Explosivgeschoßen rum rennen zu lassen, gefiel ihm ganz und gar nicht.

Sie mussten sich beeilen, denn die potentiellen Jagdtrophäen waren drauf und dran sich in Nischen zu verkriechen, aus denen sie nur noch schwer hervor zu jagen waren. Eine gute Gelegenheit ergab sich in einem Raum, in dem fast komplett der Boden fehlte. Sie standen genau am anderen Ende und die löchrigen Wände boten ihnen die passende Deckung. Während ihre Opfer durch die Nachtsichtgeräte sich als leichte Zielscheiben praktisch aufdrängten, waren sie so gut wie unsichtbar in der Schwärze der Löcher. Eine Unterscheidung zwischen den einzelnen Zielpersonen war unmöglich. Dirk hätte nicht mal sagen können, welche von ihnen die Frau war, also suchte er sich wahllos ein Opfer heraus. Die Genugtuung den ersten Schuss abzugeben, wurde ihm von Juth verwehrt. Dieser nutzte die Gelegenheit und hielt einfach drauf.

Irgendwas traf er, soviel konnte er erkennen. Dirk überlegte kurz, ob er Juth zu Recht weisen sollte. Immerhin hatte er ihm ordentlich den Spaß der Überraschung verdorben. Diese kurze Unentschlossenheit nutzten die restlichen grünen Gestalten um Deckung zu suchen. Er feuerte und traf für seine Verhältnisse nicht besonders genau. Aber er traf und das war das Entscheidende bei dieser Waffe. Ein Streifschuss hätte gereicht. Das Gift wirkte umgehend und die Genugtuung, dass alles endlich nach Plan läuft, ließ ihn für einen Moment die Wut vergessen. Er war glücklich und ging voll und ganz auf in seinem Tun.

Der Rest der Schüsse waren nur Fahrkarten. Ein Volltreffer und ein Verletzung schienen anhand des Silbertabletts, auf denen ihnen die Meute präsentiert wurde, als äußerst ineffizient. Daher hielt sein Triumphgefühl nicht lange an. Der Verletzte stürzte in das Loch vor ihnen und nahm einen seiner Kameraden mit. Dirk musste sich beherrschen ihn nicht mit Kugeln voll zupumpen und das obwohl er bereit zu Abfertigung vor seinem Lauf lag. Viel Leben steckte nicht mehr in dem Körper unter ihnen und der Spaß würde sich daher in Grenzen halten. Als Köder würde das Elend eventuell noch gute Dienste leisten, denn sein Partner schaffte es rechtzeitig in Deckung. Sollte er so dumm sein dem Verletzten helfen zu wollen, würde Dirk nicht zögern ihn zu töten. Die Vorfreude war größer denn je.

Dirk schaute auf sein Pad, immer bereit die tödlichen Schüsse abzugeben, sollte sich unter ihm was bewegen. Zwei der Entkommenen hatten sich hinter eine Wand geflüchtet und verharrten da ängstlich auf ihr Schicksal wartend. Er überlegte, ob er Dolph auf sie ansetzen sollte, zögerte aber noch, da der einzelne Punkt, der sich auf Kossak zu bewegte, seine volle Konzentration in Anspruch nahm. Es dauerte nicht lange und die beiden Punkte verschmolzen zu einem. Wer immer da auf Kossak zulief, es wären seine letzten Schritte. Wie erwartet blieb nur einer übrig. Für Dirk gab es keine Zweifel, dass wieder ein Gegner erledigt war. Gerade als er über das Kommunikationsgerät Kossak zu seinem Triumph gratulieren wollte, wurde er eines besseren belehrt. Ungläubig starrte er auf das Pad. Was er sah bedeutete nichts Gutes. Das Störsignal war wieder aktiv.

„Kossak. Melde dich.“ raunte er in sein Gerät. Keine Antwort.

„Kossak, verdammt melde dich.“ wiederholte er.

„Jetzt habe ich eine Waffe.“ kam es geheimnisvoll zurück. In Dirk stieg das erste Mal Panik auf. Das Scharfschützengewehr war uncodiert und was noch viel schlimmer war, es befand sich in Feindeshand. Sie hatten die Waffen und sie hatten die Ortungsgeräte. Wie zum Teufel schaffte es dieser Mistkerl zwei von seinen Leuten zu erledigen? Das war unmöglich. Und jetzt, wo alle Vorteile dahin waren, das Spiel sozusagen ausgeglichen wurde, wie sollte er es vernünftig zu Ende bringen. Ein ungewohntes Gefühl kroch in ihm hoch. Angst. Die Angst um sein Leben.

Eigentlich wäre es besser die Position zu wechseln. Ein bewaffneter Gegner, dessen Standort unbekannt ist und der weiß wo man sich selber befindet, ist eine ernste Bedrohung für Leib und Leben. Auf der anderen Seite ist die Situation unter ihnen zu verlockend, als das man sie so ohne weiteres aufgibt. Er gab Juth die Anweisung auf alles zu schießen, was sich da unten dem Verletzten nähern sollte und machte sich auf seine Stellung zu ändern. Zwei Räume weiter war ein Loch in der Wand, das einen besseren Überblick auf den Raum ohne Boden versprach. Es waren vielleicht zwanzig Meter, aber das ungute Gefühl, dass hinter jeder Ecke potentielle Gefahren lauerten, war allgegenwärtig. Er war nun nicht nur Jäger, sondern auch Gejagter. Dementsprechend groß war die Erleichterung, als er drüben ankam. Nun hatte er zwar keine freie Schussbahn mehr auf sein Opfer unter ihm, aber eine gute Position, um sich diesem Raum nähernde Feinde zu bemerken. Würde etwas im Grün der Nachtsichtgeräte auftauchen, wäre er bereit seinem Tötungstrieb nachzugeben.

Unter ihm tat sich etwas. Stimmen waren zu vernehmen in den Pausen, in denen der Köder nicht jammerte. Die Falle schien zu funktionieren, denn offenbar näherte sich was der Absturzstelle. Er schaute rüber zu Juth und registrierte seine Aufregung. Gleich war es soweit. Wieder würden sie mindestens einen von der Liste streichen.

Juth feuerte. Plopp, Plopp, Plopp. Mindestens zwei dieser Plopps klangen so, als würden sie auf Knochen treffen, statt auf Mauerwerk. Juth beugte sich weiter aus dem Loch, um seinem zurück kriechenden Opfer den Rest zu geben. Bevor er weitere Schüsse abgeben konnte, wurde er wie von Geisterhand zurückgeschleudert. Irgendwas hatte ihn getroffen und seine Waffe fiel in das Loch vor ihm. Dirk schaute in die Richtung aus der der Schuss gekommen sein musste. Da war sie die Silhouette im Grün des Nachtsichtgerätes. Einen Moment hatte er nicht aufgepasst und nun hatte es wieder einen seiner Leute erwischt. Er feuerte blind vor Wut in die Richtung, ohne irgendwas zu treffen. Die Einschläge im Mauerwerk waren eindeutig zu erkennen.

„Ahhhhhh.“ Er brüllte seinen Frust in die Dunkelheit.   

„Scheiße er hat mich getroffen.“ tönte es aus seinem Kommunikationsgerät. Dirk ballerte wieder in die Dunkelheit, völlig rasend vor Wut.

„Stirb du Mistkerl, stirb endlich...“ seine Hasstirade wurde von einem ohrenbetäubenden Knall unterbrochen. Nicht nur er schoss wild durch die Gegend, auch Juth griff aus Mangel an Alternativen auf seine zweite Waffe zurück.

Boom. Ein zweiter Knall. Juth wartete erst gar nicht ab, was die erste Explosion für Schaden anrichten könnte, sondern schickte zur Sicherheit ein zweites Geschoß in die Richtung seines Angreifers. Vermutlich wären auch noch ein drittes oder viertes auf sein Opfer niedergegangen, wenn nicht die komplette vordere Seite des Raumes eine Etage tiefer gerutscht wäre. Damit bekam Juth die unmittelbaren Auswirkungen seines Angriffes persönlich zu spüren, indem er mit dem halben Stockwerk in die Tiefe stürzte.

Der aufgewirbelte Staub brannte in den Augen und zwang Dirk sein Nachtsichtgerät abzunehmen. Verdammt was war passiert? Dieser Verrückte hatte das halbe Gebäude zum Einsturz gebracht. Er hatte Glück, dass die 17 Etagen nicht in einem Rutsch bis zum Boden hinabstürzten. Hoffentlich hatte sich jetzt wenigstens das Problem mit diesem verdammten Bastard erledigt.

Der Staub legte sich nach und nach. Die gegenüberliegende Wand des Raumes war verschwunden und nicht nur die. Es fehlte ein kompletter Teil des Gebäudes. Dirk hatte nun freie Sicht auf den Nachthimmel von Lassik und der Wind peitschte die Regentropfen in die Ruine. Alles oberhalb der 16. war nur noch zur Hälfte vorhanden und war entlang der Fassade abgestürzt. Die verbliebene Hälfte wirkte alles andere als stabil.

Endlich hatte er wieder freie Sicht und was er sah ließ ihn frohlocken. Sein Alptraum, der Grund warum die ganze Sache so gehörig daneben gegangen war, lag da unten zur Hälfte verschüttet im geraden abgelaufenen Inferno. Das Beste aber an der ganzen Sache war, das offenbar noch Leben in diesem Misthaufen steckte. Vier Patronen waren übrig. Mehr als genug für soviel Dreck. Er hatte das große Los gezogen und nun brauchte er nur noch seinen Gewinn einlösen. Einmal anlegen und die Sache wäre erledigt. Dirk zögerte. Wo blieb denn da der Spaß ihn einfach nur zu erschießen. Hatte er nicht geschworen ihn möglichst brutal hinzurichten. Seinen ganzen Frust und seinen Zorn wollte er nicht mit einem einfachen Schuss befriedigen. Der Genuss des Tötens sollte solang wie möglich dauern.

Die Hoffnung, das Störsignal hätte sich mit dem Einsturz von selbst erledigt, wurde mit dem Blick auf sein Pad enttäuscht. Es war noch aktiv und so bestand die Möglichkeit, dass er nicht der einzige Überlebende war. Er schaute nach unten und sah als erstes Juths Leiche liegen. Verdammter Idiot, hat sich selbst erledigt. Kollateralschaden, dachte sich Dirk. Auch die Anderen in dem Raum unter ihm hatten kein Glück. An der Stelle, an der sich gerade noch der Verletzte befand, gab es einen riesigen Schutthaufen. Also hatte es ihn und seinen Helfer ebenfalls erwischt. Wieder zwei weniger. Die Unbekannten waren Dolph und die restlichen zwei Gejagten.

„Dolph, Status.“ flüsterte er in sein Kommunikationsgerät.

Auch nach einer Wiederholung gab es keine Antwort. Er war allein, was seine Mitstreiter betraf. Es lag nun an ihm die Sache zu vollenden.

Es dauerte eine Weile, ehe er den besten Abstieg zu seinem wartenden Vergnügen fand. Auf dem Weg dorthin, kam er zu der Überzeugung, dass außer ihm niemand diesen Einsturz überlebt haben könne. Niemand, außer diesem Elend da vor ihm, was im Schutt steckte. Ganze Deckenteile waren herabgestürzt und es war nur eine Frage der Zeit, wann dieses Gebäude komplett in sich zusammen fiel.

„Gruppenführer, melden Sie sich.“ Es war Kain. Also war die Verstärkung eingetroffen und es würde nicht lange dauern, bis sie hier sein würden. Dirk ignorierte den Befehl und schaltete auf still. Keine Hektik, sie bräuchten eine Weile, um sich durch den Schutt zu graben. Zeit genug diesen Mistkerl leiden zu lassen. Er kniete sich vor ihn und befand sich damit auf Augenhöhe.

„Guten Tag.“ Dirk schaute ihm tief in die Augen und sein Grinsen wirkte gespenstisch im Mondlicht. Bevor er loslegte, wollte er die Angst in seinem Gegenüber spüren. Vor der physischen Qual, kam die psychische.

„Du hast uns eine schöne Show geliefert.“ Dieser Spruch aus einem dieser uralten Filme schien ihm angemessen.

„Dafür wurde ich gebucht. Ich denke mal ich war jeden Taler wert.“ kam es als Antwort. Es war keinerlei Angst oder Panik in seiner Stimme zu hören. Ein Zustand den Dirk unbedingt ändern wollte.

„Fehlt noch das blutige Finale. Ich verspreche dir, es wird nicht lange dauern und du wirst betteln, dass ich dich erlöse.“ Psychologische Spielchen waren nicht seine Stärke, daher verpuffte der Bluff bei seinem Opfer.

„Ich halte einiges aus, also quatsch nicht und leg los.“ Diese Provokation ließ die Wut in Dirk wieder ansteigen. Seine Selbstbeherrschung reichte gerade noch aus, um sein Messer nicht in den Kopf dieses Mistkerls zu bohren.

 „Ich sollte mit der Zunge anfangen, dann habe ich meine Ruhe.“ Er packte seinen Schopf und wollte gerade ansetzen, als er ein Geräusch hinter sich hörte. Offenbar gab es doch jemand, der überlebt hatte. Die Störung entpuppte sich als Kains neues Spielzeug. Alles andere als selbstbewusst und die Waffe auf ihn gerichtet, stand sie da.

„Das hatten wir doch gerade erst. Ich glaub immer noch nicht, dass du es schaffst diese Waffe abzufeuern.“ Er war sich seiner Sache ziemlich sicher und ging auf sie zu.

„Stehen bleiben.“ erwiderte sie nicht besonders selbstsicher. Dafür ernte sie nur ein mitleidiges Lächeln. Sie hatte nicht seinen Tötungsinstinkt und würde ihn nie eiskalt erschießen. Zwei Meter war jetzt die Distanz zwischen den beiden. Die Vorfreude stand ihm im Gesicht, als er sich ausmalte, was er alles mit ihr anstellen würde. Der Spaßfaktor hatte sich gerade erhöht.

 

Eva lauschte in die Dunkelheit. Was immer vor ihr auch passierte, es war unmöglich zu ergründen, was da vor sich ging. Mehr als eine Person soviel war sicher, aber ob Jäger oder Gejagte war nicht zu erkennen. Erst das Plopp der Einschläge eines GW3 kam ihr bekannt vor. Die Kampfzone lag unmittelbar vor ihr und die eigentlich nicht mehr zu steigernde Anspannung erreichte ungeahnte Ausmaße. Was sollte sie tun? Eingreifen? Ohne Kenntnis der Lage wäre das Selbstmord. Wenn sie aktiv werden wollte, musste sie näher ran. Aber was dann? War sie bereit die notwendigen Sachen zu tun? War sie bereit auf ihre Kameraden zu schießen?

Ihre Gedankenspiele wurden durch eine gewaltige Explosion unterbrochen. Sie hatten es also getan. Die Wahnsinnigen ballerten mit Explosivgeschoßen um sich und gefährdeten alle Leben innerhalb dieser Ruine. Eine zweite Explosion holte sie aus der Starre. Instinktiv rannte sie nach vorn und entkam damit der einstürzenden Decke.

Irgendwas hatte sie trotzdem getroffen und versetzte sie für unbestimmte Zeit in Ohnmacht. Sie konnte nicht sagen, ob sie Sekunden oder Stunden in den Trümmern lag, nur eines war sicher, geistig lief ihr System noch nicht auf vollen Touren, als sie wieder zu sich kam. Ihr Kurzzeitgedächtnis wies große Lücken auf, nur die Gewissheit, dass sie sich in Gefahr befand, war ihr bewusst. Der höllische Schmerz an ihrem Kopf war ein Zeichen dafür, dass sie äußerst knapp dem Schlimmsten entkommen war. Das Aufrichten funktionierte noch, also schienen keine weiteren schwerwiegenden Verletzungen vorhanden. Blieb nur die Kopfverletzung. Das Gemisch aus Haaren, Staub und Blut verhieß nichts Gutes, aber offenbar war die Verletzung nicht so schlimm, dass sie wieder in die Ohnmacht abglitt. Nach und nach stellten sich wieder die Erinnerungen ein. Sie war hier, weil sie sich gegen ihre Kameraden stellte und sie plante gerade den entscheidenden Schritt für ihren Verrat, als alles über ihr zum Einsturz kam.

Ihr geistiger Zustand besserte sich zunehmend und mittlerweile war sie wieder halbwegs zurechnungsfähig. Daher entschied sie für sich, dass die Stimmen unmöglich alleine in ihrem Kopf vorhanden sein konnten. Da unterhielten sich mindestens zwei Überlebende keine zehn Meter von ihr entfernt. Also war sie nicht die Einzige, die den Einsturz überstanden hatte. Vielleicht benötigte jemand Hilfe.

Am Anfang war es eher taumeln, aber mit jedem Schritt, den sie auf die Stimmen zuging, wurde ihr Gang sicherer. Die Eindrücke um sie herum konnten noch nicht in der üblichen Geschwindigkeit verarbeitet werden, zu sehr war sie noch benommen. Einen potentiellen Angriff, würde sie wohl nicht in der angemessenen Zeit parieren können, trotzdem trieb sie der Drang das Geheimnis der Stimmen zu ergründen voran.

Das Szenario was sich ihr bot, lieferte widersprüchliche Informationen. Hilfe bedürftig steckte einer der beiden Anwesenden im Schutt und offenbar gab es die Hilfe von der anderen Person. Was nicht passte war der Tonfall indem sich beide unterhielten. Unterschwellig aggressiv und feindselig, nichts was auf bedingungslose Hilfe hinwies. Das blasse Mondlicht verfälschte die Informationen zusätzlich. Immer noch nicht in der Lage die Situation vor ihr eindeutig einzuschätzen, beschloss sie auf Nummer sicher zu gehen und die Waffe zu ziehen. Das schaffte sie zu ihrem Leidwesen nicht so geräuschlos wie sie es gern hätte, denn in diesem Moment wurde sie bemerkt.

Dirk stand vor ihr und wie immer zeigte er sich von seiner widerlichsten Seite. Was immer er an Beleidigungen von sich gab, ging in den Nachwirkungen der Kopfverletzung unter. Erst als er sich mit dem Messer in der Hand in ihre Richtung bewegte, registrierte sie die potentielle Gefahr. Wie ein Windstoß, der den Nebel weg bläst, verdrängte das einsetzende Adrenalin ihre Benommenheit.

Ihr „Stehen bleiben“ wirkte trotzdem nicht sehr einschüchternd. Dirk grinste nur und nun war es an ihr, ihre Drohung in die Tat umzusetzen.   

Es war unglaublich, was alles in diesem Moment an Erinnerungen auf sie niederging. Im Zeitraffer wiederholte sich die Zeit im Tempel, angefangen mit der Euphorie, die sie für die Thesen des Führers empfand, über die ersten Zweifel, bis hin zu diesem Tag, an dem sie vor der Entscheidung stand einem anderen Menschen das Leben zu nehmen. Ihre Mutter, ihre Schwester, selbst Dina, ihr potentielles Opfer, hatten einen kurzen Auftritt in dem Rückblick, was ihr viel zu kurzes Leben widerspiegelte. Sie kramte in dieser Autobiographie nach einem Grund diesen Abzug zu drücken, aber nichts rechtfertigte den Schritt, den sie begehen müsste, um weitere Kapitel hinzufügen zu können. Die Entscheidung würde zu Gunsten ihrer Überzeugung fallen und die beinhaltete nun mal nicht Mord. Eva, Tochter von Tela und Plato, würde hier in den Trümmern einer alten Stadt sterben, ohne jede Chance große Taten zu vollbringen, ohne Chance auf Glück, ohne Chance ihr Leben jemals selbst bestimmt zu genießen. Das alles würde heute enden. Das Gesicht Ihres gegenüber ließ da keine Zweifel aufkommen.

Sie hatte ihre Instinkte unterschätzt. Als sie abdrückte empfand sie sich als Zuschauer, als wäre der Geist vom Körper getrennt. Die Kontrolle über ihr Tun hatte sie verloren. Das war nicht sie, die da den Schuss abgab, nicht ihr eigentliches Wesen. Was da stand und Dirk den tödlichen Kopfschuss versetzte, war reduziert auf die ursprünglichste Lebensform und die kannte nur einen Gedanken. Überleben. Keine anderen Prioritäten, zu wichtig war das einzige Ziel um Skrupel oder anderen egoistischen Gefühlen den Vorrang zu geben. Trieb siegte über Vernunft.

Ungläubig schaute sie auf den Leichnam vor ihr. Wie war das passiert? Offenbar gab es eine Seite an ihr, die ihr bisher nicht bewusst war. Jetzt, wo die Bestie wieder in ihrem Käfig saß und der Vorhang zu ihren dunklen Abgründen wieder zugezogen war, zweifelte sie mehr an sich selbst, als in den besten Krisenjahren vor der Zeit des Tempels. Alles war so unwirklich und das obwohl es erst vor ein paar Sekunden passiert war. Sie hatte genaue Vorstellungen, wie die Eva nach dem Tempel aussehen sollte und nun wurde ihr Projekt durch dieses Ereignis komplett über den Haufen geworfen. Die neue Eva hatte gerade ihre Unschuld verloren und wurde kontaminiert mit etwas, dass sie selber nicht verstand.

Sie hätte vermutlich ewig da gestanden und mit ihrem Schicksal gehadert, wenn nicht eine Bewegung rechts von ihr, sie darin erinnerte, dass sie jetzt zurück war im Spiel des Lebens. Für einen kurzen Moment befürchtete sie, dass der Dämon, der ihr die Kontrolle entrissen hatte, seine nächste Chance bekommen würde, um ein weiteres Mal Unheil anzurichten. Zum Glück stand die einzige Person neben ihr, die sie nicht als Feind oder Verräter betrachtete.

„Respekt, hätte ich dir gar nicht zugetraut.“ sagte Dina als erwartete sie einen gemeinsamen Jubel über den vermeintlichen Sieg. Erst ein Blick in Evas Gesicht zeigte ihr, dass Jubel nicht sehr angebracht wäre.

„Das erste Mal?“ fragte Dina, obwohl sie die Antwort bereits kannte. Eva war unfähig irgendwelche Worte zu formulieren.

„Es wird dich verändern, dass kannst du nicht verhindern. Du hast den Weg frei geräumt zu deinem persönlichen Abgrund und der Ausblick darauf, wird dich ein Leben lang begleiten. Verschwende deine Energie nicht dagegen anzukämpfen, versuche es in die richtige Richtung zu lenken. Ich habe das durch, was dir bevor steht und glaub mir, im Nachhinein würde ich Einiges besser machen.“ Dina überlegte, ob sie noch etwas hinzufügen sollte, entschied sich aber dagegen und ging zu Pluto rüber.

Immer noch beschäftigt das Erlebte zu verarbeiten, ordnete sie dem Wissen, dass sie noch lange nicht in Sicherheit waren, nur geringe Priorität zu. Erst ein interner Alarm im Unterbewusstsein erinnerte sie daran, dass Kains Verstärkung auf dem Weg hier her war.

„Wir müssen hier sofort raus. Die Verstärkung wird gleich hier sein.“ Mit alter Entschlossenheit bewegte sie sich auf die beiden vor ihr zu. Dina hatte mittlerweile den Verletzten frei bekommen. Der ehemals verschüttete Teil des armen Kerls war nur noch eine blutige Masse. Es glich einem Wunder, dass er überhaupt noch bei Bewusstsein war. Selbst bei allem Durchhaltewillen eines harten Soldaten, war es unmöglich ihn rechtzeitig in entsprechende ärztliche Behandlung zu bekommen. Es war klar, es würde ein weiteres Opfer geben.

„Es ist sinnlos. Wir alle wissen, dass es vorbei ist.“ kam es von dem Todgeweihten. 

„Wir lassen dich nicht zurück.“ Dina wirkte wild entschlossen.

„Ich war mein Leben lang Soldat und nun hab ich die Gelegenheit im Kampf zu sterben und möglichst viele dieser Bastarde mit zu nehmen. Außerdem gibt es euch die Möglichkeit hier raus zu kommen.“ Er klang schwach, aber selbst in diesem Moment schien er noch einen guten Plan zu haben.

„Was hast du vor?“ fragte sie. Er grinste nur.

„Einen würdigen Abgang mit Feuerwerk.“ Sein Blick fiel auf die Explosivgeschoßwaffe.

„Geht klar.“ Mit diesen Worten bezeugte Dina einem Lebenden die letzte Ehre. Das, was bei ihr unmöglich schien, hatte Pluto erreicht. Ein Maximum an Respekt. Ein einziges Wort sollte den würdigen Abschied eines Soldaten adeln.

„Danke.“ Damit holte Dina die Waffe und drückte sie Pluto in die Hand. Sofort leuchtete das rote Licht und signalisierte, dass ihr Besitzer nicht berechtigt war irgendwelchen Schaden damit anzurichten. Dina wusste was zu tun war. Sie zog die Leiche des ursprünglichen Besitzers rüber zu Pluto. Es funktionierte. Die Waffe ging auf grün.

„Los raus hier.“ schrie sie Eva an. Damit verließen sie den Raum, um gleich wieder zu stoppen.

„Ich muss noch was holen.“ Ohne den Widerspruch abzuwarten, verschwand Dina in der Dunkelheit.

„Verdammt wir haben keine Zeit, sie werden jeden Moment hier sein.“ Noch konnte sie die aufkommende Panik beherrschen, aber der Gedanke, dass sie begraben unter Tonnen von Schutt ihr Ende finden würde, machte ihr die Selbstbeherrschung nicht einfach. Dina tauchte wieder auf, mit einem Leichnam auf dem Rücken.

„Was soll das?“ fragte sie ungläubig.

„Ich lass nicht noch jemanden zurück. Hast du Kalorien dabei?“ fragte Dina. Eva hielt ihr die Flasche hin.

„Nicht für mich. Für ihn. Er muss es trinken.“ Erst jetzt merkte Eva, dass noch Leben in dem Körper steckte. Sie erkannte den Gefangenen, allerdings hatte er enorm viel Gewicht verloren seit ihrer letzten Begegnung. Nicht besonders geschickt, flößte sie ihm das Getränk ein.

„Also dann, abwärts. Du gehst voran.“ Dina war wieder in ihrem Element. Sie brauchte das Gefühl die Dinge unter Kontrolle zu haben. Da Eva es gewohnt war Anweisungen auszuführen, ergänzten sich die beiden ideal.

Der Abstieg erwies sich weniger kompliziert als erwartet. Die Treppe hatte durch den teilweisen Einsturz kaum zusätzliche Beschädigungen erlitten. Trotzdem musste Eva ab und an den Körper des Verletzten übernehmen, da einige Passagen zu zweit unüberwindbar waren. An einer Stelle waren sie sogar gezwungen sich den Verletzten zu zuwerfen, da man das fehlende Stück der Treppe nur im Sprung überwinden konnte. So kamen sie bis zur fünften Etage, als sie merkten, dass unter ihnen einen Stoßtrupp die Treppe hoch stürmte.

„Los auf die Etage.“ zischte Dina kaum hörbar, aber da war Eva schon verschwunden. Sie zählten sieben Leute, die an ihnen vorbei nach oben eilten. Sie warteten einen Moment, dann machten sie sich wieder an den Abstieg.

„Der Zähler läuft rückwärts. Sobald sich einer auf der sechzehnten blicken lässt, bekommt er eine Granate um die Ohren und dann bricht hier alles über uns zusammen. Renn Mädchen. Renn.“ Eva ließ jetzt ihrer Panik freien Lauf. Sie brauchte das Adrenalin, um das letzte bisschen Energie aus ihrem Körper zu kitzeln. Dina hatte Recht. Noch ein paar Minuten und alle in diesem Gebäude wären tot. Ein guter Grund hier schnellst möglich raus zu kommen.

Sie erreichten die Lobby und Eva erlaubte es sich für eine Sekunde inne zu halten, um ihrer Lunge einen extra tiefen Atemzug zu gönnen. Der Blick zurück zeigte Dina, die mit dem Ballast auf dem Rücken dasselbe Tempo halten konnte. Auch sie zerrte wohl ihren Körper aus, indem sie es schaffte eine extra Portion Adrenalin auszuschütten. Anders konnte sich Eva diesen konditionellen Kraftakt nicht erklären.

„Los weiter.“ keuchte sie. Keine halbe Minute später standen sie im Freien und damit im Dauerregen.

Im Mondlicht waren Umrisse nur schwer zu erkennen, aber Eva erkannte die Silhouette vor ihnen sofort. Es war Kain. Sie hatten das Pech ihm direkt in die Arme zu laufen und obwohl in der Dunkelheit nicht ersichtlich, war sie sich sicher, dass er mit einem dicken, fetten Grinsen vor ihr stand. Zu spät, um sich irgendwo zu verstecken oder ihm davon zu laufen, denn zwei weitere Gestalten richteten ihre Waffen bereits auf die Flüchtenden.

„Herzlich willkommen.“ kam es selbstzufrieden aus der Dunkelheit.

„So hatte ich mir das eigentlich nicht vorgestellt, aber…“ setzte Kain zu seinen üblichen Spielchen an, als ein lautes berstendes Geräusch über ihnen ihn unterbrach.

„Keine Zeit für das übliche Geschwafel, sucht euch lieber ein schattiges Plätzchen.“ entgegnete Dina und stürmte an den in die Luft starrenden Soldaten vorbei. Ermutigt durch die Tatsache, dass keiner versuchte Dina aufzuhalten, sprintete Eva hinterher. Hinter ihr brach das Inferno los. Das Gebäude sackte förmlich in sich zusammen. Brechendes Metall feuerte Eva an die letzten Reserven aus ihrem geschunden Körper zu mobilisieren. Unglaublich. In den vergangenen zwei Tagen hatte sie die Grenzen ihrer körperlichen Belastung weiter gesteckt, als sie es je für möglich hielt. Jetzt lief sie um ihr Leben, dem physischen Zusammenbruch sehr nahe und für einen Moment zweifelte sie an dem Erfolg. Staub umhüllte sie und nahm ihr das letzte bisschen Orientierung. Einfach weiter laufen und nur nicht stürzen. Sie lief blind durch die Wolke aus Dreck und Staub, immer der Gefahr ausgesetzt, durch ein Hindernis vor ihr zu Fall zu kommen.

„Hier rüber.“ hörte sie aus der sie umgebenden Wolke. Es war unmöglich zu erkennen aus welcher Richtung die Worte kamen. Sie stoppte ihren Lauf und das keinen Moment zu früh, denn vor ihr tat sich eine Wand auf, die sie garantiert getroffen hätte. Die Nachbarruine. Vor ihrem geistigen Auge spielte sie den gerade verpassten Klamauk durch, als sie wieder die Stimme hörte.

„Los.“ Die Wand vor ihr bot ihr nur zwei Optionen. Rechts oder Links. Sie tendierte nach links und lag bei der fünfzig zu fünfzig Chance goldrichtig. Nur drei Meter und dann griff eine Hand nach ihr und zog sie durch ein Loch in das vollkommen verfallene Gebäude. Hier konnte nichts mehr zusammen fallen, denn es gab nur noch die Grundmauern und selbst die waren nur noch mannshoch. Sie hatten es geschafft, sie waren in Sicherheit und als Zuckerguss gab es den Totalverlust ihrer Peiniger. Sie hatten sich die nötige Pause mehr als verdient.

„Wie geht es ihm?“ fragte Eva.

„Er ist schwach. Keine Ahnung, ob er es überleben wird. Was wir brauchen sind Kalorien.“ antwortete Dina und erntete damit einen ungläubigen Blick von Eva.

„Kalorien? Wie sollen die ihm weiterhelfen?“ Sie war eigentlich viel zu erschöpft, um lange Diskussionen zu führen, aber diese ungewöhnliche Aussage weckte ihr Interesse.

„Wir brauchen ihn, irgendwann werden wir vielleicht auf ihn angewiesen sein.“ erwiderte Dina mit einer informationslosen Aussage. In Eva arbeitete es. Sie versuchte die Puzzelstücke zusammen zu setzen.

„Die Blutprobe.“ flüsterte sie vor sich hin.

„Kann es sein, dass sein Blut irgendwas Außergewöhnliches aufweist?“ Die Neugierde verdrängte die Erschöpfung. Dina antwortete nicht, ein gutes Zeichen dafür, dass sie auf der richtigen Fährte war. Das würde auch erklären, warum Kain den Tötungsbefehl aufhob. Sicherlich war der Wirbel um die Blutproben irgendwann auch zu ihm gelangt. Vermutlich zu spät, denn da hatte die Jagd schon begonnen. 

„Was ist sein Geheimnis?“ fragte sie erneut. Dina schaute sie an, als müsste sie für sich eine Entscheidung treffen, ob sie ihr trauen kann oder nicht.

„Was immer das Geheimnis ist, es ist seine Privatsache und wie das so ist mit Privatsachen, sollte er selber entscheiden, ob er dir sie anvertraut oder nicht. Für ihn zählt nur eins. Er braucht Energie. Gibt es hier irgendetwas Essbares in der Umgebung?“

Eva fiel nichts ein. Die einzigen Kaloriengetränke in der näheren Umgebung hatten die Soldaten in Kains Begleitung und die waren verschüttet worden. Selbst wenn sie überlebt haben sollten, würden sie die nicht freiwillig rausgeben. Der Gedanke da raus zu gehen, vielleicht Kain über den Weg zu laufen und eventuell wieder eine Entscheidung über Leben und Tot fällen zu müssen, ließ sie zögern.

„Er wird sterben, wenn wir nix finden.“ kam es leise von Dina. Hier ging es auch um Leben und Tod und der Wahl musste sie sich auf alle Fälle stellen. Sie quälte sich hoch und merkte, dass die fünf Minuten Pause ihre Muskulatur total verhärtet hatte. Einen Moment zweifelnd, ob ihr Körper endgültig den Dienst verweigerte, hielt sie inne. Sie war am körperlichen Limit, wollte ihre Schwäche aber Dina nicht offenbaren. Sie kroch durch das Loch in die dunkle Nacht und damit in den Dauerregen, der dafür sorgte, dass sich der Staub schnell gelegt hatte. Sie lief zu der Stelle, an der sie fast gegen die Wand gerannt wäre. Als Orientierung dienend, ging sie von da an auf die Einsturzstelle zu. Das Mondlicht erhellte den Boden soweit, dass sie einzelne Konturen erkennen konnte.

Kain ging ihr nicht aus dem Kopf. Was mag wohl mit ihm passiert sein? Lauerte er irgendwo im Dunkeln? Wusste er von ihrem Verrat? Davon war auszugehen. Ihre einzige Chance diese Insel zu verlassen, war das Transportboot. Wenn sie ihren Zugang gesperrt hatten, würden sie hier festsitzen und das auch nur unter der Vorraussetzung, dass sie überhaupt soweit kommen würden. Sobald die Verstärkung hier eintrifft, würden sie anhand der Ortung aufgespürt werden. Es war zum Verzweifeln. Die Möglichkeit zu entkommen war immer noch verschwindend gering. Trotz aller widrigen Bedingungen waren sie soweit gekommen und sie hatte das Gefühl wieder zurück auf Anfang zu sein. Gerade als sie ihren Zweifeln hundertprozentig nachgeben wollte, sah sie die Gestalt vor ihr liegen.

Sie zog die Waffe und näherte sich vorsichtig. Nicht Kain, dafür war der Körper vor ihr zu schlank. Es gab keinerlei Regung. Sie tippte vorsichtig mit dem Fuß gegen den Arm, immer bereit zu reagieren, sollte irgendetwas aus der Dunkelheit auf sie zu springen. Der Regen wurde immer unangenehmer, aber vor allen Dingen verschleierte er potentielle Geräusche in der Umgebung. Das Adrenalin war wieder da und gab ihr zum wiederholten Mal an diesem Abend die notwendige Energie. Sie beugte sich runter und drehte die Gestalt auf den Rücken. Der Kopf reagierte unnatürlich auf die Drehung. Genickbruch mit Todesfolge war das wahrscheinlichste Schicksal dieses Kameraden. Die offenen, toten Augen bestätigten die vorläufige Diagnose. Sie kannte diesen Mann. Dan oder Daniel, erst seit kurzen bei den Truppen. Die Erinnerung wollte nicht vollständig zurückkehren. Ein Schutzmechanismus, denn zu viele Tempelmitglieder waren heute gestorben. Leute mit denen sie die letzten Jahre verbrachte, die Lüge lebend, vereint im Irrglauben was Gutes zu tun. Sie wollte ihn nicht plündern, aber sie hatte nun mal ihren Weg gewählt. Kaloriengetränk, Messer und Ortungsgerät gingen in ihren Besitz über und damit kehrte sie zu Dina zurück.

„Hast du was gefunden?“ wurde Eva empfangen. Sie überreichte die Flasche, die im Gegensatz zu der üblichen orangenen Flüssigkeit, diesmal eine rote enthielt. Doppelte Kalorienanzahl wurde nur vom Führer selbst vergeben. Ein Anzeichen dafür, dass der Mission äußerste Wichtigkeit zugeordnet wurde. Was immer auch dieser Gefangene an Heimlichkeiten an sich hat, es hatte höchste Priorität im Tempel.

Während Dina dem armen Kerl vor ihr etwas ungeschickt die Flüssigkeit einflößte, kümmerte sich Eva um das Ortungsgerät. Ein einzelner blinkender Punkt, also hatten sie es geschafft das Störsignal zu aktivieren.

„Wir sind zu nah an der Einsturzstelle. Weiter weg wären wir sicherer. Zum Glück ist euer Störsignal noch aktiv.“

„Dann hilf mir ihn zu bewegen. Allein schaffe ich das nicht mehr.“ entgegnete Dina. Sie wirkte enorm erschöpft, aber auch sie sah ein, dass ein Suchtrupp des Tempels sie hier garantiert finden würde. Wieder mussten sie Kräfte aufwenden, die eigentlich nicht mehr vorhanden waren. Neben der Erschöpfung, taten die Kälte und der Dauerregen ihr übriges. Wenn sie ihre minimale Chance auf Überleben behalten wollten, mussten sie erneut ihre Grenzen überschreiten.

Die Orientierung hatte sie komplett verloren, daher wusste Eva auch nicht in welche Richtung ihre Flucht weiterging. Eine ehemalige breite Strasse, gesäumt von mehr oder weniger erhaltenen Ruinen, war ihr Fluchtweg. Eine halbe Stunde quälten sie sich durch den unerbärmlichen Dauerregen, bis sie sicher waren, dass der Suchtrupp sie nicht finden würde.

Das verfallende Gebäude, das ihnen als Unterschlupf diente, schützte sie vor Regen und Wind. Die eigentlich selbstverständlichen Gegebenheiten kamen den beiden Frauen wie Luxus vor. Das Gehetze der letzten Tage durch die Wälder von Prem, ließen ihre Ansprüche für eine geeignete Übernachtungsmöglichkeit auf ein Minimum schrumpfen. Ihre Jäger waren alle tot und sie selber hielt man ebenfalls für erledigt. Ein Umstand, der sie vorerst in Sicherheit wiegte. Solange das Störsignal aktiv bleibt, hatten sie alle Handlungsfreiheiten und nachdem sie sich etwas erholt hatten, würden sie ihr Glück mit dem Boot des Tempels probieren. Sieg oder Niederlage, an der Anlegestelle gäbe es die Entscheidung.

Fünf Stunden gönnte Dina der Gruppe, dann war sie bereit für den finalen Akt. Sentry zeigte sich sichtlich erholt und war wieder in der Lage selbstständig zu laufen. Auf Eva wirkte er immer noch etwas schwach, trotzdem schien ihr die Genesung unwirklich. Entweder hatte er simuliert oder sie hatten seine Verletzung überschätzt. Sie brauchte nicht lange, bis sie wieder auf die Verbindung mit der Blutprobe kam. Die letzte Option kam ihr am wahrscheinlichsten vor. Ihre Neugierde war wieder da.

„Wie geht es dir?“ Sie klang aufrichtig besorgt.

„Danke gut. Dank euch. Ihr habt mich gerettet. Du bist Eva, oder? Man nennt mich übrigens Sentry.“ Bisher war er nur ein namenloser Gefangener, aber jetzt stieg in Eva die Reue hoch. Unter unmenschlichen Bedingungen hatten sie ihn im Lager gehalten, um ihn dann anschließend wie ein Tier zu jagen. Dieser Mann hatte alles Recht der Welt den Tempel aus ihr raus zu prügeln, aber er begegnete ihr mit Dankbarkeit. „Zahn um Zahn“  war auf alle Fälle nicht seine Lebenseinstellung.

„Es tut mir leid.“ kam es von ihr aufrichtig bedauernd.

„Hoffentlich nicht, dass du mich gerettet hast.“ scherzte er.

„Was? Nein ich...“ Sie war verunsichert. Diese Reaktion war nicht das, was sie erwartet hatte. Soziale Umgangsformen waren schon vor der Zeit des Tempels nicht ihre starke Seite und die Indoktrinierung des Führers hatte diesen Umstand noch verschlimmert. Auf Grund der inneren Verbundenheit und der direkten Art kam sie klar mit Dina, aber hier würde es Probleme geben. Der mentale Abwehrpanzer, den sie gegenüber Nichtmitgliedern aufgebaut hatte, würde sie so leicht nicht loswerden. Auf dem langen Weg der Entwöhnung vom Tempelkult, bekam sie gerade ihre erste Lektion.

Auch Sentry war verunsichert. Sein Versuch das Eis zu brechen ging gehörig daneben. Er empfand ehrliche Dankbarkeit, dass sie ihn nicht in der Ruine seinem Schicksal überließen. Zum ersten Mal hatte jemand sein Leben riskiert, um ihm zu helfen. Nicht nur das. Ihm war bewusst, dass der Bruch mit dem Tempel der wirklich schwere Schritt für das Mädchen vor ihm war. Dina hatte ihn mit kurzen Worten über die letzten Ereignisse unterrichtet. Die erste Explosion hatte ihn schwer getroffen und die Femtos taten zum wiederholten Male ihre heilende Wirkung, schwächten ihn aber so sehr, dass sämtliche überflüssige Systeme wie sein Bewusstsein abgeschaltet wurden. Vermutlich stand er an der Schwelle des Todes und er hatte es Evas Verrat zu verdanken, dass er der Todesfalle entkam. Sie besorgte auch die Kalorien und rette damit sein Leben. Und nun standen die beiden da und wussten nicht was sie sagen sollten. Es war an Sentry das peinliche Schweigen zu brechen.

„Danke. Ohne dich wäre ich nicht mehr am Leben.“ Seine Gegenüber antwortete nicht, was sie arrogant wirken ließ. Das eigentlich hübsche Gesicht wirkte verbittert. Egal, es würde einiges brauchen, um die angesammelten Pluspunkte aufzubrauchen. Er stand in ihrer Schuld und es schmerzte ihn das Wissen, dass der Letzte, dem er sein Leben verdankte, in dem ganzen Wahnsinn umgekommen war.

Der Regen hatte nicht aufgehört, als sie die letzte Etappe starteten, hin zum Endziel, an dem sich der Ausgang ihrer Flucht entscheiden würde. Das es ungewiss war, ob das Boot als Fluchtfahrzeug tauglich war, soviel wusste Sentry. Auch das es keinen Plan B gab und die Dinge wirklich gut für sie laufen mussten, um diese verdammte Insel zu verlassen, war ihm gewiss. Es würde enden auf die eine oder andere Weise und diese Gewissheit trieb die Gruppe in das regnerische Morgengrauen. Sie liefen den ganzen Tag hungrig und frierend durch den Wald von Prem, immer mit einem Blick auf das Ortungsgerät, hoffend darauf, dass der blinkende Punkt nicht erlosch. Mit einsetzender Dämmerung erreichten sie die Küste, weitere zehn Minuten den Strand entlang Richtung Osten und die Anlegestelle war in Sichtweite.

Im Schutze der Dunkelheit näherten sie sich dem Steg und der kleinen angeschlossenen Hütte. Die Monde waren noch nicht aufgegangen und die einzige Lichtquelle bestand in der Innenbeleuchtung des winzigen Gebäudes. Das Boot lag angeleint in ruhiger See. Die Möglichkeit, dass es gerade unterwegs war, hatten sie gar nicht in Betracht gezogen, trotzdem war die Erleichterung groß seine Umrisse zu sehen.

Dina wagte einen Blick in die Hütte.

„Nur eine Wache.“ flüsterte sie dem Rest zu. Das war also kein Problem. Wahrscheinlich wurden alle verfügbaren Kräfte in der verlassenen Stadt benötigt. Sentry war sich unsicher, wie er diese Tatsache deuten sollte. Einerseits sah es der Tempel nicht als potentielle Gefahr, dass ihre Gefangenen jemals diesen Ort erreichen würden, anderseits gab es keine Möglichkeit die genetische Blockierung zu knacken. Was sie nicht berücksichtigten, war der Verrat eines ihrer Mitglieder und schon gar nicht eins, welches die Freigabe für eine Nutzung besaß. Die Unbekannte Variable bestand in der Kenntnis des Verrates.

Sie betraten die Hütte ohne große Aufregung. Eva vorne weg mit der Waffe in der Hand, gefolgt von Dina und Sentry. Mit großen überraschten Augen wurden sie empfangen.

„Leutnant, ich habe sie hier nicht erwartet.“ Erst jetzt registrierte er die Bedrohung.

„Was ist denn los?“ fragte er ängstlich.

„Han, es tut mir Leid, aber wir benötigen das Boot.“ erwiderte Eva. Offenbar kannten sich die beiden gut.

„Und wwwas passiert mit mir?“ stotterte er ängstlich, immer noch bedroht durch die Waffe.

„Was glaubst du denn? Wir geben dir hundert Meter Vorsprung und dann jagen wir dich durch den Wald. Wenn du die Fahne erreichst, bleibst du am Leben.“ spottete Dina. Als jahrelanges Mitglied des Tempels war ihm diese Form von Humor unbekannt und daher stellte er sich auf ein trauriges Ende ein.

„Nein bitte nicht.“ flehte er. Eva reagierte ähnlich.

„Keiner stirbt heute mehr.“ klang sie aufrichtig besorgt.

Dina war überrascht, dass ihre sarkastische Bemerkung diese Reaktionen auslöste. Sie überlegte, ob sie sich darüber lustig machen sollte, entschied sich aber dagegen. Die Indoktrinierung hatte wohl ein Ja/Nein Denken bei den Mitgliedern zur Folge und so was wie Sarkasmus kannten sie gar nicht mehr.

„Leg deine Waffe auf den Tisch und dann hau einfach ab.“ entgegnete sie. Han nutzte die Möglichkeit und verschwand in der Dunkelheit. Die Gruppe ging rüber zum Boot.

Die Brücke betraten sie in gemeinschaftlicher Aufregung. Es würde sich hier und jetzt entscheiden, ob ihre Anstrengungen, ihre Entbehrungen und ihre Verluste am Ende mit der Freiheit belohnt würden. Schweigend traten sie gemeinsam vor das Pult. Ein paar einsame Lampen blinkten in einem Meer von erloschenen Anzeigen. Eva hob die Hand und war bereit dem Schicksal ihren Lauf zu lassen.

 „Auf geht’s.“ motivierte sie sich selber um das Unvermeidliche zu tun. Jeder hielt den Atem an. Sie ließ ihre Hand sinken auf die vorgesehene Position. Hoffentlich grün, schoss es allen gemeinschaftlich durch den Kopf. Ihre Hoffnungen wurden enttäuscht. Zwei rote Lampen signalisierten, dass die Freigabe verweigert wurde.

 

VIII

„Schämen sollen sich die Menschen, die sich gedankenlos der Wunder der Wissenschaft und der Technik bedienen und nicht mehr davon geistig erfasst haben als die Kuh von der Botanik der Pflanzen, die sie mit Wohlbehagen frisst.“

Albert Einstein

 

„Versuch es noch mal.“ Dina wollte nicht wahr haben, was hier gerade passierte. Wieder nichts.

„Verdammt wir haben verloren.“ Eva resignierte. Was sollten sie jetzt machen? Der Versuch das Boot zu stehlen, würde sicherlich bald bemerkt werden. Fliehen? Wohin sollten sie? Die Beseitigung des Störsignals war nur noch eine Frage der Zeit und dann war es egal, wo sie sich aufhielten. Vielleicht zwanzig Minuten, dann würde der Flugtransporter die ersten Soldaten des Tempels absetzen.

„Transportboot bitte kommen. Was zum Teufel geht da bei euch vor?“ plärrte das Funkgerät blechernd. Offenbar war der Lautsprecher leicht defekt.

„Was hier vorgeht? Wir versenken euer dämliches Boot, da sitzt ihr in eurem Paradies für alle Ewigkeit fest.“ brüllte Dina als Antwort. Sie musste dem Frust auf ihre Art und Weise Luft machen. Entweder fühlte sich die andere Seite anhand der derben Worte so eingeschüchtert, dass sie keiner Antwort fähig war oder sie überlegten, ob es wirklich die Möglichkeit einer einfachen Zerstörung gab. Jedenfalls blieb das Funkgerät still.

„Wir sollten hier verschwinden.“ schlug Sentry vor.

„Und wohin? Auf dieser Insel gibt es keinen Ort, an dem wir uns verstecken können.“ Eva klang deprimiert.

„Können wir diese verdammte Technik nicht irgendwie in Gang kriegen.“ Sentry hatte Dina noch nie so verzweifelt gesehen. Das Wort Technik belebte Sentrys Gedankengänge. Er war sich nicht sicher, welches Gefühl der Mischung aus Verzweiflung, Intuition oder Resignation ihn dazu bewog seine Hand auf die Konsole zu legen, doch hilflos auf das Unausweichliche zu warten, schien keine gute Option. 

Sofort leuchteten alle Anzeigen. Das Boot war betriebsbereit.

„Ein Hoch auf die Femtos.“ Während Dina regelrecht euphorisch war, stand Eva nur fassungslos da.

„Wie geht denn das?“ fragte sie immer noch zweifelnd über das, was gerade passiert war.

„Das erkläre ich dir später. Wir sollten hier schnellstens verschwinden. Kannst du das Boot steuern?“ Sentry war so voller Vorfreude auf seine bevorstehende Freiheit, dass er keine Zeit mehr verlieren wollte.

„Löst die Taue und dann können wir los.“ Eva dagegen war wenig euphorisch, begann für sie das Leben nach dem Tempel in dieser Sekunde. Ein unbekanntes Abenteuer mit offenem Ausgang. Ihr ursprünglicher Plan ihrer Schwester zu helfen, würde aus Mangel an finanziellen Mitteln sehr schwierig werden. Außerdem stünde ihr eine weitere Demütigung ihres Vaters bevor, daher konnte sie die Begeisterung von Sentry nicht teilen. Sie waren vielleicht zwei Minuten unterwegs, als das Funkgerät ihr Grübeln unterbrach.

„Eva, bitte melde dich.“ Trotz des defekten Lautsprechers konnte sie die Stimme des Führers erkennen. Sie zögerte mit der Antwort. Obwohl sie ihn und die Sache verraten hatte, wollte sie ihn nicht weiter verärgern. Selbst jetzt, wo alles vorbei schien und der Bruch mit dem Tempel praktisch besiegelt war, schaffte sie es nicht den Respekt vor dem Führer abzulegen. Die letzten Jahre konnte sie nicht einfach abschütteln. Sie wollte sich rechtfertigen für ihre Flucht.

„Hier ist Eva.“ antwortete sie.

„Warum hast du das getan? Warum hast du uns im Stich gelassen? Wir brauchen dich doch.“ Durch den defekten Lautsprecher war es schwer die vorherrschende Gemütslage rauszuhören.

„Das Ganze ist nicht mehr richtig.“ Sie zögerte, weil sie befürchtete, dass sie mit diesen Worten etwas Dummes gesagt hatte. Würde er jetzt vor ihr stehen, brächte sie vermutlich kein Wort heraus, aber die Abwesenheit und die Verzerrung seiner Stimme lockerten ihre Zunge.

„Wieso mussten so viele sterben? Ist es das, für das der Tempel steht? Für Tod? Ich habe das Gefühl, dass wir unsere eigenen Ideale verraten haben. Das Leid im Lager, die Bestrafungen, die Bespitzelungen. Wie konnte es soweit kommen?“

„Warum hast du mir deine Zweifel nicht mitgeteilt? So eine starke Frau wie du hätte doch mit uns reden können. Wir haben dich weg von niederen Tätigkeiten geholt, weil wir wussten, dass du was Besonderes bist. Kain spricht in den größten Tönen von dir. Unsere Buchhaltung war voll des Lobes. Ich persönlich schätze dich sehr. Hätte ich dich in die Hauptstadt reisen lassen, wenn ich dir nicht voll vertraut hätte? Ich war so stolz auf dich und deine geleistete Arbeit. Der ganze Tempel vermisst dich. Alle fragen mich besorgt, was mit Eva passiert ist. „

„Ich muss ehrlich sagen, der Tempel hat mir gut getan, damals als ich Führung brauchte. Ihr habt mir geholfen erwachsen zu werden, dafür bin ich euch dankbar. Es war eine schöne Zeit. Aber das hat sich geändert. Es herrscht nur noch Angst und Misstrauen. Wir dürfen ja nicht mal mehr Kontakt zu unserer Familie haben. Warum kann ich meiner Schwester nicht helfen? Sie ist tot krank.“

„Weil diese Leute nicht zu uns gehören und wer nicht zu uns gehört ist gegen uns. Deine Familie ist jetzt der Tempel. Diese Leute mit denen du unterwegs bist, haben dich verwirrt. Du brauchst etwas Entspannung. Komm zu uns zurück und es wird sich alles klären. Wende das Boot. Du weißt welchen Schaden du deiner Familie zufügst, indem du das Boot stiehlst. Willst du das? Willst du uns wehtun?“ Die letzten Worte klangen trotz der Verzerrung sehr energisch.

„Ich will einfach leben, meine eigenen Entscheidungen treffen, Glück empfinden oder Fehler machen. Ich will Menschen helfen, wie meiner Schwester. Es mag vielleicht egoistisch klingen, aber ich will Selbstbestimmung. Ich will morgens mit dem Gefühl aufstehen den Tag nach meinen eigenen Vorstellungen zu gestalten. Was ich will ist Freiheit.“

„Ich will, ich will, ich will. Hast du meine Lehren vergessen? Wie kannst du egoistische Ziele über das Wohl des Tempels stellen? Wir haben Zeit und Energie in dich investiert. Du bist ein wertvolles Mitglied unserer Gemeinschaft. Willst du die ganzen Erfolge der letzten Jahre hin zur Erleuchtung aufgeben? Willst du mich enttäuschen? Bitte dreh um und wir werden eine Lösung finden.“ Wut Verzweifelung waren jetzt deutlich raus zu hören. Jetzt war es an Eva wütend zu werden. Jeglicher Respekt, den sie diesem Mann entgegenbrachte, wurde ausgeblendet. Wie ein reinigendes Gewitter polterte sie los.

„Ihr redet von wehtun und Enttäuschung. Was ist mit mir? Der Tempel hat das Schlimmste in mir zum Vorschein gebracht. Ich habe gelogen, betrogen, gestohlen und am Ende sogar getötet. Das alles habe ich nicht aus egoistischen Motiven getan. Das alles habe ich getan, weil es hier jeder tut im Tempel. Es ist überlebensnotwendig geworden. Unser ganzes System besteht nur noch aus Lug und Trug. Vielleicht solltet ihr eure Energie nicht darauf verschwenden die unbequeme Wahrheit zu bekämpfen, sondern zu den Tugenden zurückkehren, für die der Tempel am Anfang stand. Ihr betrachtet mich als Verräterin. Mag sein. Aber nicht nur ich habe die Idee verraten. Das haben wir alle.“ Für Eva war das der endgültige Abschied vom Tempel. Nun gab es definitiv kein zurück mehr.

„Das heißt ihr könnt uns mal.“ schickte Dina noch einen abschließenden Funkspruch hinterher. Die Gegenseite gab sich geschlagen.  

„Und ihr erklärt mir jetzt, wie ihr dieses Boot in Gang gesetzt habt.“ Ihre Wut war noch nicht besänftigt und brauchte eine neue Richtung. Sie war jetzt endgültig entkoppelt vom Tempel und es gab keine Gemeinschaft mehr, die ihr halt gab. Der Zorn tat gut und kaschierte vorerst die Einsamkeit.

Zum wiederholten Male war Sentry gezwungen seine Leidensgeschichte zu erörtern. Diesmal tat er es gerne. Er schuldete ihr was und vielleicht sah ihr Elend im Schatten seines Leids nicht mehr ganz so mies aus. Zu seiner Geschichte kam nun ein Kapitel dazu. Sie wussten nun, dass neben der Selbstheilung, das Aktivieren von genetisch verriegelter Technik zu seinen Fähigkeiten zählte.

„Femtos? Das klingt nicht besonders technisch. Und du hast keine Erinnerung wo die herkommen?“ versicherte sich Eva noch mal, ob sie alles richtig verstanden hatte.

„Ich nehme mal an das die Blockade in meinem Kopf künstlich ist. Irgendjemand will nicht, dass ich mich erinnere.“ erwiderte Sentry.

„Kannst du jede verriegelte Technik aktivieren?“ fragte sie.

„Bis vor zehn Minuten wusste ich noch nicht mal, dass ich es überhaupt kann. Das ist komplett neu für mich.“ antwortete er.

„Ich überlege mir gerade wie viel Technologie in dieser Galaxie vor sich hin schimmelt, weil keiner mehr sie aktivieren kann. Wenn du sie wiederbeleben könntest, dann bist du wahrscheinlich gerade zur wichtigsten Person in diesem Universum aufgestiegen.“ hakte Dina ein. Mit dieser Wahrheit konfrontiert, wurde Sentry kreidebleich. Wenn das bekannt werden würde, wären vermutlich sämtliche Reds, Rubys und Kains hinter ihm her. Daher waren die folgenden Worte wie ein Schlag ins Gesicht.  

„Der Tempel weiß vermutlich von deinen Femtos.“ Eva wirkte wie ein kleines Mädchen, das mit der Hand an der Schokoladentorte erwischt wurde. Immerhin hatte sie mit ihren Aktionen unbeabsichtigt dazu beigetragen, dass seine Fähigkeiten bekannt wurden. Nun war sie dran die Zusammenhänge zu erklären. Angefangen von ihrer kranken Schwester, über die Blutproben, bis hin zu Kain, der seit dem Abbruch der Jagd vermutlich auf Sentrys Geheimnis gestoßen war.

„Wenn ich dich richtig verstanden habe, wissen nicht nur die Tempeljünger von den Femtos, sondern auch die Leute in der Hauptstadt.“ stellte Sentry fest.

„Ja, allerdings weiß niemand, wer von euch beiden der Träger ist. Tut mir Leid, ich wusste nicht was ich damit in Gang setze.“ sagte Eva.

„Ganz toll. Damit sind sie auch hinter mir her.“ kam es von Dina.

„Du sagtest, dass da noch unbekannte Femtos in dir sind. Ich kenne da jemanden, der uns vielleicht weiter helfen kann.“ Jetzt war ihr klar wo sie hin mussten. Ein paar verführerische Blicke und der Ausblick auf Technologie der Spitzenklasse, schon würde ihr Eric aus der Hand fressen. Die Küste kam in Sichtweite und Evas Plan nahm Gestalt an. Zu Fuß würden sie die Hauptstadt erreichen, sich möglichst unauffällig zu Erics Laden schleichen und dann bei ihm fürs erste unterkommen.

Sentry war davon gekommen. Gegen alle negativen Vorzeichen hatte er die letzten Wochen überlebt und nun setzte er als freier Mann seinen Fuß auf dieses Eiland. Das Gefühl sein Schicksal frei bestimmen zu können, ließ ihn die Müdigkeit und den Hunger vergessen. Eine neue Herausforderung lag vor ihm und wieder würde es um sein Leben gehen, aber die Bandbreite seiner Möglichkeiten war deutlich angestiegen. Vor allen Dingen war er nicht mehr allein. Sie waren jetzt eine Gemeinschaft von Getriebenen. Jeder in der Gruppe hatte seinen Schmerz. Dina den Verlust ihrer Familie, Sentry den Verlust seiner Erinnerungen und Eva den Verrat an dem Tempel. Vorerst war das der Kitt, der die Gruppe zusammen halten würde.

„Gib mir bitte deine Waffe.“ sagte Sentry, nachdem sie die menschenleere Küste betraten. Instinktiv hielt Eva ihm die Pistole hin, zog sie aber sofort wieder zurück. Sie war es gewohnt Anweisungen ohne Nachzudenken zu befolgen. Es war verrückt, wie sehr der Tempel ihr Handeln beeinflusst hatte. Sie musste erst wieder lernen selbstständig zu denken.

„Vertrau mir. Ich will nur schauen, ob ich sie frei schalten kann.“ Er verstand ihr Misstrauen nicht, immerhin hatte er seit ihrer Flucht aus der Ruine versucht ihr zu vermitteln, dass er in ihrer Schuld stand. Sie zögerte immer noch und misstraute wohl eher ihrem eigenen Urteilsvermögen, als Sentry. Schließlich reichte sie ihm die Waffe. Diese war sofort einsatzbereit.

„Mal sehen, ob ich sie für Dina nutzbar machen kann.“ Die grüne LED fing an zu blinken. Er reichte sie Dina. Das grüne Licht ging wieder in den Dauerbetrieb.

„Es klappt. Leider nur noch fünf Patronen übrig.“ kam es von Dina euphorisch.

„Bitte gib mir die Waffe zurück.“ Eva wirkte wenig entschlossen. Die neue Situation außerhalb des Tempeldunstkreises schien sie etwas zu überfordern. Die Waffe gab ihr eine gewisse Sicherheit und die wollte sie zurück haben.

„Mädel, eurer Heiland hat aber ordentlich Schaden da oben angerichtet.“ kommentierte Dina die Rückgabe der Waffe und zeigte dabei auf ihren Kopf.

„Wir sollten die Dunkelheit nutzen, um in die Stadt zu kommen. In diesem Aufzug würden wir bei Tageslicht nur auffallen.“ ignorierte Eva die Bemerkung. Sie hatte Recht. Die letzten Tage hatten ihre Spuren hinterlassen. Nicht nur Evas Tempeluniform würde für Aufsehen sorgen, auch die zerfetzen Lumpen die Dina und Sentry kleideten, hatten ihre besten Tage hinter sich.

„Es gibt hier in der Nähe ein Versteck des Tempels. Dort finden wir Kalorien.“ Das war Musik in den Ohren der Hungrigen.

Nach der Stärkung brachen sie auf. Eva kannte das Gelände von ihren Ausflügen für den Tempel. Sie führte die Gruppe zielsicher an den Rand der Hauptstadt. Es gab vorerst keinen Unterschied zu der Stadt, die sie gerade verlassen hatten. Auch hier gingen Hügel aus verschütteten Häusern in Ruinen über. Erst mit der Annäherung an das Zentrum waren Spuren von Zivilisation zu erkennen. Sie erreichten die Randbezirke und damit setzten sie sich neuen Gefahren aus.

„Das ist eine üble Gegend hier. Hier traut sich nicht mal die Inc. hin.“ sagte Eva. Die Hochhäuser waren vom Verfall genauso ruinös, wie die verlassenen Gebäude, die sie gerade passiert hatten. Nur in den unteren Etagen gab es Lichtquellen, die offenbar nicht elektrisch waren. Hier wohnten die Vergessenen. Jene, die im System der Inc. keinen Platz fanden. Ausgestoßene lebten neben Aussteigern und Kriminellen. Das Faustrecht war das einzige Gesetz. Der Schwarzmarkt blühte und gelegentlich, wenn die Not am größten war, kamen Bewohner aus dem Zentrum, um Waren einzutauschen, die die Inc. ihnen vorenthielt.

Die Schwebebahn zu nehmen schien Eva nicht sehr ratsam. Auffallen galt es um jeden Preis zu vermeiden und ihre Uniform würde nicht lange unerkannt bleiben. Zwar wäre die Bahn um die Zeit vermutlich nur spärlich besetzt, trotzdem war das Risiko, den Einwohnern der Hauptstadt eine Gelegenheit für Verrat zu bieten zu hoch. Sie war es gewohnt, dass jeder in ihrer Umgebung jegliches potentielles Fehlverhalten weiterleitet. Das jahrelang aufgebaute Misstrauen konnte sie nicht auf einen Schlag abbauen. Daher hatte sie auch Probleme mit Sentry und das obwohl ihr bewusst war, dass seine Situation nicht viel besser war als ihre und sie gut daran täte, mit ihm zu kooperieren. Es würde Zeit brauchen, um den ganzen mentalen Ballast des Tempels loszuwerden. So ausgelaugt wie sie waren, kamen sie nicht drum rum den ganzen Weg bis in Erics Geschäft zu laufen.

Ihr Weg führte sie an dunklen Gebäuden vorbei, dessen Verfall zum Zentrum hin stetig abnahm. Der Zustand der Strassen wurde besser und es dauerte nicht lange, bis sie dem ersten Personentransporter begegneten. Ab und an kreuzte eine Schwebeahn über ihren Köpfen und das Wissen über den maroden Zustand der Transporttechnik ließ sie unweigerlich die Köpfe einziehen. Sie kamen gut voran, aber mit Anbruch des Tages wurde es schwieriger unerkannt zu bleiben. Die Strassen füllten sich langsam und die Stadt erwachte zum Leben. Die Morgendämmerung, die den elendigen Zustand der Gruppe bisher noch verbarg, würde diesen Schutz nicht lange aufrechterhalten können. Daher waren sie froh, als sie vor Erics Geschäft standen und mit kräftigen Schlägen an der Eingangstür ihr Kommen ankündigte.

„Es ist noch geschlossen.“ Ein sichtlich müder Eric öffnete die Tür. Sein zersaustes Haar und seine verquollenen Augen ließen ihn wie ein Dämon wirken.

„Oh, du bist es. Dich habe ich gar nicht so schnell zurück erwartet.“ fügte er hinzu, als er erkannte, wer da vor ihm stand.

„Wir brauchen deine Hilfe.“ Sie schob ihn zurück in den Laden, denn der Drang die immer belebter werdende Strasse zu verlassen, wurde deutlich größer.

„Moment Mal, was ist denn hier los? Mit dem Tempel scheint es ja ordentlich bergab zu gehen, wenn sie euch so rum rennen lassen.“ Eric verfiel sofort wieder in diesen herablassenden Tonfall.

„Naja Schätzchen, im Vergleich zu dir sind wir die Schönheitsköniginnen hier.“ konterte Dina.

Eric fuhr sich verlegen durch die Haare. Er war es nicht gewohnt, dass Tempelmitglieder mit ihm auf diese Weise sprachen. Normalerweise biederten sie sich an, weil sie was von ihm wollten oder mieden ihn, weil er in seiner Art abstoßend war. Irgendwas stimmte nicht und ließ ihn misstrauischer werden.

„Ich bin kein Mitglied des Tempels mehr.“ unterbrach Eva das Grübeln.

„Oha, das musste ja irgendwann so kommen. Haben sie dich rausgeschmissen? Nein du bist geflohen. Eine Mitgliedschaft gibt’s da ja nur auf Lebenszeit.“

„Eric das sind Dina und Sentry.“ stellte Eva ihre Begleiter vor.

„Jaja. Was wollt ihr hier? Warum kommt ihr dann gerade zu mir?“ fragte er genervt.

„Weil du der Einzige bist, der uns helfen kann. Wir haben Technik dabei, die du uns erklären musst.“ Damit hatte sie sein Interesse geweckt.

„Soso. Habt ihr die in den Hosentaschen oder in irgendwelchen Körperöffnungen?“ Er schaute dabei Dina an.

„Nur in deinen Träumen.“ antwortete diese kurz.

„Erinnerst du dich an die Blutproben? Ich habe die Erklärung dafür, aber vorher brauchen wir Kalorien und eine Dusche und wenn du hast, auch was zum anziehen.“ sagte Eva.

„Dusche.“ murmelte Eric vor sich hin und sein Blick fiel instinktiv wieder auf Dina.

„Dort drüben. Es gibt aber nur kaltes Wasser.“ fuhr er fort.

„Vielleicht solltest du anfangen. Täte dir bestimmt ganz gut.“ erwiderte Dina, weil sein Blick immer noch auf ihr ruhte. Verlegen wandte er sich ab.

„Ähem, Kalorien, ja. Ich... ich besorg was.“ Er war immer noch leicht verwirrt, weil Dina ihn ertappt hatte.

Sentry ließ den Mädels den Vortritt beim Duschen. Er stärkte sich mit Kalorien und als er später das Wasser auf seiner Haut spürte, empfand er das erste Mal ein Gefühl von Zufriedenheit. Als wenn das Wasser den ganzen psychischen Dreck der letzten Wochen abwaschen würde. Auf Reds Schiff und im Lager konnten sie sich nur mit feuchten Lappen waschen und so nutze er die Gelegenheit, um sich ausgiebig zu reinigen. Für ihn war dieser Ort das Paradies. Niemand, der ihm sagte was er tun oder lassen sollte, ausreichend Kalorien und er hatte die Hoffnung auf ein weiches Bett. Er war sich bewusst, dass dieser Zustand nicht von Dauer sein würde, also genoss er das Gefühl von vorläufiger Sicherheit in voller Intensität. Auch wenn sein Glück auf denkbar niedrigem Niveau war, er kannte nichts Besseres. Er beneidete Eric und die anderen Einwohner von Lassik. Sie gingen früh zur Arbeit, hatten ihr Auskommen und kamen abends heim zu ihrer Familie. Auch wenn der Alltag für sie schwierig war, es war immer noch besser, als das Schicksal, was ihn ereilte. Er hatte die Femtos und damit würde ihm ein gewöhnliches Leben verwehrt bleiben. Wenn er Pech hatte, würde die ganze Galaxie hinter ihm her sein.

Das Gefühl von frisch gewaschener Kleidung auf der Haut steigerte seine Zufriedenheit und linderte seine Müdigkeit. Mit ungeahnter Selbstsicherheit betrat Sentry den Laden. Als er von den drei Anwesenden bemerkt wurde, verstummten die gerade geführten Diskussionen. Ein untrügerisches Zeichen dafür, dass er gerade das Thema war. Vermutlich wurde gerade seine Leidensgeschichte erörtert.

Erst jetzt hatte er die Zeit sich genauer umzuschauen. Der Laden wirkte ziemlich chaotisch und unstrukturiert. Vielleicht 40m² groß mit einer Ladentheke mitten im Raum. Die Wände standen voll mit Regalen, in denen sich Kisten voller Technik befanden. Meist war nicht zu erkennen, was da die einzelnen Fächer verstopfte, da nur noch Innereien in Form von Elektroschrott vorhanden waren. Auf dem Boden standen unbeschriftete volle Kartons und Sentry fragte sich, ob und wie man in diesem Chaos etwas finden würde. Es gab zwei Türen. Eine zur Strasse hin, vorgesehen für die Kundschaft, die andere führte in den Wohnbereich, der drei Zimmer, Bad und Küche beinhaltete. Diese waren in ziemlich gutem Zustand. Ein Zeichen dafür, dass die Geschäfte gut liefen.

Das wirklich Erstaunliche war die Verwandlung seiner Fluchtkameraden. Dina begutachtete gerade eine der unzähligen Kisten. Sie hatte ein viel zu kleines Hemd an, was ihre makellose Figur perfekt zur Geltung brachte. Sie trug ihr Haar offen und die verwendete Spülung ließ das rotblond glänzen. In Kombination mit den blauen Augen und der blassen Haut schien ihr Gesicht die perfekte Komposition. Dazu noch dieser anbetungswürdige Körper kombiniert mit dieser dominanten Ausstrahlung und um Sentry war es geschehen. Er war spitz und die letzten Wochen ohne Möglichkeiten seinem Trieb nachzugehen, zeigten ihre volle Wirkung.

Das zweite reizende Wesen in der Runde war Eva. Ihre langen blonden Haare wirkten verführerisch. Ihre Figur war weitaus zierlicher, als die von Dina. Die neuen Sachen schienen ihr perfekt zu passen und in Kombination mit dem gepflegten Eindruck nach der Dusche, erschien sie Sentry in einem ganz anderen Licht. Ihr Gesicht zierte ein Bluterguss, dessen Ausmaß erst jetzt so richtig ersichtlich wurde. Offenbar hatte sie einen Schlag abbekommen. Ein weiterer unangenehmer Teil der Geschehnisse um ihren Verrat. Ihre Körpersprache stand im kompletten Gegensatz zu Dinas. Trotz aller Mühen ihre Unsicherheit zu überspielen, sah Sentry ihr die Angst an. Im Gegensatz zu ihm, überforderte sie die neue Freiheit. Die Spielregeln ihres Lebens hatten sich praktisch über Nacht geändert und die Anpassung an diese ungewohnten Bedingungen raubten ihr einen großen Teil des Selbstvertrauens. Ein Selbstvertrauen, dass sie sich Stück für Stück zurück erkämpfen musste. Ein Vorhaben, was ihr Sentry zutraute, denn in einer schier endlosen Wüste von Unsicherheit war die Oase der Stärke zu erkennen und die würde ihr grün mit jedem Tag erweitern. Ein langer Weg lag vor ihr und Sentry erlag im direkten Vergleich der optischen Reize vorerst Dinas selbstsicherer Ausstrahlung. Es fiel ihm sichtlich schwer seine Gelüste im Zaum zu halten und jede Bewegung von ihr befeuerte seine unkeuschen Vorstellungen. Er brauchte einen Moment, dann hatte er sich im Griff. Von allen Phantasien befreit, schritt er auf die Gruppe zu. Dina drehte sich zu ihm um und die Duftwolke, die ihm entgegen schlug, raubte ihm fast den Verstand. Das gerade errichtete Bollwerk gegen die Versuchung wurde damit sofort wieder eingerissen. Diese Frau sah nicht nur umwerfend aus, sie roch auch noch fantastisch. Eine Kombination, die jedem Kerl das Blut in die Hose pumpte und dieses Manko teilte er mit Eric, der sich ebenfalls der Anziehungskraft Dinas nur schwer entziehen konnte.

„Ohne den ganzen Staub und Dreck siehst du ja richtig süß aus.“ begrüßte sie ihn. Tatsächlich empfand er sich als halbwegs attraktiv, nachdem er sich im Spiegel betrachtet hatte. Er war ein wenig abgemagert, was vermutlich an den häufigen Hilfseinsätzen der Femtos lag. Seine schwarzen lockigen Haare bedurften eines Haarschnittes, aber er war froh, dass er sie überhaupt mal richtig waschen konnte. Er hatte einen dunklen Hautteint und das obwohl er seit seiner Geburt auf Reds Schiff kaum Sonne gesehen hatte.

„Dito“ murmelte er zurück, immer noch bemüht sein Verlangen zu unterdrücken. Offenbar übertrieb er es damit, denn Dina schenkte ihm ein wissendes Lächeln.

Es war Eric, der die aufgeheizte Stimmung abkühlte.

„So. Du hast also Technologie in dir.“ fing er an. Damit war die Katze schon aus dem Sack. Wieder einer mehr, der von seinem Geheimnis wusste. Bald würde es die halbe Menschheit wissen.

„Die Femtos ja.“ antwortete Sentry.

„Die was? Femtos? Nie davon gehört. Was soll denn das sein?“

„Kleine Roboter, die mich verrückte Dinge machen lassen.“

„Nanotechnologie. Wie kommt man auf diesen verrückten Begriff Femtos? Das ist ja totaler Schwachsinn. Wenn, dann heißen sie Nanos.“

„Wie auch immer. Ich hab da noch einiges Unbekanntes in mir. Kannst du mir sagen, was die so anstellen?“

„Wenn du das schon nicht weißt, woher soll ich das denn wissen. Außerdem ist das wohl eher Biotechnologie.“

Eric frustrierte ihn. Nicht nur, dass er nicht wusste was für Möglichkeiten seine Femtos hatten, er war auch ziemlich herablassend. Ein Umstand, der jede Unterhaltung zur Tortur verkommen ließ. Er wagte einen letzten Versuch. Vielleicht würde eine Demonstration seiner Fähigkeiten seine Motivation zur Hilfe steigern.

„Hast du etwas, was nicht mehr zu aktivieren geht, weil es genetisch gesichert ist?“ fragte er Eric.

„Sicher. Warum?“ Offenbar hatte Eva diesen Teil seiner Geschichte noch nicht erzählt.

„Zeig es mir. Dann wird dir einiges klar.“ Er klang geheimnisvoller als ihm lieb war. Eric ging zu einer der Kisten rüber, kramte kurz darin und kam mit einem in einen Sockel gefassten Kristall in Form einer Pyramide zurück.

„Ich wollte schon immer wissen, was das ist. Leider passiert das.“ Er drückte auf einen Knopf, der am Sockel angebracht war. Eine mechanische Stimme ertönte.

„Keine Berechtigung.“

„Also, kann dir einer deiner Femtos sagen was das ist.“ Er betonte das Wort „Femtos“, als würde es Brechreiz in ihm auslösen. Offenbar war Eric nicht der Umfang dieser Technologie bewusst, denn er dachte in viel zu kleinen Dimensionen.

„Besser.“ antwortete Sentry, nahm die Pyramide in die Hand und drückte auf den Knopf. Gegenüber dem missglückten Versuch von Eric, war diesmal ein helles Licht zu sehen. Es erschien ein Hologramm. Eine winzige männliche Gestalt ergoss sich in schwülstigen Liebesschwüren.

„Liebste, ich vermisse dich so sehr. Ich kann dir gar nicht sagen, wie ich mich nach dir verzehre. Ich vermisse deine zarte Haut, deine Ohren, deine ...“  etwa zehn Minuten beschwor er sämtliche Körperteile, die er vermisste. Sentry schaltete es wieder ab.

„Das ist mies.“ kam es von Eric.

„Stimmt. Welche Frau fällt denn auf so ein Geschleime rein.“ sagte Dina.

„Ich meine die Technik. Das ist ja praktisch nichts wert.“ Offenbar begriff er immer noch nicht, worum es hier eigentlich ging.

„Vergiss diese elektronische Grußkarte. Es geht darum, dass ich es einschalten konnte. Ich kann vermutlich alles aktivieren. Glückwunschkarten, Toaster, Waffen, Atombomben. Alles.“

Eric war es im Gesicht anzusehen, dass er die Dimensionen begriff.

„Das Technologielager von Lassik.“ sagte er zu sich selbst.

„Was?“ fragte Eva.

„Gibt es praktisch auf jeder Welt. Gesperrte Technik, die zu komplex ist, um ausgeschlachtet zu werden. Sie wird eingelagert, in der Hoffnung sie irgendwann wieder nutzen zu können. Waffen, Schiffe, Transporter, Medizintechnik. Es muss tonnenweise vor sich hin rosten. Verdammt du bist der neue Messias.“

Jetzt war es an Eva ihre grauen Zellen auf Hochleistung zu bringen.

„Was ist mit Krebsheilung?“ fragte sie.

„Ich meinte das mit dem Messias eher in technischer Sicht. Ich glaub nicht, dass er mit Hand auflegen deiner Schwester helfen kann. Oder, kannst du das?“

„Nein, nein. In diesem Lager gibt’s doch bestimmt ein Gerät, was Krebs heilen kann.“ erwiderte Eva.

„Durchaus möglich.“ Jetzt war es an Eric, der ihre Beschränktheit der neuen Möglichkeiten nicht verstehen konnte.

„Wir müssen in dieses Lager.“ Für Eva war es der Ausgang aus ihrer Sackgasse. Sie hatte nicht so recht gewusst wie es weitergehen sollte. Nun hatte sie wieder ein Ziel. Die Chancen ihrer Schwester zu helfen, hatten sich deutlich verbessert.

„Wir wissen nicht einmal wo dieses Lager ist. Selbst wenn wir das wüssten, können wir da nicht so einfach rein spazieren und irgendwas mitnehmen.“ sagte Eric.

„Kain, weiß sicherlich wo es ist.“ Eva schauerte bei dem Gedanken sich wieder mit ihm abgeben zu müssen. Auch wenn er den Einsturz überlebt haben sollte, war er keine Option.

„Es gibt andere Möglichkeiten. Die BsA oder...“ Eric zögerte.

„Die BsA ist ebenfalls keine Option. Was gibt es noch?“ fragte Eva ängstlich.

„Die Unterwelt. Das organisierte Verbrechen.“ sagte Eric leise.

„Scheint mir die beste Lösung.“ hakte Dina ein. Eric ging reflexartig auf Konfrontation. Es war seine Art mit der Tatsache umzugehen, dass er nie über den Status eines Äffchens bei ihr hinaus kam.

„Ohja, wir gehen dahin, fragen einfach nach dem Weg, nehmen ein bisschen Technik mit und gehen dann wieder unserer Wege. Sonst noch was?“ Er spie ihr die angesammelte Verachtung abgelehnter Werbungsversuche der letzten Jahre entgegen.

„So in etwa hatte ich mir das gedacht.“ ignorierte sie seine Arroganz. Sentry sah sich gezwungen hier einzuhaken.

„Es geht hier um mich. Wer sagt denn, dass ich das alles überhaupt möchte. Hat mich denn überhaupt schon einer gefragt.“

„Es geht nicht um dich. Hier geht es um meine Schwester. Du schuldest mir was. Ohne mich wärest du auf Prem gestorben.“ In dem Moment, in dem Eva ihm die Worte entgegenbrachte, bereute sie es umgehend. Er hatte Recht. Auch wenn er in ihrer Schuld stand, sie hätte ihn fragen müssen. Der Tempel hatte ihre Manieren auf ein Minimum zusammen schrumpfen lassen und diese Ausrede nahm sie zum Anlass, sich nicht bei ihm entschuldigen zu müssen.

„Ganz ruhig. Er erzählte auch was von Schiffen. Das ist vielleicht unsere Chance hier weg zu kommen.“ beruhigte Dina die Gemüter. Damit hatte sie Sentry überzeugt. Die Aussicht diese Welt zu verlassen und seiner Vergangenheit nach zu gehen, ließ ihn das Risiko seine Femtos weiterer Aufmerksamkeit auszusetzen, eingehen.

„Wir kommen da sowieso nicht rein. Wie habt ihr euch das gedacht?“ Eric war jetzt der einzige Pessimist in der Runde. Alle anderen hatten ihren Antrieb das Wagnis einzugehen.

„Wir kommen da rein. Dich brauchen wir dabei nicht. Mit deiner Einstellung schießt uns die Unterwelt vermutlich eh über den Haufen und wir könnten es ihnen nicht mal übel nehmen. Also bleib hier und sortier deine Spielzeuge.“ Dina wirkte langsam genervt.

„Ahja. Und wer von euch hat das Wissen mit der ganzen Technik umzugehen. Du etwa? Je besser jemand aussieht, umso weniger Ahnung von Technik ist vorhanden. Wenn ich mir dich so anschaue, dann dürften deine technischen Fähigkeiten bei null liegen. Also werdet ihr mich brauchen, wenn ihr eine Waschmaschine von einem Toaster unterscheiden wollt.“ Er wollte sie beleidigen, erreichte aber genau das Gegenteil. Sentry und Dina grinsten sich auf Grund des missglückten Versuches an.

„Du weißt, wie man Frauen Komplimente macht.“ beendete Dina das Ganze. Für alle Beteiligten gab es keinen Grund die Diskussionen zu vertiefen. Außer Eric waren alle erschöpft und daher nutzen sie den Tag, um ihre inneren Batterien wieder zu laden. Es gab leider nur ein Gästebett und daher wurde Sentrys Hoffnung auf einen angenehmen Schlaf leider nicht erfüllt. Das Doppelbett teilten sich die Mädels und er war gezwungen auf einer Matte zu liegen. Gleich mehrere Sachen störten eine optimale Erholung. Er kannte nun eine weitere Funktion seiner Femtos und diese schien ihn zu einem der gefragtesten Männer dieser Galaxie zu machen. In der Welt, die er bisher kennen gelernt hatte, bedeutete das wahrlich nichts Gutes. Das wirklich Erschreckende war allerdings die Tatsache, dass vermutlich gleich mehrere Organisationen hinter ihm her waren. In seinen Albträumen manifestierte sich dieser Umstand, indem wahlweise Kain und Red um ihn stritten. In einem Schlachthaus, was durch seine zügelose Fantasie mit weißen blutverschmierten Kacheln jeglichen Horrorfilm in den Schatten stellte, zerlegten sie ihn Stück für Stück, um hinter das Geheimnis der Femtos zu kommen und als Red gerade an seinem offenen Herzen nagte, wachte er schweißgebadet auf. Er rief sich das Bild dieser Frau auf dem Foto wieder ins Gedächtnis, der Grund, warum er das alles auf sich nahm und nicht den Notausgang des schnellen Todes wählte. Die Hoffnung dadurch in erholsamen Schlaf abzugleiten, wurde nicht erfüllt. Die üblichen Fragen, wer sie war und wie sie diese starken Gefühle in ihm auslösen konnte, bis hin zu dem unbekannten Ursprung seiner eigenen erbärmlichen Existenz, ließen ihn bestenfalls in Halbschlaf verfallen. Einen letzten Versuch auf innerer Ruhe startete er mit nicht jugendfreien Fantasien über Dina, aber die anschließende Erregung ließ ihn eher weiter überdrehen. Irgendwann siegte der erschöpfte Körper über den aufgebrachten Geist und forderte sein Recht auf Erholung.

Er wusste nicht wie lange er schlief, aber draußen war es bereits wieder dunkel. Geweckt wurde er durch laute Stimmen irgendwo im Gebäude. Er überlegte kurz sich noch ein paar Minuten Ruhe zu gönnen, aber das leere Bett vor ihm versetzte ihn in Unruhe. Offenbar waren die anderen schon dabei Pläne zu schmieden und verfielen dabei mit Sicherheit wieder in Streit über die weitere Vorgehensweise. Mit der Angst etwas zu verpassen, quälte er sich kurz ins Badezimmer, um anschließend zu der Gruppe zu stoßen.

„Ich werde da auf keinen Fall hingehen. Die Geschichten, die man über diesen Ort hört, enden meist auf „und er wurde nie wieder gesehen“.“ Also machten sie da weiter, wo sie am Morgen aufgehört hatten. Er wusste zwar nicht genau worum es ging, aber dieser Eric nervte ihn gewaltig mit seiner destruktiven, negativen Art. Sein Misstrauen ihm gegenüber war groß, aber derzeit brauchten sie ihn und seine Unterkunft.

„Dann bleibst du eben hier. Wir haben keine andere Wahl.“ setzte Eva die morgendliche Strategie von Dina fort.

„Ihr wisst wo dieses Lager ist?“ fragte Sentry nach einer kurzen Begrüßung.

„Nein. Aber wir wissen, wo wir die Unterwelt finden. Wir wollen in einer halben Stunde los.“ erklärte ihm Eva.

„Mit denen legt man sich nicht an. Ihr seid doch gerade erst dem ganzen Mist entkommen. Macht doch erst mal Pause und dann könnt ihr die nächsten Tage entscheiden wie es weiter gehen soll. Geht aus, amüsiert euch. Im Kino läuft einer dieser uralten unrealistischen Filme. „The running man.“ Menschenjagd durch eine verschüttete Stadt. Bestimmt spannend.“ versuchte Eric die Gruppe von ihrem Vorhaben abzubringen.

„Kein Interesse.“ kam es von allen gleichzeitig.

„Schön, dann rennt doch ins Verderben. Ist wahrscheinlich besser, dass ich euch wieder los bin.“ Eric resignierte. Sich mit der organisierten Kriminalität anzulegen, schien ihm ein viel zu hohes Risiko.

„Es gibt einen Ort in den Randgebieten, an dem man Waren und Dienstleistungen kaufen kann, die hier schwer zu bekommen sind.“ sagte Eva.

„Wenn es jemanden gibt, der weiß wo sich das Lager befindet, dann ist er höchst wahrscheinlich dort.“ fuhr sie fort.

Damit war alles gesagt. Eine halbe Stunde später zogen sie im Schutze der Dunkelheit los. Im zivilisierten Zentrum waren die Strassen sehr belebt, aber trotz der hellen Beleuchtung wirkte die Umgebung trostlos und grau. Nur gelegentlich durchbrach das Rot der Heckbeleuchtung einiger Transporter das triste Stadtbild. Die Kleidung der meisten Bewohner war vergleichbar mit den mühsam geflickten Häuserfassaden. Es gab nix Neues. Alles musste irgendwie instand gehalten werden und zeigte massive Abnutzungserscheinung. Armut und Elend waren hier die Normalität. Die ganze Stadt war darauf ausgelegt das Überleben ihrer Einwohner zu sichern. Alles andere als Energie, Wasser und Nahrung war an diesem Ort unnötiger Luxus. In den letzten Tagen wurden erneut die Lebensmittelrationen rationiert und der Frust darüber, spiegelte sich in den Bewegungen der vorbeieilenden Passanten wieder. Dieses ganze System, was längst hätte zusammenbrechen müssen funktionierte irgendwie. Die Inc. hatte die Hand über dem Ganzen und es hatte den Anschein, als würde sie die Grenzen der Belastbarkeit jeden Tag aufs Neue testen.

Nach etwa einer Stunde wurden die Lichter weniger und der Verfall der Gebäude nahm wieder zu. Die deutlich dunkleren Randbezirke wirkten bedrohlich. Verstärkt wurde dieser Effekt durch Schuttberge auf den Strassen. Auch hier gab es Menschen und auch diese waren angefüllt von Frust und Aggressionen. Sie lungerten in kleinen Gruppen an den Ecken der zahlreichen Ruinen. Aus Mangel an Energie wärmten sie sich an Feuern, die teilweise offen in den Strassen brannten. Hier gab es keine Ordnungsmacht, jeder war auf sich selbst gestellt. Hierher würde sich kein Personentransporter oder Schwebebahn verirren. Diese Gegend besuchte man nur, wenn man verzweifelt war.

„Versucht unauffällig zu bleiben. Wir sind gleich da.“ gab Eva warnend von sich.

Sie kreuzten zwei Strassen ohne gesehen zu werden, folgten einer verfallenen Häuserfront und verschwanden dann in einer der zahlreichen baufälligen Gebäude. Sie passierten eine zerstörte Eingangsfassade, die irgendwann als Lobby eines großen Büroturms diente und kamen vor einer massiven riesigen Tür zum stehen.

„Und nun?“ fragte Dina.

„Wir warten. Man hat uns schon gesehen und wird uns hoffentlich gleich die Tür aufmachen.“ Es dauerte fünf Minuten, ehe eine korpulente Gestalt in der Tür erschien. Seine Gesichtshaut und seine Ohren waren durchstochen von mehreren Schmuckstücken. Mit seinem ungepflegten Bart wirkte er wie ein Pirat, der nach Wochen auf See bereit war auf jegliche Hygiene zu verzichteten. Mit der jahrelangen antrainierten Arroganz eines Türstehers, nahm er die Gruppe in Empfang.

„Was wollt ihr?“ fragte er grob.

„Waren kaufen.“ antwortete Eva.

„Ha. Verschwindet. Solche Bettler wie ihr brauchen wir hier nicht. Ihr habt doch gar nichts anzubieten.“ gab der Kollos zurück.

„Vielleicht nichts was wir in den Taschen haben.“ sagte Dina und machte eine eindeutig zweideutige Geste. Es verfehlte seine Wirkung nicht. Sie wusste, wie sie männliche Instinkte ausnutzte.

„Solche seid ihr. Ok, bei euren Fähigkeiten werdet ihr da drinnen sicherlich Arbeit finden. Macht aber nichts auf eigene Rechnung, sonst ist eure Haltbarkeit hier begrenzt. Meldet euch bei Balta, der verschafft euch Kundschaft.“ Er musterte Sentry und überlegte kurz, ob er ihm den Zutritt verwehren sollte, entschied sich aber dagegen.

Sie folgten einem schmalen Gang und hinter einer Tür eröffnete sich ihnen ein überraschender Anblick. Eine große innen liegende Halle tat sich unter ihnen auf. Die Decke befand sich etwa zwanzig Meter über ihren Köpfen. Unten wimmelte es von Menschen. Durch ihre erhöhte Position hatten sie einen kompletten Überblick über den Schwarzmarkt von Lassik. Unzählige Stände boten Waren an, die vermutlich auf dem Rest des Planeten Mangelware waren. Hier gab es keine Währung. Der Wert gestaltete sich danach, was der Käufer bereit war zu tauschen. Eva kannte diesen Ort, war aber nie hier gewesen. Der Tempel selbst war manchmal gezwungen etwas zu erwerben, allerdings durften nur ausgewählte Mitglieder diesen Sündenpfuhl betreten. Dementsprechend rankten sich Gerüchte über das, was hier passierte und nun hatte Eva die Gelegenheit den Wahrheitsgehalt zu ergründen. Sie war sich sicher, dass die Inc. diese Geschäfte duldete, dass sogar hochrangige Politiker einen einträglichen Nebenverdienst mit dem Elend ihrer Bevölkerung erwirtschafteten. Waren wurden direkt hierher umgeleitet und die Not leidende Bevölkerung, für die die Dinge eigentlich gedacht waren, sah sich gezwungen auf dem Schwarzmarkt lebenswichtige Sachen wie Medikamente oder Nahrung zu erwerben, da sie in den regulären Geschäften nur begrenzt erhältlich waren. Wurden bestimmte Grenzen nicht überschritten, ließ die örtliche Verwaltung sie gewähren. Organisiert war das Ganze in mafiaähnlichen Strukturen und ihr Anführer war offensichtlich dieser Balta.

Wie jeder Schwarzmarkt blieb das Geschäft nicht nur auf das Handeln von Waren beschränkt. Es gab Prostitution, Glückspiel und Bars. Verschiedene Leuchtreklamen priesen von den Versuchungen und Angeboten dieses Ortes. Alles wirkte bunt und surreal. Die Reizüberflutung in einem Meer blinkender Lichter ließ Sentry staunen. Auf diesem tristen Planeten hatte er so was nicht erwartet und wieder war er durch die fehlenden Erinnerungen unsicher, wie er sich an einem solchem Ort verhalten sollte. Dort unten stieß Verzweiflung auf Habgier. Ein explosives Gemisch, das durch bewaffnete Aufseher an der Explosion gehindert wurde.

„Ich hätte nie gedacht, dass es so groß und so grell ist.“ Eva war ebenfalls den blinkenden Lichtern verfallen.

„Ich kenne solche Orte. So etwas würde nie ohne Duldung der hiesigen Behörden funktionieren.“ sagte Dina. Sie ging voraus die Stufen hinab und zeigte damit die nötige Entschlossenheit, die ihren Begleitern fehlte. Immer noch von den Eindrücken überwältigt, zögerten die beiden ihr zu folgen. Sofort lag wieder Beklemmung in der Luft. Es war an Eva das peinliche Schweigen zu brechen.

„Ich weiß nicht, wie wir das angehen wollen. Einfach die Leute nach dem Lager fragen?“ sie wirkte, als würde sie Hilfe brauchen, war aber zu stolz zu fragen. Auch Sentry fühlte sich überfordert. Er hatte Angst etwas Unüberlegtes und Dummes zu tun. Das Verhalten in großen Gruppen war er nicht gewöhnt, zu mal sie sicherlich als Fremde betrachtet würden.

„Folgen wir ihr einfach.“ kam es kraftlos von Sentry, der damit seine eigene Unfähigkeit eine Entscheidung zu treffen besiegelte.

Sie holten Dina wieder ein und wie sie da die ersten Stände passierten, wirkte die Gruppe wie zwei verängstigte Pudel, die anhänglich ihrem Frauchen hinterher trotteten. Von Selbstvertrauen war bei den beiden keine Spur. Den Blicken der Händler ausgesetzt, waren sie ordentlich verunsichert. Offenbar gab es hier nicht oft neue Gesichter zu sehen. Sie blieben stehen und das gab Sentry die Möglichkeit sich zu orientieren. Die Halle wirkte durch die hohe Decke riesig. Etwa sechzig Meter in der Länge und zwanzig Meter in der Breite. Die Stände waren wie ein eckige Acht aufgestellt, wobei im Bauche der beiden Quadrate Unmengen von Kisten und Ramsch stand. Die kurzen Seiten der Hallen waren mit Treppen gesäumt, an deren Ende sich Ausgänge befanden, die in die Nacht von Lassik führten. Ursprünglich umgaben große Fensterfronten die Türen und sorgten für helles Tageslicht. Das war aber nicht erwünscht, denn niemand sollte sehen, was im Inneren vorgeht. Alles wurde verbarrikadiert, meist mit großen Steinen, die dem ganzen Ambiente etwas Verbotenes und Gefährliches verliehen. An den langen Seiten befanden sich die Clubs und Bars. Rechts von ihnen gab es das „Pussy Riot“. Es nahm die komplette Seite ein und hatte nur in der Mitte eine Doppeltür, an der zwei Türsteher über das ja oder nein eines Einlasses entschieden. Sie waren gut gekleidet, was ziemlich grotesk wirkte, denn ihre Frisuren und Gesichtstätowierungen passten sogar nicht zu ihren Anzügen. Im Inneren gab es freizügigen Tanz und jede mögliche Sorte verbotenen Alkohols. Laute Musik und das Gegrölle Betrunkener erklang, wenn jemand rein oder raus gelassen wurde. Es war die Art von Lokalen, in denen Frauen am Einlass mit hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit abgewiesen werden. Zimmer im hinteren Bereich waren für den extra Service gedacht. Verzweifelte weibliche Einwohner von Lassik hatten hier die Möglichkeit ihre Leistungen gegen dringend notwendig gebrauchte Waren anzubieten.

Die gegenüberliegende Seite war offen. Keine Türen die den Blick auf etwas Schlüpfriges verbargen. Das war auch nicht notwendig, denn der Bereich, aufgeteilt in Bar und Casino, schien der legale Teil dieses seltsamen Ortes. Zwischen den Säulen, die ein Zwischengeschoß trugen, war die Theke zu erkennen. Davor standen Tische, an denen sich vorwiegend junge Leute die verschiedensten Sorten Alkohol gönnten. Es gab Türen in den hinteren Bereich, wo Kellnerinnen exklusive Kundschaft bewirtete und aus einer dieser Türen erklang Musik, was auf eine Tanzfläche hindeutete. Über allem leuchtete der Schriftzug „Lassik junction“. Wollte man vom junction ins Casino war man gezwungen über den Markplatz die Trennwand zu umgehen. Verschiedene Instrumente, wie Gitarren, Saxophone und Keyboards hingen an dieser Trennwand und gaben dem „junction“ ein angenehmes Ambiente. Etwas, was man dem Casino nicht nachsagen konnte. Dieses quellte über von Spielautomaten, die in verschiedenen Tonlagen vor sich hin piepten. Alles war so ausgelegt, dass möglichst viele Automaten auf engsten Raum passen. Es war eine bedrückende Atmosphäre, aber den meisten Besuchern ging es nicht um Gemütlichkeit. Man wollte seinem Spieltrieb nachgeben und mit möglichst mehr Münzen das Casino verlassen, als man es betreten hatte. Naturgemäß war dieser Erfolg nur den Wenigsten vergönnt. Etwa vor jedem dritten Automaten versuchten Leute dem Trend des Verlierens zu entkommen.

Ihr Standort war genau der Mittelpunkt der achtförmigen Ständeanordnung. Das beklemmende Gefühl des Anstarrens und des Fremdseins hatte hier seinen perfekten Nährboden. Dina überlegte in welche Richtung es weitergehen sollte, ein Fakt der Eva so ziemlich egal war. Sie wollte einfach nur in eine Ecke und raus aus der Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit.

In dem Moment, als Dina eine Entscheidung über das weitere Vorgehen treffen wollte, wurden sie angesprochen.

„Bitte folgen Sie mir. Sie werden bereits erwartet.“ Der Mann wirkte vollkommen unrealistisch in dieser Umgebung. Seine deutliche und höfliche Aussprache, seine Gesten, aber vor allen Dingen sein teurer und gepflegter Kleidungsstil standen im Gegensatz zu diesem von Gier und Neid geprägten Milieu. Die Schwäche, die er ausstrahlte, passte nicht zu den Reaktionen der Umstehenden. Den Respekt, den sie ihm zollten, war vergleichbar mit der Angst einen schwächeren Mitschüler zu verprügeln, weil der große Bruder irgendwann Rache nehmen würde.

„Und du bist?“ fragte Dina.

„Nur jemand, der euch zu wichtigeren Personen führen wird. Bitte folgt mir, dann wird sich alles aufklären.“ verweigerte er die Herausgabe seines Namens.

„Na dann los.“ Dina wirkte unerschrocken, aber Sentry und Eva waren ängstlich. Hier gab es offensichtlich jemand, der Interesse an ihnen zeigte. Die Femtos, sicher waren sie wieder der Grund. Red und seine Beteuerung alles zu tun um ihn zu finden, kam ihm wieder in den Sinn. War er es, der dahinter steckte? Unmöglich. Vielleicht war es Kain oder der Tempel? Er wollte diesem Mann nicht folgen und die Erkenntnis, dass es ein Fehler war hierher zu kommen, schlug mit heftiger Intensität durch. Aber was wäre die Alternative? Sich bei Eric verstecken? Also folgte er diesem kleinen seltsamen Mann in Erwartung neuer böser Überraschungen.

Sie gingen ins „junction“. Vor einem der Separees bat ihr Führer sie im freundlichsten Tonfall einen Moment zu warten.

„Bitte, Sie können eintreten.“ kam er nach ein paar Sekunden wieder heraus. Dina ging zuerst rein, gefolgt von Sentry und der zögernden Eva. Das Licht im Inneren war gedämmt und der Raum war kleiner als in seinen Erwartungen, aber vielleicht wirkte er auch nur so, weil ein riesiges U-förmiges rotes Ledersofa den größten Platz einnahm. Im Bauch des Us stand ein runder Tisch auf dem zahlreiche Gläser und Flaschen in verschiedenen Formen und mit diversen Inhalten standen. Auf dem Sofa räkelten sich drei spärlich bekleidete Mädels, während ein einzelner Mann den Frauenüberschuss auf seiner Couch sichtlich genoss. Im dunkeln Hintergrund waren zwei Silhouetten zu erkennen. Vermutlich Leibwächter. Die dezente Musik im Hintergrund untermauerte den Eindruck einer gerade stattfindenden Feier.

„Ah meine Gäste. Herzlich willkommen. Ich hatte mir schon überlegt, wo ich euch finden könnte und dann schwups, steht ihr einfach so vor meiner Haustür.“ begrüßte er die Gruppe mit aufrechtem Lachen und drückte seine gerade gerauchte Zigarette aus. Obwohl die Begrüßung recht freundlich war, fiel es Sentry schwer Sympathie für den Mann vor ihm aufzubauen, zu großspurig war das Auftreten.

„Mädels, so schwer mir das auch fällt, aber ich muss euch bitten zu gehen. Ich habe was Geschäftliches zu erledigen.“ Damit leerte sich das Sofa vorerst. Es folgten zwei Minuten Schweigen, in denen sich die Anwesenden gegenseitig musterten. Der Mann vor ihnen hatte eine tief schwarze Haut, sein Schädel war kahl geschoren und obwohl er saß, schätze Sentry seine Größe an die zwei Meter. Trotz dieser imposanten Erscheinung machte er nicht den Eindruck eines groben Schlägers. Ganz im Gegenteil. Er schien mit sich und der Welt im Reinen. Jemand, der die angenehmen Dinge des Lebens genoss. Den Alkohol, den Tabak und vor allen die Frauen. Leben und leben lassen. Etwas, was so gar nicht nicht hierher passte.

„Setzt euch. Ich glaube wir haben uns zu unterhalten.“ unterbrach er das Schweigen. In der Tür tauchte eine der Kellnerinnen auf.

„Ah die Getränke. Wie aufs Stichwort.“ Als sie wieder gegangen war, hatte jeder einen Krug Bier vor sich. Sentry wurde misstrauisch. Was sollte das Ganze? War das nur eine neue perfide Art an seine Femtos ranzukommen?

„Vorsicht vor Leuten, die mit Geschenken kommen.“ teilte Dina sein Misstrauen. Der Blick des Fremden wanderte von Dina zu Eva.

„Dann bist du diejenige, die dem Tempelkult entsagt hat. Ihr habt ja dort drüben ein ordentliches Chaos angerichtet.“ Die Überraschung stand Eva ins Gesicht geschrieben. Es war keinen Tag her, dass sie geflohen waren und schon schien sich ihre Flucht in die verkommensten Gegenden von Lassik herumgesprochen zu haben.

„Du musst Balta sein.“ versuchte Dina ihre einzige Information über den Fremden gegen das Wissen über ihre Flucht entgegenzusetzen.

„So ist es und es freut mich euch kennen zu lernen. Verratet ihr mir auch eure Namen.“ Er garnierte diese Aussage mit einem dieser Lächeln, die Frauen zum Schmelzen bringen. Seine weißen Zähne leuchteten makellos und unterstrichen seinen Charme. Keine Frage er war jemand, der es verstand Leute mit seiner Erscheinung zu beeindrucken. Vorerst hatte er bei den Anwesenden kein Glück damit. Eva war noch gebrandmarkt durch die Verlockungen des Führers und war nicht bereit der nächsten Versuchung auch nur ansatzweise wieder eine Chance zu geben. Dina war zu intelligent, um ihre Vorsicht durch ein paar nette Worte fallen zu lassen. Was Sentry betraf, schützte ihn die Sorge um die Femtos. Sie stellten sich nacheinander vor.

„Genug der Höflichkeiten. Ihr wollt sicherlich wissen, was ich von euch will.“ Er zündete sich eine neue Zigarette an und ließ damit der Fantasie der Anwesenden ein paar Sekunden Zeit sich zu entfalten.

„Man sagt mir nach, ich hätte ein Gespür für gute Gelegenheiten. Seht ihr, das Ganze hier wurde erschaffen von einem Typen namens Coid oder Boyd. Verdammt ich hab seinen Namen vergessen. Egal. Sein Talent war die Organisation. Er schaffte es eine Art Parallelgesellschaft zu erschaffen. Er wusste welche Behörden er schmieren musste, er hatte Ahnung von der Logistik eines solchen Unterfangens und er wusste, wann es notwendig war Zuckerbrot oder Peitsche einzusetzen. Kurzum. Er hatte Erfolg und das war sein Baby. Er wurde der Chef des organisierten Verbrechens. Der Pate wenn ihr so wollt.“ Er machte eine kurze Pause.

„Seht ihr ihn hier irgendwo? Nein. Und warum sitzt nicht dieser Floyd hier auf dem Sofa sondern ich. Weil ich Situationen und Gelegenheiten eher erkenne, als die meisten Anderen. Ihr müsst euch das vorstellen wie ein kleiner Wachhund, der anschlägt sollte sich so eine Gelegenheit ergeben. Er braucht nur das richtige Futter in Form von Informationen und schon geht’s los. Loyd ist raus und ich bin drin. Der neue Pate, wenn ihr so wollt. Diesem kleinen Kerl in meinem Kopf hab ich es zu verdanken, dass sich ein Dutzend Leute um mein Wohlergehen kümmern, ich Essen, Alkohol und Frauen im Überfluss habe und jeden Abend meine Dukaten zählen kann.“ Er nahm einen kräftigen Schluck Bier. Diese Selbstbeweihräucherung stieß allen Anwesenden sauer auf. Besonders Eva, die es gewohnt war in einer Gruppe ihre Erfüllung zu finden, konnte mit diesen egoistischen Phrasen nichts anfangen.

„Dieses kleine Mistvieh in meinem Kopf bellt seit kurzem ununterbrochen. Und warum? Weil ich es mit Informationen gefüttert habe, die auf den ersten Blick nicht zusammen passen.“ Wieder eine Pause.

„Da haben wir zum einen die BsA, die praktisch seit einigen Tagen im Ausnahmezustand ist. Sämtliche Kräfte werden auf ein Thema konzentriert. Es ist beim besten Willen nicht rauszubekommen, was da vor sich geht. Leute verschwinden oder sterben unter seltsamen Umständen. Dann der Tempel, der sich ja noch nie an seine eigenen Regeln gehalten hatte, aber was man so hört, haben sie auch noch ihre letzten Prinzipien über Bord geworfen. Wenn man den Gerüchten glauben schenken kann, haben die ihre halbe Truppe verloren. Und zum Schluss gibt’s da noch euch. Geflohen von Prem und immer auf der Hut vor den örtlichen Behörden. Verdammt der ganze Planet ist in Aufruhr. Ich will wissen, was hier los ist.“

„Wir würden es dir ja gerne erklären. Da gibt es nur ein Problem. Wir trauen dir nicht.“ Dinas direkte Art amüsierte ihn. Er zeigte wieder sein breites weißes Lächeln.

„Es ist wie mit allem hier. Ob ihr nun einen Kanten Brot kauft oder Informationen. Alles nur eine Frage des Preises. Seht ihr die beiden Freunde hinter mir? Die könnten euch die Informationen rausprügeln, aber das ist nicht meine Politik. Ich bin bereit einen angemessenen Preis zu bezahlen.“ Jetzt zierte ein breites Käuferlächeln sein Gesicht.

„Also, wie sind eure Bedingungen?“ fragte er siegessicher.

Dina schaute rüber zu Sentry. Es war immerhin seine Angelegenheit, die hier zur Diskussion stand. Dieser sah ein, dass es der Moment war Stärke zu zeigen. Wollten sie das Optimale rausholen, musste er jetzt selbstbewusst auftreten.

„Du bist die Quelle der ganzen Geheimniskrämerei.“ Balta hatte eine schnelle Auffassungsgabe.

„Wir brauchen einen Arzt, ein Transportmittel und eine Information.“ ignorierte Sentry die Aussage und gab ihm damit ungewollt Recht.

„Das klingt nach purer Verzweiflung. Keine gute Verhandlungsbasis.“ konterte Balta.

„Das wichtigste ist die Information. Aber auch die können wir woanders herbekommen.“ kam es zurück.

„Ich bin mir sicher, dass ihr das könntet, aber der Preis wäre vermutlich um Einiges höher.“ Balta las in Sentry wie in einem offenem Buch. In Sachen Verhandlungsgeschick hatte der ihm nichts entgegen zu setzen.

„Die Bedingungen sind nicht verhandelbar. Ist die Frage, ob du dass Gebelle in deinem Kopf weiter ignorierst oder die Töle endlich mit der Wahrheit zum schweigen bringen willst.“ hakte Dina ein.

„Welche Information?“ Balta führte seine gefalteten Hände an seine Lippen.

„Das Technologielager von Lassik. Wir brauchen seinen Standort.“ erwiderte Sentry mit höchstmöglichen Selbstvertrauen. Das Pokergesicht verriet keine verräterischen Reaktionen seitens Balta. Ein paar Sekunden saß er mit seinen gefalteten Händen vor dem Gesicht regungslos da.

„Das Dumme am Informationsaustausch ist, dass es eines gewissen Grundvertrauens bedarf. Einer muss den ersten Schritt machen und wie ihr schon eingangs erwähntet, traut ihr mir nicht. Obwohl ich den Wert eurer Informationen nicht kenne, bin ich bereit eure Bedingungen zu akzeptieren.“ Wieder eine dieser kurzen Pausen.

„Ihr seid am Zug. Zeit die Hosen runter zu lassen. Was ist dein Geheimnis?“ Balta klang jetzt ungeduldiger.

„Deine Waffe. Gib sie ihr.“ Sentry zeigte auf Dina. Balta zögerte kurz, zog dann seine Pistole und reichte sie Dina, ohne ein weiteres Wort zu verlieren. Wie erwartet blockierte die Waffe sofort. Dina reichte sie weiter an Sentry. Das grüne Licht ließ die Wachen im Hintergrund sofort reagieren. Bevor er auch nur ein Wort sagen konnte, waren sie Gewehr im Anschlag aus dem Dunkeln getreten.

„Hohoho. Ganz ruhig. Ich bin mir sicher wir sind hier alle gute Freunde. Außerdem kann er ohne das eh nicht viel Schaden anrichten.“ Er wedelte mit dem Magazin herum, was seine Leibwächter etwas entspannte. Sentry gab die Waffe zurück an Dina, die nun ebenfalls Zugriffsrechte besaß.

„Tsssz, das erklärt Einiges. Wirft allerdings auch wieder neue Fragen auf. Wie funktioniert das?“ Balta hatte immer noch sein Pokergesicht auf, als würde ihn das alles wenig beeindrucken.

„Das ist nicht Bestandteil unserer Vereinbarung.“ entgegnete Dina.

„Unsere Vereinbarung ist eh hinfällig. Mit dieser Gabe kann ich euch doch unmöglich gehen lassen.“

„Soviel zu Vertrauen.“ erwiderte Dina gelassen.

„Also, erzähl mir mehr darüber.“

„Warum sollte ich.“ reagierte Sentry trotzig.

„Hey, nicht so bockig. Ich will doch nur nach verhandeln, zu Mal es nicht eurer Nachteil sein soll. Seht ihr, ich bin doch nicht der Einzige, der von deiner Gabe weiß. Der halbe Planet ist hinter euch her und es ist nur eine Frage der Zeit, wann sie euch erwischen. Ihr braucht Schutz und den kann ich euch bieten. Natürlich gegen eine gewisse Gegenleistung. Also lass uns neu verhandeln.“ Dieser Mann war undurchsichtig. Er hatte einen Charme, dem man sich schwer entziehen konnte. Wie das Gewicht einer Standuhr, pendelten Sentrys Empfindungen zwischen Vorsicht und Vertrauen ständig hin und her. Ein neuer Spieler stand auf dem Feld, im Ringen um den Pokal der Femtos, nur war nicht sicher zu welcher Mannschaft er gehörte. Seine Mittel unterschieden sich so grundlegend von bisher da gewesenen Erfahrungen, dass Sentry sich sichtlich schwer tat ihn eindeutig zu zuordnen. Größte Vorsicht war geboten. Gegenüber Reds Methoden, die eher robuster Natur waren, ging Balta eher mit Cleverness vor. Das Ziel war bei Beiden das Gleiche. Die hochmoderne Technik, die durch seine Blutbahnen kreuzte.

„Du weißt nicht woran du bei mir bist.“ deutete Balta sein Zögern folgerichtig.

„Wie ich das so sehe, hast du nicht viele Möglichkeiten. Daher mein Vorschlag. Wir gehen gemeinsam in dieses Lager. Ihr nehmt euch, was ihr braucht und den Rest schaltest du für mich frei. Danach gehen wir alle unserer Wege.“

„Nicht ohne den Arzt.“ Eva wirkte energisch.

„Einen Krebsspezialisten. Ich bin mir sicher, dass du da jemanden findest.“ fuhr sie fort.

„Ok. Wer ist denn der Patient?“ fragte er ernsthaft besorgt.

„Meine Schwester. Wir werden nicht ohne den Arzt dahin gehen.“

„Natürlich werden wir das nicht.“ Er zeigte ihr sein charmantestes Lächeln.

„Morgen bei Sonnenaufgang geht’s los. Ich besorge den Transporter und den Arzt, ihr kommt mit der Krankenakte.“ Damit war die Sache besiegelt. Noch ein paar Stunden und es würde sich entscheiden, ob sie diesen nasskalten Planeten verlassen oder ob er ihr Grab werden würde.   

 

IX

„Das Vertrauen junger Menschen erwirbt man am sichersten dadurch, dass man nicht ihr Vater ist.“

Henry de Montherlant

 

Sie war allein, in tiefster Nacht und in einer Gegend, in der Frauen besser nicht allein unterwegs waren. Trotzdem war die Angst überfallen zu werden weitaus geringer, als die Furcht vor dem, was vor ihr lag. Sie musste zurück zu ihrer Familie. Was eigentlich ein freudiges Ereignis sein sollte, war für Eva alles andere als angenehm. Die letzte Erinnerung an ihren Vater bestand in jenem Streit, der ihre Vollmitgliedschaft im Tempel zum Thema hatte. Sie war siebzehn und vollzog damals die endgültige Trennung von ihm. Ihre neue Familie war ab jenem Tag der Tempel, der die emotional aufgewühlte Eva auffing und die Lehren des Führers weiter verankerte. Sie erinnerte sich, wie sie vor ihm stand und seine warmen Worte ihr gut taten. Die Gemeinschaft, jenes Gefühl Teil einer auserwählten Elite zu sein und endlich dem richtigen Weg zu folgen im Labyrinth des Lebens, dass bedeutete für sie damals alles. Es machte sie blind für die Ungerechtigkeiten, die jahrelang um sie herum passierten und die zu vertrauter Normalität wurden. Sie vermisste diese scheinbar guten Zeiten, aber sie hatte jetzt diese warnende Stimme im Kopf, die sie daran hinderte zu sehr in Nostalgie über die Ereignisse im Tempel zu verfallen. Diese Stimme wird lauter werden und dafür sorgen, dass ihr Verstand irgendwann frei sein wird vom Dunst des Tempelkults, aber das benötigt Zeit und jede Menge Mut für unangenehme Entscheidungen. Entscheidungen, wie die Rückkehr zu ihrer Familie. 

Ihr Ziel war die Haltestelle der Schwebebahn. Sie hatte keine Zeit sich zu Fuß bis zum Haus ihres Vaters durchzuschlagen, also musste sie wohl oder übel die Gesellschaft Fremder in Kauf nehmen. Die Nutzung der Bahn war an sich nichts Neues für sie, allerdings war immer ein vertrautes Gesicht des Tempels mit dabei, so dass das Gefühl ein Außenseiter unter Fremden zu sein, nicht mehr als eine unangenehme Nebenerscheinung war. Heute Abend fühlte sie sich verloren und einsam. Sie war jetzt vollkommen auf kalten Entzug sozialer Kontakte. Zum ersten Mal vermisste sie die Anwesenheit von Dina und Sentry, aber die bevorstehende Bloßstellung durch ihren Vater musste sie allein bewältigen. Außer ihr waren nur ein halbes Dutzend Jugendliche in der Bahn, die sich zu ihrem Leidwesen auch noch untereinander kannten. Das verstärkte die Sehnsucht nach den „Annehmlichkeiten“ des Tempels. Schmerzlich wurde ihr bewusst, dass es kein zurückgab, selbst wenn sie es wollte. Ihr neues Leben lag vor ihr und die ersten Hürden musste sie erstmal alleine meistern. 

Sie versuchte sich abzulenken. Dieser Balta hatte ordentlich Eindruck bei ihr hinterlassen. Sein Egoismus, sein machohaftes Gehabe, das Ausüben von Macht, dass alles mit dem Zuckerguss seines unglaublichen Charmes, brachte sie vollkommen durcheinander. In ihrer mentalen Schrankwand gab es keine Schublade, in die sie ihn hätte stecken können. Sie konnte Menschen nicht besonders gut einschätzen und dieser Balta war undurchsichtiger denn je. Er war ein Gangster, aber alle negativen Eigenschaften, die mit solch einem Posten einhergingen, fehlten bei ihm. Kein schmieriger Kerl mit übertriebenem Ego, der seine Untergebenen mit Demütigungen gefügig hielt. Es war ihr unmöglich ihn unsympathisch zu finden.

Dann war da noch dieser Sentry. Ohne ihn und seine Technologie wären sie nie von Prem entkommen. Auch er war schwer zu durchschauen, was aber mehr an seiner unbekannten Vergangenheit lag. Offenbar wurde er einfach gefunden und ist durch widrige Umstände auf Lassik gelandet. Mit seinen Fähigkeiten konnte er doch unmöglich einfach irgendwo ohne Aufsehen verschwinden. Irgendwer musste ihn doch vermissen. Sie tat sich schwer mit ihm, obwohl sein Schicksal vielleicht sogar noch schwerwiegender war als ihres. Trotz des Fehlens seiner Vergangenheit, war es unmöglich für sie einen halbwegs brauchbaren Gesamteindruck zu bekommen. Wer weiß, wie sein früheres Leben ausgesehen hatte? Es war schwierig für sie Vertrauen aufzubauen. Etwas was ihr bei Dina leichter fiel und das obwohl sie ihre Vergangenheit auch nicht kannte. Aber da war dieser Moment in der Baracke auf Prem. Der Augenblick, der ihr zeigte, dass beide am selben Traum vom Glück gescheitert waren. Dabei war es unwichtig Dinas Hintergründe zu kennen, das traurige Ergebnis vereinte sie im Schmerz und gipfelte in diesem unglaublichen Kuss.

Die Fahrt brachte sie quer durchs Zentrum. Hatte sie am Morgen miterlebt wie die Stadt am erwachen war, sah sie jetzt das Nachtleben in der abendlichen Dunkelheit. Der größte Teil der Einwohner von Lassik lebte weit unterhalb des erträglichen Minimums an Lebensqualität. Der soziale Zusammenhalt, den dieser Zustand mit sich brachte, war enorm. Man pflegte seine Kontakte, denn irgendwann hatte irgendwer irgendetwas, was man dringend brauchte oder man hatte eine Hilfe nötig, die ausgerechnet nur von einem Spezialisten erledigt werden konnte. Ein Netzwerk von Bekannten war daher unerlässlich. Diese bittere Armut zeigte sich im Erscheinungsbild der engen Nebenstrassen. Streunende Hunde, Müllberge und Jugendliche, die mit ihrer Zeit nichts Besseres anzufangen wussten, als an den Häuserecken herumzulungern und die Langeweile ihres Tages untereinander auszuwerten. Spät in der Nacht verschwanden sie dann in ihren engen Einraumwohnungen, gemeinsam mit der Familie ein wenig Schlaf suchend, um das Trauerspiel am nächsten Tag zu wiederholen. In der Phase, in der sich Eva mit der Unterschicht solidarisierte, war sie fast täglich in dieser Gegend. Auch sie stand an den Ecken und tauschte Nichtigkeiten über die damals ach so wichtigen Höhepunkte ihrer Jugend aus. Wer mit wem zusammen war oder sich gerade getrennt hatte. Das Leben war damals banal und trotzdem kompliziert. Mit Wehmut schaute sie hinab, in der Erkenntnis, dass Generation um Generation von Lassik ihre Jugend damit verschwendete, irgendwie über den Tag zu kommen. Wie viel talentierte Ingenieure, Ärzte oder Künstler mögen da unten verkümmern und das alles nur, weil keiner bereit war ihnen eine Chance zu geben sich zu beweisen. Sie hatte den Joker ihrer Herkunft, aber den hatte sie verschwendet an den Tempel. Reue kam in ihr hoch. Sie war 25 Jahre und verfluchte ihr bisheriges Leben.

Die Bahn füllte sich und paradoxerweise fühlte sie sich in der anonymen Masse wohler als zuvor unter den paar Jugendlichen. Ihr Ziel war eine Gegend, in der die Bessergestellten von Lassik wohnten. Jene Leute deren täglicher Kampf nicht in erster Hinsicht dem Beschaffen von Nahrung galt. Obwohl auch dort der Mangel vorherrschend war, mussten sie keinen Hunger leiden. Verwaltungsangestellte, Politiker und Selbstständige mit geregeltem Einkommen lebten in der Nachbarschaft. Reihenhäuser, teilweise bis zu hundert Meter lang und unterteilt in viele Wohneinheiten, zierten die Strassen. Vereinzelt verkehrten Personentransporter über die löchrigen Kreuzungen und vermittelten eine gewisse Vorstadtidylle. Diese Vortäuschung spießigen Lebens wurde spätestens nach der genaueren Betrachtung der Fassaden entzaubert. Der fortgeschrittene Verfall der Gebäude war unübersehbar. Auch hier wurde nur das Notwendigste getan, um den finalen Zusammenbruch soweit wie möglich in die Zukunft zu verschieben. Es war die Gegend, in der Eva aufgewachsen war und seit ihrem Umzug in den Tempel hatte sich äußerlich nicht viel verändert. Zielstrebig verließ sie die Haltestelle und steuerte auf ihre alte Heimstätte zu, entschlossen sich dem Unausweichlichen zu stellen.

Das Haus ihrer Familie befand sich mitten in einer dieser elendig lang erscheinenden Reihenhäuserzeile. Gegenüber den angrenzenden Wohneinheiten wirkte alles sehr gepflegt und sauber. Die Fassade stimmte also, was Eva zwangsläufig über die vergangenen Ereignisse im Innern des Hauses mit der Nummer 222 grübeln ließ. Nach außen hin war ihr Vater immer bemüht die perfekte Familienidylle zu zeigen, die Wirklichkeit unterschied sich aber so gravierend von der geschaffen Scheinwelt, dass die Gerüchteküche damals die schlimmsten Blüten trieb. Das war vermutlich auch der Grund, warum die politische Karriere ihres Vaters nicht die gewünschten Erfolge vorwies.

Sie stand vor der Tür und in einem Anfall von Nostalgie versuchte sie zu schätzen, wie oft sie als kleines Mädchen den Schlüssel in dieses Schloss steckte, den Flur entlang rannte und ihrer Mutter in der Küche die neusten Erlebnisse erzählte. Sie zögerte zu klopfen, denn die wärmenden Erinnerungen waren zu verlockend, als das sie einfach so abgetan werden konnten. Die Vorstellung, wieder dieses kleine Mädchen zu sein, welches nach einem verregneten Tag im wärmenden Wasser der Badewanne saß, sich auf das Abendessen freute und keine weiteren Sorgen hatte, als ihrer besten Freundin nicht erzählen zu können, welche Abenteuer sie im Laufe des vergangenen Tages erlebt hatte, diese Vorstellung erinnerte sie daran, dass ihre Kindheit viel zu schnell endete. Sie hatte zu wenig dieser Erinnerungen. Der frühe Tod ihrer Mutter hatte ihr vieles vorenthalten. Sie riss sich los aus der Vergangenheit und kehrte zurück in die schmerzhafte Gegenwart mit ihrem Ausblick auf eine ungewisse Zukunft.

Sie klopfte und sie malte sich aus, wie ihr Vater ungehalten auf die Störung zu dieser späten Stunde reagieren würde. Nach all den Jahren assoziierte sie ihn immer noch mit Ärger. Egal, es ging nicht um ihren lächerlichen Streit, es ging um Freya.

Zu ihrer Überraschung tauchte eine unbekannte Frau von etwa vierzig Jahren auf und verunsicherte Eva total. Die verschiedenen Strategien für den Erstkontakt waren damit komplett hinfällig.

„Ja bitte?“ fragte die Unbekannte.

„Ich.. ich..“ Eva stotterte nur diese zwei Worte heraus.

„Was wollen Sie?“ kam es ungeduldig.

„Ich würde gerne Plato sprechen.“ brachte sie doch noch hervor.

„Und wen darf ich melden?“ fragte sie zurück. Eva überlegte wie sie sich vorstellen sollte. Die abtrünnige Tochter schien ihr nicht sehr angebracht.

„Ich bin Eva.“ brachte sie nur heraus.

„Oh.“ erwiderte die Frau. Offenbar wusste sie mit dem Namen etwas anzufangen.

„Kommen Sie rein.“ Jetzt war es an ihr verwirrt zu sein. Eva betrat den Flur und wieder überkam sie Wellen der Erinnerung. Es war eine Ewigkeit her, seit sie das letzte Mal dieses Haus betrat. Trotzdem drängten sich sofort Details aus ihrem Unterbewusstsein in den Vordergrund. Die drei Türen auf der linken Seite. Vorratsraum, Bad und Küche. Auf der rechten Seite befanden sich das Wohnzimmer und die Treppe in den zweiten Stock. Alles geteilt durch den furchtbar langen Flur, an dessen Ende eine Tür in den Hinterhof führte. Oben die zwei Kinderzimmer und das Schlafzimmer der Eltern. Alles brach wieder über sie herein, als wäre sie nie weg gewesen. Und doch hatte sich einiges verändert. Vor allen Dingen der weinrote Teppich, das hervorstechende Merkmal des Flures, war verschwunden. Heute lag da ein brauner schlichter Läufer. Die Kommode, der Schuhschrank, die Bilder an der Wand, die unbekannte Frau, dass alles passte nicht zu ihren Erinnerungen. Sie fühlte sich fremd im eigenen Heim.

Die Frau verschwand in der Küche. Es folgte ein unverständliches Gemurmel und dann erschien er, die Person, vor der sie sich so fürchtete.

„Evie.“ begrüßte er sie, als könnte er nicht glauben, dass sie wirklich vor ihm stand. Die Tränen kamen unmittelbar.

„Du bist es wirklich.“ Er rannte den Flur entlang, öffnete seine Arme und umarmte sie, sobald er sie erreicht hatte. Das war nicht die Reaktion, die sie erwartet hatte. In ihrem Geist war ihr Vater unverbindlich mit Streit und Ärger verbunden. Sie war unfähig seine Begrüßung auf dieselbe herzliche Art und Weise zu erwidern.

„Ich bin so froh dich zu sehen. Wie ist es dir ergangen?“ Selbst die direkte Frage schaffte es nicht ihre Zunge zu lockern.

„Darf ich dir Alina vorstellen.“ Er zeigte auf die jetz nicht mehr unbekannte Frau.

„Schön, Sie kennen zulernen.“ lächelte sie Eva an. Diese fühlte sich überrumpelt. Was immer auch sie erwartet hatte, es besaß nicht annähernd soviel Wärme, wie ihr hier entgegengebracht wurde. Sie hatte mehrere Szenarien vor ihrem geistigen Auge durchgespielt, aber einen freundlichen Empfang zog sie gar nicht erst in Erwägung. Wer war dieser Mann? Er war hagerer als früher und sein schwarzes Haar war deutlich mit grauen Strähnen durchzogen. Dazu kam noch dieser ernsthaft freundliche Gesichtsausdruck. Das alles war ihr vollkommen fremd und überforderte sie gewaltig.

„Komm. Ich mache dir eine heiße Schokolade.“ Er zog die immer noch sprachlose Eva in die Küche. Alina folgte ihnen.

Die Küche hatte sich kaum geändert. Einbauschränke, Elektrogeräte, Spüle, alles war so wie in ihren Erinnerungen. Einzig der Tisch in der Mitte des Raumes war neu. Die vertraute Umgebung ließ sie etwas entspannen. Sie nahm Platz auf einer der Stühle.

Ihr Vater kramte in den Schränken, offenbar auf der Suche nach den Zutaten für die Schokolade.

„Ich habs gleich. Erzähl mal. Wie ist es dir ergangen?“ Er kramte weiter in den Schränken.

„Mach dir keine Mühe. Ich will nichts.“ Sie war froh etwas sagen zu können, ohne das es ihren Gefühlszustand beschrieb, denn der war immer noch aufgewühlt.

„Dann keine Schokolade.“ Er setzte sich ihr gegenüber. Sein Schweigen signalisierte ihr, dass es jetzt an ihr war die Initiative zu ergreifen. Sie hatte sich das so schön ausgemalt. Wie immer würden sie in Streit verfallen und irgendwann in ihrem üblichen lauten Wortwechsel, würde sie ihm die Schuld an ihrem lausigen Leben der letzten Jahre geben. Sie würde ihm alles vorhalten. Es war ganz allein seine Schuld. Die Flucht in den Tempel, die Entbehrungen auf Prem, ja sogar Freyas Krankheit. Aber das alles musste ausfallen und nur, weil er sich entschlossen hatte, freundlich zu ihr zu sein. Vielleicht gab es ja später noch die Möglichkeit ihre geplante Urschreitherapie anzubringen.

„Ich habe nicht viel Zeit.“ begann sie.

„Du bist doch gerade erst gekommen. Was hast du denn noch vor zu so später Stunde?“ fragte er in einem Tonfall, als wäre es ihm egal, dass sie gleich wieder gehen wollte. Er versuchte jeden Ansatz von Konfrontation zu vermeiden. 

„Es geht um Freya. Ich habe vielleicht eine Möglichkeit sie zu heilen.“ sagte Eva.

„Du bist nur wegen ihr hier?“ Er wirkte niedergeschlagen. Evas verkümmerte soziale Umgangsformen verhinderten die einzige Erwiderung, die ihn in diesem Moment wieder aufgebaut hätte.

„Ich brauche ihre Krankenakte.“ antwortete sie stattdessen.

Plato starrte vor sich hin, als hätte man ihm gerade offenbart todgeweiht zu sein. Seine eigene Tochter hatte ihm gerade die Tür vor der Nase zugeschlagen. Keine Möglichkeit auf Versöhnung, jedenfalls nicht zu diesem Zeitpunkt.

„Kommst du wieder?“ fragte er. Eva brachte kein nein hervor, so dass ihr Schweigen als schmerzhafte Antwort herhalten musste.

„Du weißt doch gar nicht wo du hin kannst. Hier bist du willkommen. Du könntest dein altes Zimmer wieder haben. Es könnte alles so sein wie früher.“ Plato wirkte fast flehentlich.

„Damit wir uns wieder angiften, sobald ich ein rotes statt einem weißen Hemd trage. Was passiert, wenn ich deinen Vorstellungen nicht entspreche? Holst du dann wieder die Therapeuten, die mich auf dein Maß zu Recht stutzen sollen. Das funktioniert so nicht. Das alles hatten wir doch schon. Der Mist, der mir im Tempel widerfahren ist, das war die unmittelbare Folge deines Versagens. Siehs ein. Dein Weg war falsch und ich habe nicht vor einen Fehler zweimal zu begehen.“ Nun hatte sie doch noch ihren Frustabbau und der verfehlte seine Wirkung nicht. Wieder kamen die Tränen. Sie hatte ihn verletzt, wie sie es in ihren kühnsten Jugendträumen nicht erhofft hatte. Leider blieb das Triumphgefühl aus. Ganz im Gegenteil. Es tat ihr Leid.

Plato startete keinen weiteren Versuch sie zum Bleiben zu bewegen. Zu schmerzhaft waren seine bisherigen Bemühungen. Er raffte sich auf.

„Gehen wir nach oben. Sie wird schlafen, wir müssen also leise sein.“ Er wirkte sichtlich bedrückt.

Eva wusste nicht, was sie erwidern sollte. Die Situation war ihr äußerst unangenehm. Mit ihren verkümmerten sozialen Fähigkeiten stieg ihr Fluchtreflex ins Unermessliche. Sie wollte hier nur noch raus, dem Problem entkommen. In dem Moment, wo sie sich dem Unausweichlichen hätte stellen müssen, versagte sie aufs Neue. Sie war noch nicht soweit. Die mentalen Wunden waren noch nicht verheilt.

Sie folgte ihm schweigend in den ersten Stock. Der Flur am Ende der Treppe endete vor der Tür des elterlichen Schlafzimmers. Links befand sich ihr altes Zimmer, rechts das ihrer Schwester. Das Fehlen von Fenstern und die düstere Beleuchtung verlieh dem Ganzen etwas Ängstliches. Wieder kam eine längst verschüttete Erinnerung an die Oberfläche. In ihrer kindlichen Fantasie war dieser Flur der Hort ihrer imaginären Monster. Als kleines Mädchen hatte sie den Blick stets auf die Dachluke gerichtet, immer darauf gefasst, dass irgendwas herausspringen würde. 

„Ich lass euch allein. Das Pad befindet sich auf dem Schreibtisch.“ Er übergab ihr ein weiteres Pad, auf dem sie die Krankenakte kopieren konnte.

„Wer schön, wenn du das irgendwann zurück bringen würdest.“ Um gar nicht erst den Verdacht aufkommen zu lassen sie nochmals zum Wiederkommen überreden zu wollen, schob er einen weiteren Satz hinterher.

„Die Dinger sind mittlerweile ziemlich teuer geworden.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er die Treppe hinunter.

Mit großer Vorfreude öffnete sie die Tür, aber was sie sah, machte sie traurig. Ihre Erinnerung an ein junges Mädchen mit langen blonden Zöpfen, was schüchtern ihre Puppe in den Armen hält, hatte nichts gemein mit dem Elend, was dort in ihrem Bett lag. Die Haut war eingefallen und wirkte in dem matten Licht eher wie ein grauer Schleier der Knochen und Innereien abdeckte. Ihre einst so schönen blonden Haare waren dünn geworden, aber das markanteste Merkmal ihres Verfalls waren die vielen Schläuche, die aus ihrem geschundenen Körper kamen.

Eva war schockiert. Die Vielzahl unterschiedlicher Empfindungen allein in den letzten dreißig Minuten bewirkten einen Ausnahmezustand ihrer mentalen Fitness. Sie stieß an ihre Grenzen und konnte nun ihrerseits die Tränen nicht mehr unterdrücken. Sie nahm ihrer Schwester Hand und setzte sich an ihr Bett. Zehn Minuten gönnte sie sich Erinnerungen an ihre gemeinsame Kindheit, wie sie gemeinsam durch die Wohnung rannten, auf der Strasse spielten oder zu viert unten im Wohnzimmer saßen und Mutter ihnen Geschichten vorlas. Rückblenden über Schulerfolge, die ausgiebig beim Abendbrot gefeiert wurden, überwältigten sie genauso, wie Ratschläge ihrer Mutter, wie denn schlechte Tage in der Schule zu meistern wären. Zweifel, ob das nicht alles Erlebnisse einer Fremden waren, kamen in ihr auf. Das kleine glückliche Mädchen konnte unmöglich zu der heutigen Eva geworden sein. Die wenigen guten Zeiten gingen verloren in den vielen Tragödien, die diese Familie heimsuchten. Der Tod ihrer Mutter, der Zwist mit ihrem Vater, die vermeintliche Zuflucht beim Tempel, bis hin zur Tötung eines Menschen und nun die Krankheit ihrer Schwester. Sie fühlte sich schuldig, dieser Tragik nicht entschieden genug entgegengewirkt zu haben. Ganz im Gegenteil, sie hatte noch Öl ins Feuer gegossen. Sie weinte, wie sie noch nie in ihrem Leben geweint hatte und das brachte ihr die notwendige geistige Stabilität zurück.

Sie steckte die beiden Pads zusammen und startete den Kopiervorgang. Keine zehn Sekunden und sie hatte die notwendigen Daten. Sie wischte sich die Tränen aus den Augen und verließ das Zimmer, stürmte die Treppe herunter und wollte eigentlich nur noch zur Haustür hinaus. Ihre Hand lag schon auf dem Türknauf, als sie sich doch dafür entschied, nochmals die Küche zu betreten.

„Ich komme wieder.“ Mit diesen drei Worten und einem Blick, der dem vor ihr sitzenden Pärchen suggerierte, dass sie Zeit bräuchte für die fällige Aussprache, verließ sie ihr ehemaliges Heim. Dabei beschlich sie das Gefühl, dass sie ihr gerade gegebenes Versprechen nicht in unmittelbarer Zukunft einhalten könnte.

Sie hatte Glück. Eigentlich war sie zu spät für die letzte Schwebebahn, da aber der eigentliche Fahrplan eher als Richtwert und weniger als Zeitreferenz diente, erwischte sie die Bahn doch noch. Emotional aufgewühlt durchquerte sie die einschlafende Stadt. Eigentlich war es besser gelaufen als sie in ihrer optimistischsten Variante erwartet hatte. Trotz alle dem fühlte sie sich schlecht. Die Verweigerungshaltung, die sie eigentlich von ihrem Vater erwartete, hatte sie selbst an den Tag gelegt. Sie selber verhinderte einen besseren Ausgang. Langsam setzte sich die Erkenntnis durch, dass sie an diesem Dilemma mit ihrem Vater ebenso Schuld war, wie er. Das schlechte Gewissen meldete sich und zum ersten Mal zweifelte sie an ihrem unerschütterlichen Recht wütend auf ihn zu sein.

Nach dem Verlassen der Bahn durchquerte sie ohne große Schwierigkeiten das Problemviertel, kam in Baltas Reich an und war überrascht, als neben Dina, Sentry und Balta auch Eric vor ihr stand. Er war vollkommen überdreht, was auf nichts Gutes zurück zu führen war.

„Alles ist aus.“ begrüßte er sie. Nicht nur er war in Panik, alle waren in hektischer Betriebsamkeit, als würde Unheil über den Ort kommen.

 

Sie schien nicht sehr glücklich, als sie allein aufbrach, um ihre Familie zu besuchen. Offenbar war das Verhältnis schwer belastet. Obwohl Eva von Lassik stammte, wirkte sie irgendwie fehl am Platze. Schon das äußere Erscheinungsbild wollte nicht so wirklich passen. Der typische Einwohner von Lassik hatte breite Schultern, ging leicht gebeugt und hatte einen leicht o-förmigen Gang. Das alles war der höheren Schwerkraft geschuldet und hatte sich über die Jahre als typisches Erkennungsmerkmal eingeschliffen. Fremde waren daher leicht auszumachen und wenn man es nicht wüsste, würde Eva schon anhand dieser Kriterien als Einheimische durchfallen. Dazu noch ihre Ausstrahlung. Ihre ganze Körpersprache wirkte abweisend. Ihre Unsicherheit im Umgang mit Fremden, dass waren alle Menschen außerhalb des Tempels, konnte sie nicht anders verbergen. Der Führer hatte ordentlich Schaden angerichtet in ihrem sozialen Gefüge. Es würde Zeit brauchen, bis sie wieder bereit war, irgendjemanden Vertrauen entgegen zu bringen. Für Sentry waren diese Defizite nebensächlich. Sie hatte ihm geholfen zu überleben und damit hatte sie ihre eigene Existenz aufs Spiel gesetzt. Damit war er für immer in ihrer Schuld.

Für Dina und Sentry galt es nun den Abend zu überbrücken. Die Möglichkeiten bestanden in der Rückkehr zu Eric oder den Annehmlichkeiten der diversen Einrichtungen vor Ort zu frönen. Ihr finanzieller Spielraum tendierte gegen null, also schien die Wahl relativ einfach. Erst als Balta ihnen unbegrenzt Essen und Trinken im „junction“ zusicherte, ergaben sie sich der angenehmeren Alternative. Obwohl das „junction“ mittlerweile brechend voll war, organisierte der Wirt ihnen einen extra Tisch. Die Nähe zu Balta ermöglichte ihnen einige Privilegien. Ein angenehmes Gefühl, wie Sentry zugeben musste.

„Was hältst du von diesem Balta?“ fragte Sentry Dina, nachdem sie ihr erstes Bier vor sich stehen hatten. Mit ihr allein zu sein machte ihn unsicher. Nicht nur das sie unheimlich anziehend auf ihn wirkte, auch ihre offensichtlich negative Einstellung gegenüber dem männlichen Geschlecht, lies ihn nicht vor Selbstbewusstsein strotzen.

„Interessant. Aber für unsere Zwecke schwer zu durchschauen. Ich glaube nicht, dass er sich an die Vereinbarung hält.“ Sie sagte das so trocken, als würde sie feststellen, dass es draußen angefangen hat zu regnen.

„Ich würde mich auch nicht so einfach gehen lassen.“ bestätigte er damit ihren Eindruck.

„Und nun? Wollen wir blind in unser Verderben rennen?“ fragte er nach. Sie beugte sich zu ihm rüber und schaute ihm tief in die Augen.

„So bitter es für dich auch sein mag. Es geht hier nicht um mich oder die kleine Tempelfee. Sein Interesse liegt einzig und allein an dir.“ Da war sie wieder, diese gnadenlose Wahrheit. Sie legte die Karten wieder auf den Tisch, ohne ihre eigenen Absichten zu offenbaren.

„Freut mich für euch, dass ihr so gut weg kommt. Bleibt die Frage, ob ich allein da stehe oder ob ich auf euch zählen kann.“ Der Konter hatte gesessen. Nun war Dina gezwungen Farbe zu bekennen.

„Mein einziges Ziel ist es diesen Drecksplaneten zu verlassen. Das geht vermutlich nicht ohne dich. Daher hast du meine volle Unterstützung, bis du deine Hand auf eine dieser Kontrolltafeln legst und damit hoffentlich eines dieser verrottenden Schiffe startest.“ Sie hielt kurz inne.

„Es gibt keine Garantie dafür, was danach passiert.“ Dieser Satz verfehlte seine Wirkung nicht. Es fiel ihm keine passende Antwort darauf ein.

„Nun weißt du woran du bist. Aber ich denke du bist clever genug, dass dir das nicht schon vorher klar war.“

Diese Schmeicheleien halfen nicht das Gefühl des plötzlichen Alleinseins zu lindern. Vor allen Dingen war er enttäuscht. Sie hatten gemeinsam Red überlebt, selbst der Führer und seine Schergen konnten ihnen nichts anhaben. Dina persönlich hatte ihn aus den Ruinen von Prem geschleppt. War das alles nur Berechnung? War sie wirklich so eiskalt?

„Dann hast du meine Cleverness wohl überschätzt. Ich hatte den Eindruck, dass da mehr als pure Berechnung zwischen uns steht. Wir haben gemeinsam soviel Mist durch gemacht.“ Sentry klang niedergeschlagen.

„Ich vergesse immer, dass du noch nicht lange in dieser Welt lebst. Wenn du das erlebt hättest, was ich und die meisten Leidtragenden dieser Zeit erlebt haben, dann wärest du mir dankbar, dass ich dir die Wahrheit so schonungslos offen lege.“ Sie nippte an ihrem Bier. Obwohl sie offenbar Recht hatte, fühlte er sich gekränkt und dadurch ließ er sich zu folgender Frage hinreißen.

„Was war das für eine Sache mit Ned? Ist das der Grund für deine zynische Einstellung?“ Die Befriedigung wollte sich nicht einstellen. Ganz im Gegenteil, er empfand Reue, aber nun war es gesagt. Sie schaute ihn durchbohrend an. Es schien so, als würde ihre Wut siegen über ihre sonst so abgebrühte Lockerheit, aber ihr Schutzpanzer ließ nicht nur alles von außen abprallen, sondern verhinderte diesmal auch ungewollte Emotionen aus dem Inneren.

„Jetzt bin ich wirklich beeindruckt.“ versuchte sie in ihrem typischen sarkastischen Tonfall Sentry den Wind aus den Segeln zu nehmen, aber ihre Verwirrung war ihr deutlich anzusehen.

„Die Nachwirkungen des „yellow nightmare“.“ beantwortete er die unausgesprochene Frage nach der Quelle.

„Es gibt zu viele von diesen Geschichten, wie die von Ned. Das ist der Fluch unserer Zeit. In einem anderen Jahrhundert und an einem anderen Ort würde ich mir den Luxus leisten dich als Freund zu haben. Ich kann dich gut leiden, aber wenn ich überleben will, muss ich sehen, was für mich persönlich am besten ist.“ Sie nahm einen großen Zug aus ihrem Bierglas.

„Was ist das für ein Leben, indem das einzige Ziel die Rache an einem Typen ist, der es nicht wert ist, dass man auch nur einen Gedanken an ihn verschwendet. Wie kann man sich es in einer Welt gemütlich machen, in der Egoismus und Misstrauen den Vorzug vor Vertrauen und Freundschaft erhält. Was nützt es in diesem Wahnsinn zu überleben. Vielleicht täusche ich mich, aber diese ganze Technologie über die in der gesamten Galaxie gestritten wird, ist nicht entstanden weil man sich gegenseitig die Köpfe einhauen wollte. Das Streben nach Glück ist in uns verankert. Wenn wir es weiter ignorieren und diese Hölle als gegeben hinnehmen, werden wir in unser Verderben laufen. Aus welchen Gründen auch immer, die Menschheit hat irgendwann in der Vergangenheit den falschen Pfad eingeschlagen. Überleben lohnt sich nur, wenn wir zu unseren Wurzeln zurückkehren.“ Es tat ihm gut seinem Unmut Luft zu machen. Dina schaute ihn lächelnd an, ansonsten jegliche zustimmende Geste vermeidend.

„Dein Idealismus ist herzerfrischend. Schon alleine deswegen sollten wir überleben, damit ich dir irgendwann diese Worte vorhalten kann. Ich schwöre dir, auch du wirst irgendwann auf den harten Boden der Realität aufschlagen. Ich hoffe ich werde dann neben dir stehen und es genießen dir zu sagen „Damals im junction habe ich dir das prophezeit.““

Der Drang, das nicht als letztes Wort stehen zu lassen, ließ ihn angriffslustig werden.

„Ganz im Gegenteil. Irgendwann wirst du realisieren, das ich Recht hatte, dass der ganze Hass auf Red, auf Männer und von mir aus auch auf die Gesellschaft, verschwendete Lebenszeit war. Ich hoffe für dich, dass diese Erkenntnis nicht in all zu ferner Zukunft liegt.“

Volltreffer. Er hatte Zweifel in ihr geweckt, auch wenn es nur für den Bruchteil einer Sekunde war, aber es war deutlich ersichtlich, dass seine Worte sie für einen kurzen Moment zum Überlegen brachte.

„In dieser Welt gibt es keine Alternative zu meinem Weg.“ antwortete sie fest entschlossen, aber zum ersten Mal hatte Sentry das Gefühl, dass sie sich selbst belog.

„Die gibt es immer.“ gab er leise zurück.

„Das schreit nach einer Wette.“ sagte Sentry nach kurzer Pause und hielt Dina die Hand hin.

„Gut. Der Einsatz ist ein Bier.“ Sie ergriff seine Hand. Nie im Leben würde er seine Ideale verraten, niemals würde er so zynisch werden wie sie. In den letzten Wochen hatte er sämtliche Grausamkeiten durchlebt und er war sich sicher, dass kein Ereignis in der Zukunft ihn von seinen Vorstellungen abbringen würde. Das Bier war ihm sicher.

„Und jetzt gehen wir tanzen.“ Sie zog ihn in Richtung Musik. Der wirklich angenehme Teil des Abends begann in diesem Moment. Auch wenn er auf der Tanzfläche etwas hölzern wirkte, er schaffte es diesen Zustand zu erreichen, der komplett alle Sorgen und Nöte ausblendete. Mit der richtigen Dosis Alkohol, der perfekten Aussteuerung der Musikanlage und umgeben von jeder Menge hübscher Frauen, die sich lasziv zur Musik räkelten, schaffte er es zum ersten Mal in seinem Leben Spaß zu haben. Er wünschte dieser Moment würde ewig dauern. Irgendwann hatte er den Dreh raus, sich passend zur Musik zu bewegen und damit kam er der Perfektion dieses Abends wieder um ein Stück näher. Er ertappte sich dabei, wie er Dinas Bewegungen beobachtete und plötzlich wurde ihm klar, was der perfekte Abschluss wäre. Ihre Bewegungen brachten ihn komplett um den Verstand und ließen seiner Fantasie freien Lauf. Ihre Blicke trafen sich und zwei Sekunden lang hatte er die Hoffnung seinen Trieben nachgeben zu können. Sie senkte den Blick zuerst und lächelte geheimnisvoll vor sich hin. Der zweite Blick, es kam auf den zweiten Blick an. Würde sie ihn wieder anschauen, auf diese geheimnisvolle aber zustimmende Weise, würde er zu ihr rüber gehen, sie küssen und der Abend hätte den gewünschten Ausgang. Es war verrückt. Diese Frau war bereit ihn ans Messer zu liefern und trotzdem war es ihm unmöglich sich ihr zu entziehen. Ein Tanz auf dem Vulkan, vorerst mit offenem Ende, da sie ihm die Gnade eines zweiten Blickes nicht schenkte. Am nächsten Morgen, im nüchternen Zustand, war auch er der Meinung, dass für beide Beteiligten der scheinbar unbefriedigende Ausgang dieses Abends weniger Probleme verursachte, als sich unnötigen Komplikationen auszusetzen. Sie feierten die ganze Nacht durch und irgendwann ließ die Wirkung des Alkohols nach und die Müdigkeit übermannte ihn. Der Besitzer des „junction“ sorgte dafür, dass er nicht irgendwo auf dem harten Boden nächtigen musste. Wie er auf die Liege kam und wie lange er dort ausnüchterte, daran konnte er sich nur noch schemenhaft erinnern. Er hatte es übertrieben mit dem Alkohol und das würde er zu spüren bekommen. Die nächsten Tage würden über den Fortbestand seiner Existenz entscheiden und er hatte kurzfristiges Vergnügen über Vernunft gestellt. Verschwendete Energie, die eigentlich für den vor ihm liegenden Überlebenskampf benötigt wurde. Die Reue hielt sich in Grenzen. Vermutlich würde er sich ein komplettes Leben mit Leuten wie Balta, Red oder Kain abgeben müssen. Abende wie der Gestrige waren ein geeignetes Ventil, um dieser unangenehmen Tatsache den notwendigen Druckausgleich zu geben.

Er wurde von Dina geweckt, zu seinem Leidwesen aber nicht auf die von ihm erhoffte Weise. Sie stand vor ihm und schüttelte ihn.

„Aufstehen, wir haben ein Problem.“ Sie klang besorgt. So unsanft geweckt, hatte er Schwierigkeiten sein Umfeld zu verarbeiten. Die Kopfschmerzen, die unbekannte Umgebung und seine fehlende Orientierung erinnerten ihn unwillkürlich an das Erwachen in Reds Schiff. Glücklicherweise brauchte er nur einige Momente, um wieder halbwegs klar denken zu können.

„Was ist denn los?“ die paar Worte verdeutlichten sein Dilemma mit den Nachwirkungen des Alkohols. Dina konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

„Nicht besonders trinkfest deine Femtos. Sag denen wir haben jetzt keine Zeit für einen Kater.“

„Leider funktioniert das so nicht.“ antwortete er matt.

„Vielleicht ist es sogar besser unter Alkohol zu stehen, denn sieh mal wer da ist.“ Sentry schaute an ihr vorbei und erblickte Eric. Was hatte er denn hier zu suchen?

„Alles ist aus. Ich bin erledigt. Ich bin ruiniert. Ich bin ... tot.“ kam er aufgeregt auf die beiden zu.

„Willkommen in unserer Welt.“ erwiderte Dina vollkommen gleichgültig. Eric ignorierte sie und wendete sich zielstrebig Sentry zu.

„Wo ist Eva? Ihr müsst mir helfen. Ich habe euch auch geholfen.“ Er war total aufgelöst.

„Beruhige dich. Was ist denn passiert?“ fragte Sentry.

„Die BsA. Sie haben meinen Laden verwüstet. Nur durch einen dummen Zufall konnte ich entkommen.“ Seine Worte überschlugen sich.

„Langsam werden wir eingekreist. Wird Zeit, dass wir hier verschwinden.“ antwortete Dina anstatt Sentry.

„Ihr müsst da hingehen und das klären.“ Diese Aussage klang so naiv, dass Dina nicht anders konnte als laut los zu prusten.

„Und dann? Bauen sie dir deinen Laden wieder auf, schicken dir ein Strauß Blumen und eine Entschuldigungskarte und du kannst so weiter machen wie bisher? Das mag dir nicht gefallen, aber du bist jetzt einer von uns. Heimatlos und auf der Flucht.“ Dina wirkte schadenfroh.

„Nein, nein, nein. Das geht nicht. Ich kann nicht fliehen. Ich habe ein Geschäft und was soll aus meinen Freunden werden? Ich habe Verpflichtungen.“ Eric war sich überhaupt nicht bewusst, in welch aussichtsloser Lage er sich befand. Sentry versuchte weiter auf ihn einzureden, wirkte damit aber nicht wirklich beruhigend. Balta tauchte in Erics Rücken auf und nur seine bloße Anwesenheit ließen die Diskussionen verstummen.

„Was denn jetzt? Wer ist das?“ Eric wirkte verwirrt wegen der plötzlichen Ruhe. Keiner ging auf seine Fragen ein.

„Der Gangsterchef.“ erleuchtete sich Eric selbst und zeigte seine Angst gegenüber allen Anwesenden.

„Ich bevorzuge den Titel „Fürst der Unterwelt“.“ Seine Leibwächter bauten sich neben ihm auf und verstärkten Erics Angst.

„Äh… Ich wollte nicht. Also das mit dem Gangsterchef, das ähem …“ er wusste nicht, wie er den Satz beenden sollte.

„Herr Fürst, es tut mir Leid.“ brachte er nur noch ängstlich hervor.

„Als Entschuldigung solltest du vor ihm niederknien.“ spann Dina die Posse weiter.  

„Es reicht. Wir haben keine Zeit für Spielchen.“ entpuppte sich Sentry als Spielverderber.

„Du sagtest, du bist der BsA entkommen. Ist dir jemand gefolgt?“

„Ich glaube nicht.“ antwortete Eric nicht wirklich überzeugend.

„Die BsA? Niemand entkommt der BsA, es sei denn sie wollen es. Verdammt dann werden sie gleich hier sein.“ Balta wandte sich an seine Leibwächter.

„Höchste Alarmstufe.“ brüllte er sie an. Die beiden machten sofort kehrt und verschwanden hinter der Tür.

„Wir müssen sofort los. Der Transporter steht an der Küste bereit.“ Die morgendliche Ruhe war mit einem Schlag dahin. Sie verließen das „junction“ und der Trubel außerhalb wirkte, als hätte jemand eine Bombendrohung losgelassen. Alles rannte kreuz und quer. Waren und Kisten wurden auf Transporter verstaut und verschwanden in Lagern weit außerhalb dieses Gebäudes. Das alles geschah so routiniert, dass Sentry unweigerlich der Gedanke kam, diese ganze Aktion würde mindestens einmal pro Woche durchgezogen, um möglichen Razzien zu entgehen.

Inmitten dieses hektischen verpacken alles Illegalen, kam Eva von ihrem Heimatbesuch zurück. Eric empfing sie, erleichtert ein vertrautes Gesicht zu sehen. Wild gestikulierend erklärte er ihr die Situation. Irgendwie schaffte sie es ihn zu beruhigen. Offenbar war sie die Einzige, die halbwegs einen Zugang zu ihm fand.

„Wir können noch nicht gehen. Ohne den Arzt werden wir nirgendwo hingehen.“ wandte sie sich fest entschlossen an Balta. Vermutlich hatte seit Jahren keiner mehr in diesem Tonfall mit ihm gesprochen. Dementsprechend hielt seine Umgebung den Atem an.

„Mädel hier wird es gleich wimmeln von Soldaten der Inc. Die drehen hier jeden Stein um und wenn wir nicht sofort verschwinden, findest du dich im BsA Bunker wieder. Was sie da mit Leuten wie dir machen, brauche ich dir wohl nicht erklären.“ Er ließ ihr also die unverschämte Anrede durchgehen, ohne großartige Repressalien. Auf Grund der knappen Zeit und seiner unglaublich selbstsicheren Ausstrahlung, schaffte er es die notwendige Dominanz eines Anführers zu wahren. Er merkte das Eva nicht nachgeben wollte, also kam er einem weiteren Protest zuvor.

„Du hast nur zwei Optionen. Du kannst hier warten und hoffen, dass dich die Inc. in Ruhe lässt oder du vertraust mir, steigst in diesen Transporter und ich verspreche dir, der Arzt wird vor Ort sein.“ Er reichte ihr die Hand als Vertrauensbeweis. Eigentlich brauchte er sie nicht, aber er wusste das Sentry kooperativer sein würde, wenn sie dabei wäre. Balta hatte ein gutes Gespür für Menschen und irgendwas musste in der Vergangenheit passiert sein, dass Sentry eine spezielle Verbindung zu ihr aufgebaut hatte. Eine emotionale Einbahnstrasse, auch das konnte er erkennen. Leider in die falsche Richtung, denn Sentry war das Objekt seiner Begierde und Eva musste als stabilisierender Teil herhalten.

Nach kurzem Zögern ergriff sie seine Hand. Er quittierte diese enorme Vertrauensgeste mit einem dieser Lächeln, die Politiker erdrutschartige Wahlsiege ermöglichen und das trotz der Ankündigung massiver Steuerbelastungen. Dieser Mann wusste wie er mit Menschen umgehen musste. Schlimmer noch, er wusste wie er sie manipulieren kann.

„Aber Eric kommt mit.“ Eva wollte sich nicht bedingungslos geschlagen geben.

„Natürlich tut er das.“ beendete er ihren Disput mit gönnerischer Geste. Vermutlich würde dieser Eric ähnlich stabilisierend auf sie wirken, wie sie auf Sentry.

Die Gruppe verließ den Schwarzmarkt zu Fuß. Begleitet wurden sie von vier Söldnern aus Baltas Gefolge. Das feuerte das Misstrauen von Sentry ordentlich an. Dina hatte es auf den Punkt gebracht. Es ging hier einzig und allein um ihn. Er würde nicht sterben, dafür würde dieser schwer bewaffnete Begleitschutz schon sorgen, aber was war die Alternative? Freiwillig würden sie ihn nicht gehen lassen. Würde er sein Dasein in einer Zelle fristen, immer mal seine Talente nutzend zum Wohle von Balta? Es gab keinen anderen Weg. Sie mussten in dieses Lager. Für einen positiven Ausgang würde er improvisieren müssen, sich den örtlichen Gegebenheiten anpassen. Balta kannte seine Aktivierungskünste, wo von er nicht wusste, waren seine Selbstheilungskräfte und die unbekannten Femtos. Das waren die Joker in diesem Spiel um seine Zukunft.

Diesmal erreichten sie die Küste weiter östlich. Wieder ein Boot, also lag das geheimnisvolle Lager nicht auf dieser Insel. Unterwegs sprachen sie kein Wort. Die einzige Unterbrechung erfolgte durch den mobilen Kommunikator. Die BsA hatte ihre Razzia durchgeführt und ein paar Leute zur Vernehmung mitgenommen. Wahrscheinlich würde die Inc. bald hinter ihre Pläne kommen und die Verfolgung aufnehmen. Ihr Vorsprung schmolz dahin. Ein Wettlauf gegen die Zeit. Plötzlich verlor für Sentry Baltas Zelle in der er Gegenstände aktivierte ihren Schrecken. Alles, was er bisher über die Inc. gehört hatte, machte ihm Angst. Ein totalitäres Regime, indem Menschen einfach so verschwanden. Sollten sie ihn in ihre Fänge bekommen, würden sie ihn wahrscheinlich Stück für Stück auseinander nehmen. Dort wäre er kein Mensch, sondern nur ein Stück Technik, an dessen Knöpfe man beliebig drehen könnte.

Die Bootsfahrt war überraschend kurz. Ziel war keine der umliegenden Inseln, sondern der Kontinent selbst. Jener Flecken Erde, der ursprünglich die halbe Menschheit ernährte, bis man ihn unbrauchbar für jegliche Form von Nahrungsmittel machte. Es war früher Nachmittag, als sie an Land gingen und wieder allen Erwartungen regnete es mal nicht. Die Wolkendecke zeigte größere Lücken, so dass die Sonne gelegentlich voll zur Wirkung kam. Sie bestrahlte ein Land, was vollkommen flach war. Nicht die geringste Erhebung war auszumachen und so schien der vor ihnen liegende Kontinent unendlich in seiner Ausdehnung. Der Boden war vollkommen karg. Eine Wüste aus kleinen Steinen, Dreck und Sand. Obwohl alles nass und feucht war, gab es keinerlei Spuren von Pflanzen. Man konnte Kilometer weit schauen, ohne dass das Bild sich änderte. Alles sah nach Tod aus. Eine riesige Fläche verödetes Land.

„Dieser Ort ist noch trostloser als in sämtlichen historischen Geschichten.“ Eric war erstaunt über soviel nutzloses Land. Er schaute sich um und registrierte, dass seine Bemerkung ins Leere lief. Offenbar diskutierten die Anderen die neue Situation. Balta starrte auf ein Pad, schaute in verschiedene Richtungen und führte Rücksprache mit seinen Leuten.   

„Wir werden warten.“ reagierte er auf die abwartenden Gesichter.

„Auf den Arzt. Das wolltet ihr doch.“ fügte er hinzu, als die ersten Zweifel über seine Vorgehensweise aufkamen.

„Wie weit ist es von hier?“ fragte Sentry.

„Ich schätze etwa 1000km in die Richtung.“ Balta zeigte  Landeinwärts.

„1000? Ich hoffe wir müssen die nicht laufen.“ hakte Eric ein.

„Nein mein bequemer Freund. Das müssen wir nicht.“ erheiterte sich Balta.

„Meine Leute sind schon dabei, das Boot in ein Fahrzeug umzurüsten. Dauert etwa zwei Stunden. Bis dahin sollte auch der Arzt eingetroffen sein.“

„Ein Land-Wasser Vehikel. Das muss ich mir näher anschauen.“ Erics technisches Interesse war geweckt. Er ließ die beiden allein. Es war an Sentry das Schweigen zu brechen.

„Sie waren schon mal in dem Lager?“ fragte er weniger aus Neugierde.

„Wenn wir schon belanglos plaudern, dann bitte in der Du-Form.“ Wieder eines von diesen schelmischen Lächeln, das ihm glatt einem Mord durchgehen lassen würde. 

„Nein ich war noch nicht da. Was sollte ich auch da. Lauter nutzlose Technik.“ antwortete er.

„Also wissen Sie auch nicht, ob es da Raumschiffe gibt.“ vergewisserte sich Sentry.

„Das mit der Du-Form müssen wir wohl noch lernen. Die Gerüchte über diesen Ort sind groß. Würde mich wundern, wenn es dort kein Schiff gebe. Notfalls könnt ihr andere Technik versilbern und erster Klasse den Planeten mit einem der Händler verlassen.“ Die Erleichterung war Sentry anzusehen.

„Vielmehr würde ich mir Sorgen machen, dass da überhaupt noch etwas funktioniert. Es ist durchaus möglich, dass die Spielzeuge schon 1000 Jahre dort liegen.“ Damit erstickte er das zarte Pflänzchen Zuversicht in Sentry.

„Darf ich es sehen?“ wechselte Balta das Thema.

„Sehen?“ fragte Sentry zurück.

„Ja das Ding in deiner Tasche. Es muss sehr wertvoll für dich sein, da du permanent kontrollierst, ob es noch da ist.“ Erst jetzt wurde Sentry sein unbewusster Zwang ersichtlich. Er griff tatsächlich rein intuitiv in regelmäßigen Abständen an das Amulett.

„Ich weiß nicht was es ist, aber es scheint ein Teil von mir zu sein.“ Damit gab er mehr preis, als ihm im ersten Moment bewusst war. Balta musterte ihn.

„Da haben wir das fehlende Puzzlestück. Du weißt nicht wer du bist. Ich habe schon viele Leute gesehen, die massive Unsicherheit ausstrahlten. Meist geht das einher mit einem Mangel an Selbstvertrauen. Nicht bei dir. Du bist unsicher, weil du keine Orientierung hast. Du traust dir selber nicht. Die Technik in deinen Blutbahnen. Sie macht dir Angst. Vermutlich weißt du selbst erst seit kurzem, dass du solche Fähigkeiten besitzt. Da man sich so was nicht einfach irgendwo einfängt, nehme ich mal an du weißt nicht, wo du sie her hast. Amnesie? Zu selektiv. Du sollst dich nicht erinnern. Da haben wir ja ein richtig großes Geheimnis.“ Balta hatte ihn in wenigen Sekunden durchschaut. Wie hatte er das hinbekommen?

„Gute Beobachtungsgabe. Jeder Mensch verrät sich durch Gesten oder Handlungen. Man muss nur wissen, wie man sie deutet. Ein wenig Kombinationsgabe und schon kenne ich deinen Lebenslauf.“ rechtfertigte sich Balta. Sentry war immer noch unfähig was Passendes zu erwidern.

„Und? Zeigst du es mir? Vielleicht weiß ich ja, was es ist.“ holte er Sentry aus seiner Fassungslosigkeit zurück.

„Es ist einfach nur ein Schmuckstück. Hat wahrscheinlich nur einen persönlichen Wert, der sich mir nicht erschließt.“ Er hatte Probleme seine Selbstsicherheit wieder zu finden, nachdem ihm Balta praktisch entblößt hatte. Er reichte es ihm.

„Oha. Das mein Freund ist ein weiteres Geheimnis, was es zu lüften gilt. So etwas habe ich ja lange nicht mehr gesehen.“ Der Schleier der Verlegenheit, der sich über Sentry legte als Balta seine ach so treffende Analyse über ihn verfasste, war mit einem Schlag wie weggeblasen. Neugierde und Hoffnung etwas über sich zu erfahren, machten ihn aufgeregt.

„Du kennst es? Du weißt, was das ist?“ fragte er zittrig.

„Ein geheimer Informationsspeicher. Ganz primitiv aber wirkungsvoll. Drei Variablen ergeben Milliarden von Möglichkeiten sein Geheimnis zu entlocken. Siehst du den Kristall? Bring ihn in eine spezielle Position, bestrahl ihn mit einer bestimmten Wellenlänge in einem bestimmten Winkel und schon weißt du mehr. Es kann nicht viel sein. Vielleicht ein Wort, maximal ein Satz oder eine Zahlenreihe. Wer weiß?“

„Was ist die richtige Einstellung?“ fragte Sentry hoffnungsvoll.

„Keine Ahnung. Vermutlich gibt es eine Art Vorrichtung, in die du das Amulett nur reinlegen brauchst. Dann aktivierst du es und dein Geheimnis über dich ist gelöst. Vielleicht ist es auch nur ein Scherzartikel und es ist nur zufällig in deinen Besitz geraten. Ich an deiner Stelle würde nicht zu viele Hoffnungen in diesen Kristall setzen.“ Sentry hatte gehofft endlich mal eine Antwort zu bekommen, stattdessen gab es nur ein weiteres Geheimnis. Dieser Kristall könnte entscheidendes Wissen über ihn enthalten, aber er könnte auch einfach nur ein nutzloses Schmuckstück sein.

Der Zeitpunkt hätte nicht besser gewählt sein können. Mit der Fertigstellung der Umrüstung ihres Transporters, traf auch der Arzt ein. Er passte so gar nicht in die Runde der zwanzig bis dreißigjährigen Anwesenden. Sein graues, schütteres Haar, sein gebeugter Gang, aber vor allen Dingen sein faltiges Gesicht, ließen ihn im totalen Kontrast zu der Gruppe erscheinen. Begleitet wurde er von einem weiteren von Baltas Schergen. Somit erhöhte sich die Anzahl potentieller Gegner auf sechs.

„Doc, ich bin froh Sie zu sehen.“ begrüßte ihn Balta mit gebührendem Respekt.    

„Ich hätte nicht gedacht, dass ich dieses verrottete Eiland noch mal betreten würde. Hat sich seit damals nicht viel verändert.“ antwortete dieser.

„Es tut mir Leid, dass ich Sie in ihrem Alter hier heraus bitte, aber wir brauchen den Besten für diese Mission.“

„Balta, sparen Sie sich ihren Charme für eine der hübschen Mädels dort drüben auf. Mich alten Mann kochen Sie mit billigen Komplimenten nicht weich. Erzählen Sie mir lieber, worum es geht.“ Die beiden wirkten in ihrem Umgang miteinander vertraut. Ihre Worte zeugten von gegenseitigem Respekt für einander, als hätten sie schon das ein oder andere gemeinsam durchgemacht.

„Darf ich Ihnen erst einmal Eva vorstellen.“ wahrte Balta die Etikette.  

„Welch ein bezauberndes Wesen. Ich wünschte ich wäre fünfzig Jahre jünger.“ Eva war von soviel Offenheit leicht verwirrt. In Sachen Charme stand dieser alte Mann Balta in nichts nach.

„Dann wird es Sie freuen, dass sie es ist, die Ihre Hilfe benötigt.“ erwiderte Balta.

„Es geht um meine Schwester. Sie ist krank.“ hakte Eva ein. Sie kramte das Pad aus ihrer Tasche und übergab es dem Doc. Dieser studierte es eingehend, ohne große Reaktionen zu dem ihm vorgelegten Krankheitsbild zu zeigen. Eine angelernte Technik, um Angehörige nicht unnötig zu beunruhigen.

„Chronisch myeloische Leukämie. Unglücklicherweise schon in der Blastenkrise.“ sagte er kryptisch.

„Da hilft nur ein geeigneter Spender. Hoffen Sie den hier in der Einöde zu finden?“ fuhr er fort.

„Besser. Medizintechnik auf dem letzten technischen Stand. Krebsheilung, wie sie unsere Vorfahren praktizierten. Wir brauchen jemand mit medizinischem Sachverstand, um die Dinge richtig einzuordnen.“ Balta wirkte euphorisch und riss damit den Doktor mit.

„Jedem Anderen würde ich Angeberei vorwerfen, aber Ihnen traue ich zu Ihren großen Worten auch Taten folgen zu lassen. Ich nehme an Sie haben einen Weg gefunden, die versiegelte Technik wieder brauchbar zu machen.“ Der Doc wirkte abenteuerlustig.

„Das haben wir. Bedauerlicherweise sind wir nicht die einzigen Interessenten. Wir sollten uns daher beeilen.“ entgegnete Balta und versetzte damit die Gruppe in Aufbruchstimmung.

Der Weg war eintönig. Mit verlassen der Küste ergab sich bald in jede Richtung derselbe Anblick. Flaches verödetes Land. So fuhren sie die erste Stunde dahin, ohne auch nur ansatzweise eine Erhöhung zu registrieren. Es gab keinerlei Orientierungspunkte, an denen ein möglicher Rückweg hätte fest gemacht werden können. Einzige Variation war das Wetter. Die Sonne wich schnell dicken schwarzen Wolken und die schickten ihre unheilvolle Ladung unerbittlich Richtung Boden. In dem Transporter, der Platz für zwölf Personen bot, ergaben sich durch die Anordnung der Sitze zwangsweise Zweierpärchen. Balta und der Doc ergaben sich in Anekdoten aus ihrer Vergangenheit. Bei Eva und Eric geriet das Gespräch immer mehr zu einem Monolog von seitens Erics und Baltas Leute unterhielten sich untereinander, was sie denn mit ihrem Anteil an der zu erwartenden Ausbeute alles anstellen würden. Dina saß allein in einer der Zweierreihen und somit hatte auch Sentry keinen Gesprächspartner. Er genoss ihre Gesellschaft, dass musste er zugeben, trotzdem wagte er nicht, sich neben sie zu setzen. Sie wollte ihre Ruhe haben, dass war offensichtlich, also starrte er aus dem Fenster und hing seinen Gedanken nach.

Seine Freiheit war zum Greifen nahe. Ein letztes Mal mussten die Dinge zu seinen Gunsten laufen. Bis hierhin hatte er es geschafft, aber sein Erfolg hatte einen hohen Blutzoll gefordert. Die einzelnen Gesichter, die auf der Strecke blieben, verblassten langsam in seinen Erinnerungen. Mit Lisa fing alles an. Sie war blond und auch recht hübsch, einzelne Details wollten sich aber nicht mehr rekonstruieren lassen. Da war Pluto, der in einem selbstlosen finalen Akt ihre Flucht überhaupt erst ermöglichte. Pius, Björn und Lars, die in diesem sinnlosen Schauspiel ihr Leben ließen. Terra, der ihm die Exekution ersparte und Dina, die ihn aus einem einstürzenden Gebäude schleppte. Am wichtigsten für sein Überleben war aber Evas Verrat. Ohne diesen wäre er jämmerlich auf Prem gestorben. Er registrierte, dass er verdammt viel Glück gehabt hatte und dass er es in Zukunft weiter strapazieren würde. Vielleicht sogar schon in wenigen Stunden. Hoffentlich gibt es keine weiteren Opfer. Er hatte das Sterben um sich herum satt.

Balta riss ihn aus seinen Gedanken, indem er sich neben ihn setzte. Der Doc war eingeschlafen und so war Sentry überrascht, dass er ihn als Gesprächspartner Dina vorzog.

„Sie ist zwar weitaus attraktiver, aber du bist dafür viel interessanter.“ erkannte er erneut Sentrys Gedankengänge. Dieser hatte sofort wieder das Gefühl, nichts vor ihm verbergen zu können.

„Schon vergessen. Beobachten und kombinieren und daher weiß ich auch, dass du dem Kommenden skeptisch gegenüberstehst.“ Er machte eine kurze Pause, damit Sentry bewusst wurde, worum es ging.

„Das Ganze wird nur gut ausgehen, solange ihr nicht irgendwelche Dummheiten probiert. Also im Sinne des gemeinsamen Überlebens bitte ich euch Ruhe zu bewahren.“ Er deutete auf Dina.

„Gerade sie steckt voller Wut und Hass. Das geht für die Umgebung meist nicht schmerzfrei aus. Du solltest mit ihr reden und beruhigend auf sie einwirken.“

„Sie hat ihren eigenen Kopf. Da gibt es im ganzen Universum niemanden, auf den sie hören würde.“ antwortete Sentry.

„Unterschätze deinen Einfluss nicht. Sie gibt zwar gerne die Einzelkämpferin, aber auch sie braucht irgendwann mal jemanden, dem sie vertrauen muss. Im Unterbewusstsein ist ihr das klar und irgendwann wird diese Erkenntnis an die Oberfläche gespült werden. Die kurzen Einblicke, die sie hinter ihre Schale aus Zorn ab und an zulässt, deuten in deine Richtung. Ich weiß nicht, was ihr in der Vergangenheit gemeinsam durchgemacht habt, aber mit irgendwas hast du ihre Sympathie erlangt. Was immer das auch bei ihr heißen mag.“ Das Selbstvertrauen in Sentry hatte sich mit einem Schlag mehr als verdoppelt. Das Gefühl, auf jemanden aktiv Einfluss genommen und ihm damit vielleicht sogar zu einer Verbesserung seines eigenen elendigen Zustandes verholfen zu haben, war unglaublich. Bisher glaubte er nur von der Stärke seiner umgebenden Begleiter zu zerren, ohne dafür eine Gegenleistung erbracht zu haben. Das er neben dem vielen Nehmen auch was zurückgegeben haben soll, war das unglaublichste Gefühl, was ihm seit seiner Geburt durchflutete. Seinem elendigen Dasein konnte er endlich mal was Gutes abgewinnen. 

Das Fahrzeug stoppte und der Fahrer meldete sich bei Balta. Die beiden stiegen aus und diskutierten über etwas, was offenbar ihre Aufmerksamkeit erregt hatte. Was könnte es denn hier draußen geben, was sich von der kargen Wüste unterscheiden würde? Sentry starrte angestrengt durchs Fenster und tatsächlich erkannte er den Grund für die Unterbrechung. Offenbar kreuzten sie gerade eine uralte Strasse. Der Asphalt war nur noch sporadisch vorhanden, aber die Richtung war eindeutig zu erkennen. Baltas Gehilfe markierte die Stelle in Form einer Fahne. Offenbar war dieser Punkt wichtig für die Rückkehr. Sentry wollte nicht zurück, er wollte diesen Planeten verlassen, aber natürlich bestand die Gefahr, dass dies nicht möglich wäre und in dem Fall wäre die Markierung vermutlich Gold wert.

„Noch etwa zwanzig Stunden diese Strasse entlang und dann sind wir da. Ich wünschte wir hätten einen Flieger nehmen können, aber die Luftüberwachung der Inc. hätte uns sofort erwischt. Also sollten wir die Zeit nutzen, um ein wenig zu schlafen. Es liegen aufregende Zeiten vor uns.“ sagte Balta, nachdem er wieder neben Sentry Platz genommen hatte. Der Transporter folgte der Strasse Richtung Süden. Bis zum Einbruch der Dunkelheit gab es wenige Probleme auf Kurs zu bleiben. Erst in vollkommener Finsternis waren sie gezwungen Umwege in Kauf zu nehmen, da die Strasse nicht mehr eindeutig erkennbar war und somit des Öfteren eine Neuorientierung notwendig wurde.

Es wurde bereits wieder hell, als sich am Horizont Konturen abzeichneten, die sogar nicht in die flache Ebene passen wollten. Zuerst vermutete Sentry, dass sie wieder eine dieser Städte ansteuerten, die sie auch schon auf den Inseln vorfanden, aber dafür war der Umfang viel zu gering. Mit der richtigen Perspektive erkannte er, dass es sich um einen großen Gebäudekomplex handelte.

„Als man hier noch Landwirtschaft im großen Umfang betrieb, dienten solche Stationen zur Kontrolle der umliegenden Felder. Man koordinierte den Anbau, die Ernte, ja sogar das Wetter von solchen Kontrollpunkten. Die gibt es hier zu hunderten auf dem Kontinent.“ gab der Doc eine Geschichtslektion in Sachen Lassik.

„Dann sind wir hoffentlich an der richtigen Station.“ bestätigte Eric seinen Status als Pessimist der Gruppe.

„Das sind wir.“ antwortete Balta selbstsicher.

Sie brauchten noch etwa eine halbe Stunde, ehe sie das zerstörte Eingangstor erreichten. Das alles war geschätzte tausend Jahre alt und für diese Zeitspanne wirkte das riesige Gebäude erstaunlich gut erhalten. Offenbar hatten die Vorfahren ihr Wissen über Bautechnik auf einen Stand gebracht, der Gebäude zwar nicht für die Ewigkeit, aber doch für eine verdammt lange Zeit gegen den Verfall schützte. Aus der Luft betrachtet wirkte die Anordnung der einzelnen Gebäudeflügel wie ein gigantisches H. Damals brauchten die Vorfahren nicht in die Höhe bauen. Platz gab es genug, so dass es nur drei Etagen gab, auf denen sich die unzähligen Büros der Verwaltung erstreckten. Sie parkten den Transporter vor dem ehemaligen Haupteingang am Mittelsteg. Als sie ausstiegen fühlte sich die Gruppe in eine Zeit versetzt, die sie höchstens aus den Geschichtsbüchern kannte. Jeder hatte seine eigene Fantasie, wie das Leben vor tausend Jahren an diesem Ort ablief. Besonders Erics Vorstellungskraft lag auf Grund seiner technischen Affinität sehr nah an der Wirklichkeit. Die gigantischen, in den Boden eingelassenen Tore mit den Rutschen, dienten vermutlich zum abladen des Getreides. Riesige unterirdische Speicher horteten die Ernte. Es gab Landeplattformen für Raumschiffe, die absenkbar waren, um direkt in die Speicher zu gelangen. Werkstätten für die Reparatur von landwirtschaftlichem Gerät. Labore für die Qualitätssicherung, Wetterkontrollräume. Alles war auf die Optimierung des Ertrages ausgelegt und wie Eric die Vorfahren einschätzte, hatten sie wirklich den optimalen Prozess vom Saatkorn bis zum Verkauf hinbekommen. Damals musste die ganze Einrichtung eine Gelddruckmaschine gewesen sein. Ein herrliches Leben, für alle die hier mitwirkten.

Und heute? Das Dach war abgesehen von dem Mittelsteg eingebrochen, so dass die dritte Etage den Wetterkapriolen komplett ausgesetzt war. Irgendwann würde auch die zweite Ebene zusammenbrechen, dann die erste und in etwa noch mal tausend Jahren wäre auch hier nur noch ein Schutthaufen übrig. Die Wände waren löchrig, eine Folge von vergangenen Plünderungen, um schwere und große Technik in einem Stück aus dem verlassenen Gebäude zu bekommen. Vermutlich bestand die Außenfassade in den oberen Etagen zu den goldigen Zeiten komplett aus Glas. Jetzt war alles komplett offen und der Blick war frei auf Relikte der Vergangenheit. Vereinzelt gab es Einschusslöcher, was auf Kämpfe hinwies. Alles in allem wirkte der Komplex, als wäre hier seit einer Ewigkeit kein Mensch mehr gewesen. Wo in aller Welt sollte in diesem Gebäude Technologie der Vorfahren sein, geschweige denn ein Raumschiff, was sie von diesem Planeten bringt? In Sentry wuchsen die Zweifel, dass an diesem verlassenen Ort ihnen irgendwas weiter helfen würde. Warum waren sie hier?

 

X

„Wenn man alle logischen Lösungen eines Problems eliminiert, ist die unlogische obwohl unmöglich unweigerlich richtig.“

Sherlock Holmes

 

„Ich gebe dem Hasenfuß da drüben nur ungern Recht, aber die Sache sieht nicht sehr viel versprechend aus.“ Der Doc und Balta hatten sich ein wenig von der Gruppe entfernt und konnten daher ungestört die weiteren Dinge besprechen. Hasenfuß Eric hatte beim Anblick der verkommenden Station sofort wieder schlechte Stimmung verbreitet, aber Balta hatte gelernt ihn zu ignorieren und sich auf wesentlichere Dinge zu konzentrieren. Die Zeit war begrenzt und wenn sie Pech hatten, waren die Truppen der Inc. bereits auf dem Weg hierher. In dem Fall hätten sie bereits verloren, denn anders als ihre Gruppe, würde die Inc. nur ein Bruchteil der Zeit brauchen, um diese Station zu erreichen.

„Einfach, mein lieber Doktor, wird es leider nicht werden. Dieser Hasenfuß hat uns auch noch unter Zeitdruck gesetzt. Die Inc. ist hinter ihm her und damit nun auch hinter uns.“ erwiderte Balta. Der Doc wirkte wenig geschockt auf diese Neuigkeit. In seinem Alter konnten ihn solche Banalitäten wohl nicht mehr beeindrucken.

„Habe mich schon gefragt, wozu Sie ihn mitgenommen haben. Bei jedem Anderen in ihrer Position läge der schon eins achtzig tief. Sie stecken voller Geheimnisse. Wie haben Sie es mit der Einstellung geschafft die komplette organisierte Kriminalität auf Lassik zu übernehmen?“ Der Doc schüttelte ungläubig den Kopf. Balta lächelte nur geheimnisvoll.

„Leider muss ich Ihnen die Antwort vorerst schuldig bleiben.“ Er ging zurück zur Gruppe und begann damit die Suche zu koordinieren. In Zweiergruppen durchsuchten sie den Komplex, wobei Sentry in den Genuss des zweifelhaften Vergnügens kam, Eric an seiner Seite zu haben. Der reinen Logik folgend, konzentrierten sie ihre Suche auf den unterirdischen Teil der Anlage. Was immer auch an Technologie hier versteckt war, es brauchte viel Platz. Platz, der nicht ganz so offensichtlich wahrgenommen wurde. Die riesigen unterirdischen Getreidespeicher waren hervorragend geeignet, um technologische Schätze aller Art zu verbergen.

Die schiere Größe dieser Speicher erschwerte die Suche. Ein halbes Leben würde vermutlich nicht reichen, um in den dunklen Hallen mögliche Verstecke zu finden, also brachen sie nach einer halben Stunde ihre Suche erfolglos ab.

„Diese Lager sind riesig und vor allen Dingen sind sie dunkel. Wir brauchen ewig hier was zu finden. Wenn wir wenigstens Licht machen könnten.“ Eric klang enttäuscht. 

Sie standen im Hangar und zehn Meter über ihnen befand sich ein horizontales Tor, das zur Hälfte geöffnet war. Das Tageslicht fiel herein und hellte das Grau der ursprünglichen Landeplattform etwas auf. Staub und Dreck schluckten die Sonnenstrahlen und ließen die Umgebung wie ein eintöniges Stillleben ohne jegliche Farben wirken. Herumliegende Gesteinsbrocken in allen Größen und Formen erinnerten die beiden daran, dass es jederzeit möglich war, dass sich weitere Bruchstücke über ihnen lösen könnten. Vor unzähligen Jahren war dies der Platz, an dem die Schiffe mit Getreide beladen wurden. Von hier aus nahm es seinen Weg in die Galaxie. Die Dimensionen mussten gigantisch gewesen sein. Vor ihnen lag ein riesiges dunkles Loch, dessen Ausmaße nicht mal ansatzweise zu erahnen waren. Wie weit würde diese unterirdische Halle gehen? Die Schienen auf dem Boden deuteten auf ein komplexes Transportsystem hin, welches das Getreide aus den letzten Winkeln dieses Monstrums hier her transportiert hatte. Allein die Beleuchtung und die Belüftung dieser Halle muss Unmengen von Energie verbraucht haben, denn es gab keinerlei Öffnung in der Decke. Zu allem Überfluss existierte eine zweite Halle auf der anderen Seite des Komplexes, die vermutlich ähnlich riesig war. Was sagte der Doc? Es gab hunderte dieser Stationen. Sentry wurde schwindlig bei der Vorstellung, wie viel Getreide damals auf Lassik vorhanden sein musste. Die Koordinierung eines so komplexen Projektes erschien ihm unmöglich. Plötzlich hatte er keine Zweifel mehr, dass dieses Lager existierte. Es ging einfach unter in diesen Dimensionen. Sie würden es nie finden, selbst wenn sie ein Leben lang Zeit hätten zu suchen.

Nach und nach trafen auch die anderen Gruppen ein und die Gesichtsausdrücke aller Beteiligten spiegelten die Resignation wieder, die auch Sentry erfasste.

„Ich hoffe es gibt noch mehr Anhaltspunkte, ansonsten ist das hier ein Flop.“ durchbrach Dina die bedrückende Stille.  

„Ich habe tatsächlich etwas gefunden, was uns eventuell weiter helfen könnte.“ sagte Balta.

„Effizienz war das Credo unserer Vorfahren. Die Menschen, die diesen Planeten erschaffen haben, sind äußerst berechnend vorgegangen. Ich könnte wetten, die haben das hier tausendmal durch simuliert, bevor sie hier nur einen Finger krumm gemacht haben. Dann haben sie die perfekte Lösung umgesetzt, für ein Optimum an Profit. Nichts wurde dem Zufall überlassen. Alles griff perfekt in einander. Werte ohne Verschwendung schaffen, war ihr Motto.“ Für den größten Teil der Gruppe schien diese Rede nur wieder eine dieser Geschichtslektionen zu werden, die sie schon vom Doc hörten, als sie die Zeit im Transporter überbrücken mussten. Nur Sentry lauschte gespannt den Ausführungen, denn er hatte gelernt, wie Balta die Welt sah. Er zog seine Schlüsse aus seinen Beobachtungen und offenbar war ihm wieder etwas aufgefallen, was alle anderen übersahen.

„Einige Dinge scheinen logisch zu sein. Konzentriert euch auf die Sachen, die auf den ersten Blick keinen Sinn ergeben. Dadurch kommen wir dem Geheimnis unter Umständen etwas näher.“ Er schaute jetzt Sentry an, so als würde er ihn auffordern seine eigenen Schlüsse aus der Umgebung zu ziehen.

„Wir haben den Vorteil, dass alles doppelt da ist. Offenbar sahen die Vorfahren das Maximum an Effizienz in der Zahl zwei. Also brauchen wir die beiden Hallen nur vergleichen und die Unterschiede finden.“ Es arbeitete in Balta und Sentry konnte förmlich sehen, wie er die einzelnen Bausteine in seinem Gehirn sinnvoll zusammensetzte.

„In der anderen Halle hatten sie vier Landeplätze im Hangar. Hier gibt es nur drei und dass obwohl genug Platz für vier wäre. Diese Zwischendecke verhindert, dass Schiffe dort landen können.“ Balta zeigte auf eine leer stehende Fläche und tatsächlich, jetzt wo Sentry drauf aufmerksam gemacht wurde, kam ihm dieser Aufbau vier Meter über dieser Fläche sinnlos vor. Es wäre ein leichtes das Hindernis abzureißen und schon hätte man eine effizientere Abwicklung gehabt, also musste dieser Aufbau einen bestimmten Grund haben. Er schaute sich um, wollte seine eigenen Schlüsse ziehen. Da gab es die ehemaligen Büros, in denen vermutlich der Warenausgang bearbeitet wurde, ein Fahrstuhl, der an die Oberfläche führte und eine Treppe, über die sie runter gelangt waren. Nichts Außergewöhnliches. Wenn es einen Grund für die Verschwendung dieses Platzes gab, war er nicht mehr ersichtlich.

„Vielleicht brauchten die Vorfahren mehr Lagerfläche und wollten nicht, dass Schiffe sie blockierten.“ versuchte sich Eric im Kombinieren.

„Zusätzliche Lagerfläche? Bei den riesigen vorhandenen Kapazitäten. Unwahrscheinlich. Aber in einer Sache hast du Recht. Sie wollten nicht, dass da Schiffe landeten.“ Baltas Gehirn lief wieder auf Hochtouren und plötzlich, als hätte ihm jemand den entscheidenden Tipp gegeben, rannte er Richtung Verwaltungstrakt. In freudiger Erwartung, dass er vielleicht den Durchbruch auf ihrer Suche erreicht hatte, folgte ihm die Gruppe. Balta ging Richtung Fahrstuhl. Die uralte Kabine war wohl abgestürzt und befand sich damit zwangsläufig auf der untersten Etage. Wie alles andere in dieser Station, war auch hier jede mögliche Form von Technik geplündert worden. Obwohl es eigentlich nicht viel weiter abwärts gehen konnte, traute sich Balta nicht die Kabine zu betreten.

„Sechs.“ grinste er in sich hinein. Offenbar hatte er das gefunden, nachdem er suchte.

„Dieser Fahrstuhl hielt in sechs Etagen.“ Er zeigte auf längst verblasste Symbole, die in die Konsole der Bedienung eingestanzt waren. In dem Moment kam auch Sentry die Erleuchtung. Drei Etagen im Gebäude auf der Oberfläche, dazu das Erdgeschoß und der Schiffshangar. Wo zum Teufel fuhr das Ding denn noch hin? Er schaute rüber zu Balta und der zeigte mit dem Daumen nach unten. Plötzlich wusste er um das Geheimnis dieser ominösen Fläche. Statik, simple Statik. Die Vorfahren wollten nicht, dass dort drüben Schiffe landeten, weil es einen weiteren Bereich darunter gab.

„Schön. Und wie soll uns das weiter helfen?“ Eric stand die Erleuchtung noch bevor.

„Tja, Leute die nur bis drei zählen können, bekommen bei der Sache natürlich Probleme.“ nutze Dina die Vorlage für eine ihrer Spitzen.

„Keine Treppe. Scheinbar ist der einzige Zugang über diesen Fahrstuhlschacht.“ Balta klopfte mit der Fußspitze auf den Boden der Kabine. Die gab sofort ein Stück nach.

„Das Ding steht kurz vorm Absturz. Die Sicherungen sind wohl nicht auf tausend Jahre ausgelegt.“ fuhr Balta fort.

„Dann lassen wir es abstürzen und klettern hinterher.“ Sentry war jetzt in Entdeckerlaune. Was immer da unten auch sein mag? Ein Raumschiff würde er vermutlich nicht vorfinden. Trotzdem. Die beste Option, die sie derzeit hatten, war unterhalb dieser Stellfläche.

Balta trat weiter mit dem Fuß auf die Bodenplatte der Kabine ein. Es dauerte nicht lange und der Fahrstuhl kam ins rutschen. Unglücklicherweise verkeilte er sich etwa zwei Meter unter ihnen.

„Das war noch nicht das Ende. Ich klettere runter und mach weiter.“ sagte Balta. Gesagt getan, aber trotz mächtiger Tritte schien der Fahrstuhl fest zu hängen.

„Dann müssen wir wohl durch den Fahrstuhl durch.“ Balta sprang jetzt auf das Dach der Kabine, öffnete die Dachluke und verschwand im Inneren.

„Der ist doch wahnsinnig. Ich werde da auf keinen Fall mit runter.“ Eric hatte sichtlich Angst.

„Da unten gibt es vermutlich mehr Technik, als du je in deinem Leben gesehen hast. Wenn du dir das entgehen lassen willst, deine Sache. Wie heißt es so schön. Angst geht vorüber, Bedauern hält ein Leben lang.“ Damit wagte sich Dina an den Abstieg. Ihr folgten Sentry und Eva. Selbst der Doc schien, trotz seines fortgeschrittenen Alters, relativ furchtlos und mit ein wenig Hilfe von Baltas Männern, überstand er den Abstieg schadlos. Nachdem nur noch einer von Baltas Leuten bei Eric war, siegte dessen Angst vor dem Allein sein im Hangar, über die Angst den Fahrstuhl auf den Kopf zu bekommen. Er stellte sich nicht besonders geschickt an im Abstieg, aber glücklicherweise war die Kabine so verkeilt, dass trotz der miserablen Kletterkünste von Eric, der Lift nicht zu ihrem Grab wurde. Durch ein Loch in der Bodenplatte betraten sie unbekannte Dunkelheit.

Etwa drei Meter unterhalb des verkeilten Fahrstuhls war der Ausstieg in die unterste Etage. Die Türen ließen sich leicht öffnen. Die Luft war stickig und ein dunkler gespenstisch wirkender Gang von etwa fünf Metern Tiefe lag vor ihnen. Im Licht der mitgebrachten Lampen konnten sie eine Tür am Ende erkennen. Durchbrach im Hangar durch das offene Tor der Wind ab und an die Stille, war es hier komplett ruhig. Bei elf Leuten in einem 1.50m breiten Gang, stellte sich automatisch ein klaustrophisches Gefühl ein. Das Ganze hatte etwas von einem Gemeinschaftssarg.

„Da ist ja der Türöffner.“ entfuhr es Balta. Er legte seine Hand auf eine unscheinbar wirkende Platte an der rechten Wand. Ein rotes Licht blinkte ihm entgegen.

„Yeah, offenbar darf hier nicht jeder rein. Das lässt einiges Gutes erwarten auf der anderen Seite.“ frohlockte Balta. Die Anspannung war enorm. Sie standen unmittelbar vor ihrem großen Ziel.

„Ich probier mal mein Glück.“ In diesem Moment war sich Sentry selbst nicht sicher, ob seine Fähigkeiten auch auf Türöffner wirkten.

Im Gegensatz zu Balta wurde sein Versuch mit einem grünen Dauerlicht quittiert. Ein kurzes Klack aus Richtung der Tür und schon stand sie einen Spalt weit offen. Das kurze Gefühl der Überlegenheit auf Grund seiner Fähigkeiten wischte er weg. Arroganz konnte er jetzt gar nicht gebrauchen. Der Neugierde allerdings, ließ er freien Lauf.

Die Tür war massiv. Fast zehn Zentimeter dick und Baltas Leute hatten ordentlich zu tun sie aufzudrücken. Im Regelfall wurde diese Tür durch einen hydraulischen Antrieb geöffnet. Aus Mangel an Energie musste Muskelkraft herhalten. Alle waren gespannt, was sich hinter der Tür befand. Nur Eric starrte weiter auf die Platte des Türöffners.

„Was stimmt denn nicht?“ fragte Eva.

„Es hat eine externe Energiequelle.“ sagte Eric grübelnd.

„Ja und?“ fragte Eva zurück.

„Ich habe mein halbes Leben mit Technik verbracht. Solche Energiespeicher halten bei minimalen Verbrauch höchstens zehn Jahre, dann müssen sie aufgeladen oder ersetzt werden.“ Er grübelte weiter.

„Willst du damit sagen, dass jemand vor kurzem hier war und die Batterien getauscht hat. Das ist unmöglich.“ Eva bezweifelte ihre eigene Theorie.

„Verdammte Vorfahren. Vielleicht schaffen sie es auch nur das Ding auf eine uns unbekannte Art und Weise aufzuladen. Wir sollten da nicht soviel reininterpretieren.“ Eric wollte nicht paranoid gegenüber Eva wirken und ließ damit die Sache auf sich beruhen.

Als Anführer ließ es sich Balta nicht nehmen die Tür als erstes zu durchschreiten. Wenig überraschend registrierte er, dass auf der anderen Seite sich ebenfalls nur Gänge befanden. Zwei Schritte und er stand an einer T-Kreuzung. Der Gang rechts war verschüttet und das beklemmende Gefühl, dass der Hangar über ihm zu seinem Grab werden könnte, griff auch auf alle anderen über. Vor ihm konnte er das Ende nicht erkennen, aber rechts und links des Ganges befanden sich Türen. Im schlimmsten Falle handelte es sich um einen weiteren Bürokomplex. Der breitere Gang zu seiner Linken endete nach etwa fünf Metern an einem großen Tor. Sentry versuchte sich zu orientieren. Die Sperrfläche über ihnen befand sich etwa zweihundert Meter zu ihrer Linken, also sollte sich nach Baltas Theorie ein großer Teil dieser Etage dort befinden. So verwunderte es nicht, dass sich die Gruppe nach links orientierte.

Wieder legte Sentry die Hand auf eine Platte neben der Tür, aber dieses Mal gab es überhaupt keine Reaktion.

„Keine Energie. Einen Moment, das haben wir gleich.“ Erics Lichtkegel verschwand in dem Gang, aus dem sie gerade gekommen waren und wenig später tauchte er mit der Energieversorgung der ersten Platte wieder auf. Zwei, drei Handgriffe und schon ging die Tür bei einem erneuten Versuch auf.

Das Tor öffnete sich diesmal ohne große Anstrengungen. Sentry konnte es kaum glauben, aber die Luft die ihnen entgegenkam, war noch um einiges staubiger. Offenbar hatten sie den Luftzug unterschätzt. Wenn er es nicht besser wüsste, würde er meinen auf der anderen Seite hätte jemand tausend Jahre auf den perfekten Moment gewartet, um ihnen einen Sack voll Dreck entgegen zu schleudern. Instinktiv bedeckte jeder der Anwesenden sein Gesicht.

Als sich der Staub ein wenig gelegt hatte, setzte sich die Erkenntnis durch, dass ein herumirren im Dunkeln viel zu gefährlich war. Sie mussten den Kontrollraum finden und versuchen die Energieversorgung zu reaktivieren.

Dina hatte Eric nicht zuviel versprochen. Bei der Durchsuchung der Räume im schmalen Gang, offenbarte sich ihm sein persönliches Paradies. Da es hier unten keine Möglichkeit auf Plünderungen gab, war alles noch komplett vorhanden. Unter dicken Staubschichten stapelte sich die Rechentechnik. Wie ein Kind im Süßwarenladen, konnte er es nicht erwarten die Lampen und Monitore wieder zum blinken zu bekommen. Die Gruppe musste ihn förmlich zügeln in den halb verfallenen Räumen nicht unnötige Risiken einzugehen. Die Frage war nur, wie weit alles noch einsetzbar war? Eine Antwort darauf würde es nur geben, indem sie die geothermische Energieversorgung reaktivieren.

„Zentrale Energiever…..“ verkündete das Schild an einer der Türen und es brauchte nicht viel Fantasie, um den verloren Rest dazu zu dichten. Sie hatten also Glück, dass der Kontrollraum sich nicht in dem verschütteten Gang befand.

„Heureka“ jubelte Eric und bevor ihn die Anderen daran hindern konnten, hatte er den Raum schon betreten.

„Licht. Ich brauche Licht. Kommt her mit euren Lampen.“ In seiner Begeisterung merkte er gar nicht, dass er eigentlich nicht in der Position war Anweisungen zu geben. Nur die Neugierde aller Anwesenden, ließ ihn den Kommandoton durchgehen.

„Das muss der Leitrechner sein. Den müssen wir wieder flott kriegen.“ Eric zeigte aufgeregt auf ein eingestaubtes Terminal.

„Du scheinst dich damit auszukennen.“ Zum ersten Mal hatte Dina nix spöttisches in ihrer Stimme, als sie zu Eric sprach.

„Natürlich. Diese Rechentechnik ist legendär. Hätte nie gedacht, dass ich mal vor einem Evonix-System stehe. Das Beste, was die Vorfahren je gebaut haben. Ich kenne jeden Schaltkreis von diesem Ding. Ich hab jeden verfügbaren Text darüber gelesen. Es gibt vermutlich keinen zweiten, der sich so gut damit auskennt.“ Seine Stimme überschlug sich förmlich vor Stolz.

„Um es wieder in Gang zu kriegen, brauchen wir eine externe Energiequelle. Sozusagen Starthilfe.“ Er schaute in Richtung Balta.

„Ich nehme mal an die Batterie aus der Öffnungsplatte wird da nicht reichen.“ entgegnete dieser.

„Natürlich nicht. Was glaubst du denn, was wir hier haben? Eine Spielkonsole? Das ganze ist viel komplexer, als so ein Türöffner.“ Jetzt erst merkte Eric mit welcher Arroganz er Balta gerade bedacht hatte und als ihm diese Erkenntnis kam, bereute er umgehend das Gesagte.

„Ich wollte damit nicht sagen, dass…“ wieder fehlten ihm die passenden Worte. Balta kam auf ihn zu und hielt ihm den Lichtkegel seiner Lampe genau ins Gesicht.

„Würde eine der Batterien unseres Transporters das Problem lösen?“ Die Warnung in der eigentlich harmlosen Frage war unüberhörbar und verfehlte ihre Wirkung nicht. Eric schlotterten die Knie. Trotzdem bestanden erhebliche Zweifel über die Haltbarkeit dieser Einschüchterung. Es war seine Art des sozialen Umgangs und nur wenn er sich stark konzentrierte, konnte er das Schlimmste verhindern. Aber Konzentration in diesem Umfeld von massenhaft vorhandener Technik war fast unmöglich und so war der nächste Ärger vorprogrammiert.

„Ja, das würde wahrscheinlich gehen.“ Eric war sich nicht bewusst, dass er fähig war mit einer so dünnen Stimme zu antworten. Ein paar kurze Anweisungen und schon waren zwei von Baltas Männer verschwunden, um den Transporter auszuschlachten. Es dauerte dreißig Minuten bis sie wieder auftauchten und weitere zehn, bis Eric alles angeschlossen hatte. Jetzt stand er davor und begutachtete sein Werk.

„Na dann los, schalt es ein.“ Balta wirkte anhand des Zeitverlustes und der ständigen Gefahr, dass die Inc. jeden Moment auftauchen könnte, ungeduldig.

„Er kennt zwar jeden Schaltkreis, aber wo sich der Hauptschalter befindet, das stand wohl in keinem Buch.“ spöttelte Dina wieder in bekannter Tradition.

„Verdammt. Das war so explizit nicht beschrieben. Ich hatte mit so einer Art roten großen Knopf gerechnet, auf dem „Ein“ drauf steht.“ rechtfertigte sich Eric. Balta schaute auf das Bedienfeld des Leitrechners. Er drückte wahllos auf einigen Feldern rum und tatsächlich schaffte er es den Rechner zu starten. Zuerst sprangen die Lüfter an, dann erleuchteten die Lampen auf dem Display und nach und nach blinkte die ganze Konsole.

„Ist wie bei meiner Spielkonsole. Einfach drücken.“ sagte er hämisch. Eric verkniff sich eine Antwort, zu frisch wirkte die Warnung von vorhin noch nach.

„Ok. Der Leitrechner ist online. Ich schalte jetzt die einzelnen Systeme dazu. Fangen wir an mit dem Start der Turbinen.“ Er tippte mit dem rechten Zeigefinger auf das Display. Nur ein kurzes „piep, piep“ ansonsten passierte nichts.

„Hätte mich auch gewundert nach so langer Zeit. Das heißt, wir versorgen alles nur aus dieser Batterie.“ Eric genoss es im Mittelpunkt zu stehen.

„Bekommst du das Licht an?“ fragte Balta. Eric drückte auf eine andere Stelle des Bedienfeldes. Über ihnen zerbarst eine der Leuchtmittel und ließ die Gruppe kurz zusammen zucken. Glücklicherweise erwiesen sich andere Leuchten als robuster, so dass der Raum in ein trübes Licht getaucht wurde. Ganze drei Lampen waren noch aktiv und diese beleuchteten den elendigen Zustand. Ein riesiger Monitor befand sich an der Wand, vor dem schön aufgereiht etwa zwanzig eingestaubte Rechnerarbeitsplätze standen, wohl alle dafür gedacht, die Energieversorgung für den Komplex zu sichern.

„Mehr geht nicht. Es sei denn ihr habt Ersatzbirnen mit.“ sagte Eric.

„Wie lange bis uns der Saft ausgeht?“ fragte Balta.

„Sechs Stunden, dann ist hier alles wieder dunkel.“ antworte Eric eingeschüchtert.

Sie verließen den Kontrollraum und begaben sich wieder zu dem Tor, das sie zwar öffnen konnten, aber auf Grund der schwarzen Leere dahinter nicht durchschritten hatten. Die Gänge waren mehr als spärlich beleuchtet. Die wenigen funktionierenden Lampen flackerten vor sich hin und verstärkten den eh schon beklemmenden Eindruck der Klaustrophobie. Sie passierten das Tor und betraten eine riesige Halle. Die funktionierenden Lampen waren hier ungleich verteilt. Während zu ihrer Linken fast alles komplett im Dunkeln lag, war die rechte Seite ordentlich beleuchtet. Das Licht fiel auf zwei Dampfturbinen, die ursprünglich für die Stromversorgung der Anlage vorgesehen waren. Auch hier war die Staubschicht so dick, dass nur die Umrisse auf die eigentliche Funktionalität hinwiesen. Die Luft war immer noch schlecht und das Atmen fiel allen sichtlich schwer, also beschränkte sich die Kommunikation auf das Wesentliche.

Die Turbinen ragten etwa dreißig Meter in die Halle hinein und bildeten den Kontrast zu den unzähligen Kisten, die sich dahinter auftürmten. Es war unmöglich zu erkennen, wie viel da in der Tiefe an Schätzen auf sie wartete, da praktisch jeder Quadratzentimeter bis zur Decke zugestellt war. Die Anspannung stieg, denn die Gruppe war sich sicher, unter der Plane war das, was sie suchten.

„Wenn wir die Plane einfach wegziehen, können wir vermutlich gar nicht mehr atmen.“ Balta fuhr mit den Fingern über die staubbedeckte Abdeckung. Sie beschlossen wenigstens einen Teil freizulegen, um sicher zu gehen, dass sie wirklich die erwartete Technik vorfinden würden. Während zwei von Baltas Männern die Plane vorsichtig anhoben, zogen zwei weitere ein Gerät hervor, das auf den ersten Blick als Kleiderschrank der Vorfahren durchgehen würde. Was immer auch sich Rechts und Links an diesem Monstrum befand, es war eingehaust, während sich in der Mitte eine Aussparung befand, in der locker ein Mensch aufrecht stehen konnte.

„Was ist das?“ fragte Eva allgemein in die Runde, die Antwort wurde allerdings von Eric erwartet.

„Ich habe keine Ahnung. Ein Kühlschrank, ein Teleporter. Vielleicht einfach nur eine beleuchtete Umkleidekabine.“ Eric war ratlos.

„Da drüben ist ein Energieanschluss. Wenn wir es da rüber räumen, könnten wir es mal einschalten.“ Er brannte darauf es auszuprobieren.

Baltas Männer schleiften den Klotz etwa zwanzig Meter, bis sie in der Nähe des Anschlusses waren. Wieder ein paar Handgriffe von Eric und der Apparat war verkabelt. Eine einzelne rote Leuchte glimmte auf. Sentry drückte seinen Daumen auf die vorgesehene Stelle und schon war die Bedienkonsole hell erleuchtet.

„Bitte Programm laden.“ ertönte eine mechanische Stimme.

„Mal sehen, was wir hier haben.“ Eric drückte auf dem Bedienfeld ein paar Tasten.

„Sieht aus wie ein großes Unterhaltungsangebot. Spiele, Filme, Wissen, Sex.“ Ohne zu zögern wählte er die letzte Option.

„Bitte Brille aufsetzen und die Kabine betreten.“ forderte die mechanische Stimme auf. Alle schauten sich um, aber eine Brille war nicht vorhanden.

„Dann ohne.“ In der Erforschung von Technik schien Eric keine Angst zu kennen. Er betrat die Kabine und so wie er da stand, aufgeregt wartend auf die Dinge, die da auf ihn zukommen würden, wirkte er wie jemand in einem Fahrstuhl, der ungeduldig auf das Schließen der Türen hinfieberte.

„Programm gestartet.“ Unwillkürlich machte die Gruppe einen Schritt rückwärts.

„Ohne Brille scheint das Ding wohl nicht zu funktio... Ohhooo.“ Eric sprang regelrecht aus der Kabine und klopfte sich mit den Händen auf die Oberschenkel. Er machte den Eindruck, als würde er etwas verscheuchen wollen.

„Verdammt. Wer hat mir da gerade in den Schritt gefasst?“ Panisch schaute er Dina an.

„Mit Sicherheit nicht.“ antwortete diese. Der Doc klärte die Gruppe mit einer weiteren Geschichte aus längst vergangenen Zeiten auf.

„Das ist ein großer Zauberkasten. Virtuelle Realität. Dieses Gerät simuliert deine Rezeptoren. Wenn du was berührst oder dich etwas berührt, reagieren die und geben die Signale an dein Gehirn weiter. Irgendwie schafft es dieser Kleiderschrank auch ohne Rezeptoren die bestimmten Bereiche zu stimulieren, so dass du glaubst, du wurdest berührt. Mit der Brille gäbe es vermutlich auch noch die passende Optik dazu. So hast du das Gefühl, ein Geist hätte dich angefasst.“

„Ein Jammer. Da berührt dich schon mal eine Frau da unten und du weißt nicht mal, wie sie aussieht.“ stichelte Dina erneut.

„Das muss ich weiter testen.“ Eric war entschlossen wieder in den Apparat zu steigen. Balta hielt ihn am Arm zurück.

„Da fuhrwerkt tausend Jahre alte Technik in deinem Kopf herum. Sei froh, dass das Ding nicht Wabbelpudding aus deinen Gehirnwindungen gemacht hat. Außerdem brauchen wir jedes bisschen Energie für ...“ Balta hielt inne. Offenbar hatte etwas seinen inneren Alarm ausgelöst.

Sentry merkte es als nächstes. Es war die Art und Weise wie sich Baltas Männer bewegten. Langsam, aber bedacht, nahmen sie bestimmte Positionen ein. Zwei von ihnen rahmten Sentry ein, während sich jeweils einer hinter Dina und Balta positionierten. Sie kreisten sie ein, aber für was? Einen Angriff? Warum hatten sie dann aber Balta im Visier? Ihr Vorhaben war noch nicht komplett, aber da sie aufgeflogen waren, mussten sie reagieren.

„Keiner bewegt sich.“ Ein kahl geschorener Muskelberg mit tiefer Stimme und grimmigen Blick übernahm die Kontrolle des Geschehens. Seine gezückte Pistole untermauerte seine Absichten. Offensichtlich rebellierten sie gegen Balta.

„Der Zeitpunkt ist wie immer schlecht. Ich hätte gewartet, bis wir was wirklich Sinnvolles gefunden haben.“ Balta schien nicht überrascht.

„Schnauze.“ brüllte der Anführer. Er wirkte leicht überfordert mit der Situation.

„Los, wir bringen sie raus. Gunter müsste jeden Moment hier sein.“ Also hatten sich die Spielregeln erneut geändert. Balta hatte nun alle gegen sich. Die Ruhe, die er dabei ausstrahlte, war verblüffend. Entweder markierte er nur den Abgebrühten oder er hatte mit so etwas gerechnet. So wie Sentry Balta bisher kennengelernt hatte, war die letzte Variante wahrscheinlicher.

Er kannte auch Dina und die Gefahr, dass auf Grund ihrer impulsiven Art sich die Situation zuspitzen würde, war ziemlich groß. Sie war gerade erst der Gefangenschaft entkommen und die Aussicht auf den erneuten Verlust ihrer Freiheit würde sie gewisse Risiken eingehen lassen. Sentry war angespannt und erwartete daher nichts Anderes als eine Eskalation der Situation. Die Gelegenheit für sie ergab sich, als ihr Bewacher sie an den Unterarm griff, um sie zur Bewegung anzutreiben. Der Letzte, der dies versuchte, endete als Organspender und so befürchtete Sentry auch diesmal das Schlimmste. Wie damals auf Rubys Schiff, galt ihr Angriff erneut dem Arm ihres Angreifers, aber ihr Gegenüber stellte sich geschickter an, als seiner Zeit Björn. Er wich dem Konter gekonnt aus und revanchierte sich seinerseits mit einem gezielten Schlag ins Gesicht für den Versuch.

„Dann auf die harte Art.“ kommentierte der Sieger den gescheiterten Versuch. Er zog Dina an den Haaren Richtung Ausgang.

Die Abtrünnigen hatten einen entscheidenden Nachteil. Sie waren reine Befehlsempfänger. Damit waren sie berechenbar und durch Baltas Gabe, die Dinge schnell zu durchschauen und sie zu seinem Vorteil auszulegen, bestand die Gefahr, dass sie trotz der Überzahl schnell ins Hintertreffen geraten konnten. Von daher war es nicht verwunderlich, dass sie die Verantwortung schnellst möglich wieder loswerden wollten. Die Eile, mit der sie alle entwaffneten und an die Oberfläche zurücktrieben, ließ darauf schließen, dass sie sich dieses Nachteiles bewusst waren. Sie hatten ordentlich Respekt vor ihrem ehemaligen Anführer und scheinbar war dieser Gunter derjenige, dem sie es zutrauten mit ihm fertig zu werden.

Wieder zurück im Sonnenlicht der Oberfläche bot sich ihnen ein neuer Anblick. Ein Flugtransporter war gerade am landen und ihm entsprangen ein Dutzend bewaffnete Soldaten. Sie trugen die Uniform der Inc. Also kamen sie schneller als befürchtet hinter Baltas Pläne. Resignierend wurde Sentry bewusst, dass sie verloren hatten. Er wäre vermutlich der Einzige, der überleben würde, aber was für ein Leben wäre das? Ein Dasein als Versuchskaninchen in einem Labor, in dem man ihn Stück für Stück sezieren würde. Es würde nicht lange dauern und sie hätten seine Selbstheilungskräfte erkannt und dann wäre das Erste, was er ertragen müsste, das Ausloten der Grenzen dieser Gabe. Ihm kam unweigerlich sein elendiger Zustand auf Prem in den Sinn, als ihm eine halbe Ruine um die Ohren flog. Wieder fragte er sich, ob er auch sterben könne.

Bei Gunter handelte es sich um die rechte Hand von Balta. Es war jene unauffällige Person, die sie vor zwei Tagen auf dem Schwarzmarkt in Empfang genommen hatte. Zwischen den ganzen Soldaten wirkte er vollkommen deplaziert, zumal der Mann an seiner Seite, ihn förmlich erdrückte, mit seiner autoritären Ausstrahlung. Die dominante Art, in der er Befehle von sich gab, verriet ihn als Anführer. Ein Offizier namens Dart. Als Eva seinen Namen vernahm, verkrampfte sie innerlich. Sie war ihm vorher nie begegnet, aber für den Tempel war er der personifizierte Antichrist. Der Führer hatte ihn in seiner unnachahmlichen Art für all die Probleme verantwortlich gemacht und ihn zum erbitterten Widersacher aufgebaut. Angefangen mit der Vertreibung aus der Hauptstadt, was natürlich Darts egoistischer und dekadenter Einstellung geschuldet war, über das elendige Dasein, was sie zwang im Wald zu leben, bis hin zu möglichen bewaffneten Konflikten, in denen er in vorderster Front jedes einzelne Tempelmitglied in den Tod schicken würde. Es verging keine Predigt, in der nicht sein Name im Zusammenhang mit Niedertracht und Verrat fiel. Ein Automatismus in ihrem Gehirn lief an und sie hasste diesen Mann aus tiefstem Herzen. Sie fühlte sich zurück versetzt in die Ruine, als sie die Waffe auf diesen Widerling Dirk richtete. Damals ging es um ihr Leben und trotzdem haderte sie mit ihrer Entscheidung. Die Reue über ihre Tat wird sie ein Leben lang begleiten und ein Gefühl der Schande überkommt sie jedes Mal bei dieser eingebrannten Erinnerung. In ihrer Vorstellung ersetzt sie Dirks Gesicht mit dem von Dart und der indoktrinierte Hass gaukelt ihr die Notwendigkeit vom Töten vor. Ihr verdrehtes Unterbewusstsein rechtfertigt das Anwenden von Gewalt und zeigt ihr einen scheinbar bequemen Ausweg. Vor ihr stand kein Mensch. Vor ihr stand das personifizierte Böse und anders als auf Prem, hätte sie keine Skrupel ihn zu töten.

„Gunter, wie ich sehe hast du dir neue Freunde gesucht. Offensichtlich reicht dir das Leben im Überfluss von Geld, Nahrung und Frauen nicht mehr. Glaubst du etwa, du kannst den Laden besser schmeißen als ich.“ Balta klang wenig aufgeregt hinsichtlich des Verrates.

„Wir hatten ja schon immer unsere Differenzen, was das optimieren unserer Profite angeht.“ Gunter antwortete ihm mit buchhalterischer Langeweile.

„Was willst du denn ändern? Drogenschmuggel und Kinderprostitution einführen. Ich habe dich immer gut behandelt. Wir hatten mehr Geld als wir ausgeben konnten, haben uns fette Bäuche angefressen und mit Frauen geschlafen, die uns im Normalfall nicht mal angeschaut hätten. Willst du mehr Geld und Macht? Was nützt es dir in Zukunft am Kopf der Tafel von goldenen Tellern zu essen, wenn du Pädophile oder Leute wie ihn am Tisch sitzen hast.“ Balta klang jetzt aufrichtig enttäuscht.

Gunter antwortete nicht mehr, denn Dart übernahm das Reden. Mit der Entschlossenheit, mit der er die Sache anpackte und die schnellen entscheidenden Maßnahmen, die ihm seine uneingeschränkte Autorität sicherten, ließen Gunter an seiner Seite wie ein ergebendes Hündchen wirken. Die durchtrainierten 1.85m, der keine Zweifel zulassende Gesichtsausdruck, aber vor allen Dingen sein scharfer Kommandoton, unterstrichen seinen Führungsanspruch.

„Genug. Gunter sie kommen mit mir. Welcher ist der mit dem genetischen Schlüssel?“ Kurze knappe Anweisungen und schon sprang ehrfurchtsvoll die halbe Truppe.

„Er kommt auch mit. Doc Sie kommen ebenfalls mit.“ Er ging voran, gefolgt von drei seiner Leute und den aufgerufenen Personen.

Der eingestürzte Fahrstuhl wurde weiter frei gelegt, so dass mit Hilfe einer Leiter der Einstieg in die unterirdisch gelegene Energieversorgung einfacher gelang, als bei ihrem ersten Abstieg. Es herrschte respektvolles Schweigen, dass nur gelegentlich durch kurzes knappes Fragen nach dem Weg unterbrochen wurde.

Sentry fühlte sich wie ein Zootier, dass man in die Manege führte, um seine Kunststücke zu zeigen. Vielleicht würde der Goldesel ein paar Möhren bekommen, wenn er zur Zufriedenheit seines Dompteurs funktionierte, aber seine Freiheit war für immer dahin. Dementsprechend deprimiert folgte er Dart in die Tiefe. Die Trennung von der Gruppe trat sein Übriges. Er hatte sich die letzten Tage an ihre Gesellschaft gewöhnt und das ungewisse Schicksal über ein Wiedersehen, versetzte ihn in Unruhe. In dieser für ihn unbekannten schrecklichen Welt waren sie so etwas wie Freunde für ihn geworden, auch wenn keiner von ihnen ähnliche Gefühle für ihn aufbrachte. Trotzdem brauchte er die Illusion, um nicht endgültig in Angst und Wahnsinn zu verfallen.

Es dauerte nicht lange und sie standen wieder vor dem Kleiderschrank, in dem Eric seinen Selbstversuch gestartet hatte. Dart kommandierte Befehle in sein Funkgerät und zehn Minuten später tauchten einige seiner Leute mit einer weiteren Energiequelle auf. Sie schlossen ein paar Lampen an und plötzlich war die Halle hell erleuchtet. Der bisher dunkle Bereich entpuppte sich als Laborkomplex. In den Trennwänden befanden sich große Scheiben, die den Blick auf komplizierte Gerätschaften freigaben. Selbst einem Laien wie Sentry war klar, dass es sich um außergewöhnliche Spezialgeräte handelte.

Warum sollte man ein Krankenhaus tief unter der Erde bauen? Offensichtlich waren diese Räume nicht dafür gedacht Patienten zu behandeln. Sentry erinnerte sich an eine der Geschichten, die ihnen der Doc auf dem Weg hierher erzählte. Lassik war die Kornkammer der Galaxie. Die Vorfahren gingen sogar so weit, dass sie ihr Getreide genetisch veränderten. Sind sie hier auf eines der Forschungslabore gestoßen? Es würde Sinn machen. Sicherlich waren die Ergebnisse zu der damaligen Zeit hochgeheimes Wissen. Wissen, was solch hohe Sicherheitsmaßnahmen rechtfertigte.

Dart ignorierte die bis an die Decke gestapelte Technologie und steuerte direkt auf die Labore zu. Mit den Händen abgeschirmt, presste er sein Gesicht an eine der Scheiben und entdeckte den Zugang links von sich. Mit Hilfe von Sentrys Fähigkeiten überwanden sie die genetische Sperre und wenige Sekunden später standen sie im ersten Labor.

„Wir hatten eine Abmachung.“ Gunter wirkte alles andere als fest entschlossen Dart mit diesem Einwand zu konfrontieren.

„Nehmen Sie den Plunder da draußen und dann verschwinden Sie.“ entgegnete dieser eher beiläufig. 

„Ohne ihn ist das Zeug nicht viel wert. Wir brauchen ihn.“ Gunter wirkte jetzt deutlich fordernder.

„Wenn ich es für angebracht halte, werden Sie ihn bekommen. Solange bleibt er bei uns.“ Die Verachtung war nicht zu überhören. Gunter war ihm lästig und die Warnung, ihn nicht weiter zu nerven, schwang mit jedem seiner Worte mit.

Hatte Dart Sentry bisher ignoriert und in ihm nicht mehr als ein Werkzeug gesehen, wurde sein Interesse durch den Besitzanspruchs Gunter geweckt.

„Vor zwei Jahren sind wir auf diesen unterirdischen Komplex aufmerksam geworden. Recherchen ergaben, dass es sich hier um ein Forschungslabor der Vorfahren handeln musste. Seitdem haben wir Szenarien entwickelt, wie wir hier reinkommen, ohne dass uns das Alles endgültig einstürzt. Ehrlich gesagt gab es Nichts, was halbwegs viel versprechend war. Das Risiko schien uns immer viel zu hoch. Gerade in dem Moment, indem wir bereit waren das genau jenes Risiko einzugehen, viel uns eine Alternative buchstäblich vom Himmel.“ Er zeigte auf Sentry, als Bestätigung dafür, dass er die Lösung seiner Probleme war.

„Wir waren immer einen Schritt zu spät um euch zu kriegen. Schon die Herkunft der Blutprobe zu ergründen, dauerte zu lange. Dummerweise ist uns der Tempel auch noch zuvor gekommen und die haben es dann ordentlich versaut. Ihre sogenannte militärische Elite hat euch doch erst die Flucht ermöglicht. Unser Spitzel hat sich bedauerlicherweise auch nicht rechtzeitig melden können, sonst hätten wir die Insel einfach überrannt. Euer Fluchtboot haben wir gefunden, wieder ohne euch. Dann hatten wir endlich den Gemischtwarenhändler als den Boten der Blutproben ausgemacht. Wer war nicht da? Ihr. Also ließen wir ihn laufen, in der Hoffnung, dass er uns zu euch bringt. Ein Fehler wie sich im Nachhinein herausstellte. In dem Augenblick, in der unsere gesammelte Inkompetenz das ganze Projekt zum Scheitern bringen würde, da kam Gunter mit seinem Verrat. Stellt euch meine Freude vor, als ich erfuhr, dass ihr ausgerechnet hier her wollt. Nach all den vergeblichen Anstrengungen brauchten wir die Dinge nur noch laufen lassen.“ 

Sentry folgte den Ausführungen mit keiner großen Aufmerksamkeit. Zu viele dieser selbstgefälligen Monologe musste er schon ertragen. Ob Kain, Balta und nun Dart. Das Bedürfnis machthungriger Anführer ihre Erfolge zu glorifizieren, wurde auf die Dauer langweilig und so war es ihm eine Genugtuung dieses Geltungsbedürfnis zu kontern.

„Ich bin noch nicht lange auf dieser Welt, aber scheinbar wollen hier alle am großen Rad drehen. Sie sind nicht der Einzige, der hinter mir her ist und ehrlich gesagt die Tatsache, dass Sie einfach Glück gehabt haben mich zu erwischen, zeugt von nicht viel Talent. Ich gehe davon aus, dass Sie nicht lange Freude an mir haben werden. Also tun Sie das, was Sie tun müssen. Wer weiß, wie viel Zeit Ihnen noch bleibt?“ Die vorlaute Art verfehlte ihre Wirkung nicht. Obwohl Dart keinerlei Regung zeigte, war klar das Sentry tief im Inneren einen wunden Punkt getroffen hatte. Er fühlte sich gut, denn zum ersten Mal hatte er sich gegen einen seiner Besitzer gewehrt. Arroganz ist eine starke Waffe gegen Überlegende und in seiner Situation, in der er unverzichtbar war für Dart, schien es genau das richtige Mittel um zu zeigen, dass er bereit war, mehr als das von ihm erwartete Werkzeug zu sein. Instinktiv wusste er, dass es der richtige Moment war, um Stärke zu zeigen. Der ängstliche Sentry, der auf Reds Schiff das Licht der Welt erblickte, nahm immer mehr Eigenschaften seines geheimnisvollen Vorgängers an. Ein Gefühl von Schizophrenie machte sich in ihm breit. Er musste mental stabil bleiben und das ging nur, in dem er die unbekannte Persönlichkeit in sich genauso akzeptierte, wie den von wenig erfreulichen Erfahrungen geprägten Sentry. Die Herausforderung bestand in der richtigen Zuordnung seiner Instinkte und Eingebungen. Es war eine Frage des Vertrauens an sein unbekanntes Ich. 

„Mir wird es eine Freude sein, die sechs anderen Funktionen zu erforschen.“ erwiderte Dart drohend und degradierte damit Sentry wieder zu einem nützlichen Ding.

„Was haben Sie hier eigentlich vor?“ mischte sich der Doc ein.

„Können Sie was mit diesen Apparaturen anfangen?“ fragte Dart zurück.

 „Pipetten, Reagenzgläser, Elektronenmikroskope, Zentrifugen. Das sieht alles nach Erbgut verändernden Forschung aus. Etwas, was Ihren Horizont weit überschreitet. Selbst wenn Sie das hier alles zum Laufen bekommen würden, gäbe es auf ganz Lassik Niemanden, der auch nur annähernd den Grips dazu hätte, dass Alles zu nutzen. Das Zeug da draußen ist viel wertvoller. Also was wollen Sie damit?“ erwiderte der Doc.

„Lassen Sie das unsere Sorge sein.“ Dart signalisierte ihm damit, dass er an einer Erklärung nicht interessiert war.

Sentry öffnete weitere Labore, die sich nicht grundsätzlich zu dem ersten unterschieden. Es gab jedesmal zwei oder drei Rechnerarbeitsplätze, jede Menge Reagenzgläser, komplizierte medizinische Geräte, dessen Funktion sich einem Laien nicht erschloss, sowie immer mindestens einen Kühlschrank, indem vermutlich Proben aufbewahrt wurden. Der Doc hatte Recht. Selbst wenn das Alles noch funktionieren sollte, wer hätte Interesse an solch kompliziertem Spielzeug.

Zwei Dutzend dieser Labore hatte er freigelegt und auch diese Femtos verlangten ihren Tribut. Offenbar war der Energieverbrauch auf Grund der Menge der zu öffnenden genetischen Verschlüsselungen enorm gewesen. Da Sentry die einzige Energiequelle war, stellten sich bald die gewohnte Müdigkeit und der Hunger ein.

„Ich brauche eine Pause und vor allen Dingen brauche ich Kalorien. Die Dinger sind wahre Energiefresser.“ sagte Sentry.

Dart nickte kurz einem seiner Leute zu und schon war Sentry im Besitz einer Flasche mit rotem Inhalt. Also hatten sie ihm den guten Tropfen überlassen.

„Ruhe gibt es wohl nicht. Dieser unsägliche Gunter verlangt nach den speziellen Fähigkeiten. Bring ihn hin. Er hat dreißig Minuten um seinen Trödel zu aktivieren, dann haben wir unseren Teil der Abmachung erfüllt.“ gab Dart die Befehle und wendete sich ab. Er schien sich damit wieder wichtigeren Dingen zu widmen.

Sentry wurde wieder an die Oberfläche geleitet. Mittlerweile war ein weiterer Flugtransporter auf dem Vorplatz gelandet. Gunters Männer waren dabei ihn mit Gerätschaften zu beladen.

„Ihr habt dreißig Minuten, dann holen wir ihn wieder ab.“ wurde Gunter von Sentrys Begleitung mit größt möglicher Arroganz belegt.

„Die Zeit reicht nie und nimmer.“ protestierte Gunter, was Sentrys Bewachung relativ egal war.

„Dreißig Minuten.“ antwortete er gelangweilt.

„Schnell holt eine Energiequelle und dann legen wir los.“ wies Gunter seine Männer an.

Sentry musste im Akkord arbeiten. Immer wieder wurde er gezwungen seltsam aussehende Gerätschaften zu aktivieren. Nur jedes dritte Gerät funktionierte noch, der Rest war höchstens als Ersatzteilspender tauglich. Mit der Ausbeute war Gunter alles andere als zufrieden. Höchstens ein Dutzend war von wirklichem Wert, als die halbe Stunde rum war.

„Wir brauchen mehr Zeit.“ flehte Gunter.

„Unser Teil der Abmachung ist erfüllt.“ antwortete der Soldat der Inc. und machte keinen Hehl aus seiner Verachtung gegenüber dem kleinen schmächtigen Gunter. Die unterschiedlichen Ansichten über Sentrys Einsatzzeiten ließ die Situation eskalieren. Es war unmöglich zu erkennen, welche der beiden Parteien zuerst die Waffen im Anschlag hatten, jedenfalls standen dem halben dutzend Männern aus Gunters Gefolge, zehn Soldaten der Inc. gegenüber. Als Zankapfel stand Sentry genau zwischen den Fronten und die Wahrscheinlichkeit bei einem Blutbad ohne Treffer davon zu kommen, war ziemlich gering. In Sentry wurde der Drang sich hinzulegen immer größer, doch er wollte nicht der Funken sein, der die angespannte Situation zur Explosion bringt, also vermied er jegliche Bewegung.

„Es hieß wir brauchen mehr Zeit.“ zischte einer von Baltas ehemaligen Söldnern den Anführer der Inc. Soldaten an und zeigte damit die Entschlossenheit, die Gunter fehlte.

„General Dart, Ihre Anwesenheit hier oben ist unbedingt erforderlich.“ raunte einer der Soldaten in sein Funkgerät, ohne dabei auch nur einen Moment Augen und Waffen von seinem Gegenüber zu lassen.

Es dauerte elendig lange fünf Minuten bis Dart auftauchte. Zeit, in der jeder bestrebt war keinen Grund für ein Massaker zu liefern. Es schien fast so, als ob derjenige verlieren würde, der sich zuerst bewegt. So stand jeder regungslos da, wartend auf den Erlöser in Form von Dart.

„Soldaten die Waffen runter.“ brüllte dieser, sobald er die Situation erkannt hatte. Alle schienen sich zu entspannen, trotzdem belauerte man sich gegenseitig.

„Gunter, zum ersten Male in ihrem Leben zeigen Sie Biss. Muss das ausgerechnet mir gegenüber sein. Das könnte sich noch als großer Fehler erweisen.“ Dart war bemüht seinen Zorn zu unterdrücken.

„Ich brauche einfach mehr Zeit mit ihm. Das muss doch zu machen sein.“ Gunter zeigte auf den sichtlich geschwächten Sentry.

„Na gut. Dann lassen Sie uns verhandeln. Was haben Sie anzubieten.“ fragte Dart den verdutzten Gunter.

„Sie wollen mehr Zeit, also müssen Sie mir was bieten.“ fuhr er fort.

„Wie wäre es mit deinem Leben?“ hakte wieder Baltas ehemaliger Legionär ein und richtete seine Waffe auf Dart. Sofort waren sämtliche Waffen im nahen Umkreis wieder im Anschlag.

„Vielleicht sollte ich mit Ihnen verhandeln.“ Dart zeigte sich wenig beeindruckt durch die drohende Gefahr.

„Meine Herren, ich hätte da etwas, was uns neue Möglichkeiten aufzeigt.“ mischte sich Balta ein. Die Gefangenen standen etwas abseits, trotzdem hatten sie die ganze Situation mitbekommen.

„Was könnte das wohl sein?“ Dart wirkte genervt. Balta gesellte sich zu Sentry in die Mitte des Geschehens. Er streckte seinen rechten Arm aus. Die geschlossene Faust zeigte nach oben und verbarg den metallischen Körper nur halbherzig. Er öffnete sie und zum Vorschein kam eine Betäubungsgranate.

„Verdammt, wir haben dich doch durchsucht. Wie konntest du die vor uns verheimlichen?“ Baltas ehemaliger Legionär war sichtlich überrascht.

„Die Soldaten der Inc. sind konditioniert gegen solche Art von Waffen. Wenn jemand die Betäubung am besten wegsteckt dann meine Leute. Wollen wir wetten, wer als erster wieder steht. Ich tippe auf den Leutnant. Der hat sich in den Übungen als sehr robust erwiesen. Also los lassen Sie sie fallen.“ Dart strahlte eine Gelassenheit aus, als würde diese Granate nichts am Ausgang dieses Konflikts ändern.

Balta drehte sich zu Sentry.

„Enttäusche mich nicht.“ flüsterte er noch, dann ließ er sie fallen.

Die Granate hatte den halben Weg zum Boden bereits zurückgelegt, als Sentry der letzte Satz bewusst wurde. Die Femtos, vermutlich die, welche den Trick mit der Selbstheilung drauf hatten, würden auch irgendwie dafür sorgen, dass was immer auch gleich passieren würde, für ihn weitaus weniger unangenehm wird, als für alle anderen Anwesenden. Die Frage war nur. Woher wusste Balta von ihnen? Mit welchen Aktionen hatte sich Sentry verraten? Es blieb keine Zeit um nachzudenken, zumal die Reaktion von Dart, dem praktisch im selben Moment bewusst wurde, dass die Nanotechnologie ihn gerade ins Hintertreffen bringen würde, weitaus amüsanter war. Sentry schaffte es leider nicht mehr ein überlegenes Lächeln in seine Richtung zu schicken. So eins mit der Aufschrift „Ich habe es dir ja prophezeit“.

Als sie aufschlug, passierte im ersten Moment gar nichts. Sie rollte einfach noch ein paar Zentimeter und blieb dann ohne jeglichen Effekt liegen. In dem Augenblick, als alle glaubten, dass Ding wäre ein Blindgänger, versagten nicht nur bei Sentry sämtliche Muskeln. Was immer auch dieses Mistding mit ihnen machte, es sorgte dafür, dass jeder im nahen Umkreis förmlich in sich zusammen sackte. Er sah noch wie einer der Soldaten mit dem Kopf auf den Transporter knallte, als auch seine Wahrnehmung aussetzte. Seinen eigenen Aufprall erlebte er nicht mehr bewusst mit, aber er hatte eine Sicherheit. Sollte er sich irgendwie wehtun, wäre das im Hand umdrehen wieder geheilt.

Da war es wieder dieses Eichhörnchen, was ihn auch schon auf Reds Schiff ins Leben zurück begleitet hatte. Es saß einfach nur da und schien ihn mit seinen Knopfaugen zu verspotten. Sentry wollte nach ihm greifen, es schütteln und würgen und für all den erlittenen Schmerz verantwortlich machen, aber er war gar nicht vorhanden. Kein Körper, keine Arme, keine Hände. Nichts, womit er diesem Mistvieh hätte den Garaus machen können. Dieser verdammte Nager grinste ihn mit jener Selbstsicherheit an, die Sentry die Lächerlichkeit seines Vorhabens aufzeigte. Konzentration. Das hat schon mal geholfen. Beherrsche es. Vertreibe es. Wach auf.

Der Übergang in die Realität war durch das Fehlen der Drogen diesmal kurz und schmerzlos. Sentry war sofort betriebsbereit. Einzig das erneute Auftauchen seines nagenden Freundes ließ ihn kurz inne halten. Was hatte es mit diesem Nagetier auf sich? Es kann unmöglich Zufall sein, dass er wiederholt seinen Geist verwirrt. Welche Geschichte verarbeitet er mental damit? Ihm blieb nicht viel Zeit zum Grübeln, denn Balta saß neben ihm.

„Wusste ich es doch. Los komm. Wir haben nicht viel Zeit. Du musst mir helfen, sie zu entwaffnen und zu fesseln.“ trieb Balta ihn an und verschwand in ihrem Transporter.

Sentry brauchte nicht lange, um die Anweisungen zu verstehen. Sie hatten jetzt einen Vorteil, der nicht lange anhalten würde. Also stand er auf und fing an den nächst liegenden Soldaten zu durchsuchen. Neben dem Gewehr besaß dieser zwei Pistolen und zwei Messer. Die Vielzahl der Waffen ließ ihn zweifeln, ob er wirklich alles gefunden hatte, aber er hatte keine Zeit. Da lagen noch ein Dutzend Leute vor ihm, die alle noch entwaffnet werden mussten.

Balta tauchte wieder auf, drückte ihm ein Bündel Kabelbinder in die Hand und begann ebenfalls einen der Soldaten zu durchsuchen.

„Ich habe einen guten Grund warum ich wieder stehe, aber was ist mit dir?“ Sentry war neugierig, warum die Granate keine Wirkung auf Balta zeigte.

„Nicht jetzt. Wir müssen das hier erst erledigen. Dann erkläre ich dir alles.“ antwortete Balta und schmiss eine weitere Pistole auf den bereits ansehnlich gewachsenen Waffenhaufen.

„Warum sollte ich dir trauen?“ er kramte mittlerweile das dritte Messer bei seinem derzeitigen Soldaten hervor.

„Vielleicht sind die Dinge bisher nicht so gelaufen wie du das gerne gehabt hättest, aber eines kannst du mir nicht vorwerfen, dass ich dich hintergangen hätte. Jetzt wo Gunter mich verraten hat, habe ich keine viel versprechende Zukunft auf Lassik. Also vertraue mir, ich bin die beste Option, wenn du von diesem Planeten runter willst.“ Er war gerade fertig Dart zu fesseln.

„General bitte kommen“ tönte das Funkgerät. Die beiden Soldaten, die gemeinsam mit dem Doc in den Laboren zurückgeblieben waren, hatte Sentry vollkommen vergessen.

„Die beiden übernehme ich. Mach du das hier fertig.“ Damit verschwand Balta und Sentry war allein.

Er schaffte es gerade noch rechtzeitig die verbliebenen Soldaten zu entwaffnen, bevor sie wieder zu sich kamen. Getrennt nach Inc. und Gunters Trupp, saßen sie gefesselt vor ihren jeweiligen Transportern. Das ungute Gefühl nicht alle Waffen gefunden zu haben, ließ ihn vorsichtig bleiben. Dina und Eva kamen wieder zu sich und Sentry klärte sie über die Situation auf. Wenigstens bewachten nun sechs Augen die Gefangenen, bis Balta wieder zurückkehren würde.

„Lass uns einen der Transporter nehmen und hier abhauen. Der Kerl kommt auch ohne uns ganz gut klar.“ sagte Dina.

„Ich denke wir haben bessere Chancen mit ihm. Er kennt sich hier aus. Er bringt uns hier weg. Ich vertraue ihm.“ erwiderte Sentry.

„Im Sinne unseres Paktes muss ich dich warnen, dass du einen Fehler begehst.“ Wieder legte sie diese Abmachung allein zu ihrem eigenen Vorteil aus. Was sollte er tun? Die Abwägung aller Fakten brachte ihn nicht weiter. Dina oder Balta? Es fühlte sich einfach falsch an diesen Transporter zu besteigen und Balta im Stich zu lassen. Klar würde der zu Recht kommen, aber da war noch mehr. Ihn faszinierte die Art mit der Balta die Dinge anging. In dem Wellengang des Wahnsinns, den er bisher erlebt hatte, schien er die richtige Methode gefunden zu haben, um dem Schlimmsten zu trotzen oder auszuweichen. Vielleicht hatte Dina Recht und es war ein Fehler, aber er konnte nicht gegen seine innere Überzeugung.

„Ich bleibe.“ sagte er konsequent.

„Na toll. Kommst du mit?“ Dina wandte sich an Eva.

„Nein. So lange die Chance besteht, dass da unten etwas ist was meiner Schwester hilft, bleibe ich.“ antworte diese. Jetzt war es an Dina ihre Entscheidung zu treffen.

„Ihr seid verrückt. Wer weiß, wie viel Möglichkeiten es noch gibt?“ Sie zauderte. In dem Moment tauchte der Doc aus einem der Gebäude auf. Irgendwas erregte ihn enorm.

„Verdammter Balta. Tötet sie, als wären sie irgendwelche Insekten, die man einfach zertretet.“ Der Doc war sichtlich erbost. Sein Hemd war rot vom Blut der Soldaten.

„Lieber Doktor, es gab keine Alternative.“ rechtfertigte sich Balta ein paar Schritte hinter ihm.

„Ich wusste nicht, dass Ihnen ein Menschenleben so wenig wert ist. Was ist nur aus dieser Gesellschaft geworden?“ der Doc schüttelte ungläubig den Kopf.

„Doc, haben Sie dort unten etwas gefunden, was meiner Schwester weiterhelfen kann?“ Eva schaffte es mit dieser Frage den Doktor von dem gerade Erlebten abzulenken.

„Es sind so viele Gerätschaften da unten. Bisher ist nichts Brauchbares dabei. Wir haben allerdings auch erst einen Bruchteil untersucht.“ Er hatte seinen Tonfall von Ärger auf Sorge umgestellt.

„Dann müssen wir wieder da runter. Weiter suchen.“ Eva klang verzweifelt, wie jemand dem die Zeit davon läuft.

„Kindchen.“ Der Doc griff sie an beide Oberarme, so dass sie jetzt direkt vor ihm stand und gezwungen war ihn anzuschauen. Eva blickte ihm tief in die Augen und was sie sah, ließ sie in Tränen ausbrechen. Dieser Blick voller Mitleid machte sie wütend und traurig zu gleich. An ihrem einzig verbliebenen Daseinszweck, der Heilung von Freya, würde sie scheitern. Sie wollte nicht aufgeben. Ein Mal in ihrem Leben würde sie das Richtige tun. Was weiß dieser Arzt schon? Es wird eine Rettung geben, es muss eine geben.

„Geh zu ihr und sei bei ihr in den letzten Momenten ihres Lebens. Das ist das Einzige, was du noch für sie tun kannst. Selbst wenn wir da unten was finden, es ist zu spät.“

„Nein. Ich gebe nicht auf. Das kann nicht umsonst gewesen sein. Ich habe verraten und getötet, alles nur für sie. Ich lasse sie jetzt nicht einfach sterben.“ Sie schrie den Doktor förmlich an, so als würde es seine Meinung ändern, je lauter sie ihm widersprach. 

„Eva.“ Es war Dina, die mit einer ungewohnt ruhigen Stimme ihre Aufmerksamkeit auf sich zog.

„Der Doktor hat Recht. Glaube mir, ich weiß wovon ich spreche. Nutze jeden verbleibenden Augenblick mit ihr.“

Zu viel Chaos war in Evas Kopf. Da war die Stimme, die nicht aufgeben wollte. Sie schrie am lautesten. Dann war da die Vernunft, die Dina Recht gab und sie eher mit sanften und versöhnlichen Worten verführte. Und dann war da noch die Angst, die heimtückisch im Hintergrund auf ihre Chance lauerte. Bilder des entstellten Körpers ihrer Schwester waren die Argumente und ihre Furcht einflößende Wirkung blieb nicht aus. Die Versuchung der Einfachheit alles zu ignorieren war bittersüß. Sie war unfähig eine Entscheidung zu treffen. Zu lange wurde ihr Handeln von anderen beeinflusst. 

 

 

 

XI

„Es gibt Gefahren, denen zu entfliehen nicht Feigheit ist, sondern höchster Mut, die Kraft sich selbst zu besiegen.“

Berthold Auerbach

 

 

„Du hast Femtos im Blut. Die Selbsheilenden. Habe ich Recht?“ Sentry konnte sich nicht irren. Die Anzeichen waren eindeutig. Es gab keine andere Erklärung.

„Kleine Kobolde, Roboter und nun Femtos. Ganz einfach Nanotechnologie. Ja, ich habe sie, aber lange nicht so coole wie deine.“ Balta antwortete, als wäre es das Normalste von der Welt. Durch die Gewissheit überschlugen sich Sentrys Gedanken. Tausend Fragen schwirrten in seinem Kopf kreuz und quer. Nein eher zehntausend Fragen, aber er war unfähig auch nur eine zu formulieren. Hier stand jemand vor ihm, der das eigentlich rare Gut der Nanotechnologie in sich trug. Wahrscheinlich gab es Einen auf einer Milliarde, der so was hatte. Konnte es Zufall sein, dass gerade auf einem Planeten wie Lassik zwei dieser Auserwählten aufeinander trafen?   

„Ich habe mich schon immer gefragt, wie Sie ihr blendendes Aussehen halten konnten. Jetzt wird mir einiges klar.“ Der Doc wirkte wieder wenig beeindruckt, aber mittlerweile war klar, dass er nur eine gute Selbstbeherrschung besaß. Zuviel hatte er in den letzten Stunden erlebt, als das es keinen großen Eindruck hinterlassen hätte.

„Woher?“ Sentry war unfähig eine zusammenhängende Frage zu stellen. Dass er überhaupt dieses Wort hervorbrachte bei dem Chaos in seinem Kopf, überraschte ihn selber.

„Ich habe sie erworben. Es war Teil eines Geschäfts.“ antwortete Balta.

„In welchem Kaufmannsladen gibt’s denn so was zu kaufen?“ fragte der Doc skeptisch.

„Die sind nicht einfach übertragbar. Sie müssen genetisch angepasst werden. Die Sache ist also ein wenig komplizierter, als sie einfach nur zu kaufen.“ Sentry zwang sich zu klarem Denken. Er stand kurz vor ein paar wichtigen Antworten. Ihm durfte nichts entgehen, bloß weil er sich nicht richtig konzentrieren konnte.

„Wie so oft ist Vorfahrentechnologie der Schlüssel.“ blieb Balta weiter geheimnisvoll. Was hatte Red damals gesagt? Er wüsste, wo er die Femtos für sich nutzbar machen könne. Offenbar gab es einen Ort, an dem man die Dinger duplizieren konnte.

„Woher hatte es der Verkäufer?“ präzisierte Sentry seine Frage.

„Vermutlich aus der selben Quelle wie du.“ antwortete Balta nichts sagend. In Sentry stieg die Wut hoch.

„Ich verstehe deine Ungeduld, leider kann ich dir auch nicht viel über das Geheimnis der Nanotechnologie sagen. Nicht, weil ich es nicht will, sondern weil ich es nicht weiß. Was ich dir anbieten kann, ist dich dort hin zu bringen, wo ich sie bekommen habe.“ Sentry musste sich beherrschen. Balta wand sich, dass war ihm klar. Leider waren Zeit und Ort nicht geeignet, um eine Eskalation zu riskieren. Sie waren noch nicht in Sicherheit. Vielleicht war die Verstärkung der Inc. schon unterwegs. Zusammenhalt war jetzt wichtig, um zu entkommen.

„Na gut und als Gegenleistung willst du vermutlich die Türöffner.“ erwiderte Sentry.

„Lass uns die Vertragsverhandlungen später diskutieren. Wir müssen hier erstmal weg und dann runter von diesem Planeten.“

„Du kannst uns hier weg bringen?“ hakte Dina ein. Damit hatte es Balta endgültig geschafft von der Nanotechnologie abzulenken. Zum Beweis dafür, dass er das Thema vorerst für erledigt hielt, ließ er sie stehen und ging zu dem immer noch betäubten Eric rüber. Er holte ihn unsanft aus seiner Bewusstlosigkeit und wies ihn an zur Gruppe zu gehen.

„In fünf Minuten sind wir hier weg. Wir nutzen Gunters Transporter.“ Balta war jetzt wieder in der Rolle des Anführers, was Dina mit einem Murren zur Kenntnis nahm. Immerhin würden sie diesen verdammten Planeten bald verlassen.

„Du kommst auch mit uns. Wir haben noch einiges zu klären.“ Balta packte Gunter am Kragen und schleifte ihn zum Transporter rüber.

Nachdem sie den Inc-Transporter unbrauchbar gemacht hatten, verließen sie die Station. Beim Flug in die untergehende Sonne schaffte es Sentry erstmals seine Gedanken zu ordnen. Die ganze Geschichte hatte eine vollkommen neue Wendung genommen. Kein Raumschiff, die Chancen dafür waren von vorn herein sehr gering. Immerhin hatte Balta seinen Teil der Abmachung eingehalten und sogar sie raus gehauen, gegen seine eigenen Leute. Vermutlich stand nur Eigennutz dahinter, denn in dieser Welt gab es so was wie Solidarität nicht. Trotzdem vertraute er ihm weiterhin und das nicht nur, weil die Femtos sie verbanden. Dahin gehend würde er noch ein paar Worte mit ihm wechseln müssen, denn bisher hielt sich Balta auffallend bedeckt. Wieder einmal bekam er mehr neue Fragen als Antworten serviert. Es wird Zeit das Verhältnis umzudrehen. Sein Selbstbewusstsein wuchs mit jedem Tag, den er überlebte. Nach all den vergeblichen Versuchen ihn und seine Fähigkeiten zu bekommen, wurde das Gefühl nichts und niemand könne ihm was anhaben zur trügerischen Gewissheit. Kein Grund unvorsichtig zu werden, denn er hatte eine ordentliche Portion Glück gehabt.

Sobald sie in der Luft waren, meldete sich die Flugkontrolle. Gunter konnte glaubhaft vermitteln, dass sie mit Genehmigung der Inc. unterwegs waren. Eine eventuelle Rückfrage bei Dart hätte ein schnelles Ende ihres Fluges zur Folge, aber der Rückweg war deutlich kürzer und daher war die Hoffnung die Hauptstadtinsel unbehelligt zu erreichen durchaus realistisch. Dem über zwanzig Stunden mühseligen Hinweg, standen gerade mal fünfzehn Minuten Flugzeit zurück gegenüber. In der Gewissheit von der Flugkontrolle überwacht zu werden, landeten sie den Transporter, sobald sie die Küste erreicht hatten. Von hier aus mussten sie zu Fuß weiter und das in tiefster Dunkelheit. Kein Mond stand am Himmel, der ihnen wenigstens spärliches Licht spendete.

Das Vorankommen war mühsam, was einerseits an der vollkommenen Finsternis lag und anderseits auch am Doc, der in seinem fortgeschrittenen Alter selbst dem verminderten Tempo nicht mithalten konnte. Balta zögerte ihn zurückzulassen. Erst als verschiedene beleuchtete Flugobjekte am Himmel in Richtung Landeplatz ihres Transporters unterwegs waren, rang er sich durch getrennte Wege zu gehen. Die Verabschiedung war kurz. Eine knappe Respektbezeugung in Richtung Balta und jeweils ein distanziertes Nicken für die Übrigen. Nur Eva bekam die ganze Herzlichkeit zu spüren, die sie förmlich überrumpelte. Sie kannte diesen Mann nicht und trotzdem schaffte er es ein lang verlorenes Gefühl in ihr zu wecken. Unbewusst verglich sie die offenen gutmütigen Empfindungen des Doktors, mit den ersten Begegnungen des Führers. Damals war sie blind den süßen, wärmenden Worten gefolgt. Ein Fehler wie sich Jahre später herausstellte. Trotzdem hielt sich ihr Misstrauen dem Doktor gegenüber in Grenzen. Seine Gesichtszüge vermittelten eine ungewohnte Aufrichtigkeit. Sie zweifelte nicht am Doktor. Was ihr zu schaffen machte, war ihre innere Barriere, die ihre emphatische Entscheidungsfähigkeit abschnitt und alle Eindrücke in vorgefertigte Schubladen zuordnete. Ihr Unterbewusstsein wusste, dass ihr hier ein großes emotionales Geschenk gemacht wurde, aber ihre Konditionierung verhinderte die Würdigung eines solchen Ereignisses. Der Tempel hatte sie seelisch verstümmelt, aber die Erkenntnis, dass der Fehler in ihrem eigenen mentalen System lag, machte Hoffnung auf eine teilweise Wiederherstellung ihrer geistigen Normalität. Die Gemeinschaft würde immer ein Teil ihres Lebens bleiben, wichtig war es die Ereignisse im Nachhinein richtig einzuordnen. In ihrem noch jungen Alter fehlte ihr eine brauchbare Referenz. Nur neue Erfahrungen würde die Vergangenheit im richtigen Licht erscheinen lassen, aber das benötigte seine Zeit.

Sie schlichen weiter Richtung Hauptstadt. Da nun auch einer der Monde aufgegangen war, kamen sie etwas zügiger voran. Auf dem Weg erklärte ihnen Balta ihr Ziel. Ein interstellares Handelsschiff würde sie fort bringen von Lassik. Er hüllte sich in Schweigen, welche Beziehungen er anzapfen würde. Ihnen blieb nicht viel Zeit für eine geeignete Auswahl, aber so wie Sentry Balta einschätzte, hatte dieser bereits die passenden Vorkehrungen getroffen. War nur die Frage, ob sein Fluchtplan für mehr als eine Person vorgesehen war.

Es dauerte nicht lange und sie erreichten die ersten Ruinen. Am Anfang unbeleuchtet und nur als Silhouette im Mondlicht erkennbar. Je näher sie dem Zentrum kamen umso mehr häuften sich die Lichtquellen. Einzelne Feuer gingen nach und nach über in elektrisches Licht. Waren am Anfang wenig Menschen in den Ruinen ersichtlich, gab es mit zunehmender Zivilisation immer mehr Bewegung in den verfallenen Gassen. Sentry kannte bereits das Szenario der steigenden Lebensqualität, je näher sie ins Zentrum vorrückten, doch hier war das Bild anders. Selbst zusammengebaute Hütten, von denen vermutlich jede zweite einem größeren Windstoß nicht standhalten würde, standen an den Stellen, wo die einstmals prächtigen Gebäude der Vorfahren bis auf die Grundmauern abgerissen wurden. Das Material wurde für die Provisorien verwendet, welche die heutigen Einwohner ihr Zuhause nannten. Im besten Fall bestanden die Hütten aus verrotteten Ziegeln. Überwiegend waren die Verschläge allerdings aus Wellblech, die eingerahmt wurden aus zeltähnlichen Behausungen, denen man die begrenzte Haltbarkeit förmlich ansah. Also führte sie ihr Weg durch den Slum der Hauptstadt, bewohnt von Leuten deren Habseligkeiten in eine Hosentasche passten. Die wenigen verbliebenen Hochhäuser waren Sammelpunkte für mehr oder weniger legale Geschäfte. In Baltas Revier des Schwarzmarktes befand sich die Kriminalität in geordneten Bahnen. Es stand zu befürchten, dass an diesem Ort das Gesetz des Dschungels herrschte. Derjenige mit der größten Waffe machte die Regeln. Zum Glück hatten sie sich ordentlich bedient an den Truppen der Inc.

Ihr Ziel war der Raumhafen und Sentry zweifelte mehr als einmal diesen unbeschadet zu erreichen. Was zum Teufel suchten sie in dieser Gegend? Zu allem Unglück fielen sie auch noch auf. Ihr Aussehen passte nicht zu dem verlumpten Äußeren der Menschen, die ihnen entgegen kamen. Die Dunkelheit konnte ihre bessere Herkunft gut verbergen, erst mit der Annäherung auf wenige Meter an die örtliche Bevölkerung wurden sie zur potentiellen Beute für herumlungernde Kriminelle. Besonders Eva und Dina mit ihren blonden Haaren würden die Hemmschwellen männlicher Bewohner für einen Überfall auf ein Minimum schrumpfen lassen. Die Angst trieb sie an schneller zu gehen. Balta steuerte auf eine der wenigen übrig gebliebenen Ruinen zu. Der einzige brauchbare Teil war das Erdgeschoß. Alles oberhalb bestand nur noch aus vereinzelten Mauerresten. Das Gebäude sah bedrohlich aus und jeder Zeit konnten weitere Teile abstürzen. Trotzdem sah sich niemand dazu gezwungen, dem Unvermeidlichen entgegenzuwirken. Es wäre halt Pech, würde man von Bruchteilen erschlagen werden.       

Die Anspannung stieg weiter und kurze Zeit war sich Sentry nicht mehr sicher, ob Balta wirklich wusste, was er tat. Das Gefühl dem Silbertablett die letzte Politur zu geben, um möglichst attraktiv für gewaltsame Übergriffe zu erscheinen, verstärkte sich noch, als sie auf eine Gruppe übel dreinschauender Gesellen zusteuerten. Diese waren sichtlich überrascht über die offensive Einstellung.

„Du. Ich muss mit dir reden.“ Balta ließ keinerlei Selbstzweifel in seiner Stimme zu.

„Ach ja.“ Mehr brachte der überraschte Angesprochene nicht hervor. Seine Sachen waren genauso schmutzig, wie die seiner Kameraden, aber der Verschleiß in Form von zerrissenen Hosen oder Schuhen war bei ihm weniger ausgeprägt. Offenbar machte ihn der bessere Kleidungsstil zum Anführer dieser Gruppe.

„Was willssst duu?“ Eine Reihe von Zahnlücken und ein angeborenes Talent zum Nuscheln ließen ihn wenig verständlich rüber kommen.

„Dir ein Geschäft vorschlagen.“ antwortete Balta mit keinerlei Angst und keinerlei Arroganz gegenüber dem sichtlich begrenzten Intellekt seines Gegenüber.

„Was?“ kam es begriffsstutzig zurück. Sie waren zu sechst, bewaffnet ausschließlich mit Knüppeln und Stöcken. An ihren Reaktionen war deutlich zu erkennen, dass sie kurz davor standen diese auch einzusetzen. Der Durst nach Vergeltung für die miesen Karten, die ihnen das Leben zugespielt hatte, sollte in einem kurzen Blutrausch an den dreisten Eindringlingen gestillt werden.

„Hey, hey, hey.“ versuchte Balta die Gruppe zu beruhigen.

„Lass uns reden bevor ihr von uns niedergeschossen werdet.“ Er zog seine Pistole, vermied es allerdings sie auf einen seiner potentiellen Angreifer zu richten. Darauf hin erntete er das denkbar furchtbarste Lächeln, das sein Gegenüber mit seinen letzten verbliebenen Zähnen noch hinbekam.

„Bei deinem Zahnarzt würde ich jede Form von Grinsen vermeiden.“ entfuhr es Dina.

„Klappe.“ fuhr Balta ihr über den Mund. Bevor Dina die passenden Widerworte fand, wurde ihr bewusst, dass da nicht nur sechs Gestalten waren. Wie aufgescheuchte Ratten kam plötzlich Bewegung in die Umgebung. Hinter Wänden, Mauervorsprüngen und halb verfallenen Gängen kamen weitere Knüppelbesitzer zum Vorschein. Sentry schätzte, dass sie ihnen mindestens eins zu fünf überlegen waren und das waren nur die, die sie sehen konnten.

„Na gut. Lass uns reden bevor ich dich niederschieße.“ Balta war immer noch ohne Angst. Eine Eigenschaft, mit der er ziemlich alleine dastand. Jetzt richtete er seine Waffe gezielt auf den Anführer.

„Dieses Gewehr, was mein Freund dort bei sich trägt. Es soll dir gehören. Du bekommst hundert Schuss Munition dazu. Alles was wir wollen ist deinen Schutz.“ Es war förmlich erkennbar, dass selbst so einfache Entscheidungen seinen Gesprächspartner überforderten.

„Ich mache dir die Wahl einfach. Entweder bekommst du dieses Gewehr, bist weiterhin die Nummer eins und keiner kann dir mehr was mit dieser schönen Waffe oder du metzelst uns alle nieder, bist dann vermutlich aber der erste, der mit einem Loch im Kopf zu Boden geht. Dann wird dein Kumpel neben dir der neue Gewehrbesitzer und macht all die schönen Sachen, die du hättest machen können, wenn du das Gewehr angenommen hättest.“ Balta schaute ihm tief in die Augen.

„Gib ihm das Gewehr, aber ungeladen.“ zischte er zu Sentry rüber. Dieser entlud es, deaktivierte die genetische Sicherung und gab es seinem neuen Besitzer.

„Die Munition bekommst du, wenn wir im Raumhafen sind. Wir wollen nur deinen Schutz. Sind wir im Geschäft?“ Er hielt ihm die freie Hand hin, die gering schätzend ignoriert wurde. Balta wurde uninteressant, dafür rückte Eva in das Blickfeld. Offenbar sollte sie Bestandteil der Vereinbarung werden.

„Sie bleibt.“ sagte er kurz als würden ihn weitere Worte intellektuell überfordern. 

„Keine Chance. Die Bedingungen sind nicht verhandelbar.“ antwortete Balta weiterhin selbstbewusst und ruhig, immer noch die Waffe auf ihn richtend. Sein Gegenüber zögerte kurz, drehte sich zu seinen Männern und kläffte etwas vollkommen Unverständliches in ihre Richtung. Diese entspannten sich zusehends, was darauf hindeutete, dass sie eine Übereinkunft hatten.

„Gut. Ich werte das mal als Zustimmung. Bis zum Raumhafen brauchen wir den Geleitschutz.“ sagte Balta.

Eva kannte den Slum nur von den Erzählungen einiger Tempelbewohner. In der Anfangszeit der Bewegung, als man noch weniger nach elitärer Auswahl gegangen war, sondern der eigentlichen Idee mehr Aufmerksamkeit schenkte, war der Slum ein idealer Hort für die Neurekrutierung von Mitgliedern. Der Führer höchst persönlich begab sich hierher, um verlorene Seelen in den Schoß des Tempels zu überführen. Irgendwann musste er sich mit den Bewohnern überworfen haben, denn von einem Moment auf den anderen wurde es zu gefährlich für einen Besuch. Offiziell hieß es, dass die Erleuchtung verirrter Wesen in den Reihen des Bürgertums verstärkt würde, da im Slum bereits alles menschenmögliche getan wurde. Der wirkliche Grund blieb außerhalb der Reihen des Tempels. Auch Eva wusste nicht was vorgefallen war und in der Atmosphäre von Angst und Denunziation war es nicht besonders ratsam ihre Neugierde zu befriedigen. Trotzdem gab es verschiedene Informationen, die ehemalige Einwohner in beiläufigen Bemerkungen erwähnten. Alles was ihr zu Ohren gekommen war, ließ auf einen höllischen Ort schließen. Der Slum war eingegrenzt von Stacheldraht und teilweisen Mauerwerk. Nur zur Küste hin gab es keine Beschränkung, was einige Anwohner nutzten um Schmuggelware über das Wasser hereinzuschleusen. Die Bewohner wuchsen ohne Schulbildung, Perspektive und Möglichkeiten auf. Dementsprechend herrschte ein Klima aus Armut, Hunger und Gewalt. Tägliche Nahrungslieferungen sorgten für die notwendigsten Bedürfnisse. Natürlich waren Aufstände nicht vermeidbar, aber bisher wurden sie von der Inc. erbarmungslos niedergeknüppelt. Raus kam nur, wer einen Wohnsitz nachweisen konnte oder als Tagelöhner innerhalb der Stadt gebraucht wurde. Bewacht wurde alles von den Soldaten der Inc., die sich aber hüteten innerhalb des Stacheldrahtes aktiv zu werden. Offiziell war es ein Vorort, wie viele andere auch. Keine Erwähnung in den Medien über die katastrophalen Zustände und das obwohl jeder wusste, was da vor den Toren der Hauptstadt vor sich ging. Die Augen blieben verschlossen vor dem, was nicht seien durfte. Zu sehr war die Bevölkerung mit ihren eigenen Problemen beschäftigt.

Der Raumhafen befand sich unmittelbar an den Grenzen und wurde dementsprechend stark gesichert. Mit der beschlossenen Vereinbarung konnten sie sich unbehelligt ihrem Ziel nähern. Am Ende würde die Frage stehen, wie sie ihre Flucht von dem Planeten vollenden wollten. Der Weg durch den Slum war die beste Art und Weise voran zu kommen, immer unter der Vorraussetzung, dass ihre Bewacher sich nicht doch noch entschlossen den von Balta aufgezwungenen Pakt zu brechen. Das offensichtliche Interesse an Eva versetzte diese in eine leicht panische Aufregung. Würde die Sache nicht gut ausgehen, wäre sie die große Verliererin in Baltas Poker.

Sie hetzten durch die Gassen. Ein Wildwuchs an Wellblechhütten, wahllos errichtet an Plätzen, die ihre Bewohner für geeignet hielten. Ihr Weg führte sie quer durch Müllberge aus Plastik, die rechts und links der Pfade aufgehäuft standen, als würden sie ihren Führern den passenden Weg weisen. Ohne großartige Orientierung folgten sie den düsteren Gestalten, immer in der Hoffnung nicht in eine vorgefertigte Falle zu geraten. Erst jetzt registrierte Eva, wie viele Menschen auf diesem engen Raum lebten. Lange Zeit hielt sie die Beschreibungen im Tempel über diesen Ort als übertrieben, aber jetzt, wo sie hier war und sich verstärkt durch Angst ein eigenes Bild von den Zuständen machen konnte, kam ihr ihr eigenes bisheriges Leben vor wie der pure Luxus. Hier gab es keinen Ausweg. Die Menschen wurden hier geboren, lebten mit permanenter Gewalt und starben entweder an Krankheiten oder einem eingeschlagenen Schädel. Mit ihren knapp 25 Jahren lag sie vermutlich über der durchschnittlichen Lebenserwartung. Das Universum dieser Bewohner endete an dem Stacheldrahtzaun und mit derselben Unwahrscheinlichkeit, wie Eva auf einen anderen Planeten gelangen würde, war es für die Leute hier drin unmöglich den Zaun zu überwinden. Dina hatte Recht. Ihre Heimat war ein Drecksplanet, egal ob im Tempel, in der Stadt oder im Slum. Der einzige Unterschied lag in der Abstufung des Elends, wobei selbst die beste Stufe keine Garantie auf volle Mägen war. Lassik war eine Welt ohne Zukunft.

Der Einzige, der Probleme hatte dem verschärften Tempo zu folgen, war Gunter. Das gute Leben als Nummer zwei in Baltas Reich hatte ihn faul und träge werden lassen. Der Kollaps war nur eine Frage der Zeit und just in dem Moment, als es passierte, starteten die Einheimischen ihren Angriff. Sie nutzten die Gelegenheit der Ablenkung, um Baltas Alternativszenario ohne den erwähnten Kopfschuss zu erproben.

Es war überraschend, wie punktgenau die Angreifer es schafften den günstigsten Moment für ihre Attacke zu starten. Sie befanden sich gerade in eine Art Hof, der eingerahmt von mehreren Hütten, nur zwei Zugänge hatte. Balta war nur einen Augenblick abgelenkt, in dem er Gunter eigentlich klarmachen wollte, dass er entweder hier bleiben könne oder sich zusammenreißen solle. Daher war es unmöglich den überraschenden Angriff effektiv abzuwehren, da die halbe Sekunde nicht reichen würde, dem unvermeidlichen Schlag, den der zischende Anführer bereits auf ihn niedersausen ließ, effektiv auszuweichen. Instinktiv entschied er sich für die einzig verbliebende Alternative. Abducken und hoffen, dass der Schaden, den er gleich nehmen würde, so begrenzt war, dass er im Nachhinein dem Bastard das Gehirn wegblasen könne. Also zog er den Kopf ein und in dem Bruchteil einer Sekunde vor dem Unvermeidlichen, sah er wie einer der Angreifer sich gerade auf Eric stürzen wollte. War es Wut oder einfach nur Reflex? Auf alle Fälle war es keine gewollte Aktion, denn er hatte nicht genug Zeit für Überlegungen. Es passte einfach, da er genau in Schussrichtung der Beiden stand und irgendwas in seinem Inneren drückte instinktiv den Knopf, der ihn dazu veranlasste, den Finger zu krümmen. 

Balta bekam nicht mehr mit, ob er was getroffen hatte, denn der Einschlag des Angreifers und das Plop seiner Pistole waren praktisch synchron. Die Hoffnung, dass er dem Schlimmsten mit seinem Abducken entgehen konnte, hatte sich nicht erfüllt. Im Fallen verlor er das Bewusstsein und das Letzte was er sah, war das Ringen Sentrys mit einem dieser elendigen Verräter. Sie hatten sie eiskalt erwischt und die Schmach darüber war schlimmer, als der eigentliche Schmerz, denn der war temporär, dank seiner Nanotechnologie. Sie hatten verloren und das gegen eine Horde Wilder mit Knüppeln.

Der Ausweichreflex war legendär. Sentry hatte keine Ahnung, ob es eine antrainierte militärische Reaktion war oder eine unbekannte Funktion seiner Femtos, jedenfalls hätte er sie sich selber nicht zugetraut. Umso überraschter war sein Angreifer, das der Schlag ins Leere ging. Fest damit rechnend, dass der Knüppel Sentrys Knochen zum Splittern bringen würde, war es unmöglich nach dessen Ausweichmanöver das Gleichgewicht zu halten. Er fiel ihm förmlich vor die Füße und die Gelegenheit seinem Angreifer mit einem gezielten Fußtritt außer Gefecht zu setzen, ließ Sentry ungenutzt. Offenbar stieß die militärische Ausbildung, sollte sie denn wirklich vorhanden sein, hier an ihre Grenzen. Anstatt sich weiter seinem Angreifer zu widmen, machte er den Fehler sich einen Überblick über die Situation zu verschaffen. Eric wurde ebenfalls attackiert, allerdings gingen bei seinem Kampf beide zu Boden und das Knirschen eines zerborstenen Schädels wies darauf hin, dass einer von den beiden Baltas Kugel vermutlich direkt zwischen die Augen bekommen hatte. Dieser steckte gerade einen massiven Schlag ein und während Sentry gerade versuchte die Gesamtsituation zu verarbeiten, stürzte sich sein Angreifer erneut auf ihn. Diesmal war er es, der über die schnelle Reaktion nach dem Sturz überrascht war.

Der Angriff war halbherzig. Primäres Ziel war es offensichtlich Sentry daran zu hindern seine Waffe einzusetzen. Beide Handgelenke umklammernd, blieben seinem Angreifer nur die Beine, um mögliche Wirkungstreffer zu setzen. Es fehlte ihm dabei nicht nur an Geschick, sondern auch an Kraft und so war es ein Leichtes die Tritte abzuwehren. Nach ein paar Sekunden Gerangel bekam Sentry seine bewaffnete Hand frei. Nun stand ihm die Möglichkeit offen, mit einem gezielten Schuss seinen Gegner hinzurichten. Er entschied sich dagegen und schlug ihn mit dem Griff seiner Pistole gegen die Stirn. Ein Glücksgefühl durchflute ihn. Er hatte seinen Kampf gewonnen. Dass sein Gegner schwächlich und vermutlich durch Krankheit gezeichnet war, störte ihn nicht. Der Triumph des Sieges in seiner primitivsten Form des Faustkampfes ist eines der erhabensten Gefühle, die die Evolution einem Mann mitgegeben hatte.

Balta war außer Gefecht, ob Eric noch lebte war unklar und Gunter war auf Grund seines erbärmlichen Zustandes wohl nicht würdig für einen Übergriff. Dina hatte sich gleich zwei Verehrer zu erwehren, die einem Leid tun konnten, denn sie unterschätzten sie vollkommen. In der Überzeugung leichtes Spiel zu haben, konzentrierten sie sich mehr darauf ihre Ansprüche gegenüber des jeweiligen Anderen geltend zu machen, als sich dem eigentlichen Ziel zu widmen. So war es ihr ein Leichtes mit gezielten Schlägen die vollkommen überraschten Angreifer auszuschalten. Auch sie war aufgepuscht vom Triumph und in der Hoffnung dieses Glücksgefühl weiter steigern zu können, war sie auf der Suche nach weiteren Opfern. Zwei weitere Angreifer sollten ihre Gelüste stillen, doch diese waren recht mutlos, nachdem sie ihre Kameraden blutend am Boden liegen sahen. Jeweils auf den anderen wartend, wirkten sie wenig entschlossen und nachdem Dina auf sie zu stürzte, ergriffen sie angsterfüllt die Flucht.

Ihres Spaßes beraubt, blieb Dina nur Baltas Bezwinger. Der hatte sich nach bester Anführertradition seiner wohlverdienten Belohnung gewidmet. Vollkommen die umgebenen Ereignisse ignorierend, kannte er nur Eva als Ziel, um seine primitivsten Gelüste zu befriedigen. Diese war unfähig sich zu wehren oder wegzulaufen. Es war der Gestank, der ihr ein Leben lang im Gedächtnis bleiben würde und damit bei jeder Erinnerung an diese Situation vermutlich einen Würgreiz auslösen würde. Weder seine Hand in ihrem Schritt noch, das Gesicht in ihrem Ausschnitt konnten ablenken von der Abscheu über diesen verfaulten Geruch.  

Dina erlöste sie von ihrem Elend, gerade rechtzeitig, denn ihr Peiniger war gerade drauf und dran sein bestes Teil auszupacken. Sie packte ihn an der verschlissenen Jacke und zerrte ihn von Eva runter. Altersbedingt gab die Kleidung nach und so verlor sie ihn wieder, aber der Schwung reichte aus die beiden zu trennen. Er fiel auf den Rücken und seine Verwunderung über die plötzliche Unterbrechung, ließ ihn für einen Moment hilflos wirken. Erst als er Dina erblickte, mit dem Stofffetzen in der Hand, legte er wieder dieses verächtliche Grinsen mit seinen verfaulten Zähnen auf. Sein Teil baumelte aus der offenen Hose.

„Lusssch meinen Ssschwanz, du dumme Nutte.“ Er streckte ihr sein Becken entgegen.

„Den lussscht keiner mehr.“ entgegnete Dina trocken. Sie zog ihre Waffe und zielte auf seinen Schritt. Die Panik, die in seinem Gesicht erkennbar wurde, gab Dina die Genugtuung, die sie benötigte.

„Typen wie du sind das Übel unserer Zeit. Ihr glaubt euch gehört die Welt und ihr könnt machen was ihr wollt. Dabei schafft ihr es nicht mal drei zusammenhängende Worte fehlerfrei auszusprechen.“ Sie hielt kurz inne, als müsste sie mit ihrem inneren Gewissen kämpfen. Dann drückte sie ab.

„Du hättest beim Gewehr bleiben sollen.“ rechtfertigte sie ihre Tat. Als Antwort bekam sie nur ein furchtbares Gejaule. Ihr Opfer wand sich mit den Händen im Schritt.

„Was soll denn das?“ brüllte Sentry sie an.

„Wenn du willst das Hunde ruhiger werden, dann musst du sie kastrieren.“ sie lachte, ein Lachen was Sentry unheimlich Angst machte. So hatte er sie noch nicht erlebt. Die Wut, der Sarkasmus und der Egoismus ihre Rache durchzusetzen, waren nichts gegen diesen Genuss ihrer Genugtuung. Das Ganze war ein Vorgeschmack dessen, was Red bevorstand, wenn sie ihn in die Finger bekommen würde. Sie hatte probiert von der Droge „Rache“ und sie wollte mehr. Notfalls auch ohne Red.

In diesem Zustand war sie vernünftigen Argumenten nicht zugänglich, also beschloss Sentry sie einfach stehen zu lassen und sich den Anderen zu widmen. Balta hatte eine riesige Beule am Kopf, aber in der Gewissheit, dass seine Femtos das als Standardaufgabe in wenigen Minuten erledigen würden, kümmerte er sich zuerst um Eva. Vollkommen verängstigt kauerte sie an einer Wand und wie sie da hockte, die Knie an die Brust gepresst, erinnerte sie ihn an die apathische Lisa auf Reds Schiff.

Damals kannte er Lisa nicht, eine perfekte Ausrede, um seine begrenzten sozialen Fähigkeiten zu kaschieren. Ein Argument, mit dem er sich diesmal nicht selbst täuschen konnte. Er musste etwas tun, aber er hatte das Gefühl das keine Worte ihre Angst lindern konnte. Er nahm ihre Hand und in Erwartung, dass sie sie einfach weg schlagen würde, überraschte sie ihn, indem sie sie fest drückte. Sie hob ihren Blick und Sentry spürte ihren Kampf zwischen emotionaler Stabilität und dem fallen lassen. Es war einer dieser Momente, wo nicht die vernünftige, rational denkende Eva am Steuer stand, sondern ihr tiefstes innerlich unverrückbares Sein die Entscheidungsgewalt übernahm. Es war die erste Hürde weg von der tief verankerten Konditionierung durch den Tempel, hin zu einem ersten entscheidenden Schritt in die mentale Unabhängigkeit. Sie fiel Sentry um den Hals und mit den Tränen trennte sie sich nicht nur von dem Ballast der vergangenen Minuten, sondern sie leerte auch ihren Rucksack, der voll gepackt war mit den Widrigkeiten der vergangenen Jahre. Es tat so gut zu weinen und mit jeder Minute in der die Tränen rollten, fühlte sie sich freier.

Während sie in seinen Armen weinte, öffnete sich seine innere Bibliothek des freigegebenen Wissens erneut. „Das Schicksal eines Menschen ist nicht zwangsläufig auf glückliche Zeiten ausgerichtet, sondern auf perfekte Augenblicke“ stand in der Kategorie Philosophie. Genau solch einen Augenblick erlebte er gerade. Sie hatte ihren Schutzpanzer für ihn geöffnet. In all dem Mist, der um sie herum passierte, teilte er mit ihr einen tief greifenden verbindenden Moment. Nicht nur sie profitierte von den Tränen, auch er merkte zum ersten Mal, dass es neben Femtos und verschütteter Vergangenheit, weitaus wichtigere Dinge gab. Pure Emotion. Er schaute rüber zu Dina. Ihre pure Emotion war Hass und der würde sie auf Dauer einsam machen.

Balta erholte sich überraschend schnell. Es war ein komisches Gefühl für Sentry die Selbstheilung nicht bei sich selber zu beobachten. Sie hatten ein paar Kalorienreserven der Inc. bei sich, so dass Baltas Hungergefühl relativ schnell befriedigt werden konnte. Erst jetzt fiel ihm Eric und sein unbekanntes Schicksal wieder ein. Er ging zu den beiden Körpern rüber und war trotz der Abneigung erleichtert, dass es nur den Angreifer erwischt hatte. Eric war unglücklich gefallen, hatte eine Platzwunde am Kopf und war dementsprechend orientierungslos.

„Er hat auf mich geschossen. Er hat auf mich geschossen. Dieser schwarze Bastard hat auf mich geschossen.“ Eric klang wie ein Insasse einer Nervenheilanstalt. 

„Schon gut. Du bist nicht angeschossen worden. Deine Verletzung ist nicht schlimm.“ beruhigte ihn Sentry.

„Was, ich bin verletzt? Wo?“ Offenbar hatte Eric seine Platzwunde bisher gar nicht wahrgenommen. Er tastete seinen Kopf ab.

„Autsch. Nicht schlimm? Das tut höllisch weh.“ schrie er, nachdem er die Wunde gefunden hatte.

„Wir müssen dringend weiter, bevor sie zurückkommen.“ Balta stand vor ihnen und drängte sie zur Eile.

„Du...“ fauchte ihn Eric wütend an.

„.. bist vollkommen unversehrt. Was ist denn hier los?“ seine Wut ging über in zweifelnde Verwunderung.

„Nanotechnologie. Ich erkläre dir das später. Wir müssen hier schleunigst weg, sonst geht die ganze Sache wieder von vorne los.“ Das Gejammer des verletzten Einheimischen wurde leiser, trotzdem war es laut genug, um sämtliche Aasgeier der Umgebung anzuziehen.

„Was hat er denn für ein Problem?“ fragte Eric.

„Was immer es ist, es wird sich gleich noch verschärfen. Los folgt mir.“ trieb Balta an. Er schnappte sich Gunter und scheuchte ihn vor sich her. Sie durchquerten weiter die engen Gassen zwischen den Wellblechhütten, immer in der Hoffnung, dass Balta als ihr Anführer den richtigen Weg kannte. Nachdem sie zwei Minuten unterwegs waren, ging das Gejammer in ängstliche Schreie über.

„Nein, nein verssschwindet.“ kamen die Schreie aus der Richtung aus der sie gerade flüchteten. Dann wurde es ruhig bis auf ein paar vereinzelte Laute, die nach Raubtieren klangen.

„Was zum Teufel? Zerreißen die den?“ fragte Eric ungläubig.

„Nicht fragen. Laufen. Sonst bist du der Nächste.“ hielt ihm Balta entgegen.

Sie liefen weiter, weg von dem grausigen Schauplatz. Was immer auch mit dem verletzten Anführer passiert war, er hatte es nicht überlebt. Dieser Ort wurde immer unheimlicher und die Panik ein ähnliches Schicksal zu ereilen, trieb sie weiter an. Die Hütten schienen kein Ende zu nehmen und gelegentlich trafen sie auf neugierige Hausbewohner, die schnell in ihren Behausungen verschwanden, sobald sie in ihr Sichtfeld gelangten. Hier war eine der wichtigsten Überlebensregeln sich abzuducken, wenn potentielle Gefahren im Anmarsch waren und an diesem Ort zu dieser Zeit war das so ziemlich alles, was sich bewegte. So hetzten sie durch einen Dschungel von Hütten, bis sie abrupt vor einer Mauer zum stehen kamen.

Um die zehn Meter hoch erstreckte sich das Hindernis. Keine Frage sie waren an der Begrenzung des Slums angekommen. Der glatte Putz sollte ein Erklimmen ohne geeignete Hilfsmittel verhindern. Selbst wenn jemand es schaffen sollte die zehn Meter irgendwie zu überwinden, fand er sich nicht sofort im Bereich des Raumhafens wieder. Es gab eine zweite Mauer ungefähr fünf Meter hinter der ersten, an denen die Soldaten der Inc. patrouillierten und auf alles schießen würden, was sich in dem Zwischenbereich bewegte. 

Am Fuße befanden sich weitere Hütten. Die Aussicht ein Wellblech zu sparen und den Schutz der Mauer gegen Wettereinflüsse und Übergriffe zu nutzen, hatte förmlich keinen Zentimeter Freiraum gelassen. Wie an einer Perlenkette aufgezogen, standen die Verschläge dicht an dicht. Offenbar war ein Platz an der Mauer die exklusive Lage im Slum.

„Was nun?“ fragte Dina, als sie Balta unschlüssig vor einer der Hütten stehen sah.

„Es gibt hier eine Schleuse, sozusagen einen Hintereingang, meist genutzt für Wartungszwecke, wenn man mal in den Todesbereich muss. Das ist unsere Chance durchzukommen.“ erwiderte Balta.

„Schön. Also rechts oder links lang?“ fragte Dina zurück.

„Rechts lang.“ Balta wirkte fest entschlossen, aber Sentry bezweifelte, dass er sich sicher war, die Richtung zu kennen. Für Balta bestand kein Grund die Gruppe zu beunruhigen. Die Chancen, dass er richtig lag standen bei 50%, egal ob den Anderen bewusst war, dass er keine Ahnung hatte, wo sie sich befanden.

Sie liefen die Hütten an der Wand entlang und nach etwa zehn Minuten fanden sie das, was sie suchten. Ein Durchgang nicht breiter und höher als zwei Meter. Es gab keine Behausungen im Bereich des Tores, dafür türmte sich hier der Müll über die Maßen. Sie nutzten den Abfall, um in Deckung zu gehen.

„Da sind wir und sogar noch zwanzig Minuten zu früh. Sonst hätten wir bis morgen warten müssen.“ frohlockte Balta.

„Und nun?“ fragte Dina erneut.

„Warten wir auf unseren Türöffner.“ Balta erklärte ihnen kurz, dass er sich die Dienste eines Inc-Soldaten erkauft hatte, indem er ihn mit notwendigen Medikamenten für seine kranke Frau versorgte.

„Es wird Zeit, dass wir uns unterhalten.“ Balta zerrte Gunter in eine Müllausbuchtung. Sie waren fast unter sich, nur Sentry bekam jedes Wort mit, obwohl er sie nicht sehen konnte.

„Ich werde diesen Planeten verlassen und ich habe gewisse Bedenken, wie es mit den Geschäften weitergehen soll.“ eröffnete Balta das Gespräch.

„Du willst nicht, dass ich sie weiter betreibe, weil ich dich verraten habe. Willst du mich umbringen?“ fragte Gunter.

„Der Verrat ist eine Sache, aber nicht das Hauptproblem.“ ignorierte Balta bewusst die Frage. Er wollte Gunter im Ungewissen über sein Schicksal lassen.

„Ich sehe den Schwarzmarkt als Notwendigkeit an. Er ist eine Garantie für das Überleben Vieler. Wir, die Inc. und die Händler leben gut von dem Leid der Leute auf Lassik. Ich habe immer dafür gesorgt, dass wir es nicht übertreiben.“ Balta legte eine kurze Pause ein, um die Worte wirken zu lassen.

„Kurzum, ich habe gewisse Geschäftsfelder immer außen vor gelassen. Ich fürchte bald, dass du eine Gewinnmaximierung anstrebst, sobald ich dir den Rücken kehre.“ Er fixierte Gunter um seine Reaktion auf die Vorwürfe zu ergründen.

„Du meinst Meth. Ich habe dir immer gesagt, wenn wir das Geschäft nicht machen, dann tun es Andere.“

„Wir konnten es nicht verhindern, aber wir sollten es nicht noch unterstützen.“ Balta wirkte verärgert gegenüber soviel Ignoranz.

„Ich kann es kontrollieren. Wenn ich das Monopol inne habe, kann ich es nach belieben einschränken.“

„Es ist ein Unterschied, ob wir jemanden Nahrung oder Medikamente verkaufen oder ob wir ihm chemischen Mist andrehen, der ihn krank und süchtig macht.“ Balta hatte das Gefühl gegen eine Wand zu reden.

„Was willst du machen? Dir bleibt nur eine Alternative mich daran zu hindern. Und wenn du mich umbringst, steht der Nächste bereit und der ist vielleicht noch kreativer in Sachen Gewinnmaximierung als ich.“ Gunter wirkte ungewohnt selbstbewusst.

„Ich mache mir nicht die Mühe dich zu töten. Du strahlst soviel Schwäche aus, dass jeder Kleinkriminelle versuchen wird deinen Platz einzunehmen. Vielleicht schaffst du es ja dich zu behaupten und für den Fall werden wir folgende Vereinbarung treffen. Versuch es mit dem Drogenhandel. Ich würde es dir nicht raten, weil du es dann mit Leuten zu tun bekommst, die vielleicht eine Nummer zu groß für dich sind, aber ich werde es akzeptieren. Im Gegenzug versicherst du mir, dass es keine Kinderprostitution geben wird. Ich werde irgendwann auf diesen Planeten zurückkehren und unsere Vereinbarung überprüfen. Sollte das, was ich vorfinde nicht zu meiner Zufriedenheit sein, werde ich dir persönlich die Eier abschneiden und glaub mir, dass wird nicht in fünf Minuten erledigt werden.“ Damit war das bisschen Selbstbewusstsein, was Gunter zusammen gekratzt hatte, wieder dahin.

„Warum das Ganze? Wir waren doch Partner.“ fragte Balta ungewohnt sanft.

„Waren wir das? Du warst immer der Chef, alles ging nach deinem Kopf. Hatte ich eine Idee, konnte ich froh sein, wenn du sie überhaupt angehört hattest. Meistens wurde sie dann mit einer Handbewegung abgetan. Nichts und niemand durften dem großen Anführer reinreden. Es war nicht unser Geschäft, es war deins. Weißt du wie qualvoll es ist, wenn man bestimmte Vorstellungen hat, wie das Ganze aussehen soll und dann ist man Tag für Tag gezwungen Anweisungen auszuführen, die einen immer weiter von dem eigentlichen Ziel wegbringen. Die Gelegenheit war günstig meine eigene Vision umzusetzen.“

„Vision? Visionen sind das was uns antreibt, worauf wir am Ende stolz sind, etwas geschaffen zu haben, was vorher noch nicht da war. Worauf willst du stolz sein? Auf die Vermehrung deines Reichtums? Das Meth-Junkies für ihren nächsten Kick ihre eigene Mutter umbringen würden? Das jede Perversion an unschuldigen Kindern ausgelebt werden kann? Ist es das was du willst?“ Balta schrie ihn förmlich an.

„Für dich gab es immer nur schwarz und weiß. Gut und Böse. Mir schwebt etwas dazwischen vor.“ erwiderte Gunter.

„Was? Auch wenn das Ding Schwarzmarkt heißt, befinden wir uns in einer permanenten Grauzone. Glaubst du mir fällt es leicht Regierungsbeamte zu schmieren, wenn ich ganz genau weiß, dass das Geld später an irgendwelche Zuhälter fließt. Meinst du ich hätte kein schlechtes Gewissen, wenn ich mit einem dieser Inc-Bonzen in einem dieser elitären Restaurants sitze, Geschäfte mache und genau weiß, dass er einen Tag zuvor zehn Leute hat hinrichten lassen, weil sie gegen die Kürzung der Nahrungsmittelrationen demonstrierten. Die Welt in der wir leben ist scheiße und jeder muss sehen, wie er mit dem Arsch an die Wand kommt. Wir tanzen mit dem Teufel, aber bisher konnten wir vermeiden, dass er uns fickt. Glaubst du, deine Vision hält deinen Hintern jungfräulich? Wie naiv bist du eigentlich?“

Balta war jetzt vollkommen außer sich. Für ihn gab es keine Alternative zu dem Status Quo, den er unter diesen Bedingungen herbeigeführt hatte. Es war extrem mühsam zwischen Sklavenhändlern, gierigen Geschäftsleuten und korrupten Politikern die Waage seines Gerechtigkeitsgefühls auch ab und an in Richtung der Bevölkerung ausschlagen zu lassen. Jeder sollte profitieren von seiner Organisation, auch wenn der materielle Gewinn für die Ärmsten überschaubar blieb. Er wollte wieder ansetzen, als ihm jemand zuvor kam.

„Ihr macht soviel Krach, dass ihr das halbe Ghetto und die komplette Inc. auf euch aufmerksam macht.“ Es war eine für Sentry unbekannte Stimme. Alle gingen sofort in Angriffstellung.

„Detak, schön dich zu sehen.“ entspannte Balta die Situation. Alle Anwesenden scharrten sich um den Neuankömmling. Ein Soldat in der typischen Uniform der Inc. hatte sich fast unbemerkt genähert. Das Gewehr geschultert, stand er in der für Soldaten üblichen militärischen Pose, immer bereit bei Gefahr sofort in Deckung zu gehen. In dem Mondlicht war schwer zu schätzen wie alt er war, aber die dreißig hatte er mit Sicherheit noch nicht hinter sich. Das Tor hinter ihm stand einen Spalt weit offen. Durch den Zwist zwischen Balta und Gunter war seine Ankunft unbemerkt geblieben.

„Ihr solltet etwas leiser sein.“ Seine dunkelblonden zersausten Haare bestätigten den Eindruck des heruntergekommenen Soldaten. Er wirkte ungepflegt und unterernährt. Die ganze Körpersprache strotzte nur so vor Angst. Seine eingefallenen Augen wirkten gespenstisch in dem Mondlicht. Auch die saubere akkurat getragene Uniform konnte nicht verbergen, dass die Zeiten für ihn nicht einfach waren.

„Wie geht es Mia?“ fragte Balta besorgt.

„Mit Medikamenten geht es, aber es wird immer schwieriger sie zu bekommen.“ antwortete Detak gequält.

„Da kann ich dir helfen, vorher musst du aber uns helfen.“

„Deswegen sind wir hier. Was immer ihr auch angestellt habt, die Inc. macht gerade mobil. Sie glauben ihr versteckt euch im Slum und sie bereiten gerade eine komplette Durchsuchung vor. In dreißig Minuten rückt meine Einheit aus. Eine andere kommt von der Küste her. Das wird Tote geben.“ Seine Angst in der Stimme war unüberhörbar.

„Dann sollten wir das hier so schnell wie möglich zu Ende bringen.“ sagte Balta.

Detak ging als erster durchs Tor. Ihm folgten Balta und der Rest der Gruppe. Auf einen halben Meter Dicke schätzte Sentry die Mauer. Der Pfad nach dessen durchqueren war gesäumt von Stacheldraht. Dieser verhinderte, dass mehr als zwei Personen nebeneinander stehen konnten. Fünf Meter vor ihnen befand sich die zweite Mauer, welche zwar nur ein drittel so hoch war, trotzdem nicht weniger einschüchternd wirkte, wie ihr zehn Meter hohes Gegenstück. Auch hier gab es ein Tor, welches in Stabilität dem ersten nicht nachstand. Die Strahler rechts und links blieben in Zeiten von Energieknappheit dunkel und wurden nur im Falle eines Aufruhrs zugeschaltet. Die Gruppe beeilte sich den Zwischenbereich möglichst schnell zu durchqueren.  

Als sie das zweite Tor passierten, standen sie auf freier Fläche, was Detak als Anlass nahm sie weiter anzutreiben. Es war eine große Portion Glück nötig, um nicht einem anderen Wachposten aufzufallen. Die Mobilmachung spielte ihnen in die Karten, denn dadurch war so ziemlich jeder Soldat beschäftigt entsprechende Vorbereitungen zu treffen.

Sie steuerten auf eines der Nebengebäude zu und Detak öffnete mit seinem Handabdruck den Zugang. Sie liefen ein paar Gänge entlang, bis sie zu einer Kreuzung kamen.

„Einfach diesen Weg entlang bis zur Tür, dann seit ihr im Eingangsbereich des Raumhafens. Von da ist es nicht mehr weit bis zur Schwebebahn.“ Detak zeigte mit dem Arm in die rechte Richtung.

„Und wo geht’s zum Sicherheitsbereich?“ fragte Balta.

„Da lang. Ich habe aber keine Zugangsberechtigung für den Sicherheitsbereich.“ Er zeigte in die andere Richtung.

„Das ist nicht notwendig. Danke für deine Hilfe. Frag im „junction“ nach Linda. Bei ihr habe ich ein Paket für dich hinterlegt. Ich hoffe Mia schafft es.“ Bei der Erwähnung ihres Namens zuckte er kurz zusammen. Dann ließ er sie ohne Verabschiedung stehen.

„Zeit sich zu entscheiden.“ Balta wandte sich an Eva. Konfrontiert mit dem plötzlichen Ende der Gruppe, war diese überrascht über die Wehmut, die schlagartig über sie kam. Wieder musste sie eine Gemeinschaft verlassen und diesmal hatten die vergangenen Tage mehr Intensität in Sachen Zusammengehörigkeit, als all die Jahre im Tempel. Sie erinnerte sich, wie aufgewühlt sie nach den Ereignissen auf Prem war, wie sie sich durch die Ruinen der alten Stadt quälten, kurz nachdem sie einen Menschen getötet hatte. Wie sie Sentry halfen und wie er ihr half nach der versuchten Vergewaltigung. Der Kuss mit Dina, der ihren Schmerz teilte über die verpasste Chance ein glückliches Leben zu führen. Erst jetzt, im Angesicht der Trennung, wurde ihr die Stabilität bewusst, die ihr die beiden gaben. Unbewusst waren sie ein Ventil für den Überdruck ihres emotionalen Kesseldrucks geworden. Alleine wäre sie schon längst explodiert.

„Ich komme mit euch.“ platzte es aus ihr heraus, bevor sie alle für und wieder abwägen konnte. Endgültig brach sie mit ihrer Schwester. Wieder eine unrühmliche Entscheidung gegen ihre innere Überzeugung, aber eine Entscheidung für ihr Überleben. Das Gefühl erneut Verrat zu begehen, wurde zur Gewohnheit, aber es wäre ihr Todesurteil hier auf Lassik zu bleiben.

„Die einzig vernünftige Entscheidung.“ bestätigte Balta überraschend ihren Entschluss.

„Wo willst du auch anders hin? Staatsfeind des Tempels, Staatsfeind der Inc. Das Gleiche gilt übrigens für dich auch.“ Balta meinte Eric.

„Ich? Nein. Ich bin doch kein...“ Eric ging seine Optionen durch.

„Sie werden mich hinrichten. Oder schlimmer noch. Foltern.“ Er redete wieder mit sich selbst.

„Das macht dich zum Einzigen, der in die andere Richtung muss.“ Diesmal wandte sich Balta an Gunter.

„Du kennst die Bedingungen, unter denen ich dich am Leben lasse und die Konsequenzen, wenn du dagegen verstößt.“ Bevor Gunter auch nur eine Antwort erwidern konnte, bekam dieser einen so gezielten Kinnhaken, dass er in sich zusammen sackte.

„Schade, meistens bekomme ich den KO erst beim zweiten Schlag hin. Ich hab’s trotzdem genossen.“ Sie verstauten den bewusstlosen Gunter in einem Wartungsraum.

„Das sollte uns eine halbe Stunde geben. Bisher ging alles glatt. Hoffentlich klappt die letzte Etappe der Flucht auch noch.“ sagte Balta.

„Alles glatt? Mal abgesehen davon, dass wir mitten in Feindesland sind, ich nicht mehr zurück kann in mein altes Leben, ich zweimal niedergeschlagen wurde, der halbe Planet hinter uns her ist, abgesehen davon läuft doch alles bestens.“ Eric stand vor einer Panikattacke und der Versuch diese mit Sarkasmus zu unterdrücken, zeigte wenig Wirkung. Die Aussicht seine Heimat für immer verlassen zu müssen und die Angst sein behütetes sicheres Leben gegen unbekannte Gefahren einzutauschen, ließen ihn jegliche Vorsicht vergessen.

„Komm wieder runter oder ich pack dich zu Gunter in den Schrank. Reiß dich zusammen.“ Balta drohte unverhohlen.

„Ich kann nicht weg. Ich, ich… „ Eric blendete seine Umgebung vollkommen aus und brabbelte vor sich hin. In dem Moment als Balta seine Drohung ernst machen wollte, kam ihm Eva zuvor.

„Ich kläre das.“ hielt sie Balta von einem weiteren Kinnhaken ab. Sie stellte sich vor Eric, packte ihn sanft an den Ellenbogen und schaute ihm in die Augen.

„Hör mir zu. Eric hör mir zu.“ Sie hielt inne, bis sie sicher war, das sie seine volle Aufmerksamkeit hatte.

„Es tut mir Leid. Es ist alles meine Schuld, hörst du. Ich habe dich damals gedrängt mir zu helfen, durch mich hast du deinen Laden verloren und bist zum Flüchtling vor der Inc. geworden. Meinetwegen stehst du hier und hast keine Wahl als uns zu folgen. Du hast alles verloren, was dir wichtig war. Ich stehe in deiner Schuld, also werde ich dir helfen das durchzustehen. Du bist nicht allein. Gemeinsam packen wir das.“ Sie küsste ihn sanft auf die Stirn.

„Es tut mir so Leid.“ Sie war den Tränen nahe. Eigentlich war sie es, die in dem Moment Trost brauchte. Eric reihte sich in ihre lange Liste des Versagens, die angeführt von ihrem Vater und ihrer Schwester, über den Verrat am Tempel, bis zum töten eines Menschen immer länger wurde. Was auch immer sie in besten Absichten probierte, das Ergebnis war nur Leid und Schmerz. Sie fühlte sich verloren. Schlimmer noch. Sie fühlte sich schuldig für das Elend, dass sie in ihrer Umgebung hinterließ und jeder Versuch die Katastrophen der Vergangenheit zu korrigieren, vergrößerte den Wirkungskreis ihres verhängnisvollen Handelns und zog weitere unschuldige Opfer mit in den Strudel.

Ob es nun Evas überraschende Offenheit war oder der sanfte Kuss, jedenfalls beruhigte sich Eric. Sie hatte es wieder geschafft ihn zu beeinflussen, aber dieses Mal stand keine kühle Berechnung dahinter. Eric gehörte nun zur Gruppe und irgendwie fühlte sie sich für ihn verantwortlich. Damit hatten die Beziehungen innerhalb ihrer Gemeinschaft seltsame Züge angenommen. Balta und Sentry verbanden die Femtos, letzterer stand wiederum in der Schuld von Eva, die immer noch ein inneres Band mit Dina knüpfte, welche wiederum auf Sentry hoffte, ihre Rache zu verwirklichen. Eine seltsame Mischung, die sich da aufmachte den Planeten zu verlassen.

Sie folgten dem Flur zum Sicherheitsbereich. Die kalkweißen Wände vermittelten den Eindruck von Ratten in einem Labyrinth, die verzweifelt versuchen den rettenden Ausgang zu finden. Ab und an kamen ihnen Mitarbeiter entgegen, die gehetzt von scheinbar wichtigen Dingen sie vollkommen ignorierten. Für sie lag es im Bereich des Unmöglichen, dass Unbefugte innerhalb ihres Sicherheitskosmoses agierten, daher wurde die Flucht begünstigt durch vollkommenes Vertrauen in die hiesigen Sicherheitsmaßnahmen. Einzig Erics Kopfwunde würde bei näherer Betrachtung zu ungewollten Fragen führen, also waren sie gezwungen einen Zwischenhalt auf der Toilette einzulegen. Etwas Wasser und ein erste Hilfe-Kasten sorgten dafür, dass Eric wieder halbwegs unauffällig wurde. Das blutige Hemd wurde kaschiert mit einer gestohlenen Jacke, die viel zu klein für ihn ausfiel und ihn dadurch noch verkrampfter wirken ließ, als er von Natur aus war. Die Sicherheitstür stellte dank Sentrys Fähigkeiten kein Problem da und so betraten sie die Abflughalle vollkommen unbehelligt.

Der Transitbereich wirkte vollkommen überlaufen, was weniger an den Passagieren lag, als an den Unmengen an Soldaten, die permanent Kommandos schreiend hin und her eilten. Auf dem anliegenden Flugfeld verließen Truppentransporter den Raumhafen, um ihre unheilvolle Fracht im Slum abzuladen, wo sie wie geplant jede Hütte nach den Flüchtigen durchsuchen würden.

„Los zurück.“ zischte Dina.

„Zu spät. Wir müssen jetzt da durch.“ Balta hielt sie am Arm fest. Ein Soldat eilte mit gesengtem Gewehrlauf bereits auf sie zu. Dina umklammerte ihre Pistole, bereit dem vermeintlichen Angreifer einen gezielten Schuss zu verpassen.

„Was sucht ihr hier? Zivilflüge sind vorerst ausgesetzt. Sie stehen uns nur im Wege. Gehen Sie zurück in die Lounge und warten Sie bis alles vorbei ist.“ brüllte der Soldat sie an. Offenbar war ihm nicht klar, dass der Grund für diesen Trubel direkt vor ihm stand. Sentry schaute sich um. Die Lounge befand sich genau am gegenüberliegenden Ende der Abflughalle. Die Wahrscheinlichkeit, dass hundert Soldaten ähnlich einfältig waren wie ihr Gegenüber, ging gegen null. Wie sollten sie da durch ohne erkannt zu werden?

„Was ist denn hier los?“ spielte Balta den Naiven.

„Das geht Sie gar nichts an. Scheiß Zivilisten. Soldat, bringen sie diese Leute zur Lounge und passen Sie auf, dass sie unterwegs keinen Schaden anrichten.“ Damit ließ er sie stehen.

„Los. Ihr habt den Unteroffizier gehört. Ich bringe euch zurück. Wir gehen außen rum, da behindern wir am wenigstens.“ Sein Blick ruhte auf Dina. Alle Anderen nahm er nur am Rande wahr.

„Ein Jammer, dass Sie uns verlassen. Ein echter Verlust für die hiesige Männerwelt.“ fing der Soldat an zu flirten.

„Hier haben wir wohl einen echten Herzensbrecher.“ erwiderte Dina schnippisch.

„Mehr als das. Wenn Sie mal wieder auf Lassik sind, fragen Sie nach Dave vom 13. Zug. Ich zeige Ihnen Dinge außerhalb der üblichen Touristenroute.“ Er setzte seinen muskulösen Körper in Bewegung und wies die Gruppe an ihm zu folgen.

„Sie meinen es gibt hier mehr als Ruinen und halb verfallene Regierungsgebäude.“ Dina antwortete in ihrem üblichen Sarkasmus.

„Aber natürlich. Meist bin ich im „Chicas“ anzutreffen. Nur Mut. Ich bleibe voll und ganz ein Gentleman.“ entgegnete er selbstbewusst.

„Mache ich den Eindruck, als stehe ich auf Gentleman?“ Jetzt hatte sie die hundertprozentige Aufmerksamkeit des Soldaten, dessen Gedanken nun sich in nicht jugendfreien Fantasien verirrten und ihn damit blind machten für mögliche Schlüsse, die ihm die Zusammensetzung der Gruppe geben könnte.

„Wie gesagt. Schade, dass Sie gehen.“ antwortete er noch im zweideutigen Tonfall und führte die Gruppe in einem großen Bogen um die Truppen herum. In der Lounge angekommen, wiederholte er noch einmal sein Angebot und kehrte dann zu seiner Einheit zurück.

Auch die Lounge war vollkommen überfüllt. Sämtliche Passagiere, sowie die Besatzungsmitglieder der zivilen Schiffe im Hafen, teilten auf engstem Raum das Schicksal der bedrückenden Beengung. Ein Gewirr aus aufgebrachten Stimmen verkündete unentwegt den Unmut über die Behandlung. Ein paar Soldaten versuchten halbherzig die Menge zu beruhigen, aber jede Minute die verging, heizte die Unzufriedenheit weiter auf. Die Stimmung war aggressiv und das Eintreffen weiterer Insassen veranlasste einige Kapitäne der Handelsschiffe ihren Protest gegen die rigorose Einschränkung ihrer Freiheiten zu verstärken. Sie drohten unverhohlen mit der Einstellung der Handelsbeziehungen mit Lassik, was bei dem verantwortlichen Offizier nicht ohne Wirkung blieb. Es musste ein Friedensangebot her, um eine Eskalation zu vermeiden. Der ursprüngliche Plan den zivilen Luftverkehr erst nach positivem Ausgang der Mission wieder zu zulassen, wich dem Kompromiss den Abflug der Handelsschiffe nach dem Verlassen der Truppen zu erlauben. Ein folgenschwerer Fehler, welcher für Balta und seine Kameraden sich womöglich als weiterer Glücksfall herausstellen könnte.

„Dort drüben.“ Balta musste gegen den Geräuschpegel regelrecht anbrüllen. So ziemlich jeder in dieser bedrückenden Enge schien sich mit verbalen Unmutsäußerungen gegen die Zwangsunterbringung zu wehren. Sie zwängten sich durch die aufgebrachte Menge auf einen gelassenen wirkenden, wohl beleibten Mann zu. Sein krausen schwarzen Haare, die durchzogen von grauen Strähnen recht gepflegt wirkten und sein dichter Vollbart zeugten von seinem fortgeschrittenen Alter. Er hatte sehr breite Schultern auf knapp zwei Meter Körpergröße, aber die für Lassik typische Muskulatur im Nackenbereich war wenig ausgeprägt. Dieser Planet war nicht seine Heimat, soweit konnte Sentry die Statur zuordnen. Seine Augen waren klein, was ihn in Verbindung mit dem Bart ein freundliches Antlitz verlieh.

„Balta, Sie haben aber auch ein Pech. Der ganze Trubel verzögert unsere Abreise. Ich hoffe Sie haben Zeit mitgebracht.“ begrüßte die massige Gestalt Balta.

„Leider nein. Und das ist auch nicht unserer einziges Problem.“ erwiderte Balta.

„Oh, erschwerte Bedingungen. Das ändert unsere getroffene Vereinbarung. Hoffentlich haben Sie genug neue Verhandlungsmasse mit.“ Baltas Gegenüber war in freudiger Erwartung weiterer guter Geschäfte.

Das Gewehr, welches eigentlich dem Anführer ihres Slum-Begleitschutzes überlassen werden sollte, befand sich in Einzelteile zerlegt unter Baltas Mantel. Erneut würde es den gegebenen Anreiz liefern, um Hilfe von Außenstehenden zu erkaufen. Leicht verdeckt zeigte Balta das Griffstück.

„Tsss. Ein Inc-Sturmgewehr. Hoffentlich genetisch entsichert.“ sprach der Kommandant ziemlich leise, so dass er in dem ganzen Trubel fast nicht mehr zu verstehen war.

„Natürlich. Und hier sind unsere Bedingungen. Fünf statt zwei Passagiere und wir müssen sofort weg.“ Balta war wieder im vor Selbstvertrauen strotzenden Verhandlungsmodus, den er schon im Slum erfolgreich angewandt hatte. Diesmal stand er einem Profi gegenüber, der genau wusste, in welch verzweifelter Lage sich die Gruppe befand.

„Lassen Sie die Schauspielerei. Sie sind eindeutig in der schlechteren Verhandlungsposition. Diesen ganzen Zauber veranstalten die doch allein wegen euch.“ Damit hatte er Balta sprichwörtlich die Hosen runter gezogen. Zum ersten Mal war Balta sprachlos.

„Na gut. In zehn Minuten werden sie den zivilen Luftfahrtverkehr wieder freigeben. Ich werde dann genau dreißig Minuten in meinem Schiff auf euch warten. Schafft ihr es mit dem Gewehr durch die Kontrollen, sind wir im Geschäft. Ansonsten werdet ihr wohl oder übel hier zurück bleiben.“ Der Schiffskommandant wendete sich ab, entschied sich dann doch noch mal für eine Rückkehr.

„Achja. Am Terminal dort drüben könnt ihr euch genetisch registrieren lassen. Ich habe dort zwei blanko IDs hinterlegen lassen. Viel Glück.“ Damit ließ er sie in ihrer Verzweiflung allein. Das Risiko lag nun bei der Gruppe. Eine wirklich angenehme Situation für den Kommandanten.

„Wir lassen euch nicht hier.“ kam Sentry Baltas Gedankenspielen zuvor.

„Leider gibt es durch diese Militäraktion zusätzliche Kontrollen. Wir haben nur zwei IDs. Keine Chance da fünf Leute durch zu bekommen.“ Balta erwog nicht mal ein Alternativszenario.

„So einfach machen wir uns das nicht.“ Sentry war nicht bereit jemanden zurückzulassen. Das wäre der sichere Tod.

„Ich werde da auf jeden Fall durch und wenn ich mich durchschießen muss. Ich will hier nur weg, auf die eine oder andere Weise.“ Dina wirkte fest entschlossen.

„Ok. Dann versuchen wir es zuerst mit Grips. Schießen können wir immer noch.“ Baltas Verstand ging bereits die Möglichkeiten durch. Es dauerte nur wenige Sekunden bis sein Plan stand. Vermutlich hatte er sich schon einen Alternativplan zu Recht gelegt, denn die Erklärungen wirkten ausgereift.

„Dina und ich nehmen die IDs. Ich denke mal für dich wird die genetische Kontrolle kein Problem. Ihr habt einheimische IDs. Die Gefahr ist allerdings groß, dass ihr bereits auf der Fahndungsliste steht.“ Das Vorhaben hatte einige Haken. Erstens waren die IDs auf männliche Nutzer ausgelegt. Die Wahrscheinlichkeit, dass in dem allgemeinen Trubel jemand darauf achtet war zwar gering, aber durchaus vorhanden. Zweitens hatte Sentry keine Ahnung, ob seine Femtos auch IDs generieren konnten und letztendlich war da der offensichtlichste Schwachpunkt, dass Eva und Eric gesucht wurden und vermutlich bereits erfasst waren.

„Da brauchen wir eine ordentliche Portion Glück.“ In Dinas Stimme schwang die Gewissheit mit, dass es nicht alle schaffen würden. Sie ging mit Balta an das Terminal, an dem sich beide registrierten. Durch die Fenster der Lounge konnten sie mitverfolgen, wie die Truppen innerhalb des Transitbereiches immer weniger wurden. Mit jedem Soldaten, der in einen der Truppentransporter stieg, wuchs die Anspannung unter den Wartenden. Sentry fiel es immer schwerer normal zu atmen. Endlich ging es los. Drei Soldaten, ausgestattet mit einem Kontrollgerät, standen am Ausgang und überprüften die Abreisenden. Einer nach dem Anderen legte den Daumen auf den Scanner. Niemand rechnete mit was anderem als dem Aufleuchten der grünen Lampe. Die Informationen auf den Bildschirmen wurden weites gehend ignoriert, was insbesondere die Zuversicht von Dina wachsen ließ.

Die Gruppe befand sich im vorderen Drittel. Balta wurde als erstes kontrolliert. Eiskalt und ohne jede Scheu drückte er den Daumen auf die Kontrollen. Grün. Der Erste war durch, aber mit nix anderem hatte die Gruppe gerechnet. Dann war Dina dran. Hoffentlich ignorierten sie weiter die angezeigten Informationen. Wieder grün. Ein kurzer Blick auf das Display ließ alle kurz den Atem anhalten.

„Weitergehen.“ murmelte die Kontrolle. Dina konnte sich ein schwaches Grinsen nicht verkneifen.

Eric und Sentry wurden parallel kontrolliert, wobei Eric ein paar Sekunden eher seinen Daumen auf den Scanner legte. Das gelbe Licht ließ Sentrys Kloß im Magen auf Kürbisgröße anschwellen. Das verdutzte Gesicht der Kontrolle nahm er nur am Rande wahr. Er war der Nächste. Die Souveränität, die er sich zu Recht gelegt hatte, war mit einem Schlag verschwunden. Bei ihm würde nicht nur das gelbe Licht blinken. Tiefrot wäre seine Farbe.  

 

XII

„Und wenn ihr euch nur selbst vertraut, vertrauen euch die anderen Seelen.“

Johann Wolfgang von Goethe

 

„Nun machen Sie schon. Einfach den Daumen drauf legen.“ raunte ihn sein Kontrolleur ungeduldig an. Panik ergriff Sentry. Er hatte das Gefühl zu fallen, aber diesmal hatte es nichts von Befreiung. Ganz im Gegenteil, der Aufschlag war unausweichlich und jede Millisekunde die verging, steigerte die Panik vor dem Unvermeidlichen. Hier und jetzt könnte es enden. Es blieb keine andere Option mehr übrig, er war gezwungen seinen Daumen auf dieses verdammte Feld zu legen und dem Schicksal seinen Lauf zu lassen. Wie in Zeitlupe bewegte sich sein Unterarm in Richtung Kontrolle und während er auf der Hälfte des Weges mit dem Schlimmsten rechnete, übernahm eine unbekannte Macht sein Handeln. Er fühlte sich ferngesteuert, als ob ihm der Steuerungsknüppel entrissen würde. Der neue Pilot, das unbekannte innere Wesen, traute ihm die Bewältigung dieser Situation nicht zu. Er war nur noch Zuschauer und das unangenehme Gefühl des Verlustes der Kontrolle über sich selbst, wich der Erleichterung sich dem künftigen Problem nicht bewusst stellen zu müssen. Bequem setzte er sich in das Hinterzimmer seines eigenen Geistes. Kein stupider Autopilot, der die Kontrolle übernahm. Es war jener verschüttete Teil von sich selbst, der aktiv wurde, weil sein bewusstes Ich namens Sentry nicht mehr weiter kam. Seine geheimnisvolle Vergangenheit fand den Weg durch die mentale Barriere, um eine passende Alternative zur scheinbar aussichtslosen Situation aufzuzeigen. Die Anstrengung, die dahinter steckte, erlaubte nur eine zeitlich begrenzte Überwindung, aber es reichte, um einen kurzen Blick hinter die Kulissen zu werfen und neue Erkenntnisse über den verborgenen Teil seines Wesens zu erhaschen. Wieder dieses Gefühlschaos, als sich für einen Augenblick das Bild dieser geheimnisvollen Frau in den Vordergrund drängte. Keine Zeit für Sentimentalitäten, sein zweites Ich setzt Prioritäten. In der Gewissheit, dass er selber oder es oder eine Mischung aus seinen zwiespältigen Persönlichkeiten einen zufrieden stellenden Ausgang herbeiführen würde, beschleunigte er seinen Arm und drückte den Daumen auf den Scanner.  

War es ein Befehl? War es ein Reflex? Sentry wusste es nicht und die Tatsache, dass in seinem Gehirn so bewusst Dinge passierten, welche er nicht verstehen, geschweige denn kontrollieren konnte, beunruhigte ihn dann doch. Irgendwas hatte er ausgelöst und die Empfänger waren höchst wahrscheinlich seine Femtos. Er musste erneut an Red und seine kläglichen Versuche denken sie zu aktivieren. Jetzt klappte es und er hatte keine Ahnung wie oder durch was er mit ihnen kommuniziert hatte. Zu schnell war der Impuls. Das er es überhaupt bemerkt hatte, verdankte er den Nachwirkungen der Übernahme durch sein anderes Ich.

Die gelbe Lampe leuchtete, dann die rote und die grüne. Sie wechselten sich ab, mal leuchteten alle drei, mal nur eine. Ein buntes Zusammenspiel aller möglichen Kombinationen. Nicht nur das, auch Erics Kontrollgerät blinkte munter vor sich hin. Alle drei Kontrolleure hatten die gleichen Probleme. Sentry hatte einen Virus eingeschleust. Also konnte er nicht nur genetische Sperren überwinden. Na klar. Warum sollten sich die Femtos darauf beschränken elektronische Systeme zu knacken. Der weitere Schritt hin zum Systemabsturz war nicht mehr besonders schwierig. Alles was er brauchte, war die richtige Stimulation.

„Was ist denn jetzt los?“ Der Soldat schaute zu seinem Vorgesetzten, der etwa zwei Meter hinter ihm stand.

„Verdammt. Der Basisrechner ist abgestürzt.“ entgegnete der Offizier panisch. Die Blicke der Soldaten fielen in militärischer Geschlossenheit auf eine dunkle Kiste, welche auf einem Tisch im Eingangsbereich der Lounge stand.

„Kriegt ihr den wieder hin?“ fragte der Offizier. Die Aussicht einen Großteil der aufgebrachten Zivilisten weiterhin in der Lounge zu bewachen, machte ihn hektisch.

„Keiner von uns hat die notwendigen Kenntnisse.“ antwortete einer der Soldaten.

„Na toll.“ Er schaute auf die ungeduldige Menge vor ihm. Die genervten Gesichter setzten ihn unter Druck eine schnelle Entscheidung zu treffen.

„Wir werden schnellst möglich ein Ersatzgerät organisieren.“ brüllte er in die Menge, was einen Sturm der Entrüstung nach sich zog. Von mehreren Seiten wurde er bedrängt, diese aus Sicht der Zivilsten getroffene Fehlentscheidung zu korrigieren. Er war es nicht gewohnt, dass jemand die Anweisungen der Inc. anzweifelte, aber hier handelte es sich fast ausschließlich um Auswärtige und sein Handlungsspielraum zur Durchsetzung dieser Maßnahme beschränkte sich ausschließlich auf Sturheit. Zu seinem Unglück fehlte ihm die Gelassenheit, um die Entrüstung wirklich konsequent zu ignorieren und als ihm schließlich noch mitgeteilt wurde, dass alle Geräte auf Grund der Suchaktion im Einsatz waren und daher kein Ersatzgerät vorrätig war, löste sich das letzte bisschen Schutzpanzer endgültig auf. 

„Na gut. Im Endeffekt hatten wir ja schon Kontrollen beim Betreten des Sicherheitsbereiches.“ rechtfertigte er sich vor seinen Soldaten. Damit war er endgültig umgefallen und bevor irgendwelche Zweifel auftraten, wurden sie bereits überrannt von den wartenden Reisenden.

„Was für ein Glück. Ich habe echt gedacht das wars.“ Erics Puls kam nur mit Mühe wieder runter.

„Quatsch. Das hatte mit Glück nichts zu tun. Was steckt denn noch in dir?“ forderte Balta Sentry auf auszupacken.

„Offenbar haben wir alle unsere Geheimnisse.“ konterte dieser. Warum sollte er einseitig mit der Wahrheit rausrücken. Baltas Geheimniskrämerei übertraf vermutlich die seine um einiges.

„Gehen wir an Bord. Da haben wir genug Zeit zum plaudern.“ Die Gruppe brauchte nicht lange um Landeplatz 22 zu finden. Das stolze Schiff, mit dem sie Lassik verlassen würden, hieß „Baltim“ und machte von außen alles Andere als einen zuverlässigen Eindruck. Sie wirkte wie eine riesige verbeulte und zerkratzte Zigarre, an deren Seiten zwei kleinere, nicht minder vertrauenswürdig aussehende Zigarren angebracht waren. Drei Stützen hielten das ganze Konstrukt etwa einen Meter über der Erdoberfläche. Während der große mittlere Teil fast ausschließlich aus Metal bestand, gab es in den kleineren Zylindern Fenster, die einen Blick in das Innenleben ermöglicht hätten, wären sie nicht mit Vorhängen ausgestattet gewesen. Eindeutig waren dort die Kabinen der Besatzungsmitglieder, während die Mittelzigarre als Laderaum diente. Die Kommandobrücke wirkte wie ein aufgesetzter Pickel über dem Frachtraum und war der höchste Punkt des gesamten Schiffes.

„Willkommen auf der „Baltim“.“ begrüßte sie der Kommandant am Fuße einer Treppe, die in den Frachtraum führte.

„Wir sollten so schnell wie möglich verschwinden.“ ignorierte Balta den freundlichen Empfang.

„Natürlich. Sobald ich eure Eintrittskarte habe.“ blieb der Kommandant freundlich. Es dauerte nicht einmal eine Minute, bis Balta das Gewehr aus seinen Einzelteilen zusammengesetzt hatte. Nachdem der Kommandant seine „Eintrittskarte“ übernahm, sich genetisch registrieren ließ und sich des brauchbaren Zustands versichert hatte, begann er sich vorzustellen.

„Ich begrüße euch an Bord. Mein Name ist Mario del Gran Edificio. Sicherlich hat der Name auch eine Bedeutung. Leider konnte mir bisher niemand sagen welche. Daher bin ich euch nicht böse, wenn ihr mich einfach Mario nennt.“ Er grinste über das ganze Gesicht und es war an Hand des Vollbartes schwer zu ergründen, ob er über die unbekannte Herkunft seines Namens feixte oder ob er sich über das neu erworbene Gewehr freute.

„Mario vom großartigen Anwesen.“ übersetzte Sentry vollautomatisch. Nicht nur er war über dieses nutzlose Wissen überrascht. Diese Aktion brachte ihm die fragenden Blicke sämtlicher Anwesenden ein.

„Hier haben wir wohl jemanden der tote Sprachen spricht. Ich habe da noch ein paar Sachen, die du mir bei Gelegenheit übersetzen kannst.“ Marios Überraschung war deutlich rauszuhören.

Zum ersten Mal spürte Sentry das erhabene Gefühl von Freiheit, als er durch den Boden das Schiff betrat. Dieser Haufen Metall würde ihn wegbringen von den furchtbaren Erlebnissen der vergangenen Wochen. Für ihn war die „Baltim“ der Stift mit dem er ein neues Kapitel seiner bisher übersichtlichen Biographie schreiben würde. Frei von Schmerz und Leid, soviel hatte er sich vorgenommen. Keine Reds oder Kains, die in ihm nicht mehr als ein Spielzeug sahen. Er allein würde sein Schicksal bestimmen, in dieser für ihn unbekannten Welt.

Eva war direkt hinter ihm gewesen, aber sie zögerte die „Baltim“ zu betreten. Ein letzter Anflug von Zweifel überkam sie. Von all den Entscheidungen, die sie in ihren noch jungen Jahren getroffen hatte, war nichts mit diesem Augenblick vergleichbar. Sie würde Lassik verlassen. Mehr noch sie würde ihre Familie zurücklassen. Das Bild ihrer Schwester kam ihr in den Sinn, wie sie da lag, vollkommen ausgemergelt und blass in ihrem Zimmer. Sie wollte die Erinnerung nicht auf dieses letzte Treffen reduzieren, aber ihr Gewissen verwehrte ihr angenehmere Rückblicke. In dieses Schiff zu steigen war logisch, denn die Alternative wäre ihr sicherer Tod. Sie war auf der Flucht. Warum hatte sie dennoch das Gefühl genau das Falsche zu tun? Sollte sie nicht die letzten Momente mit ihrer Schwester teilen? Sie schaute zurück auf die Menschen, die im Sicherheitsbereich hin und her eilten, um ihre verspäteten Flüge zu bekommen. Würde sie Lassik je wieder sehen? Dina holte sie aus der Wehmut.

„Nun sind wir alle heimatlos. Das Leben kann echt beschissen sein.“ versuchte sie sich als Trösterin, aber der Effekt war gleich null. Eva schaute rüber zu Eric, der ebenfalls zögernd auf der Treppe stand. Sie nahm seine Hand und gemeinsam überwanden sie ihre Zweifel und betraten die „Baltim“.   

Es gab nur eine Passagierkabine und die war unglücklicherweise für maximal zwei Personen ausgelegt. Zu fünft mussten sie sich abwechseln mit schlafen und da bei Balta die Nanotechnologie ihren Tribut forderte, bekam er das Privileg der ersten Erholung. Diejenigen die nicht ruhten, verbrachten die Zeit im Aufenthaltsraum, der gleichzeitig auch als Kantine diente. Kommandant Mario hatte seine eigene Kabine und die vier Besatzungsmitglieder teilten sich zwei weitere Räume. Alles im allen war die „Baltim“ sehr spartanisch eingerichtet und Sentry drängte sich der Vergleich zu Reds Schiff förmlich auf. Er war zwar kein Gefangener mehr, aber die Freiheit beschränkte sich zwischen Schlafkabine und Aufenthaltsraum. Die Aussicht wochenlang in diesem beengten Schiff zu zubringen, gefiel ihm überhaupt nicht.

„Ok hier unserer Zeitplan.“ Mario hatte die Passagiere vor dem Start in der Kantine zusammen gerufen.

„72 Stunden bis zum Exson. Ohne größere Verzögerungen haben wir weitere 72 Stunden bis zum Sprung. Unser Ziel ist wie vereinbart die Yuma-Station. Vom so genannten Zentrum des Universums, könnt ihr dann eigentlich überall hin.“ Sentry schaute in die Gesichter der Gruppe. Offenbar war er der Einzige, der die Worte des Kommandanten nicht verstand.

„Kann mich jemand aufklären, was das alles bedeutet?“ fragte er eher schüchtern in die Runde.

„Du weist was Schafe sind, du kennst ausgestorbene Sprachen, aber ein Exson kennst du nicht? Da hast du wohl in der Schule die falschen Fächer belegt.“ Dina schaute ihn ungläubig an. Sentry konzentrierte sich auf die freigegebene Bibliothek seines Wissens. Nichts. Das Wort Exson gab es nicht.

„Tut mir Leid, aber offenbar habe ich da eine Wissenslücke.“ erwiderte er trotzig. Auch der Kommandant war verwirrt. Sentry fühlte sich wie ein Kind, das gerade daran scheitert sich die Schnürsenkel zu binden. Es war Balta, der die peinliche Situation auflöste.

„Es gibt nur wenige Schiffe mit einem Sprungantrieb. Dieses hat keins. Das bedeutet die meisten sind auf eine Art Transporter angewiesen, der zwischen den Systemen pendelt. Es gibt nur noch sieben dieser Transferschiffe. Alle stehen unter der Verwaltung der Exson. Daher auch der Name. Ihre Zentrale ist Yuma. Von da aus springen die Schiffe in die einzelnen Regionen und wieder zurück. Da sie quasi das Monopol haben und über den Fahrplan entscheiden können, sind sie so was wie die heimlichen Herren der Galaxie. Wir werden also in drei Tagen andocken an eines der Exson und drei Tage später geht’s nach Yuma. Das ist das, was Mario uns eigentlich sagen wollte.“ übersetzte Balta für Sentry. Dina hatte Recht. Wieso fehlten genau solche wesentlichen Informationen in seinem Wissen?

„Gut. Da jetzt auch der Letzte über unsere Pläne Bescheid weiß, würde ich jetzt die Standardschwerkraft zuschalten und dann verschwinden wir von hier.“ beschloss Mario die Versammlung.

Das hatte Sentry vollkommen vergessen. Die erhöhte Schwerkraft auf Lassik hatte er mittlerweile als gegeben hingenommen und in dem Moment, in dem man die Gewichte von seinen Schultern nahm, fühlte er sich vollkommen überangepasst an die hiesigen Verhältnisse.

„Ein Wahnsinn. Ich habe das Gefühl als könnte ich 200kg stemmen.“ Eric drückte die Empfindung aus, die auch Sentry gerade durchflutete. Einmal mehr hielt er sich für unverwundbar.

„Genieß das Gefühl, denn in ein paar Wochen wirst du vermutlich breiter als höher sein.“ warnte Dina.

„Wieso denn das?“ fragte Eric.

„Sie traut dir nicht zu das Ungleichgewicht zwischen Kalorienzufuhr und Kalorienverbrauch anzupassen.“ hakte Mario spöttisch ein.

„Hä?“ Diesmal war es Eric, der nichts verstand.

„Ganz einfach. Auf eurem Höllenplaneten brauchtest du mehr Energie und daher auch mehr Kalorien. Hier brauchst du weniger Energie, also auch weniger Kalorien. Du wirst sehen, dein Körper verlangt weiterhin die gewohnte Menge und schon mutierst du vom Muskelprotz zum Schwabbelbauch.“ Mario feixte über Dinas Vergleich.

„Mehr zum lieben für die Frauen.“ Er strich lachend über Erics Bauch.

„Niemals.“ Eric wirkte entschlossen.

„Das schreit nach einer weiteren Wette.“ Dina war guter Laune, als sie spürte wie das Schiff abhob.

„Zehn Kilo in 8 Wochen.“ schlug sie vor.

„Niemals. Da halte ich dagegen.“ Er konnte sich gar nicht vorstellen zehn Kilo zu zunehmen.

„Einsatz? Diesmal kein Bier. Egal was der Gewinner verlangt, der Verlierer tut es. Einverstanden?“ Dinas Grinsen verlieh Eric das Gefühl gerade seine Seele verpfändet zu haben. Trotzdem schlug er ohne zu zögern ein.

„Ich überlege mir inzwischen schon was Schönes.“ Dina wirkte siegesgewiss.

Sentry stand am Fenster der Kantine. In Bewegung zu sein, gab ihm das Gefühl seinen eigenen Dämonen näher zu kommen. Dabei hatte er Angst, trotzdem musste er sich ihnen stellen. Der umwerfende Anblick, wie der Planet unter ihm kleiner wurde, wie die Sonne im Hintergrund ihr Licht entfaltete und die Monde halb erleuchtete, stärkten das Gefühl der Überlegenheit, dass ihm die überdimensionierte Muskulatur vortäuschte. Er war voller Selbstvertrauen, immerhin hatte er diesem Planeten mit all seinen Widrigkeiten getrotzt und jetzt ließ er ihn hinter sich, schüttelte ihn ab, wie ein lästiges Insekt, das ihn viel zu lange genervt hatte. Im Nachhinein betrachtet, wirkten die vergangenen Ereignisse als widrige Erfahrung, aus denen er gestärkt hervor ging. Das er fast jeden Moment da unten um sein Leben fürchtete und das sämtliche Obrigkeiten hinter ihm her waren, verblasste mit jedem Meter, den das Schiff zwischen ihn und den Planeten brachte. Immer mehr überwiegten die wenigen positiven Erfahrungen und die nutzte er, um seine geistige Stabilität weiter zu festigen. Er brauchte die Kameradschaft von Eva, Dina und auch Eric, um das mentale Durcheinander in seinem Kopf in Grenzen zu halten. Die Tatsache, dass da mehr als er selbst in seinem Kopf ist, verängstigte ihn mehr als alle Reds dieser Welt. Was passiert wohl, wenn die geistige Barriere fällt? Würde Sentry dann aufhören zu existieren? Plötzlich war er sich nicht mehr sicher, ob die Blockade in seinem Kopf ihn abhalten sollte etwas über sich zu erfahren oder ob sie als Schutz zu seinem jetzigen Ich diente. Sentry war mittlerweile viel zu weit entwickelt, als das er einfach so überschrieben werden könne. Er hatte Angst einfach ersetzt zu werden.

Obwohl die Reise zum Exson nur drei Tage dauerte, zeigten die beengten Verhältnisse schnell ihre Wirkung. Der Ton der üblichen Kabbeleien zwischen Dina und Eric wurde rauer. Auch Eva wurde zunehmend gereizt. Obwohl der Aufenthalt auf der „Baltim“ für Sentry das erste Mal aus freien Stücken erfolgte, war der Lagerkoller nicht weniger heftig als in Reds Gefängniszelle. Gab es damals einen gewissen Zusammenhalt, weil man das Schicksal der Unterdrückung teilte, ging man sich hier schon wegen Kleinigkeiten an die Gurgel. So sehnten alle die Ankunft herbei, denn alles was über das Exson bekannt war, versprach mehr Abwechslung, als der triste Alltag auf der „Baltim“.

Für Sentry war die Anspannung solange hoch, bis er dem unausweichlichen Gespräch mit Balta beiwohnte. Die Mädchen hatten die Nachtschicht und Eric fachsimpelte im Kontrollraum mit der Besatzung. Sie waren unter sich. Sentry begann mit seiner Geschichte, wie er von Red in einem Tiefkühler gefunden wurde und sein Gedächtnis diese Erinnerungen hemmende Blockade aufwies. Er schilderte sein Dasein als Gefangener und schließlich erzählte er ihm von dem Schmuckstück und der Frau auf dem Foto. Die Femtos ließ er vorerst außen vor. Balta hörte sich das Ganze an und begann seinerseits mit der Geschichte.

„Ich bekam die Nanotechnologie vor etwa dreißig Jahren.“ Schon der erste Satz versetzte Sentry in ungläubiges Schweigen. Balta konnte doch höchstens 25 sein.

„Wenn man infiziert wird, machen die eine Art Kopie von deinem Körper. Die kleinen Kerle sind darauf programmiert, genau diesen Zustand zu erhalten. Alles was an Beschädigungen vorher eingetreten war, ist unwiderruflich hinüber. Dem Kerl, von dem ich die Dinger bekommen hatte, fehlten zum Beispiel zwei Finger. Und ja, man altert nicht, denn Altern ist eine Art Verschleiß von Zellen und Verschleiß ist für die kein Problem.“ Balta machte eine Pause.

„Das heißt ich kann nicht sterben?“ fragte Sentry skeptisch.

„Jedenfalls nicht auf natürlichem Wege. Wie ich die Vorfahren kenne, gibt es bestimmt auch ein Gegenmittel gegen diese Biester. Würde mich wundern, wenn nicht.“ Balta fuhr fort.

„Wie du schon richtig festgestellt hast, kann man die nicht einfach transferieren. Man muss sie auf den jeweiligen Wirt anpassen und das geht nur über Vorfahrentechnologie. Das ist nicht das einzige Problem. Man benötigt auch einen Spezialisten, der sich mit dieser Technologie auskennt. Selbst als Neuling in dieser Welt müsste dir mittlerweile klar geworden sein, dass Spezialisten in Genforschung eher die Ausnahme sind. Aber es gibt einen Ort, an dem Forschung und Wissenschaft betrieben werden. Nur Wenige wissen, wo er ist. So viel vorweg, ich weiß es auch nicht.“ Sentry war enttäuscht. Immerhin hatte er sich erhofft, dass Balta ihn dort hin brächte.

„Ich kenne jemanden, der weiß, wie man da hinkommt.“ kam Balta Sentrys Frage zuvor.

„Forschung? Wer finanziert denn so was?“ fragte er stattdessen.

„Sie erforschen nichts Neues. Sie sammeln jegliche Form von Vorfahrentechnologie, ergründen ihr Prinzip, stellen es selber her und verkaufen es weiter. Ich denke mal die klügsten Köpfe der Menschheit sind an diesem Ort.“

„Wir erforschen unsere eigenen Entwicklungen?“ fragte Sentry ungläubig.

„Das Wissen ist über die Jahrhunderte verloren gegangen. Die ganzen technischen Spielzeuge, die wir auf Lassik gefunden haben, wären eine Goldgrube für die Science.“

„Und diese Science sind so geheim, dass nur wenige von ihnen wissen?“ fragte Sentry ungläubig.

„Nein. Würde nicht viel Sinn machen, da sie ja was verkaufen wollen. Jeder weiß, dass es sie gibt. Nur keiner weiß, wo sie sich befinden. Sie handeln ausschließlich über Geschäftspartner ihres Vertrauens und ich kenne einen von ihnen.“ In Sentry arbeitete es. Reds Kontakte, die wussten, wie man die Femtos aus ihm herausbekommen würde und wie er sich selber infizieren könne. Das waren diese Science. Ihm kam das Bild in den Sinn, wie Dart in diesem unterirdischen Bunker die Computer den eigentlichen Schätzen vorzog. Das Wissen über genetisch verändertes Getreide würde die Inc. mächtiger machen als, all der Trödel der noch da unten rum lag. Auch das ging vermutlich nur mit Hilfe der Science.

„Und du warst bei ihnen?“ fragte Sentry.

„Vor über dreißig Jahren. Ihr Standort ist kein Planet, soviel weiß ich, es ist etwas Mobiles. Sie können ihre Position ändern.“ Balta war ungewöhnlich auskunftsfreudig, was Sentry nutzen wollte, um weiter nachzuhaken.

„Wenn ich da auftauchen würde mit meinen winzigen Viechern in der Blutbahn. Wie würden sie mich empfangen?“ fragte er.

„Du bist vermutlich das Wertvollste, was sie je in die Hände bekommen haben. Ich nehme mal an, du hast nicht nur zwei verschiedene winzige Viecher in dir.“ Baltas Kombinationsgabe überraschte Sentry nicht mehr.

„Es sind sieben. Was mich interessiert ist Folgendes. Sehen sie mich als Laborrate und machen alle möglichen Tests an mir oder würden sie mir ernsthaft helfen?“ Sentry wusste nicht, ob er eine ehrliche Antwort bekommen würde, immerhin verfolgte Balta hier eigene Interessen.

„Sieben? Und du kennst nur zwei Funktionen. Mich würde es zerreißen, wenn ich nicht wüsste, was die Anderen so drauf haben.“ wand sich Balta.

„Das ist keine Antwort auf meine Frage.“ beharrte er weiter.

„Vermutlich liegt die Wahrheit irgendwo dazwischen. Es sind in erster Linie Geschäftsleute und ihr primäres Ziel ist Gewinn zu machen. Anderseits machten sie mir damals nicht den Eindruck über Leichen zu gehen, sowie die Inc. das praktiziert.“ Er zögerte kurz bevor er fortfuhr.

„Meines Erachtens hast du nur zwei Optionen. Du versuchst diesen Red zu finden und hoffst, dass er dir mehr über dich erzählt oder du versuchst dein Glück bei der Science. Ich würde letzteres bevorzugen und das nicht nur aus Eigennutz. Alles, was ich bisher gehört habe über diesen Red, ist er eher der Typ, den man meiden sollte.“ Balta hatte Recht. Auf der Suche nach sich selbst hatte er das erste Mal eine Gabelung erreicht, an der er eine Entscheidung treffen musste. Es war offensichtlich welcher Weg der Einfachere war, auch wenn das bedeuten würde, dass er und Dina in Zukunft getrennte Wege gehen würden. Der Gedanke daran versetzte ihn in Wehmut. Zu viel hatte man gemeinsam durch gestanden. Sie war ein wesentlicher Bestandteil seines bisherigen Daseins geworden. Eine sichere Konstante in dem Chaos seines Lebens. Er würde sie vermissen.

„Sagen wir mal ich bevorzuge Variante zwei. Mit Sicherheit willst du die Türöffner als Preis.“

„Nein. Diese Dinger sind mehr Fluch als Segen. Von dir verlange ich gar nichts. Die Science wird mich bezahlen.“ Balta klang bedrückt.

„Also werde ich doch wieder verkauft. Wie hoch ist denn mein Preis?“ Sentrys Freiheit war ein Trugschluss. Er war gezwungen diesen Weg zu gehen, ob aus freien Stücken oder unter Zwang. Das Ziel war die Science, sie alleine würde Licht in die Dunkelheit seiner Vergangenheit bringen.

„Kein Geld. Ich habe fast jede Welt in den letzten dreißig Jahren besucht und auch wenn du das anders siehst, war Lassik noch einer der besseren Planeten. Wir leben in einer Galaxie voller Leid. Egal wo du bist, es ist immer ein Überlebenskampf. Der einzige Ort, der lebenswert ist, ist bei der Science. Mein Preis wird das Aufenthaltsrecht sein und ich will, dass sie diese Mistviecher in mir deaktivieren.“ Sentry war keiner Antwort fähig. Damit hatte er nicht gerechnet. Balta hatte sich ihm offenbart und damit seine bisherige Sichtweise auf ihn vollkommen verändert. Auf einmal war es kein Geschäft mehr zwischen den beiden. Sentry würde ihm helfen einen Fehler der Vergangenheit zu korrigieren und damit würde sie die ganze Mission stärker verbinden, als pure eigennützige Ziele. Er hatte Mitgefühl mit ihm, denn er kannte den Fluch der Femtos, trotzdem blieben die warnenden Stimmen im Hintergrund. Zu berechnend war Balta bisher gewesen. Vielleicht hatte er auch nur gezielt einen Knopf gedrückt. Zum ersten Mal zweifelte er an der Richtigkeit seiner Instinkte. Hatte er es geschafft ihn zu manipulieren und wenn ja zu welchem Zweck? Er musste wachsam bleiben. Er brauchte dringend Informationen über diese Science.

Eva betrat den Raum und beendete damit unbeabsichtigt ihr Gespräch. Zuviel ging ihr durch den Kopf, als dass sie hätte schlafen können. Sie hatte keine Ahnung, wie es weiter gehen sollte. Nicht nur dass sie selbstständiges Denken in den letzten Jahren auf ein Minimum zurück gefahren hatte, sie befand sich auch in einer Welt, die sie nicht kannte. Die vorherrschende Angst wollte sie Niemanden zeigen. Die Erlebnisse im Slum hatten schon zuviel von ihrer Verletzlichkeit preisgegeben. Wenn sie eins gelernt hatte im Tempel, dann war es das unterdrücken von Empfindungen, die sie gerade beschäftigte. Sie setzte sich an das andere Ende des Tisches, soweit weg wie möglich von ihren Begleitern. Balta verabschiedete sich und nutzte das freie Bett für die Regeneration. Seit der Heilung im Slum hatte er es nicht geschafft die nötige Ruhe zu finden. Die beiden Verbliebenen betrieben bisher keine große Konversation und somit war das Schweigen nach dem Austauschen einiger Höflichkeitsfloskeln bedrückend.

„Es ist bestimmt nicht leicht die Familie zu verlassen.“ Sentry bereute diese Aussage sofort, aber ihm fiel auf die Schnelle nix Besseres ein das peinliche Schweigen zu durchbrechen.

„Du weißt nichts über sie.“ raunte sie ihn an.

„Ich bin dir unheimlich dankbar für das, was du getan hast.“ versuchte er seinen Fehler zu korrigieren. Der Erfolg hielt sich in Grenzen, denn Eva blieb weiter abweisend.

„Ohne dich wäre ich nicht hier. Du hast dein ganzes Leben aufgegeben, um mir zu helfen.“ versuchte er es unbeirrt weiter.

„Das hatte nichts mit dir zu tun.“ kam es kühl zurück.

„Egal. Ich stehe in deiner Schuld und ich habe das Gefühl etwas zurückgeben zu müssen.“ Sentry zögerte kurz bevor er fort fuhr.

„Ich habe Angst.“ gestand er.

„Ich habe Angst vor dem da draußen, Angst was mich erwartet. Vor allen Dingen traue ich mir selbst nicht. Ich weiß nicht, ob ich den Dingen, die vor mir liegen, gewachsen bin. Ich bin Leuten wie Balta hilflos ausgeliefert.“ Damit hatte er unbeabsichtigt eine Gemeinsamkeit geschaffen. Bisher hatte Eva das Gefühl gehabt, Sentry meistere sein schweres Los souveräner.

„Ich bin verletzlich, weil ich niemandem trauen kann, nicht einmal Dina. Du bist der erste Mensch, der diese Bezeichnung auch verdient. Du hast mein Wohl über dein Eigenes gestellt. Es ist paradox. Bei der Einzigen, bei der ich bereit wäre so etwas wie Vertrauen entgegen zu bringen, beiße ich auf Stein. Wir teilen ein ähnliches Schicksal, aber du hast die Erinnerungen an deine Familie, wenn die Zeiten ungewöhnlich hart werden. Ich habe nur ein Bild einer unbekannten Frau, bei der ich mir nicht mal sicher sein kann, ob das meine eigenen Erinnerungen sind.“ Er hielt inne.

„Ich beneide dich für diesen Anker.“ Er hatte sich vor ihr mental entblößt und die Wirkung blieb nicht aus. Auch wenn Eva unfähig war ihre Empfindungen zu zeigen, hatte er mit der Offenbarung seines seelischen Zustandes einiges an Vertrauen erkauft. Sie nahm seine Hand und diese Geste war das höchste Maß an Durchlässigkeit, was ihr emotionaler Schutzpanzer zuließ.

„Ich kann dir nicht geben, wonach du suchst. Ich habe in der Vergangenheit zu viele Leute enttäuscht.“ Sie rang nach den richtigen Worten.

„Ich bin niemand, der man vertrauen sollte.“ Damit hielt sie das Gespräch für beendet, aber Sentry sah sich gezwungen etwas Abschließendes zu sagen.

„Das sehe ich anders und ich bin mir sicher irgendwann wirst du das auch anders sehen.“ Trotz der klaren Absage hatte er das Gefühl ihr wieder ein Stück näher gekommen zu sein. Ihre Vergangenheit ließ sich nicht so ohne weiteres abschütteln, das benötigte Zeit und er hoffte, dass sie ihren Weg gemeinsam weiter gehen würden.

Er lag im Bett als die Durchsage Sentry unsanft aus dem Dämmerschlaf holte. Just in jenem Moment, in dem die Müdigkeit über seine rastlosen Gedanken siegte, weckte ihn Marios Stimme.

„Aufgepasst. Das Ende unserer Reise naht. Wir haben Glück. Auf der Steuerbordseite haben wir die Exson 5, auch genannt die „verruchte Braut“. Mein absoluter Favorit unter den Exsons. Wir werden in etwa dreißig Minuten anlegen. Macht euch bereit für Spaß und Abenteuer.“ verkündete der Lautsprecher Marios Botschaft. Im anderen Bett fühlte sich Eric ähnlich durch den Wind wie Sentry.

„Ist Steuerbord links oder rechts?“ fragte er müde und zog den Vorhang weg.

„Definitiv rechts. Wow ist das ein Teil.“ Er starrte wie paralysiert aus dem Fenster. Sentry gesellte sich zu ihm. Was er sah, verschlug auch ihm die Sprache. Durch das Fehlen von Vergleichsmöglichkeiten war die Dimension des Exsons schwer zu schätzen, aber es musste das Größte von Menschen erschaffende Objekt sein, das er je gesehen hatte. Je näher sie kamen, umso mehr füllte es das komplette Sichtfeld aus. Am Anfang sah es aus, als hätte man einen Mantel um ein gigantisches aufrecht stehendes Ei gepackt. Nur oben und unten schauten die Pole heraus. Erst mit der Annäherung stellte sich heraus, dass es sich eigentlich um ein Geflecht von Ringen handelte, die um das zentrale Ei angebracht waren. Sechs konnte er gerade noch zählen, bevor sie so dicht dran waren, dass er die oberen und unteren nicht mehr sehen konnte. Weitere zwei Minuten später erkannte er Schiffe an den Ringen, erst die größeren, dann auch kleinere. Andockbuchten. Sicher war das auch ihr Ziel. Manche der Schiffe sahen aus wie die „Baltim“, die meisten unterschieden sich aber deutlich in Form und Größe. Wie schon in der Station auf Lassik, rechnete er hoch, wie enorm das technische Potential der Vorfahren gewesen sein musste, wenn vor ihm nur noch ein Bruchteil dessen lag, was die Jahre überlebt hatte.

„Allein für diesen Anblick hat sich dass Verlassen von Lassik gelohnt. Auf ein Mal kommt mir meine Heimat wie tiefste Provinz vor.“ Eric war wieder in seinem Element. Der Anblick dieser technischen Leckerbissen ließ ihn das Heimweh vergessen.

„Wie groß ist das?“ fragte Sentry mehr sich selbst.

„In der Längsausdehnung 4,2km in Querrichtung über 10km. Die Spitzen sind eigentlich rechts und links, also Back- und Steuerbord. Na wie auch immer. Jedenfalls kommen wir gedreht rein.“ erklärte Eric, der sein Wissen über die Exsons technischen Beschreibungen aus der Bibliothek von Lassik entnahm. Als hätte der Kommandant die Worte von Eric gehört, vollzog das Schiff eine halbe Rolle, so dass das eingehüllte Ei nun in Längsrichtung vor ihnen lag.   

„Erzähl mir mehr davon.“ Sentry war von seinem Enthusiasmus angesteckt.

„Viel weiß ich auch nicht. Die Dinger sind wie eine große Stadt. Angeblich sollen bis zu 50000 Menschen an Bord sein, die von den Reisenden leben. Technisch weiß ich nur soviel, dass im Kern des zentralen Körpers sich der Sprungantrieb befindet. Die Ringe sind Schleusen für die ankommenden Schiffe. Über 600 Andockbuchten. Vermute mal, dass die in der heutigen Zeit nicht alle ausgelastet sind.“ erklärte Eric sichtlich erfreut sein angelerntes Wissen anzubringen.

„Wie funktioniert das mit dem Sprungantrieb? Den Raum zu krümmen muss doch wahnsinnig viel Energie verbrauchen.“ Sentry kramte wieder im freigegeben Wissen, aber da waren nur Fragezeichen.

„Gut kombiniert. Die Energiemenge ist so groß, dass alle Materie dieses Universums benötigt werden würde.“ bestätigte Eric und erntete einen ungläubigen Blick.

„Sie zapfen Paralleluniversen an. Genau genommen zerstören sie sie. Frag mich nicht wie, aber dieses Ei in der Mitte schafft eine Brücke und dann saugen sie es aus.“

„Sie saugen es aus?“ Sentry war skeptisch.

„Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll. Du musst dir die andere Welt als riesigen Treibstoffbunker vorstellen und wir halten von unserer Seite das Streichholz ran. Mit einem riesigen Knall katapultiert es uns in die gewünschte Richtung. Was zurück bleibt sind Abgase.“ Der Vergleich war sehr vereinfacht, aber möglicherweise gab es niemanden mehr, der ihm Details erläutern konnte.

„Sie zerstören ganze Universen. Was, wenn das jemand mit unserem Universum macht?“ Sentry schauderte.

„Unwahrscheinlich. Es gibt unendlich viele Variationen. Nachzulesen in der Quantenphysik. Dass es überhaupt etwas gibt, dass unserer Welt ähnelt ist schon ziemlich unwahrscheinlich.“ Eric wusste auch nicht mehr und in Sachen Quantenmechanik war sein Wissen ähnlich überschaubar, wie das von Sentry.    

Sie begaben sich in den Gemeinschaftsraum, wo sie bereits von den Anderen erwartet wurden.

„Sollten Sie nicht auf der Kommandobrücke sein und den Andockvorgang überwachen?“ fragte Eric Mario besorgt. Dieser lächelte freundlich zurück.

„Die Mannschaft ist bestens ausgebildet, mein besorgter Freund. Was euch viel mehr Sorgen machen sollte, ist die Tatsache, dass ihr mittellos seid. Ihr könntet die Tage hier auf der „Baltim“ zubringen, während da draußen sich so ziemlich jeder amüsiert oder ihr habt etwas, was ihr gegen harte Währung eintauschen könntet.“ Mario sah mit Freuden dem nächsten Geschäft entgegen. 

„Da bleiben nur wieder Waffen. Wir haben noch drei Pistolen.“ machte Balta das erste Angebot.

„Wunderbar. Das Exson ist sowieso waffenfreie Zone. Ich mache euch ein faires Angebot.“ Es folgte ein professionelles Gefeilsche. Erst zehn Minuten später konnten sich beide Parteien auf einen Preis einigen. So blieb der Gruppe gerade noch eine Pistole, die im Ruheraum sicher verwahrt wurde. Der Erlös, die so genannten Kredite wurden gleichmäßig verteilt. Dabei handelte es sich um eine Art Jetons, die fälschungssicher einen Transponder beinhalteten. Sentry bekam fünf Blaue und während er noch überlegte, was er sich dafür auf dem Exson leisten konnte, ging ein leichtes Ruckeln durch die „Baltim“. Sie hatten angelegt.

„Die „verruchte Braut“ ist ein sehr raues Pflaster. Es gibt zwar einen Sicherheitsdienst und Waffen sind offiziell verboten, trotzdem ist jede Menge Gesindel unterwegs. Versucht nicht negativ aufzufallen und euch an bestimmte Regeln zu halten, dann könnt ihr viel Spaß haben. Ich empfehle euch Habitatring vier, da ist am meisten los. Wir befinden uns an Habitatring zwei, Dock 72b. Nur zur Info für den Fall, dass ihr Heimweh nach der „Baltim“ bekommt.“ gab Mario noch ein paar letzte Informationen, bevor er die Schleuse öffnete. Sentry gab wieder das Wort „Exson“ in die Maske seiner mentalen Suchmaschine ein. Nichts und schon gar keine Informationen darüber, wie man sich an solch einem Ort benehmen sollte. Wie konnte er sich an bestimmte Regeln halten, wenn er nicht wusste, was sie beinhalten. Er schaute rüber zu Eva und Eric. Auch sie zweifelten an den neuen Gegebenheiten und Marios Worte verunsicherten sie genauso wie ihn. Sie mussten sich an Dina und Balta halten, bis sie mit den örtlichen Bedingungen vertraut waren.

„Sie werden gleich wieder einen genetischen Scan machen. Versuche nicht ihr ganzes Computernetzwerk lahm zu legen. Das ist nur zur Registrierung.“ raunte ihm Balta in der Luftschleuse zu. Als hätte Sentry auf Lassik die Wahl gehabt. Auch jetzt ist er seinen Femtos ausgeliefert, aber irgendwas in ihm wusste, dass die Sache diesmal ereignislos ausgeht. Es gab einfach keinen Grund für solche Maßnahmen.

„Eingangsregistrierung.“ wurden sie von einem kleinen Mann in schwarzer Uniform an der Luftschleuse begrüßt. Er tippte fleißig auf seinem Pad, ohne auch nur einmal aufzuschauen.

„Ich hoffe ihr wart alle schon mal hier und seit bereits registriert, dann bringen wir die Sache schnell über die Bühne.“ Er wirkte, als würde die lästige Formalität ihn von wichtigeren Dingen abhalten.

„Leider nein. Drei Neuankömmlinge.“ nahm ihm Balta seine Illusion.

„Na toll. Fangen wir mit den Bekannten an. Daumen drauf.“ Er hielt Balta das Pad vor die Nase. Dieser drückte wie befohlen seinen Daumen auf die vorgesehene Fläche. Ein kurzer bestätigender Ton und schon war die Sache für ihn erledigt. Ähnlich erging es Dina, die ebenfalls schon Gast der „verruchten Braut“ war. Die nächste war Eva, nach ein paar Standardfragen wie Herkunft, Geschlecht und eventuelle Krankheiten, wurde sie nach zufriedenstellenden Antworten genetisch neu registriert. Eric verhaspelte sich ein paar Mal mit seinen Antworten, bekam aber trotzdem die ersehnte Registrierung. Als letztes musste sich Sentry den Fragen stellen, wobei er Angst hatte, bei einigen Sachen ins Schwimmen zu geraten. Wie sollte er sich über seine Herkunft äußern? Also log er in bestimmten Sachen und das vollkommene Desinteresse des Fragestellers, ließ ihn das schlechte Gewissen schnell verdrängen.

„Gut. Daumen drauf und dann haben wir es.“ forderte der Uniformierte. Sentry zögerte kurz, aber nach der Einsicht, keine andere Wahl zu haben, drückte er entschlossen seinen Daumen auf das Pad.

Das folgende Signal war anders und schon allein diese Tatsache reichte aus, um seinen gelassenen Gemütszustand in panische Unruhe zu versetzen.

„Was soll denn das? Verschwenden hier meine Zeit. Sie sind bereits im System. Wir hätten uns das alles sparen können.“ fluchte der Registrator. Sentry krampfte sich der Magen zusammen. Er war schon mal hier gewesen. Was er jetzt brauchte waren mehr Informationen.

„Wann?“ blaffte er den kleinen Mann an. Zu mehr Worten war er nicht in der Lage, bei seinem heftigen Pulsschlag. 

„Was? Sie wollen Informationen. Wenn Sie selbst nicht über sich Bescheid wissen, von mir erfahren Sie nichts.“ gab er trotzig zurück. In Sentry kochte die Wut hoch. Auf einen Schlag personifizierte dieser kleine Mann all die schlechten Erfahrungen der letzten Wochen. Er freute sich auf das befreiende Gefühl, die geballte Faust im Gesicht dieses elendigen Wichts zu versenken.

Es war Balta, der ihn von dem sicheren Ärger abhielt, den solch eine Aktion mit Sicherheit nach sich ziehen würde. Er zog einen seiner blauen Jetons aus der Tasche und hielt sie dem sichtlich verärgerten Beamten vor die Nase.

„Sie müssen ihn verstehen, sein Gedächtnis ist nicht mehr das Beste. Daher wären wir Ihnen sehr verbunden, wenn wir einige Informationen über den letzten Aufenthalt bekommen könnten.“ Beim Anblick des Jetons entspannte sich die Miene des kleinen Mannes.

„Gut. Mal schauen, was wir hier haben. Der letzte Besuch muss mehr als 15 Jahre zurückliegen. Es gibt nämlich nur noch die Registriernummer und einen Negativ-Eintrag.“ Diese Information befriedigte Sentry nicht wirklich.

„Wieso ist alles Andere gelöscht?“ fragte er gereizt.

„Wir haben nicht unendlich Speicherplatz. Wir nutzen das Ringspeicherprinzip, bei dem die ältesten Informationen überschrieben werden, sobald die Grenzen erreicht sind. Eigentlich sollte nur die Registriernummer verbleiben. Der Negativ-Eintrag sollte nach mehr als 15 Jahren ebenfalls verfallen sein. Seltsam. Sie können doch nicht älter als zehn gewesen sein. Was haben Sie denn damals angestellt, dass das immer noch im System ist?“ Er tippte weiter auf seinem Pad rum.

„Was auch mit Ihnen los ist, ich darf es nicht wissen. Der Inhalt des Eintrages ist außerhalb des Netzwerkes hinterlegt.“ Sentry wurde jetzt ungläubig gemustert.

„Da müssen Sie sich wohl an die Verwaltung wenden, wenn Sie mehr Informationen brauchen. Schönen Tag noch.“ Er schnappte sich den Jeton und ließ die Gruppe stehen.

„Du wirst immer geheimnisvoller. Also warst du schon mal hier. Vor mehr als 15 Jahren und offenbar kannten sie deinen niedlichen Trick mit dem Knacken von Rechnern, so dass sie auf Nummer sicher gingen und deine Untaten separat abgelegt haben. An deiner Stelle wäre ich sehr vorsichtig. Offenbar bist du kein unbeschriebenes Blatt hier.“ Dina verunsicherte ihn damit noch mehr. War es wirklich möglich, dass er nach der ganzen Zeit noch als Problemfall galt? Fünfzehn Jahre oder hundert oder tausend? Hätte er doch nur gefragt, wann die ersten Registrierungen stattfanden. Er war sich sicher, dass er damals kein Kind war, nicht nachdem ihm Balta offenbarte, dass er nicht altere. Wie kam er nur an diesen Eintrag ran? Es war alles Andere als ratsam bei der Verwaltung nachzufragen, denn das Wort Negativ-Eintrag und die Tatsache, dass sein Femto-Geheimnis bekannt war, würden sicherlich nicht die Hilfsbereitschaft der hiesigen Behörden fördern. Ganz im Gegenteil. Die Geschichte von Lassik würde sich wiederholen. Wieder würde er zum Objekt der Begierde der Mächtigen auf diesem Exson werden. Was passiert, wenn dieser kleine nervige Mann selber zur Verwaltung ginge und pflichtbewusst seine Meldung über den Negativeintrag abliefert oder schlimmer noch, schon längst eine automatische Nachricht an wen auch immer abgegangen war, dass er wieder hier ist? Es endet nie. Irgendwann würde irgendjemand ihn und seine Femtos erwischen. Ein Leben lang auf der Flucht. Sie mussten zur Science und die Dinger aus ihm raus bekommen. Nur dann hat er Ruhe.

Habitatring zwei entpuppte sich als relativ langweiliges Pflaster, jedenfalls war das die einhellige Meinung von Dina und Balta. Für den Rest der Gruppe war alles neu und dementsprechend aufregend fanden sie die ungewohnte Umgebung. Während die Außenseite fast ausschließlich für andockende Schiffe vorgesehen war, befanden sich an der Innenseite Geschäfte und Wohnquatiere, die sich sogar über vier Etagen erstreckten. Über eine Wendeltreppe kam man wahlweise zwei Etagen höher oder eine Etage tiefer. Eva und Eric waren begeistert von der Fülle der angebotenen Waren. Etwas, was sie auf Grund des mangelnden Angebotes auf Lassik nur schwer glauben konnten. Es gab nicht nur eine Vielzahl von Nahrungsangeboten, auch Kleidung und Gegenstände des täglichen Bedarfs, wie Geschirr oder Hygieneartikel, bis hin zu Büchern waren in ungewohnter Anzahl käuflich zu erwerben. Trotz alledem, gab es sehr viel Leerstand an Läden, was dazu führte, dass die Gruppe sich zeitweise fühlte, als wären sie allein auf der Station, da niemand ihnen begegnete und die Räume mit einem Verweis auf den Vermieter anzeigten, dass sie noch zu haben wären.

Die Habitatringe waren verbunden durch Lifte. Fast zehn Minuten brauchten sie, um den ersten zu finden. Auf Geheiß von Mario fuhren sie zum Ring vier. Als die Fahrstuhltüren sich wieder öffneten, war die überschaubare Menge von Passanten einem Gewimmel von Leuten gewichen. Hier gab es fast ausschließlich Bars, Restaurants und Casinos. Musik drang aus verschiedenen Clubs und vereinzelt tanzten Leute auf den Fluren. Alles in allem war es sehr laut und eine Unterhaltung war nur möglich, indem sie sich gegenseitig anschrieen. Die Feier war wohl schon im fortgeschrittenen Stadium, denn die Anzahl der Angetrunkenen übertraf die der Nüchternen um einiges. Sie kämpften sich durch die Menge der Feierwütigen und kamen in ein Bereich, indem es etwas ruhiger zuging.

„Die erste Runde geht auf mich. Danach könnt ihr eure eigenen Pläne durchziehen.“ lud Balta  in normalen Tonfall die Gruppe ein.

Der Zeitpunkt die Bar Namens „Twister“ zu betreten war denkbar schlecht. Offenbar hatte sich ein Konflikt dermaßen hochgeschaukelt, dass es nur einer Kleinigkeit bedurfte, um zu eskalieren. Diese Kleinigkeit war etwa 80kg schwer, hatte furchtbar lächerliche Kleidung an und hörte auf den Namen Eric. Als wären diese Eigenschaften nicht schon Handicap genug, platzte er mit einer Bemerkung über den Geruch heraus, der seiner Meinung nach ihn stark an Urin erinnerte und als er die ungepflegten Hosen einzelner Gäste erblickte, konnte er es sich nicht verkneifen, seine eigenen Schlüsse großspurig zu verkünden. Sein Pech war noch, dass das aktuelle Lied, welches gerade noch als Ablenkung im Hintergrund lief, sich dem Ende neigte und somit die benötigte Ruhe erzeugte, um die Bemerkungen über 120kg schwere Muskelpakete, die sich gerade eingenässt hatten eindrucksvoll zu verstärken. Wie immer wurde ihm erst bewusst, was er getan hatte, als alles Schlimme bereits gesagt wurde. Sein Auftreten veranlasste die gerade noch verstrittenen Parteien sich gemeinsamen ihrem neuen Opfer zu zuwenden.   

Es war eine Mischung aus der neu einsetzenden Musik, aus Baltas Überredungskünsten und, Sentry konnte es kaum glauben, aus Dinas Charmeoffensive, die Eric vor einer ordentlichen Tracht Prügel bewahrte. Das langsam beginnende Lied nahm urplötzlich Fahrt auf und selbst Eva konnte sich der Dynamik nicht entziehen, die dieses Musikstück urplötzlich auf alle Anwesenden im Raum ausübte. „Don´t stop me now“ verkündete der Sänger mit einer prägnanten Stimme in einem Moment noch und kurze Zeit später forderte er alle auf „having a good time, having a good time.“ Unglaublich, welche Wirkung Musik haben kann. Das Tempo des Liedes zog an. Wie im hypnotischen Einklang bewegten sich alle passend zu den Rhythmen und die schlechten Schwingungen, die gerade noch den Raum fluteten, wurden raus getragen, auf den Wogen der Musik.

Eric protestierte zwar kurz, aber der Rest der Gruppe war einstimmig der Meinung, dass auf Grund der knapp entgangenen Schlägerei, die erste Runde auf ihn ging. Das Wechselgeld war eine Anhäufung von roten und grünen Jetons und erst jetzt konnte Sentry den Wert eines blauen Jetons gut einschätzen. Sie waren finanziell gut dabei, was insbesondere Eric eine Warnung einbrachte, seinen Reichtum nicht überall herum zu zeigen.

„Ich geh ins Casino, da kann man mit ein paar einfachen Rechnungen in Wahrscheinlichkeit bestimmt ein riesigen Gewinn machen.“ verabschiedete sich dieser leicht angeheitert nach dem ersten Bier und verschwand Richtung Trubel.

„Da wird er wohl eine weitere Lektion in Sachen Demut erhalten. Ich hoffe bloß, der bringt nicht alle gegen sich auf.“ kommentierte Balta seine Aussage. Eva verabschiedete sich wieder. Die vielen Leute, die sich hemmungslos den Gelüsten hingaben, waren ihr zu wider. Außerdem war ihr nicht nach feiern, daher zog sie die Einsamkeit der „Baltim“ vor. Dina und Balta, sahen es als eine Art Gastgeberpflicht an, dem Neuankömmling Sentry die örtlichen Gegebenheiten zu zeigen. Dieser hatte eigentlich wenig Lust sich zu amüsieren, da er versuchte hinter jeder Ecke irgendetwas Bekanntes zu finden. Aber irgendwann gab er auf, denn selbst nach mehr als 15 Jahren war dieses Unterfangen schon mit funktionierenden Erinnerungen schwierig, mit seiner geistigen Sperre eigentlich unmöglich. Er grübelte immer noch, ob er nach Informationen über sich selber fragen sollte, verschob aber die Entscheidung darüber auf den nächsten Tag. Eigentlich hatten die beiden Recht. Heute sollten sie feiern. Die Probleme wären morgen auch noch da.

Das „Diamant House“ war das komplette Gegenteil zum „Twister“. Das Ambiente war ausgelegt auf Kundschaft mit sehr vielen blauen Jetons und da sie ausreichend davon besaßen, waren sie gern gesehene Gäste. In der hauseigenen Boutique konnten sie sich neu einkleiden und wie Sentry Dina so sah, in ihrer neuen umwerfenden Kleidung, meldeten sich die ursprünglichsten Triebe wieder. Er hatte seit seiner Wiedererweckung keinen Sex gehabt und von daher stand er ordentlich unter Dampf. Das Ganze wurde noch verschärft, nachdem sie den eigentlichen Vergnügungssaal betraten. Dieser ging über die vollen vier Etagen und auf den Rängen rekelten sich Tänzerinnen verführerisch zur Musik. Eine große dunkle Tanzfläche war im Zentrum des Saals und am gegenüberliegenden Ende legte ein DJ elektronische Musik auf. Rechts und links gab es Bars, welche die Feierwütigen mit alkoholischen Getränken versorgten. Sentry konnte gar nicht die Augen von den Tänzerinnen lassen, wie sie da perfekt ausgeleuchtet, sich zu den Klängen der Musik bewegten.

„Für ein paar grüne Jetons gehen sie mit dir mit. Aber das hat Zeit. Lass uns noch ein wenig anderweitigen Spaß haben.“ Balta bestellte drei Cocktails und es dauerte nicht lange, ehe er Dina mit auf die Tanzfläche riss und die beiden anfingen ausgelassen zu tanzen. Sentry kam sich wie ein Fremdkörper vor in der Menge der feiernden Menschen. Als er die beiden aus den Augen verlor, fühlte er ungewohnte Einsamkeit. Gerade Dina fehlte ihm. Jetzt erst wurde ihm schmerzhaft bewusst, dass sie eine ständige Begleiterin in seinem bisherigen Leben war. Bisher waren sie ununterbrochen zusammen.

„Hey schöner Mann. Du wirkst irgendwie verloren an diesem Ort.“ säuselte eine Stimme in sein linkes Ohr, als er sich in eine ruhigere Ecke zurückgezogen hatte.

Er drehte sich nach links und die gerade abgeflauten lüsternen Gedanken in Richtung Dina oder der Tänzerinnen bekamen neue Nahrung. Vor ihm saß eine Frau, die sich anschickte in ihrem atemberaubenden Einteiler, der ihre an sich schon anbetungswürdige Figur noch weiter hervorhob, einen perfekten ersten Eindruck bei ihm zu hinterlassen. Sie hatte die pechschwarzen Haare zu einem Zopf nach hinten gebunden. Die kakaofarbende Haut schien makellos und das Gesicht, welches durch das Zusammenspiel von Nase, Augen, Mund und Kinn kaum besser hätte ausfallen können, wurde dezent durch Make-up perfektioniert. Ihre tiefdunklen Augen machten ihn sprachlos. Es war fast unmöglich zu atmen, geschweige denn zu antworten. „Sie war eine dieser Frauen, bei der man auf die Knie fallen möchte, um Gott zu danken, dass man ein Mann ist.“ schoss ihm ein Zitat durch den Kopf, dass ungewollt aus seiner freigegeben Bibliothek in den Vordergrund geschleudert wurde. Er grinste und war sich nicht sicher, ob über den Inhalt oder die Tatsache, dass sein Unterbewusstsein zu solchen Scherzen fähig war.

„Das ist nicht ganz das, was ich erwartet habe, aber immerhin scheine ich dich ja zu amüsieren.“ gab sie flirtend zurück. Erst jetzt registrierte er die Peinlichkeit seiner Situation.

„Entschuldigung, das Grinsen war nicht Ihnen gewidmet.“

„Na ein Glück. Sah so aus, als hättest du einen Clown gesehen.“ Sie war immer noch am Flirten, aber jetzt musste was Gelassenes zurückkommen, sonst wirkte er langweilig. Das Glück, dass so eine Traumfrau ihn ansprach, konnte er nicht einfach chancenlos vertun.

„Kein Clown dieser Welt könnte so atemberaubend aussehen, wie Sie in diesem umwerfenden Kleid.“ Er war verwundert, wie selbstbewusst das rüber kam.

„Ein fast perfektes Kompliment.“ Sie schenkte ihm eines dieser Lächeln, das ganze Eisberge zum schmelzen bringen würde.

„Was fehlt denn zur Perfektion?“ fragte er mit diesem balzenden Unterton, der uneingeschränktes Interesse an ihr bekundete.

„Zaja ist mein Name und damit hoffe ich, dass du mich endlich duzt.“ Auch ihr Interesse war deutlich zu spüren.

„Sentry ist meiner und da wir uns jetzt offiziell vorgestellt haben, spricht nichts mehr dagegen dich zu einem Cocktail einzuladen.“ Das Eis war gebrochen und so unterhielten sie sich eine Stunde lang, die ihm vorkamen wie fünf Minuten. Er hielt sich zurück mit speziellen Informationen über seine unbekannte Vergangenheit. Er schaffte es irgendwie immer die Gesprächsrichtung zu ändern, sobald es zu nahe an Vertraulichkeit ging. Belanglose Informationen, wie die Ankunft mit der „Baltim“ konnte er spannend verpacken, so dass er trotzdem ihr Interesse erhielt. Ihre Geschichte war ebenso banal, wie seine Erzählungen. Sie arbeitete hier auf dem Exson und das war die einzige Klippe an der sich Sentry schwer tat sie zu umschiffen. Irgendwie hatte sich die Vorstellung in sein Gehirn gefressen, er hätte es mit einer Professionellen zu tun und es benötigte einige Anstrengung seine Zweifel vor ihr zu verbergen. Erst als sie verlauten ließ, dass sie Kellnerin in einem Edelrestaurant auf dem ersten Habitatring war, konnte er sich entspannen, wobei die Entspannung natürlich nicht allzu offensichtlich seien sollte. Es dauerte eine weitere Stunde und sie waren so vertraut miteinander, dass er aufpassen musste nicht doch noch die falschen Informationen über sich preis zu geben. Da er sie ungern anlügen wollte, drohte das Gespräch in Banalitäten abzudriften.

„Wie ist das Leben auf der Exson? Wie wohnt man denn hier?“ fragte er.

„Wie man hier wohnt? Das kann ich dir zeigen?“ Sie nahm einen letzten Schluck aus dem Cocktailglas und zog Sentry von der Bar.

„Ich muss meinen Freunden noch Bescheid geben.“ Er war vollkommen überrumpelt.

„Die sind bestimmt alt genug und können auf sich aufpassen. Komm schon.“ Bevor er sich versah, stand er mit ihr auf dem Flur des Habitatringes. Wortlos gingen sie zum nächsten Lift, fuhren hinauf zum Ring 2, hatten noch fünf Minuten Fußweg und standen dann vor ihrem Quartier. Sentry schaute sich um, während sie mit ihrem Daumen die Türverriegelung öffnete. 22a. Ein vermutlich weiter Weg bis 72b. Er betrat ihr Appartement, das nur aus einem Raum bestand. Ein breites Bett in der Mitte, eine Küchenzeile links und ein abgetrennter Bereich, der als Badezimmer diente. Dem Bett gegenüber befand sich ein Monitor.

„Schönes zu H…“ er kam nicht zur Vollendung seines Satzes, denn sie presste ihre Lippen auf seine und umarmte ihn dabei.

„Spar dir die schönen Worte. Du hast mich bereits rumgekriegt, also lass es uns tun.“ Sie küsste ihn erneut. Mit der rechten Hand öffnete sie seine Hose und fing an ihn da zu massieren, wo es jeder Mann am liebsten hat. Die Reaktion in seinem Schritt war unübersehbar. Für Sentry war es eine Reizüberflutung. Das Küssen war schon unglaublich, aber als sie anfing sich in seiner Hose auszutoben, wurde das alles sofort wieder nebensächlich. Sie war erfahren, das merkte er sofort, denn sie wusste um die Stellen, die Männer zur Ekstase brachten. Er hatte Mühe das Finale nicht sofort vorzuziehen, aber so wie sie die Sache anging, war es schwierig es nicht zu versauen. Gerade in dem Augenblick, in dem er sich der Entladung hingeben wollte, ließ sie von ihm ab.

Sie öffnete ihr Haar und er konnte es kaum glauben, diese Frau sah mit offenen Haaren noch umwerfender aus. Als würde ein kleines Stück gefehlt haben, um die Attraktivität auf 100% zu erhöhen. Der Schnitt ihrer gelockten Haare vollendete das Gesamtkunstwerk, das ihr Körper und ihr Gesicht eigentlich schon als perfekt definiert hatten. Sie zog sich komplett aus und ihre Brüste hatten die erhoffte Form, die ihr BH suggerierte. Alles war perfekt an dieser Frau und er würde gleich Sex haben mit ihr. Der beste Abend seines bisherigen Lebens lag vor ihm.

Er ergriff die Initiative und küsste sie lang und innig. Ihre Zungen berührten sich und gaben dem Kuss was Verruchtes. Er fuhr ihr durchs Haar, schaute ihr tief in die fast schwarzen Augen und drückte sie dann auf die Knie. Das war die ideale Höhe, um mit dem Mund das zu tun, was er verlangte. Willig öffnete sie ihn und allein das Einführen verlieh ihm einen erhabenen Moment der Dominanz. Er griff ihr in die Haare und bewegte sich vor und zurück. Egal ob er ihr wehtat, er wollte ihn ganz rein bekommen, schaffte es aber trotz größter Motivation nicht. Er münzte den Misserfolg in einen Erfolg um, indem er sich einredete, dass er zu groß wäre, um komplett in ihrem Mund zu verschwinden. Rhythmisch bewegte er sein Unterteil hin und her und jedes Mal hatte er die Illusion seinen Penis ein kleines Stück tiefer zu versenken. Plötzlich war es ihm egal, ob er zu früh kam. Er wollte sich in ihrem Mund entladen. Die schönste Triebbefriedigung für einen Mann. Wieder und wieder stieß er zu und dann war es soweit. Das Gefühl soweit vorgedrungen zu sein, wie bei keinem seiner Stöße zuvor, verstärkte die Explosion in seinem Unterleib.

Zaja hatte nur kurz Probleme mit der Aufnahme. Ihre Erfahrung in solchen Situationen zahlte sich aus. Sie schaffte es trotz aller Schwierigkeiten, die solch ein ergießender Penis in ihrem Mund hervor rief, zu schlucken. Als größeres Problem stellte sich die Menge heraus. Wann hatte dieser Typ das letzte Mal Sex gehabt, dass diese Quantität bei solch mieser Qualität zu Stande kam.

„Dann hoffe ich mal, dass das noch nicht alles war.“ Sie wischte sich den Mund ab, denn trotz aller Bemühungen, hatte sie es nicht rückstandsfrei entsorgen können.

„Gib mir fünf Minuten. Dann geht’s weiter.“ versprach Sentry vollmundig.

„Gut. Zeit genug, um Zähne zu putzen oder willst du mich so küssen?“ sie bleckte ihre weißen Zähne, in denen immer noch ein Teil des Spermas hing.

Als sie im Bad war, zweifelte er urplötzlich an der Perfektion ihres Aussehens. Es war fast so, als hätte der Abgang die Illusion zerstört. Die rosarote Brille, mit der er sie betrachtet hatte, wurde mit dem Erguss regelrecht weggeblasen. Als würde er auf einmal wieder klar denken können und dann zeigte sie ihm auch noch ihre Sperma verhangenden Zähne, so als ob ihn das weiter antörnen würde.

Sie gab ihm sogar zehn Minuten, bis sie wieder aus dem Bad kam und die Klarheit, die er so kurz nach dem Abgang hatte, war sofort wieder dahin. Bekleidet nur mit einem Hemd, dass so dünn war, dass es mehr zeigte als verhüllte, schwebte sie zum Monitor rüber. Ihr Gang raubte Sentry fast den Verstand und das gedämmte Licht tat sein Übriges.

„Gut. Weiter mit der harten Tour, aber jetzt spielen wir nach meinen Regeln.“ Sie tippte auf dem Bedienfeld und dann ertönte die Musik. Boom chuck, boom chuck. Zwei Töne, die sich regelmäßig abwechselten. Sie kam im Takt auf ihn zu. „You let me violate you“ setzte der Gesang ein. „You let me penetrate you“ ging es weiter. Der aggressive Unterton des Liedes nahm mit jedem Wort zu. Zaja setzte sich ohne jedes Vorspiel auf ihn, massierte seine empfindlichste Stelle bis sie das Ergebnis für geeignet genug hielt und führte die neu erblühte Pracht ohne weitere Spielereien ein. „You bring me closer to god.“ Sie schaukelten sich gegenseitig am Lied hoch. Zwei Minuten ging das nun schon so. Er schmiss sie auf den Rücken, ohne auch nur einen Millimeter aus ihr raus zu gleiten. Seine Stöße wurden heftiger, getrieben von dem „health me“, welches aus den Lautsprechern tönte. Er schaute ihr direkt ins Gesicht und sah den Genuss, der ihr die Stöße brachten. Er wollte sie küssen, aber sie stieß ihn weg.

„Fick mich nur einfach.“ raunte sie ihn an.

„Fuck you like an animal“ bestätigte der Sänger ihren Wunsch. Sentry synchronisierte seine Stöße mit ihren Bewegungen. Er war jetzt fremd gesteuert, unfähig sich ihrem Einfluss zu entziehen. Die Musik tat ihr übriges. Laut und aggressiv verschmolz er mit der aufgeschaukelten Libido.

 „Fick mich“ schrie sie, als sie kam und mit dem letzten Ton des Liedes kam auch Sentry das zweite Mal.

Die nächsten Stunden vergingen wie im Fluge. Sie trieb ihn an seine Grenzen und das nicht nur physisch. Mit jedem gemeinsamen Höhepunkt ging sie einen Schritt weiter. Die Toleranzgrenze, was sexuelle Experimente anbelangte, war bei ihr weitaus höher, so dass er sich gezwungen sah, ihr beim erreichen bestimmter Grenzen ein Stoppschild vorzuhalten. Solch prüde Partner war sie offenbar nicht gewohnt, so dass sie das mit einer abfälligen Bemerkung kommentierte. Sentry war zu ausgelaugt zum protestieren. Fünf Stunden war er jetzt bereits bei ihr und der Drang zu gehen wurde stärker. Sie lag mit dem Kopf auf seiner Brust und er hoffte zum Abschied noch einmal den engeren Eingang in ihrem Unterleib nutzen zu dürfen, als sie plötzlich aufstand.

„Gib’s zu. Macht doch weitaus mehr Spaß, als mit den blassen Blondinen, mit denen du dich sonst so abgibst.“ Er wusste die Bemerkung nicht so recht einzuschätzen. Offenbar kannte sie seine Begleiterinnen, aber Eva war schon gegangen, bevor sie das „Diamant House“ betraten. Sie zog sich ihren Slip an, also schien ihre gemeinsame Zeit zu Ende zu gehen.

„Ich mag dich, also gebe ich dir einen Rat.“ Sie stieg wieder zu ihm ins Bett, setzte sich rittlings auf ihn und flüsterte ihm ins Ohr. Ihr Geruch erschwerte seine Konzentration, aber das, was sie sagte, benötigte auch nicht viel.

„Traue nicht dem schwarzen Mann.“ flüsterte sie. Sie stieg wieder aus dem Bett und zog sich ihren BH an.  

„Ich kenne ihn und ihm ist nicht zu trauen. Das, was du in dir hast, ist ein Geschenk. Lass dir das nicht kaputt machen.“ Diese zweideutige Bemerkung ließ Sentry jegliche Trägheit, an der sie ja nicht ganz unschuldig war, vergessen.

„Was ich in mir habe?“ versuchte er sich dumm zu stellen. Sie zog sich weiter an.

„Das, was du glaubst zu kennen, was aber unerreichbar scheint. Dein wahres Ich, welches tief in dir eingesperrt ist. Seit Jahren warten wir darauf, dass einer von euch auf den Exsons auftaucht. Ich kann es immer noch nicht glauben, dass du gerade in meine Arme läufst.“ Sie war jetzt komplett angekleidet.

„Sag mir, wer ich bin?“ Sentry stand jetzt nackt vor ihr. Die Lösung aller Fragen, sie war keine zwei Meter von ihm entfernt.

„Wer du bist? Ich hoffe doch einer von uns.“ Sie streichelte ihn im Gesicht und gab ihm einen Kuss.

„Ich weiß du willst Antworten, aber die darf ich dir nicht geben. Du bist in eine Art Selbstfindungsprozess, an dessen Ende eine Entscheidung steht. Du musst deinen eigenen Weg finden, deine eigenen Entscheidungen treffen. Wir können dir nur helfen, wenn wir den Eindruck haben, dass äußere Mächte falschen Einfluss nehmen. Ich hoffe wir sehen uns wieder. Nur soviel. Traue nicht dem schwarzen Mann. Gehe nach Cree, dort wird es Antworten geben. Und jetzt schlaf.“ Sentry hielt sie am Arm fest, entschlossen sie nicht gehen zu lassen, bis sie auch die letzte seiner Fragen beantworten würde. Plötzlich wurde er müde. Was zum Teufel hatte sie ihm angetan? Seine Kraft verließ ihn, er wurde unsagbar schläfrig. Der Kampf gegen die Müdigkeit war verloren. Irgendwie hatte sie es geschafft ihn außer Gefecht zu setzen. Er will nicht einschlafen. Verdammte Femtos. Wo seid ihr, wenn man euch braucht? Es hatte keinen Zweck. Er kippte rücklings aufs Bett und das Letzte was er sah, war ihr hübsches Gesicht über ihm und wie sie ihm einen sanften Kuss auf die Stirn gab. Dann wurde es dunkel. 

 

 

XIII

„Wenn Männer alles wüssten was Frauen denken, wären sie tausendmal kühner.“

Pablo Picasso

 

Nutzlos. Das war das Wort, was wie in Stein gemeißelt immer wieder aus ihrem Unterbewusstsein nach oben geschwemmt wurde. Sie war unnütz, keine Aufgabe, kein Ziel, keinen Lebenssinn. Jetzt, wo Eva zur Ruhe kam, die ganzen Erlebnisse auf Lassik schön säuberlich ins Archiv ihres Gedächtnis ablegt wurden und sie endlich die Gedanken frei hatte über ihre Zukunft zu grübeln, jetzt wurde ihr bewusst, da war nichts. Zum ersten Mal in ihrem Leben fehlte ihr der Antrieb. Sie vermisste den Tempel, mit seinem geregelten Ablauf, wo sie noch vor Sonnenaufgang beweisen konnte, dass sie das in sie gesetzte Vertrauen rechtfertigte, indem sie den Lagerausbau durch körperlich schwere Arbeit freiwillig mit vorantrieb und sie ihre buchhalterischen Fähigkeiten trotz Schwielen an den Händen zur vollsten Zufriedenheit erledigte. Wie sie ihre Mittagspause opferte, um den Predigten des Führers zu lauschen und am Abend in missionarischer Tätigkeit seine Lehren an die Ungläubigen weitergab. Es war ein hartes Leben und es war gezeichnet durch Zwänge und Verpflichtungen. Jetzt war sie frei und konnte ihre Persönlichkeit frei entfalten, aber genau mit dieser Freiheit wusste sie nichts anzufangen. Sie starrte hinaus ins Weltall. Es gab Milliarden von Sternen da draußen und viele waren ohne Planeten, waren einfach nur da, leuchteten vor sich hin und verpulverten ihre Lebensenergie an die Dunkelheit des Alls, bis sie irgendwann verglühten. Nutzlos, einfach nur nutzlos. 

Die Anderen wollten die gelungene Flucht feiern, aber ihr war nicht danach. Die trüben Gedanken in ihrem Inneren machten sie zur Spaßbremse. Sie hatte ihre Schwester verraten, dem Tempel geschadet und sie hatte einen Menschen getötet. Wie konnte sie da feiern? Allein diese drei Sachen würden sie ein Leben lang belasten und diesmal gab es keine Möglichkeit diese Fehler zu korrigieren. Sie hatte auch Menschenleben gerettet, aber derzeit überwog die deprimierende Grundstimmung. Also zog sie sich zurück auf die „Baltim“ und ertränkte sich in Selbstmitleid. Stundenlang gab sie sich dem guten Gefühl der Aufgabe hin, aber das war nicht sie. Die Stärke ihrer Mutter hatte der Doc in ihr gesehen. Sie musste sich zusammen reißen. Die Dinge waren geschehen und unwiderruflich. Es war nun an ihr damit klar zu kommen. Das Leben ist nun mal kein Süßwarenladen, also schob sie irgendwann all die dunklen Wolken beiseite und kramte in ihrem Inneren nach der viel beschworenen Stärke. Die Energiequelle für die neue Eva, eine Eva die bereit war sich den neuen Bedingungen zu stellen.

Sie war zurück, vorerst jedenfalls. Trotzdem hatte sie keinen Plan, wie ihre weitere Zukunft aussehen sollte. Irgendwann würde sich das Fenster für den richtigen Weg auftun, aber bis dahin gab es nur das Angebot Sentry zu begleiten. Sie mochte ihn. Soweit sie das mit ihren vom Tempel verdrehten Fähigkeiten einschätzen konnte, war er ehrlich. Jede Unterstützung in dieser unbekannten Umgebung war willkommen und wie er schon sagte, müssen sie sich gegenseitig stützen. Sie bezweifelte, ob sie ihren Teil dazu beitragen könne, aber die Bereitschaft das Beste zu tun war vorhanden. Dann war da noch Dina. Ihr fiel sofort wieder dieser Kuss ein und das unglaubliche Gefühl, als hätte die Zeit einen Moment still gestanden. Eine Frau zu küssen war soviel anders. Obwohl sie nicht weniger ehrlich erschien wie Sentry, war hier ein gesundes Misstrauen nicht verkehrt. Sie würde alles über ihre Rache stellen und das machte sie gefährlich. Welche Leiden ihr in der Vergangenheit widerfahren waren, hoffentlich war es das wert ihr ganzes Leben darauf auszurichten. Blieb noch Balta. Er hatte es geschafft ihr ordentlich den Kopf zu verdrehen. Sein Charisma war ähnlich dem des Führers, was sie dazu veranlasste ihn möglichst auf Distanz zu halten. Hinzu kam sein wirklich blendendes Aussehen und sie ertappte sich einige Male, wie sie ihn musterte. Sie hatte seit Jahren keinen Sex mehr gehabt und dementsprechend hatte das Unterbewusstsein leichtes Spiel ihr die vernachlässigten Triebe vorzuhalten. Sie musste aufpassen nicht wie ein offenes Buch für ihn zu sein, denn seine Kombinationsgabe glich manchmal der Hellseherei. Wieder etwas, was er mit dem Führer gemeinsam hatte.

Eric riss sie aus den Gedanken. Wie Balta es vorhergesehen hatte, beschränkte sich sein Glück in den hiesigen Casinos darauf, nicht alle Jetons zu verspielen. Immerhin hatte er es geschafft auszusteigen und noch ein Rest seines Vermögens zu behalten. Er echauffierte sich auf seine eigene Weise über sein Pech, indem er Eva mit Wahrscheinlichkeiten bombardierte, die eigentlich gar nicht hätten eintreten dürften und doch im passenden Moment ihm den Einsatz gekostet hatten. Bevor er in Verschwörungstheorien über Betrug verfiel, erreichten auch Dina und Balta die „Baltim“. Es waren noch ungefähr zwei Stunden bis zum Sprung und eine mechanische Stimme wurde nicht müde alle zehn Minuten über das Lautsprechersystem den aktuellen Countdown zu verkünden.

„Und. Wie viel hast du gewonnen?“ fragte Balta spöttisch, als er den aufgebrachten Eric sah.

„Alles nur Betrüger.“ antwortete er kurz. Sein Respekt vor Balta war immer noch groß.

„Natürlich betrügen die manchmal, aber ich denke mal bei dir war das gar nicht notwendig. So einen Frischling wie dich, ziehen die auch mit legalen Mitteln ab.“ fiel Dina in den Spott ein.   

„Haha.“ war Erics einzige wenig schlagfertige Antwort.

„Und was habt ihr so getrieben?“ versuchte er von seiner Schmach abzulenken.

„Erwachsenensachen.“ grinsten sich Balta und Dina gegenseitig an.

„Was denn für Erwachsenensachen?“ Eric verstand wieder mal gar nix.

„Sie hatten Sex. Was glaubst du denn?“ Eva klang zorniger, als ihr lieb war.

„Was? Etwa miteinander? Oh verstehe.“ Erst jetzt verarbeitete er die scheinbar unmögliche Tatsache, dass die beiden sich körperlichen Gelüsten hingaben.

„Muss man kein großes Ding draus machen.“ Dina war sichtlich irritiert über Evas ablehnende Haltung.

„Kein großes Ding? Das klang aber vorhin noch anders.“ versuchte Balta mit einem Scherz über seine Ausstattung die Situation zu entspannen.

„Wie auch immer, wo habt ihr denn den Jungen mit den  Superkräften gelassen?“ fragte Eric. Obwohl Sentry voller Technologie steckte, bewahrte er eine gewisse Distanz. Die offen zur Schau getragene Sympathie für Eva, nährte zusätzlich seine Eifersucht.

„Wir haben ihn verloren, aber ich denke mal, er ist alt genug nach Hause zu finden. Du hast es ja immerhin auch geschafft.“ Dina musste einfach weiter sticheln.

Die letzte Stunde vor dem Sprung verbrachten sie auf der „Baltim“. Eric und Eva schienen leicht peinlich berührt über den Fakt, dass Balta und Dina sich ihren Trieben hingaben, so dass die Konversation auf ein Minimum reduziert blieb. Die Uhr tickte weiter runter und gerade als sich alle Sorgen machten, ob Sentry denn pünktlich erscheinen würde, Mario wollte sofort nach dem Sprung ablegen und hatte allen eingebläut rechtzeitig zurück zu sein sonst würde er ohne sie los, erschien er und war aufgewühlt. Irgendwas Schreckliches schien ihm widerfahren zu sein, denn die gelassene Ausstrahlung, mit der sie ihn zurückgelassen hatten, war vollkommen dahin.

„Du siehst aus, als wärst du auf deinen Erzfeind getroffen.“ sagte Balta eigentlich mehr im Spaß. Sentrys überraschte Situation verriet ihm, dass er ins Schwarze getroffen hatte.

„Wie macht er dass immer?“ fragte Eric in die Runde, sichtlich beeindruckt von Baltas Fähigkeiten.

„Diesmal war es nur ein Schuss in Blaue. Also. Wen hast du gesehen?“ fragte er Sentry. Dieser schaute rüber zu Dina.

„Red? Er ist hier?“ In ihren Augen blitze sofort wieder die Wut auf.

„Wo ist er? Wo hast du ihn getroffen?“ Ihr Tonfall war wieder deutlich aggressiver.

„Er hat mir ein Angebot gemacht.“ Sentry war unsicher. Beim Thema Red konnte man bei Dina nur verlieren.

„Ein Angebot? Was hat er denn vor? Will er dich zum Tanz ausführen? Dieser schleimige Mistkerl. Dem ist nicht zu trauen.“ Dina schäumte fast vor Wut. Sentry konnte es nicht vermeiden, aber auf Dinas Frage, was er denn vor hatte, kam reflexartig ein Seitenblick zu Balta und damit signalisierte er unfreiwillig sein neu erworbenes Misstrauen ihm gegenüber.

„Beruhige dich. Ich weiß, dass man ihm nicht trauen kann. Er ist keine Option für mich.“ Er war sich fast selbst nicht sicher, ob er nun Red oder Balta mit diesen Worten meinte.

„Dass er so nah an dir dran ist, hätte ich nicht gedacht. Damit wirst du mich weiter auf dem Hals haben, bis ich ihn erwische.“ Zwei Minuten bis zum Sprung signalisierte die mechanische Lautsprecherstimme. Dina beruhigte sich. Das ihr geliebter Feind in ihrer Nähe war und sogar gezwungen wurde aktiv zu werden, gab ihr ein gutes Gefühl für ihre Rache. 

Eva fühlte sich mehr und mehr als Außenseiter. Die Geschichte mit Red drängte sie noch weiter an den Spielfeldrand des Geschehens. Es wurde Zeit wieder aktiver mitzuwirken, also entschied sie sich, ob nutzbringend oder nicht, den von Sentry beschworenen Zusammenhalt auszuprobieren.

„Willst du drüber reden?“ ihr fielen diese vier Worte so unheimlich schwer. Sie hatte einen Moment abgewartet, an dem sie mit ihm allein war. Balta und Dina hatten sich nach dem Sprung in den Ruheraum zurückgezogen und Eric war wieder auf der Brücke und ließ sich die Technik erklären.

„Ja das wäre schön.“ er war sichtlich überrascht über ihre Offensive.    

„Dina kennt nur ihre Rache und Balta...“ Sentry zögerte und sprach dann etwas leiser weiter.

„Ich weiß nicht, ob man ihm trauen kann.“ Sentry wurde nachdenklich und ging gedanklich alle Pro und Contras hinsichtlich Balta durch.

„Ich habe jemanden kennen gelernt auf dem Exson. Sie kannte ihn und sie warnte mich ausdrücklich vor ihm.“ Drei einfache Buchstaben, die Evas inneren Gemütszustand weiter in Unruhe versetzten. Der Genuss von Sentrys Vertrauen wich der Enttäuschung, dass da noch jemand war, mit der er seine Zweifel gegenüber Balta teilte. Jemand weibliches. Sie ließ sich ihre Enttäuschung nicht anmerken, eine Technik, die sie im Tempel perfektioniert hatte. Was wollte sie auch? Sie hatte ihn zurückgestoßen. Er hatte alles Recht der Welt wo anders Trost zu finden.

„Was hat sie denn gesagt?“ fragte sie nach. Sentry setzte zu einer Antwort an, brach aber wieder ab. Offensichtlich fiel es ihm schwer die passenden Worte zu finden.

„Eigentlich nicht viel. Das Verrückte war, sie kannte meine Geheimnisse, meine Fähigkeiten, meine Vergangenheit. Sie wusste wer ich bin. Anstatt mir zu erzählen, wo ich herkomme, riet sie mir nach Cree zu gehen und Balta zu meiden. Ich hatte das Gefühl sie wäre...“ er suchte nach dem passenden Wort.

„Familie?“ ergänzte Eva.

„Volk oder Stamm passt wohl besser.“ beruhigte Sentry seine inzestiösen Gedankenspiele.

„Vielleicht hat sie auch nur deine Gedanken vernebelt. Frauen können so manipulierend sein.“ Ihr fiel ihre eigene Vergangenheit ein. Wie sie windige Finanzgeschäfte einfädelte und nicht geizte mit ihren weiblichen Reizen. Es gab andere Tempelmitglieder, die sogar einen Schritt weiter gingen, was trotz der sexuellen Enthaltsamkeit im Tempel vom Führer geduldet wurde. Sie fragte sich, wie weit die Unbekannte bei ihm ging, war sich aber nicht sicher, ob sie die Antwort wirklich wissen wollte.

„Das ist genau der Punkt. Jeder, den ich bisher getroffen habe, verfolgt seine eigenen Interessen und ich bin nur das Mittel zum Zweck. Dina will mich für ihre Rache, Balta will mich um Pluspunkte bei der Science zu sammeln, Red will diese Mistviecher in mir. Und Zaja? Wer weiß was sie will? Vielleicht diene ich nur zum Zeitvertreib? Deswegen bin ich so froh, dass du da bist. Du bist unvoreingenommen.“ Sentry zögerte. Er war sich nicht sicher, ob er sie mit dem letzten Satz überforderte. Sie hatte ihn schon einmal abgewiesen, was noch keine Woche her war. Die Erinnerung an die Worte, wie sie sich jegliches Selbstvertrauen absprach, war noch frisch. Ihre Blicke trafen sich und diesmal erwiderte sie nichts. Er lächelte sie an, in der Hoffnung auf ein Lächeln ihrerseits, aber die ungewohnten Gesichtszüge bekam sie nicht hin. Wieder ein Punkt, den sie erneut lernen musste.

„Erzähl mir mehr von diesem Red.“ wand sie sich aus der ihr unangenehmen Situation.

Auf ein Neues erzählte er seine Geschichte, aber diesmal tat er es gern und fügte persönliche Empfindungen hinzu. Es tat gut, sich auf diese Art und Weise zu erleichtern. Schnell kam er von Red zu seinem gesamten bisherigen beschränkten Lebenslauf. Zum ersten Mal gab er seine Empfindungen über seine gespaltene Persönlichkeit preis, dass da noch jemand hinter dem Vorhang ist, der seine Vergangenheit verbarg. Wie beunruhigt er ist, wenn er die Kontrolle verlor. Er redete ohne jede Scheu und ohne Bedenken zu viel von sich Preis zu geben. Nur bei der Geschichte mit Zaja hielt er sich zurück und war froh, dass sie nicht nachfragte, wie sie denn die ganzen Stunden verbracht hätten.

„Was wollte Red?“ Dina betrat den Raum. Offensichtlich machte ihr seine Anwesenheit auf dem Exson zu schaffen. Sie verfiel in alte Muster voller Hass und Wut. Die Gemeinschaft hatte ihr gut getan, aber es hatte den Anschein, dass die bloße Nähe von Red den Schalter wieder um legte auf ihr eigentliches Ziel. Sie hatte sich verändert und das nicht nur durch das Auftauchen von Red. Ihre Liaison mit Balta war mittlerweile auch Sentry bekannt und damit hatte sie für ihn die Seiten gewechselt. Urplötzlich war wieder eine Distanz zwischen den Beiden und zerstörte die Illusion, dass sie Freunde wären. Das Gemeinschaftsgefühl der Gruppe, entstanden in der abenteuerlichen Flucht durch den Slum und dem gemeinsamen Kampf gegen die Einheimischen, über die Reise zum Exson bis hin zum gemeinsamen Bier im Twister, hatte gewaltige Risse bekommen. Die Treffen mit Zaja und Red zerstörten die naive Vorstellung, dass ihr gemeinsames Schicksal in wirklicher Freundschaft enden würde. Die einzelnen Pakete, die jeder Einzelne mit sich schleppte, waren zu gewaltig für eine Rücksichtnahme untereinander. Sie waren eine Zweckgemeinschaft, dass wurde Sentry in diesem Moment schmerzlich bewusst. 

„Was wird er schon wollen? Mich natürlich. Du kennst doch meine Talente.“ antwortete er möglichst nichts sagend.

„Und das Angebot? Was hat er denn auf den Tisch gepackt?“ Ihr drohender Tonfall machte deutlich, dass sie konkretere Antworten verlangte. Sentry verfluchte den Moment, in dem er das Wort „Angebot“ in den Mund nahm. Die Option sich zu winden, war bei Dina sinnlos. Blieb nur die Wahrheit.

„Meine Vergangenheit.“ kam es dann doch sehr unpräzise.

„Immerhin hat er dich ja gefunden. Viel Spielraum für einen guten Bluff.“ erwiderte sie.

„Sehe ich genauso. Wie gesagt. Diese Möglichkeit ist keine Alternative für mich.“ Er war froh, dass sie da gleicher Meinung waren.

„Du weißt ja wie es heißt. Der Freund meines Feindes ist mein Feind.“ verdrehte sie das Sprichwort absichtlich.

„Nicht das ich dich am Ende umbringen muss.“ Trotz Lächeln war sich Sentry nicht sicher, ob dieser Satz als abschließender Scherz gemeint war. Sie verließ den Aufenthaltsraum und ließ ihn in verwirrter Stimmung zurück.

Die Beiden waren wieder unter sich und da Sentry seine gesamte Lebensgeschichte dargelegt hatte, war es nun an Eva persönlich zu werden. Er versuchte den Einstieg mit einfachen Fragen zu weiteren Geschwistern, hatte aber nie das Gefühl den Eisberg anzuschmelzen. Sie war noch nicht soweit sich zu öffnen und Druck würde genau das Gegenteil erreichen von dem, was er wollte. Vertrauen. Ein Gut das sie nicht bereit war leichtfertig zu vergeben. Also beendete er ihre Unterhaltung mit belanglosen Kommentaren über die Schiffsaustattung und zog sich zurück in die Schlafkabine.

Eigentlich brauchte er keinen Schlaf, dass was er brauchte war Ruhe zum Nachdenken. Er legte sich in das von Dina freigewordene Bett und wollte objektiv über die Geschehnisse auf dem Exson urteilen. Ihr Geruch hing in den Kissen und unweigerlich fühlte er sich zurück versetzt in Zajas Appartement. Die Stunden bei ihr waren das Unglaublichste, was er bisher erlebt hatte. Einzelne Details in seinem Gedächtnis drängten sich wieder in den Vordergrund und als er die Erregung in seiner Hose spürte, wusste er, dass er sich am falschen Ort für objektives Bewerten befand. Er wechselte die Bettwäsche und versuchte sein Glück erneut, nicht ohne noch einen kräftigen Atemzug Dina einzusaugen. Sie roch so unheimlich gut und das einzige Gegenmittel um endlich freien Kopf zu bekommen, war sich die Begegnung mit Red wieder ins Gedächtnis zu rufen. 

Zaja hatte ihn irgendwie lahm gelegt und das in einem schwachen Moment, indem er eigentlich glaubte sie würde die nächste Runde einläuten. Er vermutete eine kleine Injektion mit Betäubung der Einstichstelle, aber trotz intensiver Suche an sich, konnte er keine Wunde entdecken. Die Ohnmacht dauerte nicht lange, seine Femtos wurden sofort wieder aktiv, was eine zusätzliche Energiezufuhr notwendig machte. Hungrig begab er sich nach Habitatring zwei und setzte sich in eines der zahlreichen Restaurants. Er hatte genug von geschmacklosen Kaloriengetränken, also entschied er sich, trotz der Gefahr seinen Magen zu überfordern, für eines der vielfältigen Angebote auf der Karte. Die Vorfreude auf gezuckertes Obst wurde begleitet von dem Knurren seines Magens. Während er auf den Kellner wartete, ging er seine Optionen durch. Eine Stunde hatte er noch. Zu wenig Zeit, um auf diesem riesigen Exson Zaja aufzuspüren. Sie würde nicht zurückkehren nach 22A. Die Gewissheit gab ihm das „zu Vermieten“ Schild, welches er beim Verlassen ihres angeblichen Quartiers wahrnahm. Die Wohnung war also nicht ihre. Wie konnte sie dann die Tür öffnen? Vermutlich auf dieselbe Art und Weise, wie es ihm möglich war Sperren zu umgehen. Sie hoffte, dass er einer von ihnen war. Einer von was? Von einem Volk, mit allen technischen Möglichkeiten?

Der Kellner störte seine Überlegungen. Schön angerichtet stellte er ihm einen Teller mit Zuckergussüberzogenen Früchten vor die Nase. Er probierte eine in Schokolade getauchte Banane und unterschätzte die Süße. Die Geschmacksexplosion in seinem Mund war unglaublich. Nie zuvor hatte er Vergleichbares zwischen die Zähne bekommen. Selbst die gemeinsamen Cocktails mit Zaja, hatten nicht annähernd diesen Zuckergehalt. Er stopfte sich ein weiteres Stück Banane in den Mund.

„Hey, langsam. Wir wollen doch nicht, dass deine Femtos Verstopfungen bekommen.“ Sentry erinnerte sich an die Angstgefühle, die diese Stimme aus dem Hintergrund in ihm auslösten. Zu sehr stand sie in Verbindung mit der Hölle auf Reds Schiff. Die ganzen verdrängten Erinnerungen schwemmten sofort an die Oberfläche. Und dann saß es vor ihm, dieses Narbengesicht, welches ihm damals unter Drogeneinfluss den Schock seines Lebens versetzte. Als wären sie die besten Freunde, setzte er sich wie selbstverständlich an die gegenüberliegende Seite des Tisches. Die Angst dauerte nur einen Bruchteil und glich eher einem Reflex, als dass sie nachhaltige Wirkung ausüben konnte. Zu sehr hatte sich Sentry verändert. Im Rückblick genoss er den Sieg über seine Furcht vor Red durch sein neu erworbenes Selbstvertrauen. Etwas, was er ihm unbedingt zeigen wollte.

„Keine Sorge mir ist der Appetit vergangen.“ er warf den Rest der Banane wieder auf den Teller. Nicht nur, dass das klebrige Zeug seinen Magen verkrampfte, auch die Gesellschaft verdarb ihm die Freude.

„Oh. Da hat dir die Schlampe wohl gezeigt wie man Eier bekommt.“ zeigte sich Red nur kurz verwundert keinen ängstlichen Sklaven mehr vor sich zu haben. Mit Schlampe war natürlich Dina gemeint und Reds Abneigung ihr gegenüber war wohl ähnlich groß wie ihre.

„Was willst du?“ Ihn widerte es an sich mit ihm unterhalten zu müssen.

„Das sollte dir doch klar sein. Diesmal bin ich auch bereit dafür zu bezahlen.“ Red grinste ihn mit seinen verstümmelten Zähnen an.

„Ach übrigens. Hast du raus gefunden, was du noch so drauf hast?“ fragte er weiter nach und griff sich eine Banane von seinem Teller.

„Ich kann Obst vergiften.“ antwortete Sentry gelangweilt. Red zögerte kurz und steckte sich die halbe Banane grinsend in den Mund.

„Ich kann dich dahin bringen, wo ich dich gefunden habe. Glaub mir. Der Ort hat es in sich.“ Hatte er zu dem Zeitpunkt überhaupt einen Moment ernsthaft überlegt, ob er das Angebot annehmen sollte? Er konnte sich nicht erinnern. Für ihn war es nur eine Gelegenheit zusätzliche Informationen zu bekommen.

„Dann füttere mich mal an. Was macht denn diesen Ort so besonders?“ fragte er. Red beugte sich vor zu ihm, als wäre er im Begriff ihm ein großes Geheimnis zu verraten.

„Mehr von deiner Sorte.“ gab er geheimnisvoll von sich. Sentry mimte weiterhin den Unbeeindruckten.

„Bilder sagen mehr als Worte.“ Red hielt ihm ein Pad unter die Nase. Die Erinnerung an die unscharfe Aufnahme und die Gleichgültigkeit mit der er das Bild abtat, wirkte im Nachhinein leichtfertig. Warum hatte er in diesem Moment nicht nach Details gesucht? Etwas, was ihm irgendein Hinweis gab. Sein Stolz verbot ihm Interesse zu zeigen.

„Leider fehlt Igor jegliches Talent zur Fotographie. Sechzehn Kammern. Genau wie deine.“ Red tippte eine ganze Reihe von schemenhaften Punkten auf dem Bild ab. Sarg hatte er damals die Kryonik-Kammern genannt.

„Wir haben versucht euch da raus zu bekommen, mit sagen wir mal geringem Erfolg. Nur bei dir hat es geklappt. Deine Kammer war in einer Art Notfallmodus. Weniger als 2% Energie. Ich schätze mal das war der Grund, warum wir dich da lebend raus bekommen haben.“ Sentry erinnerte sich an den Drang dieses grinsende Gesicht einzuschlagen.

„Die Anderen sind tot?“ fragte er viel zu interessiert. Dieses elendige überlegende Grinsen hatte sich in Reds Gesicht zementiert.

„Nein. Was denkst du denn von mir? Es gab zwar den einen oder anderen Unfall, aber der überwiegende Teil ist noch am Leben. Wenn man das so nennen kann.“ Auch jetzt, wie er in der Koje der „Baltim“ lag und die Ereignisse noch einmal durchging, kam die Wut erneut in ihm hoch. Dieser Mistkerl hatte sich als Gott aufgespielt und über Leben und Tod entschieden. Und dann sagte Red das, was ihn dann doch aus der Fassung brachte. Es tat weh sich diese Worte wieder in Erinnerung zu rufen.

„Wären wir nicht gewesen, wärst du vermutlich verreckt. Du verdankst mir dein Leben.“ betont gönnerhaft verkündete Red die unangenehme Wahrheit und wenn er damit die Absicht hatte Pluspunkte zu sammeln, erreichte er genau das Gegenteil. Sentrys Pokergesicht wich der blanken Wut. Vor seinem geistigen Auge ging er die einzelnen Bewegungsabläufe noch einmal durch. Zuerst die Früchte, die gezielt in seinem Gesicht landeten. Dann zerbrach er den Teller und mit der schärfsten Kante wollte er dem Narbengesicht eine persönliche Note verleihen. Nichts von alledem passierte, da Igor in seinem Rücken ihm unmissverständlich klar machte, dass dieses Vorhaben nicht gut für ihn ausgehen würde.

„Die Wahrheit tut weh, aber du schuldest mir was.“ fuhr Red fort, nachdem sich Sentry etwas beruhigt hatte.   

„Schulden? Du hast mich gefoltert, gedemütigt und verkauft. Ich schulde dir gar nichts.“ Sentrys Wutpegel stieg wieder an.

„Da hast du wohl Recht. Sagen wir, wir sind quitt. Die beste Vorraussetzung für ein neues Geschäft. Was sagst du? Ich bringe dich dort hin und du kannst eine Woche machen was du willst. Dann gehen wir zur Science, holen die kleinen Kerlchen aus dir raus und dann geht jeder seiner Wege. Ist das ein gutes Geschäft?“ Red hielt ihm die Hand hin, so als würde sein Plan alternativlos sein.

„Selbst wenn du mir kein Messer in die Hand rammst, wie das letzte Mal, mit dir mache ich keine Geschäfte. Kein Interesse.“ Sentry hatte seine Selbstkontrolle zurück. Red schaffte es ihn sofort wieder zu provozieren.

„Ich lasse dir eine gewisse Zeit zum Überlegen und werde wieder auf dich zukommen. Aber hey, noch sind da die Kammern mit deinesgleichen. Solltest du ablehnen, bin ich gezwungen weiterhin mein Glück mit deinen Freunden zu probieren, mit allen unangenehmen Folgen, die da auftreten können.“ Die Drohung hatte gesessen. Sollten sich dort tatsächlich weitere Kryonik-Kammern befinden, wäre er irgendwann im Zugzwang. Eine Tatsache, die auch Red bewusst war.

„Ich habe dich an den Eiern und im Gegensatz zu meinem Freund Olof, hängt da der ganze Kerl noch mit dran. Mein Angebot ist das Beste, was du derzeit hast. Gehe deine Optionen in Ruhe durch.“ Das tat er auf der Pritsche der „Baltim“ und kam zu der Erkenntnis, dass alle Möglichkeiten ihre Tücken hatten. Er wusste nicht woran er bei Balta oder Zaja war. Nur Red konnte er definitiv nicht trauen. Leider besaß der den größten Joker. Selbst wenn alles stimmen würde und selbst wenn er die anderen aus ihren Särgen holen könnte, sie würden vermutlich ähnliche Gedächtnislücken aufweisen wie er. Vielleicht war es seine Familie die da lag und er würde sogar die Frau auf dem Foto dort finden. Die Wut stieg wieder hoch, als er vor seinem geistigen Auge Red an den Kammern rumwerkeln sah. Den Pakt mit dem Teufel wollte er nicht. Blieb als Alternative nur der Tod. Nicht seiner oder der der Anderen. Nein Red musste sterben. So oder so, er würde eine unangenehme Entscheidung treffen müssen. 

Der Transfer nach dem Sprung zog sich hin. Die Entscheidung ob Science, Cree oder Red beschäftigte Sentry die vollen drei Stunden und jedes Mal, wenn er glaubte endlich die beste Lösung gefunden zu haben, kamen die Zweifel nicht alles genau bedacht zu haben. Baltas Plan auf der Yuma-Station einen Science-Vertrauten zu kontaktieren, war zeitlich unbestimmt. Sie konnten Glück haben, dass gerade einer die Station besuchte und willig war sie zu ihrem Ziel zu bringen. Im schlimmsten Falle allerdings mussten sie wochenlang warten, bis jemand geeignetes auftauchte. Der Transport würde sie einiges kosten und es war eher unwahrscheinlich, dass die Jetons reichen würden. Die Alternative Cree hatte ebenfalls ihre Tücken. Er hatte sich schlau gemacht in Marios Bordcomputer über den Planeten, dennoch waren die Informationen spärlich. Es gab keine regelmäßige Verbindung durch die Exson. Genau genommen war Cree als Ziel zu uninteressant geworden und der letzte Sprung lag mehr als zwei Jahre zurück. Der Fahrplan verkündete nur ein „vorübergehend eingestellt“. Also war auch hier ein separater und teurer Sonderflug notwendig. Die dritte Option, die ja ursprünglich keine war, bohrte sich trotzdem immer wieder in seine Überlegungen. War die ganze Sache nur ein gut angelegter Bluff seitens Red? Er hatte keine wirklich überzeugenden Argumente gesehen. Was, wenn er nicht log? Konnte er das Risiko eingehen ihn zu ignorieren? Sicher nicht. Aber wie Red die Informationen entlocken, ohne seine Seele zu verkaufen?

„Hier spricht ihr freundlicher Kommandant. Wir sind im Begriff das Ziel unserer Reise zu erreichen.“ plärrte der Lautsprecher.

„In zwanzig Minuten werden wir an die Yuma-Station andocken.“  Sentry begab sich wieder ans Fenster. 

Unter dem Eindruck des ersten Erblickens der „verruchten Braut“ erwartete Sentry etwas ähnlich Kolossales vorzufinden. Er war leicht enttäuscht, über das, was er sah. Mal abgesehen von dem einzigen, riesigen Habitatring, war die eigentliche Station eher überschaubar. Eine zentrale Kugel an der symmetrisch etwa zwei Dutzend Streben die Zugänge zu dem Andockring bildeten. Hätte ihm Mario nicht versichert, dass es sich um Yuma handelt, man hätte das ganze Gebilde leicht für einen zu groß geworden Satelliten halten können. Der eigentliche Planet, Yuma-Prime, welcher grau im Hintergrund schimmerte, war durch einer der vielen Auseinandersetzung in den vergangenen Jahrhunderten unbewohnbar geworden. Eine atomare Wüste auf der nichts und niemand länger als zehn Minuten am Leben bleiben würde. Die Überlebenden der Katastrophe hatten Zuflucht auf den damals noch zahlreichen Raumstationen gefunden. Diese umkreisten den Planeten und waren dem Zerfall ausgesetzt. Nach und nach wurde eine Station nach der Anderen aufgegeben. Das geschah nicht nur weil die technischen Mängel das weitere Überleben zum Glücksspiel werden ließ, sondern auch, weil es bessere Orte zum Leben gab. Wahrscheinlich wäre heute kein Mensch mehr in diesem System, hätte Exson damals nicht beschlossen ihre Zentrale hier her zu verlegen. Nur noch zwei Stationen sind in Betrieb. Eine für die Herstellung von Treibstoff und die Andere für die organisatorische Abwicklung der Geschäfte. Und auf die Letztere steuerten sie nun zu. Besucher blieben für gewöhnlich nicht lange. Die Abläufe waren mittlerweile so optimiert, dass neunzig Minuten reichten, um die doch umfassende Bürokratie zu erledigen. Die Wartezeit bis zum Sprung wurden lieber auf einem der Exsons verbracht, so dass auf Yuma ein ständiges Kommen und Gehen herrschte, aber nie jemand lange verweilte. Neben dem Personal, welches fast ausschließlich aus Wartung und Instandhaltung bestand, gab es nur noch Gestrandete, deren Geld nicht reichte für den Anschlussflug. Es gab Gelegenheitsarbeiten, mit denen sie ihren Aufenthalt finanzieren konnten, aber wer pleite war, wurde einfach abgeschoben. Ein Schicksal, das auch Sentrys Gruppe drohte, denn es war unklar, wann ihre finanziellen Reserven erschöpft waren.

Wieder gab es eine Registrierung beim verlassen der Luftschleuse, die mit dem gleichen Elan des zuständigen Beamten von statten ging, wie beim Betreten des Exsons. Nur ein kurzer Abgleich der vorhandenen Daten diesmal, aber auf die Frage, was denn ihr zukünftiges Ziel wäre, log Balta ungeniert. Die Wahrheit war, sie wussten es nicht und da ungewisse Aufenthaltzeiten hier ungern gesehen waren, suchte er sich die längst mögliche Alternative für seine Lüge aus. Das Exson nach Comox verlies Yuma erst in sechs Tagen. Soviel Zeit blieb ihnen also, um eine weitere vernünftige Ausrede für ihren Besuch zu finden.

Mario verabschiedete sich sofort wieder. Wichtige Geschäfte ließen ihn nicht lange auf der Station verweilen und immerhin hatte er seinen Teil der Vereinbarung erfüllt. Es war schon bedrückend keinen gewohnten Rückzugsort mehr zu haben, also war Sentry komplett Baltas Gnade ausgeliefert. Er war der Einzige, der sich an solchen Orten auskannte.

Im Gegensatz zu der Feierstimmung auf dem Exson, herrschte hier eine nüchterne Atmosphäre. Die metallischen kargen Wände erinnerten Sentry an Reds Schiff. Offenbar war das ein Einheitsdesign der Vorfahren. Es gab nur eine Bar, die auch gleichzeitig die Verpflegung bereitstellte und als sozialer Treffpunkt für die Einheimischen diente. Der Rest bestand aus Wohnquartieren, Läden und allen möglichen Dienstleistungen, wie medizinischer Versorgung oder Reparatur von elektrischen Geräten. Nicht mehr als dreitausend ständige Bewohner gab es auf Yuma und vielleicht noch mal soviel an wechselnden Besuchern, so dass auf Grund der überschaubaren Anzahl, die Gruppe auffiel, als sie die Station betrat. Besonders die Frauen wurden von den meist männlichen Anwesenden gemustert, so dass sich die Reserviertheit gegenüber Fremden, die normalerweise von den Einheimischen an den Tag gelegt wurde, diesmal in Grenzen hielt.

„Was für ein trostloser Ort. Müssen wir hier lange bleiben?“ entfuhr es Eric und wieder schaffte er es, mit dieser Bemerkung den Unmut der Bevölkerung auf sich zu ziehen. In dem Moment, als sie die Bar betraten, richteten sich ungefähr zwanzig Augenpaare auf sie.       

„Kannst du dich nicht einmal zurückhalten mit deinen Bemerkungen.“ Eva war peinlich berührt von dem ersten Eindruck, den sie gerade hinterlassen hatten.

„War nicht so gemeint.“ entschuldigte sich Eric halbherzig und merkte wieder zu spät, was er angerichtet hatte. Zum Glück war die Klientel nicht auf Ärger aus, so dass man mit ein paar bösen Blicken die ganze Sache auf sich beruhen ließ.

„Herzlich Willkommen in meinem Etablissement. Hübsche Frauen sind hier immer gern gesehene Gäste. Nörgelnde Kinder mögen bitte draußen bleiben.“ begrüßte sie der Wirt hinter der Theke. Ein etwas untersetzter Mann Mitte 50 und mit keinem einzigen Haar auf dem Kopf. Sein Kinnbart und seine beruhigende Stimme unterstrichen seine sympathische Ausstrahlung. Über die Jahre hatte er sich ein perfektes Auftreten gegenüber Kundschaft antrainiert, so dass sich die Gruppe trotz des verpatzten Auftretens in der Bar willkommen fühlte.

„Danke für das herzliche Willkommen. Mein Freund Eric würde dieser netten Gemeinde gerne eine Runde Bier ausgeben.“ entgegnete Balta die Begrüßung.

„Saalrunde.“ brüllte der Wirt in die Menge. Bevor Eric protestieren konnte, rückten weitere Gäste aus dem Flur in die Bar.

„Was…? Hey. Nein. Was soll denn das?“ wandte er sich irritiert an Balta.

„Das ist wie mit dem Hund, dem man auf die Füße treten muss, damit er einen nicht mehr anspringt. Irgendwann springst du nicht mehr.“

„So sehr ich das Hündchen auch dressieren möchte, aber sollten wir unser spärliches Geld nicht zusammenhalten, um hier schnellst möglich wieder weg zu kommen.“ Dina war skeptisch wegen der Saalrunde.

„Die Jetons reichen eh nicht. Was wir brauchen ist das Vertrauen der Einheimischen. Nur über sie bekommen wir Informationen und vielleicht sogar das nötige Geld, um weiter zu reisen.“ erwiderte Balta. Er wandte sich an den Wirt, stellte die Gruppe namentlich vor und versuchte mit seinem üblichen Charme die Geschicke in die gewollte Richtung zu lenken.

„Wir sind auf der Suche nach einem eher privaten Transport.“ rückte er mit seinem Anliegen raus, nachdem er mit ein paar Minuten allgemeinen Palaver das Fundament für diskretere Fragen gelegt hatte.

„Da wenden Sie sich lieber an die Administration. Die Firma sieht nicht gern Konkurrenz auf Yuma.“ erwiderte Salik der Wirt.

„Ich brauche ja nur einen Tipp.“ Er legte einen Jeton auf die Theke. Die Exson duldete ein gewisses Maß an freien Transporten. Erstens zog es weitere Kundschaft an und zweitens konnten sich verschiedene Angestellte ihr spärliches Gehalt durch gewisse Extrazahlungen aufbessern. Offiziell wurde jegliche Konkurrenz verboten und es passierte schon oft, dass Kommandanten mit Überlichtantrieb Strafen zahlen mussten, aber die Exson nutzte diese Mittel nur, wenn sie das Gefühl hatte ihre eigenen Geschäfte würden zu sehr beeinträchtigt.

„Es gibt gerade zwei Alternativen, die Sie nutzen können.“ Salik rührte den Jeton nicht an, erst in dem Augenblick indem Balta einen zweiten dazu legte, verschwanden beide in seiner Tasche.

„Ich arrangiere was. Seien Sie in zwei Stunden wieder hier.“ lächelte er freundlich und stellte Balta ein weiteres Bier hin. Das hieß für die Gruppe die Zeit zu überbrücken. Während Balta und Dina weiter dem Alkohol frönten, beschlossen Sentry, Eva und Eric die Station zu erkunden. Es war deprimierend, die immer gleichen blassen Gesichter zu sehen. Sie waren gezeichnet von Alkohol und Tabak. Leute in ihrem Alter wirkten verbraucht und ausgebrannt, als würden sie die meisten ihrer Lebensjahre schon hinter sich haben. Die Lebenserwartung ohne frische Luft und Sonnenlicht war nicht besonders hoch. Die Geschichten glichen sich. Gestrandete, die mit Gelegenheitsarbeiten anfingen und dann das zweifelhafte Glück hatten durch den Tod oder den Weggang eines permanenten Bewohners dessen Aufgabe übernehmen zu dürfen. Da war Kurt, der Barbier, der ohne Ausbildung die notwendige Stelle durch die Administration zu gelost bekam. Er setzte sich gegen sechs Mitbewerber durch und die anfängliche Freude wich dem tristen Alltag auf Yuma. Sein siebentes Jahr war er hier, hatte sein festes Auskommen, aber die Tage waren austauschbar geworden. Zwölf Stunden mehr oder weniger stressige Arbeit, dann hing er vier Stunden bei Salik ab, bevor er betrunken in sein spärlich eingerichtetes Ein-Zimmer-Quartier taumelte, um den nächsten Tag wie die vorangegangenen zu verbringen. Oder Welko der Mechaniker, welcher zwischen den Stationen pendelte. Zwölf Jahre kümmerte er sich um die Maschinen der Raffinerie, ohne einen Tag Pause. Unmöglich sein Alter unter dem ganzen Schmutz und der dreckigen Kleidung zu schätzen. Yuma war kein Ort um sein Glück zu finden. Kinder oder Familien gab es hier nicht. Es war ein Ort der verlorenen Träume. Wer es schaffte hier wieder los zu kommen, sah sich nur wenig besseren Alternativen gegenüber. Für den Rest war Yuma die Endstation und man durfte sein Leben als Platzhalter für Haare schneiden oder Bier ausschenken hergeben. Es war einerlei, ob hier oder auf Lassik oder sonst wo. Für die Menschheit waren Orte wie Yuma zur trügerischen Sicherheit geworden, im Kampf um das tägliche Überleben in dieser unmenschlichen Welt.      

Nicht mal vierzig Minuten reichten, um die wesentlichen Attraktionen der Station zu sehen. Das sie überhaupt solange brauchten, war dem technischen Interesse Erics zu schulden, der im einzigen Laden für elektronisches Zubehör sich selber wieder fand. Er diskutierte über fünfzehn Minuten mit dem Inhaber, was dieser denn besser machen könne, bis der ihn dann einfach genervt vor die Tür setzte. In seiner für ihn typischen Aufregung musste Eva ihn beruhigen und Sentry wurde schmerzhaft bewusst, dass sie mit Eric ein ernsthaftes Sicherheitsrisiko besaßen. Entweder lernte er es unauffälliger zu werden oder sie mussten sich von ihm trennen, was vermutlich gleichbedeutend mit seinem Tod wäre. Wenn es eine schaffen würde ihn auf den richtigen Weg zu bringen, dann war es Eva. Etwas, was ihr noch nicht so Recht bewusst war oder mit großer Ignoranz ausgeblendet wurde.

Sie begaben sich zurück in die Bar und setzten sich zu Dina und Balta. Die Stimmung war verkrampft. Der gewachsene Gruppenzusammenhalt nach der Flucht von Lassik war dahin. Alle hatten das Gefühl, dass sich zwei Lager gebildet hätten. So saßen sie schweigend vor ihrem Bier, bis Dina die peinliche Stille beendete.

„Ist das kalt hier.“

„Was? Es sind 22°C. Frauen frieren wohl sogar in der Hölle.“ erwiderte Eric. Dina ignorierte ihn. Offenbar war es ihr wichtiger die Probleme anzusprechen, als ihrem Lieblingszeitvertreib nachzugehen.

„Was ist das Problem? Seitdem wir…“ Sie zögerte kurz, um die richtigen Worte zu finden.

„Seitdem wir unseren Spaß hatten, scheint die Harmonie leicht gestört. Ihr seid doch nicht etwa eifersüchtig?“

„Ich glaube da ist mehr als Eifersucht. Misstrauen.“ hakte Balta ein.

„Red. Irgendwas ist passiert, was du uns noch nicht gesagt hast.“ Balta lag zum ersten Mal falsch. Wie sollte er auch wissen von der Geschichte mit Zaja.

„Oh. Kein Red. Etwas Anderes ist passiert.“ korrigierte er sich sofort, nachdem er Sentrys Gesichtszüge gedeutet hatte. Dieser war nun der Mittelpunkt des Geschehens.

„Wir haben soviel Scheiße miteinander durchgemacht. Ich habe sogar deinen süßen Arsch gerettet. Hast du jemals das Gefühl gehabt, dass ich dich hintergangen hätte? Also was ist passiert, dass sich zwischen uns was geändert hätte?“ Zum ersten Mal sah er in Dinas Gesicht Sorge. Konnte es sein, dass es ihr wichtig war, was er von ihr hielt. Es war Dina, die Frau, die für ihre Rache alles Andere als unwichtig einstufte.

„Es ist nicht deine Ehrlichkeit.“ Sentry rang nach den richtigen Worten.

„Nein. Eigentlich ist es deine Ehrlichkeit. Erinnerst du dich? Wir saßen im „junction“ und auf die Frage, ob ich auf dich zählen kann, sagtest du, dass es keine Garantie für das gibt, was nach dem Verlassen von Lassik passiert. Nun sind wir hier, gegen jede Wahrscheinlichkeit. Es wird Zeit, erneut Stellung zu beziehen.“ Damit lag der Spielball in Dinas Hälfte und die eigentliche Forderung nach Vertrauen musste sie nun ihrerseits erst bestätigen.

„Du willst einen neuen Treueschwur?“ So hatte sich Dina das nicht vorgestellt. Das eingeforderte Bekenntnis zu der Gruppe kam als Bumerang zu ihr zurück. Sie zögerte, raffte sich dann aber zu einer Antwort auf.

„Das ist nur fair. Ich habe dich damals im Unklaren gelassen, aber für mich hat sich nichts geändert. Du bist meine beste Chance Red zu bekommen. Das ist das Einzige, was zählt.“ Sentry war ein wenig enttäuscht. Hatte er tatsächlich gehofft, dass sie ihm aus rein menschlichen Gründen beistehen würde.

„Das wäre geklärt. Nun zu mir. Auch zwischen uns sind dunkle Wolken aufgezogen.“ Balta etwas vorzumachen war schwierig. Für Sentry blieb nur die Wahrheit oder Schweigen. Ihre Blicke trafen sich und den Konflikt, den er gerade mit sich austrug, ob er ihm von Zaja erzählen sollte oder nicht, bedachte Balta mit etwas Spöttischem in seinen Geschichtszügen.

„Cree“ Er hatte nicht das Gefühl eine bewusste Entscheidung getroffen zu haben. Dieses Wort rutschte ihm einfach raus und beschloss damit das Ende seines inneren Konfliktes. Nun gab es kein zurück mehr, aber ewiges Schweigen wäre keine Option gewesen.

„Du willst dahin?“ fragte Balta vollkommen unbeeindruckt.

„Kennst du es? Warst du schon mal da?“ Gleich zwei Gegenfragen sollten seine Unentschlossenheit auf Baltas Frage kaschieren.

„Ja.“ blieb er einsilbig. Immer noch sahen sie sich gegenseitig an, aber dem Spöttischen in Baltas Blick war das Abwartende gewichen. Sentry hoffte, dass er ebenso auf Balta wirkte. Zwei Männer, die sich gegenseitig belauerten. Wer zuerst blinzelte, hatte verloren.

„Ich liebe diesen Macho-Kram, aber auf Dauer wird euch das nicht weiter bringen. Also, warum willst du nach Cree?“ Dina ermöglichte damit Sentry einen Ausweg, ohne sein Gesicht gegenüber Balta zu verlieren. Es war eine gute Frage. Was sollte er antworten? Weil er den besten Sex seines Lebens gehabt hatte. Weil Zaja ihn so manipuliert hatte, dass er eher seinen Trieben, als seinem Verstand folgte. Nein da war mehr. Es bestand eine gewisse Vertrautheit zu ihr, die weit über Gelüste hinausgingen. Cree war nicht der Reiz des Unbekannten. Ganz im Gegenteil. Irgendwas in seinem Inneren sagte ihm, dass er schon mal da war.

„Ich kann es nicht erklären, aber ich denke ich war schon mal da.“ sagte er unsicher.

„Und was erwartet uns auf Cree?“ fragte Dina.

„Cree ist natürlichen Ursprungs. Kein Terraforming durch die Vorfahren. Es gibt eine größere Siedlung in Eigenverwaltung. Sie erwirtschaften ihr Geld im Bergbau und ein wenig Landwirtschaft. Es gibt viele esoterische Spinner dort, die in kleinen Dörfern den ganzen Planeten bevölkern. Achso. Und Leute wie ich sind dort nicht gern gesehen.“ erklärte Balta das Notwendigste.

„Du meinst dein Charme zieht dort drüben nicht.“ merkte Dina an.

„Rassismus. Aber hey, dafür stehen blonde, blauäugige Frauen ganz oben auf der Beliebtheitsskala. Heißt das, du willst nicht zur Science?“ fragte Balta wieder ernst in Richtung Sentry.

„Es zerreißt mich nicht zu wissen, was diese verdammte Technologie in mir alles anstellen kann, aber es zerreißt mich genauso meine Ursprünge nicht zu kennen. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, was gerade das Beste ist.“ Sentry hatte das Gefühl zu viel Unsicherheit Preis gegeben zu haben. Er wollte sicher und souverän wirken, aber damit war es nun vorbei.

„Warum auf einmal Cree? Auf Lassik war das kein Thema. Also. Was ist passiert auf dem Exson?“ Balta war jetzt ungeduldiger. Dass ein Alternativplan zu der Science existierte, machte ihn nervös. Sentry schaute rüber zu Eva. Sie kannte seine Geschichte und er erhoffte von ihr eine Entscheidung für das weitere Vorgehen, aber sie konnte ihm nicht helfen, selbst wenn sie wollte.

„Es ist mir empfohlen worden, von jemandem der mich kannte.“ Wieder war es ihm unmöglich die ganze Wahrheit zu sagen. Baltas Pokerface hatte für einen Moment Risse bekommen. Offenbar schockierte ihn diese Aussage so sehr, dass er es nicht zu 100% schaffte unbeeindruckt zu bleiben. In diesem Moment entschied sich Sentry dagegen ihm von Zajas Warnung zu erzählen. Offenbar hatte diese ihre Berechtigung.

„Sie kannte meine Geschichte, meine Talente, meine Kameraden. Leider konnte ich sie nicht dazu befragen. Das Einzige was sie mir sagte, ich solle nach Cree gehen.“ Er hoffte damit Baltas Neugierde zu befriedigen.

„Geheimnisvollen Frauen verfällt man schnell. Selbst ich bin davor nicht gefeilt. Ich denke mal, sie hatte dir ordentlich den Kopf verdreht. Vielleicht hilft ja eine neutrale Sichtweise eine Entscheidung zu treffen. Du solltest uns alles erzählen, was passiert ist.“ Das war zu plump, als das er wirklich als ernst gemeinter Versuch durchgehen würde mehr Informationen zu bekommen. Vermutlich wollte er Sentry in trügerischer Sicherheit belassen seinen Bluff erkannt zu haben, um über verräterische Signale an die gewünschten Geheimnisse zu kommen. Er musste höllisch aufpassen nicht ungewollt mehr Preis zu geben, als ihm lieb war. Dieser Balta war gerissen und er hatte Blut geleckt. Das beste Mittel war es überhaupt nix zu sagen, aber selbst Gesten und Reaktionen konnten ihn verraten.

„Es ist egal, ob Cree oder Science. Unsere finanziellen Mittel reichen nicht aus. Wenn wir kein Geld haben, ist die einzige Möglichkeit hier weg zu kommen unsere Talente einzusetzen. Mit unsere meine ich natürlich deine.“ Balta wechselte von sich aus das Thema, da er einsah, Sentrys Vertrauen weiter einzubüßen, wenn er bei der Cree-Geschichte nachhaken würde.

„Es wäre mir lieb, wenn wir das nicht ans schwarze Brett aushängen würden.“ Sentry wirkte beunruhigt hinsichtlich Baltas Plänen.

„Kann ich nicht versprechen. Ich glaube unsere erste Möglichkeit hier weg zu kommen, ist gerade angekommen.“ Balta deutete auf eine Frau an der Bar, die ausgelassen mit dem Wirt diskutierte. Außer ihm hatte keiner ihr Ankommen bemerkt, zu sehr waren sie mit ihren internen Querelen beschäftigt gewesen. Sie schaute zu ihnen rüber und ein kurzer abfälliger Blick, so als würde ein gestandener Seebär einen Haufen Landratten begutachten, dann wand sie sich wieder Salik zu, der ihr ein frisches Bier hinstellte. Die Gruppe musterte sie ungeniert. Das Auffälligste an ihr war ihre Kleidung. Es war weniger die Farbe oder der Schnitt, die ins Auge fielen, es war das Material. Unmöglich zu sagen aus was ihr Overall bestand, aber es war kein gewöhnlicher Stoff. Alles wirkte multifunktional und vermutlich konnte sie damit ebenso durchs Höllenfeuer laufen, wie durch Eiswüsten marschieren. Unzählige Taschen, in denen Werkzeug, Zigaretten oder wer weiß was verstaut werden konnte. Keine Frage, diese Frau war auf so ziemlich alles vorbereitet. Sie hatte ihr dunkelblondes Haar zu einem Zopf zusammen gebunden. Sentry schätzte sie auf Anfang vierzig und auf ihn wirkte sie attraktiv. Von Natur aus war sie keine Schönheit, es war eher ihre Ausstrahlung, die ihn beeindruckte. Selbstbewusst, als könne ihr keiner was, schritt sie in einer Art und Weise auf sie zu, die sagte „Ich bin hier der Chef und es wird schwer werden mich zu überzeugen, dass wir ins Geschäft kommen.“. Sie war Profi indem was sie tat, dass war jedem sofort klar und plötzlich war Sentry froh, dass sie Balta dabei hatten. Wenn einer von ähnlichem Schlag war, dann er.

„Ihr sucht also einen Transport.“ kam sie ohne Umschweife zur Sache. Sie stand vor ihrem Tisch und musterte jeden Einzelnen persönlich. Da alle anderen saßen, hatte sie einen optischen Vorteil bei möglichen Verhandlungen. Ein Defizit was Balta schleunigst zu korrigieren versuchte.

„Biete der Dame doch deinen Platz an.“ wandte er sich an Eric.

„Dame ist gut. In dem Aufzug wirkt sie wie ….“ versuchte dieser seinen Platz zu verteidigen.

„Nicht springen Hündchen, nicht springen.“ wies ihn Balta zu Recht.

„Eine schlechte Wahl als Wachhund. Den Posten sollte sie übernehmen. Sie hat das richtige Feuer dafür.“ Ihr Gast deutete auf Dina, nachdem sie den freigewordenen Platz übernommen hatte. 

„Das ist richtig. Wir benötigen einen Sondertransport.“ bestätigte Balta.

„So etwas ist immer sehr kostspielig, gerade für eine große Gruppe wie euch.“ Ohne großes Palaver stieg sie in die Verhandlungen ein.

„Ich bin…“ Balta wurde unterbrochen.

„…jemand der eine Mitfahrgelegenheit sucht. Ich weiß.“ unterbrach sie ihn eiskalt. Offenbar war es für sie einfacher mit anonymen Kunden zu verhandeln.

„Was habt ihr anzubieten?“ fuhr sie fort. Die Summe die Balta anbot, war konkret jene, die sie bei zusammenlegen aller Jetons besaßen. Ihr Lächeln auf dieses Angebot war undefinierbar. Das Fehlen jeglicher Relation zu dem Wert eines solchen Transportes, ließ Sentry für einen Moment hoffen, dass es ein gutes Geschäft für ihre Gegenüber wäre. Als sie aufstand und im Begriff war zu gehen, wurde ihm bewusst, dass er sich geirrt hatte.

„Einen Moment. Wir haben noch mehr im Angebot.“ hielt Balta sie zurück. Sentry zog es den Magen zusammen. Sein Auftritt als Joker stand unmittelbar bevor.

„Du kennst die Geschichte von Modoc? Wir können sie wiederholen.“ Die Frau zögerte kurz und setzte sich dann wieder.

„Große Sprüche. Normalerweise erkenne ich ein Großmaul.“ sagte sie ernsthaft interessiert.

„Du bist noch hier, also scheine ich nicht in diese Kategorie zu fallen. Ich halte dich für clever genug, das einschätzen zu können.“ Balta startete seine Charmeoffensive.

„Das Angebot ist folgendes. Ich bin mir sicher du kennst Dutzende Orte wie die auf Modoc. Bring uns zu einem und wir machen dich glücklich. Machen wir dich unglücklich, kannst du mit uns machen, was du willst. Ich glaube auf dem Sklavenmarkt könnten wir ein schönes Sümmchen erzielen. Ich bin mir aber hundertprozentig sicher, wir machen dich glücklich und dann bringst du uns dahin, wo wir wollen.“ Baltas Angebot klang überzeugend. Wie Sentry später erfuhr war Modoc eine dieser Geschichten, wie sie sie auf Lassik erlebt hatten. Irgendjemand hatte es geschafft ein Technologielager der Vorfahren aufzuspüren und sich Zutritt zu verschaffen. Ob dies der Wahrheit entsprach, konnte nicht nachgewiesen werden, aber die Geschichten von unendlichem Reichtum schwirrten wie Legenden durch die Galaxie. Seine Codeknacker sollten also als Pfand herhalten.

„Keine Chance. Ich bin nicht der Typ, der an Märchen glaubt.“ Sie wandte sich an Eva.

„Was ist deine Geschichte? Irgendwie passt du nicht hierher. Eigentlich passt du nirgendwo hin. Du wirkst, als hättest du die letzten Jahre in einem Kokon verbracht.“ Das passte eigentlich eher auf Sentry, aber er hatte sich mittlerweile so gut angepasst, dass seine Unsicherheit nicht mehr auffiel. Urplötzlich stand Eva im Mittelpunkt, was ihr sichtlich missfiel. Auch Balta war außen vor, was er als persönlichen Affront empfand.

„Das ist persönlich und geht Sie nichts an.“ erwiderte sie schroff. Die Frau grinste.

„Ich mag dich und das ist auch der Grund warum ich euch eine Chance gebe.“ Sie ignorierte Balta als Anführer vollkommen und betrachtete die Gruppe als eins.

„In etwa zwanzig Tagen werde ich auf Cayuse sein.“ Sie zog einen Zettel aus der Tasche und Sentry war überrascht, dass so etwas wie Papier immer noch genutzt wurde.

„Zehn Dinge stehen auf dieser Liste. Bringt mir zwei davon und wir sind im Geschäft. Im „Bali“ werdet ihr mich finden. Ach ja. Mein Name ist Gerda.“ Damit war die Sache für sie erledigt. Sie schaute wieder rüber zu Eva.

„Pass auf, dass die Welt dich nicht verschluckt.“ sagte sie mystisch und auf welche Knöpfe Eva bei ihr auch drückte, sie schien die Einzige zu sein, die sie halbwegs respektierte. Gerda ging zurück an die Theke, wechselte noch ein paar Floskeln mit dem Wirt, stürzte ihr Bier hinter ohne abzusetzen und verließ die Bar.

„Wow. Ein klasse Auftritt.“ Dina war sichtlich beeindruckt. Balta funkelte sie an. Er war es nicht gewohnt so abgekanzelt zu werden. Seine Vorstellungen, wie die ganze Geschichte laufen sollte, funktionierte nicht mal ansatzweise. Schlimmer noch. Sie hatte ihn vorgeführt und das machte ihn wütend. Wie froh war er doch gewesen, als er sah, dass sein Gegenüber weiblich war. Mit dem üblichen Charme wäre es ein Leichtes gewesen, leider hatte sie ihn sofort auflaufen lassen. Ihr Selbstbewusstsein hatte die ganze Gruppe beeindruckt und er hatte das Gefühl einen Teil seines eigenen Respekts gegenüber den Anderen verloren zu haben. Er musste jetzt souverän wirken. Schmollen würde die Sache nur schlimmer machen.

„Gut. Schauen wir mal, was sie will.“ Er lass den Zettel vor, auf dem jede Menge technische Gerätschaften standen.

„Das sind alles Schiffsersatzteile. Woher sollen wir denn das ganze Zeug bekommen? Wer weiß, ob es das überhaupt noch gibt. Keine Chance.“ Erics Pessimismus war diesmal angebracht.

„Yuma-Prime. Da wird es das geben.“ Balta klang sehr bedrückt, als wäre ihre Chance ihr Verderben.

„Die radioaktive Wüste? Keine so gute Idee.“ warf Dina ein.

„Die Radioaktivität ist unser geringstes Problem da unten. Schauen wir mal, was unsere zweite Option ist.“ Balta sprach damit Saliks zweite Möglichkeit an, ein Raumschiff mit Überlichtantrieb zu mieten.

Sie warteten etwa eine halbe Stunde, aber ihr Plan B löste sich in Luft auf. Es kam niemand, was Salik mit einem einfachen Schulterzucken kommentierte. Natürlich gab es keine „Geld zurück Garantie“ und die Gruppe konnte froh sein, wenigstens eine Gratisrunde Bier zu erhalten. Also blieb ihnen nur Gerda. Balta machte sich umgehend daran einen Plan zu erstellen. Yuma-Prime war eines der industriellen Zentren in den guten alten Zeiten. Hier wurde so ziemlich alles hergestellt, was die Menschheit brauchte. Das fing an bei einfachen Zahnbürsten bis hin zu komplexen Raumschiffen. Nach der atomaren Katastrophe rotteten die technischen Schätze vor sich hin, bis windige Plünderer ihre Schiffe so aufrüsteten, dass sie gefahrlos Gegenstände von der Oberfläche bergen konnten. Jahrelang war Yuma-Prime eine Goldgrube und lockte alle möglichen Leute an. Es war einfach mit ein paar Modifikationen am Schiff an die Technik zu kommen, aber irgendwann waren die Rosinen auf dem Kuchen weg und man benötigte Spezialwissen, Spezialausrüstungen und ausreichend Erfahrung, um weiterhin profitabel plündern zu können. So reduzierten sich die Bergungsschiffe auf ein paar wenige Spezialisten. Leute die verwegen genug waren ihren Lebensunterhalt damit zu verdienen, die Technik und Rohstoffe der Vorfahren zu bergen und zu verkaufen. Verrückte wie Odin und seine Mannschaft. Es war leicht auf seinem Schiff anzuheuern, denn Abenteurer waren ein gutes Nebengeschäft. Gegen einen Pfand und eine Gebühr verlieh er seine zahlreich vorhandenen Schutzanzüge und die Wagemutigen konnten auf Schatzsuche gehen. In der Mehrzahl der Fälle kamen sie nicht zurück von der Oberfläche, so dass Odin seine Anzüge für einen besseren Preis loswurde, als er es je auf einen der Märkte hätte verhandeln können, zu mal die Nachfrage von Schutzanzügen relativ gering war. Bei einer erfolgreichen Wiederkehr ließ er sich prozentual auszahlen. Aber die letzten Male kamen sie nicht wieder, was ihn und seine Männer veranlasste die Oberfläche so selten wie möglich zu betreten. Ihre Bergungstechnik war mittlerweile so ausgefeilt, dass sie das auch nicht mehr als zu oft mussten. Irgendetwas Unheimliches ging da unten vor, das hatte sich rum gesprochen, so dass sein Ausflugsgeschäft zum Erliegen gekommen war. Umso erfreuter war er über den Zusatzverdienst, der ihm durch die Gruppe winkte.

„Pfff…“ pfiff Odin als er die Liste an Bord seines Schiffes durchging.

„Keine Ahnung, ob es die Dinge da unten wirklich gibt. Wenn ja, dann solltet ihr in den Schiffen am ehemaligen Raumhafen suchen.“ Odin war nur 1.65m groß und in Kombination mit dem Drang Ansehen und Respekt ihm gegenüber in seinem Umfeld als Gegebenheit anzusehen, sah er jemanden wie Balta als Beleidigung seines Egos an. Dieser hatte alles was ihm fehlte. Er war groß, sah gut aus und vor allen Dingen hatte er Erfolg bei Frauen. Spätestens da wurde der Neid unerträglich und weckte eine gewisse Heimtücke bei Odin. Er hoffte, dass dieser Ausflug schief gehen würde. Dann würden er den zurückgebliebenen  Frauen die Vorteile kleiner Männer näher bringen.

„Habe ich das richtig verstanden? Ihr beide geht runter und er weißt euch von hier oben ein. Wie wollt ihr euch denn verständigen?“ fragte Odin in Erwartung eines neuen Geschäfts. Mit den Beiden meinte er Balta und Sentry, die mit Hilfe von Erics Wissen über Technik den Raumhafen nach den benötigten Dingen durchsuchen wollten. Balta legte den kompletten Rest der Jetons auf den Tisch.

„Ich bin sicher es findet sich was Geeignetes an Bord.“ sagte er.

„Gut. Das keine Missverständnisse auftreten. Ihr habt es damit nur geliehen.“ grinste er, denn selbst gekauft, wäre das ein zu hoher Preis für den Kommunikator, den er plante den beiden anzudrehen.

„Damit sind wir pleite.“ kommentierte Dina das miese Geschäft, als die Gruppe wieder unter sich war.

„Zum Erfolg verdammt. Notfalls habt ihr noch die Pistole, die ihr versilbern könnt.“ Balta drückte sie ihr in die Hand. Sie wies ihn zurück.

„Glaub mir die Gefahren hier oben sind genauso real, wie die da unten. Steck sie ein. Ich fürchte bald du wirst sie brauchen.“ Dina steckte sie weg und gab ihm einen leidenschaftlichen Kuss.

„Danke“ grinte er verschmitzt.

„Als Motivation zurückzukommen. Dann habe ich mehr für dich. Ich hoffe diese kleinen Kerle in dir passen auf dich auf und bringen dich heil wieder zurück.“ Dina versuchte jegliche Sentimentalität aus ihrer Stimme zu bekommen, was ihr nicht vollständig gelang. Sie wandte sich an Sentry.

„Komm her.“ Auch er bekam einen Kuss, wenn auch weniger leidenschaftlich. Sie schaute ihm tief in die Augen.

„Ich hoffe, ich habe dein Vertrauen.“ sagte sie. Diesmal war sich Sentry sicher, dass es Sorge war. Sie hatte ihren Schutzpanzer geöffnet für ihn. Ein Blick auf ihr wahres Ich freigegeben. Ein großer Augenblick, den sie gerade teilten.

„Das hast du.“ erwiderte er und umarmte sie. Wieder stieg ihm dieser unglaubliche Geruch in die Nase. Diesmal machte es ihn nicht scharf, dafür war die Angst zu groß sie nie wieder zu sehen. Er wollte da unten nicht sterben. Was er wollte war mehr von diesen Momenten, mehr vom Leben, mehr von Dina.

 

XIV

„Die Angst ist die andere Hälfte vom Mut.“

Reinhold Messner

 

Die Aufregung war ihm deutlich anzumerken. Sentry zitterte, als er sich in den Anzug quälte. Die Größe passte nicht so richtig, aber mit ein paar Tricks bekamen sie es hin, dass ihn die Übergröße nicht behinderte. Immer wenn die Aufregung in Angst umzuschlagen drohte, holte er sich Dinas Kuss und ihre Worte in Erinnerung. Sie hatte es geschafft sein vorhandenes Misstrauen zu zerstreuen. Jedenfalls für den Augenblick. Mehr noch. Sie war sein Licht für die vor ihm liegende radioaktive Dunkelheit geworden. Er hatte Angst da raus zu gehen, dass musste er sich eingestehen und obwohl Odin nur Andeutungen über die Gefahren da unten machte, war seine Phantasie entfesselt über die Dinge, die ihnen da unten passieren konnten. Zum ersten Mal bewunderte er Balta, dem die ganze Situation scheinbar nix anhaben konnte.

Ihr Ziel innerhalb des Raumhafens war ein Wartungshangar. Wenn es noch brauchbare Ersatzteile gab, war dies der passende Ort. Odin landete etwa fünfzig Meter vor einem riesigen verriegelten Tor. Sein Schiff hätte viermal so groß sein können und trotzdem wäre noch genug Platz, um unbeschadet durch das Portal zu gelangen. In den florierenden Zeiten wurden weitaus größere Schiffe in dem vor ihnen liegenden Hallen repariert.

Krachend setzte die Ladeluke auf den Asphalt auf und wie sie da so standen, in ihren Schutzanzügen etwa drei Meter über der Oberfläche, überkam Sentry endgültig Panik. Das Licht tauchte die Umgebung in ein gespenstisches rot, aber was ihm wirklich Angst machte, war die absolute Stille nach dem Abschalten der Antriebe. Alles schrie nach Tod auf diesem Planeten und er war froh, dass jemand an seiner Seite war, sonst hätte er vermutlich keinen einzigen Schritt gemacht.

„Lass uns gehen. Wir haben nur für drei Stunden Luft.“ hörte er Balta gedämpft durch die Anzüge und erst als dieser ein paar Schritte voraus ging, schaffte es Sentry sich aus seiner Lethargie zu befreien und die Rampe hinab zu gehen.

Auf dem Weg zum Tor schaute er sich um. Das Licht war zu schwach, um viel erkennen zu können. Er entdeckte mehrere Schiffswracks, die rechts und links den Weg säumten. Viel kleinere Schiffe als das, was sie gerade verließen. Vermutlich waren es Transportmittel, mit denen damals innerhalb des Raumhafens verkehrt wurde. Geplünderte Mahnmale längst vergangener Zeiten. Sie erreichten das Tor und er konnte dem Zwang nicht entkommen, sich zu vergewissern, dass ihr sicherer Zufluchtsort immer noch da war. Erleichtert erkannte er die schemenhaften Umrisse des Schiffes.

In dieser roten Dämmerung war es schwer Auffälligkeiten zu erkennen, aber irgendwie hatte es Balta recht zügig geschafft das Loch im Tor zu finden. Ein Relikt von Vorgängern ihres Plündergewerbes. Sentrys Freude über den leichten Zugang zum Hangar hielt sich in Grenzen, weil eben dieses Loch bewies, dass sie nicht die Ersten waren, die hier ihr Glück versuchten. Auf der anderen Seite erwartete sie nichts als Dunkelheit und selbst Baltas Lampenstrahl wirkte verloren innerhalb dieses schwarzen Nichts. Erst ein paar Lichtstäbe, die er Odin noch abgeschwatzt hatte, erhellten den Bereich soweit, dass sie wenigstens soviel sahen, um genug Futter für eine ordentliche Fantasie zu haben, wo sie sich denn befanden.

Die Dimensionen dieser Halle waren nicht mal annähernd zu schätzen. Irgendwo, weit außerhalb des schwachen Lichtes, musste es Wände geben, die das Ganze begrenzten, aber vermutlich würde ihnen eher die Luft ausgehen, bevor sie an eine der Außenwände stoßen würden. Das war auch unwichtig, wichtig waren Schiffe, die sie hätten plündern können und davon war nichts zu sehen. Vor ihnen lag nur eine betonierte Fläche, auf der ab und an ein verrosteter Hubwagen oder geplünderte Werkzeugkisten standen. Nichts, was irgendwie von Nutzen war. Also gingen sie weiter in der Hoffnung, dass ihnen nicht die Leuchtstäbe ausgingen, bevor sie auf etwas Brauchbares stießen.

Langsam schritten sie voran, immer vorsichtig nichts zu übersehen oder über irgendetwas zu stolpern. Es kam Sentry wie eine Ewigkeit vor und nach etwa fünfzehn Minuten überkamen ihn die ersten Zweifel. Wenigstens hatte sich die Angst gelegt, denn trotz aller Todesfantasien, die er noch auf dem Schiff hatte, waren sie bisher ohne große Probleme vorgedrungen.

„Na bitte.“ zischte Balta. Sentry starrte in die Dunkelheit vor ihm. Offenbar hatte Balta etwas erkannt, was ihm verborgen blieb. Er konzentrierte sich und tatsächlich erkannte er ein paar Umrisse fünf Meter über ihm. Sie befanden sich bereits unterhalb eines Schiffes, ohne dass es ihm aufgefallen wäre. Sie gingen vorsichtig weiter, bis sie eine der Stützen erreichten, die das Schiff trugen. Skeptisch schaute Sentry nach oben. Es wäre ein Eingang in das Schiff, aber er bezweifelte, dass sie ohne geeignete Hilfsmittel nach oben klettern könnten.

„Und nun?“ fragte Sentry flüsternd in die Dunkelheit.

„Ich hatte gehofft, dass die Luke offen ist, aber offenbar ist es nicht ganz so einfach. Entweder wir finden einen anderen Eingang oder wir finden ein anderes Schiff.“ antworte Balta. Sentry hatte nicht die geringste Lust weiter in dieser Dunkelheit herumzuirren. Er ging zwei Schritte zurück, um vielleicht eine bessere Sicht auf ihr Dilemma zu bekommen, als er fast über einen Gegenstand auf dem Boden stolperte.

„Heureka. Eine Leiter. Was für ein Glück.“ entfuhr es Sentry. Baltas Lichtkegel wanderte abwechselnd von der Leiter zum Einstieg hin und her.

„Sieht so aus, als wäre die Leiter umgekippt und liegen gelassen worden.“ Er kniete sich nieder. Wie ein Fährtensucher, der versuchte das Geschehene an Hand von Spuren zu ergründen, fing er automatisch an zu kombinieren.

„Entweder haben sie die Leiter hier gelassen, um wieder zurück zu kommen oder sie mussten so überstürzt weg, dass sie keine Zeit hatten sie mit zu nehmen. So oder so haben wir gute Chancen da drinnen noch was zu finden.“ Balta griff sich die Leiter und stellte sie an die Stütze. Die Gewandtheit, mit der er die Sprossen erklomm, überraschte Sentry, denn die Leiter war alles Andere als sicher, so dass er sich bei seinem Aufstieg mehr Zeit nahm, um nicht mit einem Genickbruch auf dem Beton zu enden. Er schob sich an der Stütze vorbei ins Innere des Schiffes, indem er Balta diskutierend mit Eric am Kommunikator vorfand.

„… ist kein richtiger Raum. Da, wo ihr euch befindet, gibt es höchstens einen Wartungszugang. Irgendwo muss eine Leiter nach oben sein, über die ihr durch eine Luke ins eigentliche Schiff kommt.“ Eric war kaum zu verstehen, zuviel Rauschen begleitete seine Ratschläge. Die Lichtkegel suchten die Wände ab. Wieder fand Balta den Zugang eher als Sentry, obwohl letzterer deutlich näher stand. Er folgte ihm die Leiter hoch mit gebührendem Respekt über die Unerschrockenheit, die der dabei an den Tag legte. Der Anstieg endete in einem Gang, höchstens anderthalb Meter breit. Mühsam krochen sie durch die eingelassene Luke im Boden ins eigentliche Schiff. Auch hier waren die Spuren früherer Schatzsucher deutlich zu erkennen. Die Löcher in den Wänden waren Zeugnisse geplünderter Rechentechnik und ließen ihre Erfolgsaussichten weiter schrumpfen. Sie mussten den Technikraum finden, die beste Chance fündig zu werden.

„Da lang.“ kam es von Balta fest entschlossen, obwohl  Zweifel über die Richtigkeit seiner Entscheidung angebracht waren. Sie gingen bis zur nächsten Gabelung und tatsächlich hatte er richtig gelegen. Verblasste Schilder an den Gängen wiesen ihnen den Weg, noch drei weitere Gabelungen und sie standen vor dem Technikraum. Wieder war es Balta der zuerst rein ging. Er opferte seine letzten beiden Leuchtstäbe, was gleichbedeutend war mit der Tatsache, dass es keinen Plan B gab. Dieser Raum war die einzige Möglichkeit ihr Vorhaben zu realisieren. Wenn sie hier nichts finden würden, war ihr Schicksal die Yuma-Station. Er sah sich schon Haare schneiden, bis ans Ende seiner Tage. Sie mussten einfach was finden.

Das spärliche Licht gab den Blick auf ein paar Konsolen frei. Sie standen nahe des Eingangs und dienten allein dem Zweck, die im Hintergrund befindlichen Maschinen zu kontrollieren. Balta ignorierte die Computerterminals und begab sich zu den Maschinen.

„Verdammt alles zerlegt. Hier gibt es garnix.“ raunte er wütend in das Funkgerät.

„Keine Panik. Solche Schiffe hatten über ein Dutzend Maschinen. Irgendetwas wird sich schon finden.“ Dina war jetzt an der anderen Seite ihrer Kommunikationsverbindung, um den bei Eric aufkommenden Pessimismus zu vermeiden. Eine halbe Stunde brauchten sie für eine umfassende Untersuchung. Überall dasselbe. Ihre Vorgänger hatten alles mitgenommen, was irgendwie von Wert war.

„Ich habe was gefunden.“ kam es von Balta aus einer dunkeln Ecke. Er klang nicht sehr erfreut darüber, also machte sich Sentry wenig Hoffnung auf eines der gesuchten Teile. Was war das? Er schaute dem Lichtkegel entlang und konnte mit dem Klumpen, der da zwischen zwei Maschinen lag, nicht gleich was anfangen.

„Der arme Kerl hat es nicht zurückgeschafft.“ Eine Leiche. Jetzt erkannte Sentry die Konturen. Der Kopf, der Rumpf und die Beine. Der Verfall des Schutzanzuges war mittlerweile so weit fort geschritten, dass das Skelett deutlich erkennbar war. Irgendwas stimmte an diesem Leichnam nicht. Keine Arme. Ja das war es. Es mussten doch mindestens Knochen zu sehen sein.

„Ich habe noch eine Idee.“ Eric war wieder an der Kommunikation.

„Mach schnell, ich habe hier ein ganz mieses Gefühl.“ Balta war unruhig geworden und das gab Sentry einen neuen Schub Angst.

„Habt ihr da unten Kontrollstationen. Vielleicht findet ihr noch ein paar Prozessoren, die ihr mitnehmen könnt.“ Balta ging zu den Konsolen. Sentry wollte ihm folgen, als ein Geräusch in seinem Rücken ihn zwang noch einmal zurückzuschauen. Er ging wieder ein Schritt auf den Leichnam zu. Etwas hatte sich verändert. Der Kopf. Er war verschwunden. Vorsichtig suchte er mit seiner Lampe die nähere Umgebung ab und fand ihn im Schoß des armen Kerls. Einfach abgefallen. War es möglich, dass sie das verursacht hatten? Keine zwei Meter hatten sie sich genähert. Sein Verstand war bereit das als dummen Zufall abzutun, als er wieder etwas hörte. Der Selbstbetrug funktionierte nicht mehr. Sein Körper bestätigte seine Skepsis mit einem neuen Schub Adrenalin. Irgendwas Bewegliches war dort.

Er griff sich eine der zahlreichen Eisenstangen und richtete das Licht wieder auf die Leiche. Baltas Diskussionen mit Eric rückten in den Hintergrund. Hoch konzentriert war er bereit dem Geheimnis des gefallen Kopfes auf den Grund zu gehen. Wieder ein Geräusch. Diesmal rechts von ihm. Kam das aus dem Inneren der Maschine? Klick klack, klick klack. Schnell hintereinander, aber gedämpft. Irgendwas Kleines bewegte sich schnell auf ihn zu. Dann war wieder gespenstische Ruhe. Kann es sein, dass er nicht der Jäger sondern der Gejagte war? Er konzentrierte sich wieder auf die Leiche, die sich abermals verändert hatte. Oberhalb des Torsos ragte etwas heraus. War das ein Fühler? Klick klack, klick klack wurde er von rechts erneut abgelenkt. Der Fühler war verschwunden. Vorsichtig tippte er mit der Stange gegen den Rumpf. Dieser fing sofort an zu vibrieren. Was immer da auch drin steckte, es war auf einen Schlag voller Energie. Sentry ging zwei Schritte zurück und prallte gegen Balta. Der war mittlerweile auch mit einer Stange bewaffnet. Der Fühler tauchte wieder auf. Jetzt waren es schon zwei. Noch einer. Sentry hatte sich geirrt. Das waren keine Fühler. Was er sah konnte nicht sein. Hoffentlich irrte er sich erneut.

 

Eva fühlte sich nicht wohl. Es war weniger die neue Umgebung, die ihr zu schaffen machte, sondern die Gesellschaft in der sie sich befanden und wenig Vertrauen erweckte. Sie wusste es war nur vorübergehend und sie würden auf ihrer weiteren Reise vermutlich ähnlich unangenehme Kompromisse schließen müssen um voran zu kommen, aber als sie hörte das Balta und Sentry das Schiff verlassen würden, verfiel sie in böse Vorahnung. Es war die Art und Weise wie Odin sie anschaute. Wie ein Kind, das darauf wartete, dass das Spielzeug des Anderen frei würde, um selber hemmungslos damit Spaß zu haben. Frauen waren in seinen Augen Besitzgegenstände und wie jeder Mann stand er in Konkurrenzkampf zu seinesgleichen. Bereit die möglichst besten Stücke für sich zu beanspruchen, um sich in der Anerkennung der unterlegenen Mitstreiter zu sonnen. Wie auch schon im Tempel war Eva ein lohnendes Ausstellungsstück und auch hier vermittelte sie auf Grund ihrer Ausstrahlung den Eindruck ein williges Opfer zu sein. Odin war kein Kain. Sein Imperium beschränkte sich auf ein verrostetes Schiff und drei Vasallen deren Intelligenz sich darauf beschränkte zwischen Schlitz- und Kreuzschraubendreher zu unterscheiden. Was sie gemeinsam hatten, war das scheinbar unendlich große Ego. Sie bewunderte Dina dahingehend, dass sie allein mit ihrer Körpersprache in der Lage war unangenehme Zeitgenossen auf Distanz zu halten.   

„Wir müssen aufpassen. Ich traue hier keinem.“ wies sie Dina unnötigerweise auf ihre Zweifel hin.

„Geht mir genauso. Sollte den beiden da unten was passieren, haben wir hier ein Problem. Zum Glück haben wir noch die hier.“ Dina tippte auf die Pistole in ihrer Seitentasche. Eva war eigentlich der Meinung, dass Balta sie eingesteckt hätte, aber das war nur ein Täuschungsmanöver für die Mannschaft, die nun glaubte sie seien unbewaffnet. Dina hielt ihr die Waffe hin.

„Ich komme auch ohne ganz gut klar, deswegen solltest du sie nehmen.“ Reflexartig griff Eva nach der Waffe. Sie war es immer noch gewohnt Anweisungen ohne großes Überlegen auszuführen. Erst als sie das Metall auf ihrer Hand spürte, wurde ihr bewusst, dass sie das Ding nicht wollte. Wer eine Waffe besaß, musste auch bereit sein sie einzusetzen und da bestanden bei ihr erhebliche Zweifel. Die Erlebnisse auf Prem kamen ihr wieder in den Sinn. Nie wieder wollte sie in solch einer Situation sein. Nie wieder wollte sie gezwungen werden eine Entscheidung über Leben und Tod zu treffen.

„Nein. Behalte sie.“ Sie hielt Dina die Waffe entgegen.

„Was?“ erntete Eva ein Stirnrunzeln.

„Ich will die Dinger nicht mehr.“ sagte sie kurz und knapp.

„Ich weiß du hast Probleme den Tod dieses Schleimbeutels auf Prem zu verarbeiten.“ Dina hatte sich wohl ein paar hellseherische Fähigkeiten von Balta abgeschaut.

„Hättest du damals nicht abgedrückt, wären wir alle tot. Du hast drei Leben gerettet, indem du eins genommen hast. Wir alle standen schon vor solchen Entscheidungen und so wie es aussieht, werden wir auch in Zukunft solche Entscheidungen treffen müssen. Glaub mir, auch mir wäre es lieber, wenn meine größte Sorge darin bestehen, würde mit wem ich zum Abschlussball gehe. Aber leider müssen wir täglich ums Überleben kämpfen. Also nimm diese Waffe und tu das was im Ernstfall zu tun ist.“ Dinas Vortrag brachte Eva ins Grübeln.

„Vielleicht ist es für dich eine schöne Ausrede fürs Töten, wenn am Ende ein Plus vor der Anzahl der Überlebenden steht. Aber ist es das wert? Was nützt uns das Überleben, wenn wir ständig gezwungen sind zu töten?“

„Du bist ja genauso idealistisch wie Sentry. Also sage ich dir, was ich auch ihm schon gesagt habe. Wenn du nicht bereit bist zu töten, wirst du immer der Spielball derjenigen sein, die dazu in der Lage sind. Du kannst die Welt nicht an dich anpassen. Willst du überleben, musst du dich an die Welt anpassen und in der gilt nun mal das Recht des Stärkeren. Auch du wirst das eines Tages einsehen müssen.“ Damit ließ sie sie stehen und begab sich auf die Kommandobrücke. Eva fühlte sich alles Andere als sicher mit der Pistole. Die Verantwortung schien sie förmlich zu erdrücken. Das Dejavu würde seinen Lauf nehmen.

„Immer noch keine Meldung.“ hörte sie Eric sagen, als sie die Brücke betrat. Neben ihm stand Dina und beide starrten auf den Kommunikator, so als könnten sie es dazu bringen endlich ein paar Laute von sich zu geben. Odin saß in der Mitte des Raumes und diskutierte mit seinem Navigator. Ein weiterer von seinen Leuten lag unter einer der Konsolen und fluchte vor sich hin. Offenbar hatten sie Probleme mit dem Terminal. 

„Gib ihnen Zeit. Da unten ist es stockduster.“ Dina klang trotz der beruhigenden Worte ungeduldig. Sie hatten vereinbart, das Balta sich meldete, so bald er Hilfe benötigte. Bis dahin galt Funkstille und auch wenn es Eric in den Fingern kribbelte, hielt er sich bisher daran.

„Hey Eric, kommen.“ krächzte das Sprechgerät überlagert von allen möglichen Störungen.

„Ja hier Eric.“ antwortete er stolz. Zum ersten Mal hatte er seinen Namen von Balta gehört. Für ihn ein eindeutiges Zeichen, dass er eine Stufe aufgestiegen war.

„Wir sind über eine der Stützen ins Innere gelangt. Wie kommen wir weiter?“ Balta war kaum zu verstehen.

„Ihr seid im Stützenraum.“ Eric grübelte kurz.

„Stützenraum? Wie kreativ. Das hast du dir doch gerade ausgedacht.“ bremste Dina seine Wichtigtuerei. 

„Der Stützenraum ist kein richtiger Raum. Da, wo ihr euch befindet, gibt es höchstens einen Wartungszugang. Irgendwo muss eine Leiter nach oben sein, über die ihr durch eine Luke ins eigentliche Schiff kommt.“ ignorierte er die Kritik über seine Wortschöpfung. Am anderen Ende war nur noch Rauschen, dann verstummte der Kommunikator.

„Ihr wisst ja, wie ihr mich erreicht, wenn ihr Hilfe braucht.“ sprach Eric zu dem Kommunikator. Erst nach zehn Minuten gab es wieder das typische Rauschen.

„….hier gibt es garnix.“ war das Einzige was verständlich rüber kam. Der wütende Tonfall war deutlich erkennbar.

„Lass mich mal.“ Dina übernahm jetzt das Sprechen und versuchte Balta zu beruhigen, was ihr auch ganz gut gelang. Über eine halbe Stunde blieb der Kommunikator still.

„Verdammt. Was machen die da unten? Die müssten doch inzwischen irgendwas gefunden haben.“ Erics Ungeduld steckte alle Anderen an, so dass keiner protestierte, als er von sich aus wieder die Verbindung herstellte.

„Ich habe noch eine Idee.“ die darin bestand, wenigstens einige Computerchips mitzubringen, um ein paar Jetons auf Yuma zu ergattern.

Auch das sieht nicht gut aus.“ kam es von der Oberfläche.

„Nur Datenspeicher. Ich steck sie mal ein. Da haben wir dann… Moment.“ Der Lautsprecher verstummte.

„Was denn jetzt?“ Eric starrte auf den Kommunikator.

„Datenspeicher? Na ja, vielleicht finden wir ja ein paar nette Anekdoten aus der Vergangenheit.“ Fünf Minuten passierte nichts. Eric brach die Funkstille erneut.

„Hallo ihr da unten. Kommen.“ versuchte er sein Glück. Nichts.

„Sagt was. Geht’s euch gut?“ fragte er.

„Wir sitzen ziemlich in der Scheiße.“ Diesmal war Sentry am anderen Ende.

„Das Problem….. grzz ….. Wolkov-Spinnen. Es wimmelt …grzz… Melden uns wieder.“ Odin, der drei Meter entfernt das Treiben von seinem Kommandositz beobachtete, konnte trotz der schlechten Verbindung die Kernaussage entschlüsseln.

„Ich fürchte das war es für eure Leute.“ sagte er kurz und trocken.

„Habe ich das richtig verstanden. Spinnen?“ fragte Eric skeptisch.

„Hallo. Jetzt ist die Verbindung wieder besser. Wir haben hier Wolkov-Spinnen.“ Balta war wieder in der Leitung.

„Dann zertretet sie.“ Eric verstand das Problem nicht.

 „So große Stiefel haben wir leider nicht. Wir treten den Rückzug an und versuchen….“ Ein kreischender Ton beendete die Kommunikation.

„Hallo? Was sind denn Wolkov-Spinnen?“ fragte Eric.

„Biologische Kriegsführung der Vorfahren. Genetisch verändert säuberten sie ein Gebiet von sämtlichen Lebewesen. Ihre Lebenspanne beträgt normalerweise nur ein paar Tage, aber die radioaktive Strahlung war wohl dahingehend eher vorteilhaft für die Biester.“ erklärte Odin in seiner unendlichen Weisheit.

„Und ihr wusstet davon und habt sie trotzdem runter gehen lassen.“ Dina war wütend. Odin grinste nur.

„Gut. Lass uns hier verschwinden.“ wies er einen seiner Männer an. Der strohblonde schmächtige Kerl fing an wild auf seiner Konsole zu tippen. Dina ging zu ihm rüber.

„Drückst du hier noch einen Knopf, breche ich dir das Handgelenk. Wir warten hier.“ funkelte sie den Piloten an. Ein Blick in ihr Gesicht reichte und er wusste, dass sie es ernst meinte. Er zögerte.

„Verdammt. Wer ist hier der Kommandant? Bring uns hier weg.“ Odin war sauer, dass seine Anweisungen nicht umgesetzt wurden. Für den Blonden stand nun die Entscheidung zwischen dem Gehorsam seines Kommandanten und dem Ärger mit einer Frau an. Für ihn war Dina das kleinere Übel und so fuhr er fort mit den Vorbereitungen für den Abflug.

Seine Fehlentscheidung gipfelte in einem spitzen Schrei. Sie schaffte es zwar nicht das ganze Handgelenk zu brechen, aber ein paar Finger mussten dran glauben. Die Situation eskalierte und wieder war es Dina, die das Streichholz an die Lunte hielt.

„Verdammtes Miststück. Colt, hilf ihm.“ wies Odin fluchend den an der Konsole schraubenden Mechaniker an. Dieser richtete sich auf und erst jetzt war ersichtlich, welche stattlichen Ausmaße sein Körper besaß. Er machte zwei Schritte auf das Handgemenge zu und wirkte so Furcht einflößend, dass Eric seinen kurzen Anfall von Mut, den er überraschenderweise aufbrachte um Dina beistehen zu wollen, sofort wieder verlor. Colt wirkte wie ein Riesenbaby, als er Dina von hinten umklammerte und sie vom Navigator regelrecht weg hob. Die bizarre Situation wurde komplettiert, als Dina ihren Arm frei bekam und das nutzte, um ihrem Angreifer mit dem Ellenbogen eins auf die Rippen zu geben. Die Ignoranz, mit der ihr Schlag bedacht wurde, machte sie noch wütender, aber irgendwann musste sie einsehen, dass sie gegen diesen Muskelberg das Nachsehen hatte. Ihr freier Arm wurde vorerst ignoriert, so dass sich Colt der Perfektion seiner Umklammerung widmen konnte. Sie wirkte wie eine zappelnde Puppe in seinen Armen und nachdem sie einen zweiten erfolglosen Versuch gestartet hatte dem Schrank ernsthaft weh zu tun, gab sie auf. Gut gesichert wurde sie vor Odin gestellt.

„Fessel sie und sperr sie weg. Thor soll dir dabei helfen.“ gab er überheblich seine Befehle. Er schaute sich um und sein Blick blieb bei Eric hängen.

„Nimm den auch mit. Verdammt. Wo ist die Süße hin?“ Eva hatte es geschafft unbeobachtet zu verschwinden.

„Ich suche sie. Und du machst, dass wir hier weg kommen.“ Der Pilot sah wimmernd auf seine gebrochenen Finger und fing unbeholfen an die Tasten auf seiner Konsole zu drücken. Fünf Minuten später hob das Schiff ab.

Fehlte ihr einfach der Mut? Eva hätte doch einfach nur die Waffe zücken müssen. Ein paar selbstsichere Worte in Richtung dieses Mistkerls und Dina hätte vermutlich den Rest erledigt. Als sie sah, wie dieser Koloss spielend die Situation entschärfte, wurde ihr bewusst, dass dies die falsche Entscheidung gewesen wäre. Es war keine Feigheit, es war Kalkulation. Ihre Unsicherheit in Sachen Waffeneinsatz hätte den drei Gegnern die Sache vereinfacht. Also nutzte sie Dinas Spektakel um abzuhauen. Aber was jetzt? Sie kannte das Schiff nur im groben Umriss und selbst wenn sie Verstecke finden würde, es war nur eine Frage der Zeit bis sie sie aufspürten. Ihr Albtraum war nur aufgeschoben. Der Frage, ob sie es schaffen würde den Abzug erneut zu betätigen, musste sie sich stellen.

Während sie durch den Flur irrte, gingen ihr die verschiedensten Gedanken durch den Kopf. Neben der Suche für ein vernünftiges Versteck und der Sorge ihre Waffe nutzen zu müssen, hatte sie Angst um das Wohl der Hinterbliebenen. Die Endgültigkeit mit der Odin ihr Schicksal besiegelte, ließ nichts Gutes erwarten. Spinnen? Sie hatte nie was gehört von Todesspinnen, die in radioaktiv verseuchten Gegenden ihr Unwesen trieben. Die Sache klang nach billiger Panikmache. Sie mussten unbedingt zurück, um die beiden dort raus zu holen. Verdammt ihnen lief die Zeit davon. Dringendes Handeln war notwendig, bevor sie ersticken würden.

Die verzehrte Durchsage, die über den Bordfunk das ganze Schiff beschallte, begann zeitgleich mit dem Schließen der Tür zum Lagerraum. Sie wagte kein Licht anzumachen und so war die einzige Sinneswahrnehmung Odins Stimme, welche  in der Dunkelheit unheimlich klang.

„Hör zu Mädel. Ich glaube dir sollte klar sein, dass Versteck spielen hier wenig sinnvoll ist. Komm einfach raus und wir werden schon eine Lösung finden.“ Wie sollte die denn aussehen? Eva kam die Parallele zu Kain wieder in den Sinn. Auch damals sollte sie die Puppe sein, mit der Männer gerne spielen. Keine Chance. Sie nahm die Pistole in die Hand und stellte sich neben die Tür. Die Waffe war nicht ihr einziger Trumpf. Odin unterschätzte sie. Was sie jetzt brauchte war Stärke und Selbstbewusstsein. Das ging nur, wenn sie von sich selber überzeugt war. Sie riss sich zusammen und nutzte die Dosis Adrenalin, um Dinas Ratschlag konsequent umzusetzen. Die Bereitschaft zu töten, gab ihr den Mut, den sie brauchte. Unglaublich wie eine Extremsituation ihre Zweifel verstummen ließ. Das bisschen Freiheit, dass sie nach dem Verlassen von Lassik erkämpft hatte, wollte sie nicht so einfach aufgeben. Kein Lamm, was bereitwillig zur Schlachtbank trottete. Sie war bereit sich zu wehren.

Fünfzehn elendig lange Minuten stand sie neben der Tür. Warum dauerte das so lange? Keine Minute brauchte man von der Kommandobrücke bis hier her und der Lagerraum war die einzige Möglichkeit für ein Versteck. War Odin doch cleverer als angenommen und stellte ihr eine perfide Falle? Endlich tat sich was hinter der Tür. Da war nicht nur einer, soviel war klar. Die Sache würde kompliziert werden.

Durch die geöffnete Tür drang das Licht herein und plötzlich wurde Eva ihr Nachteil bewusst. Die Dunkelheit war ihr Joker und sollte Odin den Lichtschalter erreichen, wäre sie geblendet leichte Beute. So einfach wollte sie es ihnen nicht machen. Sie musste in die Offensive.

„Nicht weiter.“ kam es viel zu zittrig von ihr, als sie Odin die Pistole an den Kopf hielt.

„Schätzchen, wo hast du denn die Waffe her?“ fragte er unbeeindruckt. Selbst bewaffnet nahm er sie nicht als Gefahr war. Es war nun an Eva ihn vom Gegenteil zu überzeugen.

„Weißt du überhaupt, wie man damit umgeht?“ Odin selbstgefälliges Grinsen gab ihr die Kraft abzudrücken.

Sie hatte eigentlich auf den Fuß gezielt, aber die Koordination zwischen endgültigem Ziel und dem idealen Zeitpunkt passte nicht. Viel zu früh löste sich der Schuss und erwischte Odins Schienbein. Der erwartete Knall blieb aus. Kein Rückschlag. Nur ein leises flop. Sein Jaulen über den Schmerz, ließ sie einen Schritt zurückweichen, was Colt die Gelegenheit nahm, sie in gewohnter Manier zu packen. Das wimmernde Elend gab ihr nicht nur Genugtuung in dem was sie getan hatte, sondern verlieh ihr auch den notwendigen Biss die Sache zu Ende zu bringen. Soweit sie sehen konnte, waren beide unbewaffnet.

„Los nimm ihn.“ Diesmal klang sie selbstsicher. Colt war immer noch geschockt über das, was passiert war. Sie richtete die Waffe auf ihn.

„Du sollst ihn nehmen.“ wiederholte sie ihre Forderung und diesmal kam er dem nach. Er schulterte Odin und erwartete weitere Anweisungen.

„Wo sind die Gefangenen? Lass uns zu ihnen gehen.“ Eva folgte den beiden zu einer Tür. Auf dem Weg dorthin trafen sie ein weiteres Mannschaftsmitglied, was dem Gejammer von Odin nachgehen wollte. Überrascht über das, was er vor sich sah, konnte sie ihn mit ihrer Waffe gefügig machen. Sie waren nun in deutlicher Überzahl und Eva sah sich gezwungen schnell zu handeln, bevor sie die Zeit hätten irgendetwas gegen sie auszuhecken oder ihr der Mut ausging die Sache sauber zu beenden.

Sie schob die drei förmlich durch die Tür und machte das Licht an. Dina und Eric saßen mit Kabelbinder gefesselt an der Wand. Odin jammerte immer noch und Eva genoss den Gegensatz zu der überheblichen Art, mit der er sie bisher bedacht hatte. Das Püppchen hatte sich gewehrt und nun hatte er nicht nur ein kaputtes Bein, sondern auch ein gekränktes Ego.

„Du. Mach sie los.“ wies sie Thor an. Der zuckte sein Messer. Mit Schrecken registrierte sie seine Bewaffnung. Im Tempel wurden ihre Anweisungen nie hinterfragt und mit größter Sorgfalt ausgeführt. Eine Selbstverständlichkeit, die hier nicht anwendbar war. Sie musste sich zwingen konzentriert zu bleiben.

„Ganz vorsichtig. Keine Spielchen, dann kommen wir hier alle unbeschadet raus.“ Thors Blick fiel auf Odins verletztes Bein.

„Von jetzt an jedenfalls.“ sah sich Eva gezwungen nachzuschieben. Dina wurde zuerst erlöst. Sie nahm sich das Messer und schob ihren Befreier zur Seite.

„Gut gemacht und alle leben diesmal noch.“ sagte sie, nachdem sie Erics Fesseln durchschnitt. Dieser begann sofort sich in seiner typischen Art zu beschweren.

„Verdammt, diese blöden Kabelbinder haben mir die Haut aufgescheuert. Musste das so fest sein?“ fragte er Odin.

„War’s schlimm?“ fragte Eva Dina.

„Furchtbar. Warum habt ihr ihm nicht einen Mundknebel verpasst?“ Ihre Freiheit versetzte Dina in gute Laune. Sie fesselten die Mannschaft und ließen sie im Dunkeln zurück. Eva durchfloss ein unglaubliches Glücksgefühl. Das Schaf hatte dem Schäferhund gezeigt wo es lang ging. Es fühlte sich so wahnsinnig gut an und nun zeigte sie das erste Mal Verständnis für den Führer, der seiner Schafherde unbedingt seinen Stempel aufdrücken wollte. Andere zu beherrschen konnte süchtig machen und sie hatte nur einen kleinen Teil der Droge erfahren. Welchen Vollrausch musste es geben, wenn die Unterlegenen freiwillig, ohne Wissen und voller Freude das tun würden, was sie für angebracht hielte. Das Bild ihrer Mutter kam ihr in den Sinn, als Warnung dafür, dass sie die eigenen Grenzen ihrer Moral schon allein mit diesen Gedanken überschritt. Also lenkte sie ihre Freude auf angenehmere Rückblenden. Sie hatte die Situation gerettet und dass ohne jemanden zu töten. Ihren Daseinszweck in der Gruppe hatte sie bewiesen, aber die Mission war noch nicht beendet. Ihnen lief die Zeit davon. Sie mussten zurück auf den Planeten, bevor da unten die Luft knapp werden würde.

Der Pilot registrierte am Anfang nicht mal wer da die Brücke betrat. Er war es gewohnt, dass nur Mannschaftsmitglieder sich ungebeten hier aufhielten, dass er nicht mal in Erwägung zog, jemand Anderes könne die für ihn heilige Regel brechen. Die Frage, ob denn alle Gäste endlich dingfest gemacht wurden, blieb ihm im Halse stecken, als er sich Dina und der Waffe gegenüber sah. Mit diesen überzeugenden Argumenten war es ein Leichtes ihn zur Umkehr zu bewegen.

„Hören Sie. Es ist unnötig wieder da runter zu gehen. Selbst wenn eure Leute die Spinnen überlebt haben, die Sauerstoffvorräte sind längst weg, wenn wir da ankommen.“ sagte er schüchtern, in der Hoffnung nicht wieder da runter zu müssen. Auch wenn er Recht hatte, Dina ließ sich nicht von ihrem Vorhaben abbringen. Immerhin hatten die beiden einen Joker. Die Femtos würden die verlorene Zeit schon ausgleichen.

„Da ist noch was. Etwas, was Sie noch nicht wissen.“ gab der Pilot nicht auf, die Sinnlosigkeit ihres Unterfangens zu untermauern. Evas Angst um die Beiden verstärkte sich. Eine Viertelstunde hatten sie gebraucht, um ihr in den Lagerraum zu folgen. Fünfzehn Minuten, die das Schicksal der Beiden dort unten besiegelte. Was zum Teufel konnte in solch kurzer Zeit passieren?

 

Balta reagierte blitzschnell. Noch bevor dieses Mistvieh das tun konnte, was es tun wollte, spießte er es mit der Eisenstange auf. Er stach zweimal auf den verrottenden Torso ein, dann hatte er es erledigt. Wie ein Fischer, der mit einem Speer eine Krabbe erlegt hatte, begutachtete er seine Beute. Das, was da in Sentrys Lampenstrahl noch leicht zitterte, war das Widerlichste, was er je gesehen hatte. Acht Beine an einem Körper, der so groß war wie ein Rucksack. Schwarzes Blut tropfte aus der Stelle, an der Balta es erwischt hatte. Eine Wolkov-Spinne wurde er aufgeklärt. Nichts, was sich in seiner mentalen Bibliothek befand. Eine Unbekannte. Das Einzige, was er wusste, da wo die herkam, gab es noch mehr. Sie mussten hier schleunigst raus.

Ein kurzes „weg hier“ von Balta und schon hatten die beiden den Technikraum verlassen. Sentry hatte den Kommunikator übernommen und gab einen kurzen Statusbericht an das Schiff. Er war sich nicht sicher, ob die Nachricht durchkam. Es war zweitrangig. Priorität hatte das unversehrte Verlassen des Schiffes. Sie standen an der Luke zum Stützenraum. Balta griff den Kommunikator.

„Hallo. Jetzt ist die Verbindung wieder besser. Wir haben hier Wolkov-Spinnen.“ Er klang hektisch. Sentry schaute zurück in den dunkeln Gang. Nichts deutete auf weitere Spinnen hin. Er wollte sich gerade dem diskutierenden Balta zu wenden, als etwas kreischend von der Decke auf ihn zu gesprungen kam. Reflexartig schlug er mit der Eisenstange danach und traf die Spinne perfekt. Diese schlug krachend an der Seitenwand auf. Der Rückstoß ließ ihn gegen Balta stolpern. Dieser hatte Mühe nicht in den Zugang zum Stützenraum zu fallen und so entging er den Knochenbrüchen nur auf Kosten des Kommunikators. Scheppernd schlug dieser unten auf. Sentry sah drei weitere Spinnen an den Wänden und an der Decke auf ihn zu kommen. Angststarre ergriff ihn. Er war unfähig sich zu bewegen. Gegen drei von diesen Biestern hatte er keine Chance. Sie sprangen. Nicht auf ihn, sondern auf ihren verletzten Artgenossen drei Meter vor ihm.

„Los.“ holte ihn Balta aus der Starre und verschwand unter ihm. Jetzt war auch Sentry wieder hell wach. Begeleitet von dem Geräusch zerfetzenden Spinnenfleisches ging es abwärts. Er schloss die Luke hinter sich. Unten atmeten beide erstmal tief durch.

„Das war knapp.“ Sentry klang erleichtert.

„Wir haben es noch nicht gepackt.“ entmutigte ihn Balta und begab sich zur Leiter, die in den Hangar führte. Vorsichtig ging es weiter abwärts. Unten angekommen kippten sie die Leiter um, wie es schon einer ihrer Vorgänger gemacht hatte. Sie hatten keine Leichen auf den Weg hier her gefunden, also hatte dieser es vermutlich geschafft hier lebend raus zu kommen. Sentry fasste neuen Mut.

Klick klack, klick klack. Der Lampenstrahl ging nach oben zum Schiffsrumpf. Nichts war zu sehen, was beide aber nicht wirklich beruhigte.

„Lauf.“ schrie Balta, doch Sentry war schon längst unterwegs. Eilig folgte er der Spur aus Lichtstäben und jetzt machte sich das Handicap des unpassenden Raumanzuges bemerkbar. Als wäre er in einem Traum, in dem man vor dem schwarzen Monster davon lief, aber nicht wirklich von der Stelle kam. Nur hier war es kein Traum und die Monster waren real. Geschickt wich er dem Gerüll aus, dass in dem faden Licht immer wieder vor ihm auftauchte. Es war ein Wunder, dass er bei der Vielzahl an Schrott nicht stürzte. Erst kurz vor dem Ausgang erwischte es ihn und das auch nur, weil er mit dem Blick auf das Loch nach draußen übermütig wurde. Er wusste nicht was da vor ihm lag, aber er war sich sicher mit einem geschmeidigen Sprung das Hindernis locker passieren zu können. Das Gewicht des Anzuges belehrte ihn eines Besseren. Mit der Schuhspitze blieb er in der Schlaufe einer Tasche hängen. Neugierig was ihn da zu Fall brachte, vergaß er einen Moment die akute Gefahr. Mit der Taschenlampe beleuchtete er die Tasche. Sie konnte noch nicht lange hier liegen, zu gut war ihr Zustand. Sein Lichtstrahl suchte die nähere Umgebung ab. Weitere Leichenteile offenbarten sich ihm. Also hatte es der Leiterumwerfer nicht geschafft. Ein Geräusch aus der Dunkelheit ermahnte ihn weiter zu gehen. Er griff sich die Tasche und stürzte auf den Ausgang zu. Das Rascheln aus der dunklen Tiefe überlagerte sich. Wie viele von diesen Biestern waren da hinter ihm? Egal. Das rettende Schiff war in greifbarer Nähe.

Das rote Licht im Freien erleichterte ihn und gab ihm neuen Mut. Vor seinem geistigen Auge stand er bereits auf dem Schiff, drückte den Knopf, der die Luke hinter ihnen schließen würde und hakte diese Spinnenplage als weiteres unangenehmes Kapitel seines kurzen Lebens ab. Er sah Dina vor sich, schöner denn je und er würde einen weiteren dieser Küsse bekommen. Gemeinsam würden sie wieder ihre mittlerweile beschränkten Optionen durchgehen und eine Möglichkeit finden Yuma zu verlassen. Das alles trieb ihn voran und erst als er Balta vor sich fassungslos stehen sah, zerplatzte dieses Luftschloss. Sie waren allein. Kein rettendes Schiff. Sie wurden im Stich gelassen. Es war unglaublich wie schnell der Motivationspegel ins Minus drehte und der Panikpegel die Skala nach oben durchschlug. Jetzt war die Frage nicht mehr ob sie sterben würden, sondern wie.

Sentry starrte auf den Platz vor ihm, wo vor kurzem noch das Schiff stand. Wie konnten sie ohne sie starten? Klick klack, klick klack. Das Geräusch hallte jetzt nicht mehr metallisch. Sie näherten sich schnell über den Asphalt. Die Klicks und Klacks überlagerten sich und wurden zu einem wüsten Durcheinander. Wie viele waren das? Zehn? Hundert? Balta riss ihn fort.

„Los da rüber.“ brüllte er ihn an. Sentry wurde in Richtung eines der Wracks geschoben, die zahlreich rechts und links des Hauptweges dahin rosteten. Er war jetzt wieder voll da. Ersticken wäre immer noch die bessere Variante, als von diesen Biestern zerfleischt zu werden. Rücklings kroch er unter ihre Zuflucht und erblickte über sich den rettenden Zugang ins Innere. Mit dem Anzug war es nicht ganz einfach hindurch zu kommen. Trotz der drohenden Gefahr mahnte er sich zur Ruhe und erreichte sein Ziel relativ zügig. Er fand sich im Inneren eines gepanzerten Fahrzeuges wieder. Es gab keinerlei Sicht nach außen, so dass er nicht wusste, was da draußen vor sich ging. Mühsam half er Balta ins Innere. Neben der Luke im Boden, gab es noch zwei weitere Luken über die man nach oben hinaus kam. Beide waren so verrostet, dass sie sich nicht öffnen ließen. Das war auch nicht ihr Ziel. Sie wollten ihren Sarg verriegeln. Das geringere Übel in Sachen Tod wählen. Gemeinsam versuchten sie die Klappe anzuheben, um ihren letzten Zugang zu schließen. Da passierte es. Das Klick, klack hätte sie eigentlich vorwarnen müssen, aber sie unterschätzten die Zeit, die sie benötigten, um die schwere Klappe anzuheben. Baltas linker Arm war das Ziel. Der Angriff klappte nicht optimal, zu eng war es dort unten, als dass die Spinne ihr volles Angriffspotential entfalten konnte. Sie erwischte nur einen Teil des Schutzanzuges, aber als Sentry das Blut fließen sah, wusste er, dass dieses Mistvieh wenigstens teilweise Erfolg hatte. Balta ließ trotz der Verletzung nicht los und gemeinsam schafften sie es die Luke zu schließen, bevor ein zweiter Angriff gestartet werden konnte.

„Verdammt. Wir müssen den Anzug versiegeln.“ fluchte Balta.

„Was ist mit der Wunde?“ fragte Sentry besorgt.

„Muss ich dir das wirklich erklären. Das größere Problem wird das Gift.“ Balta wirkte an Hand dieser Erkenntnis noch relativ gelassen.

„Die Dinger sind giftig?“ Sentry konzentrierte sich mit dem Reparaturgel nicht in die offene Wunde zu kommen.

„Unglücklicherweise und ich weiß nicht, ob die Technik in mir damit klar kommt. Selbst wenn, wird der Energiebedarf enorm sein.“ Er schaute in Sentrys besorgtes Gesicht.

„Offenbar will Gevatter Tod auf Nummer sicher gehen. Neben Ersticken gibt’s nun auch Vergiften oder Verhungern.“ Er flüchtete sich in Galgenhumor.

„Bevor ich das große Zittern starte, muss ich dir noch was sagen, für den Fall das wenigstens du hier lebend raus kommst. Die Galaxie dort draußen wirkt chaotisch, das ist sie aber nicht. In Wirklichkeit gibt es Mächte, die im Hintergrund die Fäden ziehen. Es geht nicht um Ressourcen oder um Technologie. Es geht um das Überleben der Menschheit. Ich vermute mal, dass du in die Maschinerie dieser Machtspielchen rein geraten bist. Ich habe keinen Schimmer, was sie mit dir vorhaben, aber offenbar halten sie dich für wichtig genug, dich nicht zu töten. Wenn du das hier überlebst, wirst du irgendwann eine Entscheidung fällen müssen. Cree oder die Science? Ich …“ Balta zuckte zusammen.

„Es geht los.“ presste er unter Schmerzen hervor. Sentry fühlte sich hilflos. Es gab nichts was er für ihn tun konnte. Balta wand sich noch ein paar Minuten vor Schmerzen, dann wurde er ohnmächtig. Den Kampf gegen das Gift musste er alleine führen.

Es war unheimlich still. Nur ein gelegentliches klick klack, als Bestätigung dafür, dass die Spinnen gewillt waren die Sache auszusitzen. Vierzig Minuten zeigte der Sauerstofftank an, dann ist auch er Geschichte. Was immer auch diese ominösen Mächte mit ihm vorhaben mögen, die Umsetzung ihrer Pläne würde mit ihm sterben. Er hatte Zweifel, dass ihm die Femtos diesmal helfen würden. Dem Spielball der Mächtigen würde buchstäblich die Luft ausgehen. Aber da waren ja noch mehr. Sechzehn weitere, die in ihren Särgen schlummerten und irgendwann ähnliche Ereignisse, wie seine erleben würden. Hoffentlich mit besserem Ausgang. Sind sie alle bloß Zeitvertreib für eine gelangweilte Elite die Wetten abschlossen, wie lange jeder Einzelne in dieser Welt überleben würde? Diese Art von Daseinsberechtigung wäre der absolute Supergau. Da musste einfach mehr dahinter stecken. Die paar Häppchen an Informationen, die er von Zaja und jetzt auch von Balta vorgeworfen bekam, ergaben kein klares Bild. Die Wichtigkeit seiner Person war ihm auf Grund der Technologie, die in seinen Adern schwamm, schon vorher klar gewesen. Kein Tempel oder Inc. Das alles schien eine Spur größer zu sein. Welten übergreifend. Aber zu welchem Zweck?   

Dem drohenden Ende nahe, blieb Sentry relativ ruhig. Er zwang sich nicht auf die Sauerstoffanzeige des Anzuges zu schauen. Die Situation würde sich da durch nur zu seinen Ungunsten ändern. Seine letzten Minuten wollte er nicht in Panik verbringen. Er lenkte sich ab, indem er den Inhalt der geborgenen Tasche inspizierte. Plündergut. Er erkannte eins der Teile als genau das, was sie suchten. Sollte es einen Gott geben, hat dieser einen ungewöhnlichen Sinn für Humor. Er blickte rüber zu Balta. Obwohl er keine Möglichkeit hatte seinen Gesundheitszustand zu überprüfen, war er sicher, dass dieser noch am Leben war. Sie würden wohl das gleiche Schicksal des Erstickens teilen. Kurz überlegte er, ob es vielleicht doch besser wäre schreiend in den Spinnenhaufen zu rennen, aber das Bild der aufgespießten Spinne ließ ihn diese Option schnell wieder verwerfen. Sein Anzug piepte. Ein untrügliches Zeichen, dass die letzten Minuten angebrochen waren. Nun ergriff ihn doch Panik. Klaustrophobische Panik. Er hatte den Drang den Anzug auszuziehen und tief Luft zu holen. Vielleicht war das sogar die bessere Alternative. Ein einziger giftiger Atemzug und alles wäre vorbei.

Draußen kam auf einmal Leben in die Spinnen. Das gelegentliche klick klack ging in undefinierbares Gewusel über. Irgendetwas hatte sie aufgeschreckt. Es dauerte noch einen Moment, dann hörte es Sentry. Das waren eindeutig Landedüsen. Dort landete ein Schiff. Sie waren zurück. Er schaute auf seine Anzeige. Sechs Minuten. Das dämpfte die einsetzende Euphorie. Das würde verdammt knapp werden. Selbst wenn Dina sofort bemerken würde, wo sie sich verkrochen haben, müsste sie sich erst durch die Spinnen kämpfen. Wham. Krachend setzte das Schiff auf. Fünf Minuten. Konnte er was tun? Er hämmerte gegen die metallische Außenwand. Keine Chance. Er hörte wieder diesen schrillen Ton, mit dem die Spinnen ihre Angriffe starteten. Vier Minuten. Wie lange kann man ohne Luft überleben? Ein bis zwei Minuten? Der Tonfall des Kreischens änderte sich. Es war jetzt eindeutig mehr Panik unter den Spinnen. Ihnen ging es wohl an den Kragen. Gut so. Drei Minuten. Sollte er raus? Dina entgegen gehen und sich eine frische Portion Sauerstoff abholen? Er hörte ein Rauschen durch das wilde Gekreische hindurch. Flammenwerfer. Die Biester wurden gegrillt. Zwei Minuten. Es würde nicht reichen. Die Zeit war zu knapp. Wie genau messen die Dinger eigentlich? Die Panik kroch jetzt in die letzten Winkel seines Körpers. Er hämmerte wieder an die Außenwand. 

„Hier drinnen.“ brüllte er. Eine Minute. Das Gekreische wurde weniger. Die Spinnen verlieren. Nicht mehr lange und er würde Dina gegenüber stehen und gemeinsam würden sie in den Sonnenuntergang reiten. Die drohende Ohnmacht vernebelte seinen Geist. Unter Anstrengungen kratzte er sein letztes bisschen Verstand zusammen. Der Sauerstoffmangel macht sich bereits bemerkbar und gaukelte ihm die Sonnenuntergangsfantasie vor. Er kroch rüber zu Balta. Acht Minuten standen auf seiner Anzeige. Hah. Vier weitere Minuten für ihn. Das könnte was werden. Zittrig schloss er sich an den Sauerstofftank an und nahm einen tiefen Zug. Von den Spinnen war nichts mehr zu hören. Er lauschte in die Stille. Noch einmal schlug er gegen die Außenwand. Er hörte Stampfen. Da draußen war jemand, der einen ähnlich schweren Anzug trug wie er. Einen kurzen Moment später hörte er, wie sich dieser jemand an eine der oberen Luken zu schaffen machte. Das war der falsche Eingang.

„Ihr müsst durch die untere Luke.“ krächzte er. Hoffentlich wurde das gehört. Die Geräusche verstummten und das Stampfen entfernte sich wieder. Er musste Dina entgegen, aber sein Handlungsspielraum war begrenzt. Gebunden an Baltas Sauerstoff, musste er diesen mit sich ziehen. Die Verzögerung rettete ihm paradoxerweise das Leben. Er zog Balta rüber zum Ausgang, öffnete die Luke und in diesem Moment sah er den Feuerstrahl unter sich. Einen Augenblick eher und er wäre unweigerlich gegrillt worden.

Sich versichernd nicht endgültig als Toast zu enden, wartete er kurz und riskierte einen Blick in die Tiefe. Selbst in dem fahlen Licht konnte er erkennen, dass jemand auf dem Weg zu ihnen war. Da kroch jemand auf sie zu. Er entspannte sich und selbst der Dauerton an Baltas Anzug, welcher hartnäckig die Leere ihres Tankes verkündete, schockierte ihn nicht. Gleich würde es Nachschub geben. Jede Menge belebender Sauerstoff.

Das nächste, an was er sich erinnerte, war diese unglaublich belebende Luft. Eine Selbstverständlichkeit wie atmen, lernte man mehr zu schätzen, wenn es einem einmal genommen wurde. In Zukunft würde er jeden einzelnen Atemzug genießen, als wäre es sein letzter. Er grinste in sich hinein. Wieder war er dem Tod von der Schippe gesprungen. Er ließ seiner Arroganz freien Lauf, immerhin fühlte er sich, als wäre er unsterblich. Was hat er schon alles durchgemacht? Yuma Prime mit der vergifteten Atmosphäre und seinen noch giftigeren Spinnen konnte ihm genauso wenig etwas anhaben, wie Kain & Co. Er drehte sich zu seinem Retter und überlegte sich schon die passende Dankesrede, als er merkte, dass sich auf keinen Fall Dina dort drüben um Balta kümmerte. Wer immer dort auch war, es war niemand weibliches. Er bezweifelte das Eric allein den Weg hier runter nehmen würde und Odin würde keinen seiner Männer mit einer Rettungsmission beauftragen. Also wer zum Teufel hatte ihn gerettet?

„Hey.“ krächzte er in den Rücken des Unbekannten. Dieser drehte sich um und nun erkannte Sentry das Gesicht. Er hatte es zu letzt auf der „verruchten Braut“ gesehen. Es war Igor.

„Gut du lebst noch. Erspart mir eine Menge Ärger.“ Er wandte sich wieder Balta zu. Sentrys Arroganz war wie weggeblasen. Die Spinnenhölle, die er gerade überlebt hatte, würde nahtlos übergehen in die ihm bekannte Red-Hölle.

„Igor, sag an. Was ist los da unten?“ kam es aus dem Kommunikator. Obwohl die Stimme verzerrt war, konnte Sentry eindeutig ihren Besitzer zuordnen. Red. Wie zum Teufel hatte er ihn gefunden?

„Also unser Goldesel ist wohl auf. Er ist aber nicht allein hier unten.“ antwortete Igor.

„Ist die blonde Schlampe bei ihm?“ fragte Red.

„Kein blond. Nicht mal eine Schlampe.“

„Schade. Wäre lustig geworden. Lass ihn liegen. Wir brauchen nur den Superhelden.“ besiegelte Red Baltas Todesurteil.

„Alles klar.“ beendete Igor das Gespräch.

„Los komm. Diese Spinnenviecher werden sicher irgendwann zurückkommen.“ Igor packte Sentry am Anzug und wollte ihn Richtung Ausgang schleifen.

„Wir können ihn nicht zurücklassen.“ protestierte Sentry.

„Können wir.“ erwiderte Igor eiskalt und zog ihn weiter zur Luke. Sentry musste sich schnell was einfallen lassen. Da kam ihm die zündende Idee.

„Könnt ihr nicht. Ihr wollt mich zur Science bringen nicht wahr. Er ist ein Vertrauter der Science. Wie würden die wohl reagieren, wenn sie erfahren, dass ihr ihn einfach zurückgelassen habt.“ Sentry war siegessicher, doch Igor reagierte nicht auf seine Drohung.

„Wer sollte es ihnen wohl erzählen.“ gab dieser gelangweilt zurück.

„Vielleicht rutscht es mir ja aus Versehen raus.“ Sentry war trotzig. Igor ließ ihn los und kramte den Kommunikator hervor. Er erklärte Red die Situation.

„Verdammt. Dann bring ihn mit. Wir entscheiden an Bord über ihn.“ antworte Red genervt.

„Na gut. Ich werde ihn nicht da raus schleppen.“ wandte sich Igor an Sentry. Dieser zog Balta Richtung Ausgang. Es war verwunderlich, wie leicht der Körper mittlerweile war. Ein Zeichen dafür, dass wahnsinnig viel Energie verbrannt wurde. Lebte er überhaupt noch? Wenn ja war sein Überleben abhängig von der nächsten Zufuhr an Kalorien. Er musste sich beeilen.

Sentry kroch voraus. Als er unter dem Panzerwagen hervor kam, sah er eine Unzahl an gegrillten Spinnen. Mindestens zwei Dutzend lagen im gespenstischen Rot des Sonnenlichtes. Balta und er wären nichts weiter als Appetitanreger gewesen. Wie können die Biester auf einem toten Planeten wie diesem überleben? Er sah eine Bewegung etwa zwanzig Meter neben ihm. Eine Überlebende. Panisch sah er sich nach dem Flammenwerfer um. Erst jetzt merkte er, dass sich die Spinne an einen der Kadaver zu schaffen machte. So überleben sie also, indem sie sich selber fressen. Das Grillgut würde weitere Spinnen anlocken. Igor hatte Recht. Sie mussten sich beeilen.

Die Spinne nicht aus den Augen lassend, zog er Balta unter dem Fahrzeug hervor und schulterte ihn. Kurz darauf erschien Igor, schnappte sich den Flammenwerfer und fabrizierte einen weiteren Spinnentoast.

„Los darüber.“ blaffte er Sentry an. Erst jetzt fiel diesem die schmale Luke am Rumpf auf. Das Schiff war viel kleiner, als er sich es in seiner Fantasie ausgemalt hatte. Wochenlang war der Blechhaufen vor ihm sein Gefängnis gewesen. Als er den erbärmlichen Zustand begutachtete, verlor es seinen Schrecken. Ein Quader auf vier Stelzen, dessen oberer Teil abgerundet war. Zahlreiche Beulen in der Außenwand deuteten entweder auf Konflikte hin oder der Pilot hatte seine Probleme beim Landen in engen Parklücken. Teile die eindeutig nicht zum Original Schiffstyp gehörten, kaschierten Risse in der Hülle. Die Vorstellung diesen Seelenverkäufer sein Zuhause zu nennen, ließ ein wenig Mitleid mit Red und den Seinen aufkommen.

Sie passierten die Luke und befanden sich in einem Raum, nicht größer als ein Kleiderschrank. Igor verriegelte alles hinter ihnen und begann mit der Dekontamination. Zehn Minuten lang wurden sie mit Pulvern und Strahlen beschossen, bis eine mechanische Stimme ihnen versicherte, dass nun keine Gefahr mehr bestand. Balta brauchte dringend Energie.

„Wir brauchen unbedingt Kalorien.“ Sentry verzichtete auf jegliche Begrüßungsfloskeln, als er Red erblickte, der im Inneren des Schiffes bereits auf sie wartete.

„Dir auch ein schönen guten Tag.“ antwortete Red gut gelaunt und hielt ihm wie selbstverständlich eine Flasche mit orangenem Inhalt hin. Sentry wusste, dass würde nicht reichen.

„Ich brauche mehr. Das rote Zeug.“ forderte er. Red ließ einen leisen Pfiff durch seine Zahnreste gleiten.

„Noch ein Superheld. Ihr zieht euch wohl magisch an.“ schlussfolgerte er aus dem erhöhten Kalorienverbrauch. Er wies Olof an weiteren Nachschub zu bringen.

„Ein Vertrauter der Science und das mit Femtos. Interessant.“ Red nahm Balta den Helm ab und begutachtete ihn. Das abgemagerte Gesicht verriet den Kampf zwischen Leben und Tod.

„Bring ihn in den Untersuchungstraum. Ich will wissen, wie viel Technologie in ihm steckt. Aber vorher verschwinden wir hier.“ wies er Igor an. Er grinste Sentry an.

„Und wir beide haben uns so Einiges zu erzählen.“ Sie gingen den Gang entlang, der als einer seiner ersten bewussten Erinnerungen abgespeichert wurde. Wie lange war es her, als Igor und Olof ihn zu dem Raum am Ende des Flurs geschleift hatten? Wochen? Monate? Das Fehlen von regelmäßigen Tag- und Nachtrhythmen machte es schwer ein genaues Zeitgefühl zu bekommen.

Reds Privatraum hatte sich nicht verändert. Die Einrichtung und der Plunder schienen wie fest geklebt auf ihren Plätzen. Anhand des hygienischen Zustandes des ganzen Schiffes war das Kleben wohl wörtlich zu nehmen. Den Eindruck, den er vom Äußeren des Schiffes bekommen hatte, ließ sich ohne weiteres auf die Inneneinrichtung übertragen. Alles wirkte schäbig und wenig gepflegt. Damals hatte er andere Sorgen, aber mit seinem gesteigerten Selbstbewusstsein blieb ihm mehr Zeit für Details. Ein Selbstbewusstsein, was er bereit war zu zeigen.

„Willkommen zurück.“ wieder hielt ihm Red die Hand hin und wieder ignorierte Sentry sie.

„Hey, ein bisschen mehr Höflichkeit wäre angebracht. Immerhin habe ich dir erneut den Arsch gerettet.“ begann Red das unausweichliche Gespräch.  

„Welch selbstlose Tat.“ konterte Sentry sofort.

„Der Schisser hat mir deutlich besser gefallen, aber Menschen ändern sich mit der Zeit. Kommen wir zur Sache. Es wird Zeit, dass du dich revanchierst.“ Red wartete einen Moment ehe er fortfuhr.

„Ich kann dich wieder in die Zelle stecken und mit Gewalt zur Science schleppen, aber das wäre für beide äußerst umständlich. Also. Warum tust du mir nicht den Gefallen und kommst freiwillig mit zur Science. Wir holen die Technologie aus dir raus, ich sag dir wo du deine Amigos findest und jeder geht wieder seiner Wege.“

„Was ist mit Balta?“ fragte Sentry.

„Von mir aus ist er Teil des Geschäfts. Wir peppeln ihn wieder hoch und anschließend könnt ihr in die Flitterwochen. Also was sagst du?“ Blitzschnell ging Sentry seine Optionen durch. Die Science war ein mögliches Ziel gewesen und hier hatte er die Möglichkeit kostengünstig hin zu gelangen. Er würde vermutlich alles über die verbliebenen Femtos erfahren. Mehr noch, sie könnten ihm helfen die Dinger los zu werden, wenn er das möchte. Außerdem hatte er Balta dabei und alles was dieser bisher erzählt hatte, schien die Science ein verlässlicher Handelspartner zu sein. Allerdings hatte Zaja ihn gewarnt und wenn die Science sich auf Leute wie Red einlässt, scheint Baltas Optimismus vielleicht sogar etwas übertrieben. Red ist nicht zu trauen. Außerdem könnte er Dina nie wieder unter die Augen treten. Sich mit dem Erzfeind einzulassen, könnte bei ihr bis in den Tod führen. Er würde sie verraten, aber würde sie für ihre Rache nicht dasselbe tun? Vermutlich. Er hatte sich entschieden und es fiel ihm nicht leicht, aber es ging nicht anders.

„Ich …“ Er wurde unterbrochen von einem grellen Alarmton.

„Was zur Hölle ist los?“ Red war ungehalten, denn die Unterbrechung kam im denkbar schlechtesten Augenblick.

„Wir werden verfolgt. Das Bergungsschiff ist wieder da.“ hörte er Igor aus dem Bordfunk. Sentry grinste. Die Karten wurden gerade neu gemischt.

 

 

XV

„Jeder Mensch macht Fehler. Das Kunststück liegt darin, sie zu machen, wenn keiner zuschaut.“

Sir Peter Ustinov

 

„Komm mit, das könnte interessant werden.“ forderte Red ihn auf zu folgen. Gemeinsam betraten sie die Kommandobrücke, die sich zu Sentrys Überraschung nicht viel von der auf Odins Schiff unterschied. Red lümmelte sich mit einem siegesgewissen Lächeln in seinen Sitz. Olof saß in einer der Ecken an einer der Konsolen und schaute zu Sentry rüber. Er wirkte abgemagert und sein Blick hatte überhaupt nichts Arrogantes oder Aggressives mehr. Nach Lisas Tod war er mit Sicherheit ein Opfer von Reds sadistischer Veranlagung geworden und die hatte nachhaltige Spuren bei ihm hinterlassen. Wie ein verängstigter Kampfhund, dem der Wille zum Töten genommen wurde, kauerte er in seinem Sitz. Maximal zwei Sekunden, dann wich er Sentrys Blick aus.

„Lass mal hören, was er will.“ forderte Red Igor auf eine Verbindung herzustellen. Es knackte kurz und dann hörten sie trotz der metallischen Verzehrung, dass jemand weibliches am anderen Ende zu sprechen begann.

Red du verdammter Schweinehund. Hör auf vor mir davon zu rennen und stell dich.“ identifizierte Sentry Dinas Stimme.

„Hasst du das auch, wenn eine Ex dich einfach nicht in Ruhe lassen will.“ Red grinste Sentry an.

„Schätzchen, ich weiß wir hatten viel Spaß, aber irgendwann musst du lernen ohne mich klar zu kommen.“ sprach er vergnügt in den Kommunikator. Sentry widerte dieser Typ nur an. Wie konnte er nur einen Moment in Erwägung ziehen auf Reds Angebot einzugehen?

„Ich arbeite daran. Am besten klappt das, indem ich dir eine Kugel zwischen die Augen jage.“ kam es im typischen Stil zurück.

„Bezaubernd wie eh und je. Hör zu. Du hast nichts, was mich irgendwie interessieren würde, also würde ich vorschlagen, dass du einfach abziehst.“ Damit hielt Red das Gespräch für beendet.

„Keine Chance.“ ließ sich Dina das letzte Wort nicht nehmen und beendete ihrerseits die Kommunikation.

„Habe ich auch nicht erwartet.“ grummelte Red vor sich hin.

„Das Schiff hat Kurs auf uns genommen. Die wollen uns rammen.“ Olof klang panisch.

„Dann bring uns weg hier du Idiot.“ Olofs panischer Ton gefiel ihm nicht.

„Keine Chance, die sind schneller.“

„Die Rostlaube?“ Red schüttelte ungläubig den Kopf. Sentry, der das Privileg hatte beide Schiffe von außen zu begutachten, verstand Reds Vertrauen in sein Schiff nicht. Odins Schiff machte den weitaus besseren Eindruck.

„Dann mach eine der Violent 1 klar. Für dich mein Schatz ist mir doch nix zu teuer.“ Igor schaute ihn ungläubig an.

„Mit geschicktem Manöver könnten wir dem locker ausweichen.“ wagte er seine Zweifel gegenüber Reds Anweisung zu äußern.

„Und wie lange willst du das Spielchen spielen? Bis einem der Sprit oder die Lust ausgeht? Außerdem will ich die mir ein für alle Mal vom Hals schaffen. Wenn das mit unserem Goldesel klappt, können wir uns tausend neue Violent besorgen. Die ganz großen.“ Reds Augen leuchteten im Ausblick auf den bevorstehenden Reichtum.

„Alles klar. Rakete ist scharf.“ kam es von Igor.

„Na dann los. Und schalte die Kamera ein. Will mir das nicht entgehen lassen.“ Red starrte gespannt auf den Monitor.

Erst jetzt begriff Sentry, was mit Violent 1 gemeint war. Sie hatten vor seine Freunde in die Luft zu sprengen. Er musste das verhindern.

„Halt. Nicht. Ich tue alles was du willst, aber feuere diese Rakete nicht ab.“ Sentry klang flehendlicher, als ihm lieb war.

„Schön, dass du doch noch mitspielst, aber es ist zu spät. Das Ding ist unterwegs.“ Er wandte sich wieder dem Monitor zu. Nun starrte Sentry ebenfalls drauf. Die Bildschirmauflösung war schlecht. Zuerst erkannte er nichts, aber dann machte er ein Objekt aus, was linkseitig von der Sonne angestrahlt wurde. Der rechte Teil des Schiffes lag im Dunkeln. Von der Rakete war nichts zu sehen.

„Da kommt sie.“ Red wirkte wie ein Kleinkind, welches in seinem Versteck darauf wartete, dass der Nachbar auf die brennende Tüte treten würde. Sentry erkannte nichts. Erst nachdem Red den Bildausschnitt vergrößerte, konnte er ein bewegtes Objekt ausmachen.

„Drei, zwei, eins…. Kawhumm.“ frohlockte Red. Auf dem Bildschirm passierte nichts. Die Rakete war verschwunden.

„Ging daneben.“ korrigierte Igor ihn. Sentry war erleichtert. Er hoffte, dass sie keine zweite Rakete verschwenden würden, um einen erneuten Angriff zu starten.

„Oh. Na ja. Sie können ihr nicht ewig ausweichen.“ Red wirkte alles andere als verärgert. Die Rakete war immer noch scharf und nahm erneut Kurs auf Odins Schiff.

„Apropos ausweichen. Die kommen immer näher.“ warf Olof ein. Red starrte auf den Navigationscomputer.

„Gut. Zwei Grad Backbord. Das sollte fürs erste reichen.“ Er wandte sich wieder dem spannenderem Geschehen zu. Die Rakete näherte sich jetzt von hinten. Diesmal traf sie.

„Bye bye meine Süße.“ Er winkte dem Monitor zu. Nein, das durfte nicht sein. Sentry hatte das Gefühl sich übergeben zu müssen. Dina, Eva selbst Eric. Die Stützpfeiler seiner fragilen Existenz. Mit einem Schlag ausradiert. Ihm blieb keine Zeit das Erlebte zu verdauen.

„Scheiße. Ausweichen, sofort ausweichen.“ brüllte Igor. Zu spät. Der Aufschlag war ohrenbetäubend. Irgendetwas hatte das Schiff getroffen und schleuderte alle Anwesenden quer durch die Kommandobrücke. Sentry schlug hart gegen die Wand. Er bekam noch mit, wie Blut in sein linkes Auge lief, dann wurde er ohnmächtig.

Vermutlich war er nicht lange weg. Erneut verrichteten die Femtos ihre programmierte Arbeit und wie nach seinem ersten Erwachen auf diesem Schiff, fühlte er sich orientierungslos. Keine verwirrenden Drogen diesmal, nur Schwerelosigkeit, die ihn an der Decke der Kommandobrücke schweben ließ. Was immer auch passiert war, die künstliche Schwerkraft existierte nicht mehr. Ein schwaches gelbes Licht untermalte die Notsituation. Also lief die Energieversorgung auf Notbetrieb. Soviel konnte er sich zusammenreimen. Das würde im Umkehrschluss bedeuten, dass der Technikraum keine Energie mehr lieferte, weder für die Schwerkraft, noch für die Beleuchtung.

Nicht bewegen. Er wusste nicht viel über Nullschwerkraft, aber eins war klar, eine falsche Bewegung und er würde wie ein Gummiball durch die Gegend springen. Vorsichtig schaute er sich um. Olof war so clever und hatte sich festgeschnallt. Ohne Regung saß er in seinem Sitz. Igor schwebte diagonal gegenüber. Die Blessuren in seinem Gesicht deuteten darauf hin, dass er schon mit einigen Ecken im Raum auf Tuchfühlung war. Zu allem Überfluss hatte er sich auf Grund mangelnder Orientierung übergeben. Auf einmal war unten genauso wie oben. Das überforderte sein Verdauungssystem. Die Kotzeteilchen schwirrten wie kleine Planeten um ihn rum. Angewidert schaute Sentry zu Red rüber. Dieser schwebte einfach im Nirgendwo, unfähig sich an irgendetwas abzustoßen. Wie hatte er denn das hinbekommen? In der Luft zappelnd, brüllte er Igor an. 

„Igor. Komm hier rüber. Du musst mir helfen.“ Der kämpfte immer noch mit seinem Magen.

„Los mach schon. Stoß mich an.“ wiederholte Red seine Forderung. Igor stieß sich ab, verfehlte aber sein Ziel um Einiges. Zu seinem Unglück steckte er viel zu viel Energie in die Aktion, so dass er krachend neben Sentry mit dem Kopf voran gegen die Wand donnerte. Das kostete ihm sein Bewusstsein.

„Verdammter Idiot.“ fluchte Red. Er wandte sich an Sentry.

„Wärest du so lieb und gibt’s mir einen Stoß?“ fragte er ihn ohne falsche Scheu.

Sentry ignorierte ihn und lotete seine eigenen Möglichkeiten aus. Mit ein bisschen Geschick könnte er sich bis zur Ausgangstür hangeln. Was dann? Er musste unbedingt zu Balta. Sein Magen knurrte. Ein Zeichen dafür, dass seine Femtos ordentlich hatten arbeiten müssen. Viele Blessuren konnte er sich nicht mehr leisten.

Er entschied sich für den direkten Weg. Unmöglich war es an der glatten Wand bis zur Ausgangstür zu kommen. Zu groß die Gefahr, dass er wie Red irgendwo im Nichts hängen blieb. Also einmal abstoßen und hoffen, dass die Richtung passte. Er schaute rüber zu Igor. Der hatte nicht nur die Absprungkraft unterschätzt, sondern auch die Rotation seines eigenen Körpers. Das Ergebnis dieser Fehleinschätzung schwebte nun blutend vor ihm.

Er wollte gerade loslegen, als er von dem Kommunikator unterbrochen wurde.

„Hier spricht die Yuma-Polizei. Sie haben widerrechtlich Kampfhandlungen in dem System durchgeführt. Damit haben Sie gegen geltende Gesetzte verstoßen. Sie sind hiermit vorläufig festgenommen.“

„Dann kommt und holt uns ihr Scheißkerle.“ brüllte Red in Richtung des Kommunikators. Ohne aber die entsprechende Freisprechtaste zu drücken, blieb sein Wunsch innerhalb dieses Raumes.

Sentry drückte sich ab. Die Kraft, mit der er das tat stimmte, allerdings erging es ihm wie Igor und er erreichte nicht mal annähernd die Richtung in die er wollte. Glücklicherweise landete er mit den Füßen voraus an der Wand und stieß sich erneut ab. Wie eine über Bande gespielte Billardkugel, schwebte er genau auf die Ausgangstür zu. Die Klinke diente als Stopper und bescherte ihm eine schmerzhafte Rippenprellung. 

Er hangelte sich raus auf den Flur. Ihm wurde leicht übel, da er mit dem Kopf nach unten praktisch an der Decke klebte. Schon komisch, wie sein Gehirn die neue Situation verarbeitete. Er überlegte, ob er sich den Luxus gönnte alles wieder in die richtige Perspektive zu bringen, aber es war leichter an den Deckenbeleuchtungen voran zu kommen, als auf dem normalen Weg, der weniger Möglichkeiten zum abstoßen hatte.

Es dauerte nicht lange und er kam besser mit den neuen Bedingungen klar. Nur nicht übertreiben. Für einen normalen Fußweg von dreißig Sekunden brauchte er ungefähr fünf Minuten in der Schwerelosigkeit. Es war unheimlich anstrengend jede noch so kleine Bewegung mit einer zusätzlichen Gegenbewegung auszugleichen. Hinter ihm hörte er Red fluchen und schreien.

Endlich angekommen vor der Tür, hinter der er Balta vermutete, war er froh, dass sie von außen ohne Schlüssel oder Zugangscode zu öffnen war. Seine Türöffner hätten vermutlich kein Problem damit, aber er wollte Red keinen Hinweis auf seine Qualitäten geben.

Er hangelte sich rein und sah Balta auf einer Liege angeschnallt an der Decke. Verdammte Nullschwerkraft. Nicht Balta war oben sondern er. Er hielt sich an der Deckenbeleuchtung fest und drehte die Beine Richtung Balta. Bewegung, Gegenbewegung, Bewegung, Gegenbewegung. Als ob man ein Pendel ausrichten würde, was ständig überschlug. Als er es passend hatte, stieß er sich vorsichtig ab und landete mit den Füßen zu erst neben der Liege.

Balta sah schon deutlich besser aus. Ob er immer noch mit dem Gift kämpfte war schwer zu beurteilen. Sentry schaute sich um und sah einige Kaloriendrinks in Schwebereichweite. Ein Kinderspiel dort ranzukommen und wieder zurück zur Liege zu gelangen, aber unmöglich in Baltas Zustand ihm die hilfreiche Energie einzuflößen.

„Balta, ich brauche deine Hilfe. Wach auf.“ Sentry schüttelte ihn und musste aufpassen nicht abzurutschen und durch die Bewegung weg zu schweben. Zehn Minuten später hatte er ihn soweit, dass er fähig war die Flüssigkeit aufzunehmen. Er öffnete eine Flasche und versuchte sie an Baltas Mund zu führen. Wie eine Blase entwich ein Teil der Flüssigkeit und landete in Baltas Nase. Sentry fluchte.

„Komm schon. Ich brauch mehr Zusammenarbeit.“ Sentry hob Baltas Kopf und hielt ihm die Flasche erneut an den Mund.

„Saugen, wie an der Mutterbrust. Komm schon.“ Balta wurde zwar immer munterer, aber dafür reichte es noch nicht.

Sentry lauschte in die Stille. Weder Maschinen noch Reds Gezetere waren zu hören. Kein gutes Zeichen. Einzig und allein das Brummen des Notfallgenerators war vernehmbar. Wie lange würde die Luft reichen. War der CO2-Umwandler an die Notstromversorgung angeschlossen? Sie mussten runter vom Schiff, hin zur Polizei, die da draußen wartete, um sie zu verhaften. Aber wie?

Baltas Bewusstseinszustand besserte sich zunehmend. Es hatte den Anschein als wüsste er, dass es für eine Ohnmacht kein geeigneter Zeitpunkt war. Gemeinsam versuchten sie erneut ihm Kalorien einzuflößen. Unter Husten leerte er diesmal die halbe Flasche.

„Wir müssen dringend runter vom Schiff.“ sprach ihn Sentry an.

„Müssen wir wohl. Danke dass du mir hilfst. Du weißt ich müsste jetzt eigentlich eine Woche lang durchschlafen.“ Entgegnete er müde. Sentry erinnerte sich an Prem, als er verschüttet wurde und sein Körper diese wahnsinnige Energieleistung vollbrachte. Seine Knochen wieder in die richtige Form zu bringen, kostete ihn gute fünf Kilo Gewicht. Das Schlimmste war hinterher die Müdigkeit, als direkte Folge dieses Wunders.

„Dafür haben wir leider keine Zeit. Wie kommen wir am besten weg hier?“ fragte er.

„Rettungskapseln. Irgendeiner wird uns da draußen schon aufgabeln. Wie kommen wir eigentlich hier her und wo sind die Anderen?“ Erst jetzt wurde sich Balta bewusst, dass dort ein riesiges Loch war, wo eigentlich irgendwelche Erinnerungen seien sollten. Er brauchte noch weitere zehn Minuten, um wieder halbwegs fit zu werden.

„Hilf mir hoch und bring mich auf den aktuellen Stand. Was zur Hölle ist passiert?“ Balta war immer noch angeschnallt.

„Wichtigste Neuigkeit. Keine Schwerkraft.“ fing Sentry an.

„Oh. Dann haben wir wirklich ein Problem. Mach mich los.“ Sentry öffnete die Gurte. Balta drehte sich sofort auf den Bauch und hielt sich an der Liege fest. Er machte dabei einen so geschmeidigen Eindruck, dass sofort klar war, dass er schon einige Nullschwerkraft-Erfahrungen hinter sich hatte.

„Cool.“ kommentierte Sentry das Manöver.

„Spezialtraining. Wenn du weißt wie du sie nutzen kannst, ist die Nullschwerkraft dein Freund.“ Zielsicher steuerte er auf den Ausgang zu. Sentry hatte Mühe zu folgen. Er schnappte sich noch die Tasche, die sie auf Yuma gefunden hatten. Igor hatte sie achtlos in die Ecke gestellt. Noch ein paar Kaloriengetränke dazu und schon war auch er unterwegs.

„Mach das, was ich mache und erzähl mir dabei was passiert ist.“ Sie befanden sich mittlerweile auf dem Flur. Unsicher sondierten sie die Lage. Balta schaute nach links, dann nach rechts.

„Ich kenne diesen Schiffstyp nicht.“ Er zögerte kurz.

„Da entlang.“ kam es selbstsicher, als wüsste er genau, dass dort die Rettungskapseln sind. Sie schwebten in die linke Richtung und Sentry hielt sich kurz in seinen Erläuterungen zur Lage. Nur bei dem Angriff auf Odins Schiff wurde er präziser. Den Tod von Dina, Eva und Eric konnte er trotzdem nicht so richtig beschreiben. Noch ließ es die Situation nicht zu, sich ausführlicher damit zu beschäftigen. Die Zeit zum Trauern würde kommen, vorerst galt es wiedermal dem scheinbar sicheren Tod zu entkommen. Als er fertig war, hielt Balta kurz inne.

„Vermutlich hat ein Wrackteil das Schiff getroffen. Dann verdanke ich dir mehrfach mein Leben. Das werde ich dir nie vergessen.“ Er schwebte weiter, wollte sich keine zu große Schwäche gönnen.

Wie immer hatte er Recht mit der Richtungswahl, obwohl sie auch diesmal willkürlich erschien. Ursprünglich waren bei diesem Schiffstyp Platz für drei Rettungskapseln. Nur noch eine war vorhanden. Vermutlich hatte Red die anderen beiden gegen Ersatzteile eingetauscht. Balta inspizierte die Kapsel.

„Da passen mehr als wir beide rein. Wie viele sind noch an Bord?“ fragte Balta.

„Red und zwei seiner…“ Sentry wurde unterbrochen.

„Nur wir drei. Das muss reichen.“ Red schwebte hinter ihnen in dem Gang, aus dem sie gerade gekommen waren. Mit der linken Hand hielt er sich am Türrahmen fest, mit der rechten richtete er eine Pistole auf die beiden. Projektile mit chemischer Treibladung konnte Sentry ausmachen. In seiner jetzigen Position war das für Red genauso gefährlich, wie für sie.

„Du bist also dieser ominöse Red.“ sagte Balta.

„Mein Ruf eilt mir wohl voraus.“ erwiderte er lax.

„Zwei solcher Bastarde. Ich muss irgendwann mal was Gutes getan haben, dass ich soviel Glück habe.“

„Glück? Dein Schiff ist Schrott, draußen wartet die Polizei auf dich und wir sind auch gleich weg.“ Balta zeigte keinerlei Anzeichen von Angst oder Panik.

„So. Das würde ich mir aber noch einmal überlegen.“ Red hielt die Pistole höher. Offenbar war ihm nicht bewusst, was ein Schuss mit ihm innerhalb der Schwerelosigkeit anrichten würde. Sentry überlegte gerade die Konsequenzen, als er angestoßen wurde. Er driftete unkontrolliert nach rechts, während Balta weitaus kontrollierter nach links wegschwebte.

Ein Bluff, mehr war es nicht von Red. Blitzschnell steckte er die Pistole weg und zog sein Messer. Da kam Balta bereits in Supermannpose auf ihn zu geflogen. Er hatte sich abgestoßen von der Seitenwand und bevor das Messer irgendwelchen Schaden anrichten konnte, flog Red durch einen gezielten Faustschlag in die Gegenrichtung. Den Aufschlag nutzte Balta geschickt, um seine Geschwindigkeit zu reduzieren und an der Tür ohne große Probleme zu stoppen. Red driftete, sich um seine eigene Achse drehend, den Gang zurück und blieb an einer offenen Tür schmerzhaft hängen.

Balta hatte dieses Manöver viel Kraft gekostet. Die eh schon minimalen Reserven wurden damit weiter aufgebraucht. Er wirkte erschöpft und dem Zusammenbruch nahe. Auch Sentry zollte seinen kleinen Blessuren Tribut, die er auf dem Weg hier runter immer wieder einstecken musste. Zu dem hatte er unter den Nachwirkungen von Baltas Abwehrmanöver zu leiden, als er mit dem rechten Arm gegen die Seitenwand knallte. Zum Glück schaffte er es, sich mit der linken Hand an einer der Zwischenstreben fest zu halten, so dass er nicht wie eine unkontrollierte Billardkugel hin und her prallte. Sie brauchten unbedingt Energie und Ruhe. Leider lag die Ausbeute der mitgenommenen Kaloriengetränke innerhalb der Nullschwerkraft bei gerade mal 50%. Der Rest verteilte sich in Blasenform im Schiff und verklebte Wände und Armaturen.

„Los komm. Lass uns hier verschwinden.“ sagte Balta und stieß sich Richtung Rettungskapsel ab. Sentry schmerzte immer noch der rechte Arm, so dass das Abstoßen ordentlich daneben ging. Zum Glück fing ihn Balta auf, bevor er wieder irgendwo schmerzhaft gegen stieß. Vier Sessel, die um eine Konsole ausgerichtet waren. Aus mehr bestand die Kapsel nicht. Sie schnallten sich an und Balta leitete den Start ein.

„Was wird uns da draußen erwarten?“ fragte Sentry nachdem er die Beschleunigung spürte.

„Die Polizei wird uns aufgabeln und festnehmen. Keine Angst, da wir nicht Besitzer dieses Schiffes sind, kommen wir gegen ein kleines Bestechungsgeld frei. Für deinen Freund Red wird es schwieriger. Entweder er meldet sich bei der Polizei, dann droht ihm eine ordentliche Strafe oder er tut es nicht, dann wird sein Schiff irgendwann zum Bergungsgut und zieht allerlei Gesindel an.“

„Er ist nicht mein Freund. Ich hoffe ihm geht die Luft aus.“

„Durchaus möglich. Was immer ihr für ein Problem mit Red habt, du und Dina. Du verdankst ihm mehrmals das Leben. Auch wenn er das nicht eigennützig getan hat, stehst du in dem Punkt in seiner Schuld.“ Sentry überlegte Baltas Worte. Als Red ihm das erzählte, hatte es keinen Wert. Die traurige Wahrheit aus dem Mund eines Anderen zu hören tat weh und verkomplizierte seine eigentlich uneingeschränkte Haltung gegenüber Red.

„Gut. Wir sagen der Polizei Bescheid, die wird sich um ihn kümmern. Übrigens hat er auch dein Leben gerettet.“ konnte sich Sentry als Antwort nicht verkneifen. 

Während die Kapsel sich vom Schiff entfernte, hatte er Probleme die Augen in den bequemen Sesseln offen zu halten. Immer mal nickte er kurz weg. In der Phase zwischen Halbschlaf und tiefer Regeneration kamen ihm immer wieder die Bilder von Dina und Eva ins Bewusstsein und verhinderten den Übergang in tiefen entspannenden Schlaf. Der Verlust der beiden Frauen tat ihm unheimlich weh. Sie hatten ihn auf Prem gerettet und gemeinsam hatten sie sich durch den Slum von Lassik geschlagen. Er erinnerte sich an Eva, wie sie nach der versuchten Vergewaltigung in seinen Armen weinte. Oder an Dina, die es ihm übel nahm, dass er ihr nicht traute. Momente die sein bisheriges Leben aufwerteten. Er wollte noch mehr von diesen einzigartigen Gefühlen, aber so wie er die Lage einschätzte, würde das in naher Zukunft nicht mehr passieren. Ihre Gruppe war was Besonderes gewesen und wie auch immer sein weiteres Schicksal aussehen würde, es war vorbei damit. Er wollte nicht weinen, also lenkte er sich damit ab Balta wach zu halten.

„Mächte, die im Hintergrund die Strippen ziehen.“ setzte er das Gespräch dort fort, wo es durch die Giftattacke abgebrochen wurde.

„Nicht jetzt, wir müssen beide ausruhen.“ versuchte Balta dem Unausweichlichen zu entkommen.

„Ich lass nicht locker.“ blieb Sentry hartnäckig.

„Das dachte ich mir schon.“ Balta überlegte, wie er am besten anfangen sollte.

„Da gibt es die Science und da gibt es die Anderen.“ fing er an.

„Die Anderen?“

„Ja. Ich kenne sie nicht und hatte auch nie irgendwelchen Kontakt zu ihnen. Du trafst eine von ihnen auf „der verruchten Braut“. Alles, was ich von ihnen weiß, hab ich von der Science. Ich habe versucht aus den spärlichen Informationen mir eine eigene Geschichte zu kombinieren, aber das ist alles eher Mutmaßung als Tatsache. Nur eins scheint relativ sicher. Sie versuchen die Menschheit zu vernichten.“

„Aber wieso? Sie sind selber Menschen.“

„Über die Motive hab ich mir auch schon Gedanken gemacht. Meine bevorzugte These ist, dass sie versuchen eine neue elitäre Gesellschaftsform zu errichten, indem sie alles andere vernichten. Ob sie religiöse Spinner sind oder einfach nur größenwahnsinnig kann ich nicht beurteilen. Was mir wirklich Sorgen macht ist die Tatsache, dass sie technologisch weiter sind als die Science.“

„Woher weißt du dass?“

„Schau in den Spiegel. Die Technologie in dir ist teilweise Vorfahrentechnologie.“

„Teilweise?“

„Ja. Die Science kennt natürlich die Nanotechnologie. Sie weiß um ihre Funktionen aus Archiven der Vorfahren. Besser gesagt um die drei Funktionen. Du hast sieben in dir. Also muss jemand das Ganze weiterentwickelt haben. Während die Science versucht die Dinge der Vorfahren zu ergründen und zu verstehen, um sie nach zu bauen, forscht ihre Gegenpartei offensichtlich an wirklichen Neuentwicklungen. Wenn sie das erfahren, kriegen sie mit Sicherheit Panik. Die Anzeichen verdichten sich, dass diese unbekannte Macht sich vorbereitet ihre Ziele umzusetzen und du scheinst mir ein wichtiger Baustein des Ganzen zu sein.“ Sentry versuchte die neuen Informationen zu sortieren. Drei bekannte Funktionen, er kannte nur zwei. War er Mitglied dieser unbekannten Macht und waren sie vielleicht verantwortlich für die große Katastrophe? War er ein Abtrünniger? Dann hätten sie ihn schon getötet. Aber warum wurde sein Gedächtnis blockiert? Zaja hoffte, dass er einer von Ihnen war, dass er die richtige Entscheidung treffen würde. Wie sollte das gehen ohne Vergangenheit?

„War diese Macht verantwortlich für die große Katastrophe?“ fragte er zuerst.

„Ich weiß es nicht, aber die Wahrscheinlichkeit ist ziemlich hoch.“ Balta erwartete die nächste Frage. Die, der Sentry bisher auswich.

„Also. Was ist die dritte Fähigkeit?“ fragte er zitternd.

„Die Türöffner und die Selbstheiler sind Erfindungen der Vorfahren. Die Gedächtnisblockierung ist eine Weiterentwicklung.“ Balta zögerte.

„Sag schon. Was gab es noch von den Vorfahren?“ Er wollte es nicht wissen, aber er musste es wissen. Wie eine Spritze, die ihn vor unangenehmen Krankheiten schütze, würde es wehtun, aber es war notwendig.

„Es wird dir nicht gefallen.“

 

„Eine Drohung? Das kann nur Red sein.“ Würde sich Dina nicht schon im Angriffsmodus befinden, so wäre jetzt der richtige Zeitpunkt gewesen. Sofort blendete sie ihre Umgebung wieder aus. Nachdem der Pilot zu Yuma-Prime umgekehrt war, hatte er versucht die Sinnlosigkeit der Rettungsaktion zu untermauern. So devot seine Einstellung auch war, er hatte gute Argumente. Erstens gab es da die Spinnen, zweitens fehlte am Ende die Luft und als drittes Argument führte er den Schiffskommandanten an, der eine Rakete just in dem Augenblick auf ihr Schiff richtete, als Eva sich im Laderaum verkroch. Unbewaffnet blieb Odin nur die Herausgabe der Koordinaten, an denen Balta und Sentry zurückgelassen wurden. Seiner Ansicht waren die beiden bereits Spinnenfutter und so hielt es Odin für ratsamer die gewünschten Informationen zu liefern, auch wenn es gleich bedeutend war, dass er sich einem anderen Alphatier unterordnete und damit Ansehen bei seiner Crew verlor.

Natürlich ließ sich Dina nicht umstimmen ihre Rettungsmission abzubrechen. Schon gar nicht, wenn Red ins Spiel kam. Der hatte sie vermutlich von der Station hier her verfolgt und einen günstigen Zeitpunkt abgewartet, um zu zuschlagen. Das Objekt seiner Begierde war nicht mehr an Bord, so dass sie annahm, dass er zum Planeten zurückgekehrt war, um dort den Verbleib von Sentry zu erkunden. Verdammt, wieder war sie nicht in seiner Nähe als Red auftauchte, aber vielleicht hatten sie Glück und er befand sich genauso wie Sentry auf einem Spaziergang über den Planeten. Dann bräuchte sie bloß noch warten, bis er zurückkam, ihm die Pistole an die Schläfe halten und endlich ihre Rache vollenden. Leider sah die Realität anders aus. Der Pilot bemerkte als erstes das startende Schiff.

„Verfolgen.“ befahl Dina.

„Was ist mit den beiden auf dem Planeten?“ fragte Eric.

„Entweder sind sie an Bord oder tot. Vermutlich beides. Er würde nie ohne Sentry den Planeten verlassen.“ Sie wirkte eiskalt. Wieder galt nur ihre Rache.

„Und nun? Wir haben keine Waffen. Wie willst du sie aufhalten?“ fragte Eric.

„Kollisionskurs.“ schnauzte sie den Piloten an. Der reagierte bereitwillig, was Dina überraschte.

„Was ist denn das für eine bescheuerte Taktik? Falls dir das nicht klar sein sollte, da gehen wir alle drauf.“ Zum ersten Mal zeigte Eric keinerlei Furcht gegenüber Dina.

„Keine Angst, wir sind zwar schneller als er, dafür ist sein Schiff manövrierfähiger. Wir erwischen die nie.“ Dina funkelte den Piloten für diese Bemerkung an, was ihn dazu brachte wieder angestrengter auf seine Anzeigen zu starren.

„Ich will mit ihm reden.“ forderte sie den Piloten auf eine Kommunikation herzustellen. Das Reden erwies sich als üblicher Schlagabtausch, bei dem eine noch zornigere Dina das letzte Wort hatte.   

Eine rote Lampe blinkte auf.

„Oh oh.“ entfuhr es dem Piloten.

„Sagen Sie doch nicht oh oh, wenn eine rote Lampe blinkt. Das kann nie was Gutes bedeuten.“ Eric beschlich eine böse Vorahnung.

„Da ist eine Rakete auf dem Weg zu uns.“ sagte der Pilot.

„Hat ihm wohl nicht gefallen, dass ich das letzte Wort hatte.“ sagte Dina zynisch.

„Eine Violent 1 rast auf uns zu.“ bestätigte der Pilot die ankommende Rakete. 

„Ich habe darüber gelesen. Die Vorfahren haben sie ausgemustert, weil ihr leicht auszuweichen war. Sie war zu träge. Sie haben sie tonnenweise in Munitionsbunkern gelagert, weil sie für den modernen Krieg unbrauchbar wurde. Deswegen gibt’s die auch noch so massig heutzutage.“ Eric plapperte.

„Und nützt uns dieses Wissen irgendwie weiter?“ fragte Dina.

„Allerdings. Wenn wir den richtigen Zeitpunkt erwischen, kann selbst ein träger Klotz wie dieser dem Ding ausweichen.“ Der Pilot reagierte blitzschnell und fing an mit seinen Berechnungen.

„Der richtige Zeitpunkt ist jetzt.“ Er zündete die Backbordtriebwerke und die Trägheitsdämpfer hatten Mühe die plötzliche Wendung auszugleichen. Die Rakete zischte vorbei.

„Ha.“ frohlockte Eric. Seine Euphorie wurde gedämpft von einem weiteren roten blinkenden Licht.

„Schon wieder oh oh?“ fragte er ängstlich.

„Doppelt oh oh. Da ist was kaputt gegangen. Die Rakete wendet und kommt wieder auf uns zu.“ sagte der Pilot.

„Was kaputt gegangen? Geht’s vielleicht ein wenig präziser?“ Eric hatte sichtlich Angst und die brauchte ein Ventil.

„Ich bin kein Mechaniker. Jedenfalls kann ich das Schiff nicht mehr richtig steuern.“ Das klang, als hätte er aufgegeben.

„Das hintere Frachtmodul lösen. Sofort das Frachtmodul lösen.“ schrie Eric. Der Pilot zögerte kurz und drückte dann die entsprechenden Tasten. Es war deutlich zu hören, wie sich die Klammern öffneten.

Die Entscheidung das Frachtmodul abzuwerfen hatte ihnen das Leben gerettet. Sie hörten zwar die Explosion nicht, aber die Wrackteile, die gegen die Außenwand schepperten, waren deutlich zu vernehmen. Ein größerer Brocken krachte in das Steuerbordtriebwerk und brachte das komplette Schiff ins Trudeln. Dina und Eric zog es sofort die Beine weg. Während sie so geistesgegenwärtig war sich an der Konsole festzuhalten, stürzte er regelrecht Richtung Seitenwand. Mit schmerverzerrtem Gesicht rappelte sich Eric mühsam hoch, aber die Rotation verhinderte ein normales Stehen. Auf Knien hockend, versuchte er sein Gleichgewicht zu stabilisieren.

Scheinbar wahllos tippte der Pilot auf der Konsole herum und es war schwer den Sinn in seinem Tun zu erkennen. Es dauerte etwa eine Minute, bis er das Trudeln durch die Zündung des Backbordtriebwerkes ausgeglichen hatte.

„Cleveres Mädchen.“ kommentierte Eric mit schmerzverzerrtem Gesicht Evas Platz auf dem Kommandosessel. Sie hatte es geschafft sich vor dem Aufprall auf Odins Thron anzuschnallen.

„Das rechte Triebwerk ist komplett weg. Wir sind manövrierunfähig. Jetzt können sie uns den Rest geben.“ Wieder diese Resignation durch den Piloten.

„Die haben ihre eigenen Probleme. Schaut mal darüber.“ Dina zeigte durch eine der Luken. Reds Schiff taumelte durchs Weltall, aufgespießt von den Resten des Frachtmoduls, dass schon ihr Triebwerk auf dem Gewissen hatte. Wie ein Zahnstocher, der im Rumpf des Schiffes steckte, drehte sich die neue Konstruktion um ihre eigene Achse.   

„Verdammt.“ fügte sie bedauernd hinzu. Eva konnte es sich nicht verkneifen ihre Neugier zu befriedigen.

„Um wen tut es dir Leid? Um Red? Das du ihm nicht persönlich die Kehle durchschneiden konntest oder um Balta.“ Sie hatte eine Option vergessen.

„Vielleicht ist es ja auch Sentry.“ ergänzte sie. Ein unmerkliches Zucken ging über Dinas Gesicht.

„So oder so. Es ist vermutlich vorbei.“ Sie wirkte ihrer Antriebsenergie beraubt. Jetzt, wo mit hoher Wahrscheinlichkeit ihre Rache kein Thema mehr war, wirkte sie ein wenig entmutigt.

„Die Polizei wird uns zur Yuma-Station schleppen.“ unterbrach der Pilot ihre Gedanken.

„Was werden die mit uns machen? Immerhin haben wir das Schiff gekapert?“ fragte Eric.

„Ich rede mit dem Kapitän. Werde ihn schon überzeugen.“ Dina klang drohend und verschwand in der Tür. Eva folgte ihr vorsichtshalber.

Odin und seine gefesselte Mannschaft hatte es übel erwischt. Während Thor mit gebrochenem Genick tot in einer Ecke lag, hatte Colt das zweifelhafte Glück zweier gebrochener Beine. Jammernd, in einem Zustand zwischen Bewusstlosigkeit und Schmerz, lag er hilflos fast mittig im Raum. Auch Odin war übel dran. Schwere Kopfverletzungen zierten sein Gesicht, zudem waren beide Handgelenke auf Grund der Fesseln gebrochen. Trotz all der Schmerzen fluchte er über die Überreste seines Schiffes, über Dina und natürlich den Verlust seines Kommandos. In Eva lief der Automatismus der Hilfestellung an. Sie brauchte eine Weile, ehe sie den Erste-Hilfe-Kasten in einer der Schränke gefunden hatte. Mühsam versuchte sie die Blutung einer Platzwunde an Odins Kopf zu stillen. Obwohl er ihr in der Vergangenheit nicht wohl gesonnen war und sie jetzt auch noch mit verschiedenen Verwünschungen belegte, konnte Eva die Hilflosigkeit nicht ignorieren. Ihr medizinisches Wissen beschränkte sich auf Kleinigkeiten, die sie im Tempel erlernt hatte. Nichts, was ihr hier bei der Schwere der Verletzungen weiterhelfen würde. Trotzdem gab sie ihr Bestes.

Dina befreite sie von den Fesseln, nicht ohne den beiden Überlebenden eine Drohung mitzugeben, dass in der Ecke von Thor noch Platz für weitere Leichen wäre. Eva versorgte die kleinen Wunden notdürftig. Als sie Dina darauf hinweisen wollte, dass ärztliche Hilfe unabdingbar wäre, sah sie diese im Medizinschrank nach Medikamenten suchen.

„Kennst du dich damit aus?“ fragte Eva.

„Ich suche ein Narkotikum. Die Polizei wird uns jeden Moment abschleppen und sobald wir auf der Station sind, wird Odin nicht zögern uns ans Messer zu liefern.“

„Temazepam. Das ist ein Schlafmittel soweit ich weiß, aber ich weiß nicht, welche Wirkung es in Zusammenhang mit Verletzungen hat. Wir sollten das lieber nicht tun.“ warnte Eva.

„Welche Dosierung?“ ignorierte Dina ihre Einwände. Sie gab Odin eine Kapsel und die Wirkung ließ nicht lange auf sich warten.

Das Schleppen dauerte etwa eine Stunde. In der Zeit schüchterte Dina den Piloten soweit ein, dass er vermutlich für alle Ewigkeit kein Wort mehr gesagt hätte. Ihr Plan war es, so kurz wie möglich auf der Yuma-Station zu verweilen. Sie würden ein paar Fragen der Polizisten beantworten, in der Hoffnung, diese davon zu überzeugen, dass sie lediglich als harmlose Passagiere in einen Konflikt zweier rivalisierender Schiffe geraten waren. So schnell wie möglich wollten sie auf eines der Exson, um dort unterzutauchen. Was danach kam, wusste keiner. Ihr Schicksal war unbestimmt, aber das, was sie auf Yuma gesehen hatten, war genug Antrieb für eine beschleunigte Weiterreise. Für ihr Vorhaben brauchten sie Ersatzteile, die sie gegen Jetons wechseln konnten. So ging Einiges aus Odins Schiff in ihren Besitz über und das schlechte Gewissen über die Plünderungen beruhigten sie mit der Annahme, dass dieser Untersatz keinen Meter mehr selbstständig fliegen würde. Sogar ein Teil auf Gerdas Liste fanden sie und steckten es ein.

Die Polizei interessierte sich weniger für sie, als sie befürchtet hatten. Ihr Interesse lag bei dem Angreifer, da dort mit Strafen etwas zu holen war. Da sie Odin und seinen Leuten medizinische Versorgung zu kommen lassen mussten, befürchtete die Verwaltung von Yuma weitere Wohltaten für Dina, Eva und Eric. Daher waren sie froh, als diese so schnell wie möglich weiter wollten. Vor der eigentlichen Abreise wurden sie von dem leitenden Polizisten zurückgehalten.

„Da wäre noch eine Sache.“ kam er ohne Umschweife zum Punkt. Eric geriet in Panik, so dass Eva sich gezwungen sah ihren Körper zwischen ihm und den Beamten zu bringen, damit kein Verdacht auf schlechtes Gewissen entstand.

„Was denn noch? Wir müssen unsere Fähre erwischen.“ Dina wirkte gelassen.

„Sie können in einer halben Stunde die nächste nehmen. Wir müssen protokollieren, ob sie die Toten kennen. Reine Formsache, denn ich glaube nicht, dass sie wissen, wer sie angegriffen hat.“

„Reicht es, wenn einer von uns mitkommt?“ Dina hatte schnell begriffen, dass der Anblick von Sentrys und Baltas Leiche ungewünschte Reaktionen bei den Anderen hervorrufen würden.

„Ja. Ich denke das geht klar.“ erwiderte der Beamte in der Annahme, dass der Anblick von Leichen nicht jedermanns Sache war. Dina folgte ihm und Eva bestand darauf sie zu begleiten. Sie wollte sich von Sentry verabschieden. In den vergangenen Wochen war er ein Teil ihres neuen Lebens geworden und sie wollte die Möglichkeit nicht ausschlagen einen allerletzten Blick auf ihn zu werfen. Eric verblieb in der Bar und wartete auf ihre Rückkehr.

Sie wurden in einen Teil der Station geführt, der ausschließlich für administrative Angelegenheiten bestimmt war. Vorbei an Büros von Buchhaltung und Einkauf, der für die lebenswichtigen Ressourcen der Station zuständig war, zu den eher klein wirkenden Räumen der hiesigen Polizei. Ihnen wurde auf den Weg dorthin erklärt, dass nicht viele Verbrechen die Station heimsuchten und dass die Hauptaufgabe darin bestand gelegentliche Zwistigkeiten der verschiedenen Bergungsschiffe zu entschärfen, die auch schon mal, wie in dem vorliegenden Fall, in Waffeneinsatz enden.

„Wir haben vier Leichen, wovon aber nur eine bei uns registriert ist. Der Abgleich mit den Daten von den Exsons läuft noch, obwohl gerade nur zwei hier in Yuma sind. Selbst wenn wir dort Informationen bekommen, sind die vermutlich mehr als spärlich. Sie kennen die Registrierung, die ist ein Witz. Auch über das Schiff ist uns nur soviel bekannt, dass es mit dem Exson von Lassik rüber kam.“ Er schaute die beiden Mädels an, als würde ihm gerade ein Zusammenhang auffallen.

„Ihr Freund hat ein ziemlich breites Kreuz. Stammt er von Lassik?“ Dina blieb cool.

„Ja tut er. Wir sind vermutlich mit demselben Transport gekommen.“ sagte sie so beiläufig wie möglich.

„Na so ein Zufall.“ Er musterte sie kurz, schnappte sich ein paar Dokumente und forderte sie auf in den Kühlraum zu folgen.

„Also drei Leichen. Den Anblick des Bekannten will ich Ihnen ersparen. Fangen wir mit dem armen Tropf an. Irgendjemand hat ihn kastriert. Wir haben ihn angeschnallt in seinem Sitz gefunden, trotzdem hat es ihm das Genick gebrochen, weil seine Kopflehne falsch eingestellt war.“ Dina erkannte ihn sofort. Es war Olof. Als Strafe für das Verlangen nach Lisa hatte ihm Red seiner Männlichkeit beraubt. Eine extreme Vorsichtsmaßnahme für weitere weibliche „Gäste“ auf dem Schiff. Dina versicherte glaubhaft den Mann noch nie vorher gesehen zu haben.

Die anderen beiden Leichen waren Dina wirklich unbekannt. Sie wusste nicht, wer die Männer waren. Zur Bestätigung, dass nicht doch Sentry oder Balta unter dem vierten Leinen lagen, ließ sie sich auch noch das letzte Opfer zeigen. Sie hatte gehofft das Red da tot vor ihr lag, aber als sie in das für sie unbekannte Gesicht schaute, war sie froh, dass er es nicht war. Damit bekam ihre Rache neues Futter.

„Ein bekannter Pirat und Plünderer. Ist schon mehrfach bei uns in Erscheinung getreten. Wir dachten eigentlich er verrottet auf irgendeinem Planeten. Das war es nun endgültig.“ Dina reimte sich die Geschichte zusammen, als der Beamte das Leinen wieder über die Leiche zog. Reds Wrack hatte sicherlich Plünderer angezogen und sollte er überlebt haben, hat er vermutlich mit ihnen gerechnet und ihnen eine Falle gestellt. Das Ergebnis lag vor ihr. Drei tote Plünderer, die ihr Schiff unfreiwillig an Red abgetreten haben. Aber wo waren Sentry und Balta? Vermutlich mit auf dem neuen Schiff.

„Gab es Überlebende?“ fragte Eva, bevor Dina ihre Gedanken zu Ende brachte.

„Ja. Das Schiff hatte Passagiere. Wir prüfen gerade ihre Daten.“ Die Mädels konnten ihre Freude nicht verbergen, zu groß war die Tatsache, dass die beiden noch leben.

„Was passiert mit ihnen?“ Dina hatte sich zuerst wieder unter Kontrolle und fragte so beiläufig wie möglich.

„Sobald wir festgestellt haben, dass gegen sie nichts vorliegt, werden sie gegen Zahlung einer Geldstrafe wieder entlassen.“

„Können wir sie sehen? Wir sind mit zwei Männern gemeinsam hier angekommen. Unsere Wege trennten sich dann aber.“

„Ich erinnere mich an ihre Gruppe. Den meisten sind nur Sie beide in Erinnerung geblieben, aber ich weiß, dass sie zu fünft waren. Es sind ihre Bekannten, die wir hier haben. Leider kann ich Sie nicht zu ihnen lassen. Die Vorschriften wissen Sie.“ Eva konnte ihre Freude kaum zurückhalten. Eine Mischung aus Erleichterung, dass die beiden noch leben und der Tatsache, dass Sentrys Selbstfindung weitergeht und damit auch ihre derzeitige Mission eine Fortführung erfährt.

„Können wir ihnen wenigstens eine Nachricht zukommen lassen?“ Dina wartete die Antwort gar nicht erst ab, sondern kritzelte etwas auf Gerdas Zettel und gab es zusammen mit einem Jeton dem Beamten. Ein Satz stand auf dem Zettel. Ich schulde dir ein Bier.

„Geben Sie es dem Weißen.“ Damit verabschiedete sie sich und gemeinsam mit Eva machten sie sich auf Richtung Abflughangar. Eric erwartete sie schon ungeduldig und unter den Blicken sämtlicher neidischer Männer, verließ er mit ihnen die Station.

 

Die Polizisten nahmen die beiden nicht besonders freundlich in Empfang. Als sich die Tür der Rettungskapsel öffnete, standen zwei Beamte mit gezogenen Waffen vor ihnen. Mit erhobenen Händen und so unschuldig wie möglich dreinschauend, fügten sich Balta und Sentry in ihr Schicksal. Beide waren so müde, dass sie zu keinerlei Gegenwehr im Stande wären. Sie wurden abgeführt und in eine der Gefängniszellen gebracht. Nach einer Stunde wenig erholsamen Schlafes, gab es dann die erste Vernehmung. Drei Tatsachen unterstützten die Überzeugung, dass sie nur harmlose Passagiere waren. Einerseits Baltas eloquentes Geschick den Behörden klar zu machen, dass sie für diesen Transport bezahlt hätten und nur durch dumme Umstände in den Konflikt hinein geraten wären. Da sie registrierte Besucher auf Yuma waren, wurde ihre Geschichte einen privaten Transfer gebucht zu haben, glaubhaft angenommen. Zum anderen gab es den Fakt, dass die eigentlichen Besitzer mit einem Plünderungsschiff entkommen waren. Wesentlich beigetragen zu ihrer Unschuld hatte aber die Tasche, die Sentry auf dem Planeten fand. Ihr Inhalt enthielt eine Mischung aus Strafe und Bestechungsgeld und förderte weiter ihre Freiheit. Trotzdem mussten sie weitere zehn Stunden im Gefängnis verbringen, was ihnen gut passte, da sie hier ihre Batterien wieder aufladen konnten.

Sentry hatte was Neues über sich erfahren und das raubte ihm vorerst den erholsamen Schlaf. Eine weitere seiner ungeliebten Fähigkeiten wurde ihm offenbart. Er konnte sie nicht testen, da er nicht in der Lage war sie zu aktivieren. Nachdem er hörte, um was es dabei ging, fehlte ihm jegliche Motivation dahingehend. Wie er schon vermutet hatte, handelte es sich um Technologien, die für Supersoldaten entwickelt wurden. Nach und nach wollten die Vorfahren die Nanotechnologie einsetzen, um bestimmte Körperfunktionen zu verstärken oder zu beschleunigen. Die Selbstheiler waren die ersten, die sie erfolgreich umsetzen konnten. Ein halbes Jahrhundert Forschungsarbeit war notwendig gewesen, um sie zu dem zu machen, was er heute in sich hatte. Unzählige Versuchsopfer wurden durch Misserfolge in Krüppel verwandelt oder im besten Falle ereilte sie ein schneller Tod. Unglaublich wie skrupellos die Vorfahren damals Menschenversuche tolerierten. Irgendwann hatten sie es und die Basis war gelegt für weitere Funktionen. Von da an war es deutlich einfacher die Nanotechnologie auf weitere Fähigkeiten auszuweiten. Ganze zwei Jahre waren noch notwendig für die Entwicklung der Türöffner. Gegen wen diese Art von Soldaten eingesetzt werden sollten, war unklar, aber die Vermutung, dass sie ein Mittel gegen diese unbekannte Macht sein könnten, verstärkte sich, als die große Katastrophe über die Menschheit herein brach. Kurz nachdem eine dritte Fähigkeit entwickelt wurde, die auf den ersten Blick total sinnlos erscheint.

Offiziell war es eine Kommunikationstechnologie. Lautlos sollten die einzelnen Soldaten untereinander Signale austauschen. Dies sollte über die Reizung von einzelnen Nervenimpulsen erfolgen. Ein Jucken im linken kleinen Zeh bedeutete vielleicht Angriff, während der rechte Zeigefinger mit dem Signal Rückzug verbunden war. Auf die Art und Weise sollten Operationen koordiniert werden. Jeder einzelne Nervenimpuls konnte mit einem zugehörigen Signal in Verbindung stehen und da alle Nerven gereizt werden konnten, ging die Signalübertragung gegen unendlich.

Baltas Theorie ging in eine andere Richtung. Den Vorfahren waren ihre eigenen Waffen nicht mehr geheuer. Da sie planten weitaus gefährlichere Funktionen zu entwickeln, suchten sie nach einem Abschaltknopf, falls die Nanotechnologie gegen sie zum Einsatz kommen würde. Für sie war es unabdingbar die Kontrolle über die Soldaten zu behalten. In Sentry hatte sich das Bild einer Fernbedienung eingebrannt, die ihm unendlich viele Schmerzen zufügen konnte oder ihn bestenfalls wie eine Maschine komplett lahm legte. Keine Ahnung wie die Reichweite solcher Nervenreizung war, aber allein das es sie gab und vermutlich immer noch einsetzbar war, versetzte ihn in eine Art Grundangst. Der Besitzer solch einer Technologie würde ihn unter Kontrolle haben. Vielleicht hatte er auch Glück und sie waren nicht Bestandteil seiner Femtos, aber er musste sich selber eingestehen, dass er sich damit etwas vormachte. Die Wahrscheinlichkeit war ziemlich hoch, dass sie durch seine Blutbahn kreisten, darauf wartend, ihre unheilvolle Funktion auszuführen.     

Mit diesen Gedanken gepeinigt, dauerte es ganze zwei Stunden, bevor die Regeneration in Form von Schlaf einsetzen konnte. Nach dem Wecken hatte er das Gefühl nicht länger als zehn Minuten geschlafen zu haben. Erst die Uhr gegenüber seiner Gefängniszelle belehrte ihn eines Besseren. Zum Glück ließ man ihm die Zeit, um vollends in die Realität zurückzukehren und das Urteil vollständig zu erfassen. Die Anklage lautete „Beteiligung an verbotenen Kampfhandlungen“ und obwohl weder Richter oder Anwalt anwesend waren, wurden sie schuldig gesprochen. Die Strafe betrug genau den Gegenwert der Habseligkeiten, die sie bei sich hatten, so dass ihr mühsam erkämpftes Ersatzteil für Gerda dahin war. Mit sofortiger Wirkung wurden sie ausgewiesen und in der Richtung hatten sie Glück. Von den zwei Exsons die gerade im System waren, traf ihre Verbannung genau jenes, welches in Richtung Cayuse unterwegs war. Mit genau soviel Taschengeld ausgerüstet, dass sie dort sicher ankommen würden, verließen sie die Station.

Freundlich drohend, so empfand es Sentry, als er von dem Beamten an der Transportfähre verabschiedet wurde. In jedem Wort schwang der warnende Unterton mit, hier nicht mehr aufzukreuzen. Obwohl alle Beteiligten wussten, dass keinerlei Schuld durch Balta oder Sentry vorlag, nutzten die Behörden die Anklage, um günstig an Ersatzteile zu kommen und sich unerwünschter Personen zu entledigen. Ein Gefängnisaufenthalt würde nur unnötige Ressourcen verschwenden und eine Hinrichtung wegen Kriegstreiberei würde all jene abschrecken, die es zwar verdient hätten, aber notwendig für die Versorgung in Krisenzeiten geworden waren. Die traurige Wahrheit war, man musste sich arrangieren mit Schmugglern und Piraten, denn der nächste Mangel kam bestimmt.

Sentry war schon fast auf der Fähre, als ihm einer der Beamten einen Zettel zu steckte. Das Gefühl unglaublicher Glückseligkeit durchflutete ihn, als er den einzigen Satz las. Nach der Versicherung, dass auch Eva und Eric wohlauf waren und die Station vor ein paar Stunden sicher verlassen hatten, hätte ihm kein Meißel der Welt das Grinsen aus dem Gesicht hämmern können. Die Vorfreude auf die drei war riesig. Das sein Abenteuer weiter gehen würde war klar, nur hatte er mit erschwerten Bedingungen gerechnet. Jetzt war alles wieder beim Alten und der zeitweise Verlust zeigte ihm erst auf, was er an der Gruppe hatte.

Die Überfahrt konnte ihm nicht schnell genug gehen und als das Exson im Sichtbereich auftauchte, steigerte sich seine Ungeduld. Das Ei wurde größer und die Ringe deutlich erkennbar. Diesmal würden sie nicht an der „verruchten Braut“ andocken. „Der heilige Gral“ ließ Spielraum für alle möglichen Interpretationen, aber im Endeffekt drückte es nur die konservative Lebensweise ihrer Bewohner aus. Kein lockerer Lebensstil sondern Effizienz und Glaube an die Optimierung der vorhandenen Gegebenheiten. Die Vorfahren wären stolz auf die Bemühungen, wenn auch alles in viel kleineren Bahnen ablief.

Er erkannte das blond sofort. Es hatte weniger Rotstich als bei Dina, aber trotzdem fiel es in der Menge der Wartenden auf, so dass er nach der Ankunft nicht lange nach dem Begrüßungskomitee suchen musste. Sie hatten abwechselnd die Fähren empfangen und es war an Eva, die das Glück hatte, bei ihrer Ankunft auf die beiden zu stoßen. Sentry konnte nicht anders, er musste sie umarmen. Auch wenn sie kühl und reserviert wirkte, hatte er nicht das Gefühl, dass es ihr unangenehm war. Sie zeigte die Freude auf ihre Weise, auch wenn er meinte, dass Balta eine größere Portion Zuneigung von ihr bekam. Ein wenig Neid schwang mit, denn auch Dina würde vermutlich sich über Baltas Auferstehung mehr freuen, als über seine. Verdammter Frauenliebling.

Eva klärte sie über die Umstände auf. Sie hatten mit der Plünderung von Odins Schiff einen guten Schnitt gemacht. Leider hatten sie nur eins der geforderten Ersatzteile dabei, umso ärgerlicher fand es Sentry, dass sie ihr Beutestück bei den Behörden von Yuma lassen mussten. Immerhin hatten sie sich gegen Radioaktivität, Riesenspinnen und Red durchsetzen müssen. Zwei Quartiere auf Habitatring 2 waren für die nächsten fünfzig Stunden gebucht, denn soviel Zeit war noch bis zum Sprung nach Cayuse. Von da an würden sie es rechtzeitig bis zum vereinbarten Treffpunkt schaffen. Sollte Gerda mit dem einen Ersatzteil nicht zufrieden sein, gäbe es eine gute Chance andere Schiffe zu chartern, die sie vielleicht nach Cree oder zur Science bringen würden. Sentry hatte sich immer noch nicht entschieden und versuchte auch gar nicht mehr die Für und Wieder gegeneinander abzuwägen. Es würde eine Bauchentscheidung werden oder das Schicksal würde ihn in eine Richtung drängen, die keine andere Alternative mehr zuließ.

Sie trafen den Rest der Gruppe in einer der wenigen Bars auf dem Exson. In guter alter Tradition stritten sich Dina und Eric über belanglose Dinge. Sentry hatte den Eindruck, dass Eric seine Zurückhaltung gegenüber ihr immer mehr aufgab und öfter mit teils blöden Argumenten zurück schoss. Immerhin überließ er ihr nicht mehr kampflos das Schlachtfeld, obwohl er ihr immer noch heillos unterlegen war.

Sentry wäre jede Wette eingegangen, dass die Freude Balta am Leben zu sehen größere Priorität bei Dina hatte, als seine eigene Unversehrtheit. Umso größer war seine Verwunderung, als sie auf ihn zugestürzt kam, ihn umarmte und mit einem ehrlichen Lachen begrüßte. So hatte er sie noch nicht erlebt. Jetzt wurde ihm so richtig bewusst, dass Dina sich in seiner Gegenwart verändert hatte. Nicht ohne Stolz einen guten Einfluss auf sie ausgeübt zu haben, erinnerte er sich an die Worte Baltas, die er damals nicht glauben wollte. Sie war nicht mehr die Einzelkämpferin, sie brauchte die Gruppe genauso wie er und das hatte nicht nur mit ihrer Rache zu tun. Mittlerweile waren sie keine reine Zweckgemeinschaft mehr. Sie hatten einen tiefen sozialen Zusammenhalt entwickelt.

Ihre finanzielle Situation war gut, sie hatten wenigstens eins der Ersatzteile in ihrem Besitz und sie waren auf dem Weg nach Cayuse. Trotzdem war der Beinahe-Tod aller Anwesenden das vorwiegende Gesprächsthema und drückte auf die Stimmung.

„Wir hatten alle verdammt viel Glück gehabt.“ brachte es Sentry auf den Punkt.

„Wenn wir keine Risiken eingehen, kommen wir nie ans Ziel. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass einer von uns irgendwann auf der Strecke bleibt.“ Balta trug damit nicht zur Aufheiterung bei.

„Vielleicht ist ja das Risiko zu hoch. Schon mal nachgedacht, dich auf einen der Planeten niederzulassen, gelegentlich deine Fähigkeiten zu nutzen und ein einfaches Leben zu führen?“ beteiligte sich Eva erstmals aktiv an Diskussionen.

„Das würde nicht funktionieren. In einer Welt in der Technik die Nahrung der Gierigen ist, bin ich sozusagen der Sonntagsbraten. Außerdem gibt es da jemanden, den ich finden muss.“ erwiderte Sentry niedergeschlagen. Er hatte diese Option wirklich noch nicht in Betracht gezogen. Sie klang verlockend. Mit einer Frau und ein paar Kindern einer geregelten Arbeit nachgehen und den ganzen Mist ignorieren. Sie würden ihn nicht in Ruhe lassen. Nie und nimmer. Dieser Teil würde ihm versagt bleiben, wenigstens solange er diese Biester in sich hatte. Selbst wenn er sie loswerden würde, war nicht sicher, dass er seine Ruhe hätte.

„Balta hat Recht. Ich habe keine Wahl, aber alle Anderen können ihrer Wege gehen. Die Ereignisse haben gezeigt, wie hoch das Risiko ist, dass jemand stirbt. Ich sollte das alleine machen.“ Sentry blickte so neutral wie möglich in die Runde. Insgeheim hoffte er, dass keiner ihn verlassen würde, aber der mögliche Tod einer seiner Gefährten weckte zwiespältige Gefühle in ihm.

„Ich weiß nicht, was ich sonst machen soll.“ Überraschenderweise war es Eva, die zuerst ihren Kommentar abgab.

„Ich habe bisher soviel verkehrt gemacht. Das erste Mal habe ich das Gefühl wirklich auf dem richtigen Weg zu sein. Obwohl ich nicht weiß, wo er hinführt.“ So viel Offenheit waren sie von ihr nicht gewohnt.

„Und ich komm immer noch am besten über dich an Red ran.“ Auch Dina würde bei ihm bleiben. Sentry schaute sie an, als erwarte er noch mehr.

„Irgendwann musst du uns mal erzählen, was zwischen euch beiden genau vorgefallen ist.“ sprach Balta die Worte aus, die sich Sentry nicht traute zu sagen.

„Wenn dieser Scheißkerl nicht mehr unter uns weilt.“ antwortete Dina in Gedanken an längst vergangene Geschichten versunken. Sentry erinnerte sich an die Nachwirkungen des „yellow nightmare“. Die Vergewaltigung, an Ned und an die Tochter. Er ahnte, was sich da abgespielt haben könnte. Eines Tages wäre sie bereit für ihre Leidensgeschichte.

„Ich habe auch keine große Wahl. Bleibst nur noch du.“ Balta wandte sich an Eric.

„Also. Ähh…“ Er war ein wenig überrascht, dass das Thema so schnell auf ihn kam.

„Deinen Laden könntest du sicherlich auch auf einer anderen Welt wieder eröffnen.“ schlug ihm Balta vor. Eric schaute rüber zu Eva.

„Noch will ich nicht zurück in mein altes Leben.“ Damit war klar, dass ihr Weg gemeinsam weitergehen würde.

 

 

 

 

 

XVI

„Der Optimist hat nicht weniger oft unrecht als der Pessimist, aber er lebt froher.“

José Andreo Rivel

 

Sie war von einer Aufbruchsstimmung getragen, die sie zuletzt im Tempel erfahren hatte. Das Misstrauen gegenüber ihren eigenen Gefühlen hatte diesmal keine Chance ihren Enthusiasmus zu dämpfen. Eva hatte es offen ausgesprochen, sie war auf einem guten Weg und da sie es allen verkündet hatte, schien ihr Vertrauen in die eigenen Entscheidungen zurückzukehren. Der Nachweis, dass sie ein wesentlicher Bestandteil der Gruppe ist, war mit dem Kapern von Odins Schiff erbracht worden. Sie war über ihre Grenzen gegangen und es fühlte sich richtig an. Mehr noch. Sie konnte den Verrat am Tempel nun richtig einordnen. Kein Verrat, eine Notwendigkeit. Zum ersten Mal in ihrem Leben schaute sie auf eine vergangene Entscheidung zurück und war sich sicher keinen Mist gebaut zu haben. Ein gutes Gefühl. Etwas, an das sie sich gewöhnen konnte und mittlerweile hatte sie jenes Gemeinschaftsgefühl, was ihr der Führer damals mit seinen Tricks vorzugaukeln versuchte. Keine Zweifel, keine Angst vor irgendjemanden. Diese Gruppe gab ihr das, was sie seit Jahren verzweifelt vermisst hatte. Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten.  

Trotzdem nagte etwas an ihr, das jetzt, nach diesem gewaltigen Schub Selbstvertrauen, an die Oberfläche drängte und um Klärung bettelte. Ignorieren konnte sie es nie und der verzweifelte Versuch es in die hintersten Windungen ihres Gedächtnisses zu verdrängen, scheiterte spätestens in jenem Augenblick, indem sie Odin ihre Waffe vorhielt. Die Exekution von Dirk würde immer Bestandteil ihres Lebens bleiben und noch wusste sie nicht, wie sie damit umgehen sollte. Nachdem sie zugegeben hatte, dass sie keine andere Alternative sah, als Sentry weiterhin zu begleiten, war es als fiele eine Last von ihr. Sie merkte, dass er erleichtert war über den gemeinsamen weiteren Weg. Den selben Effekt erhoffte sie sich bei einer Aussprache über ihre größte Pein, die sie einen Leben lang quälen würde. Es dauerte eine Weile, bis sie ihn allein erwischte. Sie nahm ihren Mut zusammen und sprach ihn an.

„Ich würde gern mit dir reden.“ Es war ihr unmöglich diese Worte ohne große Bedeutung auszusprechen. Er lächelte sie an und egal was sie jetzt sagen würde und auch egal was er antworten würde, das Gespräch wird auf Augenhöhe stattfinden. Auch das war eine Premiere. Bei keinem Mann war sie sich bisher so sicher der Dinge, die sie tun oder sagen würde.

Sentry war froh, das sie sich öffnete. Die vergangenen Ereignisse gingen auch an ihr nicht spurlos vorüber. Auch sie hatte sich zum positiven entwickelt, gegenüber Dina aber ohne sein Zutun. Irgendwas in der Vergangenheit musste sie ziemlich gebrochen haben, aber sie war stark genug die Geschehnisse um ihren Vater, Führer und Schwester zu verarbeiten. Sie brauchte nur Zeit. Sie hatte einen grundlegend guten Charakter. Eine Eigenschaft, die ihn vor dem sicheren Tod im Tempel bewahrte. Von seiner Seite aus hatte sich nichts geändert. Er würde ihr ewig dankbar sein und er hoffte, dass er sich eines Tages revanchieren könnte, für die Errettung seines Lebens. Sie war ein wesentlicher Grund dafür, dass er überhaupt noch im Spiel war.  

Eva zögerte. Der Einstieg wollte ihr nicht so Recht gelingen. Ihre Gedanken überschlugen sich.

„Ich bin mir unsicher, über meine eigene Selbstkontrolle.“ Die Worte kamen ihr wahllos aus einem Meer von tausend Gedanken über die Lippen.

„Ich habe gegen meine Natur gehandelt. Ich habe …“ sie brach ab, als würde das Aussprechen der Wahrheit ihr Wehtun. Das tut es vermutlich auch, aber deswegen war sie hier. In ihrem Inneren wusste sie, dass sie diesen Schmerz ertragen musste, um sich auf Dauer besser zu fühlen.

„Ich habe getötet.“ Die Bilder von Dirks Gesicht kamen wie auf Stichwort in ihr hoch. Als hätte jemand die Wiederholungstaste in ihrem inneren Aufzeichnungsgerät gedrückt. Jedes noch so kleine Detail drückte auf ihre mentale Stabilität. Wie sie da stand, mit ihrem Leben abschloss, weil sie unfähig war abzudrücken. Was dann passierte, verstand sie bis heute nicht. Es war der Augenblick, indem sie sich vom rational denkenden Menschen in ein primitives, ums Überleben fürchtendes Wesen wandelte. Sie war nicht sie selbst oder war es genau das was sie ausmachte. Wenn Instinkte das Handeln übernehmen, zeigt sich dann der wahre Charakter?

„Du hast das Richtige getan.“ versuchte Sentry sie zu ermuntern.

„Du verstehst es nicht. Natürlich war es das Richtige, aber ich wollte es nicht. Ich stand da und war bereit für meinen Tod. Etwas in mir, etwas Primitives zwang mich dazu weiter zu leben. Seitdem habe ich Angst vor diesem Dämon. Angst, dass er Dinge tut, die ich nicht will.“ Sentry verstand sie nur zu gut, aber er sah sich außer Stande ihr das klar zu machen. Auch er hatte diese schizophrene Persönlichkeit, die für ihn die Femtos steuerte, wenn er zu zögerlich agierte. Aber ihr Kampf war nicht aussichtslos und er wusste, wie er ihr helfen konnte.

„Wir alle haben diesen Dämon in uns. Er ist Teil unserer Persönlichkeit. Die meisten von uns bekommen ihn nie zu Gesicht. Er agiert im Hintergrund und beeinflusst uns eher unbewusst in unserem Handeln. Aber er ist da und gelegentlich ist er ganz nützlich für uns. Wir brauchen ihn, um stark zu sein, sollten ihm aber nie zu sehr Leine geben. Du hast das Richtige getan, in dem du die Leine einfach los gelassen hast. Das hat uns allen das Leben gerettet. Dadurch, dass du so brutal mit deiner bösen Seite konfrontiert wurdest, hast du etwas über dich selber gelernt. Odin hat überlebt, weil du dein instinktives Ich nun besser unter Kontrolle hast. Die Angst vor deinem Dämon kann ich dir nicht nehmen, aber ich bin mir sicher, dass deine Kontrolle über ihn, nun da du weißt zu was er im Stande ist, stärker geworden ist. Du bist ein anständiges Mädel und genau aus dem Grund, weil du dir Sorgen machst es könnte dich negativ verändern, hast du nichts von diesem Anstand verloren. Ganz im Gegenteil. Wie du schon sagst. Diesmal bist du auf dem richtigen Weg.“

An ihrer Reaktion konnte er ablesen, dass er sie wenigstens zum überlegen gebracht hatte. Eine willkommene Pause, um seine eigenen Erfahrungen einzuflechten. Er erzählte ihr von der Sicherheitskontrolle auf Lassik. Mit ähnlichen Worten erklärte er die Übernahme durch seine andere Hälfte der schizophrenen Persönlichkeit, die in ihm steckte. Die Angst, die er dabei spürte und die Hoffnung, dass er von diesem Teil nicht irgendwann ausgelöscht wurde. Mit diesen Gemeinsamkeiten schaffte er es das zaghafte Band zwischen ihnen weiter zu festigen. Er spürte sogar ernsthaftes Vertrauen. Mittlerweile funkten sie auf derselben Wellenlänge und diese Momente, die er sich erhofft hatte nachdem er erfuhr, dass sie noch am Leben war, sie bündelten sich zu diesem ernsthaften Gespräch.

Eva erkannte sich selbst nicht wieder. Sie redete einfach drauf los. Nicht das es Geplapper wäre, nein sie spürte aufrichtiges Interesse an ihrer Lebensgeschichte. Gelegentlich hakte er nach und streute Erfahrungen aus seinem kurzen Leben mit ein, die genau zu dem passten, was sie gerade anbrachte. Wie zwei Bausteine, die perfekt zu einander passten. Diese Qualität in Gesprächen war ungewohnt für sie. Sie redete über ihre Kindheit, ihre Mutter und die Katastrophen, die nach ihrem Tod eintraten. Verrückt, wie locker ihr die Worte über die Lippen kamen. Drei Stunden, ohne peinliches Schweigen oder größere Pausen. Ein Thema ging ins Andere über und am Ende musste sie sich selber eingestehen, dass sie sich ein wenig verguckt hatte in ihn. Sie musterte sein Gesicht, bemerkte sein unbändiges Haar, was nach einem Friseurbesuch schrie und nahm bestimmte Gesten war, die ihr vorher nicht auffielen. Gefühle in die Richtung konnte sie sich nicht leisten. Es war weder der Zeitpunkt, noch war es eine gute Idee. Das alles würde nur Komplikationen bringen, also gab sie der rationalen Eva wieder die Oberhand und schob diesen Anflug von Schwärmerei in die hinterste Ecke. Nicht ohne ein bisschen Wehmut. 

Sentry fühlte sich gut. Das gerade Erlebte war genau eines dieser Leuchtfeuer, die ihm in der Dunkelheit seiner Existenz zum weiter machen motivierte. Er hätte mit ihr noch ewig reden können, aber die Ankunft Erics mit seiner offensichtlichen Eifersucht, brachte ihn zurück in die graue Realität. Er wollte etwas von ihm und da sie sich im Quartier der Männer befanden, verließ Eva den Raum, was beiden Hinterbliebenen die Stimmung vermieste. Kein guter Einstieg für die nächste Unterhaltung.

„Ich brauche dich.“ sagte Eric trocken und legte zwei Datenspeicherkarten auf den einzigen Tisch des Raumes. Wertloser Plunder, den Balta auf Yuma-Prime eingesteckt hatte und den selbst die Polizei nicht konfisziert hatte. Wie ein kleines Kind, was quengelte, hatte ihm Balta eine Ablenkung gegeben.

„Ich will wissen, was da drauf ist, aber die Daten sind genetisch verriegelt.“ Immer noch kein Bitte oder wenigstens der Anflug von Höflichkeit. Dafür Eiseskälte. Sentry war verärgert, aber er hatte sich unter Kontrolle. Schweigend nahm er die Karten und ging zum Rechner rüber, der als Standardeinrichtung in ihren Quartieren vorhanden war. Er steckte die erste Karte in den dafür vorgesehenen Slot und folgte der Aufforderung seinen Daumen auf den Scanner zu legen. Der Bildschirm leuchtete kurz grün, dann erschien eine Eingabemaske.

„Da kann ich dir auch nicht weiterhelfen. Nutzername und Passwort wird verlangt.“ Dasselbe Problem bei der zweiten Karte.

„Verdammt, was sind denn da für Daten drauf, dass man sie doppelt und dreifach sichern muss.“ Eric fluchte. Jetzt hatte er auch Sentrys Interesse geweckt. Tatsächlich war es ungewöhnlich. Navigationsdaten oder Logbücher mussten doch nicht dermaßen abgesichert werden.

„Ich komme schon noch dahinter. Ich schwöre es.“ Eric versteifte sich auf den Rechner und tippte los.

„Ha.“ frohlockte er. Das Eingabefeld war verschwunden.

„Das Eingabefeld haben wir schon mal überwunden.“ Sentry schaute ihm über die Schulter.

„Hackertrick“ tat Eric wichtigtuerisch. Eigentlich hatte er nur Glück gehabt. Die Sicherheitsmaßnahmen waren schlampig, so dass er mit seinen beschränkten Möglichkeiten das Eingabefeld umgehen konnte.

„Hier ist die Liste der User. Und das müssen die Passwörter seien.“ Er war jetzt wieder in seinem Element. Sentry starrte auf den Bildschirm.

telot:662327dfa031788a1a0156b622a0ff43c1b132235a.

Sechs weitere Zeilen mit einem anderen Kauderwelsch.

„32bit Hash. Mal schauen, ob sie weiterhin so schlampig waren.“

„Kennst du dich damit aus?“ fragte Sentry.

„Ich habe mal was drüber gelesen. Also telot ist der Nutzername und der Wirrwarr dahinter ist der Hash für das Passwort.“ Wie immer, wenn er was erklärte, lag ein gewisser Stolz in seinen Worten.

„Ein Hash entsteht, wenn Zeichen durch einen bestimmten Algorithmus verändert werden. Je mehr Zeichen, umso größer die Varianten, die ein Hash haben kann. Es wird bei einer Eingabe nicht das Passwort verglichen, sondern der Hash. Hoffen wir mal, dass telot oder einer der Anderen faul war und kein langes Passwort verwendet hat.“ Eric grübelte weiter. Plötzlich sprang er auf.

„Gehen wir einkaufen. Ich bin sicher, dass wir in einem der Technikläden ein rainbow-table kaufen können.“ Er sagte dies so selbstverständlich, als würden sie Brot, Milch und Eier besorgen gehen.

„Was ist das denn?“ fragte Sentry sichtlich irritiert. Eric bedachte ihn mit einem Lächeln. Genauso gut hätte er auch sagen können „so dumm kann man gar nicht sein“.

„Für Laien ausgedrückt, sind in diesen rainbow-tables die Hashs schon berechnet. Wir vergleichen nur noch und schauen, ob es den hash schon gibt. Wie gesagt. Das geht nur für einfache Passwörter und nur dann, wenn sie nicht weitere Sicherheitsmaßnahmen geschaffen haben, was ich aber nicht glaube, so einfach wie ich das Eingabefeld umgehen konnte.“

Der herablassende Tonfall gefiel Sentry nicht, so dass er Eric alleine einkaufen ließ.

Es dauerte zwei Stunden, bis dieser wieder auftauchte. Voller Tatendrang setzte er sich an den Rechner und fing an einen vergleichenden Algorithmus zu programmieren.

„Ok. Klär mich auf was du tust.“ Sentry erwartete eine herablassende nichts sagende Erklärung, aber Eric war so euphorisch, dass er bereitwillig Auskunft gab.

„Es war schwierig eine bestimmte Qualität aufzutreiben. Überall nur Schrott mit dem man höchstens Passwörter aller „1234“ herausbekommt. Aber damit sollte es klappen.“ Sentry verkniff sich zu fragen, wie viel er dafür bezahlt hatte und ob es wirklich das Geld wert wäre ein paar Logbucheinträge aus den letzten tausend Jahren zu entschlüsseln, aber immerhin war es ihm zu verdanken, dass sie überhaupt materiellen Wohlstand besaßen. Eric war so geistesgegenwärtig gewesen Odins Schiff zu plündern, also gönnte er ihm seine Neugierde.

„Jetzt müssen wir nur noch warten, bis wir einen Treffer haben.“ Eric lehnte sich zurück mit einer Zufriedenheit eines Mannes, der sein Tagewerk als vollbracht ansieht. Er wollte gerade eine gönnerische Bemerkung Richtung Sentry von sich geben, als der Rechner vor ihm ein Signal abgab.

„Wow, das ging aber schnell.“ Er näherte sich ungläubig dem Bildschirm. Das Passwort des Users Grell war deutlich zu erkennen.

„1234“ las Sentry vor, nicht ohne einen gewissen Spott in der Stimme. Erics Groll währte nicht lange. Nachdem er Zugriff auf die Daten hatte, siegte erneut seine Neugierde. Unmengen von Dateien, für die vermutlich ein Leben zu kurz wäre sie alle durch zu schauen. Trotzdem eine willkommene Abwechslung, um die nächsten Tage auf dem „heiligen Gral“ zu überbrücken und so entschied sich Sentry ein wenig in der Vergangenheit zu schmökern.

Verglichen mit den letzten Wochen waren die Tage auf dem Exson wie Urlaub. Sentrys Tagesrhythmus bestand in schlafen, frühstücken, sich wahlweise mit Dina, Balta oder Eva unterhalten, dem abendlichen Essen mit der gesamten Gruppe und dem Lesen in der Datenbank des Schiffes, welches auf Yuma-Prime vor sich hin rostete und als Brutstätte für die Wolkov-Spinnen diente. Der Sprung verzögerte sich um weitere drei Tage, so dass der Termin mit Gerda bei weiteren Verzögerungen nicht haltbar wäre. Genug Zeit, um den Aufenthalt in Alltag zu verwandeln und Sentry genoss die wiederkehrenden Rituale. Er fühlte sich so normal. Keine Gedanken an Femtos, Verfolger oder sonstige Gefahren. Auch die notwendige Entscheidung Science oder Cree kam ihm nie in den Sinn. Obwohl der „heilige Gral“ hinsichtlich der Vergnügungen eher langweilig daher kam, war er ihm weitaus lieber als sein Gegenstück die „verruchte Braut“. Er bekam seine Gedanken frei und tankte den mentalen Treibstoff, den er für die anstehenden Ereignisse brauchte.

Das Schiff hieß „Viajera“ und soweit seine Sprachkenntnisse ihn nicht täuschten, war es damit weiblich und auf reisen. Ein Versorgungsschiff ohne eigenen Sprungantrieb. Es gehörte einem größeren Konvoi an und wenn er die Daten richtig interpretiert hatte, war es zu Reparaturzwecken auf Yuma-Prime gewesen, während der Rest weiter seine Geschäfte in der Galaxie tätigte. Er las verschiedene Berichte über vergangene Handelsmissionen, aber die Kontinuität, mit der der Handel damals betrieben wurde, ließ das Ganze schnell langweilig werden. Das Leben eines Händlers schien vor tausend Jahren nicht besonders aufregend. Selbst die Ware variierte kaum. Meist waren es Landmaschinen oder Werkzeuge, was die  „Viajera“ übermäßig oft nach Lassik brachte. Informationen, wie das Leben vor tausend Jahren auf dem einzigen Planeten den er kannte war, gab es so gut wie keine in den Berichten. Enttäuscht über die nüchternden Einträge änderte er seine Strategie und stieß irgendwann auf die privaten Einträge des Kommandanten. Die Neugierde siegte über die Scham in fremden und privaten Gedanken zu stöbern, aber auch hier zeigte sich bald, dass die Hoffnung auf intime Einblicke sich nicht erfüllen würde. In ähnlich gehaltenem Wortlaut wurden Personal, Schiff und Missionen bewertet. Sentry wollte schon auf Lesestoff aus der hiesigen Bibliothek umsteigen, als zwei Worte seine erloschene Neugier erneut anfachten. Mission Antibiotika.

Wie in einem Buch was langweilig war, aber man trotzdem wissen wollte, wer denn am Ende der Mörder ist, hatte Sentry den letzten privaten Eintrag aufgerufen. Warum war die „Viajera“ auf Yuma-Prime gestrandet? Nachdem er sich durch den Status der Reparaturarbeiten durchgearbeitet hatte, stieß er auf Kommentare zu Antibiotika. Was zuerst nach einer medizinischen Versorgungsaktion klang, war eine reine Waffenlieferung. Soweit er die Kommentare richtig deutete, sollte es die erste für die „Viajera“ werden. Die Zweifel des Kommandanten schwangen in jedem seiner Worte mit. Jetzt war er aufgeregt. Bewaffnete Konflikte waren der Beginn der großen Katastrophe. Die Aufzeichnungen fielen offensichtlich in die Zeit. Hastig verschlang er die Worte der Aufzeichnung, immer in der Hoffnung endlich Näheres über den Entwicklungsknick der Menschheit zu erfahren. Nichts Erhellendes, bis auf ein Wort, was ihn ordentlich verunsicherte. Cree.

Offensichtlich das Ziel der geplanten Lieferung. Weiter verschlang er die Worte und langsam nervte ihn die persönliche Meinung des Kommandanten zur Waffenlieferung. Es verhinderte den Blick auf das Wesentliche. Wie Rosinen auf einem Kuchen, musste er sich mühsam das wirklich Wissenswerte heraus picken. Nachdem er alles dreimal durchgelesen hatte und sicher war, dass er nichts übersehen hatte, baute er sich die Informationen zu einer Geschichte zusammen. Er würde es später mit Baltas Kombinationsgabe abgleichen müssen, aber das, was er hier herausgefunden hatte, war ohne Zweifel Dynamit.      

Die „Viajera“ war mit ihrem Konvoi auf Yuma-Prime angekommen, aber ein technischer Defekt zwang sie zu einem längeren Aufenthalt auf dem Planeten. Damals ahnte der Kommandant nicht, dass der Wartungshangar die letzte Station in seinem Leben werden sollte. Drei Wochen waren geplant für die Reparaturen, aber wie dann der Konvoi wieder erreicht werden sollte, ging nicht aus den Aufzeichnungen hervor. Dieser zog vorerst ohne das Schiff weiter, damals schon mit Hilfe der Exsons. In den Logbüchern wurden sie schlicht mit Nummern bezeichnet. IR-2212-13 war die Bezeichnung für das geplante Transferschiff. Das Ziel war nicht wie zuerst angenommen Cree, sondern der freie Raum nahe des Planeten und da lag das erste Mysterium. Offenbar wollte man sich der Öffentlichkeit entziehen und wenn er die Worte des Kommandanten richtig deutete, spekulierte dieser mit einer Invasion auf Cree. Mehr als einmal nutzte er das Wort Angriff. Der Versuch einen Zeitabgleich zu machen schlug fehl. Es war unmöglich eine Referenz zu finden, um die Geschehnisse passend einzuordnen. Auch wenn viele Informationen verloren gegangen waren, Cree war nie Ziel einer militärischen Invasion gewesen. Dieser Umstand konnte als gesichert angesehen werden. Ganz im Gegenteil. Man hatte zwar im Zuge der großen Katastrophe den größten Teil seiner Bevölkerung verloren, aber selbst in den Kriegswirren danach, gab es keine nennenswerten Angriffe. Zu wenig entwickelt war die neuste Kolonie der Menschen. Durch seinen natürlichen Ursprung diente der ganze Planet eher als Erholungsparadies. Also warum zum Teufel sollte gerade da eine Invasion stattfinden und einen Bürgerkrieg auslösen?

Er war sich also sicher, dass die Invasion nie stattfand. Schlimmer noch. Der Kontakt zum Versorgungskonvoi brach eines Tages ab. Zwölf Schiffe und ein Exson verschwunden in den Weiten des Alls. Die Reparaturen auf der „Viajera“ waren längst abgeschlossen, aber dem Kommandanten fehlte die Möglichkeit zum Weitertransport. Er konnte nicht einfach ein anderes Transferschiff nehmen bei der Ware und so fiel dann der ungeplante verlängerte Aufenthalt den örtlichen Behörden auf. Mit einer Ladung voller Waffen wurde die Besatzung dann irgendwann mit der Justiz konfrontiert und da offiziell landwirtschaftliche Werkzeuge transportiert wurden, ging die Sache für ihn und seine Mannschaft vermutlich nicht gut aus. Von da an gab es keine Aufzeichnungen mehr, weder von ihm noch von potentiellen Nachfolgern.

Zwei Dinge machten Sentry an dieser Geschichte neugierig. Zum einen natürlich die Raumkoordinaten mitten im Nichts und zum anderen die Bezeichnung IR-2212-13. Letzteres gab bei der Recherche nicht viel her. Ursprünglich gab es 15 dieser riesigen Transferschiffe. Sieben davon werden jetzt durch die Exson genutzt, drei weitere dienen als Ersatzteillager und sind an einem geheimen Ort, um sie vor Plünderern zu schützen. Von drei Transferschiffen weiß man, dass sie bei kriegerischen Konflikten in der Vergangenheit zerstört wurden, während zwei weitere als vermisst gelten. Es dauerte ein wenig, um die Seriennummern der von Exson in Besitz genommenen Schiffe heraus zu bekommen, aber nachdem er sie hatte, merkte er erleichtert, dass IR-2212-13 nicht dazu gehört. Damit war die Wahrscheinlichkeit, dass sie eines der vermissten Transferschiffe ist, relativ hoch und in Kombination mit den Raumkoordinaten überschlugen sich Sentrys Fantasien über den Standort von IR-2213-13. Er musste seine Geschichte unbedingt mit Balta abgleichen, auch wenn dass bedeuten sollte Fehler in seinen Überlegungen zu haben und damit großer Enttäuschung entgegen zu sehen. 

Er war aufgeregt, als er der Gruppe seine Erkenntnisse kundtat. Balta lächelte an einigen Stellen, so als wollte er ihn loben für die richtig geschlussfolgerten Erkenntnisse und Sentry seinerseits merkte, dass er die Anerkennung genoss. Zum Glück hatte er sich eine Art Rettungsanker zugelegt, den er jedes Mal auswarf, sobald er zu viel Vertrauen in Baltas Richtung schickte. Er musste auf der Hut sein, denn die Gefahr manipuliert zu werden bestand jederzeit. Ein gesundes Maß an Misstrauen hielt er immer vorrätig, denn trotz der vergangenen Ereignisse, wusste er Balta immer noch nicht richtig einzuschätzen.

„Du hast Recht. Eine gewisse Wahrscheinlichkeit besteht, dass eins der vermissten Exsons genau dort ist. Allerdings bin ich nicht ganz so euphorisch wie du. Zu viele Unbekannte. Die Koordinaten könnten wir allerdings als Ersatz für das fehlende Ersatzteil anbieten. Wir müssen es nur richtig verkaufen.“ Balta klang wohlwollend, was Sentry die folgenden Worte umso schwerer machte. Bevor er die richtige Formulierung finden konnte, kam ihm Balta zuvor.

„Du hast deine Entscheidung getroffen. Du willst nach Cree.“ Es lag keinerlei Enttäuschung in seiner Stimme.

„Die rationalen Argumente sind immer noch dürftig, aber irgendwie schreit alles in mir danach dahin zu gehen. Ich kann es schwer erklären.“

„Vielleicht bist das nicht du, der da hin will.“ antwortete Balta und bestätigte damit Sentrys Misstrauen. Die Worte verfehlten trotzdem nicht ihre Wirkung. Das wusste er wirklich nicht und vielleicht fand die Manipulation in seinem Inneren statt, durch die unbekannte Persönlichkeit, die in ihm ruhte. Perfide drückte es die Knöpfe, um ihn nach Cree zu bringen. Nein unmöglich, das war er. Sentry, geboren auf Reds Schiff. Eigenständige Persönlichkeit, mit eigenen Entscheidungen und persönlichen Erfahrungen. Er hatte keine andere Wahl, als sich selbst zu vertrauen und wenn sich am Ende herausstellen sollte, dass er nur eine Majornette war, an dessen Fäden gezogen wurde, um irgendwelche fremden Ziele zu erreichen, war er sowieso verloren. Selbstzweifel sind immer hinderlich, also stand er auf, wischte Baltas Bemerkung mit einer Handgeste förmlich weg und bestätigte selbstbewusst seinen Entschluss.

„Ja, wir …, nein ich gehe nach Cree. Es wäre bedauerlich, wenn du uns verlassen würdest, aber ich würde es verstehen. Sollte Cree sich als Hirngespinst erweisen, ist die Science mein nächstes Ziel.“ Es waren keine höflichen Floskeln, die er Richtung Balta schickte. Tatsächlich gab er der Gruppe mit seinen Erfahrungen eine gewisse Sicherheit. Sentry war sich unsicher, ob sie mittlerweile allein zu Recht kamen. Mit seiner Führung wäre es auf alle Fälle einfacher und so war er froh über die folgenden Worte.

„Ich kann dich nicht zwingen zur Science zu gehen, selbst wenn ich es wollte. Meine einzige Hoffnung ist immer noch, dass du es irgendwann freiwillig tust. Die vielen Jahre haben mich geduldig gemacht. Gehen wir nach Cree und überzeugen uns von deinen Intuitionen.“ Wieder willigte Balta ohne große Gegenargumente ein und fütterte damit weiter Sentrys Misstrauen. Trotzdem überwog die Erleichterung.

Die Uhren zeigten 25 Minuten bis zum Sprung. Jetzt, wo das Ziel bekannt war, galt es einen Plan auszuarbeiten. Sie hatten nur die Hälfte der geforderten Entlohnung für den Transfer, aber ihr Joker war Cree selbst. Da die Exsons den Planeten ignorierten, konnten Händler mit Überlichtantrieben ein gutes Geschäft machen. Selbst wenn Gerda sich weigern würde sie dort hin zu bringen, waren mögliche Alternativen vorhanden. Sie würden dann vermutlich eine Menge Zeit verlieren und die Gefahr war groß an einen zweiten Odin zu geraten, daher war Gerda schon die bevorzugte Variante. Diese hatte sich als knallharte Geschäftspartnerin herausgestellt und die einzige erkennbare Schwäche war Eva. Warum auch immer, jedenfalls sah es Balta als die beste Verhandlungsstrategie an, ihr das Reden zu überlassen.

Eva war erfahren im durchsetzen ihrer Interessen. Eigentlich waren es die Interessen des Tempels und meist hatte sie es mit eher einfachen männlichen Gemütern aller Eric zu tun. Trotzdem freute sie sich auf die Herausforderung. Damals schuf sie sich immer ein Gebilde aus Lügen und Ausflüchten. Alles sehr fragil, aber die beschränkte Intelligenz ihrer Opfer und ihre weiblichen Reize bescherten ihr leichtes Spiel. Unterbewusst genoss sie es, denn der perfekte Betrug gelang nur, indem sie die Regeln des Tempels ignorierte. Eine legale Zuflucht aus den Ketten ihres Dogmas. Mehr als einmal erwischte sie sich dabei, die Grenzen freiwillig und unnötig zu übertreten. Ihr Unterbewusstsein suggerierte ihr die Rechtmäßigkeit ihres Handelns und belohnte sie mit ungewohnten Glücksendorphinen. Jetzt war dieser Selbstbetrug unnötig. Sie war klug genug zu wissen, dass bei der bevorstehenden Aufgabe Ehrlichkeit der Schlüssel zum Erfolg sein würde, also brauchte sie erst gar nicht versuchen eine Geschichte zu konstruieren. Eine weiterer Schritt hin ihre Talente an die neuen Gegebenheiten anzupassen, denn obwohl ihre zwischenmenschlichen Fähigkeiten immer noch tief im roten Bereich waren, hatte sie ein Händchen dafür, Leute von ihrem Vorhaben zu überzeugen.

Sie war aufgeregt, als sie die Fähre nach Cayuse betrat. Eine Mischung aus Vorfreude auf ihre Aufgabe und neuen Erlebnissen auf einer fremden Welt. Sie kannte nur Lassik mit seinem verschlafenen Landleben. Alles, was sie aus der Datenbank des Exsons hatte, wies auf eine viel größere Bevölkerung hin. Nahrungsmittel waren hier nicht das natürliche Hemmmittel, um die Einwohnerzahl auf einem überschaubaren Level zu halten. In den letzten Jahren hatte das Wachstum sprunghaft zugenommen und dementsprechend gab es ein Überangebot an ungelernten Arbeitskräften. Diese machten bestimmte Dienstleistungen zu einem wahren Schnäppchen. Es fand sich meist immer jemand, der zum Beispiel einen Transport von A nach B günstiger anbot als sein Kollege von nebenan. Die Nachteile dieses Überangebotes sollte sie später halb zur Verzweiflung treiben, aber derzeit war sie noch voller Vorfreude auf Cayuse.

Die Einreisebestimmungen waren lax. Offenbar machten sich die Behörden nicht viel Sorgen über ungebetene Gäste. Jeder schien willkommen und die Freundlichkeit der Einheimischen unterstrich den naiven Eindruck, den Eva von Cayuse als wesentliches Merkmal wahrnahm. Übermäßig viel wurde sie angelächelt und hatte sie es zuerst auf ihr gutes Aussehen geschoben, merkte sie bald, dass auch alle Anderen diese Herzlichkeit bekamen. Auf den Weg zum Ausgang des Raumhafens musterte sie die Einheimischen ohne Scheu und diese quittierten ihre Neugier mit einem aufrichtigen Lächeln. Unweigerlich kam ihr der Vergleich zu Lassik in den Sinn, deren Bewohner geplagt durch die Sorgen ihres Lebens und der erhöhten Schwerkraft gebeugt vor Gram keinen Moment an Fremde verschwendeten. Sicherlich gab es auch hier Probleme, die vergleichbar waren, aber schlechte Laune schien hier nicht aufzukommen. Ein entscheidender Vorteil war sicherlich die permanente Sonne und gleich bleibende Temperaturen um die 30 Grad. Die dunkle Haut und das pechschwarze Haar, waren neben dem sonnigen Gemüt, die Erkennungsmerkmale der lokalen Bevölkerung und Eva mit ihrer Blässe und den blonden Haaren stach heraus, wie eine leuchtende Blume auf einer Wiese voller Grashalme. Keine Zweifel an ihrer Auswärtigkeit und damit einhergehend an ihrem scheinbaren Wohlstand.

„Hört zu. Die Leute hier sind furchtbar arm und wir werden in erster Linie als wandelnde Jetons angesehen. Es gibt hier Taschendiebe ohne Ende. Solltet ihr etwas kaufen oder bezahlen, müsst ihr immer handeln und selbst dann werdet ihr noch drauf zahlen.“ Balta trat als erstes durch die Ausgangstür ins Freie. Sofort war er umringt von einem halben Dutzend Männer. Eva versuchte aus dem Gewirr von Stimmen heraus zu hören, was die Männer wollten. Einen Transport in die Innenstadt bot jeder an. Sie hörte auch die Wörter Unterkunft und Restaurant raus. Als letztes bot sogar jemand eine Frau an, was Balta als Einziges mit einem „später vielleicht“ abwimmelte. Alles Andere wurde von ihm konsequent ignoriert. Nachdem die Männer merkten, dass sie bei ihm auf Granit bissen, konzentrierten sie ihre Energie auf neue Opfer. Bevorzugt wurden dabei die Frauen, wobei Dina ihnen schnell klar machte, dass all zu penetrantes ignorieren ihres Neins, ihnen unangenehme Nachwirkungen bescheren könnte. Nun war es also an Eva mit der Traube von aufdringlichen Anbietern klar zu kommen. Da sie keine konsequente Ablehnung auf eines der Angebote hinbekam, sahen sich ihre Angreifer ermutigt ihre Intensitäten zu verstärken. Mit einem Mal wurden sie regelrecht zudringlich und versuchten sie an einem Arm in die gewünschte Richtung zu ziehen. Eric beendete für sie das unsägliche Gezerre mit ein paar derben Worten und zum ersten Mal war sie froh, dass er so war, wie er war.

Balta steuerte zielstrebig auf einen der Personentransporter zu und wies die Anderen an mit einzusteigen. Kurzes Feilschen mit dem Fahrer, wobei die Gruppe drauf und dran war wieder auszusteigen, aber man konnte sich auf einen für alle Beteiligten zufrieden stellenden Preis einigen. Natürlich versuchte der Fahrer unterwegs ihnen besonders billige Angebote an Unterkünften, Nahrung oder sonstigen Plunder zu vermitteln und Balta musste mehrmals darauf hinweisen, dass er nur an dem Transfer in die bei Raumfahrern beliebte Bar interessiert war. Zwanzig Minuten dauerte es, bis sie diese erreichten, wobei durch den zähflüssigen Verkehr allein zehn Minuten durch reine Standzeit verloren gingen. Cayuse war ein Gewimmel aus abenteuerlich zusammen geschusterten Vehikeln. Zwei Räder, einen Elektroantrieb und ein Lenker. Aus mehr bestanden die meisten Gefährte nicht und die Beschränkungen, gerade mal eine Person damit transportieren zu können, wurden kreativ ignoriert, indem man mit waghalsigen Konstruktionen alles Mögliche, von Kisten, über Säcke, Hühnerkäfige bis hin zu der fünfköpfigen Familie darauf balancierte. Eva fand es unglaublich wie viel Leben in den Straßen steckte und der permanente Grundlärm, kombiniert mit dem Geruch von Urin und Müll, überforderte sie anfangs gewaltig. So etwas war sie nicht gewohnt und sie musste sich eingestehen, dass ihr das beschauliche Leben auf Lassik auf ein Mal wie das Paradies vorkam. Sie schaute rüber zu Eric, der wild kommentierend sich über einzelne Einwohner lustig machte. Sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er damit seine eigene Unsicherheit überspielte. Auch er war diesem Trubel nicht gewachsen.

Der Fahrer setzte sie hundert Meter vor dem eigentlichen Ziel ab. Zu eng war die Gasse, in der sich die Bar befand, als das er sie direkt davor hätte abladen können. Als Eva den Transporter verlies, schwante ihr nichts Gutes. Die letzten Meter bis zum Ziel waren gesäumt von einer Anzahl unzähliger Verkaufsstände und so wie sie die Bewohner bisher kennen gelernt hatte, würde das ganze zu einem Spießrutenlauf verkommen. Härte und Ignoranz waren die geeigneten Gegenmittel für das Bevorstehende. Eigentlich genau die Eigenschaften, die sie versuchte abzulegen. Sie hatte vom Raumhafen gelernt. Schwäche würde sie anfällig machen für besonders penetrante Verkäufer, also atmete sie tief durch und schnitt sich eine Schneise durch die sie bedrängenden Menge. Es war unglaublich was ihr alles angeboten wurde. Exotische Nahrungsmittel, Kleider, Potenzmittel (für den versagenden Liebhaber), gefälschte Id’s, Waffen, Massagen und natürlich Unmengen von Schmuck. Alles wirkte unfassbar billig gemacht und der Eindruck, dass der ganze Plunder nicht bis zum nächsten Sonnenaufgang halten würde, machte es ihr leicht das Ganze zu ignorieren. Bis auf Eric, schafften es auch die Anderen sich den vermeintlichen Schnäppchen zu entziehen. Seine Sirenen verführten ihn mit Technik. Zum Glück schaffte es Balta ihn aus den kunstvoll aufgebauten Illusionen der Verkäufer zu befreien, bevor er unnötig Jetons für wertlosen Schrott verschwendete.                  

Sie betraten die Bar ohne auch nur einen Jeton weniger. Eine Leistung, die die Wenigsten auswärtigen Gäste hinbekamen. Eva hoffte auf Ruhe in den Wänden des Etablissements, aber die Lautstärke ging nahtlos über in eine Unzahl von angetrunkenen Gästen. Die Hintergrundmusik verlor sich in dem Gewirr von Stimmen und die Luft war von Tabakqualm erfüllt. Dick und schwer hingen die Schwaden in der Luft und erschwerten das Atmen. Ein paar Türsteher musterten sie kurz, fanden aber keinen wirklichen Grund ihnen den Zutritt zu verwehren. Einen freien Tisch zu bekommen war unmöglich, also tranken sie ihr erworbenes Bier im Stehen.

„Was machen wir jetzt?“ fragte Eric ungeduldig.

„Wir warten. Heute ist der Stichtag, also müsste Gerda irgendwann auftauchen.“ Balta schaute sich suchend um, konnte aber niemand Bekanntes erkennen.

Eva bevorzugte ein alkoholfreies Getränk und zog sich damit den Unmut des Wirtes zu. Sie wollte klaren Kopf behalten und so was wie Alkohol war sie nicht gewohnt. Die Bar war schlicht gehalten und ihr auffälligster Punkt war der O-förmige Tresen in der Mitte, in einer ansonsten spärlich eingerichteten Halle. An der Decke hingen ein paar Lüfter, die gegen die Hitze und den Tabakqualm einen aussichtslosen Kampf führten. Ein paar von Sesseln gesäumte Tische standen an den Außenwänden und ansonsten gab es nur Stehtische, denen man nicht nur die jahrelange Nutzung als Getränkehalter ansah, sondern auch den Siff verschütterter Spirituosen. Die Befürchtung, dass den Gläsern hier ähnlich wenig Hygiene zukam, ließ Eva nur an ihrem Getränk nippen. Sie beobachte die wenigen Bedienungen, die zwischen den Gästen hin und her flitzten. Es war unmöglich ihr Alter zu schätzen, aber die jahrelange Zigarettenqualm vergiftete Atmosphäre aus Stress, ließ sie vermutlich schnell altern. Jedenfalls hatte Eva den Eindruck junge Mädchen in Körpern alter Frauen vor sich zu haben. Die Kundschaft war eine Mischung aus verschiedensten Welten dieser Galaxie. Sie glaubte sogar Leute aus Lassik zu erkennen, die unverkennbar das breite Kreuz besaßen. Angetrunken standen sie in der Ecke, die Biergläser in der Hand und versuchten den allgemeinen Lärmpegel in ihren Unterhaltungen zu übertönen. Sie gliederten sich so passend in das Gesamtbild ein, als würde neben den Tischen hier weiteres Inventar Tag für Tag der Abnutzung ausgesetzt. Ihr Zustand war jedenfalls ähnlich erbärmlich, wie das Mobiliar. Ein paar Männer in zerschlissenen Hosen und mit furchtbar schlechten Zähnen versuchten mit ihr zu flirten, aber sie erwiderte ihre Blicke nicht und so hielt sie sich nah an Balta, um mit ihrer Körpersprache eventuellen Werbungsversuchen zu entgehen. Ob nun verbrauchtes Personal oder alkoholabhängige Kundschaft, der gesamte Ort verbreitete den Charme gescheiterter Ambitionen und der Trubel konnte die vorherrschende Depression nicht annähernd kaschieren. Jeder hier in dieser Bar machte sich was vor. Ein Schaulaufen der Eitelkeiten. Man wollte besser sein als die Anderen und das zeigte man in dem übermäßigen Konsum von Alkohol und tarnte das Ganze als Feier in der Hoffnung ein gutes Geschäft zu machen. Am Ende ging es bei jedem hier um die Existenz und das machte die Leute in dieser Bar austauschbar.

Sie fühlte sich nicht wohl an diesem Ort. Die vorherrschende drückende Grundstimmung stand im Gegensatz zu ihrer gerade erblühenden Selbstsicherheit. Je länger sie auf Gerda warten mussten, umso schwieriger würde das Unterfangen werden. Als würde sie sich mit jeder vergeudeten Minute mehr an die Umgebung anpassen und so war sie froh endlich das bekannte Gesicht an der Bar auszumachen. Balta gab noch letzte Anweisungen und Sentry bot sich an sie zu begleiten, was sie dankend annahm. Auch wenn alles an ihr hing, gab er ihr den nötigen Halt. Sie gingen zu zweit rüber und schon aus der Ferne trafen sich ihre Blicke. Mit einem Kopfnicken deutete Gerda auf einen Tisch, der wie von Geisterhand plötzlich frei war und dort setzten sie sich, um in die Verhandlungen einzusteigen.

 „Hallo Gerda. Mein Name ist Eva.“ sagte sie selbstsicher. Ein weiterer Baustein, die Verhandlungen persönlicher zu gestalten.

„Clevere Strategie dich vorzuschicken.“ durchschaute Gerda sofort Baltas Plan. Eva verunsicherte das nur kurz. Sie hatte damit gerechnet, dass es zu offensichtlich sein würde. Sentry stellte sich kurz vor und das gab ihr die nötige Zeit, um ihre weiteren Schritte zu überdenken.

„Soweit zu den Höflichkeiten.“ Gegen Gerdas enorme selbstsichere Ausstrahlung war es schwer zu bestehen. Alles schien perfekt zusammen zu passen. Ihr Auftreten, ihr Aussehen, selbst ihre Stimme zeugten von unendlichem Selbstbewusstsein. Sie schaute Eva tief in die Augen, so als wollte sie sie auffordern endlich zur Sache zu kommen.

„Wir haben nur eines der Teile, die auf der Liste standen.“ fing Eva an und war froh, dass Gerda sie nicht sofort sitzen ließ.    

„Gut, aber ihr kennt meinen Preis.“ erwiderte Gerda und überließ ihr damit weiterhin die Verhandlungsposition.

„Jetons. Wir haben genug, um den Wert einiger Teile in Jetons aufzuwiegen.“ Eva klang immer noch selbstsicher.

„Und wer hat den Wert der Teile festgelegt? Du? Was habt ihr noch?“ Kein Anzeichen dafür, dass Gerda interessiert war.

„Das Ziel selbst. Cree ist von den Exsons abgeschnitten. Ein cleverer Händler kann da sicherlich gute Geschäfte machen.“ Das war Evas vorletzter Trumpf. Dann blieb nur das verschollene Exson. Immer noch hatte Gerda dieses Pokerface aufgesetzt. Wenn sie den Preis weiter in die Höhe treiben wollte, ging das nur über die Jetons. Eva berechnete bereits wie viele sie noch entbehren konnten, als sie den prüfenden Blick Gerdas auf sich spürte.

„Warum?“ fragte diese nur geheimnisvoll. Der verwirrte Blick Evas zwang sie zu näheren Erklärungen.

„Es ist nicht nur eine Frage des Preises. Ich würde gern wissen, warum du nach Cree willst?“ 

„Wir erhoffen dort Antworten auf meine Vergangenheit.“ hakte Sentry ein.

„Damit wissen wir, was du da willst. Aber was ist mit ihr?“ Da war es wieder, dass uneingeschränkte Interesse an Eva.

„Ich helfe ihm dabei.“ Eva legte das letzte bisschen Selbstsicherheit in diese Worte.

„Blödsinn. Ich werde euch nach Cree bringen. Du musst mir nur sagen, wovor du davon läufst.“

„Da gibt es nichts.“ Zum ersten Mal klangen die Worte sehr dünn.

„Ich bin sicher ihr findet hier jemand Anderes, der euch nach Cree bringt.“ Gerda stand auf und war im Begriff zu gehen.

„Warte.“ Erst jetzt merkte Eva, dass sie einen wunden Punkt getroffen hatte. Gerda setzte sich wieder und ein paar Minuten saßen sie nur schweigend da. Sie war auf der Flucht, aber nicht vor dem Tempel oder Dart. Nein sie floh vor ihrem alten Ich. Ein Ich, welches ihre Schwester im Stich gelassen hatte, ihren Vater, ihre Familie. All die Ausreden, Sentry zu begleiten, weil sie keine Alternative sah und als Staatsfeind nicht zurück in ihre Heimat konnte, verschleierten nur geschickt ihr wahres Dilemma. Diese Frau hatte ihr mit einem Schlag die Augen geöffnet. Wenn sie jemals Frieden finden wollte, musste sie zurück nach Lassik. Diese Erkenntnis spiegelte sich in ihrem Gesicht wieder und rang Gerda ein wissendes Lächeln ab.

„In zehn Stunden am Hangar 22. Seid pünktlich, ich werde nicht warten.“ Damit verzichtete Gerda auf die verbale Antwort und ließ die beiden sitzen.

„Interessante Frau.“ Sentry schaute verwirrt drein. Sie waren nun allein. Ein Zustand, der nicht lange anhalten würde, also nutzte Eva die Zweisamkeit zur Bestandsaufnahme.

„Sie hat Recht. Die Lösung meiner Probleme liegt auf Lassik. Mein Vater. Meine ….“ Sie zögerte die traurige Wahrheit auszusprechen.

„Das hat sie vermutlich. Irgendwann wirst du zurück müssen.“ Das Schlüsselwort war irgendwann. Wann war der richtige Zeitpunkt? Mit Sicherheit nicht jetzt. Sie stand erst am Anfang ihrer persönlichen Selbstfindung. Unabhängig von Vater oder dem Tempel musste die neue Eva gedeihen. Zu zerbrechlich war sie noch, um die alten Einflüsse erfolgreich abwehren zu können. Das unbekannte Schicksal ihrer Schwester machte sie unruhig, aber sie zwang sich die Gewissheit über das Unausweichliche in die ferne Zukunft zu verschieben. Die Endstation ihrer Reise war dort, wo alles begann. Nun war es an ihr, wie breit sie den Bogen spannte um dorthin zurück zu gelangen.

„Wie ist es gelaufen?“ fragte Eric und stand damit stellvertretend für alle Anderen, die ebenfalls wissen wollten, ob sie nun einen Transport nach Cree haben.

„Sie macht es.“ antworte Eva geistesabwesend.

„Du bist die Beste.“ kam es von Eric überschwänglich, aber Eva war noch in Gedanken versunken, um die offensichtliche Speichelleckerei zu registrieren.

„Da machen wohl einem die Hormone zu schaffen.“ kommentierte Dina in üblicher Manier Erics Verhalten. Dieser hatte sich angewöhnt auf Konfrontation zu gehen.

„Ich glaube nicht, dass du es hinbekommen hättest. Dafür fehlt dir das Feingefühl.“ Das Kontern von Dinas Bemerkungen war immer noch in der Entwicklungsphase, aber immerhin wurde er schon selbstbewusster.

„In Sachen Feingefühl lass ich mich bestimmt nicht von dir belehren.“ Der Sieg lag damit endgültig auf Dinas Seite.

„Alles klar?“ wandte sie sich nun an Eva und die riss sich endgültig aus der Grübelei.

„Ja. Alles bestens. Wir haben zehn Stunden. Also lass uns ein wenig die Stadt erkunden.“

„Nur wir Mädels. Sollen die Kerle sich hier betrinken. Wir gehen einkaufen.“ Sie hakte sich bei Eva unter und zog sie Richtung Ausgang. Zurück blieb peinliches Schweigen, dass erst durch Baltas Ankündigung, die erste Runde ginge auf ihn, durchbrochen wurde.

Das erste Bier tranken sie ohne ein Wort zu sagen, erst mit der zweiten Runde lockerten sich die Zungen.

„Eva gefällt dir?“ sprach Balta das Offensichtliche an. Eric schaute verlegen zu Boden.

„Ist doch in Ordnung. Sie ist wirklich ein hübsches Mädel und einen guten Charakter hat sie auch. Wenn die Gehirnwäsche aufhört zu wirken, wird sie ein richtiges Juwel.“

„Meinst du ich hätte Chancen bei ihr?“ fragte Eric nach einer kurzen Pause.

„Derzeit bist du nicht die Nummer eins. Aber nichts ist endgültig. Glaub mir. Chancenlos bist du nicht.“ Beide Blicke fielen auf Sentry.

„Oh nein. Ich komme zwar mit ihr mittlerweile ganz gut klar, aber mehr ist da nicht.“ Tatsächlich hatte er Eva höchstens als gute Freundin gesehen.

„Dir vernebelt jemand Anderes den Blick.“ spielte Balta damit auf Sentrys weibliche Vorliebe an. Dina bündelte sein komplettes Interesse an der holden Weiblichkeit. Hatte er damit Signale von Eva übersehen?

„Damit kommst du ins Spiel. Der Sommernachtstraum ist dagegen Laienschauspiel.“ Auch wenn Eric den letzten Satz nicht zuordnen konnte, wusste er worauf Sentry anspielte.

„Wie kann man sich um diese Frau streiten. Die ist furchtbar.“ Eric schüttelte ungläubig den Kopf.

„Nein ist sie nicht. Ganz im Gegenteil. Man hat sie verletzt und sie weigert sich das Heilmittel einzunehmen. Es wäre für sie Verrat die Vergangenheit ruhen zu lassen. Es treibt sie an. Nur eine reizvolle Alternative holt sie aus diesem Teufelskreis heraus. Ich kann sie ihr nicht bieten, aber vielleicht hast du mehr Glück.“ Balta wandte sich an Sentry.

„Du hast einen guten Einfluss auf sie. Sie würde sich das nie eingestehen, aber irgendwann wird es auch ihr bewusst werden, dass ihre Rache nicht der einzige Grund ist dir zu folgen.“

„Es ist so schon alles kompliziert genug. Gefühle sind eine zusätzliche Bürde.“ erwiderte Sentry.

„Da irrst du dich. Sie machen uns erst richtig lebendig.“ beendete Balta die Frauenanalyse, trank sein Bier aus und verabschiedete sich ebenfalls in den Trubel der Stadt. Nun war Sentry mit Eric allein, was für beide unangenehm war. Außer ein paar höflichen Floskeln kam kein vernünftiges Gespräch zu Stande, was ihn veranlasste, ebenfalls die Bar zu verlassen. Ziellos irrte er durch die Stadt, immer mit dem guten Gewissen jederzeit mit Hilfe der Einwohner zurück zu kommen. Er kam sich einsam vor in der für ihn fremden Umgebung. Die Zeit zog sich wie Kaugummi und die letzten Tage mit ihren gewohnten Abläufen schien schon eine Ewigkeit her. Vielleicht war es ganz gut ein wenig Abstand von der Gruppe zu bekommen, denn die Reise nach Cree würde vier Wochen dauern. Kein Sprungantrieb, der sie innerhalb weniger Sekunden Lichtjahre weit weg transportieren würde. Eine langsame zähe Reise lag vor ihnen. Der Überlichtantrieb schien unter diesen Gesichtspunkten wie eine veraltete Technologie, hatte aber den entscheidenden Vorteil unabhängig von irgendwelchen Exsons überall hinreisen zu können. Die Navigation war bei dieser Art der Fortbewegung die Herausforderung. Enorme Rechentechnik war notwendig, um alle Eventualitäten zu berücksichtigen. Das Herstellerdatum dieser Technik lag weit in der Vergangenheit und machte jede Reise zum Glücksspiel. Die Gefahren wurden ihm auf dem Exson bewusst. Geschichten über gestrandete Schiffe, die weit vom Kurs abkamen und durch Treibstoffmangel in den weiten des Alls verschollen waren, gab es Zuhauf in der Bibliothek. Es brauchte schon eine Menge Erfahrung durch die Mannschaft, um das Ziel sicher zu erreichen. Dahin gehend hatte er Vertrauen in Gerda. Eine Frau die faszinierend auf ihn wirkte, nicht auf die Art und Weise wie Dina, aber trotzdem interessant und er hoffte in der gemeinsamen Zeit mehr über sie zu erfahren. 

Er schlenderte weiter durch die Gassen und plauderte mit ein paar Einheimischen, die in der Aussicht was verkaufen zu können, bereitwillig Zeit opferten. So erfuhr er Einiges über Cayuse. Die Schere zwischen Arm und Reich war enorm, wobei die Letzteren deutlich in der Unterzahl waren. Unzählige Manufakturen stellten Kleidung her, die dann über den Handel auf anderen Welten verkauft wurde. Der Lohn der Arbeiter reichte gerade für Essen und Unterkunft. Die Hälfte der Bevölkerung lebte mehr oder weniger direkt von der Textilindustrie, wobei sie sich die eigenen Produkte kaum leisten konnten. Ausschussware war daher sehr begehrt und obwohl hohe Strafen auf die Produktion von minderer Qualität lagen, schien die ganze Bevölkerung mit solcher Kleidung rum zu laufen. Man konnte sie praktisch an jeder Ecke kaufen. Wenige Läden boten die erste Wahl an, denn Kundschaft mit dickeren Geldbeuteln fanden sie fast ausschließlich nur bei Fremden. So dauerte es auch eine Weile bis Sentry vernünftige Kleidung erblickte und in der Aussicht seine zerschlissenen Sachen endlich entsorgen zu können, leistete er sich ein komplettes neues Äußeres.

Die neue Kleidung auf der Haut gab ihm ein gutes Gefühl und als er sich eine Stunde vor dem Abflug wieder in der Bar einfand, war er wenig überrascht, dass die Mädels ebenfalls mit neuen Sachen auftauchten. Er begutachtete Dina zuerst und war begeistert von ihrem Äußeren. Obwohl sie ihr Augenmerk auf einfache und praktische Kleidung gelegt hatte, passte die Zusammenstellung ideal. Ihre körperlichen Vorzüge wurden gezielt betont und sollte es so was wie Nachteile an ihr geben, wurden sie perfekt kaschiert. Passend mit der neuen Frisur, sie hatte die Haare etwas kürzer, fand er nur ein Wort, was ihr neues Aussehen annähernd beschrieb. Umwerfend.

Es war schwer sich der anziehenden Wirkung von Dina zu entziehen und selbst einfach nur den Blick abzuwenden schien, ihm fast unmöglich. Als es schließlich doch gelang, erwischte er Eva, wie sie ihn gerade begutachtete. Rasch wich sie seinem Blick aus und Sentry wurde bewusst, dass Balta Recht hatte. Er genoss es, aber diese Spannungen waren nicht gut für das Gruppengefüge. Um den Kopf frei zu kriegen und sich abzulenken, übernahm er kurzfristig Baltas Führungsrolle und besorgte ihnen einen Transport zum Raumhafen. Jetzt, wo die Verhältnisse klar angesprochen wurden, Sentry war sich sicher dass auch die Mädels kein anderes Thema bei ihrer Einkaufstour hatten, war die Stimmung verkrampft. Er musste das klären und vier Wochen auf Gerdas Schiff waren eine viel zu lange Zeit, um die unterschwelligen Gefühle erfolgreich zu ignorieren.

Das Schiff wurde gerade beladen, als die Gruppe eintraf. Es hieß „Perinola“. Diesmal musste Sentry lange suchen für eine passende Übersetzung, aber alles deutete auf etwas Schnelles hin. Im Vergleich zu den Schiffen, die er bisher gesehen hatte, war das ein relativ Großes. Das Frachtmodul nahm fast komplett den ganzen Raum ein und so wie er später erfuhr, war Hangar 22 für größtmögliche Frachtschiffe vorgesehen. Der Teil des Schiffes, welches den Antrieb und die Unterkünfte der Mannschaft beinhaltete, wirkte winzig und verloren. Wie eine Stecknadel, dessen Kopf aus einem riesigen rechteckigen Ziegelstein herausragte. Sentry zweifelte, dass dieses Gebilde in der Form sich jemals Richtung Weltall aufmachen konnte.

Gerda begrüßte sie in der für sie typischen unterkühlten Art. Keine großen Worte. Neben dem Ersatzteil wurden ihnen fast sämtliche Jetons für den Transport berechnet, so dass die Gruppe praktisch mittellos das Schiff betrat. Das würde ein Problem werden bei der Ankunft auf Cree, aber vier Wochen waren lang und keiner zerbrach sich unnötig den Kopf darüber. Notfalls würden sie ihre einzige verbliebene Waffe verkaufen.  

Sie mussten sich das Quartier zu fünft teilen. Reisen im interstellaren Raum war wohl immer eine Qual, ob nun mit der Illusion von Freiheit wie hier oder in einer Gefängniszelle auf Reds Schiff. Wie auf den anderen Schiffen auch, gab es als einzige Zuflucht vor dem drohenden Lagerkoller einen Aufenthaltsraum, in dem gleichzeitig die Mahlzeiten eingenommen wurden. Wenigstens waren Fitnessgeräte vorhanden, denn die Muskulatur, die Sentry auf Lassik so mühsam aufgebaut hatte, war mittlerweile fast komplett verschwunden. Wie Dina schon befürchtet hatte, waren Eva und Eric als Ureinwohner von Lassik dem geringeren Kalorienverbrauch nicht gewachsen. Besonders Eric sah man die Schwierigkeiten in Zunahme seines Fettgewebes deutlich an. Er hatte immer gut zu essen gehabt und in dieser Tradition haute er immer noch kräftig rein, sobald sich die Gelegenheit ergab. Vier Wochen war es her, dass er seine Heimat verließ und in Aussicht auf weitere vier Wochen voller eingeschränkten Bewegungsmöglichkeiten, schien Dinas Wette aufzugehen.

Die Stimmung war bedrückend. Jeder wusste, dass die bevorstehende Zeit auf diesem engen Raum für alle eine Herausforderung werden würde. Schweigend richtete sich die Gruppe in ihrem Quartier ein. Kurz vor dem Abflug berief Gerda alle in den Mannschaftsraum und diktierte die Regeln für den bevorstehenden Flug. Die Aufmerksamkeitsspanne war gering. Nur als sie auf das Thema Essen kam und so beiläufig erwähnte, dass die Verpflegung entweder aus Kaloriengetränken oder vollkommen vegetarischer Kost bestand, kam kurzer Missmut bei Eric auf.

Danach stellte sie die Mannschaft vor. Neben ihr als Kommandant, gab es da noch Sven den Navigator, Roland den Mechaniker und Nancy das Mädchen für Alles, die für die organisatorischen Dinge zuständig war. Letztere war auch für die Verpflegung verantwortlich und so abgemagert wie sie aussah, war klar, wer die Idee der Schonkost hatte.

Ein kurzes „hallo“, für mehr war vorerst keine Zeit. Alle Konzentration lag auf dem Start. Was Sentry schon vermutet hatte, bestätigte sich mit der Ankunft des Schleppers. Für die „Perinola“ war es unmöglich dieses gigantische Frachtmodul der Schwerkraft von Cayuse zu entreißen. Mit riesigen Klammern hob der Schlepper das Schiff in die Luft und ließ es erst wieder im Orbit los. Drei Stunden waren notwendig für einen Sicherheitsabstand zum Planeten. Der Überlichtantrieb änderte das Raumzeitgefüge um das Schiff und bewegt es innerhalb einer Blase voran. Alle Störeinflüsse würden diese platzen lassen, was wiederum nicht sehr vorteilhaft für sämtliche Dinge innerhalb der Blase wäre.

Nachdem sie weit genug entfernt waren, beschleunigte Gerda das Schiff. Der einzige Hinweis, dass sie überhaupt die Geschwindigkeit erhöhten, war das verstärkte Surren der Trägheitsdämpfer. Sentry befand sich mit den Anderen immer noch im Mannschaftsraum und der winzige Ausblick auf das riesige Weltall zeigte keinerlei Veränderung. Die Sterne änderten ihre Position nicht und gerade als er glaubte einem gut gemachten Schwindel auferlegen zu sein, durchbrachen sie die Lichtmauer.

„Wow.“ kommentierte Eric das Lichtermeer, das nun zu sehen war. Blitze aus dem kompletten Farbspektrum zuckten abwechselnd wie ein Gewitter durch die Schwärze des Weltalls. Was mit violett begann, änderte sich schnell über blau und gelb hin zu rot. Dann endete das freudige Farbenspiel und es blieb nur noch das Schwarz des Nichts übrig. Offenbar filterte die Blase bestimmte Wellenlängen. Das Licht prallte ab, wie Wasser an einer Tauchglocke und das Fehlen von den vertrauten Leuchtpunkten erstickte die gerade entstandene Euphorie. Für eine lange Zeit wird dunkles schwarz den Ausblick zieren. Sentry vermisste die Sterne jetzt schon.

 

 

XVII

„Nur durch Dunkelheit ist Licht hell; nur durch Trauer ist Freude schön.“

Sabine Lilienthal

 

Die Langeweile wurde unerträglich für Eva. Sie waren erst vier Tage unterwegs und schon hatten alle Probleme mit den engen Verhältnissen. Sentry und Balta gingen sich so gut es ging aus dem Weg. Sie persönlich hatte Probleme mit Dina und diese kabbelte sich zusätzlich noch mit Eric. Sie vertrieb sich die Zeit mit Büchern aus der umfangreichen Bibliothek, aber es war ihr trotzdem unmöglich die wachen Stunden sinnvoll zu verbringen. Umso dankbarer war sie, als Sven ihr anbot einen Einblick in die Welt der Navigation zu geben. Sie verstand nicht mal annähernd, was er ihr da erklärte, aber allein seine Anwesenheit tat ihr gut. Sein eher naives und gutmütiges Wesen war das komplette Gegenteil dessen, was sie bisher als menschlichen Charakterdurchschnitt betrachtete. Keine Spur von Egoismus. Seine sehr offene manchmal einfältige Art machte ihn anfällig für die Raubtiermentalität der meisten Kommandanten, die diese Galaxie durchstreiften. Zu schutzbedürftig wirkte sein Auftreten. Sie dachte an den Tempel und wie er das ideale Opfer für die Ideologie des Führers wäre. Er muss mächtiges Glück gehabt haben, bei Gerda untergekommen zu sein, denn jedes andere Schiff hätte ihn vermutlich längst verschlissen. Er war ein Rückzugsort, von dem garantiert keine Gefahr ausging und sein Auftreten wirkte wie ein Eric ohne Arroganz. Naiv, aber sympathisch.

Ohne das sie die Details verstand, zeigte er seine Algorithmen zur Berechnung eines Kurses und Eva wurde bewusst, wie komplex die ganze Sache war. Ein Geflecht an Programmen und Unterprogrammen erlaubte ihm eine Berechnungszeit unter zwanzig Minuten, was laut seiner Aussage nur die wenigsten Schiffe vorweisen konnten. Keine Frage hier saß ein Programmiergenie vor ihr und sie versuchte zu ergründen, warum Eric ihn mied. Sven war eine verbesserte technische Variante von ihm und weil er nicht den Weg der gesellschaftlichen Isolierung gewählt hatte, den nun mal so eine geistige Überlegenheit mit sich brachte, war es Eric wahrscheinlich unangenehm seinem besseren Ich gegenüber zu treten. Sven ist es weitaus besser gelungen mit seinem Handicap fertig zu werden, als ihm. Der Neid hielt letzteren davon ab sich zu nähern und das obwohl keiner ihn besser verstehen würde als Sven.

Er erklärte ihr gerade, welchen Einfluss eine beginnende Supernova etwa 40 Lichtjahre entfernt auf den jetzigen Kurs hatte, als Gerda sie in ihre Privatkabine bat. Diese hatte die Passagiere bisher komplett gemieden und umso überraschender war die Einladung.

„Möchtest du was trinken?“ fragte sie ungewohnt höflich. Eva nahm ein süßes Brausegetränk. Das Privatquartier war stilvoll eingerichtet. Es war nicht schwer zu erraten, dass hier eine Frau wohnte. Die warmen Farben standen im Kontrast zu den glatten metallischen Wänden des eher monotonen Designs des Schiffes. Alles hier spiegelte Gerdas Charakter wieder. Es war der persönlichste Raum, den Eva je gesehen hatte und sie konnte sich bildlich vorstellen, wie sehr dieser Raum mit seiner Liebe zum Detail als Zufluchtsort aus einer stressgeplagten Umgebung diente. Ein bisschen entspannte Musik dazu und dann würde selbst ein cholerischer Eric hier problemlos runterkommen.

„Du willst sicherlich wissen, was ich von dir will. Wir sind nun schon zwei Wochen unterwegs und ich hatte Gelegenheit euch ein bisschen besser kennen zu lernen und mir sind einige Sachen aufgefallen, die ich gerne klären würde.“

„Kennen lernen ist gut. Wir haben doch keine drei Worte miteinander geredet.“ antworte Eva.

„Also. Wie ich das sehe, ist Sentry euer Hauptgrund, warum ihr nach Cree wollt. So wie ihr euch verhaltet, seid ihr alle auf der Flucht, aber er scheint mir irgendwie ungewöhnlich. Ich habe eine gute Menschenkenntnis, aber ihn kann ich in keine Rubrik einordnen.“ Eva stockte der Atem. Ziel dieser Unterhaltung war es offensichtlich mehr über die Gruppe zu erfahren und sie, als vermeintlich schwächstes Glied, war dafür auserkoren worden. Zu viele Geheimnisse trugen sie mit sich herum. Sie musste aufpassen, nicht allzu redselig zu werden.

„Wenn du was über ihn wissen willst, kannst du ihn selber fragen.“ Eva versuchte nicht trotzig zu klingen, was ihr nicht ganz gelang.

„Nun gut. Soll er mir das selber erklären. Ich will nur wissen, was mich auf Cree erwartet. Wie gesagt ich habe eine gute Menschenkenntnis und die sagt mir, dass etwas in eurer Gruppe nicht stimmt. Dieser Balta ist mir zu verschlagen, als dass man ihm uneingeschränkt trauen könnte.“

„Ohne ihn wären wir schon längst verloren. Er führt uns durch die Wirren dieser Galaxie.“ antwortete Eva.

„Traust du ihm?“ fragte Gerda direkt.

„Bisher gab es keinen Grund an ihm zu zweifeln.“

„Lass dich nicht von seinem guten Äußeren täuschen. Ich wette die Liste der enttäuschten Frauen ist lang.“

„Mit Vertrauen habe ich allgemein ein Problem.“ Sie bereute die Aussage sofort, zu persönlich kamen ihr die Worte vor.

„Ein gesundes Misstrauen ist in Ordnung, aber bei dir scheint die Urteilskraft gelitten zu haben.“ Gerda gab ihr damit eine Vorlage für weitere Erklärungen, die Eva aber schweigend ausschlug.

„Wir alle haben unsere Geschichten.“ Gerda kramte ein Pad hervor und hielt es Eva unter die Nase. Ein junges blondes Mädchen war darauf zu sehen, nicht älter als achtzehn Jahre.

„Sie ähnelt dir nicht nur optisch. Sie hatte dasselbe unsichere Auftreten wie du. Sie war clever, aber auch introvertiert. Was ihr fehlte war ein wenig Führung.“

„Deine Tochter?“

„Sie war es.“ Gerdas Stimme klang regungslos. Ein Zeichen dafür, dass sie den Verlust bereits verarbeitet hatte.

„Woran ist sie gestorben?“ Zu spät merkte Eva die fehlende Beileidsbeteuerung.

„Wir wissen es nicht genau. Eine heimtückische Krankheit. Hier draußen ist es weit zum nächsten Arzt. Du hast auch jemanden verloren?“ Eva zögerte mit der Antwort.

„Meine Schwester.“ Sie konnte die Tränen kaum unterdrücken. Bisher hatte sie die Schuld verdrängt, was leicht war bei den chaotischen Ereignissen nach ihrer Flucht von Lassik. Erst hier auf dem Schiff, mit der Ruhe und der Langeweile, konnte sie Freyas Tod nicht mehr so leicht ignorieren. Nachdem Gerda die Saat auf Cayuse gesetzt hatte, wuchsen ihre Zweifel an der Richtigkeit ihres Handelns. Das Selbstvertrauen, was sie nach dem Gespräch mit Sentry durchflutete, die Gewissheit endlich ihr eigenes Leben und die getroffenen Entscheidungen aus der richtigen Perspektive zu sehen, hatte einen ordentlichen Dämpfer bekommen. Sie fühlte sich wieder orientierungslos. Einen Zustand, den sie glaubte überwunden zu haben. In der Entscheidung, ob Flucht oder Freya hatte damals die rationale Eva gewonnen. Nun sah die emotionale Eva ihre Gelegenheit, den vermeintlichen Betrug erneut zur Sprache zu bringen. 

„Ich hätte ihr helfen müssen. Stattdessen habe ich sie im Stich gelassen.“ Es gab keine Anklage, trotzdem klangen ihre Worte wie ein Geständnis.

„Das kann ich nicht beurteilen. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass man sich selber nicht trauen kann in solch aufgewühlter Stimmung. Du hast den entscheidenden Vorteil, dass du nicht allein diesen Schmerz kennst.“ Gerda meinte Dina. Diese hatte ebenfalls jemanden verloren und obwohl sie nie darüber redete, tat sie sich ebenfalls schwer mit der Verarbeitung ihres Verlustes. Offenbar kannte Gerda die Gruppe nicht so gut wie sie dachte, denn eine eventuelle Gruppentherapie mit Dina war so aberwitzig, wie ein Kurs über gutes Benehmen von Eric.

„Ich mag dich. Vielleicht auch nur weil du Sarah so ähnlich bist. Welche Altlasten du da immer auch mit dir trägst, du wirst damit leben müssen. Ob Schuld oder nicht ist irrelevant. Deinen Lebenslauf kannst du im nach hinein nicht ändern. Es ist nun an dir nach vorne zu schauen und die richtigen Lehren daraus zu ziehen.“

Da war sie wieder, die schroffe, zynisch wirkende Gerda. Auch wenn Eva sich vielleicht ein paar angenehmere Worte erhofft hatte, war sie froh nicht den Puderzucker bekommen zu haben. Was nützten ihr die schönen Worte, die die Wahrheit verschleierten. Gerda hatte Recht und gab ihr damit die verloren geglaubte Orientierung zurück.

„Ich habe da noch etwas, was vielleicht etwas Vertrauen in unsere Gruppe zurück bringt.“ Eva gab ein Pad an Gerda weiter. Eine willkommene Ablenkung von ihren Fragen. Es war die Geschichte der „Viajera“, auf die Sentry gestoßen war. Balta hatte sie ermutigt damit bei passender Gelegenheit rauszurücken. Sollte sich die ganze Sache bewahrheiten, war es durchaus möglich ein vollkommen intaktes Exson an den Koordinaten vorzufinden.

„Interessante Geschichte, aber ich glaube das ist gut gemachtes Seemannsgarn.“ kommentierte Gerda das Gelesene.

„Ich habe bereits mit Sven darüber gesprochen. Eine Kursänderung würde uns gerade mal dreizehn Stunden Umweg kosten und der zusätzliche Treibstoffverbrauch ist verschwindend gering.“

„Soso. Überreize nicht meine fehlgeleiteten Mutterinstinkte. Ohne die würdet ihr vermutlich gerade irgendwo auf Yuma versauern.“ Gerda war wenig begeistert über eine Kursänderung.

„Ich will nicht eine der weiteren Geschichten sein, die enden mit „und dann hat man nie wieder was gehört von der Perinola“. Jede Kursänderung ist ein Risiko sich im Weltall zu verirren. Gerade wenn das Ziel im freien Raum liegt.“ Ihre Entscheidung schien endgültig.

„Nicht, wenn man den besten Navigator in der Galaxis hat. Wie oft hat sich Sven verirrt? Ich glaube da steht immer noch die null.“ Eva brachte ein nicht zu unterschätzendes Argument an.

„Na gut. Aber das Bergungsrecht bleibt bei uns. Wenn da wirklich etwas seien sollte, haben wir den Vorzug.“

„Alles klar.“ Ein gewisser Stolz über die Umstimmung war nicht zu überhören. 

Sie fühlte sich besser. Das Gespräch mit Gerda hatte sie kurzzeitig aus der Lethargie geholt, die durch das viele Nichtstun leichtes Spiel hatte. Das Vorhaben in den Kommandoraum zu gehen und sich das Prozedere einer Kursänderung erklären zu lassen, scheiterte an dem Zusammentreffen mit Sentry. Seit betreten des Schiffes hatte sie eine Veränderung an ihm festgestellt. Es herrschte eine gewisse Unsicherheit, wenn sie unter sich waren und ein vernünftiges Gespräch unter vier Augen schien unmöglich geworden zu sein. Das Wort verkrampft traf es wohl am besten. Irgendwas schwebte zwischen ihnen, etwas was dringend einer Klärung bedarf.

„Hast du einen Moment?“ fragte er zaghaft. Eva überlegte kurz, welche wichtige Aufgabe sie als Ausrede vorschieben konnte, aber alles was ihr in der Kürze der Zeit einfiel wirkte fadenscheinig.

„Ja.“ Sie war sichtlich verunsichert. Ein paar Sekunden Schweigen folgten. Auch Sentry schien das Ganze unangenehm.

„Ich frage mich, wo wir stehen. Wir beide.“ fing er an.

„Was meinst du?“ Eva ahnte worauf es hinauslief. Wieder ein paar Sekunden Schweigen.

„Verdammt. Ich bin nicht gut in solchen Sachen.“ Diesmal sprach er zu sich selbst.

„Ich merke doch, wie du mich ansiehst.“ Sein Blick ging nach unten. Die ganze Unterhaltung war ihm sichtlich peinlich.

„Oh.“ war das Einzige, was Eva raus bekam. In Sachen Unerfahrenheit mit dem anderen Geschlecht stand sie ihm in nichts nach. Sentry holte tief Luft, um wieder anzusetzen.

„Tut mir Leid, aber ich brauche da Aufklärung.“ Verdammt das klang mehr als albern.

„Also nicht im sexuellen Sinne, sondern im ….“ Zu spät. Jedes weitere Wort würde unwiederbringlich lächerlich klingen. Das ganze nahm an Peinlichkeit zu.

„Was ich sagen will ist, wir sollten Gefühle außen vor lassen.“ Ihm schienen die Worte wieder zu hart. Er hatte wirklich keine Ahnung von Frauen.

„Sehe ich genauso.“ erwiderte Eva und ihre Körpersprache deutete darauf hin, dass sie lieber überall woanders wäre, als hier bei ihm.

„Gut, dass wir das geklärt haben.“ Eine offensichtliche Selbsttäuschung, denn die Verkrampftheit hatte eher noch zugenommen. Sie standen sich gegenüber, die Blicke gesengt, als würde derjenige im Peinlichkeitspoker verlieren, der den anderen zuerst anschaut.

„Ich muss dann mal.“ beendete Eva das elendige Schweigen, was nach den letzten Worten scheinbar das ganze Universum erfasst hatte. 

Das ging ordentlich daneben. Sentry war sich nicht mehr sicher, ob sie wirklich Gefühle für ihn hatte. Sollte er sich geirrt haben, war sein Vorstoß mehr als lächerlich. Jedenfalls hatte sie nicht widersprochen. Klärung war das Ziel. Was er erreicht hatte, war noch mehr Unsicherheit. Es gab keine weitere Möglichkeit für eine Aussprache, ohne sich endgültig zu blamieren. Verdammt. Er hatte gehofft, dass alles so wie vor dem Wissen ihrer Zuneigung würde. Die Situation zwischen ihnen hatte sich definitiv verändert und nun mussten sie damit klar kommen.

Sie hatten den Kurs geändert und Sentry musste sich eingestehen, dass seine Neugierde wuchs. Jetzt wo er wusste, dass es an die Überprüfung seiner Theorie ging, konnte er keine Minute mehr ruhig bleiben. Die Tage vergingen in Zeitlupe. Hatte er den langweiligen Alltag auf dem „heiligen Gral“ schätzen gelernt, sehnte er sich hier regelrecht nach Abenteuer. In seiner Fantasie durchstreifte er schon die Habitatringe nach wertvoller Elektronik. Sie würden auf tausend Jahre alte Technik treffen, aber auch auf Hinweise einer längst vergangenen Zeit. Entdecker, auf der Suche nach einem verschollenen Schatz. Das Schlafen fiel ihm jetzt nicht mehr ausschließlich durch die Unterbelastung schwer. Seine Gedanken kreisten nur noch um IR-2212-13. Sichtlich übermüdet, sehnte er den Tag der Ankunft herbei und acht Stunden vor Erreichen der Koordinaten fiel er dann doch in seeligen erholsamen Schlaf. Geweckt wurde er ganze drei Minuten vor der Auflösung seines Dilemmas, was ihn unausgeschlafen wie er war, in schlechte Laune versetzte. Sie befanden sich bereits im Bremsvorgang und die Dunkelheit die an den Fenstern vorbei zog, hatte sich bereits wieder in ein wildes Farbenspiel verwandelt.

„Gleich werden wir wissen, was deine Theorie wert ist.“ empfing ihn Dina im Kommandoraum. Mittlerweile hatten sich alle Passagiere und die komplette Mannschaft versammelt. Richtig gelassen war keiner der Anwesenden. Jeder hoffte auf eine positive Überraschung.

„Geschwindigkeit ist Null. Schauen wir mal, was es da draußen gibt.“ Sven war sichtlich nervös.

„Da ist definitiv was.“ kam es freudig nach ein paar Sekunden Schweigen. Er tippte auf der Konsole herum und wenige Augenblicke später zeigte der Monitor die Umrisse eines Exsons.

„Yeah. Volltreffer.“ brüllte Eric.

„Da stimmt was nicht.“ Die Freude war aus Svens Stimme komplett verschwunden. Gerda beugte sich über die Anzeige.

„Das Ding leuchtet wie ein Weihnachtsbaum.“

„Es wird noch besser. Sie rufen uns.“ Jetzt war Sven besorgt.

„Verdammt. Berechne uns einen Kurs nach Cree und versuche deinen eigenen Geschwindigkeitsrekord zu brechen. Vielleicht können wir sie so lange hinhalten.“ Gerda war jetzt im Stressmodus. Obwohl sie unter enormer Anspannung stand, funktionierte ihr Verstand wie ein Uhrwerk.

„Was ist denn los?“ Eric verstand wieder gar nichts.

„Wir haben das gefunden, was wir suchten. Leider ist es nicht so verlassen, wie wir uns das vorgestellt haben. Sieht alles nach einer …“ Gerda unterbrach ihre Erklärungen und starrte auf den Lauf einer Waffe.

„… Falle aus.“ beendete sie doch noch den Satz. Jetzt ruhten alle Blicke auf Balta.

„Tut mir Leid. Wir müssen euch hier verlassen. Wenn ihr ruhig bleibt, passiert euch nichts.“ Keinerlei Form von Rechtfertigung in seiner Stimme.

„Wer ist wir?“ fragte Eric. Jetzt begriff Sentry die Zusammenhänge. Von Balta hatte er die Datenspeicher und so wie die Sache stand, war die ganze Geschichte konstruiert. Unmöglich. Dafür war sie zu komplex. Egal wie, sein Ziel ihn hierher zu bringen, hatte geklappt.

„Ihr solltet da ran gehen.“ befahl Balta. Gerda nickte zustimmend.

„Bereiten Sie sich auf die Übernahme Ihres Schiffes vor. Leisten Sie keinen Widerstand.“ tönte der Lautsprecher.

„Wer immer das auch ist. Sie nähern sich achtern mit einem Militärtransporter.“ bestätigte Sven die Drohung.

„Es ist die Science und ich würde raten ihre Empfehlung einzuhalten.“ erklärte Balta.

„Du lausige Ratte.“ Dina war drauf und dran ihn anzugehen.

„Willst du mich erschießen?“ fragte sie provozierend und näherte sich langsam seiner Position.

„Ich werde dich nicht töten, aber ich werde dir wehtun. Du kennst mich am Besten. Du weißt, wenn ich was ernst meine.“ Sein Blick ließ keine Zweifel an seinen Worten aufkommen. Dina stoppte.

„Sentry und ich werden das Schiff verlassen. Danach könnt ihr eurer Wege gehen. Niemanden wird etwas passieren.“ fuhr er fort.

„Falsch. Zwanzig Minuten bis zur Ankunft der Soldaten. Siebzehn Minuten bis wir den Kurs haben.“ Sven war sichtlich stolz auf die schnellste Berechnung, die er je hinbekommen hatte.

„Sieht so aus, als hättet ihr uns unterschätzt.“ Gerda ging zum Kommunikator.

„Leck mich.“ sagte sie trocken und beendete die Verbindung.

„Oh Mist.“ fluchte Sven.

„Ein schlechter Zeitpunkt, um sich zu irren.“ Gerda war das erste Mal wirklich beunruhigt.

„Sie haben uns einen Virus eingeschleust. Über die Kommunikation. Verdammt wie geht das denn?“ Verwirrung und Bewunderung waren aus seiner Stimme zu vernehmen.

„Ausgleich.“ frohlockte Balta.

„Zum Glück habe ich eine gute Firewall. Ja. Ja. Mist.“ fluchte Sven aufgeregt nach ein paar Minuten scheinbar sinnlosem Klavierspiel auf der Computerkonsole.  

„Was ist?“ schrie ihn Gerda an.

„Der Antrieb ist lahm gelegt. Verdammt.“ Jetzt war es an Roland zu fluchen.

„Ich habe den Virus isoliert. Leider war ich nicht schnell genug. Der Antrieb ist überhitzt. Das Kühlsystem ist angelaufen, aber die Zeit wird nicht reichen.“ erklärte Sven.

„Ich wiederhole. Nur Sentry und ich werden gehen. Dem Rest passiert nichts.“ beteuerte Balta.

„War die ganze Geschichte nur eine Lüge?“ Sentry wusste nicht so Recht, worüber er mehr enttäuscht war. Der Verrat wog schwer, aber die Demütigung, einem gut gemachten Bluff auf den Leim gegangen zu sein, war ein ganz anderes Kaliber.

„Die „Viajera“ gab es wirklich. Die Science stieß auf sie vor langer Zeit und zog dieselben Schlüsse wie du. Sie fanden IR-2212-13 genau hier und wie du siehst, haben sie sie wieder hinbekommen. Das Einzige, was ich anpassen musste an der Geschichte, war Yuma-Prime. Eine Sache von fünf Minuten.“ Balta war nicht stolz darauf. Eine kurze Erschütterung durchfuhr das Schiff.

„Sie haben gerade angedockt. Wärst du dann soweit?“ fragte Balta. Sentry versicherte sich nochmals, dass den Anderen nichts passierte und bestand auf eine Verabschiedung. Er nahm einen tiefen Atemzug von Dinas unwiderstehlichem Geruch, als er sie umarmte, bedankte sich bei Eric für seine Hilfe mit einem kurzen Kopfnicken und Eva gab er folgende Worte mit.

„Ich weiß wir haben eine „keine Gefühle“ Vereinbarung und glaube mir, ich wünschte ich könnte dagegen verstoßen. Ich bedaure es zutiefst nur dein Freund zu sein. Aber das ist jetzt genau das, was ich jetzt brauche. Jemanden, dem ich uneingeschränkt vertraue.“ Er näherte sich ihrem Ohr und flüsterte die letzten Worte.

„Wir sehen uns wieder.“ Unauffällig drückte er ihr das Amulett in die Hand. Jener blaue Stein, der als Grabbeilage in seinem Sarg lag. In dem Moment öffnete sich die Tür des Kommandoraums und sechs bewaffnete Soldaten stürmten schwer bewaffnet den Raum. Vorboten eines blutigen Dramas.

„Alles unter Kontrolle.“ beruhigte Balta die Soldaten.

„Sie sind Balta?“ fragte der Anführer. Ein Mann mit kahl geschorenem Schädel und einem Kreuz, in dem mindestens tausend Jahre Fitnesstraining steckten. Ein paar Narben in seinem Gesicht verrieten, das Töten sein Geschäft war und da er breitbeinig und selbstbewusst vor ihnen stand, war er offensichtlich gut darin.

„Ja und das ist die Ware.“ Balta zeigte auf Sentry.

„Gut. Folgen Sie dem Soldaten zurück auf den Transporter. Ich kümmere mich hier um den Rest.“ Sein Kommandoton ließ keinen Widerspruch zu. Umso überraschter war er, als Balta keine Anstalten machte sich zu bewegen.

„Ich habe hier das Sagen.“ brüllte Balta ihn an.

„Ich habe meine Befehle direkt von Soltar und die lauten keine Überlebenden. Sie glauben doch nicht wirklich, dass so ein Wicht wie Sie über Soltar steht.“ Die Geringschätzung in seiner Stimme war unüberhörbar.

„Niemand wird getötet.“ Balta versuchte die Kontrolle wieder zu erlangen.

„So. Glauben Sie?“ Er richtete das Gewehr auf Dina. Das Plop der Waffe durchschnitt die Anspannung. Dina riss es augenblicklich nach hinten, als das Projektil sie traf. Grinsend drehte sich der Schütze zu Balta um und schaute in den Lauf seiner Pistole.

„Und jetzt? Kopfschuss? Sie riskieren nicht die Vereinbarung mit der Science wegen ein paar Zivilisten.“ Sein Grinsen wurde breiter.

„So. Glauben Sie?“ Zum zweiten Mal in wenigen Sekunden vernahmen alle das todbringende Plop einer abgefeuerten Waffe. Die Situation war drauf und dran zu eskalieren.  

Die Geschehnisse überschlugen sich und Sentry hatte Mühe alles in der passenden Geschwindigkeit zu verarbeiten. Er hatte sich damit abgefunden Balta zur Science zu folgen. Ein unwürdiges, aber unblutiges Schauspiel. Er war wieder zur Ware verkommen und die unangenehmen Folgen dieses Zustandes waren noch nicht so lange her, als das er diese schon hätte vergessen können. Trotzdem willigte er ein, nach dem Versprechen, dass seine Freunde keinen Schaden nehmen würden. Nun hatte der kahl rasierte Kleiderschrank die Sache unnötig kompliziert gemacht und dafür die passende Quittung bekommen. Der Reflex Dina zur Hilfe zu eilen, wurde durch den am nächsten stehenden Soldaten sofort verhindert. Bevor er auch nur einen Schritt in ihre Richtung hinbekam, drückte ihn sein Bewacher zu Boden. Der Rest der bewaffneten Söldner war für einen Moment verwirrt und tatenlos. Ihr Anführer wurde regelrecht hingerichtet und da das nicht von einem der Gegner geschah, sondern von jemanden ihrer vermeintlich eigenen Leute, wirkten sie genau die Zeitspanne überfordert, um Balta die Gelegenheit zu geben die Waffe niederzulegen und ihnen damit die Option seines möglichen Weiterlebens zu ermöglichen.

„Keine weiteren Toten mehr.“ sagte Balta bestimmt und signalisierte mit seiner unterwürfigen Körperhaltung, dass er selber gewillt war diesen Leitsatz umzusetzen.

„Raus hier.“ raunte der zum Anführer aufgestiegene Soldat. Man sah ihm förmlich an, ein Verfechter von klaren Anweisungen zu sein. Die für ihn einfachste Möglichkeit seine Befehle zu befolgen, war sie wortgetreu umzusetzen. Klipp und Klar hieß es, die Ware nach IR-2212-13 zu bringen. Alles Andere waren Anweisungen an ihren gefallenen Anführer und diese lagen nun mit ihm auf dem Boden des Kommandoraumes danieder. Sollte die Science ein Interesse am Ableben der restlichen Mannschaft haben, genügte eine Rakete und sie wären aller Sorgen los. Eine Schießerei könnte die Ware beschädigen und damit den reibungslosen Ablauf ihrer Mission. Ein kurzes Kopfzucken in Richtung des Soldaten, der Sentry in Schach hielt und so wurde dieser gewaltsam Richtung Luftschleuse gebracht. Nach und nach folgte der Rest der Einheit, die ihren toten Anführer mitnahm. Als letzter verließ Balta das Schiff, nicht ohne einen sorgenvollen Blick Richtung Dina. Eine wirkliche aufrichtige Entschuldigung über das Geschehene waren seine letzten Worte, dann verschwand auch er und die Gruppe erwachte aus ihrer Starre.

Es war Gerda, die zuerst in Bewegung kam. Niemand hatte gewagt sich zu rühren nach der Schießerei. Zu groß war die Gefahr in dieser angespannten Lage eine Kugel einzufangen, nur weil man sich zuerst bewegte. Besorgt stellte sie fest, dass die Abkühlung des Antriebes zu langsam voranging. 

„Wir müssen hier schnellstens weg. Du hast sie gehört. Sie wollen keine Zeugen.“ wandte sie sich an Sven. Geschäftiges Treiben beherrschte jetzt den Raum. Während die Mannschaft sich bemühte das Schiff wieder flugfähig zu bekommen, kümmerte sich Eva um Dina. Der Schuss, den sie abkommen hatte, ging in die linke Hälfte ihres Bauchraumes. Sie war noch am Leben, aber nach dem Blutfluss, der aus der Wunde quoll, schien dies nicht mehr von langer Dauer.    

Eva fühlte sich überfordert. Der unbedingte Drang zu helfen, stand ihren begrenzten medizinischen Fähigkeiten gegenüber. Alles, was sie an erster Hilfe gelernt hatte, war sinnlos in dieser aussichtslosen Situation. In dem Moment, als die Panik die Oberhand zu gewinnen drohte, kam Nancy mit einem Handtuch in der Hand zu ihr.

„Drück das auf die Wunde. Wir müssen unbedingt die Blutung stoppen.“ Die Tatsache endlich hilfreich zu sein, verhinderte die Panikattacke. Nancy verschwand für ein paar Sekunden, um die Sanitätstasche zu holen. Endlos, wie es Eva schien. Mehrmals murmelte sie gebetsartig Richtung Dina nicht zu sterben. Noch spürte sie leben in ihr, aber selbst als medizinische Niete wusste sie, dass ihr Zustand sich rapide verschlechterte.

„Damals, nach dem Tod eines unserer Mannschaftsmitglieder, haben wir massiv medizinisch aufgerüstet. Nicht nur materiell. Ich habe so ziemlich jeden Lehrgang mitgemacht der ging. Ich muss sagen, die Praxis sieht weitaus komplizierter aus.“ Nancys Handgriffe wirkten routiniert. Sollte sie Zweifel an ihrem Handeln haben, konnte ihr Eva das nicht ansehen.

„Du machst das gut.“ baute sie sie trotzdem auf.

„Der Druckverband hat die Blutung gestoppt. Wir müssen irgendwann die Kugel rausholen, aber bei dem vielen Blut, was sie verloren hat, traue ich mir das nicht zu.“ Nancy klang besorgt.

Die Eindrücke überrollten Eva. Die letzten Wochen hatte sie ihren Geist aus Mangel an Beschäftigung auf ein Minimum an Aktivitäten zurückgefahren. Nun ist unfreiwillig der Turbo gezündet worden und die Aufnahme von vielen neuen Informationen verhinderte einen klaren Gedankengang. Sie probierte es trotzdem. Sentry wurde entführt und das von jemanden, dem sie vertraute. Allein diese Tatsache wirkte nicht real. Dann wurde Dina angeschossen und lag im Sterben. Spätestens hier drohte der mentale KO. Aber da war noch die Steigerung des Ganzen. Sobald die Entführer in sicherer Entfernung waren, würden sie sie töten. Eine einzige Rakete würde vermutlich reichen, denn ihr Antrieb glühte wie ein Hochofen vor sich hin und alles, was sie hatte an physikalischem Grundwissen war genug, um zu realisieren, dass zu viel Hitze in den Weiten des Raumes nicht so ohne weiteres abgebaut werden konnte. Der Fluch des Vakuums.

Ihre Lage zu verstehen war nicht ganz einfach, aber wenn sie die panischen Gespräche richtig deutete, hatten sie nicht nur ein Problem. Der eingeschleuste Virus hatte die Temperatur des Antriebes soweit erhöht, dass eine Flucht unmöglich wurde. Schon im regulären Betrieb musste die entstehende Wärme abgeführt werden, was mit Hilfe einer Kühlflüssigkeit geschah, die die Wärme aufnahm und dann direkt im Weltall entsorgt wurde. Normalerweise war der Kühlflüssigkeitstank voll, aber die Überhitzung durch den Virus hatte die Reserven auf ein Minimum schrumpfen lassen. Wenn sie Sven richtig verstanden hatte, war es zwar möglich den Antrieb wieder auf Normaltemperatur zu bringen, aber für den Weiterflug nach Cree standen die Chancen auf Grund des Mangels schlecht. Ein Problem, dem sie sich wahrscheinlich nicht stellen müssen, denn die vorherrschende Gefahr drohte immer noch durch den Abschuss einer Rakete. Den notwendigen Sicherheitsabstand würden sie in wenigen Minuten erreichen.

„Es ist soweit.“ bestätigte Roland die Gefahr und zog unwillkürlich den Kopf ein, als würde er jeden Moment mit einem Angriff rechnen.

„Nichts. Warum greifen die nicht an?“ Sven klang verwirrt.

„Stopp die Kühlung.“ Gerda klang wie jemand, der einen guten Plan hatte. Obwohl Sven für einen Moment an ihrem Gesundheitszustand zweifelte, führte er ihren Befehl aus. Zu gut kannte er sie, als dass er ihre Anweisungen in Frage stellen würde.

„Wir brauchen jeden Tropfen für den Weg nach Cree. Die geben uns die Möglichkeit dazu.“ Der Militärtransporter der Science war nun zu einer unbestimmten Bedrohung geworden. Aus welchen Gründen auch immer. Noch hatte niemand da drüben den Knopf für den Abschuss gedrückt. Es gab kaum Hoffnung, dass dieser Zustand unverändert blieb.

„Wir leiten die Wärme in die Hülle.“ enthüllte Gerda ihren Plan.

„Dann wird es hier ungemütlich. Bringt uns aber ein paar Minuten den Antrieb schneller wieder auf Normal zu bringen.“ Wirklich begeistert war Sven nicht, aber es schien ihre einzige Chance, immer unter der Vorrausetzung, da drüben kamen sie nicht doch noch auf die Idee sie zu vernichten.

„52 Grad Celsius. Das ist das, was wir dann aushalten müssen und das 27 Stunden bis wir in Cree ankommen.“ Sven schaute auf den leblosen Körper Dinas. Die Gewissheit damit ihr Todesurteil zu besiegeln, ließ ihn kurz zögern.

„Los.“ befahl ihm Gerda.

„Sechs Minuten. Dann können wir hier weg.“ Was immer auch die Science davon abhielt sie zu töten. Hoffentlich hatte es für die nächsten sechs Minuten Bestand.

 

Sie eilten durch die „Perinola“ zur Andockschleuse und als sie den Militärtransporter betraten, legten sie ihm ein paar Handfesseln an. Elektronische Bauart. Ein leichtes Spiel für seine Femtos. Egal. Eine Flucht war unmöglich. Ob nun gefesselt oder nicht, sein Schicksal war vorbestimmt. Ausserdem verhinderte die Sorge um Dina klare Gedanken über ausgereifte Fluchtpläne. Sentry versuchte sich abzulenken und den Verrat und seine Schmach in den Vordergrund seines Denkens zu schieben, aber so leicht ließ sich sein Geist nicht manipulieren. Die Ungewissheit über den Zustand von Dina verursachte ein Chaos in seinem Kopf. Die letzten Minuten hatten ihn ordentlich überfordert und das, was vor ihm lag, würde vermutlich die ganze Misere in seinem Kopf noch steigern, denn bisher war er nur unbeteiligter Zuschauer, aber jetzt stand sein Auftritt unmittelbar bevor. Er war die Hauptfigur in dem Spiel. Der eigentliche Grund, warum Balta ihn verriet oder Dina auf der „Perinola“ verblutete. Das Schlimme war, er hatte keine Ahnung, was ihn erwartete, aber alles, was er bisher von der Science kennen gelernt hatte, unterschied sich nicht von den Methoden eines Kain, Dart oder Red. Eine weitere Gruppe, die auf den Schatz in seiner Blutbahn scharf war. Nein. Da war mehr. Die Science war eine der Supermächte in dieser Galaxie und das Gefühl, eher Teil ihres größten Gegenspielers zu sein, ließ nichts Gutes für Sentry erwarten und brachte ihm ein vertrautes Gefühl zurück. Angst.

Der Militärtransporter war schlicht gehalten. Einzig und allein dafür da Leute zu transportieren. Niemand hielt sich hier länger als ein paar Stunden auf und so war ein großer Raum direkt an der Luftschleuse das Einzige, was im Inneren vorzufinden war. Rechts und links befanden sich Bänke, auf denen die Söldner saßen. Am gegenüberliegenden Ende war die Steuerkonsole für den Piloten. Die Bewaffnung bestand aus zwei Raketen und genau das war der Punkt, der Sentry Sorgen machte. Ein Befehl genügte und schon waren die unliebsamen Zeugen auf der „Perinola“ beseitigt.

Es war Balta, der ihn auf der Bank platzierte. Genau gegenüber eines Computerterminals, dass mittig im Raum an der Wand angebracht war. Auf einen Schlag war Sentrys Geist klar. Er konnte nicht viel tun für sich selbst, aber die Möglichkeit seine Freunde zu retten war da. Es war kein Zufall, dass er genau hier saß und genauso wenig war es Zufall, dass Balta ihm gegenüber saß. Sie sahen sich an und ein kurzes Kopfzucken in Richtung des Terminals bestätigte seine Vermutung.

Auf Lassik hatte er den Identifizierungscomputer lahm gelegt. Falsch. Nicht er war es. Etwas in seinem Inneren hatte ihnen geholfen. Etwas, was er nicht verstand und was ihm Angst machte, hatte den Virus eingeschleust. Damals war es notwendig für das eigene Überleben. Hier ging es um so etwas Selbstloses, wie das Leben von ein paar Unbeteiligten. Nichts was den Geist aus der mentalen Flasche locken würde. Wollte er seine Hand auf diesen Computer legen und damit den Abschuss der Rakete verhindern, musste jener Sentry, der derzeit die geistige Gewalt in diesem Körper besaß, das ohne Hilfe irgendwelcher schizophrenen Mitbewohner hinbekommen. Genau da lag die Unbekannte in diesem Unterfangen. Er war sich nicht sicher, ob er den Virus erfolgreich einschleusen konnte.

Irgendwas stimmte nicht. Während er da saß und auf die passende Gelegenheit für die Sabotage des Transporters wartete, hatte er das Gefühl irgendetwas übersehen zu haben. Ein Randdetail, etwas was im Chaos der letzten Ereignisse untergegangen war. Das Durcheinander in seinem Kopf verhinderte logisches Denken. Mit geschlossenen Augen konzentrierte er sich. Er lauschte den Stimmen, er spürte die Handfesseln und dann merkte er es. Schmerz. Ganz leicht an seinem rechten Handgelenk. Er musste sich verletzt haben, als sie ihn durch die Perinola trieben. Ein leichter Schnitt nur, nichts Beunruhigendes. Jedenfalls für jeden Anderen als ihn. Doch bei ihm war das anders. Die maximale Haltbarkeit einer Verletzung betrug nicht mehr als fünf Minuten. Wann hatte er sie das erste Mal unbewusst registriert? Schritt für Schritt ging er die Geschehnisse durch und blendete Panik und Angst aus seinen Erinnerungen aus. Da war es. In der Luftschleuse wurde er voran geschoben und blieb an einer der Rahmen hängen. Das war fünfzehn Minuten her. Zum Teufel was war los mit seinen kleinen Helfern?

Sentry starrte weiter auf seine Verletzung, als versuche er mit reiner Gedankenkraft die Heilung herbeizuführen. Nichts. Vielleicht war die Wunde zu klein, als dass es ein Eingreifen der Femtos erforderte. Da log er sich selber was vor und tief in seinem Inneren wusste er, dass was nicht stimmte. Sein Blick ging zur Computerkonsole und eine böse Vorahnung überkam ihn. Ihm blieb keine Zeit die Zweifel weiter zu nähren. Balta erhob sich und signalisierte mit einer kurzen fast unauffälligen Geste, dass der Zeitpunkt gekommen war für ihr Vorhaben. Eine kurze Ablenkung von seitens Balta und schon war Sentry den Moment unbeobachtet, den er brauchte, um die wenigen Schritte zur Konsole zu machen und mit Hilfe seiner gefesselten Hände den Virus einzuschleusen.

Tausend Kilo. Das war die gefühlte Masse, die es zu überwinden galt, um sich von seinem Sitz zu erheben. Vor was hatte er nicht alles Angst? Das ihm einer der Soldaten einen Kopfschuss verpassen würde, war sein geringstes Problem, trotz des Streikes seiner Selbstheiler. Da wog die Sorge, dass seine Codeknacker nicht funktionieren würden schon größer. Selbst wenn sie ihren Dienst täten, hatte er es noch nie bewusst geschafft den Virus einzuschleusen. Schritt eins. Baltas Ablenkungsmanöver war perfekt. Niemand hatte bemerkt wie er aufstand. Sein Selbstbewusstsein stieg. Das war es, was er jetzt brauchte. Zuversicht. Immerhin lagen gleich mehrere Menschenleben in seiner Hand. Ein weiterer Schritt. Unweigerlich kam er jetzt in das Sichtfeld eines der Soldaten, was ihn antrieb schneller zu gehen. Die Adrenalinmenge in seinem Blut hatte jetzt den richtigen Pegel. Leichte Euphorie ergriff ihn, war doch das spüren von Adrenalin unweigerlich mit der Funktion seiner Femtos verbunden. Er schaute nieder auf die Wunde an seiner Hand. Keine Veränderung. Die Sorge bekam wieder die Oberhand. Noch zwei Schritte, dann war es geschafft. Das „Hey“ eines Soldaten nahm er nur als Teil des Hintergrundrauschens wahr, zu sehr war er konzentriert auf die Konsole. Er sprang ihr regelrecht entgegen. Für einen Augenblick waren beide Füße in der Luft und er hatte Angst seine Beine könnten sein Gewicht bei der Landung nicht tragen. Noch rechtzeitig begriff er die Macht der Suggestion und verkehrte den Pudding in seiner Muskulatur in knallharten Stahl. Sicher stand er davor und nichts und niemand konnte ihn abbringen seine gefesselten Hände auf die Konsole zu legen.

Das blinkende Rot bohrte sich regelrecht in seinen Sehnerv. Auf Lassik hatte er unzählige Male seine Hand auf Gerätschaften gelegt und das grüne Licht, welches zuverlässig immer wieder als Antwort ihm entgegen leuchtete, wurde zu einer Naturkonstante. Unmöglich, dass irgendwann mal etwas anderes passieren würde. Ungläubig stand er davor und konnte nicht glauben, dass es Technik in diesem Universum gab, welche er nicht beeinflussen konnte. Gewaltsam wurde er zurückgezogen und die Worte, die klangen wie „was zum Teufel machst du da“ verhallten in der Ungläubigkeit seines Geistes. Er hatte versagt. Genau in dem Augenblick, wo er seine Dämonen am dringendsten gebraucht hätte, versagten sie ihm seine teuflischen Fähigkeiten.

Er schaute rüber zu Balta und das Entsetzen in seinem Gesicht spiegelte seinen eigenen Gemütszustand wieder. Der Transporter hatte den Punkt erreicht, an dem er gefahrlos seine Raketen Richtung „Perinola“ abfeuern konnte und die angeregten Diskussionen, die den Raum erfüllten, ließen darauf schließen, dass dieser Plan in Kürze ausgeführt werden würde. Erneut stieg Panik in Sentry auf und verhinderte einen eventuellen Plan B. Den gab es sowieso nicht und selbst wenn, wäre die Umsetzung äußerst schwierig gewesen, denn mittlerweile hatte er die volle Aufmerksamkeit sämtlicher Soldaten. Diese waren führungslos und den Umstand versuchte sich Balta zu nutzen zu machen.

„Hören Sie Soldat. Sie sind jetzt der Anführer und wie jeder gute Anführer müssen Sie sich ihre Befehle bestätigen lassen.“ wandte sich Balta an den ranghöchsten Soldaten. Dieser schien sichtlich überfordert.

„Das haben wir Ihnen zu verdanken. Setzen Sie sich hin und halten Sie die Klappe.“ brüllte er Balta an. Unschlüssig schaute er zu dem Piloten rüber. Dieser versicherte ihm, dass durch die Überhitzung des Antriebes keine Fluchtgefahr bestand. Der Stresspegel des unfreiwilligen Kommandanten sank dadurch und veranlasste ihn Baltas Rat zu folgen.

„Hier ist Soltar.“ drang eine Stimme aus dem Lautsprecher. Die Ruhe und Gelassenheit passte sogar nicht zu der vorherrschenden hektischen Atmosphäre im Transporter.

„Soldat Enrie hier.“

„Was ist mit dem Major?“

„Ich habe ihn getötet.“ antworte Balta unaufgefordert. Enrie hinderte ihn nicht daran zu antworten. Ganz im Gegenteil. Er war froh die schlechte Nachricht nicht persönlich überbringen zu müssen. Ein paar Sekunden Schweigen am anderen Ende.

„Balta. Ich bin nicht einmal sonderlich überrascht. Erzählen Sie mir auch den Grund dafür.“ keinerlei Ärger war zu vernehmen.

„Ihr habt euch nicht an die Vereinbarung gehalten. Niemand soll getötet werden.“

„Das heißt die Zeugen leben noch?“ zum ersten Mal war so etwas wie Zorn zu vernehmen, was Enrie dazu veranlasste das Gespräch zu übernehmen.

„Ihr Schiff ist ohne Antrieb. Eine einzige Rakete und die Sache ist erledigt.“ versicherte er.

„Dann tun Sie es.“ kam es wieder sichtlich ruhiger aus dem Lautsprecher.    

„Nein.“ brüllte Balta und Sentry musste zugeben ihn noch nie in dieser Aufgewühltheit gesehen zu haben. Selbst in den stressigsten Situationen in der Vergangenheit, hatte Balta einen kühlen Kopf behalten.

„Wollen Sie, dass die Sache eskaliert. Offenbar haben sie hier ein Dämpfungsfeld, was die Ware anfällig für Verletzungen macht. An Ihrer Stelle würde ich mich zurückhalten mit unüberlegten Aktionen.“ Die Aussichtslosigkeit in seiner Stimme war deutlich zu vernehmen.

„Sie wollen mir drohen? Was glauben Sie, wer Sie sind? Soldat Enrie, Sie haben mein Vertrauen, dass Sie die Anweisungen zur vollsten Zufriedenheit ausführen.“ Damit war die Verbindung beendet.

Die Unsicherheit über das weitere Vorgehen war plötzlich wie weggeblasen. Mit klaren Anweisungen war Enrie der perfekte Befehlsempfänger. Selbstsicher ging er rüber zum Waffenschrank, holte einen Elektroschocker aus einer der Schubladen und ehe Balta sich auch nur eine halbwegs geplante Aktion überlegen konnte, war er außer Gefecht gesetzt. Die Soldaten schleppten ihn auf seinen Sitz. Nun war Sentry dran. Enrie zögerte kurz, immerhin war er die Ware, die eigentlich unversehrt bleiben sollte, aber die Aktion mit dem Computerterminal ließ ihn wenig vertrauenswürdig erscheinen. Sicherheitshalber stellte er den Schocker eine Stufe tiefer. Die Angst kroch hoch in Sentry. Die Bilder, wie Red ihn folterte, kamen unweigerlich wieder in ihm hoch. Damals hatte er funktionierende Femtos. Er hatte keine Ahnung, ob sie sein Leid minderten. Wenn ja, war dass was ihm bevorstand um einiges schmerzvoller. Wie in Zeitlupe sah er Enries Arm mit der unheilvollen Waffe auf ihn zu kommen. Dankbar kurz war der Schmerz und die Erinnerung an die Stromtierchen, die seine Eingeweide lahm legen würden, war höchstens ein Bruchteil einer Sekunde. Schnell kam die Ohnmacht und mit ihr der lange Filmriss. 

 

Da war es wieder, dieses verdammte Eichhörnchen. Kein Tanzen diesmal, auch kein verächtliches Grinsen. Es saß einfach nur da und starrte ihn an. Als warte es auf irgendeine Reaktion von ihm. Sentry wollte nach ihm greifen, doch wieder hatte er keine Arme. Seine Befehle verpufften im Nichts. Er konnte nicht mal seinen Blick abwenden. Kein rechts oder links vorbeischauen, da war auch nichts Anderes, worauf er sich hätte fokussieren können. Dieser verdammte Nager saß in der Mitte eines riesigen weißen Universums. Er schloss die Augen. Wenigstens das klappte. Für einen Moment war diese rote Ratte nicht der Mittelpunkt der Welt. Eine unbekannte Kraft ließ seine Augenlider nach oben schnellen und wieder blickte er in die Knopfaugen, die ihn penetrant anstarrten. Panik ergriff ihn, als er merkte, dass die Distanz sich verringert hatte. Lautlos war das Mistvieh näher gekommen. Er konnte nichts tun, außer wieder seine Augen zu schließen. Wieder zwang ihn die unbekannte Macht sich seinem Übel zu stellen. Bedrohlich nahe saß es nun vor ihm. Augen schließen und nie wieder öffnen. Der einzige Wunsch, den er noch hatte. Noch einmal schaffte er es in die Dunkelheit abzutauchen, bevor er wiederum gezwungen wurde dem Nager gegenüberzutreten. Wie nah war er jetzt. Zehn Zentimeter? Zehn Meter? Er hatte kein Gefühl für Distanz mehr. Das Einzige was er jetzt sah, war die Pfote, die auf ihn zu flog.

War das ein Schrei? Sentry war sich nicht sicher. Zu verwirrt war er, als er in die Realität zurückkehrte. Die Umgebung war unbekannt und steigerte seine Verwirrung zusätzlich. Er konzentrierte sich auf das Offensichtliche. Eine Lichtquelle an der Decke. Diese offenbarte ihm die Trostlosigkeit seiner Umgebung. Kalte metallische Wände. Er war wieder in einer Zelle. Zu viele Gefängnisse hatte er schon von innen gesehen, als dass Zweifel an seiner Unterkunft aufkommen könnten. Langsam kehrte die Erinnerung zurück. Er war jetzt Gefangener der Science. Jene Organisation, die unbedingt seine Femtos wollte. Diese Dinger, die nicht mehr funktionierten. Seine Hand kam ihm wieder in den Sinn und als er die Wunden an seinen Handgelenken sah, war ihm klar, dass sich ihr Zustand nicht verbessert hatte. Was hatte er die Biester verflucht und jetzt wo sie weg waren, trauerte er ihnen nach. Er legte sich auf die Pritsche. Der einzige Gegenstand in dem Raum. Zusammengerollt wie ein Fötus lag er da und fror. Er wollte nicht wieder einschlafen. Zu groß war noch die Angst vor dem Eichhörnchen. Auf der Seite liegend, starrte er auf die Wand gegenüber und versuchte die Nachwirkungen der Betäubung aus seinem Geist zu bekommen. Er musste dringend klaren Kopf bekommen.

Zu seiner Überraschung ließ man ihm die Zeit. Zwei oder drei Stunden bewegte er sich kaum. Seine mentale Stabilität kam Stück für Stück zurück. Er registrierte die Ausweglosigkeit seiner Situation und die hohe Wahrscheinlichkeit als Laborratte sein zukünftiges Dasein zu fristen. Er erinnerte sich an die ungewissen Schicksale seiner Freunde und fand sich damit ab sie nie wieder zu sehen. Wehmut überkam ihn, als er die vergangenen Wochen im Geiste noch mal durchging. Die Erinnerung an Dinas Geruch, die guten Gespräche mit Eva und selbst die nervige Eifersucht von Eric kamen ihm vor, wie heile Bilder aus einer imaginären Kindheit. Hatten sie es geschafft zu entkommen? Vermutlich nicht. Er hatte alles verloren. Seine Freiheit, seine Freunde, seine Femtos. Der Kreis schloss sich. Er war wieder allein und er war wieder in Gefangenschaft. Sein Schicksal schien vorherbestimmt. Egal wie sehr er sich dagegen wehrte.

Er suhlte sich in Selbstmitleid. Ein Kokon für die bevorstehenden Konfrontationen. Die Angst blieb vorerst draußen und die Fokussierung auf die Elendigkeit seines Daseins ließ ihn unempfindlich werden für seine Umgebung. Er wusste, dass es eine Art Flucht aus der Realität ist. Eigentlich nichts, was ihm in seiner Situation weiter helfen würde. Seine Zukunft bestand in jeder möglichen Variante ausschließlich aus Angst und Schmerz. So schien ihm der Trübsal als kleinstes Übel. Ein Selbstbetrug. Die Erkenntnis kam irgendwann mit unerbittlicher Härte über ihn und das, was er gerade noch als Oase in einer unendlich scheinbaren Wüste empfand, wurde zu einer widerlichen verseuchten Kloake. Er wollte nicht schwach sein. Wenn sein Ende bevorstand, würde er nicht kniend den Gnadenschuss empfangen. Nein. Er war bereit, standhaft seinem unausweichlichen Schicksal entgegenzutreten.

Er stand auf mit der Energie eines zwölf Stunden Schlafes. Zwei Minuten stand er in der Mitte des Raumes und ließ das neu gewonnene Selbstvertrauen wirken. Dann ging er zur Tür. Zu seiner Überraschung war diese nicht verschlossen. Ohne Zögern ging er hindurch und stand einem Mann in einer hellblauen Uniform gegenüber. Unbewaffnet war das Ergebnis einer flüchtigen Kontrolle.

„Wo bin ich?“ Verdammt er wollte mehr Selbstvertrauen in seine Worte legen, stattdessen klang er wie ein devoter Sklave. Die Antwort blieb ihm sein Gegenüber schuldig. Eine kurze Kopfbewegung, die ihm signalisierte er möge den langen Gang entlang gehen, war das Einzige, was ihm der Soldat zugestand. Alles wirkte so unreal. Wie in einem Traum. Absolute Stille. Die Luft war vollkommen geruchsfrei und der etwa ein Meter breite Gang ließ ihn zweifeln an seinem wachen Zustand. Allein die Kälte sprach für die Realität. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen und die Vibrationen, die er dabei spürte, verrieten ihm, dass er sich auf einem Schiff befand.

Die Tür am Ende des Ganges stand zur Hälfte offen, aber die Dunkelheit dahinter verhinderte einen ersten Eindruck. Aus Mangel an Alternativen ging er weiter auf sie zu. Vorsichtig schob er die Tür vollends auf.

Eine Arena? Damit hatte er gar nicht gerechnet. Was auch immer er erwartet hatte, dass stand nicht mal auf der Liste der ganz absurden Dinge. Die Fläche vor ihm war spärlich beleuchtet und er konnte Rechts und Links ein paar Sitzreihen ausmachen. Im Halbdunkel lagen die Ränge etwa fünf Meter darüber. Er war tatsächlich in so etwas wie einem Theater. Unmöglich, dass er nicht träumte und für kurze Zeit manifestierte sich die Vorstellung eines gigantischen Eichhörnchens, welches ihn durch die Arena jagte und ihm in einem blutigen Finale den Kopf abriss.

Langsam näherte er sich dem Mittelpunkt der Fläche und schaute sich um. Da waren mindestens fünf Ausgänge und Treppenstufen führten zu den Rängen hoch. Unschlüssig, was er tun sollte, bemerkte er den Soldaten, der jetzt vor der Tür stand, durch die er gekommen war. Starr und regungslos viel sein Blick ins Leere, so als würde er als Statue zum Inventar gehören. 

Die Unwirklichkeit dieser Szenerie ließ ihn erstmals lächeln. Was ging hier vor? Er überlegte seine Optionen. Würde der Soldat ihn daran hindern die Türen zu öffnen? Noch traute er sich das Wagnis nicht zu. Was gab es noch? Seine Überlegungen wurden unterbrochen durch Schritte, die auf ihn zukamen. Von einem der Ränge, soviel konnte er ausmachen, aber die Richtung war unbekannt.

Zuerst sah er nur die Umrisse. Ein Mann, der die Treppen mit wenig Anmut herabstieg. Die seitliche Silhouette verriet seinen wohlgenährten Zustand. Wieder etwas, was seine Traumtheorie bestätigen würde. Niemals hatte er einen so fetten Menschen gesehen. Von einer Welt, in der Nahrung als Mangelware galt, war dieser Mann offensichtlich nicht. Behäbig kam er auf ihn zu und die Anstrengung, die ihm die Treppen abverlangten, war ihm deutlich anzusehen.

„Herzlich Willkommen. Entschuldigen Sie den buchstäblich theatralischen Auftritt, aber derzeit herrscht ein wenig Uneinigkeit, wie wir mit Ihnen weiter verfahren sollen.“ keuchte er Sentry entgegen. Dieser war unschlüssig, wie er auf die Begrüßung reagieren sollte. Das verunsicherte seinen Gegenüber.

„Äh…“ offenbar war er geistig genauso fit wie beim Treppen steigen.

„Ähm.. Ich stelle mich erstmal vor. Ich bin Koppar.“ wieder erwartete er eine Reaktion, aber Sentry war immer noch nicht in der Lage was zu erwidern.

„Sie befinden sich auf einem Gefängnisschiff, allerdings sind Sie kein Gefangener. Jedenfalls noch nicht. Der Rat hat noch nicht entschieden und da wir keine Zelle mehr frei haben, sind Sie erstmal hier im Gefängnistheater untergekommen.“ Jetzt schaute er schon fast flehentlich in Richtung Sentry, um eine Reaktion zu bekommen.

„Na gut. Der Rat wird jede Minute hier eintreffen und dann werden sie entscheiden, wie es mit Ihnen weiter geht.“ Koppar wollte sich schon wieder abwenden und mit gequälten Augen sah er der steilen Treppe entgegen, als Sentry endlich etwas erwiderte.

„Der Rat?“ fragte er.

„Ja.“ kam es froh zurück, wobei nicht eindeutig erkennbar war, ob er glücklich war über die Antwort oder über die Tatsache nicht auf die Stufen zu müssen.

„Der Kopf der Science, wenn Sie so wollen. Fünf Mitglieder, die die Geschicke leiten. Sie sind die ….“ Er wurde unterbrochen von Geräuschen auf den Rängen.

„Da sind sie.“ Der Respekt, mit dem er die Worte aussprach, hatte was sichtlich Unterwürfiges. Sentry schaute nach oben und konnte eine Handvoll Gestalten ausmachen, die nicht den Anschein erweckten, als würden sie zu ihm runter kommen wollen.

„Tut mir Leid. Ich habe nur dieses Theater für ihn. Wie sie wissen sind wir schon seit Wochen überbelegt und zu den gemeinen Kriminellen wollte ich ihn nicht…“

„Schon gut.“ wurde Koppar in seinen Entschuldigungen von einer weiblichen Stimme unterbrochen.

Es folgten zwei Minuten angeregte Unterhaltung auf den Rängen, wobei nicht zu vernehmen war, worum es im Speziellen ging.

„Wie ist dein Name?“ wurde er urplötzlich von einer strengen männlichen Stimme gefragt.

„Sentry. Und ihr seid?“ fragte er mit einer ordentlichen Dosis Selbstvertrauen. Koppar neben ihm zog hörbar die Luft ein und ging einen Schritt zur Seite.

„Welcher ist dein Heimatplanet?“ ignorierte die Stimme die Gegenfrage.

„Ich bin heimatlos.“ Gemurmel auf den Rängen.

„Kommen Sie runter, dann können wir von Angesicht zu Angesicht miteinander reden.“ Sentry überraschte sich selbst mit seinem forschen Auftreten. Das Gemurmel verstummte. Jemand stieg die Stufen herab. Eindeutig weiblich. Mit einer Grazie, die seine Fantasie zum überschäumen brachte. Er spürte ein Kribbeln in seinen Händen und als er auf sich herabschaute, sah er gerade noch, wie die letzte Schramme an seinem Handgelenk verschwand. Die Femtos. Sie waren zurück und mit ihnen die Unsicherheit von Freude oder Bedauern über ihre Rückkehr. Er schaute auf und sah die Eleganz in der Bewegung ihrer Schritte, die selbstsicher auf ihn zukamen. Das Gesicht, die braunen Augen, die gelockten Haare. Jedes einzelne vertraute Detail ihres Gesichtes. Er war am Ziel seiner Bemühungen. Sie stand vor ihm und die ganze Bandbreite der Gefühle, die ihn damals überfluteten, als er ihr Foto das erste Mal erblickte, ergossen sich aufs Neue über ihn. Trauer, Wut und Verlustangst gingen über in ein Meer aus Schmerz. Ja, die Femtos waren zurück und mit ihnen spürte er erstmals ihre Kontrollfunktion. Die Kopfschmerzen drohten in Wahnsinn überzugehen. Schmerzverzerrt schaute er in ihr Gesicht, unfähig ein Schrei oder ein Wort hervorzubringen. Seine Gefühle passten nicht zu ihrer Reaktion, aber es war kein Raum für Verwirrung in seinem Kopf. Der Schmerz war zu dominant und er war sich sicher, erst am unteren Ende der Skala zu sein. Sie könnte ihn töten, mit nur einem einzigen Knopfdruck und sie war dazu bereit, dass war deutlich erkennbar. Was immer auch ihn dazu veranlasste ihr diese Gefühle entgegenzubringen. Er ist wieder mal betrogen worden. Diese Erkenntnis brach seinen Lebenswillen. Nicht die Femtos würden ihn umbringen. Nein. Er wählte das süße Gift der Resignation.

 

 

 

 

 

 

Teil 2

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Impressum

Tag der Veröffentlichung: 07.09.2014

Alle Rechte vorbehalten

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