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Vorwort
Wir bereuen nicht die Dinge die wir getan haben, wir bereuen die Dinge die wir nicht getan haben. Die Liste von Letzterem scheint mir heute in der Mitte meines Lebens furchtbar lang und mit der Zielsetzung doch noch ein paar Punkte abzuhaken bevor ich dem Allmächtigen Rechenschaft ablegen muss, entstand dieses Buch. Ich weiß nicht mehr genau wann mir diese Geschichte im Kopf herum spukte, aber von dem ersten Wort bis zu diesem Vorwort vergingen etwa 40 Monate. Die Konsequenz mit der ich dieses Buch vorantrieb und im Mai 2014 beendete überraschte mich am Ende selber. Ich hoffe, dass ich diese Energie mit in die Fortsetzungen rüber retten kann, denn es ist mir ein persönliches Anliegen die Geschichten ihrer Protagonisten zu einem vernünftigen Abschluss zu bekommen. Schnell wurde mir klar, dass die Komplexität der Geschichte nicht in einem Buch unterzubringen sein würde und so habe ich nur ein Etappenziel erreicht auf den Weg hin zu dem Haken auf der Liste. Der Spaß den ich beim Schreiben hatte ist eine gute Motivation die Trilogie zu beenden und ich hoffe, dass ich dieses Gefühl mit in die Worte einfließen lassen konnte. Immerhin entstand das Buch in neun verschiedenen Ländern und noch habe ich nicht das Alter erreicht um die Kombination aus Schreiben, Reisen und Surfen schon aufgeben zu müssen. Wenn ich zurück schaue auf die einzelnen Kapitel, erkenne ich eine Weiterentwicklung meiner Schreibfähigkeiten und empfinde einen gewissen Stolz auf die Entwicklung. Ich weiß nicht wie oft ich die ersten Kapitel umgeschrieben habe und selbst heute habe ich das Gefühl immer noch den Rotstift ansetzen zu müssen. Mittlerweile sehe ich die laienhafte Einführung als Ansporn in den anderen Büchern meiner persönlichen Perfektion nahe zu kommen. Mögen mir die die Kreativität und die Lust am Schreiben nicht ausgehen und sollte dieses Buch am Ende tatsächlich jemand lesen, wünsche ich demjenigen eine gute Unterhaltung und entschuldige mich im Voraus für das offene Ende.
I
„Die Geburt bringt nur das Sein zur Welt. Die Person wird im Leben erschaffen“
Theodore Jouffroy
Es soll aufhören. Wieso tanzt dieses verdammte Eichhörnchen gerade hier? Und überhaupt. Wenn diese Biester unbedingt tanzen müssen, sollten sie das nicht auf vier Pfoten machen? Aufrecht sieht das so lächerlich aus. Bloß nicht lachen. Lachen bedeutet Schmerz. Dieses sadistische Mistvieh gibt sich alle Mühe möglichst witzig zu sein. Was hat es vor? Bloß keine Drehung auf einem Bein, dann war es das. Nun grinst dieser kleine Nager auch noch. Oh nein, ein telepathisches Eichhörnchen. Es weiß wie es einen fertigmachen kann. Nein nicht drehen. Konzentration. Verdammt sind das Schmerzen, aber bitte nicht drehen. Es zögert. Es kann nicht. Ha. Es ist unter Kontrolle. Die Farbe. Kein rot. Grau. Eine Ratte. Weg damit.
„Hey.“
„Er hat’s gepackt.“
„Na jedenfalls atmet er wieder“, verkündete eine kreischende Stimme skeptisch. Diese Tonlage nahe einer Kreissäge traft den optimalen Resonanzpunkt im Schmerzzentrum seines Kopfes und setzte einen Schwall von unendlichen Qualen frei. Sie wollte erneut beginnen, wurde aber von einer lächerlichen Heliumstimme abgehalten.
„Der ist voll gepumpt mit Drogen.“
„Ich glaub sein Verstand ist auf Erbsengröße geschrumpft.“
„So wie der grinst, kommt der nicht zurück in die reale Welt.“
Kann diese verdammte Kreissäge nicht einfach die Klappe halten.
„Du kommst wohl nicht so gut an. Muss wohl an meinem Charme liegen“, grinste der Helium-Junkie.
Ein drittes Gesicht rückte in das Blickfeld und die pure Angst machte sich breit. Die Narben waren ein eindeutiges Indiz dafür, dass man mit diesem Mann nicht in einem Raum sein sollte. Seine ängstliche Reaktion muss wohl überdeutlich gewesen sein, denn dieses Schreckensgesicht schenkte ihm ein kurzes heimtückisches Grinsen und legte für einen Moment die furchtbar schlechten Zähne frei. Dieser Albtraum von einem Mann musterte ihn und ordnete ihn als erbärmliches Elend ein. Dieser Blick war eine Qual. Warum schaltete denn keiner die Kreissäge wieder ein? Er konnte nicht wegschauen, er konnte nicht mal die Augen schließen. Ein Gefühl von vollkommener Paralyse. Die Beute war dem Raubtier vollständig ausgeliefert. Er spielte mit ihm. Panik kroch in ihm hoch. Es war nicht mehr zu verhindern. Ungebremst steuerte er ins Verderben. Mit Vollgas gegen die Wand.
„Verdammt. Der hat dem Boss auf die Schuhe gekotzt.“
Das Helium hatte seine Wirkung verloren. Die unbekannte Tonlage verdrängte das eigentliche Ereignis und steigerte seine Verwirrung. Er ignorierte den säuerlichen Geschmack in seinem Mund und erhob langsam den Kopf. Ihm eröffnete sich eine unbekannte Welt aus kargen Wänden und düsteren Gestalten. Erst jetzt wurde ihm die Bedeutung der eben ausgesprochenen Worte bewusst. Warum konnte er sich nicht erinnern? Weil das Gehirn ihm diese Peinlichkeit erspart hatte. Das Notfallsystem hatte funktioniert. Allerdings mit Nebenwirkungen. Die bessere Alternative wäre gewesen, sich einfach in die Hosen zu machen?
Sein Blick wanderte zu den beschmutzten Schuhen. Er hatte gut getroffen. Panisch erhob er den Kopf und schaute in das narbige Gesicht vor ihm. In Zeitlupe schien die Faust auf ihn zu zufliegen. Hoffentlich funktionierte das Notfallsystem wieder so gut. Zu spät haute jemand auf den roten Taster. Eine Explosion aus Schmerz ergriff ihn, dann folgte das unangenehme Geräusch eines brechenden Kiefers und es wurde dunkel.
Er besaß kein Zeitgefühl. Wie lang war er weg? Das grelle Neonlicht schmerzte, als er mühsam versuchte die Augen zu öffnen. Langsam fuhren die mentalen Systeme wieder hoch und stellten sich auf das Schlimmste ein. Doch da war nichts. Kein Schmerz, kein gebrochener Kiefer, nur ein elendiges Hungergefühl. Ohne Drogen schien es diesmal besser zu klappen. Keine vollkommene Desorientierung. Vernunft und Verstand waren die Herren in seinem Geist, doch die brauchten Zeit, um alles passend einzuordnen. Eine gefühlte Ewigkeit verging bis zur Erkenntnis, dass sich seine Situation nicht verbessert hatte. Er war weiterhin in diesem fensterlosen Raum mit unangenehmer Gesellschaft. Wenigstens war die Sache mit dem gebrochenen Kiefer nur ein furchtbarer Traum gewesen. Halluzinationen durch Drogen. Leise Hoffnung, dass sich alles Andere ebenfalls als ein böser Streich seines Unterbewusstseins herausstellen würde. Das Narbengesicht, die Angst und vor allem das Gefühl vollkommener Hilflosigkeit.
„Unser Wunderknabe wird langsam wach.“
„Lassen wir ihm noch ein paar Minuten.“
Diese Stimmen erschütterten die mühsam erschaffene Ordnung in seinem Kopf. Es fiel ihm schwer, die aufkommenden chaotischen Gedanken zu bändigen. Es brauchte eine Weile, bis er die Worte verarbeitet hatte.
„Was meinst du Igor. Wie lange, wenn ich ihm den Arm breche?“
„Vermutlich zwei Minuten, bis der Boss dir den Arm bricht.“
Das alles klang relativ verständlich, aber der Sinn eröffnete sich ihm nicht. Seine Psyche schien auf dem untersten Level halbwegs stabil zu sein. Zeit seine Beweglichkeit zu testen. Zum Anfang etwas Leichtes. Alle fünf Finger der linken Hand reagierten in erwarteter Weise. Der rechte Arm gehorchte ebenfalls. Die körperlichen Funktionen schienen in Ordnung zu sein, nur sein Magen rebellierte vor Hunger. Langsam richtete er sich auf, was wieder erwarten recht problemlos klappte. Er saß jetzt aufrecht in seinem Krankenbett und die Euphorie über das Gelingen der eigentlich einfachen Übung, wich der Angst vor den zwei Gestalten am anderen Ende der Liege.
Sie standen einfach nur da und beobachteten ihn. Wie zwei Dompteure, die nicht zögern würden ihre Peitsche einzusetzen, falls er etwas Dummes wagen würde. Auf den ersten Blick konnten die beiden nicht unterschiedlicher in ihrem Erscheinungsbild sein. Da war besagter Igor. Ein ausgemergeltes Wesen von knapp zwei Metern. Kein Gramm Fett war an ihm auszumachen. Sein Kopf zierte eine Platte, die eingerahmt wurde von dünnen, grauen Haaren, die bis zu seinen Schultern reichten. Das kantige Kinn, aber vor allen Dingen seine kleinen listigen Augen verliehen ihm eine brutale Ausstrahlung. Es handelte sich definitiv nicht um einen Krankenpfleger.
Die Person neben ihm war deutlich kleiner, dafür füllte er den Raum in der Breite aus. Der wohlgenährte Zustand und seine lockigen roten Haare standen im Kontrast zu seinem Kameraden. Der Spaß, den solch eine Kombination normalerweise beim Betrachter auslöste, verging mit einem Blick in die Gesichter. In Sachen Brutalität stand der Gesichtsausdruck des Kleinen, dem von Igor in nichts nach. Wie sich herausstellen sollte, war sein Name Olof.
„Bringen wir ihn zum Boss“, sagte Igor
„Ja er will mit ihm bestimmt ein bisschen spielen“, stimmte Olof dem Langen unter einem schmierigen Lächeln zu.
In welche Hölle war er hier rein geraten. Seine Orientierungslosigkeit nahm wieder zu. Das Fehlen jeglicher Erinnerung, potenzierte seine Angst ins Unermessliche.
Sie holten ihn von der Liege und griffen ihm unter die Arme. Unfähig einen selbstständigen Schritt zu machen, zogen sie ihn aus dem Raum. Vor der Tür erwartete ihn ein Gang in gleichem trostlosen Design. Auch hier gab es dieses bedrückende weiße Licht, das kalt und grell von den metallischen Wänden reflektiert wurde. Es wurde Zeit, der unbändigen Angst etwas entgegenzusetzen. In einem verfehlten Anfall von Rebellion, stemmte er sich mit den Füßen Richtung Boden. Überrascht darüber, lockerte das Duo ein wenig den eisernen Griff.
Etwas stimmte mit dem Boden nicht. Möglicherweise eine Nachwirkung der Drogen, denn sein Verstand hatte Probleme die Füße in gewohnter Weise voreinander zu setzen. Wenig nur. Für einen vollkommen nüchternen Menschen stellte der schwankende Untergrund kein Problem da, aber in seinem Zustand war es eine unerwartete Herausforderung. Unsicher versuchte er Halt zu finden, was zu seinem Missfallen nicht ohne die Hilfe seiner Peiniger gelang.
Sie erreichten die Tür am Ende des Ganges und Igor nutzte seinen freien Arm, um kräftig gegen die Tür zu klopfen. Wie von Geisterhand öffnete sich diese und gab den Blick auf eine neue Welt frei. War das ein Wohnraum? Das Metall der Wände rechts und links hatte hier keine Chance seine Trostlosigkeit zu verbreiten. Alles war zugestellt mit Schränken. Zentral stand ein massiver Tisch aus Holz hinter dem ein Mann saß, der sich mit scheinbar furchtbar wichtigen Dingen beschäftigte und die drei keines Blickes würdigte. Das alles wirkte absurd neu für ihn, denn bisher beschränkten sich seine Erfahrungen auf sterile Räume, die jegliche Natürlichkeit verschlangen. Dieser Ort besaß eine persönliche Note und auch wenn er keinerlei Hinweise auf die Persönlichkeit seines Besitzer erkennen konnte, beruhigte ihn die Abwechslung der Innenausstattung ein wenig.
Das sanfte Licht machte es ihm schwer die Person hinter dem Tisch zu erkennen. Erst als seine Begleiter ihn näher brachten, offenbarte sich ihm das bereits bekannte Narbengesicht. Mit gespielter Langeweile, bearbeitete dieser Albtraum von einem Mann ein elektronisches Pad.
Flankiert von den beiden Gestalten erreichte er den Tisch. Neben der unsäglichen Angst, war das zweite nicht minder starke Gefühl Hunger. Diese beiden Dämonen lähmten ihn komplett. Diese unbekannte Welt hinterließ einen furchtbaren ersten Eindruck, der offenbar nur ein Auftakt für ein weiteres Martyrium war. Was war hier los? Die älteste ihm bekannte Erinnerung war ein tanzendes Eichhörnchen. Was war davor? Wie kam er hier her? Die wichtigste Frage wurde ihm bewusst, als er diesen Dämon hinter seinem Schreibtisch beobachte. Wer zum Teufel war er überhaupt?
Diese ganzen Unbekannten trieben seinen Stresspegel so stark in den roten Bereich, dass die Gefahr bestand komplett durchzudrehen. Er hoffte wieder auf den Notausschalter, falls es soweit kommen sollte. Vorerst musste die Illusion herhalten, dass sich seine Situation nur verbessern konnte.
Igor schob ihn auf einen Sitz dem Narbengesicht direkt gegenüber. Dann verschwanden die beiden Handlanger, ohne ein weiteres Wort zu sagen.
Als hätte er ihn gerade erst bemerkt, schaute sein Gegenüber von seinem Pad auf. Seine fiesen kleinen Augen schienen ihn zu durchbohren. Wenn er glaubte seine Angst war nicht mehr zu steigern, wurde er mit diesem Blick eines Besseren belehrt.
„Trink das!“, befahl das Narbengesicht und hielt ihm eine Plastikflasche mit orangefarbenem Inhalt entgegen.
„Glaub mir wenn ich dich töten wollte, mache ich dies auf eine Art, die mir deutlich mehr Vergnügen bereitet“, kommentierte er das Zögern. Widerwillig schluckte er den „Orangensaft“. Diese Getränk hatte keinerlei Geschmack. Was zum Teufel hatte er gerade getrunken?
„Stellen wir uns erst mal vor. Schließlich sind wir doch alle zivilisiert.“ Jede einzelne Riefe in diesem furchtbaren Gesicht seines „Gastgebers“ schien ihn zu verspotten.
„Red.“ Mehr sagte er nicht, dafür hielt er ihm die rechte Hand als Begrüßung entgegen. Alles sträubte sich diesen Gruß zu erwidern, denn offensichtlich war Red lange nicht so zivilisiert, wie eben noch behauptet. Vorsichtig näherte er sich der dargebotenen Hand, doch bevor auch nur ein Kontakt zu Stande kam, ergriff Red blitzschnell seinen Arm und drückte die Handfläche auf den Tisch. Urplötzlich blinkte in seiner linken Hand ein Messer auf. Ehe er vollständig begriff, was ihm bevorstand, sauste es nieder und bohrte sich in seine Hand.
Das Blut floss sofort und das Warten auf den Schmerz brachte ihn näher an den Abgrund zum Wahnsinn. Nur ein Schritt. Der Eingang ins Paradies war nur ein Schritt entfernt. Der Eintritt war seine Seele und vor allen Dingen sein Verstand. Kein zu geringer Preis für eine Welt ohne Red, Messer oder tanzende Eichhörnchen. Die Versuchung war groß, aber der einsetzende Schmerz holte ihn zurück. Noch zog er den furchtbaren Albtraum dem Wahnsinn vor.
Er gab sich ganz dem Schmerz hin, denn gegenüber den anderen beherrschenden Dämonen war dieser gerade das Einzige, was er halbwegs kontrollieren konnte. Orientierungslosigkeit, Hunger und vor allem Angst traten für einen Moment in den Hintergrund, damit der Schmerz seine volle Wirkung entfalten konnte.
Red drehte das Messer um 45° in der Wunde und das Geräusch von reißenden Sehnen und brechenden Knochen hinterließ ein zufriedenes Lächeln in dem furchtbaren Narbengesicht. Kein Schrei. Die Panik erlaubte ihm nur ein tiefes Stöhnen, dass alles Leid der letzten Stunden komprimierte. Offenbar war diese Art des Schmerzes kein Neuland für ihn.
Nachdem Red das Messer einmal komplett um seine Achse gedreht hatte, zog er es mit einem dicken Grinsen wieder heraus. Trotz der Narben hatte sein Gesichtsausdruck etwas von einem neugierigen Kind, dass gerade freudig Insekten unter einer Lupe geröstet hatte. Er hatte ganze Arbeit geleistet in seinem sadistischen Eifer. Die Wunde sah furchtbar aus. Mit rechts hielt er weiter die malträtierte Hand fest und bewunderte sein Werk.
„Und nun kommt das Beste“, sagte Red aufgeregt.
Dieser einfache Satz brachte den Angstdämonen mit einem Schlag wieder in den Vordergrund. Der Fantasie waren auf einmal keine Grenzen gesetzt. Was hatte er vor? Stand das Kommende in Zusammenhang mit der orangefarbenen Flüssigkeit? Vielleicht wollte Red sich weiter austoben und die ganze Hand abtrennen. Er musste aufhören solche Gruselgeschichten zu erfinden, aber sein Unterbewusstsein hatte sich verselbstständigt.
Sein Peiniger genoss die vorherrschende Angst. Überraschenderweise saß er einfach nur da und wartete ab, was nicht zur Beruhigung seines Opfers führte.
Am Anfang war es nur unmerklich. In einem Meer von Schmerzen waren es einzelne Wellen, die zu geringen Wogen verkamen und plötzlich vollends verschwanden. Mehr und mehr ließ der Schmerz nach, bis die ganze Hand nur einen tauben Grundschmerz darstellte. Sein Körper sendete Signale für die Heilung, aber der blutige Stumpf auf dem Tisch zeugte vom Gegenteil. Diese nicht miteinander vereinbaren Informationen verwirrten ihn und waren Nahrung für den Desorientierungsdämon in seinem Kopf.
„Pass auf jetzt geht’s los“, grunzte Red
Das verstümmelte Körperteil auf dem Tisch entwickelte eine Art Eigenleben. Sehnen, Adern und Knochen heilten vollkommen selbstständig und das im Rekordtempo. Als würde ein unsichtbarer Chirurg alles das wieder herrichten, was Red gerade in mühevoller sadistischer Kleinarbeit zerstört hatte. Für einen Moment lag die Hand als makelloses medizinisches Anschauungsobjekt offen vor ihm. Bei fehlender Haut war jedes einzelne Blutgefäß eindeutig zu erkennen.
Magie. Es konnte nur Magie sein. Wie anders konnte er rational erklären, was gerade passierte. War er doch dem Wahnsinn verfallen und Opfer eines gemeinen Zusammenspiel der Dämonen? Adrenalin überflutete seinen Körper und die Hölle aus fehlenden Erinnerungen und entstellten Gesichtern verlor augenblicklich seinen Schrecken. Seine Muskeln und sein Geist waren in abgestimmter Ordnung. Der ultimative Zustand der Perfektion. Alles schien im Einklang und er fühlte sich, als könne niemand ihn besiegen.
Der finale Akt des unglaublichen Vorgangs, war das Entstehen der Haut aus dem nichts. Kreisförmig zog sie sich zusammen, bis die Innereien vollkommen bedeckt waren. Keine Narbe blieb zurück und nur das Blut auf dem Tisch diente als Beweis für eine weitere unwirkliche Episode seines persönlichen Albtraums.
Der Entzug des Adrenalins zerstörte seine ohnehin trügerische Selbstsicherheit ebenso schnell, wie es erschaffen wurde. Was zurück blieb war Erschöpfung und Hunger. Wieder einmal waren die Gefühle am oberen Ende der Extremskala, alles verstärkt durch Resignation. Er war bereit zu sterben auf die eine oder andere Weise. Hauptsache es gab kein weiteres Kapitel in diesem Horror.
„Trink das.“ Red hielt ihm eine weitere der Flaschen mit orangefarbener Flüssigkeit unter die Nase.
„Verdammt das ist ein Kaloriendrink. Denkst du deine Zaubershow braucht keine Energie. Ich könnte wetten dich zerreißt es vor Hunger.“
Extrem geschwächt griff er nach der Flasche und trank die geschmacklose Flüssigkeit in einem Zug aus.
„Und jetzt sollten wir reden. Besser gesagt du beantwortest mir ein paar Fragen. Die Antworten sollten mir gefallen, ansonsten teste ich aus, wie weit deine Superkräfte reichen.“ Ein fieses Lächeln zierte Reds unheimliches Gesicht.
„Fangen wir mit etwas Einfachem an. Wie ist dein Name?“
Die scheinbar einfache Frage überforderte seinen Verstand. Er wusste es einfach nicht und so sehr er sich anstrengte, in der leeren Kammer seines Gedächtnisses war die Antwort nicht zu finden. Es gab keine Erinnerungen jenseits des tanzenden Eichhörnchens.
„Ich ...“, krächzte er und brach sofort ab, als seine Kehle einen Schub Schmerzen sandte.
„Lass dir Zeit. Irgendwann klingst du wieder wie ein Sängerknabe.“
„Ich weiß es nicht“, quälte er die einfachen Worte heraus. Aufgrund der Erschöpfung klang es ziemlich erbärmlich.
„Namen sind Schall und Rauch. Du könntest ihn mir sagen, aber du könntest mich auch anlügen. Die Wahrheit ist, es ist mir egal. Also, wie soll ich dich nennen?“
„Ich erinnere mich einfach nicht.“
Die Worte waren so schwach und verlegen, das Red sich für einen Moment angewidert abwandte.
„Ein Superheld ohne Gedächtnis. Da passt nur Sentry“, kicherte er in sich hinein.
„Ich befürchte du weißt auch nichts über das.“ Er deutete auf die Blutlache, die immer noch den Tisch zierte.
Ein ratloser Blick reichte als Antwort.
„Verdammt. Ich würde es ja gern aus dir raus prügeln, aber du hast so viele Femtos in deinen Adern, dass ich fürchte diese kleinen Burschen hauen einfach zurück.“
„Femtos?“, murmelte Sentry leise fragend zu sich selbst.
Red musterte ihn misstrauisch.
„Deine Superkräfte. Kleine mechanische Tierchen, die durch deine Eingeweide kreisen und verrückte Sachen mit deinem Körper anstellen. Wir haben mindestens sieben verschiedene in deinem Blut gefunden. Was die eine Sorte macht, haben wir ja gesehen. Sie werden aktiviert durch Reize oder bewusste Befehle in deinem Gehirn. Zum Glück ist die Festplatte in deinem Oberstübchen im Schlafmodus, sonst hätte einer deiner Femtos mich vermutlich schon gegrillt.“
Er war so verdammt müde und die Informationen aufzunehmen fiel ihm unheimlich schwer. Das Hungergefühl war auf ein erträgliches Maß zurückgegangen, dafür kreisten seine Gedanken in chaotischer Weise von Femtos, Red und seiner Hand. Erneut kam die Frage auf, wo er hier rein geraten war? Dieses endlose Gedankenkarussell drehte sich in unheimlicher Geschwindigkeit und blieb nur kurz an der nächsten Station hängen, bevor es von vorne begann. Wer war er und wo kam er her? So sehr er sich anstrengte, er schaffte es nicht Ordnung in seinem Kopf zu schaffen. Was er brauchte war Schlaf. Die Selbstheilung hatte so viel Energie gekostet. Red gönnte ihm keine Ruhe und bohrte weiter.
„Wie bist du ran gekommen an diese kleinen Biester? Was machen die anderen sechs?“
Die Wut war ihm deutlich anzusehen und in Kombination mit Ungeduld, konnte das bei Red nicht lange gut gehen.
„Verdammt du musst doch irgendeine Erinnerung haben. Sag was.“
Sentry spürte das irgendwas kommen sollte, was diesen Teufel vor ihm besänftigte. Er wünschte sich Adrenalin als Aufputschmittel und sei es durch Angst erzeugt. Diese Müdigkeit war unerträglich. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen.
„Das Eichhörnchen. Das ist alles, an was ich mich erinnern kann“, murmelte er unter großer Anstrengung.
Er spürte den Schmerz, bevor er überhaupt realisieren konnte, was mit ihm passierte. Reds Hand lag an seinem Hals und zog ihn zu sich über den Tisch. Das Narbengesicht war nur noch eine Hand breit entfernt. Der Wunsch nach Angst war erfüllt und wurde sofort bereut.
„Eishörnchen? Du willst mich wohl verarschen. Welche Sorte war es denn?“, brüllte Red und ließ seinen Daumen genüsslich den Kehlkopf hoch und runter wandern.
„Eichhörnchen. Diese kleinen roten Nager mit buschigem Schwanz“, winselte Sentry, in der Hoffnung, trotz des Quetschens der Kehle jegliche Missverständnisse zu vermeiden.
Red atmete tief aus und der faulige Gestank, der zweifelsohne von den Stumpen die mal sein Gebiss waren ausging, ekelte Sentry.
„Leider hab ich keine kleinen Helfer, die mir neue Zähne aus dem Nichts generieren.“
Seine Hand wanderte zum Unterkiefer und er musterte Sentrys Gebiss.
„Da hab ich mir solche Mühe gegeben dir jeden Zahn einzeln zu zerlegen und die bauen dir eine verbesserte Luxusversion. Ich will das auch und ich werde es bekommen. Leider ist die Sache nicht so einfach. Da benötige ich Spezialisten. Glücklicherweise hab ich gute Kontakte.“
„Igor“, brüllte er so laut, dass sein Opfer vor Schreck zusammen zuckte.
Die Tür öffnete sich augenblicklich und Igors abgemagerte Gestalt trat in den Raum.
„Bring unseren Superhelden in seine Suite. Niemand rührt ihn an. Habt ihr das verstanden?“
Igor nickte unterwürfig, packte Sentry am Arm und schleifte ihn Richtung Tür.
„Und Igor, finde raus was ein Eichhörnchen ist.“
Er war so müde, dass er sogar dankbar für Igors Hilfe bei der Fortbewegung war. Was er brauchte war Schlaf oder wenn es den nicht gab ging zur Not auch Tod. Die Resignation hatte gesiegt und die Hoffnung an einen besseren Ort nach dem ultimativen Ende, ließ ihn die Option des Sterbens, der des Schlafes als bessere Wahl erscheinen. Sein kurzes Leben bestand aus Schmerz, Angst und Femtos. Nichts für was es sich zu leben lohnte.
Der neue Raum, in dem er regelrecht abgelegt wurde, unterschied sich kaum von dem Raum in dem er erwachte. Die metallischen Wände und das grelle Licht schienen das Standarddesign dieses Gebäudes zu sein. Auch hier vibrierte der Boden leicht.
Endlich bestand die Möglichkeit auf Erholung, auch wenn der metallische Fußboden ein wenig geeigneter Ort dafür war. Diese unendliche Müdigkeit ließ jeden Anspruch auf einen weiches Lager unwichtig werden. Er wollte einfach nur die Augen schließen und bestenfalls niemals mehr erwachen, doch die wirren Gedanken verhinderten vorerst seinen sehnlichsten Wunsch. Sein aufgewühlter Verstand wollte besänftigt werden und so war es notwendig eine gewisse Grundordnung herzustellen.
Es war für ihn wie eine Geburt gewesen, obwohl er nicht mühsam erlernen musste, wie man spricht, trinkt oder läuft. Seine Grundfunktionen waren vorhanden, aber das Programm, die eigentliche Aufgabe, der Sinn seines Vorhandenseins, das fehlte komplett. Er fühlte sich wie eine Hülle ohne Inhalt. Wer war er? Was war der Zweck seines Seins? Und als wäre diese Leere nicht genug, besaß er diese mysteriösen Fähigkeiten. Sieben verschiedene hatte ihm Red versichert, wobei nur diese eine mit Gewissheit nachweisbar war. Zu trauen war diesem Red sowieso nicht und es bestand die Möglichkeit auf irgendein perverses Spielchen seines Peinigers. Egal ob nun eine oder sieben Superkräfte, dieses unnatürliche Verhalten seines Körpers war der wesentliche Treiber seiner Angst. Was er gesehen hatte, war mit Sicherheit nicht normal. Das war ihm trotz seines lückenhaften Wissens klar.
War er am Ende gar nichts Menschliches? Eine Maschine oder ein Roboter, der Angst und Verzweiflung als Befehle eines Zentralrechners verarbeitete. Existierte er überhaupt oder war er eine Anhäufung von Nullen und Einsen? Binärcode, Roboter oder Eichhörnchen. Dinge deren Zweck er kannte und zuordnen konnte. Warum zum Teufel hatte er keine Erinnerungen, die ihm eine Persönlichkeit gaben? Diese Erkenntnisse waren wenig hilfreich, um seinen Verstand zu beruhigen, trotzdem überkam ihm irgendwann der Schlaf.
Es war unklar wie lange er geschlafen hatte und nachdem Aufwachen verspürte er kaum Erholung. Der harte Boden verursachte Schmerzen in so ziemlich allen Bereichen seines Körpers. Er hatte ein wenig Hoffnung, dass die kleinen Kerlchen in seinem Inneren eine Art lindernde Wirkung an den Tag legten, aber offenbar waren das nicht die Reize auf die sie ansprangen. Keinerlei versteckte Hinweise auf Vergangenes in seinen Träumen. Hatte er überhaupt geträumt? Er konnte sich nicht erinnern.
Benommen und steif richtete er sich auf. Seine Augen benötigten eine Weile, um sich an das grelle Licht zu gewöhnen. Seine Müdigkeit war mit einem Schlag verschwunden, als er begriff, dass er sich in Gesellschaft befand. Die Erinnerung an das letzte Erwachen aktivierte sofort sämtliche Schutzinstinkte. Die Angst war mit einem Mal zurück.
Drei Personen konnte er ausmachen. Red und seine Spießgesellen, schoss es ihm durch den Kopf, doch das Verhalten passte nicht. Die brutale Ausstrahlung eines Kerkermeisters fehlte bei allen komplett. Ihm wurde schnell klar, dass diese armen Gestalten sein Schicksal eines Gefangenen teilten. Sie befanden sich in derselben Situation wie er. Gepeinigte in einem unendlichen Albtraum. Ein kleiner Hoffnungsschimmer in all dem Elend.
Er entspannte sich ein wenig und kroch an die ihm nächstliegende Wand. Die Frau diagonal gegenüber sah furchtbar aus. Sie kauerte in der Ecke, ihre Beine an den Körper angewinkelt. Ein Bluterguss zierte ihr Gesicht und ihr blondes Haar war Blut verkrustet. Ihre rechte Halshälfte war so stark gerötet, als hätte man sie dort stundenlang mit Sandpapier bearbeitet. Die andere Hälfte wirkte blutleer und der geisterhafte Teint ihrer Haut erinnerte an totes Gewebe. Ihr Gesichtsausdruck war vollkommen ausdruckslos und obwohl der ganze Körper unter Anspannung stand, war keine Regung von ihr zu vernehmen. Sie hatte den Weg des Wahnsinns genommen, den er persönlich als letzten Ausweg bisher vermied. Ihre Kleidung war so zerrissen, dass nur das notwendigste bedeckt wurde. Ihr ganz privater Höllentrip schien sie für alle Zeit gebrochen zu haben.
Die zweite Frau im Raum zeigte ebenfalls Spuren von Gewalteinwirkungen in ihrem Gesicht. Im Unterschied zu ihrer Mitgefangenen, ließ der Gesichtsausdruck darauf schließen, dass ihr Peiniger nicht ganz so leichtes Spiel gehabt haben musste. Auch sie saß mit angezogenen Beinen an der Wand. Gegenüber der Ausdruckslosigkeit ihrer Leidensgenossin, war sie fest entschlossen, jede Annäherung mit Zorn und Gewalt zu begegnen. Ihr wildes rotblondes Haar verstärkte diesen Eindruck noch. Auch ihr Körper war unter Spannung und vollkommen regungslos, aber nichts ließ auf ängstliche Haltung schließen. Ganz im Gegenteil. Sie wirkte als wäre sie auf dem Sprung. Ein angeschossenes Tier, dass bereit war sich zu wehren, sollte jemand auf weiteren Ärger aus sein.
Diesen unbedingten Überlebenswillen bekam er sofort zu spüren. Sie musterte ihn und ihre blauen Augen ließen keinen Zweifel aufkommen, dass er als potentielle Gefahr eingeordnet wurde. Sofort stand er wieder unter Spannung und sein Adrenalin stieg erneut an. Nichts Künstliches als Unterstützung für biologische Wunder. Dieser Blick war beängstigend. Auch hier schien er von Feinden umgeben. Das bisschen Hoffnung drohte erneut in Resignation umzuschlagen.
Die dritte Person war nicht nur geschlechtsspezifisch das komplette Gegenteil der beiden Frauen. Sein vorherrschendes Merkmal war Hektik. Obwohl auch er saß, schienen sein Kopf und seine Arme keine Ruhe zu finden. Seine Anspannung baute er durch unkontrollierte nervöse Bewegungen ab. Ebenso wie bei den Frauen war er Misshandlungen ausgesetzt gewesen. Seine Wunden, physisch wie auch psychisch, waren denn noch nicht vergleichbar. Sein Geschlecht ersparte ihm bestimmte Praktiken der Folter, was ihn bisher vor dem Schlimmsten bewahrt hatte. Gewisse Aspekte männlicher Gewalt konzentrierten sich naturgemäß auf weibliche Gefangene und nach dem Zustand der beiden Frauen zu urteilen waren da Red und seine Gehilfen nicht besonders zimperlich vorgegangen. Dieser nervöse Kerl gab sich ganz und gar seiner Angst hin, so dass sich die Umgebung seiner Wahrnehmung entzog.
Diese vorherrschende Atmosphäre von Furcht und Misstrauen fügte sich in das bisherige Bild, das er seit seiner „Wiedergeburt“ erfahren hatte. Ihm war Elend zu Mute. Er hatte einfach nur die Wahl zwischen verschiedenen Höllen oder Tod. Sein Blick fiel wieder auf die blutverschmierte Blondine. Sie hatte abgeschlossen und ein neues Gefühl überkam ihn. Neid. Wieder nichts Positives. Sein privater Höllenschlund expandierte in atemberaubendem Tempo.
Er wagte es nicht seine Mitgefangenen anzusprechen und so blieb ihm einzig und allein das Warten. Eine gespenstische Ruhe lag über dem Raum, die nur gelegentlich vom hektischen Gestikulieren des männlichen Insassen unterbrochen wurde. Er versuchte sich zu entspannen, aber ein Blick an die gegenüberliegende Wand reichte, um die Vorsicht keinen Millimeter zurückzufahren.
Die unmittelbare Gefahr bestand in der Rotblonden, die ihn keinen Moment aus den Augen ließ. Regungslos saßen sie sich gegenüber. Als spielten sie dieses Spiel, bei dem derjenige verlieren würde, der zuerst den Blick abwandte. Ihm war bewusst, dass sie den längeren Atem besaß. Unterbrochen wurde ihr mentales Kräfte messen von dem Hektiker, welcher ab und an aufstand, einmal quer durch den Raum lief, vor sich hinmurmelte und dann an derselben Stelle wieder Platz nahm. Die permanente Angst ließ ihn seine Umgebung vollkommen vergessen. Für ihn existierten die Anderen nicht.
Dieses emotionale Gemisch war bereit für eine Explosion. Es bedurfte nur eines Auslösers. Zu seiner Überraschung hielt dieses fragile Gleichgewicht länger als gedacht. Eine Stunde lag belauerten sie sich gegenseitig und die gelegentlichen Ausflüge durch den Raum waren mittlerweile präzise vorherzusagen.
Es war die Rotblonde, die sich irgendwann nicht zurückhalten konnte. Bei einem der angstgetriebenen Ausflüge quer durch den Raum passierte es. Als der Hektiker auf ihrer Höhe war, sprang sie auf und gab ihm einen gezielten Hieb an die Schläfe. Dabei legte sie eine Eleganz an den Tag, die er ihrem geschundenen Körper nicht zugetraut hätte. Als Ergebnis dieses Manövers sackte ihr Opfer umgehend zusammen und blieb regungslos liegen.
In der Genugtuung endlich ihrer angestauten Wut ein geeignetes Ventil gegeben zu haben, drehte sie sich um. Sie wollte mehr Dampf ablassen, dass war ihr deutlich anzusehen. Zwei Schritte reichten, dann war sie über ihm und ihre Blicke trafen sich.
Was er erkannte war Wut, Hass aber auch Verzweiflung. Diese Emotionen besaßen keine persönliche Note. Dieser unbedingte Trieb jemanden weh zu tun war ein wesentlicher Bestandteil ihres Wesens, unabhängig davon, wer ihr gerade in die Quere kam. Was immer ihr auch angetan wurde, es hatte ihre Persönlichkeit bis in die letzte Faser mit Zorn infiziert.
„Wer bist du?“, grollte sie ihn an.
Er wollte aufstehen, um das bedrückende Gefühl der Unterlegenheit zu mindern. Ein kurzes Zucken ihres rechten Oberarmes reichte als Warnsignal, dass sie damit überhaupt nicht einverstanden war.
„Man nennt mich Sentry“, erwiderte er überrascht darüber, dass seine Stimme diesmal auf Anhieb funktionierte.
„Mir doch egal wie man dich nennt. Normalerweise lassen die hier nur Leute rein, die vorher ein paar Zähne als Pfand hinterlegt haben oder wie die Kleine dort drüben, ihre Seele beim Allmächtigen abgegeben haben. Wer zum Teufel bist du?“
Während er noch grübelte, welche Antwort die geeignete wäre und er zu dem Schluss kam, dass keine Variante ihn am Ende vor Prügel bewahren würde, öffnete sich die Tür. Olof und Igor stürmten herein. Wieder reagierte sie agiler als ihrer körperlicher Zustand es vermuten ließ. Sie gab Olof einen Tritt zwischen die Beine, bevor dieser überhaupt realisierte, dass sie ihr Angriffsziel geändert hatte. Er krümmte sich vor Schmerzen und hatte damit jegliche Möglichkeit auf Verteidigung eingebüßt. Dieser verlockenden Gelegenheit konnte sie nicht widerstehen und während Olofs Nase geräuschvoll brach, setzte sich bei ihr die Erkenntnis durch einen Fehler begangen zu haben. Der süße Triumph, diesem Mistkerl eine passende Begrüßung bereitet zu haben, verhinderte eine zeitnahe Abwehr des zweiten Angriffes. Igor bekam dadurch die notwendige Zeit, sie mittels Elektroschock außer Gefecht zu setzen.
„Miese Schlampe“, zischte Igor und gab ihr eine zweite Dosis Strom. Seine Wut war noch nicht besänftigt und so trat er dem wehrlosen Opfer in die Magengegend.
Während Igor seiner Wut freien Lauf ließ, blieb Zeit für ein Blick auf Olof. Der kniete wimmernd vor der Tür und das Blut floss ihm aus der Nase. Diese Welt war doch nicht frei von Gerechtigkeit.
Igor hatte was von einem Berserker. Seine Wut musste sich entladen und da die Rotblonde ihm durch ihre Ohnmacht keine Genugtuung mehr verschafften konnte, rückten andere Gefangene als potentielle Opfer in seinen Wirkungsbereich. Er war bereit seinen Frust auf Sentry in Form von Prügel abzuladen, doch eine unbekannte Kraft zwang ihn zur Beherrschung. Als spärlichen Ausgleich versetzte er dem leblosen Frauenkörper einen letzten Tritt. Dann packte er Olof und die beiden verschwanden durch die Tür.
Zwei geschundene Körper lagen reglos vor ihm und wenn er es genau betrachtete, steckte auch nicht mehr Leben in der Blondine schräg gegenüber. Er war praktisch allein und hatte keine Ahnung was er machen sollte. Wieder mal war die ganze Situation im Extremzustand und erneut schoss das Adrenalin durch seine Venen. Konnte ein Körper das auf Dauer durchhalten? Mit Femtos sicherlich.
Die Rotblonde stöhnte auf. Ein Zeichen dafür, dass sie noch lebte. Er kroch zu ihr rüber und drehte sie auf den Rücken. Sie zuckte zusammen vor Schmerz. In dem Zustand stellte sie keine Gefahr für ihn da. Von all den Verrückten, die er die letzten Tage kennengelernt hatte, war sie diejenige, für die er so etwas wie Sympathie aufbringen konnte. Das Brechen von Olofs Nase brachte ihr den einzigen Pluspunkt ein und katapultierte sie damit an die Spitze einer ohnehin kurzen Rangliste. Anderseits war sie drauf und dran ihn zu verprügeln, weil er keine Antwort auf seine Herkunft hatte. Das hatte sie dann gemeinsam mit Red. Vermutlich war sie eine weibliche Ausgabe von dem Narbengesicht.
Unter Schmerzen quälte sie sich hoch und saß nun mit dem Rücken angelehnt neben der Eingangstür. Sie ignorierte ihren Helfer vollends und konzentrierte sich auf ihre Blessuren. Sie knöpfte ihre Bluse auf und tastete ihre Rippen ab. Die Auswirkungen von Igors Tritten würden sich in Form von Blutergüssen innerhalb der nächsten Stunden zeigen.
„Igor dieser Witz von einem Kerl. Keine Kraft in seinen Tritten. Jedes zehnjährige Mädchen kann das besser. Nicht eine Rippe gebrochen, alles nur geprellt“, stöhnte sie in seine Richtung.
Er schaute auf die Schwellungen. Kaum zu glauben, dass da nichts gebrochen war. Sein Blick wanderte höher zu ihren Brüsten, die ihm in Form, Farbe und Gestalt der Perfektion nahe kamen. Somit war auch klar, welche sexuelle Orientierung bei ihm vorhanden war.
„Ich habe heute schon zwei Eier aufgeschlagen“, fuhr sie ihn wütend an. Er zuckte zurück.
„Ich will nur helfen“, sagte er entschuldigend.
„Ok. Dann beantworte meine Frage, während ich diesen Elektromist aus meinen Eingeweiden bekomme, die mir dieser Penner verpasst hat.“
Ihm fiel erst jetzt auf, dass sie gelegentlich zitterte.
„Du siehst aus wie das blühende Leben. Reds Handelsware zeigt sonst mehr Abnutzungserscheinungen.“ Sie deutete auf die Blondine, während sie sich die Bluse unter Schmerzen wieder zuknöpfte.
„Ich weiß nicht wer oder was ich bin. Du musst mir glauben. Das ist das die Wahrheit“, antwortete er trauriger, als es ihm lieb war.
Sie hielt kurz inne im zuknöpfen und musterte ihn. Erstmals erkannte er etwas Anderes als Hass in ihrem Gesicht.
„Was soll denn das heißen?“, fragte sie wieder ins alte zornige Muster zurückfallend.
„Meine Welt besteht aus Red, diesen Typen, dir und diesem Gefängnis. Alles was davor geschah, ist im besten Fall verschüttet.“ Er tippte an seine Stirn.
„Na dann willkommen in der Hölle“, brachte sie gerade noch zu Ende, bevor eine weitere Nachwirkung aus Igors Elektrospielzeug ihren Körper erschütterte.
„Was hat er mit uns vor?“, fragte er.
Sie musterte ihn erneut, diesmal mit mehr Geringschätzung. Von einer potentiellen Gefahr war eindeutig keine Spur mehr. Er war zum nervigen Ärgernis herabgestuft worden.
„Sentry, hm. Hat Red dir den Namen verpasst? Sein Comic-Splean wird langsam nervig.“ Sie ignorierte bewusst seine Frage und kümmerte sich weiter um ihre Verletzungen.
„Hast du auch einen Namen?“, fragte er mit wesentlich mehr Mut in der Stimme.
„Dina“, rückte sie nach kurzem Zaudern heraus.
„Und jetzt lass mich in Ruhe“, fauchte sie.
Er kroch zu dem Jungen rüber, der Dinas Zorn als erstes zu spüren bekommen hatte. Im ersten Moment schien er immer noch den Auswirkungen des Schlages erlegen. Ein leises Wimmern bestätigte, dass das Leben in den zusammen gekauerten Körper zurückkehrte.
Er war höchstens 20 Jahre alt und allen Anschein nach war er diesem Wahnsinn hier am wenigsten gewachsen. Eine vorsichtige Berührung ließ ihn leicht zusammenzucken.
„Gehts wieder?”, versuchte er ihn zu trösten. Seine Stimme klang als spräche er mit einem kleinen Kind, welches sich gerade die Knie aufgeschrammt hatte.
Jetzt flossen die Tränen und als wäre dieses Häufchen Elend ein Spiegelbild seines zukünftigen Ichs, überkam ihn erneut dieses Angstgefühl der Ungewissheit über die Dinge, die da folgen würden. Er brauchte Informationen, auch auf die Gefahr hin, dass sie als Nahrung dieser Angst dienen könnten. Konnte es eigentlich schlimmer werden? Wenn er sich so umschaute, war er sich sicher, dass sich dieser Horror noch steigern ließe.
Er half dem Jungen in eine Sitzposition, so dass dieser einen freien Blick auf seine Peinigerin hatte. Der Schlag hatte eine nützliche Nachwirkung auf ihn. Der Junge war zurück in der Realität und seine panische Ausblendung sämtlicher Umgebungsvariablen, wurde ihm mit dem KO praktisch ausgeprügelt.
Wenn er Informationen bekommen wollte, musste er Vertrauen erwecken. Das gelang ihm nur, wenn er die Angst seines gegenüber etwas mindern konnte.
„Wie heißt du? Ich bin Sentry.“ Mit dem letzten Satz akzeptierte er Reds Schöpfung, obwohl alles in ihm gegen diese Namensgebung rebellierte.
Der Junge schaute ihn an und rang mit sich, ob die simple Preisgebung seines Namens ihn wieder in Schwierigkeiten bringen könnte.
„Pius“, entschied er sich und füllte den Raum mit etwas, was hier sicherlich selten vorhanden war. Vertrauen.
„Wie geht’s deinem Kopf?“, nährte Sentry das zarte Pflänzchen.
„Leichte Kopfschmerzen. Wird hoffentlich wieder.“
Da er „wie das blühende Leben“ aussah, war es schwierig weiteres Vertrauen über gemeinsame körperliche Schmerzen aufzubauen. Er wechselte zu der Angst über ihre ungewisse Zukunft. Die konnte er mit Sicherheit mit Pius teilen.
„Verdammt wo sind wir hier? Was ist das für ein Ort?“, fragte er mit ängstlicher Stimme.
Volltreffer. Der Ansatz passte und lockerte Pius Zunge.
„Wir sind auf Reds Schiff“, erklärte Pius ungläubig. Die Überraschung musste Sentry deutlich anzusehen gewesen sein.
„Die leichten Vibrationen sind doch eindeutig zu spüren.“ Als Bestätigung legte Pius die Hand auf den Boden.
„Ein Raumschiff?“, fragte Sentry verwundert. Das hatte gesessen. Schon die erste neue Information war wie ein Schlag in die Magengegend. Wollte er mehr wissen? Er musste mehr wissen.
„Wo will er denn mit uns hin?“
„Ich hab keine Ahnung. Da wo es den besten Preis für uns gibt?“, erwiderte Pius.
Preis? Handelsware hat Dina die Blonde genannt. Sind wir Sklaven? Seine Gedanken überschlugen sich.
„Er will uns verkaufen“, sagte er mehr zu sich selbst, als erschreckende Erkenntnis dessen, was er gerade erfahren hatte.
„Ich bin mir sicher du bereust es gefragt zu haben“, mischte sich Dina von der anderen Seite des Raumes ein.
Pius ging sofort in eine verkrampfte, ängstliche Sitzposition über. Der frische Mut um mit Sentry zu reden, war durch Dinas Worte sofort wieder dahin. Ihre blauen wütenden Augen flößten jedem der klar denken konnte Angst ein. Ihre lädierte Gestalt verstärkte diese Ausstrahlung. Auch Sentry ließ sich anstecken.
„Du musst wissen, dass unserer Sentry hier nicht die geringste Ahnung hat, was auf ihn zukommt“, erklärte sie Pius in verächtlichem Tonfall.
Sie quälte sich hoch und näherte sich den beiden, was den Stresspegel von Pius auf Anschlag brachte.
„Keine Erinnerungen, keine Ahnung wo er ist oder was ihn erwartet. Sein ganz persönlicher Albtraum“, sagte sie immer noch an Pius gewandt. Ihre Stimme klang für Sentry verstörend.
Die Tür öffnete sich und durchbrach die Atmosphäre von Angst, die Dina mit den letzten Worten gezielt erzeugt hatte. Ähnlich wie Red genoss sie diese Form des Sadismus. Nur eine Ausprägung ihres Hasses auf Alles und Jeden.
Igor tauchte auf und Sentry konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Raum überwacht wurde. Zu groß wäre der Zufall, dass er genau dann den Raum betrat, wenn die Nase brechende Insassin auf Ärger aus war.
Er warf vier Kaloriengetränke in den Raum.
„Wie geht’s den Eingeweiden, Schlampe?“, funkelte er Dina an und schwenkte den Elektroschocker vor sich her.
„Vermutlich besser als der Nase deines fetten Freundes“, raunte sie zurück und befand sich trotz der Verletzungen in Lauerstellung.
Auch Igors Muskeln waren angespannt. Die verbale Auseinandersetzung schien jeden Moment in einen handfesten Konflikt umzuschlagen, in dem ohne Zweifel Dina den Kürzeren ziehen würde.
Der Elektroschocker in seiner Hand gab Igor die Sicherheit weiter zu sticheln.
„Von all den miesen Schlampen die Red gevögelt hat, musste er gerade dich am Leben lassen.“ Seine Verachtung war kaum zu überhören.
Diese Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Für den Bruchteil einer Sekunde brach ihre Fassade aus Wut zusammen. Ihr Schmerz und die Verzweiflung lagen offen an der Oberfläche. Sie hatte die Alternative zum Wahnsinn gewählt. Den Hass. Ein perfektes Betäubungsmittel, doch die permanente Dosis machte sie abhängig. Vermutlich war sie längst über die Möglichkeit eines Entzuges hinaus. Der Rausch vollkommen frei von moralischen Grundsätzen zu sein, ließ sie als menschliches Wesen verkümmern. Dieser Hass war ihr Schicksal bis zum erlösenden Tod.
Zu Sentrys Überraschung fiel sie nicht über Igor her. Sie konnte sich beherrschen. Der Rest an Vernunft zeigte ihr die Sinnlosigkeit eines Angriffes auf.
„Ein Fehler, den er noch bitter bereuen wird“, presste sie voller Zorn hervor.
Igor erwiderte nichts mehr und verschwand hinter der Tür.
Dina schnappte sich eine der Flaschen und ging zu der lethargischen Blondine am anderen Ende des Raumes.
„Komm trink das“, kommandierte sie in einem Befehlston, der keinen Widerspruch akzeptierte. Das zeigte zunächst keine Wirkung. Erst eine sanfte Ohrfeige erzeugte eine Regung.
„Komm schon, du tust uns allen kein Gefallen, wenn du uns hier drinnen verhungerst.“
Sie drückte ihr die geöffnete Flasche in die Hand. Zitternd mit zwei Händen trank die Blondine die Flasche nach und nach leer.
„Braves Mädchen.“ Dina verharrte solange bei ihr, bis die Flasche vollkommen geleert war. Es war eine absurde Situation. Die Frau, die bei der kleinsten Angelegenheit bereit war jedem in diesem Raum eine Überdosierung an Schmerz zu verpassen, zeigte plötzlich Mitgefühl. Für Sentry war sie damit unberechenbar geworden.
Sie wandte sich wieder Pius zu. Dieser hockte wimmernd vor ihr, den nächsten Schlag erwartend, denn Hass und Zorn hatten wieder übernommen. Sie entschied sich für eine andere Form der Demütigung und schaute ihn nur verächtlich an, auch wenn eine Tracht Prügel ihr mehr Befriedigung gebracht hätte. Sie trank eine der Flaschen leer, setzte sich in ihre Ecke und schien unheimlich erschöpft. Die letzte halbe Stunde hatte sie viel Kraft gekostet und die Schmerzen taten ihr Übriges.
Jeder der vier Insassen war gefangen in seiner eigenen Welt. Wut und Hass auf der einen Seite, Angst bei Pius, Verwirrung bei Sentry und in welcher Zuflucht die Blonde war, konnte keiner erahnen.
Für Sentry war es dringend notwendig das Chaos zu ordnen. Er befand sich auf einem Raumschiff. Red und sein Trupp hatten ihn vermutlich entführt und wollten ihn verkaufen. Aber woher kam er und warum erinnert er sich nicht an die Entführung? Er stand unter Drogen bei seinen ersten Schritten in diese grausame Welt, da war er sich ziemlich sicher. Hat Red sie benutzt um ihn leichter zu fangen? Waren sie die Ursache für seine Amnesie? Tausend Fragen und zu wenig Antworten. Da sind auch noch die Femtos. Wie viel mag ein Sklave mit solchen Fähigkeiten wert sein? Jede Frage erzeugte neue Fragen. Ein endloses Karussell aus Unwissenheit. Ziellos irrten die Gedanken durch seinen Kopf. Irgendwann würde das alles einen Sinn ergeben. Hoffentlich blieb er lange genug am Leben, um das Puzzle zusammen zu setzen.
Es dauerte etwa zwei Stunden, ehe Pius es wagte etwas gegen seine lähmende Angst zu tun. Dinas angeschwollene Prellungen beschränkten ihre Bewegungsfreiheit und sie verfiel in einen unruhigen Schlaf. Das gab ihm den nötigen Mut, um leise zu Sentry zu kriechen.
„Die ist wahnsinnig und wird uns noch alle umbringen.“
Dass er zu ihm kam, bestätigte ihn in seiner gestarteten Vertrauensoffensive. Er brachte alles andere als Sympathie für Pius auf, aber er brauchte mehr Informationen.
„Wo kommst du her?“, fing er an, obwohl ihn das überhaupt nicht interessierte. Er konnte nicht mit der Tür ins Haus fallen und so heuchelte er Interesse an ihm vor.
„Wir sind von Comox, Lisa und ich.“ Er deutete auf die Blondine.
„Wo die Hexe herkommt weiß ich nicht. Wo stammst du her?“
„Ich habe keine Ahnung.“
„Dann hatte sie Recht, dass du nicht weißt wer du bist?“
Das ging schneller als gehofft. Pius hatte selbstständig das Thema auf ihn gebracht. Nun musste er vorsichtig sein, nicht mit einer unpassenden Bemerkung das Vertrauen zu erschüttern.
„Ja, keinerlei Orientierung. Ich weiß nicht wo ich herkomme oder wo ich hier bin“, gab er ihm eine Steilvorlage.
In dem Gefühl ein größeres Elend, als sich selbst vor sich zu haben, nutze Pius die Gelegenheit Selbstvertrauen zu tanken, indem er bereit war, das von Sentry zu untergraben.
„Red wird dich sicher an die Gilde verkaufen. Die nehmen derzeit alles für ihre Minen“, äußerte sich Pius herablassend, als wäre er sich sicher, dass ihm selber dieses Schicksal erspart bliebe.
Für Pius stand Sentry in der Hierarchie unter ihm und das obwohl es tiefer eigentlich nicht mehr ging. Einzig allein die Tatsache, dass er wusste, was ihn hier erwartete und wie er in dieses Dilemma gekommen war, qualifizierte ihn für diese Überlegenheit. Wüsste er von den Femtos und Reds Angst diese vielleicht zu provozieren, er würde sicherlich ähnlich ängstlich vor Sentry niederkauern, wie er es bei Dina praktizierte.
Die Erkenntnis, dass auch Pius kein Halt in diesem ganzen Elend bot und er dadurch gezwungen war, sich vollkommen ohne Hilfe in dieser Welt zu orientieren, deprimierte ihn.
„Bin ich auch von Comox?“
Mit dieser Frage streichelte er Pius Ego enorm, denn es bestärkte diesen in seiner erhabeneren Position.
„Nein, natürlich nicht. Du kamst erst viel später dazu. Wir sind zwischendurch gesprungen.“
„Gesprungen?“
„Ja in ein anderes System“, erwiderte er mit einem mitleidigen „du weißt ja gar nichts“ Blick.
„Weißt du etwas über meine Entführung?“
„Bis vor ein paar Stunden wusste ich nicht mal, dass es dich gibt.“
Pius schien sichtlich genervt von der Fragerei. Egal, eine musste noch.
„Glaubst du, dass die Sache für uns hier ein gutes Ende nimmt? Gibt es Hoffnung?“
Er schaute Sentry ins Gesicht und in diesem Moment kam ihm wohl die Erkenntnis, dass es egal war, ob sein Wissen über diese Realität ihm einen Vorteil verschaffte oder nicht. Alle hier in diesem Raum würde dasselbe Schicksal ereilen. Die Hoffnung auf eine tröstende Antwort wurde durch das Schweigen gnadenlos zerstört. Hoffnung war hier vollkommen fehl am Platz. Das passte nicht in diese Welt.
Das Fehlen von Tageslicht machte es schwer sich zeitlich zu orientieren. Wie viele Stunden oder Tage vergingen, konnte Sentry nicht mal erahnen. Einzig die Fütterung mit Kaloriengetränke, gab ihm einen gewissen Rhythmus. Trotzdem war es unmöglich das irgendwie einzuordnen und die Vorstellung bis in alle Ewigkeit in diesem metallischen Gefängnis zu verbringen, deprimierte ihn mit der Zeit. Die Psyche drohte permanenten Schaden zu nehmen. Hinzu kam der Überschuss an Energie, der aus Mangel an Möglichkeiten zur Bewegung, ihn unruhig werden ließ. Ein Problem, mit dem er nicht allein zu kämpfen hatte. Dina, die sicherlich eine weit höhere Kesseltemperatur besaß als er, saß zwar ruhig in ihrer Ecke, aber die Spannungen im Raum konnten schnell in handgreiflichen Konflikten eskalieren. Abgesehen von Lisa, die sich trotzig in ihre Welt zurückzog, herrschte ein Klima von gegenseitigem Misstrauen. Pius drohte jederzeit als Ablassventil für Dina herhalten zu müssen und so ließ er sie keinen Moment aus den Augen. Noch erachtete sie ihn als unwürdig Energie in Form von Prügel an ihn zu verschwenden. Für sie gab es weit besser geeignete Kandidaten auf diesem Schiff, an denen sie ihrer Wut freien Lauf lassen wollte und so zügelte sie ihren Zorn, in der Hoffnung auf den richtigen Moment.
Die gelegentlichen verbalen Demütigungen durch Dina gab Pius in zeitlicher Verzögerung an Sentry weiter. Dieser ignorierte die herablassende Art und nutzte die Gelegenheit, um mehr über diese Welt zu erfahren. Pius war so einfach manipulierbar und so war es ihm mittlerweile möglich, weitere Informationen aus ihm herauszuholen.
Die düstere Inszenierung war nicht immer logisch, aber die Ungereimtheiten in Pius Geschichten konnte Sentry weites gehend mit anderen Teilen seiner Erzählung kompensieren. Es hielt seinen Geist fit die einzelnen Bausteine zusammenzusetzen. Sie lebten in einer posttechnischen Welt. Für die meisten Menschen waren technische Gegenstände zu einer großen Unbekannten verkommen, die sie zum notwendigen Überleben brauchten. Nur wenige kannten noch die physikalischen und mathematischen Zusammenhänge, die dahinter steckten. Die Dinge erfüllten einfach ihren Zweck und damit besaßen sie für den größten Teil der Galaxie-Bewohner etwas Magisches.
Wenn diese Magie erlosch, gab es kaum Möglichkeiten für eine weitere Nutzung. Nicht nur das fehlende Wissen erschwerte eine Reparatur, es herrschte auch ein Mangel an neuen Ersatzteilen. Es gab praktisch keine Produktion mehr und so wurde das genutzt, was bereits Jahrhunderte vorhanden war. Dementsprechend alt und anfällig war die lebenswichtige Technik geworden. Laut Pius wurde das letzte Raumschiff vor mehr als tausend Jahren gebaut.
Die wenigen Spezialisten mussten keine jahrelangen Studien über physikalische Grundlagen absolvieren. Ihr technisches Verständnis begrenzte sich auf das richtige zusammensetzen der einzelnen Bauteile. Erfahrung war der Reparatur-Kit und vergammelte Ersatzteile die Währung im interstellaren Handelssystem geworden. So hatten sich verschiedene Formen von Dienstleistungen etabliert, um das Notwendigste am Laufen zu halten.
Forschung und Entwicklung waren weites gehend zum Erliegen gekommen. Die kläglichen Überreste einer einst fortschrittlichen Zivilisation wurden von ahnungslosen Nachfahren verwaltet. Die technische Welt Ihrer Ahnen hatte aus mathematischen Gleichungen bestanden. Der moderne Mensch dagegen war zum reinen Anwender verkommen und steuerte damit auf sein eigenes Verderben zu. Selbst die beste Technologie konnte ohne Grundlagenwissen nicht ewig erhalten werden. Damit war das Vermächtnis der Vorfahren zeitlich begrenzt und der Niedergang der Menschheit war unaufhaltsam. Der Kampf um die letzten technischen Ressourcen war im vollen Gange.
Diese Vorfahren wirkten in Pius Beschreibungen wie Götter aus einer anderen Welt. Ihr Ursprungsplanet war unbekannt und besaß in seinen Beschreibungen etwas mystisches. Offenbar machten mehrere Welten ihren Anspruch auf diesen Titel geltend. Wirklich gesicherte Erkenntnisse dahingehend gab es nicht mehr. Jedenfalls fand die Expansion ins All von diesem ominösen Ursprung statt. Exponentiell wollte die Menschheit die Galaxis besiedeln und da wenig bewohnbare Welten vorhanden waren, wurden Klumpen aus Gestein und Staub in blühende Landschaften verwandelt. Allein diese Technologie des Terraformings zeigte auf, welch Fortschritt zu diesen Zeiten vorhanden gewesen sein musste.
Diese gottgleichen Fähigkeiten ermöglichten das Besiedeln von mehr als fünfzig neuen Kolonien, was ein enormes Bevölkerungswachstum zur Folge hatte. In diesen Jahren des exponentiellen Aufstieges musste irgendwas schief gelaufen sein. Pius nannte sie die große Katastrophe. In welcher Form, das variierte in seinen Geschichten. Mal war es eine Epidemie, ein andermal ein vernichtender Krieg, selbst außerirdische Kreaturen brachte er in seine wirren Geschichten ein. Fakt war: Der größte Teil der Menschheit starb und keine der neuen Kolonien blieb verschont.
Die große Katastrophe war nur ein Vorspiel im eigentlichen Untergang der Zivilisation. Nach einer kurzen Phase des Machtvakuums zeigte die menschliche Natur scheinbar längst überwundene Verhaltensmuster. Feudale Gesellschaftsformen von Dominanz und Herrschaft entstanden, was durch unterschiedliche Interessen unweigerlich zu Spannungen führten. Es dauerte nicht lange, bis konkurrierende Gruppen in kriegerischen Konflikten übereinander herfielen. Die Unendlichkeit der Galaxie war zu klein geworden und das gemeinsame Überleben wich dem Recht auf Herrschaft des Stärkeren.
Zu dieser Zeit ging die technische Weiterentwicklung auf ein Minimum zurück. Schulbildung wurde durch Kampfausbildung ersetzt. Wer überleben wollte, musste sich zu wehren wissen. Alles wurde auf den Kriegsapparat optimiert. Warlords beherrschten die Systeme und eine Legionärskultur etablierte sich. Hungersnöte und Seuchen entvölkerten die Welten weiter. Niemand konnte sich dem Chaos entziehen und verschiedene militärische Fraktionen machten ihre Ansprüche auf die Vorherrschaft in der Galaxie geltend. Die Kriegsmaschinerie wuchs weiter an und die zivilen Strukturen bluteten nach und nach aus. Ein erneuter Kollaps war unvermeidlich. Ein Krebsgeschwür aus Gier und Machtanspruch ergriff die Galaxie und drohte die eigene Lebensgrundlage zu zerstören. Die Menschheit schien dem Untergang geweiht.
Die Bevölkerung schrumpfte auf ein Minimum und manche Welten waren für alle Zeit unbewohnbar geworden. Kurz vor dem absoluten Ende blieben zwei Kriegsparteien übrig, die sich dem Niedergang halbwegs entziehen konnten. In all dem Wahnsinn, welcher sich die letzten Jahre abgespielt hatte, war Krieg für sie keine Option mehr. Diese Einsicht hatte ihnen das Überleben gesichert und sollte ihnen den Vorteil verschaffen, den sie für den mühsamen Wiederbelebungsversuch der verbliebenen Menschheit benötigten.
Es war die Geburtsstunde der wohl bekanntesten historischen Person in diesem Universum. In der Form, wie Pius ihn darstellte und die glorifizierende Art und Weise wie er über ihn redete, stellte ihn auf eine Stufe mit einem Erlöser. Der als Liberator bekannte Messias legte den Grundstein für ein neues Zeitalter. Mit dem Zusammenschluss der verbliebenen Kriegsparteien zeigte er die lang ersehnte Alternative zum Krieg auf.
Seine charismatische Ausstrahlung war die Medizin für die vom Krieg geschundene Seele der Überlebenden. Wie schon so oft in der Geschichte klammerten sich die Menschen in ihrer größten Not an schillernde Gestalten, die ihnen eine bessere Zukunft versprachen. Diese Kombination aus vorhandenem Elend und Charisma ermöglichte ihm in imperialer Art und Weise die Kontrolle über die meisten Welten. Ohne großen Widerstand folgten ihm die Menschen in die neue Zeit von versprochenem Frieden und Wohlstand.
Diese Phase dauerte 200 Jahre und endete auch nur, weil der Liberator eines Tages plötzlich verschwand. Über die Umstände seines Verschwindens gab es die wildesten Spekulationen. Für Pius war er ins Himmelreich aufgestiegen und wachte weiterhin über die Systeme in einer gottgleichen Form, bereit zurückzukehren, sollte er gebraucht werden. Wahrscheinlicher war allerdings, dass er einfach entmachtet wurde oder durch einen Unfall ums Leben kam. 200 Jahre schienen eine relativ unwahrscheinliche Zeit, so dass vermutlich ein früheres Abtreten stattfand und allein der Mythos die Welten zusammenhielt.
Seine Nachfolger waren dem schweren Erbe nicht gewachsen und die teuer erkaufte Einheit drohte zu zerfallen. Die einzelnen Welten standen wieder in Konkurrenz zueinander. Kriegerisches Chaos konnte vorerst vermieden werden, allerdings spitzte sich die Lage in den letzten 50 Jahren gefährlich zu. Gelegentliche Ausbrüche in Gewalt zwischen einzelnen rivalisierenden Gruppen waren mittlerweile an der Tagesordnung. Konnte man Pius glauben, so stand der Rückfall in eine von Warlords kontrollierte Welt unmittelbar bevor. Der Ton wurde merklich rauer in den letzten Jahren und individuelle Ziele standen über denen einer Gemeinschaft.
Wie schon beim ersten Mal war die Technologie der entscheidende Trumpf. Nur war sie deutlich seltener und damit wertvoller geworden. Eine zusätzliche Lunte für das Pulverfass. Sollten Pius Ausführungen nur annähernd stimmen, war er ein wesentlicher Bestandteil dieser neuen Leitwährung. Die Femtos in ihm waren vermutlich sogar die Spitze militärischer Technologie. Die Tatsache, dass Red sein Geheimnis kannte, ließ seine Eingeweide verkrampfen. Der Gedächtnisverlust, die Sklaverei und nun das. Die Steigerungsrate seines Albtraums nahm Schwindel erregende Fahrt auf. Es gab nichts, wofür es sich zu leben lohnte, aber jede Menge Argumente, diesen Wahnsinn auf die eine oder andere Art zu beenden.
Die Zeit in diesem metallischen Gefängnis schien still zu stehen. Die einzigen Abwechslungen bestanden in den regelmäßigen Fütterungen durch Igor und Olof. Begleitet wurden die seltenen Besuche mit widerlichen Bemerkungen gegenüber Lisa. Mit körperlichen Übergriffen hielten sie sich zurück, was ihr wenigstens äußerlich Erholung verschaffte. Ihr Geist dagegen war für immer gebrochen und Sentry vermutete, dass ihr selbst Femtos keinerlei Heilung verschaffen würden.
Diese Zurückhaltung ihrer Aufseher war ein untrügliches Zeichen dafür, dass ihre Reise dem eigentlichen Ziel entgegen ging. Die „Ware“ musste in gutem Zustand präsentiert werden. Sich ihres körperlichen Vergnügens beraubt, bekamen Pius und Lisa dafür die doppelte Ration an verbaler Herablassung. Dina hatte sich mit Olofs Nasenbeinbruch ein gewisses Maß an Ruhe erkämpft und Sentrys Schutz bestand in der Ungewissheit über die Fähigkeiten seiner Femtos. Die ängstliche Zurückhaltung seiner Peiniger ihm gegenüber, weckte Dinas Misstrauen.
„Du bist an Elend kaum zu überbieten und trotzdem kriegen die beiden das Zittern, sobald sie in deinen Dunstkreis kommen. Selbst meine Nasenkorrektur bei dem Fetten hatte nicht annähernd so viel Eindruck hinterlassen. Was zum Teufel hast du mit denen gemacht?“, funkelte ihn Dina an.
Wieder hatte er den Eindruck, dass keine seiner Antworten sie in irgendeiner Weise befriedigen würde. Weder die Wahrheit noch eine gut vorgetragene Lüge würde ihren Zorn besänftigen. Für Letzteres fehlte ihm ohnehin die nötige Überzeugungskraft, um die durchaus vorhandene Intelligenz von Dina täuschen zu können. Resignation erfasste ihn, die sofort umschlug in Trotz und Verzweiflung. Sollte sie gewalttätig werden. Ihm egal. Vermutlich würden Reds Handlanger wieder eingreifen. Die teure Technologie musste ja beschützt werden.
„Wenn du dir die Typen nicht vom Hals halten kannst, ist das dein Problem.“ Das klang trotziger als beabsichtigt. Es war kein Mut, den er an den Tag legte, es war pure Resignation, daher währte Dinas Überraschung nicht sehr lange.
„Wenn du glaubst es könnte nicht schlimmer kommen, kann ich dich gerne vom Gegenteil überzeugen“, drohte sie ihm.
Er schaute sie an und das Treffen ihrer Blicke entwickelte sich zur Machtprobe. Doch hier trafen keine zwei Alpha-Tiere aufeinander, die ihren Führungsanspruch untermauern wollten. Keine Chance für Sentry, Mut war bei ihm nicht vorhanden. Er wendete sich ab, aber ohne den nötigen Respekt für den vermeintlichen Sieg zu zeigen.
Dina gab sich zufrieden und entspannte damit die Situation vorläufig. Er hatte den Eindruck, dass er wieder eine Gefahrenstufe aufgestiegen war. Vermutlich würden auch die Femtos nicht mehr lange im Verborgenen bleiben. Wieder realisierte er, dass die Gefahr auch innerhalb dieses Gefängnisses permanent präsent war. Ihre natürliche Schönheit wurde vollständig kompensiert durch ihre vergiftete Seele.
Das er Red irgendwann wieder gegenüber sitzen würde, war ihm die ganze Zeit bewusst gewesen. Als er dann endlich zu ihm geführt wurde, genoss er die Abwechslung zu seinem fensterlosen und grell erleuchteten Gefängnis. Die Resignation siegte über die Angst und so sah er dem zweiten Treffen entspannt entgegen.
Die Gegensätze zum ersten Mal konnten kaum unterschiedlicher sein. Red stand unter enormer Anspannung und Sentry schien die Ruhe selbst. Keine Spur mehr von Gelassenheit bei seinem Peiniger. Dass seine bewaffnete Leibgarde Olof und Igor mit im Raum waren, untermauerte Reds Nervosität. Sentrys Ruhe, die zweifelsohne durch seine hoffnungslose Aussichtslosigkeit genährt wurde, wich mehr und mehr einer ängstlichen Neugierde und es dauerte nicht lange, bis das Maß an Aufregung, dem seines gegenüber in nichts nach stand. Eine seltsame Erwartungshaltung erfüllte den Raum.
Red versuchte sich zu entspannen.
„Verdammt, vielleicht sollten manche Geheimnisse geheim bleiben, aber es ist einfach zu verlockend“, brach er die unheimliche Stille.
„Diese Biester in deiner Blutbahn sind militärische Technik auf höchstem Level. Vermutlich wären wir schon Knochenmehl, wenn du wüsstest, wie du sie aktivieren kannst. Jetzt kommt das Verrückte. Ich helfe dir deine Superkräfte zu testen.“
Er atmete tief ein, als würde er mit dieser Entscheidung ringen.
„Verdammt ich will wissen, welche kranken Dinge diese Femtos in dir auslösen. Meine beiden Amigos hier passen auf, dass wir das hier überleben.“ Als Bestätigung für die Ernsthaftigkeit seiner Worte richteten Olof und Igor ihre Waffen auf Sentry. Zwei Psychopathen, die ihn mit Waffen bedrohten. Die Lethargie war verschwunden und sein Körper überschwemmte ihn mit Adrenalin. War das ein Vorbote für Femtos oder einfach nur Angst? Egal was die Antwort war, die nächsten Minuten würden schrecklich werden.
„Drei mögliche Schlüssel hab ich, um dich aus der Reserve zu locken. Mal schauen, ob wir dich nicht zum Tanzen bringen.“
Jetzt dämmerte es Sentry. Die Femtos sie werden durch Reize oder Gedanken aktiviert. Offenbar gab es etwas, was Red veranlasste zu glauben sie zum „Tanzen“ zu bringen. Er war im Zwiespalt. Gefangen zwischen Neugierde und Angst. Wollte er wissen zu was er fähig war? Das Unbekannte, es ist faszinierend und beängstigend zugleich. Wie eine emotionale Waage, bei der er nicht wusste, welche Seite am Ende den Ausschlag gab.
„Erster Versuch“, murmelte Red und hielt ihm ein elektronisches Tablet unter die Nase. Igor verstärkte seine bedrohliche Haltung.
Ein Bild von einem Eichhörnchen. Glaubte er wirklich mit diesem possierlichen Nager militärische Hochleistungstechnologie aktivieren zu können. Das wirkte absurd. Sentry entspannte sich und grinste vor sich hin.
„Schön, dass ich dich amüsiere, aber das ist nicht ganz die Reaktion, die ich erhofft hatte“, schnaubte Red ihn beleidigt an.
„Igor könntest du ihm bitte den Ernst der Lage erklären.“
Igor steckte die Waffe weg und zog den Elektroschocker aus der Tasche, mit dem er schon Dina malträtiert hatte.
Es wirkte wie tausend kleine Nadeln, die ihn gleichzeitig piesackten. Als wanderten sie durch seinen Körper, um jeden einzelnen Mikrometer in Schmerzen zu tauchen. Sämtliche Muskeln versagten ihren Dienst. Eine Sekunde dauerte das Martyrium, gefühlt war es eine Ewigkeit. Seine ganze Wahrnehmung bestand nur noch aus Schmerz. Wieder eine Erfahrung in seinem so kurzen Leben, auf die er gerne verzichtet hätte und wieder eine Expansion seines Elends. Die Grenzen wurden permanent erweitert und er war sich sicher, dass er irgendwann dem Wahnsinn verfallen würde. Viel fehlte nicht mehr und zu seinem Bedauern war Tod kein Option, denn so einfach sterben würden sie ihn nicht lassen.
„Das ist die niedrigste von drei Stufen. Wenn du die anderen auch noch testen willst, könnte Igor das sicher einrichten“, zischte Red grinsend in Sentrys Richtung.
Zehn Minuten war er praktisch bewegungsunfähig. Auch wenn der Schmerz relativ schnell nachließ, blieb ihm die Lähmung noch eine Weile erhalten. Tausende elektronische Insekten durchstreiften seinen Körper und störten die Kommunikation zwischen Gehirn und Muskulatur. Es blieb ihm nur die Hoffnung auf eine Rückkehr zu einem normalen Zustand. Ein erdrückendes Gefühl von Hilflosigkeit ergriff ihn. Was, wenn seine Mobilität für immer beeinträchtigt blieb?
„Zweite Runde“, erklärte Red bedeutungsvoll nach einer gewissen Weile. Die Nachwehen von Igors Elektroschocktherapie hatte Sentrys Körper noch nicht vollends verarbeitet. Leichte Bewegungen waren zwar möglich, aber er bezweifelte diesen Stuhl aus eigenen Kräften verlassen zu können. Was immer Red auch plante, er hatte kaum die Möglichkeit auf Gegenwehr
Dieses Mal versuchte er jede Form von Emotion zu vermeiden. Red hielt ihm die geballte Faust unter die Nase. Langsam drehte er sie, so dass seine Finger nach oben zeigten. Als er sie öffnete, lag eine Art Amulett auf seiner Handfläche. Es bestand aus einem Ring von ca. 3cm Durchmesser, welcher einen kleinen blauen Edelstein in der Mitte besaß. Ein sehr schönes Schmuckstück fand Sentry, aber der Zusammenhang zwischen ihm, den Femtos und diesem Amulett war ihm vollkommen unbekannt. Da er auch nicht anfing irgendwelche verrückten Sachen zu machen, scheiterte auch der zweite Versuch.
„Warum gerade das?“, reagierte Red auf den ratlosen Ausdruck in Sentrys Gesicht.
„Es war eine der zwei Grabbeilagen, die wir bei dir gefunden hatten. Der Klunker lag in deinem Kühlschrank.“
Für Sentry war das eine sinnlose Aneinanderreihung von Worten. Red genoss es die Verwirrung zu steigern.
„Kryonik ist das Zauberwort. Irgendwer hat dich irgendwann für irgendeinen Zweck eingefroren. Offenbar hielt er es für wichtig das Teil mit dazu zu legen. Würde mich echt mal interessieren wie lange du weg warst.“
Kryonik schoss es ihm durch den Kopf. Schockgefrieren von organischem Material zur Aufbewahrung über einen längeren Zeitraum. Er wusste was Red meinte, genauso wie er rechts von links unterscheiden konnte oder sogar Eichhörnchen kannte. Der Gedächtnisverlust kam ihm unheimlich selektiv vor, eingeordnet in die Dinge die er wissen sollte um zu funktionieren und Dinge, die man ihm mit Absicht vorenthielt.
„Genug geplaudert. Zeit für den Joker.“
Das klang so selbstsicher, dass Sentry das erste Mal dem Drang verfiel die Augen zu schließen. Die Angst, die Kontrolle an die Femtos abzugeben, steigerte seine Aufregung.
„Wenn du nicht wieder Igors kleines Spielzeug spüren möchtest, würde ich dir raten die Augen auf zu machen.“
Er atmete einmal tief durch und die Gewissheit dem Unvermeidlichen nicht entgehen zu können, drängte ihn zum Handeln. Zweimal war es lächerlich, was Red ihm vorgelegt hatte. Warum sollte es diesmal anders sein? Er kratzte seinen verbliebenen Mut zusammen und öffnete die Augen.
Reds Hand lag flach auf dem Tisch. Was immer er ihm zeigen wollte, es musste sehr klein sein.
„Bereit?“, fragte Red ihn erwartungsvoll, als hätte er wirklich eine Wahl.
Er zog die Hand weg. Was zum Vorschein kam, verursachte weder durch Femtos getriebene Verrücktheiten, noch vollkommen emotionsloses Staunen, wie es bei dem Schmuckstück der Fall war. Ganz im Gegenteil. Ein Gefühls-Tsunami ergriff ihn und löste widersprüchliche Gefühle in ihm aus. Abwechselnd spürte er Liebe, Trauer, Wut aber auch Angst. Er wollte Red diese Mixtur aus Verletzlichkeit vorenthalten, aber die Intensität dieser Emotionen war einfach zu stark. Es war ihm unmöglich die Tränen zurückzuhalten. Was passierte hier? Noch nie in seinem kurzem Leben hatte er so tiefgreifende Gefühle empfunden. Das alles war echt, das kam von ihm, aus seinem Inneren. Keine Technik, die die Kontrolle übernahm.
Reds Kommentare gingen unter im Versuch einen Grund für das alles zu finden. Für dieses Gefühlschaos musste es doch eine Erklärung geben. Krampfhaft suchte er in der Leere seines Geistes nach einer passenden Erinnerung, aber da herrschte nur Dunkelheit. Sie war vorhanden, da war er sich sicher, aber irgendwas hinderte ihn am Zugriff. Wer ihm diese Amnesie auch angetan hatte, schaffte es wesentliche Teile seines Lebens verborgen zu halten. Diese Gedankenbarriere war zwar undurchlässig gegenüber autobiographischen Tatsachen, aber löchrig hinsichtlich emotionalen Empfindlichkeiten.
Unter Tränen schaute er wieder auf den Tisch, in der Hoffnung das Bollwerk in seinem Kopf zum Wanken zu bringen. Vergeblich. Red hatte es nicht geschafft Femtos in ihm frei zu setzen, aber er hatte etwas Anderes erreicht. Der Sinn seines so bisher kurzen Lebens, er lag da vor ihm auf dem Tisch. Es gab wieder einen Grund diesem ganzen Wahnsinn hier lebend zu entkommen, auch wenn ihm bisher vollkommen unklar war, was seinen Antrieb befeuerte. Tod war nicht mehr die einzige Option. Sein Selbsterhaltungstrieb war wieder erwacht. Er wollte Antworten auf das, was gerade mit ihm passiert war. Auch wenn er nicht den Eindruck machte, er war fest entschlossen sich dieser grausamen Welt zu stellen. Er hatte ein Ziel, nun hatte er auch einen Grund zu leben.
II
„Alles was uns Seufzer entlockt und Schrecken einjagt, ist ein Tribut an das Leben.“
Lucius Annaeus Seneca
Unordnung. Das traf es wohl am besten. Die Erlebnisse aus Reds Versuchen seine Femtos zu aktivieren, musste Sentry erst mal sortieren. Eine Art mentales Ablagesystem, indem alles nach bestimmten Kriterien fein säuberlich archiviert werden konnte, um einen besseren Überblick zu bekommen. Am wichtigsten war es zu unterscheiden, welchen Informationen er trauen konnte und was Red nutzte, um ihn aus irgendeinem Grund zu verunsichern.
Er musste empirisch vorgehen. Traue nur den eigenen Erfahrungen und nutze sie als Referenz zu den Erlebnissen, doch da stand leider nicht viel auf der Habenseite. Anderseits war sein tabula rasa nicht vollkommen leer. Es war ihm zwar unmöglich auf bewusste Teile seiner Erinnerung zurückzugreifen, doch Emotionen, Empfindungen und Instinkte prägten das bisschen Persönlichkeit, dass sich ihm offenbarte. Von diesen größtenteils unbestimmten Aspekten seines eigentlichen Charakters hängte sein Überleben ab. Verrückt, aber er musste sich erst selbst kennenlernen.
Durch diese Zweifel über die eigenen Fähigkeiten war es ihm unmöglich vernünftige Entscheidungen zu treffen. Die scheinbare Fülle an neuen Informationen war nur ein Bruchteil dessen, was notwendig wäre, um in dieser Welt zurecht zu kommen. Langfristige Pläne für seine Zukunft waren bei diesem Mangel an Wissen unmöglich. Er sah sich gezwungen seinen Instinkten zu vertrauen, die irgendwann in einer unbekannten Vergangenheit geprägt wurden. Das Risiko zu scheitern war enorm hoch, doch er hatte keine Wahl. In dieser Situation war sein Schicksal nur minimal beeinflussbar. Die Erkenntnis frustrierte ihn. Einzig allein das Bild, dass Red ihm zeigte und dass die Vielzahl widersprüchlicher Emotionen in ihm auslöste, war sein Licht in der Dunkelheit. Es sollte für lange Zeit der einzige Grund sein, dem Selbsterhaltungstrieb nachzugeben.
Red war sichtlich enttäuscht gewesen, dass keiner seiner Versuche irgendwelche Reaktionen der Femtos hervorrief. Auf seine für ihn typische Art und Weise lebte er seine Frustration an Sentry aus. So kam dieser noch in den Genuss der Stufe zwei des Elektroschockers. Die Steigerung des Schmerzes war nur minimal, die Wirkung der Lähmung hingegen hielt deutlich länger an. Vollkommen bewegungsunfähig, schleppten Reds Schergen ihn wieder zurück zu den anderen Gefangenen.
Er nutze die kurze Zeit des Anblicks um sich die Details des Bildes möglichst genau einzuprägen. Es war auf Papier gebannt. Eine Photographie. Das war jedenfalls der Begriff, den sein löchriges Gedächtnis freigab. Sicherlich etwas, was in dieser technischen Welt nur noch wenig Anwendung fand. Das verwirrende Gefühlschaos wurde durch die Frau ausgelöst, deren melancholischer Gesichtsausdruck für die Ewigkeit festgehalten wurde. Es fiel ihm schwer die vorherrschende Emotion zu isolieren. Auch wenn die Intensität nachgelassen hatte, brachte die Mischung aus Verlustangst, Liebe und Zorn ihm die notwendige Energie. Er war bereit sich dem Wahnsinn zu stellen. Die Optionen waren weiterhin begrenzt, aber eine Zukunft ohne Gefangenschaft oder Sklaverei, war für ihn der einzige Ausweg. Für dieses erste Ziel war er bereit zu kämpfen.
Die Anzeichen verdichteten sich, dass sie sich dem eigentlichen Ziel ihrer Reise näherten. Die Unruhe der Besatzung, aber auch der bessere Zustand der Gefangenen deutete auf größere Veränderungen hin.
Wie sollte die Sache ablaufen? Kamen sie auf einen Sklavenmarkt, bei dem der höchst bietende ihn ersteigerte? Wie viel mag die Technologie in ihm wert sein? Alles Fragen über eine ungewisse Zukunft, die weiterhin nichts Positives erkennen ließ. Reds Hölle war wenigstens berechenbar geworden. Angst vor dem Unbekannten ergriff ihn. Er brauchte dringend Hilfe, wenn er überleben wollte.
Sie waren wieder gesprungen. Das Schiff erzitterte so extrem, dass Sentry befürchtete es würde auseinander brechen. Vor Tagen, oder waren es sogar Wochen gewesen, waren sie das erste Mal gesprungen und er geriet dabei so in Panik, dass Pius sich ein herablassendes Lachen darüber gönnte. Mittlerweile wusste er, dass der ganze Zauber nach ein paar Sekunden vorbei war. Welche gewaltige Technologie der Vorfahren ermöglichte es Lichtjahre innerhalb von Sekunden zurückzulegen? Das Prinzip der Raumkrümmung erforderte Unmengen von Energie. Das Problem war ihm bekannt, aber die technische Lösung lag irgendwo jenseits der Gedächtnisblockade. Wer immer die Sortierung in seinem Gehirn vorgenommen hatte, legte in diesem Bereich nicht viel wert auf Präzesion.
Etwa eine Stunde nach dem Abendmahl, das aus den bekannten orangefarbenden Kaloriengetränken bestand, tauchte Olofs Gesicht in der Tür auf. Eigentlich war die rituelle Fütterung der Gefangenen ein Zeichen für eine längere Schlafphase auf dem Schiff und so änderte der ungeplante Besuch die vermeintliche Ruhe in große Anspannung. Urinstinkte der Angst fluteten den Raum und versetzen die Insassen in lähmende Erwartungshaltung.
Dina hatte sich zuerst gefangen und begriff schnell den wahren Grund für den ungeplanten Besuch. Fest entschlossen wollte sie dem bevorstehenden Übel etwas entgegen setzten. Blitzschnell war sie auf den Beinen, aber Olof hatte solche Aktionen vorhergesehen, denn sein Elektroschocker brachte sie buchstäblich auf den metallischen Boden der Tatsachen zurück.
„Du miese Fotze. Sei froh, dass du nachher verladen wirst, sonst würde ich dir jeden Knochen einzeln brechen.“
Er wandte sich den männlichen Gefangenen zu.
„Wollt ihr auch etwas? Ansonsten haltet die Füße still, wenn ich mich mit der Süßen vergnüge.“
Mit „der Süßen“ war natürlich Lisa gemeint. Olofs Stimmungslage wurde gespeist aus einer Mischung von Alkohol, Genugtuung und freudiger Erwartung. Im Rausch der Unbesiegbarkeit blendete er sogar Sentry und die mögliche Gefahr seiner Femtos aus. So überzeugt von sich selbst und der Annahme mit seinem Objekt der Begierde leichtes Spiel zu haben, wandte er sich seinem Opfer zu.
„Heute bin ich zärtlich zu dir. Immerhin wollen wir morgen einen schönen Preis für dich erzielen“, raunte er Lisa entgegen.
Offensichtlich sollte Lisa das letzte Mal Olofs perverse Triebe befriedigen, doch es war unklar, wie weit er dabei gehen würde. Sentry befand sich in einem Zwiespalt. Das Gefühl etwas tun zu müssen, um nicht Zeuge eines widerlichen Schauspiels zu werden, stand seiner eigenen Feigheit gegenüber. Heldenmut oder Angsthase? Dummerweise kannte er das Ergebnis selbst nicht und so führte er seinen inneren Kampf mit der Ungewissheit über seinen eigenen Charakter aus. Alles in ihm sträubte sich gegen das Nichtstun, doch die Erinnerung an den Einsatz des Elektroschockers ließ ihn zögern.
Pius an seiner Seite hatte die Entscheidung für sich getroffen und war keine Hilfe. Der moralische Konflikt war einzig und allein durch ihn selber aufzulösen und obwohl die Furcht nicht geringer wurde, siegte die Entschlossenheit dem ganzen Schauspiel ein Ende zu setzen.
Er hatte keine Ahnung wie er das angehen sollte. Besaß er so was wie Nahkampffähigkeiten? Würde vielleicht eines der Femtos ihn unterstützen? Der Mangel an Informationen über seine eigenen Kampfkünste steigerte die Wahrscheinlichkeit kläglich zu scheitern. Trotzdem wollte er handeln, auch wenn das jede Menge Schmerz bedeuten würde. Das moralische Ich in ihm hatte die Oberhand gewonnen.
Die Gelegenheit war günstig. Olof leckte gerade auf eklige Art und Weise Lisas Gesicht ab. Diese gab sich vollkommen teilnahmslos und war bereit die Dinge zu akzeptieren, die da auf sie zu kamen. Als seine Hände an ihre Brüste gingen, sah Sentry den idealen Zeitpunkt zum Zuschlagen.
Er war nicht so schnell wie erwartet und sein gegenüber zeigte bessere Reaktionen als befürchtet. Unter diesen Voraussetzungen und der Tatsache, dass sein halbherziger Plan Olof mit einem einfachen gezielten Hieb niederzustrecken nicht wirklich durchdacht war, ging die Erfolgswahrscheinlichkeit gegen null. Olof steigerte seine Demütigung sogar noch mit der Art und Weise wie er seinen Angriff parierte. Der rechte Arm genügte und Sentry wurde abgeschüttelt wie ein lästiges Insekt. Mit jeder Menge Enttäuschung über den Ausgang seines kläglichen Manövers ging er zu Boden. Gleich würde er wieder den lähmenden Strom bekommen, doch der Ablauf nahm eine tragische Wendung, die keiner der Anwesenden so hatte kommen sehen.
Durch den Angriff war Olof für einen Moment abgelenkt. Bisher saß Lisa lethargisch in der Ecke und es war unklar, ob sie die Ereignisse in ihrer Umgebung überhaupt aktiv wahrnahm. Die Pistole an Olofs Halfter holte sie in die Realität zurück und ihr Geist schien mit einem letzten Aufbäumen die sich ergebene Gelegenheit zu erkennen. Sie griff zu, aber der Mangel an Erfahrung machte es ihr schwer die unhandliche Waffe fest zu packen. Ungeschickt hantierte sie herum und nachdem Olof seine Überraschung verarbeitet hatte, setzte er ihrem Versuch des Widerstands ein Ende.
So einfach wie erhofft konnte Olof seine Waffe nicht zurückbekommen. Etwa drei Sekunden dauerte das Handgemenge, dann löste sich ein Schuss. Die metallischen Wände wirkten wie ein gigantischer Verstärker und von einem Moment auf den anderen setzte Sentrys Gehör aus. Nur wenige Sekunden dauerte die absolute Taubheit, dann entwickelte sich ein permanenter Pfeifton im Ohr und verhinderte jegliche akustische Wahrnehmung der Umgebungsgeräusche. Vorerst musste er sich auf die verbliebenen Sinne verlassen und die erkannten einen jämmerlich zugerichteten Olof.
Es hatte ihn übel erwischt. Die Kugel zerfetzte sein rechtes Ohr und die blutigen Überreste ähnelten einem offenen Geschwür, das pulsierend Fontänen aus Körperflüssigkeiten in den Raum spritzte. Das Projektil hatte seinen Kopf aus nächster Nähe gestreift ohne groß auf nennenswerten Widerstand zu treffen, welcher das Geschoss verlangsamen oder sogar aufhalten konnte. Als Querschläger irrte es weiter durch den Raum, bis es auf das erste wirkliche Hindernis traf.
Die Niete in der Lotterie des Überlebens zog ausgerechnet Lisa. Die Kugel schlug in ihrer Wange ein und blieb irgendwo in ihrem Hinterkopf stecken. Ihr ehemals hübsches Gesicht bestand auf der linken Seite nur noch aus einem blutigen Krater. Sentry glaubte einen Hauch von Erleichterung auf ihrem unverletzten Teil zu erkennen. Nur kurz, dann wich das Leben aus ihrem Körper und sie viel vorn über. Die letzte Möglichkeit auf Erlösung wurde ihr gewährt.
Neben dem Knalltrauma hatte jeder in dem Raum sein persönliches Fiasko zu verarbeiten. Dina war immer noch gelähmt, Pius durchlebte gerade eine Panikattacke indem er wilde Worte vor sich hin faselte, Olof fluchte lautstark abwechselnd über die rebellische Lisa oder den Verlust seines Ohrs und Sentry bekam das zerstörte Gesicht nicht aus dem Kopf. Trotzdem musste er schnell handeln. Es würde nicht lange dauern, bis der Rest der Besatzung in den Raum stürmen würde. Das Schmuckstück aus seinem Sarg. Er wusste wo es war.
Für Red war es nach seinen missglückten Versuchen wertlos geworden und so überließ er es Olof, der lautstark den Erlös in Alkohol und Huren investieren wollte. Reds Art von Anerkennung für die Loyalität, die seine Leute ihm entgegenbrachten. Gönnerhaft hatte er es Olof überlassen, der es hoffentlich immer noch in seiner rechten Hosentasche mitführte.
Für Sentry war es zu wertvoll, um es auf irgendwelchen Flohmärkten zu verscherbeln. Dieses Schmuckstück war die einzige Beziehung zu seiner Vergangenheit. Vollkommen taub kroch er zu dem knienden Olof, der jammernd auf seine blutigen Hände starrte. Mit einer gewissen Genugtuung gab Sentry ihm den Hieb, den er vor etwa einer Minute anbringen wollte. Das Fehlen des Gehörs, das blutende Ohr und die Ablenkung durch die tote Lisa, ermöglichten ihm diesmal leichtes Spiel. Noch während Olof zusammen sackte, griff er ihm in die Hosentasche und nahm das Amulett an sich. Hoffentlich war die erwartete Verstärkung nicht bereits in seinem Rücken. Er drehte sich um, denn auf seinen Gehörsinn war immer noch kein Verlass. Gerade noch rechtzeitig verstaute er den Schatz in seiner eigenen Hosentasche, bevor Red in den Raum stürmte. Igor folgte dicht hinter ihm.
„Was für eine Scheiße läuft denn hier?“, brüllte Red und obwohl das Pfeifen in seinen Ohren andere Geräusche überdeckte, konnte Sentry die Lippenbewegungen gut zuordnen.
Da keiner auf seine Frage reagierte, wurde Red wütend. Der Anblick der toten Frau gab der Wut eine Richtung.
„Verdammt noch mal. Was ist so schwer an: Niemand fasst die Gefangenen an zu verstehen? Hast du deinen Schwanz nicht im Griff?“
Red wartete keine Antwort ab und begann auf den ohnehin schon arg geschundenen Olof einzutreten. Seine Wut schien unbändig und in dieser Rage musste jeder in seinem Umfeld mit Prügel rechnen. Alle die dazu in der Lage waren, versuchten soweit wie möglich Abstand zu dem Tobenden zu bekommen. Igor sicherte die Tür ab.
„Mach das hier sauber“, blaffte Red Igor an, nachdem er sich ordentlich ausgetobt hatte.
„Ich muss mich mit meinem Freund unterhalten.“ Das letzte Wort betonte er so extrem, dass die Vermutung nahelag, nicht wirklich ein Gespräch führen zu wollen. Er schleppte Olof raus und mit dem Verschwinden der beiden, entspannte sich die Lage.
Igor brachte die Leiche aus dem Raum und kurze Zeit später tauchte er mit einem Putzeimer wieder auf. Die Tatsache, dass er nicht die geringste Lust zum Putzen verspürte und Dina sich langsam wieder aufrappelte und damit zur potentiellen Gefahr wurde, brachte Pius in die Zwangslage das Gemisch aus Gehirn und Blut zu beseitigen. Er stellte sich nicht besonders clever an, was Igor als Anlass nahm seinen eigenen Frust über die Geschehnisse an ihm auszulassen.
Der Verlust von Lisa machte Sentry mehr zu schaffen als ihm lieb war. Auch wenn sie eher als Einrichtungsgegenstand und weniger als Mitglied der Gruppe seine bisherige Welt bereicherte, empfand er ihren Tod als schwerwiegend. Sie war eine Konstante in dem chaotischen hier und jetzt. Er kannte nicht viel und die Zukunft hielt nichts Gutes für ihn bereit. Ihr Ableben war ein Vorgeschmack dessen, was ihn an potentiellen Gefahren erwartete.
Sentry fehlte noch immer jegliches Zeitgefühl, weswegen es ihm schwer fiel die einzelnen Phasen des Nichtstuns in seinem Gefängnis in Zeiteinheiten einzuordnen. Drei bis fünf Stunden schätzte er, war seit dem tragischen Ereignis vergangen. Sie hatten kein Wort mit einander geredet, obwohl die Geschehnisse mit Sicherheit einer Aufarbeitung bedurften.
Das Schweigen hatte einen Grund, denn Olofs triebgesteuerte Aktion und seine Folgen hatte das Gleichgewicht zwischen den Insassen nachhaltig verändert. Ungeachtet des Ausgangs von Sentrys kläglich vorgetragenen Widerstands, brachte ihm dieses Manöver mehr Aufmerksamkeit und damit erhöhte Vorsicht bei Dina ein. Er konnte förmlich spüren, wie es in ihr arbeitete, um ihn gedanklich neu einzuordnen. Wahrscheinlich schwankte sie zwischen einfältig und naiv bis gefährlich und töricht. Pius dagegen verlor seinen Anker in der Not. Seine Möglichkeit die Qualen dieser Gefangenschaft zu lindern, indem er sie weitergab, schien dahin. Bei ihm herrschte die nackte Panik. Die Konfrontation mit Verstümmelung oder Tod, die jederzeit jeden hier in diesem Raum ereilen konnten, ließen ihn in eine Art permanenten Stresszustand verharren. Verstärkt wurde das ganze durch seine latente Klaustrophobie. Das Pulverfass war kurz vorm explodieren.
Es war Igor vorbehalten den Verkauf vorzubereiten. Er kam in den Raum und schnauzte nur ein Wort.
„Ausziehen.“
Da keiner reagierte, sah er sich gezwungen mit weiteren Worten und der Androhung des Elektroschockers seine Forderung zu erneuern.
„Ihr könnt es einfach haben oder schwierig. Ich habe auf alle Fälle meinen Spaß.“ Er schenkte Dina ein widerliches Grinsen.
Diejenige, von der er den meisten Widerstand erwartet hätte, wurde zuerst aktiv. Dina schaffte es den demütigenden Akt mit einer Würde hinzubekommen, die Igor die Freude am Zuschauen nahm. Trotzdem provozierte sie auch verbal.
„Seit wann bringen denn 5cm Spaß?“, zischte sie, als sie fertig war.
Sentry konnte nicht anders und musterte den nackten Körper. Es war eine Art angeborener Reflex sich die dargebotenen Kurven des anderen Geschlechts genauer anzuschauen, auch wenn sie unter Zwangsumständen wie hier präsentiert wurden. Aus Anstand wollte er gerade ausschauen, aber die evolutionäre Konditionierung siegte für den Moment.
Sie wirkte etwas abgemagert und ihre blasse Haut war nicht frei von blauen Flecken. Sicherlich eine Nachwirkung der Strapazen der letzten Wochen. Seine Fantasie blendete diese Makel aus und erschuf sich eine eigene Variante des Normalzustandes, die an Perfektion kaum zu überbieten war und die jeder Realität trotzte. Der Trieb hatte Besitz von ihm ergriffen und in diesem Zustand wurde selbst die umgebende Gefahr ausgeblendet. Für den Augenblick befand er sich in einer trügerischen Welt aus Verlangen auf körperlicher Befriedigung, die frei von Qualen oder Sklavenhandel war. Igor holte ihn schneller in die Wirklichkeit zurück als ihm lieb war.
„Wenn ich die Herren bitten dürfte“, forderte er mit drohender Höflichkeit, während er selber Dina von oben bis unten musterte.
Von Würde war keine Spur als die beiden sich entkleideten. Pius stolperte sogar, als er seine Hose auszog. Sie nahmen Dina in die Mitte und stellten sich in einer Reihe auf.
Während die Scham der beiden Männer unübersehbar war, strahlte Dina jene Gelassenheit aus, die Igor zu verstehen gab, dass sie selbst nackt nicht zu unterschätzen war.
Es dauerte eine Weile, ehe sich diese absurde Szenerie änderte. Der Anblick neuer Gesichter rief widersprüchliche Gefühle in Sentry hervor. Zuerst war da eine trügerische Hoffnung auf eine bessere Zukunft, die ihm womöglich bevorstand. Die entwürdigende Situation zerstörte das zarte Pflänzchen wieder und die bittere Tatsache, dass er nicht mehr war als eine Ware, befeuerte seine Angst vor dem Unbekannten wieder.
Der potentielle Interessent war weiblich. Sie war mindestens doppelt so alt wie er, immer vorausgesetzt, dass er mit seinem Alter von etwa 25 Jahren nicht vollkommen danebenlag. Auch sie hatte im Gefolge zwei Leibwächter. Im Gegensatz zu Reds Kumpanen waren diese weitaus imposanter. Sie wirkten gepflegter, besser genährt und vor allen Dingen durchtrainierter und muskulöser. Als letztes betrat Red den Raum. Die Vielzahl an Leuten ließ das Gefängnis viel kleiner und bedrückender wirken.
Sie hatte Stil, dass war auf den ersten Blick erkennbar. Ihre Art sich zu bewegen, ihre Kleidung und der souveräne Umgang mit Red, brachten einen gewissen Glanz in die bisher so trostlose Welt des Schiffes. Ihre schwarze Haut verstärkte die Blässe aller Anwesenden und das gepflegte Haar verlieh ihr den Glanz einer Herrscherin. Ihr Gesicht, vor allen Dingen ihre tief schwarzen Augen, deuteten darauf hin, dass sie in ihrer Jugend den Männern reihenweise den Kopf verdreht haben musste. Was übrig blieb war ihre Eleganz und so weit Sentry das beurteilen konnte, kompensierte diese den Makel des Alterns vollends. Diese Frau besaß eine dominante Ausstrahlung, die bei jedem Mann Unbehagen verursachte.
„Herr Red Sie enttäuschen mich“, sagte sie gelassen und ruhig.
„In ihrer Nachricht boten sie mir zwei weibliche und einen männlichen Lakaien an. Ich denke selbst ein Mann ihrer beschränkten Intelligenz, sollte den kleinen Unterschied der Geschlechter kennen.“
Damit machte sie klar, wer hier in der besseren Position war. Red wurde nervös. Offenbar hatte Lisas Tod seinen Verhandlungsspielraum stark eingeengt. Seine Versuche auf freundliche und einschmeichelnde Art diesen Nachteil zu kompensieren, wirkten mit dem Narbengesicht regelrecht absurd.
„Verehrte Ruby. Wir haben schon viele gute Geschäfte gemacht. Sie kennen mich. Ich stehe normalerweise zu dem was ich sage. Leider gab es einen Unfall, infolge dessen ein Teil der weiblichen Ware verunglückte.“
Red taktierte, dass war deutlich zu erkennen. Der Grund wurde Sentry schnell klar. Auf keinen Fall sollten er und seine Femtos verkauft werden. Offensichtlich war Red mit ihm noch nicht fertig oder er hatte ein besseres Angebot. Trotzdem konnte er ihn ihr nicht einfach vorenthalten, dann wäre Ruby sofort misstrauisch geworden. Er musste es hinbekommen, dass sie ihn nicht wollte. Das würde schwierig werden, denn sie war ziemlich intelligent.
„Ihr Ruf macht Ihnen wieder mal alle Ehre. Vielleicht sollten Sie etwas behutsamer mit der Ware umgehen. Der Verwendungszweck war für gewisse Etablissements vorgesehen, die sie vermutlich gut kennen. Da erfahrungsgemäß männliche Dienstleistungen weniger gefragt sind, frag ich Sie nun, was ich mit der Ware anfangen soll.“
Es lief gut für Red. Notfalls würde er auch alle drei behalten und Ruby eine Aufwandsentschädigung zahlen. Der Nutzen, den er mit Sentry erzielen würde, wäre um das Tausendfache größer. Er wollte die Femtos nicht verkaufen, er wollte sie „ernten“ und sie selber anwenden. Die Fähigkeiten die Sentry hatte, sollten auch seine werden. Seine guten Kontakte würden ihm dabei helfen, die dafür notwendige Technologie zur Anpassung an seinen Körper aufzutreiben.
Ausgerechnet Ruby machte ihm die Sache schwer. Jedem anderen Kunden hätte er ohne Nennung von Gründen den Handel absagen können. Doch Ruby verärgert man nicht. Die Geschichten von gescheiterten Geschäften mit ihr endeten fast immer mit dem Tod. Daher war Red sehr daran gelegen eine vernünftige Einigung zu finden. Natürlich sollte das Geheimnis der Femtos auch eins bleiben. Sollte Sentry sich einfallen lassen etwas darüber zu verraten, hatte er sich schon Möglichkeiten ausgedacht ihn zum Schweigen zu bringen.
Ruby wandte sich Dina zu und ihre Blicke trafen sich. Wieder dieses Kräftemessen im Anstarren, aber der Sieger stand unabhängig vom Ausgang ohnehin bereits fest.
„Selbst diese hier ist unbrauchbar“, sagte sie herablassend und wandte ihren Blick ab. Die Tatsache, dass sie Dina nicht mit der gleichen eloquenten Höflichkeit bedachte wie sie es bei Red tat, verstärkte den Eindruck, dass all diejenigen, die keine Kleidung trugen, nicht den nötigen Respekt jener verdienten, die angezogen waren.
„Ich hatte das Vergnügen sie selbst zu testen. Schauen Sie sie an. Ihr Körper lässt jeden Mann verrückt werden“, verteidigte Red seine Ware.
„Ihr Körper ist wahrlich nicht das Problem. Es ist ihr Wille. Wenn selbst Sie sie nicht brechen konnten, wer sollte denn dann dazu in der Lage sein.“
Red jubelte innerlich. Der Handel schien zu platzen. Er würde ihr die Aufwandsentschädigung zahlen, ihr den nötigen Respekt entgegenbringen und dann würden alle ihrer Wege gehen.
„Da müssen Sie mir mit dem Preis weit entgegenkommen“, sagte Ruby kurz, nachdem sie die anderen nur flüchtig gemustert hatte.
Reds Gesicht versteinerte sich. Ihr Interesse an der Ware war noch nicht erloschen. Sein aufgebrachter Verstand erschuf die ersten Fantasien, welche Qualen er Olof antun würde. Wäre diesem die Sache mit Lisa nicht passiert, hätte Ruby ihre drei Sklaven erhalten und er wäre jetzt einen Schritt näher an den Segnungen der Femtos. Er musste Fassung bewahren, denn noch war nichts verloren.
„Sie nehmen sie trotzdem?“, fragte er so unaufgeregt wie möglich. Vergeblich.
„Ich habe den Anschein Sie wollen dieses Geschäft nicht ernsthaft. Darf ich erfahren weshalb?“
Sie stellte die Frage zwar höflich, aber ihr ganzes Auftreten zeigte Red, dass es keine Bitte war, sondern eine Aufforderung.
Eine von Reds Stärken war die Improvisation, in aussichtslosen Situationen doch noch die Geschehnisse in die gewünschte Richtung zu leiten. Meist war Gewalt die beste Option, aber hier musste er auf feinfühligere Methoden zurückgreifen.
„Ich habe bereits ein gutes Angebot für einen der Männer bekommen. Ich würde den Kunden nur ungern enttäuschen.“
Diese Lüge kam so glaubhaft rüber, dass Ruby beschloss nicht weiter nachzufragen.
„Und da enttäuschen Sie lieber mich?“
Sie wartete einen kurzen Moment um der Frage, die eher wie eine Warnung klang, genug Wirkung zu verleihen.
„Sie sind eine gute Kundin, wenn nicht sogar die Beste die ich habe. Im Interesse weiterer guter Geschäfte würde ich Ihnen eine Entschädigung für die nicht erbrachte Lieferung geben.“
Das war sein letzter Joker, wenn sie darauf nicht eingehen würde, hätte er Sentry verloren.
„Was hätten Sie schon im Besitz, was mich interessieren würde? Ich gebe Ihnen die vereinbarten Waffen mit zugehöriger Munition. Im finanziellen müssen Sie ein paar Abstriche machen. Das sollte Ihren Unfall und die Unannehmlichkeiten, die dadurch für mich entstanden sind, wieder ausgleichen. Zusätzlich dazu gebe ich Ihnen einen kostenlosen Rat. Nehmen Sie das Angebot an. Ich bin sehr verärgert über dieses Geschäft und das Vertrauen in unsere Partnerschaft müssen Sie sich erst wieder verdienen. Also. Willigen Sie ein?“
Red hatte keine Wahl. Wenn er jetzt versuchen würde weiter zu verhandeln, würde er ihr Misstrauen wecken. Er kochte innerlich, musste aber eine gleichgültige Gelassenheit an den Tag legen. Ein Umstand, der ihm nur teilweise gelang.
„Es freut mich mit Ihnen Geschäfte zu machen. Ich nehme mal an, dass ein Amüsierlokal nicht mehr in Frage kommt. Darf ich fragen, für welchen Verwendungszweck die Ware vorgesehen ist?“, heuchelte Red gekonnt über den Abschluss.
„Alle werden sofort an Bord gebracht. Ich erwarte die Lieferung in 10 Minuten auf meinem Schiff“, ignorierte sie die Frage. Damit verließ sie und ihr Gefolge den Raum und demütigten Red vollends.
„Ein Versprechen gebe ich dir auf den Weg. Du wirst mich wiedersehen. Ich werde dich durch die Galaxie jagen und aufspüren. Du gehörst mir und damit alles was darin rumschwimmt“, versprach er Sentry, der sich angewidert durch Reds Mundgeruch abwenden musste. Damit verließ auch er den Raum.
Igor befahl ihnen sich anzuziehen und drängte die Gruppe das Schiff zu verlassen. Wochenlang hatte Sentry in diesem Raum verbracht, immer bemüht den Überschuss an Energie nicht in Frust umschlagen zu lassen. Nun blieb ihm kaum Zeit für einen letzten Blick zurück und die ungewohnte Hektik überforderte ihn kurz. Seine Aufregung machte ihm das Denken schwer und erst als er wenige Minuten später durch die Luftschleuse trat, wurde ihm bewusst, dass sich eine neue Welt mit neuen Möglichkeiten vor ihm auftat.
Während Reds Schiff recht überschaubar war und nicht mehr als fünf Räume besitzen konnte, musste dieses Schiff in seinen Ausmaßen um einiges größer sein. Allein die weitläufigen Gänge ließen auf eine enorme Länge schließen. Sie waren leicht geschwungen, so dass man ihr Ende nicht sehen konnte. Was Sentry dann wirklich faszinierte war der Anblick der typisch metallischen Wände, die hier kaum Abnutzungserscheinungen aufwiesen. Zusätzlich dazu herrschten hier offenbar gewisse hygienische Standards, was die Umgebung viel freundlicher und einladender wirken ließ. Der Dreck, das Chaotische und damit auch die Angst, die für den Aufenthalt auf Reds Schiff standen, all das schien hier nicht vorhanden. Es war auf alle Fälle eine Verbesserung, wenn auch nur eine geringe.
Zwei Sachen fesselten seine Aufmerksamkeit, als Igor sie durch den Gang führte. Da war zum einen die Menge der umhereilenden Menschen, die die Neuankömmlinge komplett ignorierten, als wären sie nur Hindernisse, denen man instinktiv ausweichen musste. Rubys Gewerbe erforderte offensichtlich eine umfangreiche Logistik und damit eine enorme Menge an Personal, welches wiederum ein großes Schiff für die Unterbringung nach sich zog. Der zweite interessante Punkt waren die gelegentlichen Außenfenster, welche ihm den Blick ins All ermöglichten. Er war also wirklich im Weltraum. Durch den Anblick der Sterne fühlte er sich klein und minderwertig. Die riesige Welt dort draußen schien ihn zu erdrücken. Er kannte gerade mal Reds Schiff. Wie sollte er sich zu Recht finden?
Igor drängte ihn weiter zu gehen und zielstrebig folgten sie dem Verlauf des Ganges. Offenbar war das nicht Igors erster Besuch auf dem Schiff, denn ohne große Überlegungen steuerte er auf eine Tür zu, die eindeutig dafür vorgesehen war, dass niemand den dahinter liegenden Raum ohne massive Anstrengungen verlassen konnte. Also erwartete die Gruppe wieder ein Gefängnis.
Die Übergabe verlief recht unspektakulär. Igor ließ sie einfach stehen und verschwand in die Richtung aus der sie gekommen waren. Ein stilles Kopfnicken reichte, um dem wartenden Muskelberg von einem Mann verständlich zu machen, dass die Gruppe jetzt sein Problem war. Nachdem dieser wortlos die Tür öffnete und mit einer eindeutigen Geste alle Anwesenden aufforderte den Raum zu betreten, fühlte sich Sentry mehr denn je als Ware. Das Paket war geliefert und war zur Weiterverarbeitung bereit. Glücklicherweise wurde auf jede Form von Durchsuchung verzichtet, so konnte er das Amulett weiterhin behalten.
Das neue Verlies machte einen besseren Eindruck, als das auf Reds Schiff. Das weiche Licht ließ die metallischen Wände nicht ganz so trostlos erscheinen und der angenehme Geruch wirkte ironischerweise sogar einladend. Die Größe des Raumes verwirrte Sentry anfangs, denn seine einzige Referenz in Sachen Gefängnissen bestand in Reds viel zu kleiner Zelle. Das Mobiliar bestand lediglich aus fünf Hochbetten und wurde bereits belagert von Menschen, denen das gleiche Schicksal der Sklaverei drohte wie ihnen. Mit ihrer Ankunft erhöhte sich die Gruppe der Insassen auf sieben.
„Willkommen, aber macht es euch nicht zu sehr gemütlich. In drei Tagen sind wir bereits auf Lassik.“ Der Tonfall ihrer Begrüßung machte es Sentry schwer die eigentliche Botschaft dahinter zu verstehen. Fordernd, aber nicht drohend mit einer Note von Autorität. Wahrscheinlich waren die gesprochenen Worte unwichtig. Es ging mehr darum vom ersten Moment an die Rangordnung festzulegen. Er schaute in das Gesicht eines groß gewachsenen Mannes, der mit seinen lockigen, blonden Haaren mit Sicherheit die Blicke der Frauen auf sich zog.
Die Wache ließ sie allein und für einige Sekunden herrschte bedrückende Stille. Niemand rührte sich. Alle musterten sich gegenseitig. Dina war die einzige Frau im Raum, was ihr erhöhte Aufmerksamkeit einbrachte. Mit Sicherheit war sie in naher Zukunft einigen Annäherungsversuchen ausgesetzt. Die armen Männer hatten noch keine Ahnung auf was sie sich da einlassen würden. Die Lektion über Dinas Temperament würde bitter und eventuell auch schmerzhaft werden.
Die Hierarchie unter den Alteingesessenen war offensichtlich. Ihr Anführer war dieser blonder Kerl, der sie scheinbar freundlich begrüßt hatte. Sein Alter musste Anfang dreißig sein. Mit seiner imposanten Größe von mindestens 1.90m wirkte er auch körperlich als geborener Anführer. Sein gepflegtes Äußeres passte so gar nicht zu den vorherrschenden Umständen und Sentry musste sich eingestehen, dass seine optische Erscheinung ihn beeindruckte.
Er kam auf ihn zu, fest entschlossen seinen Führungsanspruch zu beweisen. Dabei unterlief ihm der erste Fehler. Nicht Sentry war sein größter Konkurrent.
„Euer Bett ist da drüben“, befahl er in einem Kommandoton, der keinen Widerspruch zuließ.
„Du schläfst dort“, befahl er Dina und deutete er auf die andere Ecke.
Die lächelte nur kurz und ignorierte die Anweisungen, indem sie auf das letzte verbliebene Bett zusteuerte. Sie machte es sich auf der oberen Pritsche bequem.
Die Verblüffung war dem Blonden deutlich anzusehen. Dass ausgerechnet die einzige Frau seine Anweisungen ignorierte, war er offensichtlich nicht gewohnt. Mit dieser Aktion provozierte sie ihn und zwang ihn zum Handeln.
Vorerst blieb ihm eine Entscheidungsfindung erspart, denn ohne große Anweisungen steuerten seine Vasallen auf die Widerspenstige zu.
„Björn, Lars. Bringt sie da rüber“, untermauerte der Blonde die eigentlich selbstständige Aktion und gab ihnen damit das Gefühl, dass sie in seinem Sinne handelten.
Die beiden konnten unterschiedlicher nicht sein. Während Björn der herablassende, selbstzufriedene Egoist war, musste Lars erst dazu genötigt werden aktiv mit einzugreifen. Seine ganze Erscheinung wirkte ängstlich. Man war sofort geneigt Mitleid mit ihm zu haben. In der Welt die Sentry bisher kennen gelernt hatte, würde er nicht lange überleben.
„Komm schon Kleine. Geh da rüber. Dann sind wir auch besonders lieb zu dir.“ Björns unpassende Arroganz erinnerte an Olofs Unterschätzung von Dinas Fähigkeiten in seinem letzten Gefängnis und es drohte ein ähnlicher Ausgang mit gebrochenen Gliedmaßen. Sentry wollte als eine Art Vermittler fungieren, aber dieses schmierige Grinsen in Björns Gesicht ließ ihn zögern. Sollten sie sich gegenseitig verstümmeln, er hatte keinen wirklichen Grund hier den Friedensstifter zu spielen.
Dina ignorierte ihn vollends, als wäre er nicht im Raum. Maximal ein nerviges Hintergrundgeräusch gegen das sie nichts machen konnte.
„Muss ich erst grob werden?“, untermauerte Björn seine Forderung.
Dina setzte sich auf und schenkte ihm endlich die Aufmerksamkeit, die er einforderte.
„Tu mir den Gefallen und werde grob. Wollen doch mal sehen in welcher Tonlage du jammern kannst.“
Björn, der die Worte nicht zuordnen konnte, packte sie genervt am linken Unterarm. Bevor er richtig zugreifen konnte, hatte Dina ihn am Handgelenk. Der Sprung vom Bett und das Verdrehen seines Armes gingen so fließend ineinander über, als hätte sie Jahre für diesen passenden Moment geübt. Björn stöhnte im Bariton. Ein weiteres unnützes Wissen aus Sentrys freigegebener Bibliothek.
Lars reagierte nicht. Dafür war er viel zu ängstlich und erschrocken. Das Eingreifen überließ er dem Blonden und der kam zwei Schritte auf die beiden zu.
„Hey Goldlöckchen, einen Schritt näher und ich mache deinen Handlanger hier zum Linkshänder.“ Sie hatte es geschafft den Arm so zu verdrehen, dass sie ihn mühelos brechen konnte.
Der Angreifer stockte und war nun gezwungen im Bruchteil einer Sekunde eine Entscheidung zu treffen.
„Tut mir leid. Knochenbrüche heilen“, raunte er und ging weiter auf die beiden zu. Nun war es an Dina sich schnell zu entscheiden und wie im Falle von Olofs Nasenbeinbruch, erlag sie der schnellen Versuchung. Die Bariton-Stimmlage änderte sich in einen Tenor, als der Unterarm brach. Durch diese Aktion war es ihr unmöglich den Angriff des Blonden abzuwehren. Die einzige Möglichkeit war Björn zwischen ihr und den Angreifer zu bringen, doch damit hatte er gerechnet und konterte dieses Manöver mit anmutiger Geschicklichkeit aus. Der vermeintliche Schutzschild steckte einen harten Ellenbogentreffer ein. Ein Schlag ins Gesicht, der Björn wie ein Preisboxer zu Boden gehen ließ. Bevor Dina ihre Arme in der notwendigen Abwehrstellung hatte, war sie bereits in der Mangel. Der Griff den er anwendete, gab ihr bei jeder Bewegung Schmerzen. Offensichtlich hatte der Blonde eine Art Kampfausbildung, die es ihm ermöglichte auf diese Art und Weise Leute ruhig zu stellen. Sie hatte verloren. Ihr fehlten die zwei Sekunden zur notwendigen Abwehr, die sie dafür verschwendete, um den Arm zu brechen. Sie hatte den selben Fehler wiederholt und damit war die Reue diesmal auch um einiges größer.
„Verdammtes Weib. War es den Ärger wert, den wir hier bekommen werden“, schrie er sie an, während er sie im Haltegriff zu dem vorgesehenen Bett führte. Hart landete sie auf der Pritsche.
„Da bleibst du oder ich breche dir das Genick.“
Er ging zur Tür und hämmerte mit der flachen Hand dagegen.
„Wir haben hier einen Verletzten.“
Die Tür öffnete sich umgehend und der Hüne betrat den Raum. Er murmelte irgendwas vor sich hin, was sich im nach hinein als Kommunikationsgerät herausstellen sollte. Dann wandte er sich an den Blonden.
„Wer war das?“, fragte er mit tiefer Stimme.
„Ein Unfall“, erklärte dieser, ohne sich auch nur annähernd die Mühe zu machen, die offensichtliche Lüge zu vertuschen.
Der Hüne wandte sich Lars zu und baute sich vor ihm auf, was seine ohnehin schon imposante Erscheinung verstärkte.
„Die Frau“, stotterte Lars.
Damit wandte sich die Wache an Dina.
„Verdammt. Du bist hier keine fünf Minuten drin und machst schon Ärger.“
„Ich bin eine Frau mit vielen Talenten“, antworte sie schnippisch.
In diesem Moment stürmten zwei weitere Männer in den Raum.
„Dort drüben“, maulte der Hüne die beiden sichtlich schlecht gelaunt an.
Ohne auch nur annähernd Rücksicht auf den Verletzten zu nehmen, packten die beiden Björn und verließen mit ihm den Raum.
„Du kommst mit mir.“
Der Muskelberg griff Dina ruppig am Genick und verließ mit ihr den Raum.
„Deine Freundin hat aber ordentlich Feuer“, sagte der Blonde nach etwa fünf Minuten Schweigen, in denen jeder für sich das Geschehene verarbeitete.
„Sie ist nicht meine Freundin. Wir hatten nur zufällig die gleiche Anreise“, antwortete Sentry.
„Sie hätte sich doch nur auf das Bett setzen müssen“, verteidigte er sein Vorgehen mehr gegenüber sich selbst.
„Ein höfliches „Bitte“ hätte da vielleicht eher geholfen.“
Die Art wie Sentry ihm Contra gab, gefiel ihm nicht. Um vorerst weiteren Ärger zu vermeiden, versuchte er es auf die diplomatische Art und Weise. Hier war eindeutig Zuckerbrot angesagt, denn die Peitsche hatte schon bei Dina versagt.
„Mein Name ist Pluto. Das sind Lars und Terra“, stellte er die Anwesenden in versöhnlichem Tonfall vor.
„Mich nennt man Sentry. Der Nervöse da ist Pius“, erwiderte Sentry. Es war unglaublich wie die Anspannungen wichen nach Verkündung der Namen. Als würden die Personen weniger bedrohlich wirken, nachdem das Unbekannte zugeordnet werden konnte.
„Wo kommt ihr her?“, fragte Pluto.
Sentry hatte keine Lust seine Gedächtnisverlust-Geschichte aufzuwärmen. Auch wollte er nicht zu viel von sich Preis geben. Er wusste nicht in wie weit er den Leuten trauen konnte. Sollte ihnen Pius seine Geschichte mit den üblichen Übertreibungen erzählen.
„Viel wichtiger ist wo wir hingehen“, tat er geheimnisvoller als ihm lieb war.
Pluto blieb bei seiner Zuckerbrotstrategie und ignorierte die Unhöflichkeit mit der Sentry seine Frage ignorierte.
„Ausbildungslager auf Lassik“, antwortete er.
„In was werden wir denn ausgebildet?“
„Wir gar nicht.“
Jetzt war es an Pluto geheimnisvoll zu sein. Pius bleiches Gesicht bei der Erwähnung des Ausbildungslagers, ließ nix gutes erwarten. Seine Neugierde ging einher mit Angst. Was zum Teufel haben die mit ihm vor? Wollte er mehr erfahren? Er musste. Die Ungewissheit war schlimmer als alles, was da auf ihn zukommen mochte.
„Was dann?“
Pluto genoss die Aufmerksamkeit.
„Wir Teil einer Jagd. Dummerweise sind wir die Beute.“
„Was?“
„Das sollen sie dir selber erklären.“
Sentrys Angst erhielt neue Nahrung. Wie konnte er glauben alles würde besser, wenn er wüsste was ihm bevorstand? Die wildesten Fantasien geisterten durch seine Gehirnwindungen. Er fand keine, die gut für ihn ausging. Die Möglichkeit auf seine Freiheit war in weite Ferne gerückt. Es ging um das blanke Überleben. In einer Welt, in der jeder Tag sein letzter sein kann, wollte er nicht leben. Sein Überlebenswille war wieder auf ein Minimum zusammengeschrumpft. Der erste Härtetest, ob das Bild in seinem fragilen Gedächtnis ihm die notwendige Lebensenergie zurückgab. Es funktionierte, obwohl die Zweifel, dass er das Geheimnis je ergründen würde, ziemlich stark waren. Sie war das Ziel, der Sinn seines Lebens. Er drückte das Amulett in seiner Hosentasche als wäre es ein Glücksbringer. Der Energiespender, den er brauchte um seinen Mut zu stärken.
Pluto ließ ihn stehen und wandte sich Pius zu. Sein Ziel ihn zu verunsichern war erreicht und damit hatte er die Respektlosigkeit durch das viel zu forsche Auftreten mit Genugtuung gekontert. Zurück ließ er einen zweifelnden Sentry, der sich seinem inneren Konflikt zwischen Logik und Instinkt stellen musste. Einerseits brauchte er Hilfe. Der Preis wäre die Anerkennung von Plutos Führungsanspruch dieser Gruppe. Alles in ihm weigerte sich dagegen. Er war es nicht gewohnt solchen Leuten zu folgen. Wie immer auch seine Vergangenheit aussah, er war auf alle Fälle kein Mitläufer. Anderseits könnte falsch angebrachter Stolz ihm irgendwann das Leben kosten. Vernünftig wäre es Pluto vorerst zu folgen. Er schaffte es nicht sich den instinktiven Eingebungen zu widersetzen und so wählte er den unbequemen Weg des Einzelkämpfers. Das Gefühl gegen jede Logik das Richtige zu tun, steigerte paradoxerweise sein Selbstbewusstsein.
Er konnte nicht hören wie Pluto Pius für sich gewann, aber es ging ziemlich schnell. Die tickende Zeitbombe Pius wurde elegant entschärft. Sichtlich erleichtert in einer Gruppe Halt zu finden, blühte er nach und nach auf. Er fühlte sich dem Außenseiter wieder überlegen und es dauerte nicht lang bis er gemeinsam mit Lars und Terra anfing die Standesunterschiede innerhalb dieses Gefängnisses gegenüber Sentry klarzustellen. Verbal beschimpften sie ihn und waren es am Anfang noch ungelenke Versuche sich zu profilieren, schlugen die Attacken mehr und mehr in primitive Beleidigungen um. Es war ihre Art der Loyalitätbezeugung gegenüber Pluto. Sentry ignorierte das peinliche Verhalten, was seine Peiniger zusätzlich anstachelte.
Pluto ließ sie gewähren und genoss das Gehabe seiner Leute. Die Attacken sollten Sentry weichkochen. Gewalt kam nicht in Frage, da eine Beschädigung der Ware unweigerlich harte Konsequenzen nach sich ziehen würde. Ein gutes Anschauungsbeispiel würde dieses widerspenstige Weib abgeben. Spätestens bei ihrer Rückkehr hoffte Pluto auf die volle Kontrolle. Immerhin lagen schwierige Zeiten vor ihnen. Er war der einzige in diesem Raum, der ungefähr wusste, was auf sie zukam.
Ein paar Stunden dauerte die Abwesenheit von Dina. Als sie in den Raum zurückgebracht wurde, war sie nur noch ein Schatten ihrer selbst. Ihr ganzes rebellisches Wesen war verschwunden und zurück blieb ein verängstigtes kleines Mädchen, welches nicht begriff, was um sie herum passierte. Mit Erschrecken musste Sentry feststellen, dass der Umgang mit vermeintlichen Eigentum hier ähnlich brutal war, wie auf Reds Schiff. Vielleicht waren die Methoden ausgefeilter, aber am Ende waren sie nur Sklaven, die entweder gehorchten oder bestraft wurden.
Die Wache ließ sie mitten im Raum stehen. Sie wirkte orientierungslos, als wäre sie in einer anderen Welt. Ihr Leib zitterte und das Schwanken drohte in einem Sturz zu enden.
Sentry stützte sie und führte sie zu dem Bett, das den Ärger ursprünglich ausgelöst hatte. Ein weiterer Affront gegen Pluto, der von ihm so nicht beabsichtigt war. Er bettete sie auf die untere Pritsche.
„Das „yellow nightmare“ setzen sie eigentlich nur in Härtefällen ein“. Er hatte gar nicht bemerkt wie Pluto sich von hinten näherte.
„Ein Drogencocktail, der dich deine schlimmste Angst wieder und wieder erleben lässt. Das Ganze in zehnfacher Verstärkung. Damit kriegen sie jeden klein. Sie hatte Glück das wenig Zeit ist. Normalerweise dauert eine Sitzung eine ganze Woche. Ich denk mal, das war als Warnschuss gedacht, um zu zeigen, was für Möglichkeiten vorhanden sind.“
Die Absicht Sentry weiter zu verunsichern, verfehlte ihre Wirkung nicht. Er hatte schon genug Angst. Er fragte sich, ob die Femtos so was abwehren könnten. Immerhin hatte er genug Technik in seinem Blut, dessen Funktionen er nicht kannte. Was war überhaupt seine größte Angst? Womit würden sie ihn kriegen? Er hatte keine Ahnung. Vielleicht würde eine Folter ungewollt etwas über ihn in Erfahrung bringen.
Er wusste nicht, ob Dina bleibende Schäden davontragen würde. Auch wenn sie sicherlich keine Verbündete in diesem Albtraum war, brauchte er eine Art Gegenpol zu den anderen Gefangenen. Die Gruppe nervte ihn gewaltig und alles was nicht diesem absurden Gehabe glich, gab ihm die Gewissheit mit seiner ablehnenden Haltung das Richtige zu tun. Diese Frau hatte schon einiges eingesteckt. Vermutlich hatte sie ein ähnliches Ziel vor Augen wie er, welches ihr die nötige Kraft verlieh, das alles durchzustehen. Die benötigte Hilfe, um in dieser Welt nicht den Tod zu finden, könnte er vielleicht von ihr bekommen. Ihr Vertrauen zu gewinnen war unmöglich. Er musste raus finden was sie antrieb, um dann womöglich mit einer Gegenleistung eine gewinnbringende Situation für beide zu erzeugen. Eine Hand wäscht die andere. Ein Sprichwort, was hoffentlich auch in diesen Zeiten seine Rechtfertigung hatte.
„Da hat sie was sie verdient, diese verdammte Hexe.“ Es war Pius, der gerade dran war ihn zu nerven.
„Schaus dir genau an. Das wird dir bestimmt auch passieren. Also halt dich lieber fern von ihr.“
Er brauchte Informationen über Dina und das ging unglücklicherweise nur über Pius. Dafür musste er sich auf sein Niveau herab begeben.
„Du hast ja Recht. Sie ist wirklich ein wenig irre. Zum Glück macht sie keinen Ärger mehr. Weißt du, was sie mit mir machen wollte?“
Pius, der sichtlich überrascht war überhaupt eine Antwort zu bekommen, wusste gar nicht so Recht, wie er auf die Frage reagieren sollte.
„Mir ein Klavier-Muster in die Zahnreihen hauen, nur weil ich sie zu lange angestarrt hatte“, kam Sentry ihm zuvor.
„Dabei wollte sie die weißen Tasten weglassen“, ergänzte er noch. Pius grinste. Das war seine Art von Humor. Durch den gemeinsamen Feind hatten die beiden nun ein zartes Band. Das musste reichen, um einiges über sie zu erfahren.
„Die sollte mal einer richtig vermöbeln, dass sie nicht weiß wo oben und unten ist“, fiel Pius in die Lästerei über die Bewusstlose mit ein. Er war froh, dass es jemanden gab, dem es schlechter ging als ihm. Eine willkommene Möglichkeit sich besser zu fühlen.
„Red scheint sie ja richtig ran genommen zu haben. Weißt du was davon?“, fragte Sentry.
„Ja klar weiß ich das. Seine Leute haben sich nicht ran getraut an sie, aber Red hat sie sich einfach genommen. Hat ihre ganze Familie umgebracht. Ist sie selber schuld“, spie Pius ihr entgegen.
Sentry überlegte, was die Ursache für Pius tiefe Abneigung gegenüber Dina sein konnte, dass er solche unmenschlichen Worte von sich gab. Es interessierte ihn eigentlich nicht. Wichtig waren die Informationen. Sie war von Red vergewaltigt worden. Die ursprüngliche Annahme, dass die beiden eine abartige Art von Beziehung hatten, kam ihm nach der neuen Information des Todes ihrer Familie vollkommen lächerlich vor. Das war vermutlich ihr Antrieb. Eine der tiefsten Empfindungen überhaupt. Rache. Er bohrte weiter in der Hoffnung auf neue Informationen.
„Wieso das denn?“
„Sie hatte wohl die Möglichkeit sie zu retten, aber sie hat es versaut. Was da genau gelaufen ist weiß ich nicht, jedenfalls hat Red ihrer Tochter und ihrem unglückseligen Mann die Kehle durchgeschnitten. Vor ihren Augen.“
Sentry schaute auf Dina nieder. Zum Glück war sie bewusstlos, denn das Mitleid, dass er plötzlich für sie empfand, hätte sie wahrscheinlich dazu genötigt eine weitere „yellow nightmare“ Runde in Kauf zu nehmen, nur um ihm diesen Blick auszutreiben. Ein an für sich positives Gefühl wie Mitleid erreicht bei Invaliden nur das Gegenteil. Sie war emotional verstümmelt worden. Was sie brauchte war Rache, kein Mitleid. Sentry hatte seine Verhandlungsbasis. Nun musste sie bloß wieder die Alte werden.
Pluto mischte sich ein. Ihm gefiel die vertraute Art und Weise, wie die beiden über das vermeintliche Opfer herzogen, überhaupt nicht. Allein seine Nähe ließ Pius ehrfürchtig zurückweichen.
„Ich hoffe sie wird wieder. Das mein ich wirklich ehrlich“, sagte Pluto und ging wieder zu seinem Bett zurück. Pius folgte ihm, so dass Sentry und Dina wieder unter sich waren.
Die Nachwirkung der Drogen ließ sie halluzinieren. Sie gab mehrere Namen Preis, ohne dass ein Zusammenhang zu erkennen war. Vieles war schwer oder gar nicht verständlich. Nur ein Satz tauchte in regelmäßigen Abständen gut hörbar immer wieder auf.
„Ich kann es nicht Ned.“ Offenbar war das ihr „yellow nightmare“. Fünf Worte, die sie an den Rand des Wahnsinns brachten. Welch tieferer Sinn auch dahinter steckte, es brachte sie körperlich an ihre Grenzen. Jedes Mal wurden diese Worte begleitet von kräftigen Anfällen.
Es dauerte geraume Zeit, bis sie in einen halbwegs ruhigen Schlaf verfiel. Die Wirkung der Drogen hatte nachgelassen. Blieb die Frage, wie groß der angerichtete Schaden war. In der ganzen Zeit gab es keinerlei verbale Attacken in ihre Richtung und das obwohl Dinas Halluzinationen die Geduld aller strapazierte.
Sentry schlief irgendwann ein. Ein kurzer traumloser Schlaf, der durch die Unruhe aus Dinas Richtung unterbrochen wurde. Dieses abrupte Ende seiner notwendigen Regeneration machte es ihm schwer sofort in die Realität zurückzukehren. Er brauchte einige Augenblicke, um wieder klar denken zu können. Sein Blick fiel auf Dina, die aufrecht im Bett saß. Er hatte nicht viele Erinnerungen auf die er zurückgreifen konnte, aber das Erwachen nach einem Drogenrausch kannte er. Die totale Verwirrung, die einen ergreift, weil man unfähig ist Realität von Einbildung zu unterscheiden. Unweigerlich kam ihm das tanzende, sadistische Eichhörnchen in den Sinn, dass ihm damals so unglaublich real erschien.
Dina saß gebückt auf der Pritsche. Sie hatte sich den Kopf am oberen Bett gestoßen. Die Art wie sie dahockte, wirkte alles andere als gesund. Ihr Blick war vollkommen leer, als wäre sie blind und orientierungslos.
Sentry nahm die Matratze des oberen Bettes und legte sie vor die nächste Wand. Sein Plan war sie vorsichtig von dem Bett zur Matratze zu führen, um weitere Verletzungen zu vermeiden, doch allein war er damit überfordert. Sie zuckte kurz zusammen, als er versuchte sie mit dem Ergreifen ihrer Hand zum Aufstehen zu ermutigen. Ihr Blick in seine Richtung enthielt erstmals keinen Argwohn in ihren Augen. Ein Zeichen dafür, dass sie den vollständigen Übergang in die Realität noch nicht geschafft hatte.
„Ned?“, fragte sie mit zärtlicher Stimme. Unbewusst genoss Sentry die fehlgeleitete Zuneigung. Durch den ganzen Hass, den Schmerz und die Angst, die ihn die letzten Wochen begleiteten, akzeptierte er die Lüge. Zu groß war die Sehnsucht nach positiven Emotionen. Auch wenn er nicht der eigentliche Empfänger war, der kurze Moment jemandem etwas zu bedeuten, nahm ihm für einen Augenblick das Gefühl des Verlorenseins und der Einsamkeit in dieser grausamen für ihn unbekannten Welt.
„Spiel hier nicht den Ersatzliebhaber, sondern hilf mir lieber sie hier rüber zu setzen“, tönte Plutos Stimme aus dem Hintergrund und holte wenigstens ihn in die graue Wirklichkeit zurück. Gemeinsam vollendeten sie seinen eigentlichen Plan.
„Und nun?“, fragte Sentry.
„Sie muss es alleine schaffen. Soweit ich das einschätzen kann, hat sie Cojones.“
„Sie hat was?“, fragte Sentry ungläubig zurück. Überraschenderweise kam ihm die neue Sprache bekannt vor, aber die Zuordnung des eigentlichen Wortes viel ihm schwer.
„Hatte er also Recht. Du hast keinerlei Erinnerung“, sagte Pluto mitfühlend. Mit er war wohl Pius gemeint, der vermutlich seine Leidensgeschichte ordentlich übertrieben hatte.
Sentry musste aufpassen. Pluto stellte sich als hilfsbereiter, interessierter und potentieller Freund da. War das wirklich seine Absicht oder steckte Berechnung dahinter? Irgendwas in seinem Inneren läutete gerade die Alarmglocke. Dummerweise konnte er dieses Gefühl der Manipulation nicht richtig zuordnen. Plutos Versuch Vertrauen aufzubauen, kam ihm falsch vor. Er entschied nicht auf seine fehlende Erinnerungen einzugehen und signalisierte Pluto damit, dass er nicht gewillt war sich weiter zu öffnen.
Es dauerte eine halbe Stunde, bis die letzten Auswirkungen ihres Drogenrausches endgültig nachließen. Sentry konnte es förmlich in ihren Augen sehen, wie sie nach und nach vom Abgrund ihrer persönlichen Hölle zurückkehrte.
„Der Superheld hat mich gerettet. Na toll.“ Ihr Sarkasmus war als erstes wieder auf Betriebstemperatur. Der erste Baustein, um ihren Schutzpanzer aus Wut und Hass wiederaufzubauen. Bis alles wieder normal funktionierte, flüchtete sie sich in unterschwellige Beleidigungen.
„Immer bereit zu helfen“, erwiderte Sentry übertrieben lustig. Er wollte ihr nicht die Genugtuung geben ihn damit zu treffen.
„Als ob ich die unbedingt bräuchte“, erwiderte sie abfällig. Nun war er sich sicher, dass sie die alte unberechenbare Dina würde, die bereit war jedem den Hals umzudrehen, der ihr dumm kam. Vielleicht hatte das „yellow nightmare“ sie etwas vorsichtiger gemacht, aber ihre Bereitschaft Gewalt als geeignetes Mittel einzusetzen, war eindeutig noch vorhanden.
Er wusste nicht ob ihr Geist bereits vollkommen nebelfrei war, aber er wollte die Gelegenheit nutzen seinen gefassten Plan umzusetzen. Vielleicht war es sogar ein Vorteil, dass sie noch nicht hundertprozentig klar denken konnte und damit beeinflussbar war.
„Ich denke schon. So wie ich deine Hilfe brauche“, antwortete er auf ihre eigentlich verächtlich gemeinte Aussage.
„Pühh“, erwiderte sie gelangweilt und damit wollte sie sich eigentlich wichtigeren Dingen als Sentry widmen.
„Red. Ich kann dir helfen ihn zu finden.“
„Achja. Schau dich doch mal an. Sentry? Ha. Du wirkst eher wie Clark Kent“, griff sie das Superheldenthema wieder auf.
„Vielleicht habe ich mich falsch ausgedrückt. Nicht ich werde ihn finden, sondern er mich.“
„Hast du ihm einen geblasen und jetzt hat er ein schlechtes Gewissen, weil er sich nicht revanchieren konnte?“, fragte sie spöttisch.
„Ich habe etwas, was er will“, sagte er geheimnisvoll.
„Sicher“, sie wirkte langsam etwas genervt, also musste er schleunigst ihr Interesse wecken.
„Du erinnerst dich an die Schlussansprache, als er uns verkaufte. Das hatte einen Grund und den werde ich dir zeigen.“
Er drehte sich um. Keiner außer Dina durfte sehen, was gleich passierte. Er war bereit jemandem sein größtes Geheimnis anzuvertrauen. Hoffentlich würde er das nicht bereuen, aber das Risiko musste er eingehen. Was hatte er zu verlieren? In dieser gewalttätigen Welt würden früher oder später seine unnatürlichen Regenerationsfähigkeiten ohnehin auffallen und so streckte er ihr Zeigefinger und Mittelfinger der rechten Hand entgegen.
„Mach das, was du am besten kannst. Brich sie.“
„Der letzte Knochen, den ich gebrochen habe, hat mich fast zum Junkie auf Höllenqualen gemacht. So verlockend das auch ist. Kein Bedarf.“
„Ich würds ja selber machen, aber dann denkst du ich liefere dir nur einen billigen Zaubertrick.“
Sie zögerte weiter.
„Ich kann dich solange provozieren bis du mir mehr als die Finger brichst, aber das wäre für beide unangenehm. Also leg los.“
Sie machte eine Faust um seine Finger und ließ sich Zeit. Verdammt konnte sie sich nicht beeilen. Das Warten auf die Schmerzen war schlimmer, als die Schmerzen an sich.
„Du bekommst den vollen Service. Die Vorfreude kannst du so lange wie möglich auskosten“, grinste sie.
„Deine sadistische Neigung in allen Ehren, aber mach endlich. Ich will dir was … arghhh.“
Er durfte nicht schreien. Die Aufmerksamkeit der Anderen wollte er unbedingt vermeiden.
Sie hatte ganze Arbeit geleistet. So wie sich die Finger an seiner Hand darstellten, gab es keinen Zweifel, dass da nichts Gesundes mehr vorhanden war.
„Ich hoffe du hattest deinen Spaß. Was immer dir diese Aktion geben mag, halt mich daraus. Wenn die mich wieder abführen, wiederhole ich vorher die ganze Sache mit deinem Genick. Verstanden?“, drohte sie.
„Halt die Klappe und schau zu.“ Der einsetzende Adrenalinrausch ließ ihn jede Vorsicht ihr gegenüber vergessen.
Die Vorstellung war zwar nicht zu vergleichen mit der offenen Wunde, die sich bei Red schloss, aber es reichte um Dina zu verblüffen. Nach etwa zehn Minuten waren seine Finger wie neu. Zum Beweis öffnete und schloss er mehrmals die rechte Hand, um zu zeigen, dass alles wieder seinen ursprünglichen Zustand angenommen hatte.
„In welche Atomexplosion bist du denn gekommen, dass du solche Tricks drauf hast?“, fragte sie sichtlich beeindruckt.
„Dieser Superhelden-Mist nervt langsam. Das ist Vorfahrentechnologie. Femtos. Die düsen durch meine Blutbahnen und reparieren so ziemlich alles, was kaputtgeht.“
„Klar das Red darauf scharf ist. Er hatte genug Zeit die Dinger aus dir raus zu kitzeln. Ich vermute mal, wenn das so einfach wäre, hätte er das schon längst erledigt.“
„So simpel scheint das nicht zu sein. Er hatte aber Pläne, wie er das anstellen wollte.“
Sie schienen das erste Mal auf einer Ebene zu kommunizieren. Dieser herablassende Unterton, mit dem Dina ihre Worte normalerweise untermauerte, war der Neugierde über die Femtos gewichen. Er hatte ihr ein Geheimnis anvertraut. Die Unsicherheit über die Konsequenzen blieb ihm allerdings erhalten. Was würde sie tun mit dem Wissen? Er musste handeln, immerhin lagen die Karten jetzt offen.
„Du verstehst mich. Ich weiß nicht wer ich bin, habe diese Scheiße in mir und finde mich in diesem Albtraum wieder. Ich pack das nicht allein. Du willst Red. Halt dich an mich und er taucht ganz von allein wieder auf.“
„Warum glaubst du finde ich ihn nicht schneller ohne dich?“, fragte sie.
„Das musst du entscheiden. Ich glaube aber nicht, dass Leute wie Red im Branchenbuch stehen. Deine Optionen sind sicherlich begrenzt.“
„Und was verlangst du von mir?“ Sie hatte offenbar angebissen.
„Ich kenne mich nicht aus in dieser Welt. Ich brauche einen Führer. Jemand, der mich abhält etwas Leichtsinniges zu tun, nur weil ich in meiner Ahnungslosigkeit nicht weiß, was mich einen Raum weiter erwartet.“
Dina wog nicht lange die Optionen ab. Wieder zeigte sich, dass sie eher dem Handeln zugetan war, als ewig über Entscheidungen zu grübeln.
„Einverstanden. Ich nehme die Kindermädchenstelle an. Du stehst jetzt unter meiner offiziellen Obhut. Bilde dir aber nicht ein, dass du dir damit alles erlauben kannst.“ Ihr wurde wohl klar, dass ein Ableben Sentrys ihre Rachemission sehr erschweren würde.
Er hatte sein Ziel erreicht, aber ein richtiges Triumphgefühl wollte sich nicht einstellen. Das Vertrauen war begrenzt. Ihre geplante Rache stellte sie über alles. Auch wenn der Pakt gerade ein Vorteil für sie war, sollten die Bedingungen sich ändern, würde sie vermutlich nicht zögern ihn zu opfern. Er musste sich damit abfinden, dass Red für sie die höchste Priorität hatte. Sentry war ein Werkzeug, um an ihn ranzukommen und wie das so ist mit Werkzeugen, waren sie irgendwann verschlissen.
Dina erholte sich weiter. Ihr Körper hatte die letzten Wochen so viel ertragen müssen, dass sich das „yellow nightmare“ als geringe Herausforderung darstellte. Ein weiterer Prüfstein für ihre Leidensfähigkeit, der souverän gemeistert wurde. Bis zur Landung hatte sie ihre volle geistige Stabilität zurück und die wurde gebraucht, denn die ungewisse Zukunft benötigte volle Konzentration. Sentry hatte es vermieden Dina auf ihre Vergangenheit anzusprechen. Die Kenntnis über Ned und ihre Familie wollte er sich aufsparen. Eine Trumpfkarte, die er vielleicht im richtigen Moment ausspielen könnte.
Nach der Landung vergingen weitere zwei Stunden. Offenbar hatte man es nicht eilig sie aus ihrem Gefängnis zu holen. Seine Anspannung stieg. Vor allem die Femtos machten Sentry Sorgen. Was würde passieren, wenn sie hinter sein Geheimnis kommen würden? Eine einzige Wunde würde reichen. Die Wahrscheinlichkeit sich wehzutun war hoch in dieser gewalttätigen Umgebung. Er musste Ärger aus dem Weg gehen. Allerdings hatte er jetzt Dina an seiner Seite. Eine Tatsache, die die Verletzungswahrscheinlichkeit stark erhöhte. Plötzlich war er sich nicht mehr sicher mit dem Pakt die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Egal. Er musste damit leben oder vielleicht sogar damit sterben.
Seine Anspannung steigerte sich, als sie abgeholt wurden. Die ihm vertraute Wache führte die sechs Gefangenen den gleichen Gang entlang, den sie gekommen waren. Mit jedem Schritt Richtung Schleuse verbesserte sich die Luft. Es wurde deutlich kühler. Er genoss die verbesserten Umgebungsbedingungen und holte tief Luft. Der Drang dieses sterile Gefängnis aus Metall endlich verlassen zu können wurde unbändig. Umso größer war seine Enttäuschung, als sie an den Außenwänden vorbeigingen. Die Fenster zeigten die übliche schwarze Leere. Selbst die Sterne waren verschwunden. Wo waren sie gelandet? Die widersprüchlichen Empfindungen aus sauberer Luft und der Schwärze des Weltalls verwirrten ihn. Erst als er die Luftschleuse komplett sah, war ihm klar, da draußen war es einfach nur dunkel. Das Schiff stand auf festem, harten Grund. Vermutlich war das Lassik.
III
„Die Hoffnung aufzugeben bedeutet, nach der Gegenwart auch die Zukunft preisgeben. “
Pearl S. Buck
Gleich mehrere Faktoren trübten seine Freude endlich der sterilen Atmosphäre des Schiffes zu entkommen. Da war einerseits die Temperatur, die ihn frösteln ließ. Sein dünnes Hemd und die nicht weniger unpassende Stoffhose waren mit Sicherheit die falsche Kleidung für die klimatischen Bedingungen dort draußen. Die geregelte Temperatur innerhalb des Schiffes betrug 20°C. So fühlte sich der erste Schritt in die Nacht von Lassik an, wie ein Sprung in einen Kübel voll Eiswasser.
Ihm blieb nicht viel Zeit die Kälte zu beklagen. Die Temperatur um den Gefrierpunkt war das geringere Übel gegenüber der erhöhten Schwerkraft. Allein die Rampe abwärts zu gehen und die Landeplattform zu erreichen, brachte ihn ins Schwitzen. Das lange Nichtstun auf Reds Schiff und die unbekannte Zeit im Tiefkühler, hatten seine Kondition ohnehin auf ein Minimum schrumpfen lassen. Die höhere Schwerkraft gab ihm den Rest. Es würde Tage dauern, bis die Muskulatur sich an die Bedingungen angepasst hatte. Er hoffte wieder auf die Femtos. Warum sollte sein Fluch sich nicht mal in ein hilfreiches Werkzeug verwandeln.
Dieser Kraftakt einfach nur gerade aus zu gehen, erforderte Unmengen an Sauerstoff. Eine Notwendigkeit, die hier auf Lassik offensichtlich Mangelware war. Die dünne Luft machte ihm das Atmen sichtlich schwer. Die nächsten Stunden würden die Hölle werden und trotz der ganzen negativen Erfahrungen im All, wurden dort seine körperlichen Grenzen selten ausgereizt. Die fehlende Kondition hielt neue Martyrien für ihn bereit. Zehn Minuten auf dieser Welt und er war einfach nur platt. Die Enttäuschung war groß. Die Hoffnung auf eine Verbesserung seiner Lage durch das Betreten einer Welt außerhalb der bedrückenden Umgebung eines Schiffes, hatte sich nicht erfüllt. Ganz im Gegenteil. Er stand einer neuen Herausforderung gegenüber.
Neben den psychischen Qualen, sollten nun die physischen dazukommen. Die Grenzen seiner Belastbarkeit wurden einmal mehr erweitert. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, ob der Zusammenbruch unmittelbar bevorstand. Und wieder musste die Photographie in seinem Kopf herhalten, um sich der Erlösung durch Aufgabe nicht zu ergeben. Noch funktionierte es. Er war gespannt, welche weiteren Hürden ihn hier erwarten würden.
Er schaute sich um. Auch die anderen hatten ihre Probleme, kämpften aber vorwiegend mit der Kälte. Ihre Kondition war weitaus besser als seine. Mit Erschrecken musste er feststellen, dass er das schwächste Mitglied innerhalb der Gruppe war, vermutlich gab es sogar auf dem gesamten Planeten niemand der ihn an Elend überbieten konnte. Diese Erkenntnis spülte die letzten Reste seines Selbstvertrauens davon.
Der Landeplatz schien nichts Offizielles zu sein. Eine Lichtung, umgeben von riesigen Bäumen, deren Konturen nur schemenhaft im Mondlicht zu erkennen waren. Der Boden war sandig, feucht und mit Pfützen übersät. Er konnte eine kleine Baracke in der Nähe ausmachen, die keine 100 Meter entfernt sein musste. Neben der spärlichen Beleuchtung am Schiff war sie die einzige künstliche Lichtquelle, welche das fahle Mondlicht unterstützte.
Diese dunkle Umgebung steigerte die Empfindung einer illegalen Transaktion beizuwohnen. Nur war er weder Käufer noch Verkäufer, die an versteckten Orten mit verbotenen Waren handelten. Es war viel schlimmer, denn er war Bestandteil eines dieser Geschäfte, der moralisch jegliche Legitimierung versagt blieb. Diese Tatsache steigerte seine Angst. Was hatten sie mit ihnen vor, dass sie offizielle Stellen meiden mussten? Er versuchte sich abzulenken, indem er das Entladen von Kisten beobachtete. Offenbar war die menschliche Fracht nicht die einzige Ware, die an die Einheimischen verkauft wurde.
Zehn Meter entfernt von der Rampe wartete eine uniformierte Person. In der Dunkelheit war es lange unklar, ob diese männlich oder weiblich war. Ein kurzes Gespräch mit der Schiffswache und die Übergabe war vollzogen. Im zügigen Gang kam sie auf die Neuankömmlinge zu. Eine eindeutig männliche Stimme mit militärischem Schneid begann Befehle in die Dunkelheit zu brüllen.
„Los gehts. Alles mir nach.“ Ohne groß abzuwarten, ob seine Kommandos verstanden wurden, machte er erste Schritte auf die Hütte zu. Für einen Moment stand die Gruppe vollkommen auf sich gestellt in der Kälte. Keiner bewegte sich. Pius, Terra und Lars warteten auf eine Reaktion von Pluto, während Sentry hilflos zu Dina schaute. Die zuckte auch nur mit den Schultern.
„Ihr solltet mir folgen, wenn ihr überleben wollt. In der Umgebung gibt es nur Wildnis“, schallte es aus der Dunkelheit.
Pluto machte die ersten Schritte und versetze damit die Gruppe in Bewegung. Hundert Meter reinste Qual lagen vor Sentry und nur mit größter Anstrengung erreichte er sein Ziel. Vollkommen ausgepumpt, ließ er sich auf den Stufen der Hütte nieder.
„Alles antreten“, brüllte ihr neuer Herr und gönnte ihnen keine Verschnaufpause. Sie bildeten eine schlampig zusammen gestellte Reihe.
“Erbärmlich”, kommentierte der Soldat die Formation.
„In dieser Kiste da sind warme Sachen.“ Mit einem kurzem Kopfnicken erlaubte er der Gruppe sich neu einzukleiden. Danach ging es zum Aufwärmen in die Hütte.
Sentry wagte eine kurze optische Beurteilung seines neuen Besitzers. Das Alter schätzte er auf Anfang dreißig. Der kahle Schädel und seine stämmige Figur verbreiteten ein gewisses Maß an Einschüchterung. Obwohl er die Rangabzeichen nicht kannte, war Sentry sich sicher keinen Offizier vor sich zu haben. Eher ein Mann fürs Grobe mit beschränkter Intelligenz. Ein Standardtyp des Befehlsempfängers.
„Ihr seid hier auf Lassik. Genauer gesagt auf der Insel Prem.” Er machte eine kurze Pause, um die Reaktion der Gruppe zu analysieren. Offenbar hatte er mehr Staunen oder sogar Respekt erwartet, denn die Gleichgültigkeit gegenüber seiner Aussage ließ ihn leicht drohend fortfahren.
„Ihr solltet immer in der Nähe bleiben, wenn euch euer Leben lieb ist”, erklärte er kurz und knapp. Wenigstens bei Pius erreichte er damit die gewünschte Reaktion. Mit diesem kleinen Triumph verließ er die Hütte ohne sie mit weiteren Informationen zu füttern.
Offenbar warteten sie auf etwas. Sentry bekam dadurch die Möglichkeit seiner brennenden Lunge die erhoffte Pause zu gönnen. Er fühlte sich wahnsinnig schwer. Wie konnte man an diesem Ort nur leben? Jeder Schritt war unglaublich anstrengend.
Nachdem sein Puls wieder den Normalzustand erreicht hatte, wandte er sich an Dina.
„Was ist das hier für ein Ort? Wie kann man denn hier auf Dauer überleben?“
„Sicher kein Vergleich zu dem Verwöhnprogramm auf Reds Schiff“, grinste sie ohne wirklich witzig zu wirken. Auch sie hatte Angst. Der übliche Sarkasmus konnte diesmal nicht darüber hinwegtäuschen.
„Auf Lassik herrscht Bürgerkrieg und wir sind gerade mittendrin“, raunte Pluto aus dem Hintergrund.
„Und was erwartet man von uns? Sollen wir kämpfen?“, mischte sich Pius mit ein.
Pluto ignorierte die Fragen und genoss den Vorteil etwas mehr zu wissen als der Rest. Er hatte Gerüchte darüber gehört, was auf Lassik mit Fremden passierte. Obwohl er auch nichts Genaues wusste und die Variantenvielfalt dieser Gerüchte extrem hoch war, gab es eine Gewissheit. In ein paar Tagen waren sie alle tot. Es war nur die Frage, auf welche Art und Weise ihr Ableben stattfinden würde.
„Dieser Planet ist ein permanentes Fitnesstraining. In Kürze wirst du vor Muskeln kaum Laufen können“, erwiderte er stattdessen.
Sentry war neidisch auf die anderen. Dieser Höllenplanet setzte ihnen deutlich weniger zu als ihm. Er wollte nur weg. Egal wohin. Es konnte kaum schlimmere Orte als Lassik geben. Rubys Schiff startete und tatsächlich empfand er eine gewisse Wehmut hinsichtlich der angenehmen Langeweile der Zelle.
„Der Transporter ist da. Alles aufsteigen“, brüllte der Soldat von der Tür aus.
Neben Temperatur, Schwerkraft und Atemluft, machte Sentry mittlerweile auch die Wahrnehmung Probleme. Es fiel ihm schwer die Gewichte einzelner Dinge richtig einzuschätzen. Jacke, Schuhe sogar das Anheben seines Armes. Alles benötigte eine extra Dosis Energie, um bewegt zu werden. Teilweise nur wenig, aber es reichte um sein Gehirn in eine Art Dauerverwirrung zu versetzen. Er musste die Gewichte den einzelnen Objekten neu zuordnen. Eine Aufgabe, die nicht nur ihm, sondern der gesamten Gruppe zusetzte.
Sie traten durch die Tür ins Freie und erblickten gleich drei der angekündigten Transporter. Sie wirkten riesig. Mindestens zwanzig Meter lang auf mehrere Achsen verteilt. Wie sollten sie damit durch unwegsames Gelände kommen? Es war ihm egal. Hauptsache er musste nicht laufen. Der Soldat trieb sie in den ersten Transporter und im Inneren sahen sie sich mit einem bekannten Gesicht konfrontiert. Es war Björn, dessen rechter Arm notdürftig von einer Schlinge gestützt wurde. Er sah jämmerlich aus. Sie hatten seine medizinische Behandlung auf ein Minimum beschränkt. Apathisch begrüßte er die Gruppe und als er Dina erblickte, konnte Sentry ihm die Angst förmlich ansehen. Diese Frau wusste, wie sie bleibenden Eindruck hinterließ.
Kaum waren sie eingestiegen, rollte der Transporter los. Wie erwartet, war das Gelände so untauglich, dass sie ordentlich durchgeschüttelt wurden. Es gab Gurte, aber man hatte ihnen nicht die Zeit gelassen diese anzulegen. Der schwankende Transporter machte es unmöglich dieses Versäumnis nachzuholen. So gingen die ersten Minuten polternd dahin und erstaunlicherweise schafften es alle keine größeren Verletzungen davon zu tragen.
Eine knappe Viertelstunde ertrugen sie die schlecht ausgebaute Piste, als die spärliche Beleuchtung plötzlich durch ein rotes blinkendes Licht ersetzt wurde. Der einsetzende grelle Alarmton deutete auf schwerwiegende Veränderungen hin und der unmittelbare Stopp ließ die Gruppe fast nach vorne stürzen.
„Was jetzt?“, schrie Sentry gegen den Alarm an.
„Keine Ahnung. Aber rote Lichter bedeuten nie was Gutes. Anschnallen“, schnauzte Dina die ganze Truppe an.
Sentry war aufgeregt. Welche neue Qual würde ihn diesmal ereilen? Er hatte wieder Angst vor dem Ungewissen. Er verfluchte Dina. Das war ihre erste Gelegenheit, der Verpflichtung gemäß den Regeln ihres geschlossenen Paktes nachzukommen. Wollte sie nicht sagen was passierte oder wusste sie es selber nicht? Die Wut auf sie linderte seine Angst und verlieh ihm den nötigen Biss, um auf das Kommende zu reagieren.
Der Alarm verstummte und die roten Lichter erloschen. Mit einem Schlag herrschte absolute Stille. Der Transporter bewegte sich nicht und die ungewohnte Ruhe verschärfte die angespannte Lage aller Anwesenden. Niemand wagte sich zu rühren. Nichts passierte. Das Warten auf das Unbekannte war schlimme Folter. Logik musste Sentry hier helfen. Sie würden ihm kein Leid zufügen, nicht nachdem sie ihn gerade erst erworben hatten. Anderseits, könnte irgendwas Unvorhergesehenes passiert sein, dass sie zwang verrückte Sachen mit ihnen anzustellen. Sein Adrenalinspiegel stieg merklich an und ein leises Wimmern von Pius durchdrang die Stille. Angegurtet an den Seitenwänden erwarteten sie ihr Schicksal.
Am Anfang war es nur unmerklich, als würde jemand seinen mit Schwerkraft vollgestopften Rucksack langsam Stück für Stück auspacken. Er wusste nicht wie, aber sie veränderten sein Gewicht. Von Minute zu Minute fühlte er sich leichter. Was bezweckten sie damit? Er hatte so viel Mist in letzter Zeit erlebt, dass er überzeugt war, die Sache würde nicht gut für ihn ausgehen.
„Antigravitation. Und ich Idiot piss mir fast in die Hose“, schallte es von Terra, der bis dahin kein einziges Wort gesprochen hatte.
„Sie machen den Inhalt des Transporters leichter, um ihn dann vermutlich in die Luft zu bringen“, ergänzte er.
„Das sind Informationen, die hätte ich mir von dir gewünscht“, schnauzte Sentry Dina an, nachdem er zu der Erkenntnis gekommen war, dass Terras Worte Sinn ergaben und der Gefahrenpegel auf ein normales Maß zurückgegangen war.
„Ich hab doch gesagt anschnallen. Du lebst und bist gesund. Was erwartest du mehr? Dein Teil der Abmachung ist doch eh der Einfachere. Du brauchst nur bei mir bleiben“, erwiderte Dina.
Sie hatte Recht, auch wenn er das gerne anders gesehen hätte. Was hatte er groß zu bieten? Wahrscheinlich konnte er froh sein, dass sie sich überhaupt auf ihn eingelassen hatte. Sein Nutzen überstieg den Aufwand bei der Vereinbarung. Sie würde darauf achten, dass er am Leben bliebe. Ihre Aufgabe bestand nicht darin ihm irgendwelche Ängste zu nehmen. Solche Sachen musste er allein durchstehen. Das Gefühl der Einsamkeit machte sich in ihm breit. Immer wenn er dachte die ganze Bandbreite der negativen Emotionen bereits durchlebt zu haben, tauchte ein neues Gefühl auf, um ihm zu zeigen, dass durchaus noch Luft nach unten war. Es wurde dringend Zeit für etwas Positives.
Terra hatte Recht mit der Antigravitation und der einhergehenden Gewichtsreduzierung, nur wollten sie die Transporter nicht in die Luft bringen, sondern auf Boote verschiffen. Wahrscheinlich konnten sie damit das unwegsame Gelände auf dem Seeweg umgehen. Er war es Leid sich Gedanken über Nebensächlichkeiten und seine Unwegbarkeiten zu machen, zumal er sie ohnehin nicht beeinflussen konnte. Was er brauchte war ein freier Geist. Geordnete Strukturen, die ihm die Möglichkeit einer Flucht boten.
Der Wellengang war moderat, aber die bedrückende Enge des Transporters sorgte dafür, dass sich Pius und Terra abwechselnd übergeben mussten. Sentry hatte einen unverhofft robusten Magen. Es gab ohnehin nicht viel, was er hergeben könnte, denn seine Nahrung der letzten Wochen bestand ausschließlich aus flüssigen Kaloriengetränken. Zwei Stunden war ihm Elend zu Mute und als sich seine Innereien endlich beruhigten, endete auch die Seefahrt.
Wieder ertönte der Alarm und der Transporter färbte sich rot vom Licht der Signallampen. Die Rückkehr zur hiesigen Schwerkraft war weitaus unangenehmer als er befürchtet hatte. Es nahm kein Ende. Stück für Stück wurde in seinen unsichtbaren Rucksack gepackt und jedes Mal wurde seine Hoffnung auf das Ende mit weiteren Kilos zerstört. In den zwei Stunden hatte er vollkommen die Relation zu dem eigentlichen Gewicht auf diesem Höllenplaneten verloren.
Er versuchte sich abzulenken. Gewicht ist immer abhängig vom Ort. Masse ist immer gleich, kramte er in dem Wissen, was ihm zur Verfügung stand. Wie zum Teufel konnte man in einem abgeschlossenen Raum sein Gewicht so sehr reduzieren? Vorfahrentechnologie. Vermutlich gab es niemanden mehr, der ihm dieses Mysterium erklären konnte. Der Schalter wurde einfach umgelegt und schon war der komplette Inhalt nur noch halb so schwer. Ging die ganze Sache auch in die andere Richtung? Konnte man die Schwerkraft so weit verstärken, dass er unter seinem eigenen Gewicht erdrückt würde? Erschütternder Gedanke. Er musste unbedingt an was Anderes denken. Sein Blick viel auf Dina und unweigerlich kam ihm ihre Brüste in den Sinn, die er auf Reds Schiff gegen Androhung von Gewalt bewundert hatte.
Auf einmal empfand er Lust. Sein Verstand war im Ausnahmezustand und gegen die Angst zerquetscht zu werden, fiel ihm in seiner Unberechenbarkeit nur einer der primitivsten Urinstinkte überhaupt ein. Die Aufregung war zu groß für eine ausgefeilte Fantasie. Trotzdem bändigte es das Chaos und so erfasste ihn endlich das ersehnte positive Gefühl. Ein trügerisches, dass ihn lang genug in einen ablenkenden Rausch versetzte. Die Realität, mit allen negativen Empfindungen, würde ihn schnell genug wieder zurückbekommen.
Der Transporter kam in Bewegung. Mühsam schleppten die Antriebe das träge Gefährt vorwärts. Der Untergrund schien eben zu sein, denn dieses Mal pressten sie keine Erschütterungen in die ohnehin verschlissenen Gurte. Offensichtlich fuhren sie über einen befestigten Weg oder vielleicht sogar über eine Straße.
Eine halbe Stunde später kam der Transporter zum Stehen und nachdem sich die Tür geöffnet hatte, erhellte Tageslicht das von vereinzelten LED beleuchtete Innere.
Die Augen brauchten eine Weile, um sich an die Helligkeit zu gewöhnen. Sentry eröffnete sich ein Anblick von grünen Bäumen, blauem Himmel und Sonnenschein. Nach wochenlangen Aufenthalten in Neonlicht bestrahlten kargen Räumen fühlte er sich das erste Mal in einer natürlichen Umgebung. Alles an diesem Ort belebte seine Sinne. Keine metallischen Wände mehr, kein leises Brummen von Raumantrieben und vor allen Dingen keine tausendfach aufgearbeitete Luft. Die Geräusche des Waldes verrieten Leben in der Umgebung und das Orchester aus Vogelgezwitscher und Windrauschen entschädigten für den ersten schlechten Eindruck, den dieser Planet bisher hinterlassen hatte. Selbst die Kälte war für den Moment vergessen. Ihn überkam das Bedürfnis sich auf den Boden zu werfen und sich im Dreck zu wälzen, um all die Wochen in seinem metallischen Gefängnis mit guter alter Erde abzustreifen.
Die Gelegenheit bekam er nicht, selbst wenn er es gewollt hätte. Der scharfe Befehlston unterband jede Form von Unabhängigkeit.
„Alles aussteigen und dann mir nach“, brüllte die bekannte Stimme des begleitenden Soldaten.
Der Gruppe blieb kaum Zeit sich zu orientieren. Sentry konnte ein paar Holzhütten vor der Kulisse von mächtigen Bäumen ausmachen. Davor herrschte geschäftiges Treiben zahlreicher uniformierter Einwohner, die mit ähnlich leeren Gesichtern wie ihr Begleiter irgendwelchem Tagewerk nachgingen. In Sentrys Augen wirkten sie wie gestresste Insekten, die seine Illusion vom Paradies schändeten. Als wäre das nicht störend genug, kurvten kleine Transporter scheinbar planlos, mit schlecht gewarteten Antrieben geräuschvoll durch die Reihen der ordentlich platzierten Holzbauten.
Die Lichtung war offensichtlich nichts Natürliches. Viele Bäume hatten weichen müssen, um aus ihrem Holz diese Siedlung zu erschaffen. Ihre uniformierten Einwohner ließen auf ein Militärlager schließen, allerdings konnte er keinerlei mobiles Kriegsgerät erkennen. In dieser Umgebung hätten Panzer ohnehin keine Berechtigung. Soweit reichte sein taktisches Verständnis und es blieb nur die Schlussfolgerung, dass sie sich inmitten einer Guerillatruppe befinden mussten. Militärische Anweisungen peitschten durch die kalte Luft und bewaffnete Wachen beäugten die Neuankömmlinge misstrauisch. Die Gerüchte über den Bürgerkrieg passten zu dieser Szenerie. Was zur Hölle erwarteten die Leute hier von ihnen?
Sie folgten einem der sorgfältig angelegten Pfade Richtung Zentrum, vorbei an Baracken, die alle einem Standard entsprachen. Ein scheinbar endloses Martyrium aus dünner Luft und hoher Schwerkraft. Sentry hatte keinen Blick für die einfachen Unterkünfte rechts und links ihres Marsches, zu sehr kämpfte er mit den widrigen Umweltbedingungen. Der Weg schien ihm unendlich und so fiel ihm das auffällige Steingebäude erst auf, als sie plötzlich zum Stehen kamen. Offenbar das Hauptgebäude, denn alle Wege begannen sich sternförmig in alle Richtungen auszubreiten.
Als sie durch die Eingangstür das Innere betraten, überraschte Sentry die ideenlose Aufmachung. Ein einziger großer Saal offenbarte sich ihnen. Die Ablehnung diesen Ort zu betreten, sprang einem aus jeder Ecke entgegen. Der verantwortliche Innenarchitekt hatte jeglichen Drang an Kreativität erfolgreich unterdrückt. Praktische Anordnung wurde Gemütlichkeit vorgezogen. Das einfallende Sonnenlicht verstärkte die Trostlosigkeit der kalkweißen Wände und verlieh ihnen einen extra schäbigen Eindruck. Tische und Stühle standen vor einer kleinen Bühne und erinnerten den Betrachter an einen Festsaal, dessen Gäste mit militärisch verordneter guter Laune beglückt werden sollten. In der Mitte hatte man einen freien Gang gelassen, der bis zu einem knapp einen halben Meter erhöhten Podest führte.
Ihnen wurde befohlen die vordersten Stühle beiseite zu räumen, damit genug Platz zwischen ihnen und dem Podest entstand. Dann bildeten sie eine Reihe und dieses Mal verkniff sich der Soldat Kommentare zur Anordnung. Er wirkte aufgeregt, als müsste er in Kürze einen Bericht abliefern, bei dem er sich nicht sicher war, ob er auf Gefallen stoßen würde .
„Wenn der General gleich eintrifft, werdet ihr euer bestes Benehmen zeigen. Er ist euer neuer Gott. Der Herr über das Wohlbefinden von euch Maden. Ihr redet nur, wenn es von euch verlangt wird. Solltet ihr euren Heiland verstimmen, werde ich persönlich dafür sorgen, dass ihr ihm zu Ehren geopfert werdet.“ Die Anerkennung für die kreative Demütigung musste ihm Sentry auf Grund der Schwerkraft schuldig bleiben. Wieder einmal rang er lautstark nach Luft. Jede Tätigkeit war eine Qual für ihn.
Die Eingangstür öffnete sich und zwei Uniformierte betraten den Versammlungssaal. Die Art und Weise wie sie den Gang entlang gingen, verriet sie als Offiziere. Es war jene Gelassenheit, die man Leuten der unteren Hierarchiestufe entgegen brachte.
Obwohl Sentry mit dem Rücken zu den Neuankömmlingen stand, gelang es ihm die beiden flüchtig zu mustern.
„Augen nach vorn“, blaffte ihn der Soldat an.
Eine der beiden Personen war weiblich, soviel hatte er auf die Schnelle erkennen können. Ihr Bewacher baute sich vor einem Mann mit charismatischer Ausstrahlung auf und begann zu salutieren.
„Herr General, die Zivilisten sind vollständig angetreten“, brüllte er seinen Vorgesetzten respektvoll an.
Der Offizier musste um die 50 sein. Die entspannte Körperhaltung verriet, dass er die brutale, militaristische Einstellung seines Untergebenen nicht teilte. Der Vorteil seiner Intelligenz gegenüber dem grobschlächtigen Soldaten war deutlich in seinen Gesichtszügen zu erkennen. Dazu kam seine ruhige aber bestimmte Art der Unterhaltung mit seiner Begleiterin. Dieser Mann strahlte vor Selbstsicherheit und befand sich damit nahe an der Grenze zur Arroganz. Sein Auftreten glich dem eines großen Feldherren. Sicherlich ein erster Eindruck, der so beim Betrachter beabsichtigt war.
Ein kurzes Nicken reichte ihm, um die Meldung als zufriedenstellend abzuhaken. Er stand jetzt direkt vor ihnen und musterte schweigend die Gesichter der Neuankömmlinge. Ohne ein Wort zu sagen schüchterte er allein mit seinem Machtanspruch die Anwesenden ein. Es war weniger die körperliche Erscheinung, die Sentry beunruhigte. Die Art und Weise wie er sie ansah, sich ein inneres Urteil bildete und dann zum nächsten überging, erzeugte eine Angst, die schwer erklärbar war. Alle wussten, dass sie ihrem Richter gegenüberstanden, der je nach Laune den Daumen nach oben oder unten zeigen konnte. Nach einer gefühlten Ewigkeit nonverbaler Einschüchterung fing er endlich an zu sprechen. Ruhig, fast wie ein Geschichtenerzähler, aber doch immer präzise und prägnant die ungeschönte Wahrheit gerade heraus. Der Tonfall passte nicht wirklich zum eigentlichen Inhalt, als würde man einem Kind die Notwendigkeit einer Spritze erklären. Der Schmerz war unvermeidbar, auch wenn man sich noch so sehr bemühte alles in schöne Worte zu packen. Die unterschwellige Botschaft, dass die Sache hier nicht gut ausgehen würde, war jedem Anwesenden klar und schwang in all seinen Worten mit.
„Ich bin General Kain“, begrüßte er die Anwesenden. Es war unglaublich. Obwohl das Gesagte ohne große Bedeutung war, schaffte er es mit vier einfachen Worten einen nötigen Respekt einzufordern. Nur durch die Vorstellung seiner Person vermittelte er den Gefangenen seinen Führungsanspruch. Missachtet die Regeln und ich werde euch bestrafen, dass war es, was er subtil mitteilen wollte. Jedem war klar, dass die Regeln, wie immer sie auch aussahen, zwischen ihm und dem Schmerz, vielleicht sogar dem Tod standen.
Nachdem sich Kain sicher war, dass seine Eröffnung ihre Wirkung nicht verfehlt hatte, fuhr er fort.
„Ihr werdet euch fragen warum ihr hier seid. Sicher seid ihr verängstigt, weil ihr nicht wisst, was wir eigentlich von euch wollen“, sagte er in seinem typischen Märchenonkel Plauderton, der oberflächlich harmlos klang, aber Sentry eine unglaubliche Angst einjagte.
„Ich würde euch ja gerne mit etwas Angenehmen überraschen, aber das, was vor euch liegt, würde mir persönlich auch nicht gefallen. Aber wir haben nun mal für euch bezahlt und da wir keine wohltätige Einrichtung sind, müsst ihr da jetzt durch.“
Er hielt einen Moment inne, um die Reaktion von Terra abzuschätzen.
„Wie ihr sicherlich bemerkt habt, befinden wir uns hier in einem Ausbildungslager. Das Training ist sehr gut, aber es fehlt eine gewisse Praxisnähe. Der Feind kann jederzeit durch diesen Wald kommen und unser Lager angreifen. Wir kennen den Wald besser als jeder andere auf Lassik, allerdings fehlt uns militärische Erfahrung was Verteidigungstaktiken angeht. Manöver ohne richtige Gegner führen nur zu bedingten Verbesserungen.“
Wieder unterbrach der General seine Märchenstunde. Diesmal wartete er auf eine Reaktion von Dina.
„Ohne richtige Herausforderung werden solche Manöver schnell zur langweiligen Routine. Daher gibt es in regelmäßigen Abständen für meine Leute etwas Abwechslung. Training am lebendigen Feind. Da unser eigentlicher Widersacher sich bisher äußerst selten hier draußen blicken lassen hat, müssen wir auf Ersatz zurückgreifen. So leid es mir tut, diese Aufgabe fällt euch zu.“
Diesmal brauchte er die kurze Pause, um die unangenehme Botschaft möglichst einfach zu verkünden.
„Kurz und knapp. Ihr seid die Hasen und wir jagen euch.“
Er machte ein freudiges Gesicht, als erwartete er großes Gelächter über seine Bemerkung.
„Die Begeisterung hält sich jedes Mal in Grenzen, aber auch nur, weil ihr nicht wisst, was für euch dabei rausspringt. Ihr habt nämlich die Möglichkeit auf eure Freiheit.“
Er machte eine Geste, als erwartete er Jubel. Immerhin hatte er ihnen die Aussicht auf ein Ende ihres Elends gegeben.
„Ich sehe schon. So richtig motiviert seid ihr immer noch nicht. Vielleicht muss ich euch das doch besser erklären. Wir geben euch zwei Wochen um sich hier anzupassen. Die Schwerkraft ist wirklich nicht einfach, aber die Zeit sollte reichen um fit zu werden.“ Er schaute zu seiner Begleiterin hinüber, die im Rücken der Gruppe stand und bisher kein Wort gesagt hatte.
„Danach bekommt ihr die Möglichkeit euer Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Seht es als Spiel, indem das Leben euer Einsatz ist. Ihr werdet in der Mitte der Insel ausgesetzt und müsst nur die Küste erreichen. Schafft ihr das, bringen wir euch in die Hauptstadt und ihr seid frei.“
Sentry schöpfte Hoffnung. Alle Überlegungen zu einem Fluchtplan wurden damit deutlich vereinfacht. Dieses „Spiel“ war die Möglichkeit sein Schicksal in die richtige Richtung zu lenken. Aus Mangel an Erfahrung wären alle Alternativen ohnehin zum Scheitern verurteilt gewesen. Kain zwang ihn mit diesem Angebot zum Handeln. Die Rahmenbedingungen waren abgesteckt, jetzt galt es das Beste daraus zu machen. Seine Gefühle waren wieder eindeutig die seiner unbekannten Persönlichkeit. Eine Persönlichkeit, welche die Herausforderung annahm, ja sogar genoss. Er hatte wieder etwas Entscheidendes über sich gelernt.
„Natürlich schicken wir euch nicht auf einen gemütlichen Waldspaziergang. Ihr werdet es mit dem vierten Zug zu tun bekommen. Entkommt ihr ihm, erwartet euch die Freiheit. Erwischen sie euch, endet ihr als Organspender.“ Dieses harte „Alles oder nichts” steigerte Sentrys Motivation sogar. Unabhängig vom Ausgang dieser Jagd hatte sein Elend ein Ende.
Kain wandte sich an Björn.
„Ich fürchte für dich mein Freund kommt das Spiel nicht in Frage. Wer oder was immer dir auch den Arm gebrochen hat, nahm dir die Möglichkeit zum Überleben. Vielleicht ist es dir ein Trost, dass deine Innereien unseren Soldaten und damit unserer Sache dienlich seien werden.“ Björn schaute erst Kain und dann Dina fragend an. Offensichtlich hatte er nicht begriffen, dass seine Reise des Lebens in Kürze zu Ende seien würde.
„Sie war es? Interessant. Nicht nur außergewöhnlich hübsch, sondern scheinbar auch außergewöhnlich kräftig. Schöner sauberer Knochenbruch. Wie hast du es hinbekommen?“, fragte er in einem Tonfall, als wäre er ihr Großvater, der gerade die neuste Bastelei seines Enkels lobte.
„Ich kann es dir zeigen. Ich bräuchte nur einen deiner Halswirbel“, antwortete sie in ihrer typischen Art und Weise.
Der Unteroffizier machte sofort einen Satz in ihre Richtung, um der Respektlosigkeit in seiner eigenen brachialen Art entgegen zu treten.
„Lassen Sie mal Zugführer. Sie bekommen in zwei Wochen ihre Möglichkeit. Vorfreude ist bekanntlich die schönste Freude und so wie es aussieht, können sie mit ihr viel Spaß haben“, grinste er wie es nur Männer hinbekommen.
„Bringen sie den Verletzten in die medizinische Einrichtung. Für den Rest beginnt das Training noch heute.“
Damit wandte er sich ab und folgte seiner stillen Begleiterin ins Freie.
Bevor das Training startete, wurde die Gruppe in eine leer stehende Hütte geführt. Ihre Unterkunft bis zum Beginn der Spiele, die ohne Möbel einer Gefängniszelle mit geöffneter Tür glich. Es war nicht nötig sie einzusperren, denn der Wald dort draußen diente als natürliche Barriere zur Freiheit. Ihnen blieb genug Zeit mögliche Varianten der Jagd durchzugehen. Während Dina und Sentry sich ein wenig abseits setzten, diskutierten die Übrigen separat über die Möglichkeiten des Überlebens, Scheiterns oder Todes.
„Was meinst du? Haben wir eine Chance da lebend rauszukommen?“, fragte Sentry.
„Nicht sehr vertrauenswürdig die ganze Geschichte. Wie auch immer, es ist unsere einzige Möglichkeit. Wir sollten die zwei Wochen nutzen, um möglichst viele Informationen über diesen Haufen zu bekommen. Ich werde es denen so schwer wie möglich machen. Vielleicht kann ich ein zwei Bastarde mitnehmen, wenn ich draufgehe.“
Er wusste nicht, was er als Antwortet erwartet hatte. Vielleicht so eine Art „Blut und Schweiß“ Ansprache, irgendetwas, was ihn motivierte seiner Freiheit näher zu kommen. Stattdessen schien Dina abgeschlossen zu haben. Wenn sie ihn nicht motivieren konnte, ging es vielleicht andersherum.
„Wir haben immer noch einen Trumpf. Die Mistviecher, die durch meine Eingeweide kriechen. Vielleicht können wir uns damit freikaufen?“
„Der Gedanke kam mir auch schon, aber ich fürchte den Leuten hier ist nicht zu trauen. Die sehen dich als ihr persönliches Eigentum an. Wenn die davon wüssten, zerlegen die dich vermutlich in deine Einzelteile und verkaufen dich Stückchenweise. Also bleib lieber unauffällig.“
Sentry überlegte kurz, ob Dina ihn verraten würde, um ihren eigenen Kopf zu retten. Er war nicht besonders gut seine Gedanken zu verbergen, denn sie nahm ihm sofort die Zweifel.
„Du vertraust mir nicht. Schlauer Bursche. Aber dein Geheimnis ist vorerst bei mir sicher. Ich denke mal, dass wir bessere Chancen haben hier raus zu kommen, wenn die nichts von deinem Talent wissen.“
Die direkte Art verunsicherte ihn. Man konnte Dina viel vorwerfen, aber dass sie hinterhältig war, gehörte eindeutig nicht dazu. Sie spielte mit offenen Karten und das machte sie mehr und mehr berechenbar. Sie besaß ein gewisses Maß an Intelligenz und nach Abwägung der Möglichkeiten war sie zu der Erkenntnis gekommen seine verborgenen Fähigkeiten nicht zu offenbaren. Sicherlich kein Akt der Nächstenliebe, sondern reine Kalkulation. Natürlich bestand immer die Gefahr einer Anpassung dieser Einschätzung, aber vorerst hatte Sentry ihre Loyalität. Vielleicht begriff sie auch endlich, dass sie alleine schlechtere Chancen hatte zu überleben. Sie waren sicherlich keine Gemeinschaft im freundschaftlichen Sinne. Es war ein gewisses Maß an Zusammenarbeit nötig, um hier lebend rauszukommen. Es wurde Zeit wieder einen Schritt auf sie zu zugehen.
„Diese Selbstheilung ist nicht mein einziges Talent“, sagte er kurz und trocken. Jetzt hatte er Dinas vollständige Aufmerksamkeit.
„Wer bist du?“, fragte sie diesmal mit ungespielter Neugierde.
„Wenn ich das wüsste. Red und seine miesen Getreuen haben mich aus einem Tiefkühler geholt. Das einzige was ich dabei hatte, war dieses Amulett.“
Sein Schicksal wiederholt zur Schau stellen zu müssen, deprimierte ihn. Er wollte eigentlich stark sein gegenüber Dina, hatte aber nun das Gefühl sich vollends auszuliefern.
Er zog das Schmuckstück aus der Tasche und hielt es Dina hin.
„Nett. Ist wohl aber eher nutzlos in unserer Situation“, reagierte sie gelassen.
„Kannst du es mit irgendwas in Verbindung bringen. Jeder Hinweis würde mir weiterhelfen.“
„Tut mir leid, aber mit Schmuck konnte ich nie viel anfangen.“
„Ich hoffe die nehmen es mir nicht ab.“
„Schlucken würde ich das nicht, aber es gibt noch eine andere Körperöffnung, in der du es verstecken könntest.“ Sie grinste bei der Vorstellung, wie er sich abmühte es sich einzuführen.
„Was hast du denn noch drauf?“, fragte sie plötzlich wieder vollkommen ernst.
„Was ich drauf habe?“
„Ja. Hast du den Röntgenblick? Kannst du fliegen? Irgendwas, was uns weiterhilft hier raus zu kommen.“
„Ich weiß es nicht. Die Femtos sind wahrscheinlich militärische Spitzentechnologie. Ich kann sie leider nicht aktivieren.“
„Himmel du bist eine Waffe. Eine, die nicht weiß, wann sie losgeht.“
„Danke jetzt geht’s mir viel besser“, antwortete er sarkastisch.
„Du hast zwei Wochen Zeit deine speziellen Talente zu ergründen. Offenbar warst du mal Soldat. Ich hoffe bloß keine Ordonnanz, denn Tabletts jonglieren bringt uns auch nicht hier raus. Du bist unserer Joker in diesem Spiel. Keine Angst. Ich werde dich nicht ausliefern, ich hab dich lieber auf meiner Seite.“
Sie hatte Recht. Die Femtos waren der entscheidende Faktor in den nächsten Wochen. Werden sie entdeckt, untersuchen sie ihn wie eine Laborratte. Kann er vorher ihre Geheimnisse ergründen, haben sie vielleicht eine Überlebenschance.
Ohne es zu wollen, hatte er an Zuversicht gewonnen. Schmerzhaft wurde ihm bewusst, wie sehr er ihre Hilfe brauchte. Alleine würde er das Ganze hier nicht durchstehen. Das Vertrauen zu ihr war gering, aber er würde noch eine Ewigkeit brauchen sich allein zu Recht zu finden.
Am nächsten Morgen startete das Training und bereits die ersten Übungen brachten ihn an die Grenzen seiner Belastbarkeit. Er war dem Spott eines kleinen zierlichen Zugführers ausgesetzt, der ihn mit stoßförmig vorgetragenen Atemgeräuschen parodierte. Die Luft war so dünn, dass seine Lungen nicht hinterherkamen sein Blut mit dem nötigen Sauerstoff zu versorgen. Die Wut auf diesen kleinen Troll trieb ihn an das Brennen in seiner Brust zu ignorieren und die Übungen trotz mangelnder Kondition bis zur Erschöpfung zu wiederholen.
Diese Wut war nicht der einzige Antrieb. Die Aussicht diesem Militärlager zu entkommen, spornte ihn zusätzlich an. In ein paar Tagen ging es um Leben oder Tod und da sein Selbsterhaltungstrieb noch nicht erloschen war, tat er alles, um sich dem Unausweichlichem stellen zu können. Nach einer Woche verbesserte sich sein Körpergefühl und damit steigerte sich die Zuversicht das Spiel gegen jede Vorhersage erfolgreich meistern zu können. Es war ihm egal, ob sich Kain an sein Versprechen halten würde. Dina und er würden notfalls ihre eigenen Regeln aufstellen, um hier wegzukommen.
In dieser Zeit der Vorbereitung lernten sie viel über das Lager und seine Bewohner. Lassik war zu dieser Jahreszeit ein kalter Planet. Selbst wenn die Sonne schien, wurde es nie wärmer als 5°C und überwiegend gab es einen peitschenden Regen, der alle in eine depressive Grundhaltung versetzte. Diese Depression wurde höchstens ersetzt durch Angst, die sich einmal in Gang gesetzt durch das Lager fraß, wie Heuschrecken durch ein Kornfeld. Am Anfang konnte Sentry nicht nachvollziehen, worin der Grund lag. Die Soldaten, die ihnen zugeteilt wurden, befanden sich in permanenter Anspannung und Sorge, so als hätten sie Furcht vor Bestrafung aufgrund von kleinsten Fehlern. In den zwei Wochen des Trainings gab es von ihnen nie ein Lächeln oder aufbauende Worte untereinander. Die Moral war gelinde gesagt auf dem Tiefpunkt. Einen Grund vermutete Sentry in dem völligen Fehlen von privatem Besitz. Alles war hier Gesamteigentum. Selbst lebensnotwendige Medikamente wurden nur auf Zuteilung herausgegeben. Zivile Kleidung oder Genussmittel wie Alkohol waren verboten. Die Truppe war gleichgeschaltet. Individualismus gab es nicht. Er war sich nicht mal sicher, ob eigene Gedanken vorhanden waren. Die einzige Freude der Soldaten bestand im Schikanieren der Gefangenen. Es gab ihnen eine Art Genugtuung, zu sehen, dass es in dieser Hölle noch schlimmer hätte kommen können.
Ansonsten glich das Lager einem Bienenstock, in dem jeder seiner Aufgabe nachging. Es existierte sogar eine Art Königin, die von allen ehrfurchtsvoll als Führer bezeichnet wurde. Er thronte über allem. Seine Anweisungen wurden ohne großes Hinterfragen ausgeführt und obwohl ihn die wenigsten zu Gesicht bekamen, war er die treibende Kraft in dieser Gesellschaft. Eine unsichtbare Peitsche, die alle hier permanent auf Trab hielt und im Gegenzug für ein unnatürliches Maß an Misstrauen untereinander sorgte. Die unausgesproche Hauptregel bestand darin diesen Heiland nicht zu verstimmen und das gelang am besten, indem man es vermied überhaupt aufzufallen.
Sentry lernte schnell, dass es einfach war seinen Unmut zu erregen. Ein wesentlicher Grund lag darin, dass es keine klaren Regeln hinsichtlich des Verhaltens gab. Was heute noch richtig war, konnte morgen genau das Falsche sein. Der Führer war launisch und so wechselten ihre Ausbilder je nach Stimmungsschwankung des Allmächtigen. Ein nachvollziehbarer Grund war nicht ersichtlich, aber Kleinigkeiten reichten für den absolutistischen Herrscher. Er hielt sich rar mit persönlichen Auftritten und organisierte die Abläufe über wenige Vertraute wie Kain. Trotzdem schaffte er es permanent präsent zu sein.
Das ohnehin schon primitive und entbehrungsreiche Leben im Lager wurde durch ein umfassendes Lautsprechersystem erschwert. Das buchstäbliche Sprachrohr des Führers an seine Untergebenen. Mit permanenten Ansprachen hielt er einseitigen Kontakt zu den Soldaten. Überall und zu fast jeder Zeit beschallten sie die Bewohner in kurzen und prägnanten Reden. Bei den zu verrichtenden Arbeiten oder bei den Kampfausbildungen, selbst in in den wenigen Pausen zur Aufnahme von Mahlzeiten waren seine zugegebenermaßen mitreißenden Worte zu vernehmen.
Diese feurigen Ansprachen, die offenbar als Motivation gedacht waren, um den teilweisen stupiden Arbeiten einen Sinn zu geben, enthielten verheißungsvolle Zukunftsvisionen. Die Worte waren so allgemein gehalten, dass es Außenstehenden wie Sentry schwer fiel die viel gepriesene Sache überhaupt zu verstehen, aber am Ende lief es vermutlich auf eine bessere Welt für alle Anwesenden hinaus. Wie diese aussehen sollte, war im Detail vollkommen unklar, aber allein die Aussicht auf Verbesserungen spornte die Soldaten an die Entbehrungen zu ertragen.
Die nie enden wollende Arbeit und die hoffnungsvollen Worte ließen keine Zeit für die Auseinandersetzung mit unpassenden Gedanken. Das ganze System schien darauf ausgelegt, die Soldaten an ihre mentalen Grenzen zu bringen und dort zu halten. Der Geist sollte gar nicht erst die Möglichkeit bekommen zur Bildung einer eigener Meinung oder schlimmer noch den Zweck ihrer Anwesenheit im Lager zu hinterfragen. Was hier passierte, war für Sentry lange unklar geblieben. Alle mussten sich einer gigantischen Gehirnwäsche unterzogen haben, denn dieses unterwürfige Verhalten der Masse gegenüber einem Einzigen war schwer nachzuvollziehen. Wie auch immer es der Führer geschafft hatte, die Angst, die er unter seinen Soldaten gesät hatte, machte ihn zu einer gottgleichen Person.
Das Ganze war erstaunlich, da auch die Grundbedürfnisse auf ein Minimum reduziert wurden. Die Ernährung bestand aus rationierten Kaloriendrinks. Durch die Härte der Ausbildung und die anfallenden Arbeiten, war neben dem Misstrauen untereinander, der Hunger ein ständiger Begleiter. Sentry vermutete, dass das sogar die Grundsäulen des Führungsanspruches des Führers waren. Erschöpfte Soldaten würden zwar nie Krieg führen können, stellten aber auch keine Fragen gegenüber dem bestehenden System. Das Ganze glich mehr einer Sekte, die einem Führerkult huldigte. Diese Verherrlichung eines allmächtigen Anführers wurde mit regelmäßigen Treffen vertieft.
Für die Gefangenen wurden keine Kaloriengetränke verschwendet. Während die Soldaten in regelmäßigen Abständen sogar Brot bekamen, war die Gruppe um Sentry gezwungen Fleisch zu essen. Die biberartigen Geschöpfe, die in den umliegenden Wäldern hausten, waren leicht zu jagen. Ihr Fleisch war zäh und schwer verdaulich. Hatte man den Ekel überwunden, begann der eigentliche Kampf es nicht auszuspeien. Niemand war es gewohnt feste Nahrung zu sich zu nehmen, schon gar nicht Fleisch. Daher waren die Magenkrämpfe ein ständiger Begleiter jeder Mahlzeit.
Die Tage bis zum finalen Spiel wiederholten sich in ständiger Routine, so dass Sentry die einzelnen militärischen Rituale vorhersagen konnte. Zeitiges Aufstehen mit anschließendem Antreten, gefolgt von einem kargen Frühstück aus zähem Biber und einem ersten Dauerlauf durch den umliegenden Wald. Danach gab es Krafttraining bis zum Mittag und nach einer erneuten Bibermahlzeit einen Gewaltmarsch über mehrere Kilometer. Mit zunehmender Ausdauer wechselte das verzweifelte Schnappen nach Luft mehr und mehr in sportlichen Alltag.
Was Sentry nach einer Woche wirklich zu schaffen machte, waren die permanenten Durchsagen des Führers. Sie beeinflussten seine psychische Stabilität und langsam wurde ihm klar, warum alle sich so hörig einem Einzelnen unterwarfen. Obwohl sie ihn nie persönlich zu Gesicht bekamen, imponierte Sentry das Gespür, dass er für die Stimmung im Lager besaß. War der Hunger besonders groß, wurden denjenigen extra Portionen versprochen, die sich durch besondere Leistungen hervortaten. Diese besonderen Leistungen bestanden meistens aus Denunziationen. Gab es ein unbedachtes Wort eines Soldaten, fand sich mit Sicherheit jemand, der sich damit einen Kanten Brot ergatterte. War die Stimmung schlechter als das herkömmliche Maß, gab es mitreißende Durchsagen, die Erfolge in der Vergangenheit heroisch übertrieben. Die Gehirnwäsche, mit der die Soldaten davon überzeugt wurden Schmerz und Leid im Sinne der Sache zu ertragen, wurde durch das verbale Geschick des Führers am Leben erhalten.
In den Tagen vor dem großen Ereignis änderte sich die Stimmung der Soldaten. Die depressive Grundhaltung änderte sich in erwartungsvolle Vorfreude. Der Führer bezog sich in seinen endlosen Ansagen immer mehr auf die geplante Treibjagd. Mitreißend und rhetorisch ausgefeilt, schaffte er es die Stimmung auf eine bis dahin ungewohnte Höhe zu bringen. Im Gegensatz dazu schlug die Hoffnung der Gefangenen in Resignation um. Jedem wurde klar, dass alles andere als ihr Tod die Meute nicht zufrieden stellen würde. Das war keine militärische Übung, geplant war ein Schauspiel, dessen Finale so blutig wie möglich sein sollte. Durch mitgeführte Kameras wurde sichergestellt, dass jede Kleinigkeit im Lager bejubelt werden durfte.
Das nahende Spektakel ließ auch Sentrys Anspannung weiter steigen. Seine Nächte waren unruhig und wenig entspannend. Ihm war bewusst, dass die kommenden Tage über Leben und Tod seines kurzen Daseins entscheiden würden. Wie auch immer das hier ausgehen möge, es wäre auf die eine oder andere Art eine Verbesserung. Nur die Femtos ließen eine dritte Möglichkeit zu. Es bestand die Gefahr als Untersuchungsgegenstand in einem Labor zu enden und so handelte er so vorsichtig wie möglich. Keine Verletzung, nicht einmal kleinste Kratzer konnte er sich leisten. Alles könnte auf die Femtos hindeuten. Größere Sorgen machten ihm die unbekannten Funktionen. Wie sollte er etwas verhindern, was er selbst nicht kannte? Wenn er aus Versehen etwas aktivierte, wie sollte er sich verhalten? Er legte sich mehrere Ausreden zu Recht, die er je nach Fall hätte bringen können, merkte aber sehr schnell, dass großes Improvisationstalent notwendig wäre, um glaubhaft irgendwelche Phänomene zu erklären.
Während die Moral der Soldaten mehr und mehr stieg, erreichte die Zuversicht unter den Gefangenen einen neuen Tiefpunkt. Kain versuchte mit seinen Märchen von der möglichen Freiheit dagegen zu halten, doch das Jagdfieber in den Gesichtern der Soldaten demoralisierte die Gruppe. Durch die Verunsicherung der Gefangenen drohte die Jagd zu einem gewöhnlichen Abschlachten zu verkommen. Die Erkenntnis setzte sich nach und nach im Lager durch, so dass sämtliche zermürbenden Aktionen irgendwann auf Geheiß des Führers eingestellt wurden. Die Gefangenen wurden isoliert und hatten nur noch mit ausgewählten Personen zu tun.
Die Führung dieser Auserwählten wurde jener Soldatin übertragen, die sich dezent im Hintergrund hielt, als General Kain den Gefangenen ihr eigentliches Schicksal im Stile einer „Gute Nacht“ Geschichte näherbrachte. Sie hatte langes blondes Haar und war entgegen ihrer Kameraden, deren Körper durch die erhöhte Schwerkraft übermäßig muskulös wirkten, eher zierlich gebaut. Sie mied den persönlichen Kontakt mit den Gefangenen und beschränkte sich auf das Anweisen der ihr unterstellten Soldaten. Aus sicherer Entfernung kontrollierte sie, ob alles zu ihrer Zufriedenheit umgesetzt wurde. Die Art und Weise, wie sie Sentry und die anderen beobachtete, glich einer taktischen Analyse von unterlegenen Gegnern, die trotzdem nicht zu unterschätzen waren. Diese Art der Kontrolle verlieh ihr etwas Mysteriöses. Die „unbekannte Schöne im Hintergrund“ taufte sie Terra. So dauerte es nicht lange, bis jeder seine eigene Geschichte über sie kreierte.
Eine präzise Einschätzung der mysteriösen Schönen konnte Sentry erst in dem Moment vornehmen, als sie für das eigentliche Ereignis eingewiesen wurden. Wie bei allen Soldaten war es schwierig den vorherrschenden Gemütszustand zu ergründen. Ihre ausdruckslose Mine diente nicht nur als Schutz vor den Kameraden, sie war auch ein Zeichen für die Gleichschaltung der Truppe. Das eigentlich hübsche Gesicht wurde verunstaltet durch das Fehlen einer Persönlichkeit. Eine Schaufensterpuppe war vermutlich interessanter als dieses Mädchen.
Die Gefangenen wurden wieder in das Hauptgebäude geführt. Die kalte sterile Atmosphäre aus Nützlichkeit war einem gemütlichen Ambiente aus Volksfeststimmung gewichen. Offenbar war das der Ort, an dem das Schauspiel übertragen werden würde. Anwesend waren diesmal neben General Kain, der mysteriösen Blonden und dem Gruppenführer noch vier weitere Soldaten mit geringerem Dienstgrad. Ihre Muskulatur war selbst für Lassik-Verhältnisse überdimensional ausgebildet und auf einmal kam sich Sentry verdammt schwach vor. Die Angst ergriff ihn und nach den Gesichtern seiner Kameraden zu urteilen, war er damit nicht alleine. Für das perfekte Schauspiel wurden die besten und vermutlich brutalsten Protagonisten erwählt.
„Rühren“, befahl Kain.
Die Soldaten entspannten sich und der General baute sich vor den Gefangenen auf.
„Nun ist es soweit“, eröffnete er in seinem unverwechselbaren Stil.
„Innerhalb der nächsten halben Stunde werdet ihr im Inneren der Insel eurem Schicksal überlassen. Anhand dieser Karte wird es euer einziges Ziel sein den markierten Punkt zu erreichen. An der Küste erwartet euch folgendes.“
Er zog eine Fernbedienung aus der Tasche, startete den Projektor und die bisher weiße Leinwand offenbarte ihnen einen Strand. Befestigt an einer Leine, flatterten drei rote Wimpel im Wind, die an Holzstangen festgebunden waren.
„Eure Fahrkarten in die Freiheit. Habt ihr einen der Wimpel in der Hand, seid ihr frei“, kommentierte er das Livebild.
Er legte eine kurze Pause ein, um die Reaktionen der Anwesenden zu mustern.
„Ihr fragt euch sicherlich warum nur drei? Die Frage ist berechtigt.“ Er führte den Monolog als würde er Kindern erklären, warum nicht jeder ein Stück Kuchen bekommen würde.
„Ich hatte den Eindruck, dass einige die Sache nicht mit dem gewissen Ernst betrieben haben. Diejenigen, die mitgezogen haben, werden sicherlich keine Probleme haben einen der Wimpel zu bekommen.“
Er blieb bei Dina stehen, um seinen Unmut über die mangelnde Kooperation zu untermauern. Tatsächlich hatte diese in ihrer rebellischen Art und Weise für das eine oder andere Missfallen gesorgt.
„Wie auch immer. Ich hatte ja bei unserem ersten Treffen angedeutet, dass der vierte Zug euch die ganze Sache etwas erschweren wird.“
Er grinste über sich selber, da er es geschafft hatte, das längst verhangene Todesurteil so zu verharmlosen.
„Gruppenführer. Sind ihre Leute bereit den vollen Einsatz in diesem Manöver zu geben?“, wandte er sich an seinen Untergebenen.
„Jawohl Herr General“, antwortete der Gruppenführer inbrünstig. Er baute sich vor seinen Leuten auf und brüllte sie an.
„Vierter Zug. Dran. Drauf. Drüber.“
„Dran. Drauf. Drüber“, brüllten die vier zurück.
„Was wollen wir?“
„Sieg.“
„Was haben wir nicht zu verschenken?“
„Gnade“
„Herr General ich melde, vierter Zug ist bereit für das Manöver.“
Das Gebrüll verfehlte seine Wirkung nicht. Das Maß an Angst erreichte neue Ausmaße und der letzte Rest an Zuversicht wurde mit den Worten davon getragen. Kain grinste genüsslich.
„Und nun zu den weiteren Spielregeln“, wurde er urplötzlich wieder ernst.
„Sechs Ziele, sechs Jäger. Das ist nur fair“, sagte Kain fast beiläufig.
„Herr General es ist nicht notwendig unseren Zug aufzustocken“, kam es protestierend vom Gruppenführer.
„Was notwendig ist entscheidet immer noch der ranghöhere Offizier und wenn ich mich so umschaue, gibt es hier mindestens zwei Anwesende, die Ihren Dienstrang überschreiten“, antwortete er in einem drohenden Tonfall, der keinerlei Widerspruch zuließ.
Die Zurechtweisung verfehlte ihre Wirkung nicht. Der Gruppenführer, aber auch die Soldatin ließen für einen Moment die jahrelang antrainierte Fassade fallen. Während auf der einen Seite devote Zurückhaltung erkennbar war, konnte die Blondine ihre Furcht über die zukünftige gemeinsame Jagd nicht verbergen. Es war offensichtlich, dass sie in dieser Gruppe nicht willkommen war. Der erste Schwachpunkt ihrer Jäger war erkennbar.
“Verstanden”, resignierte der Gruppenführer und obwohl er dieses eine Wort mit Inbrunst herausbrachte, konnte er seine Abneigung gegen diese Anweisung nicht vollends unterdrücken. Kain ließ sich einen letzten drohenden Blick nicht nehmen. Er hasste Widerspruch und in der Regel gab es den auch nicht. Das genau diese Regel ausgerechnet vor Fremden gebrochen wurde, konnte er nur schwer ertragen. Zu seinem Missfallen passte der Zeitpunkt für eine Bestrafung nicht und so nahm er sich vor, den Gruppenführer nach dem Manöver für dieses Benehmen mit kreativen Zusatzaufgaben wie Extra-Wachdienst zu würdigen.
„Jeder bekommt eine Waffe mit begrenzter Anzahl Munition“, sagte er scharf.
Die Anzeichen von Hoffnung in den Gesichtern der Gefangenen, zwangen den General noch einen Satz nachzuschieben.
„Damit war natürlich nur der vierte Zug gemeint. Gruppenführer zu mir.“
Gemeinsam gingen sie zu einem Tisch, auf dem mehrere Waffen militärisch präzise aufgebahrt waren.
„Ah, die Wahl der Waffen. Für mich persönlich der beste Teil der Vorbereitung,” kam es von Kain aufgeregt.
„Fangen wir mit dem Scharfschützengewehr an.“
Er nahm eine Waffe mit langem Lauf und Visier in die Hand.
„Etwas veraltet, aber tödlich präzise. Patronen mit chemischer Treibladung, wie es in den guten alten Zeiten üblich war“, schwärmte Kain mit glänzenden Augen.
„Kossak. Das wird Ihre Waffe“, brüllte der Gruppenführer.
„Verlieren Sie die Waffe nicht. Sie ist nicht genetisch verriegelt. Fällt sie dem Feind in die Hand, kann er sie für eigene Zwecke nutzen. In dem Fall ziehen Sie besser den Kopf ein,“ gab ihm Kain mit auf den Weg.
„Was haben wir denn noch?“ Er wirkte wie ein Kind im Süßwarenladen.
„Unsere Standardwaffe. Die GW3. Projektilwaffe. Patronen werden durch ein elektromagnetisches Feld beschleunigt. Sie sollten zwei mitnehmen. Packen Sie auch Ersatzakkus mit ein. Man weiß ja nie.“
„Frend, Dolph.“ Etwas enttäuscht mit dem Standard abgespeist zu werden, nahmen die beiden ihre Waffen entgegen.
„Ah die Königin unter den Waffen. Biologischer Kampfstoff im Projektil. Ein Streifschuss genügt und ein paar Minuten später stirbt man den schlimmsten aller Tode.“ Er schaffte es diesen Satz in einem so harmlosen Tonfall rüber zu bringen, dass die Gejagten die Bedeutung nicht verstanden. Das unscheinbare Gewehr in seiner Hand wirkte gegenüber dem GW3 eher zerbrechlich.
„Wenn ihr die Wahl habt, wie ihr sterben wollt, kommt lieber nicht vor den Lauf dieser Waffe. Gruppenführer das sollte ihre Waffe werden.“
„Jawohl Herr General.“
„Bleiben noch zwei übrig. Für die perfekte Vorstellung sollten sie noch etwas mit mehr bums mitnehmen.“
„Juth, die Dunken.“
„Explosivgeschosse, eine hervorragende Wahl. Ist nicht ganz einfach zu handhaben, ich hoffe Sie kennen sich damit aus Soldat.“
Der Gruppenführer wirkte besorgt. Als hätte man einem Kind gerade den größten Feuerwerkskörper und ein Feuerzeug in die Hand gedrückt. Offenbar bereute er es gerade Juth die Explosivwaffe anzuvertrauen. Es war für ihn trotzdem das geringere Übel, denn dem aufgezwungenen Mitglied seiner Truppe gab er nur eine Handfeuerwaffe.
„Ihre Entscheidung“, kommentierte der Hauptmann die Wahl enttäuscht.
Nach einem kurzen „Stillgestanden” von Kain versteiften sich die Soldaten mit ihren neu erworbenen Waffen. Es folgte ein unendlich langwieriger Monolog des Generals, der im Wesentlichen den Führer oder die Sache verherrlichte. Fast zwanzig Minuten quälte er Jäger und Gejagte mit Phrasen, die ohne weiteres aus einem Handbuch für schlecht gemachte Propaganda stammen konnte. Eine perfekte Selbsttäuschung, bei der sich nicht die Mühe gemacht wurde die offensichtlichen Widersprüche zu vertuschen. Trotz dieses eklatanten Mangels an Logik beflügelte es den Jagdtrupp. Die Indoktrinierung war zu weit fortgeschritten für die Nutzung des eigenen Verstandes und so wurde alles der Ideologie untergeordnet. Ein möglicher weiterer Schwachpunkt, denn damit war eine gewisse Berechenbarkeit vorhanden.
„… und so preisen wir den Führer, der uns das alles hier ermöglicht hat“, beendete der General seine Rede.
„Der Führer sei mit uns“, erwiderten die Soldaten.
„Es wäre angebracht, dass auch uns noch ein paar Worte zustehen“, meldete sich Pluto, als Kain die Soldaten abtreten lassen wollte.
„So, was willst du denn sagen?“, fragte Kain in herablassenden Tonfall.
„Es ist wohl für jeden erkennbar, dass die ganze Sache hier eine Farce ist. Jedenfalls erkennbar für jeden, der weiß was das Wort Farce bedeutet“, fing er seine Einschätzung der Lage mit einer subtilen Beleidigung gegenüber seinen Scharfrichtern an. Kain zuckte kurz, bekam sich aber im Bruchteil einer Sekunde wieder unter Kontrolle.
„Ihre Truppe ist miserabel ausgebildet und ich denke mal bei einem fairen Gefecht wären sie nichts weiter als Kanonenfutter“, fuhr Pluto mit einer souveränen Selbstsicherheit fort, die Kain überraschte.
„Dieser Schwachsinn dient lediglich dazu die Moral Ihrer Truppe zu stärken, ihnen das Gefühl zu geben sie wären gute Soldaten. Ich glaube ich verrate kein Geheimnis, wenn ich behaupte, dass sie das nicht sind.”
Er wandte sich seinen Widersachern persönlich zu.
„Ihr könnt euch eure Wimpel dahin schieben, wo die Sonne nicht scheint. Wir werden nicht weglaufen. Ihr bekommt euren Kampf und damit auch Schmerz und Tod. Ihr glaubt ihr seid im Vorteil, weil ihr diese schicken Waffen habt. Ein Irrtum. Heute bekommt ihr Lektionen, wie man auch unbewaffnet vermeintlich überlegene Gegner in den Tod schickt. Zu eurem Unglück könnt ihr dieses Wissen nicht mehr nutzen, denn diese Erkenntnis werdet ihr mit ins Grab nehmen.“ Die Ruhe und das Selbstvertrauen mit denen er das Gesagte untermauerte, verfehlte seine Wirkung nicht. Die Euphorie war bei den Jägern für den Moment dahin.
„Wunderbar. Da hat jemand die richtige Einstellung“, kaschierte der General seine Verärgerung mit gespieltem Enthusiasmus. Bei den Soldaten konnte man die aufsteigende Angst deutlich erkennen. Im Gegensatz dazu schien der Mut bei den Gefangenen zurückzukommen, obwohl höchstens Dina den Kampfeswillen von Pluto teilte.
„Dann ist ja alles gesagt“, beendete Kain das Vorgeplänkel.
„Lasset Taten folgen. Bringt sie zum Transporter und dann möge das Ganze beginnen.“
Der Transfer in das Innere der Insel erfolgte durch die Luft. Ein kleiner Flugtransporter in dem sie gedrängt für kurze fünf Minuten aushalten mussten. Welche Entfernung in der Zeit zurückgelegt wurde, war schwer zu beurteilen, denn die geschwärzten Fenster erlaubten keinen Blick nach draußen. Nach der wackligen Landung verabschiedete sie der Pilot in sadistischer Vorfreude.
„Ihr habt drei Stunden zur Orientierung, danach wird’s lustig“, grinste er und flog davon. Ein trügerisches Gefühl von Freiheit ergriff Sentry. Zum ersten Mal in seinem kurzem Leben war er in der Lage eigene Entscheidungen zu treffen, auch wenn er damit höchstens die Art und Weise seines Ablebens beeinflussen würde. Egal. Er wollte mehr und so nutzte er den von Pluto entfachten Mut und war bereit sich seinem Schicksal zu stellen.
IV
„Macht hat wer reden kann.“
Robert A.T. Casccoyne-Cecil
„Evie, wir müssen jetzt alle sehr stark sein.“ Diese wenigen Worte ihres Vaters markierten das viel zu frühe Ende von Evas Kindheit. Der Tag an dem sie sie hörte, sollte einer dieser Wendepunkte in ihrem Leben werden, der mit Schmerz und Leid ihren zukünftigen Weg prägen würde. Es folgten weitere Erklärungen, die alle versuchten den Tod ihrer Mutter umständlich zu offenbaren, aber ihr sonst so eloquenter Vater besaß keine Mittel, um das Unbeschreibliche sinnvoll zu formulieren. Es war ohnehin vergebene Mühe, denn Evas Gehirn weigerte sich von diesem Punkt an den Verlust zu akzeptieren und reagierte mit einer Art trotziger Notabschaltung. Die kläglichen Erklärungsversuche hatten dadurch keine Möglichkeit sich in Evas Gedächtnis festzusetzen.
Das Wetter war regnerisch an jenem schicksalhaften Tag, selbst für Lassik-Verhältnisse. Gelangweilt vom Mathematikunterricht sehnte sie das Ende eines Nachmittags heran, wie sie ihn tausend Mal vorher erlebt hatte. Der Regen peitschte gegen die Fenster des Klassenraums, als Beweis für die Regelmäßigkeit des schlechten Wetters in ihrer Heimat. Wie auf Kommando flaute der Sturm mit dem Ende der letzten Stunde ab. Auf dem Heimweg ignorierte sie die unzählige Auswahl an verlockenden Pfützen. Sie war kein kleines Mädchen mehr, das durch dreckiges Wasser sprang. Auch wenn sie die Versuchung regelmäßig überkam, wollte sie an jenem Tag mit sauberen Sachen vor ihrer Mutter stehen, um ihre Reife zu zeigen.
Wie immer öffnete sie die Eingangstür, betrat den kleinen Flur und hängte ihre Tasche an den vorgesehenen Haken. In der Regel bereitete ihre Mutter einen kleinen Imbiss zu und voller Vorfreude begab sie sich in die Küche. Zu ihrer Überraschung traf sie dort auf ihren Vater. Ein normalerweise lebenslustiger Mann kauerte eingefallen in der Ecke und erste Zweifel machten sich in Eva breit, dass dieser Tag wie jeder andere enden würde. Mühsam machte er ihr eine heiße Schokolade, etwas was eigentlich nur an hohen Feiertagen vorkam. Mit jedem seiner Handgriffe verstärkte sich ihr ungutes Gefühl und was immer er ihr auch sagte, ihr Gedächtnis weigerte sich nach dem begreifen der eigentlichen Botschaft seine Worte zu archivieren. Eine Abwehrreaktion, um das Gehörte nicht glauben zu müssen. Tage lang kämpfte sie gegen die traurige Gewissheit an, immer in der festen Überzeugung ihre Mutter käme zurück. Die Kapitulation kam ausgerechnet an ihrem Geburtstag. Jener Tag, an dem die Welt regelmäßig für sie stillstand und ihre Mutter hundert Prozent ihr gehörte. Erst da kamen die Tränen und Eva hätte ihre Seele hergegeben, um nie wieder etwas fühlen zu müssen. Nachdem der Damm gebrochen war, überwältigte sie die Trauer und erstickte alle anderen Empfindungen in ihr. Der Tsunami spülte alles Lebendige aus ihrem Geist und hinterließ einen Moloch aus grauer Tristes.
Es starb eine Politikergattin, deren Lebensinhalt darin bestand, die sich abzeichnende Kluft zwischen der stetig anwachsenden Armut der Bevölkerung und der Reichtum scheffelnden Elite entgegen zu wirken. Als Frau eines aufstrebenden Lokalpolitikers war sie beliebt beim Volke von Lassik. Ihr tragischer Tod wurde unabhängig vom gesellschaftlichen Stand mit tiefer Trauer empfunden. Die Leute verehrten sie und sahen sie als den glamourösen Gegenpol zur Realität verlierenden Politikerkaste an. Ihre Art und Weise, wie sie mit den Leuten sprach, sich ihre Probleme anhörte und es wagte Spitzenpolitiker für Entscheidungen öffentlich zu kritisieren, brachte ihr viel Vertrauen in der Bevölkerung ein. Ihr Mann profitierte davon. Er war im Begriff eine steile politische Laufbahn hinzulegen. Sein Talent aus Kontakten und Beziehungen den optimalen Nutzen zu ziehen und ihre charismatische Art, sollten den Weg bis in die höchsten politischen Kreise ebenen. Er stand kurz davor aus der lokalen Provinzpolitik in die Ratskammer einzuziehen. Das Parlament von Lassik sollte ihre gemeinsame Bühne werden. Zusammen wollten sie die Welt verbessern.
Die Tragödie hinterließ einen gebrochenen Vater mit zwei Töchtern. Eva die Älteste, die Starke. Zwölf Jahre alt und voller Selbstbewusstsein. Sie hatte das Empfinden für Gerechtigkeit von ihrer Mutter und in jugendlicher Naivität brachte ihr das regelmäßig Ärger ein. So mancher Mitschüler bekam ihre eigene Version von Selbstjustiz zu spüren. Ohne Reue und im Glauben das Richtige getan zu haben, brach sie die Nase eines Schulkameraden, der sich regelmäßig an Schwächeren verging. Ihre eigene Interpretation von Auge um Auge und Zahn um Zahn.
Ihre Mutter diente in solchen Situationen als Vorbild. Die Stärke und die Entschlossenheit für ihre Überzeugungen einzustehen, inspirierte Eva. Ihr jugendlicher Elan ließ sie zu extremeren Mitteln greifen. Paradoxerweise führten genau diese Tätlichkeiten zu Spannungen innerhalb der Familie und verwirrten den von Eifer besessenen Geist des jungen Mädchens. Die einsetzende Pubertät drohte das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter endgültig eskalieren zu lassen. Der Tag an dem Tela in den Flammen einer Arztpraxis starb, beendete den aufkommenden Konflikt auf brutalste Art und Weise.
Für Eva starb nicht nur die Mutter. Es verschwand ihre Leitfigur. Die wichtigste Person in ihrem kurzen Leben hatte sie auf einen Schlag verlassen. Niemand war mehr da, um ihr wildes, ungezähmtes Benehmen in geordnete Bahnen zu lenken. Ihr Vater, mit der Trauer und den beiden Töchtern vollkommen überfordert, versuchte mit dem Aufstellen klarer Regeln seine kleine Evie wieder zu bekommen.
Er fing an ihre Welt in schwarz und weiß einzuteilen. Seine eigene kleine Therapie, um die Nachwirkungen seines Verlustes zu verarbeiten und die Kontrolle über sein Leben zurück zu bekommen. Es gab das Gute und das Schlechte, ob nun bei bestimmten Orten oder bei ihren Freunden. Völlig willkürlich wurden Personen oder Dinge in akzeptabel oder verboten eingeordnet. Das diese Zuordnung nicht mit der Einschätzung einer mittlerweile pubertierenden 13-jährigen übereinstimmte, machte es für Eva einfach um ordentlich gegen alles zu rebellieren. Nach unzähligen Streits resignierte er und stellte eine professionelle Kinderhilfe ein. Sein Selbstbetrug brachte ihm die Ordnung, die er brauchte. In dem Glauben das Beste für seine Tochter getan zu haben, konnte er sich wieder seiner politischen Karriere widmen. Jemand anderes hatte nun das Problem, dabei war er die einzig mögliche Lösung für seine kleine Evie. Jahre später sollte ihm bewusst werden, dass er seine Tochter in diesem Moment aufgegeben hatte.
Trotz der einwandfreien Referenzen schaffte es das Kindermädchen nicht über den Status einer Aufseherin hinaus zu kommen. Eva fühlte sich als Außenseiterin. Der Verlust ihrer Mutter und der Verrat ihres Vater verursachten Trauer, Zorn und Demütigung. In regelmäßigem Wechsel fuhr sie tagtäglich das Gefühlskarussell hoch und runter. Ihre unmittelbare Umgebung beschleunigte dabei das Tempo, indem ihr von einfältigen Leuten versucht wurde die Welt zu erklären. Therapeuten, Lehrer sogar Geistliche bombardierten sie mit hohlen Phrasen über Tod und Schicksal einer Halbwaise. Was wussten solche Leute von den Empfindungen eines 13-jährigen Mädchens ohne Mutter?
Ihre Einsamkeit drohte in Weltschmerz umzuschlagen. Die nächste Stufe wäre Verbitterung und am Ende stand der Hass gegenüber allem und jedem. Dabei lag die Lösung so nah, aber sie wollte sie nicht sehen. Wut war gut. Es war ihr Antrieb jeden Morgen aufzustehen. Das einzige, was sie derzeit am Leben hielt. Sie hatte es sich bequem gemacht in der Opferrolle und spie ihr Gift auch in Richtung Unschuldiger. Die mangelnde Unterstützung ihres Vaters gab sie weiter an ihre jüngere Schwester, die damit den doppelten Entzug familiärer Bindungen durchleben musste. Die Option, durch gegenseitigen Halt die Katastrophe zu verarbeiten, gab es für Eva nicht. Zu süß war das Gift.
Die Wut ihres Außenseiterdaseins bündelte sie zuerst gegen ihren Vater. Es war einfach den Schmerz weiterzuleiten und da sie jede Menge davon hatte, begann sie auch andere Bereiche mit einzubeziehen. Die bisher guten Noten in der Schule verwandelten sich durch häufiges zu spät kommen oder Fehlen in eine Katastrophe. Sie war nicht dumm, ganz im Gegenteil. Sie wollte einfach nicht das sein, was ihr Vater von ihr erwartete.
Dieser Antrieb und das Gefühl mit Leuten zusammen sein zu müssen, die ebenfalls Trauer und Schmerz erlitten, trieb sie in Kreise, in der Drogen und Kriminalität mehr die Regel als die Ausnahme waren. Ihre neuen Freunde waren genau das Gegenteil von dem, was sich ihr Vater für sie vorgestellt hatte. An ihrem fünfzehnten Geburtstag nahm sie das erste Mal Meth. All die Wut und die Probleme, die ihre ständigen Begleiter waren und sie von innen her aufzufressen drohten, gab es nicht während des Rauschs. Sie war ausgeglichen, mit der Welt im Reinen. Keine Außenseiterin mehr. Die Überlegenheit, mit der sie auf die anderen herab blicken konnte, verursachte eine nie da gewesene Euphorie.
Wie alle Mädchen in ihrem Alter erwachte auch die Neugierde am anderen Geschlecht. Eine Sehnsucht nach jemandem, der sie verstand und dem sie uneingeschränkt vertrauen konnte. Eine Person, die die Lücke schließen konnte, die ihre Eltern hinterlassen hatte und die sie endlich wieder was anderes fühlen lassen würde als Wut und Einsamkeit. Das Gemeinschaftsgefühl von Elend, dass sie in die Unterschicht trieb, reichte eines Tages nicht mehr. Sie war auf der Suche nach dem ganz großen Gefühl.
Ihre jetzigen Freunde waren in der Entwicklung stehen geblieben. Der Sinn ihres Daseins beschränkte sich auf das Ausleben von Gewalt an allem, was ihrer Meinung nach Schuld an ihrem Elend war. Das Interesse bestand nicht darin etwas zu verändern, sondern etwas zu zerstören. Vielleicht lag es daran, dass Eva in besseren Verhältnissen aufwuchs, vielleicht war es auch das Gerechtigkeitsempfinden ihrer Mutter, dass sie immer noch verehrte, jedenfalls konnte sie diese Einstellung nicht länger teilen. So entfremdete sie sich immer mehr von ihren vermeintlichen Freunden. Das Gefühl wieder am Spielfeldrand zu stehen, wuchs von Tag zu Tag und damit auch die Erkenntnis, dass sie sich in dem Labyrinth ihres Lebens das erste Mal ordentlich verlaufen hatte.
Sie setzte die Drogen ab, gerade noch rechtzeitig, bevor die Sucht endgültig Besitz von ihr ergriff. Die Überlegenheit, in die sie der Rausch des Meths versetzte, war falsch. Es war ein künstliches Gefühl, ein Betrug auf den sie lange genug reingefallen war. Die Scham etwas Dummes gemacht zu haben, brachte sie zurück zu ihrem Vater. Es würde keine Vergebung geben, denn das Gefühl des Verrats schien für alle Ewigkeit mit ihm verbunden. Sie wollte einfach einen Waffenstillstand aushandeln. Im besten Falle war es ein erster Schritt hin zum endgültigen Frieden, aber dafür bedurfte es ein gegenseitiges Verzeihen und zu dem war Eva nicht bereit.
So stand sie planlos vor ihm. Keine passenden Worte zur Hand. Die Hoffnung, dass allein ihre demütige Anwesenheit den Vater zu Kompromissen erweichen würde, zerschlug sich relativ schnell. Ihre Streitereien hatten auf beiden Seiten viel Vertrauen zerstört und so war er nicht bereit ihr einen Schritt entgegen zu kommen. Der Tod von Tela hatte unendlich viel Trauer, Schmerz und Wut bei beiden hervorgebracht und sie hatten es nicht verstanden, vereint damit fertig zu werden. Ganz im Gegenteil. Es gab keine gemeinsame Verarbeitung der Tragödie. Egoistisch nutzten sie den jeweiligen Anderen, um ungewünschte Emotionen abzuladen. Mit diesem Verhalten beschädigten sie das Andenken an ihre Frau und Mutter.
Die Unfähigkeit Evas, ihre Reue in passende Worte zu packen und die Tatsache, dass genau an diesem Tag der Verweis von der Schule eintraf, verschlechterten die Voraussetzungen für eine Versöhnung. Plato war drauf und dran politisch wieder auf die Füße zu kommen. Er hatte mittlerweile eine neue Frau, was im eher konservativen Lassik als Mindestvoraussetzung für eine ordentliche Karriere galt. Eine problematische Tochter ließ ihn in den politischen Kreisen, in die er vordringen wollte, als schwach erscheinen. Ungewollt nötigte Eva ihn mit diesem Schulverweis eine endgültige Entscheidung zu treffen. Es war seine letzte Chance sich für die Familie zu entscheiden und damit seine politische Laufbahn endgültig zu begraben. Von Wut getrieben, fällte er eine dieser Entscheidungen, die jeder an seinem Totenbett zu tiefst bereut. Eva sollte auf eine der konservativsten Schulen, die Lassik zu bieten hatte. Wieder reagierte er auf das Problem mit dem Abschieben auf dritte. Für sie war das wie eine erneute Ohrfeige. In ihrem verletzlichsten Moment, in dem sie bereit war sich anzupassen, genau dann, als sie auf seine Führung angewiesen war, stieß er sie erneut zurück.
Das Gefühl der Zurückweisung war in einer Intensität vorhanden, die sie vorher nicht gekannt hatte. Für einen Moment war die Versuchung zur Rückkehr zum Meth übermenschlich. Die Freude, die sich einstellt, wenn die Droge im Begriff war ihre volle Wirkung freizusetzen. Das anschließende Gefühl von Euphorie. Keine Probleme, keine Sorgen, nur absolute Entspannung. Aber auch das wäre nur Betrug. Davon hatte sie wahrlich genug in letzter Zeit. Echte Gefühle sollten die Lehre in ihr ausfüllen. Liebe und Zuneigung waren nicht zu bekommen. Sie war allein. Also musste wieder ihre Wut als Mittel der Kompensation herhalten. Der Zorn auf die Zurückweisung ihres Vaters verleitete sie zu einer Tat, die ihn schwer treffen sollte. Sie wollte ihm wehtun, genauso wie er ihr weh getan hatte.
Ihr Interesse an körperlichen Kontakten mit Jungs hielt sich zwei Wochen vor ihrem sechzehnten Geburtstag in Grenzen. Die Gelegenheiten waren zahlreich, denn ihre makellose Figur und ihr naturblondes Haar ließen die Hormone der männlichen Altersgenossen Achterbahn fahren. Sie opferte ihre Jungfräulichkeit nicht aus Lust, sondern in der Gewissheit, dass sie damit bei ihrem Vater ein Maximum an Verärgerung hervorrufen würde. Er hatte ihren Waffenstillstand abgelehnt und damit ihr den totalen Krieg erklärt. So war ihre Wahl des Partners auch nicht getrieben von gutem Aussehen. Sie wollte das letzte bisschen Schmerz bei ihrem Vater herauskitzeln, wenn er ihre Tat erfuhr. Ein bekannter Drogenhändler, bei dem sie früher öfter ihr Taschengeld investierte, schien die geeignete Wahl. Er war nicht nur das absolute Gegenteil des perfekten Schwiegersohns, er gab auch gerne an mit seinen Taten. Gerade Frauengeschichten zierten seine Vita. So genoss sie die Schmerzen, als er hart in sie eindrang. Die raue Art und Weise wie er den Akt vollzog, tötete all die anderen negativen Gefühle, die sie gerade beherrschten. Sie bekämpfte Feuer mit Feuer. Ihr ging es nicht wirklich gut dabei, als sie der stinkende, eklige Kerl bearbeitete. Aber für zehn Minuten andere Emotionen zu erfahren, als Einsamkeit und Zurückweisung waren es wert. Sie dachte an ihren Vater als er kam, was er wohl empfinden würde, sie in diesem Moment so zu sehen.
Das Gefühl des Triumphes ihn verletzt zu haben, währte nicht lange. Zur Einsamkeit gesellte sich Scham. Das selbe Gefühl der Reue wie nach ihrem Drogenausflug stellte sich ein. Eine Getriebene, die fremdbestimmt das Leben nach ihrem Vater ausrichtete und trotz selbstzerstörerischem Aufwand keinen Schritt voran kam. Wie ein Bergsteiger, der versuchte den höchsten Berg zu erklimmen und immer wieder durch die Schwerkraft ins Tal zurückfällt, empfand sie ihre Einsamkeit als physikalische Konstante. Auch dieser Hilfeschrei würde ignoriert werden. Es war ihr Schicksal allein zu sein und unweigerlich kamen die Selbstmordgedanken. Aber das war nicht ihr Wesen. Sie wollte stark sein, wie ihre Mutter.
Ihre Schwester verkörperte das komplette Gegenteil und so war es nicht verwunderlich, dass sie ihren Verlustschmerz auf eine andere Art und Weise zu verarbeiten versuchte. Freya war vierzehn und ebenso wie Eva voller Einsamkeit. Doch sie wählte den Ausweg ohne Wiederkehr und nur die Fügung glücklicher Umstände verhinderte die Katastrophe. Eine Woche nach Evas sechzehnten Geburtstag wollte Freya ihrem Leben ein Ende setzen.
Die Saat für ihren Entschluss wurde bei der eigentlichen Feier gesetzt. Diese stand von Anfang an unter keinem guten Stern und endete erwartungsgemäß in einem offenen Konflikt zwischen Eva und Plato. Der Streit hatte ihre Entjungferung zum Thema, die ausgerechnet an diesem Tag die Runde machte und schließlich wie gewollt auch ihren Vater erreichte. Es folgte mehr als die herkömmliche Tochter-Vater Rebellion, wie sie fast täglich stattfand. Beide übertrafen sich im gegenseitigen verbalen verletzen.
Die Leittragende war Freya. Es war der letzte Baustein im fragilen Gebilde ihrer Psyche der entfernt wurde und damit den Zusammenbruch hervorrief. Der Sprung von einer Brücke konnte zwar nicht verhindert werden, aber durch rechtzeitige Maßnahmen wurden die Auswirkungen des Aufpralls auf den Bruch des rechten Schienbeins begrenzt.
Während Eva so versessen darauf war ihrem Vater zu schaden, hatten ihre Angriffe eine Streuung erhalten, die mehr und mehr ihre Schwester trafen. Die Geschwister waren so verschieden, dass sie kaum gemeinsame Berührungspunkte hatten. Nach ihrem Selbstmordversuch wurde Eva bewusst, dass sie ihrer Schwester das vorenthielt, was sie von ihrem Vater verlangte. Freya hatte nicht die Kraft, Eva oder Plato damit zu konfrontieren. Sie fraß die Probleme in sich hinein. Der Sprung war ihre Art der Konfliktbewältigung gegenüber ihrem Vater. Wie schon bei Eva, zeigte dieser wenig Verständnis und Können gegenüber seiner jüngeren Tochter. Ein Unfall, mehr war es für die Öffentlichkeit nicht. Ein weiteres problematisches Familienmitglied hätte definitiv das Ende sämtlicher politischer Ambitionen bedeutet. Diesmal mussten Psychologen als Abstellgleis für seinen unwilligen Nachwuchs herhalten.
Für Eva war Freya vor dem Sprung kaum existent. Sie übersah vollkommen die Notwendigkeit einer Hilfe, zu groß waren ihre eigenen Sorgen. Die Reue war groß und zu allem Unglück konnte sie das Versäumte nicht nachholen. Noch während des Krankenhausaufenthaltes verschwand sie hinter den Mauern ihrer neuen Schule und damit aus dem Leben ihrer verbliebenen Familie.
Von diesem Zeitpunkt an war sie nicht nur mental auf sich allein gestellt. Die Betreuung in ihrem neuen Zuhause beschränkte sich auf das Einhalten von Regeln, die sie größtenteils als getarnte Verbote für alles was einer sechzehnjährigen Spaß bringen konnte, wahrnahm. Die nasskalte Umgebung von Lassik sorgte für zusätzlichen Verdruss. Sie wusste es nicht hundertprozentig, aber mit hoher Wahrscheinlichkeit war der Planet ein künstliches Werk der Vorfahren. Die Geologie war geradlinig und flach. Alles wirkte praktisch und wenig verschwenderisch. Flora und Fauna waren an Langeweile und Eintönigkeit kaum zu übertreffen. Hier hatten die Ingenieure als Schöpfer einer neuen Welt Rationalität und Vernunft den Vorzug gegeben und jegliches Gespür für Ästhetik ausgeblendet. Ein einzelner kreisrunder Kontinent diente als kreativer Höhepunkt. Umgeben wurde er von kleinen Inseln, die wie Kirschen um eine Torte angerichtet wurden. Das Klima variierte nur zwischen kalt und eisig, was den häufigen Regen ab und an in Schnee verwandelte. Selten war es wärmer als 15°C. Nasses Wetter war die Konstante auf Lassik und sonnige Tage wurden als willkommene Abwechslung ausgiebig zelebriert.
Zu den Zeiten der Vorfahren diente Lassik als Kornkammer der Galaxie. Der Geschichtsunterricht vermittelte ein ehemaliges Paradies, was sich durch widrige Umstände in den nasskalten Moloch ihrer Heimat verwandelt hatte. Damals gab es eine Nahrungsmittelindustrie, die durch genetisch angepasste Getreidesorten, speziell erzeugten Dünger und der Kontrolle des Wetters das ganze Jahr über Erträge einfuhr. Die Techniker, die Wissenschaftler, aber auch die Bauern, alle waren sie in riesigen Städten auf den Inseln untergebracht. In dieser besten aller Zeiten mussten unzählige Menschen auf Lassik gelebt haben, die alle ihren Unterhalt damit verdienten ein Maximum an Getreide zu erzeugen.
Die große Katastrophe setzte diesem goldenen Zeitalter ein Ende. Wie überall in der Galaxie begann das große Sterben. Innerhalb weniger Wochen reduzierte sich die Bevölkerung auf einen Bruchteil der ehemaligen Bewohner, die vorher so emsig die Menschheit gefüttert hatte. Hartnäckig hält sich die Legende, dass das von Menschenhand veränderte Getreide, welches durch die Wissenschaftler permanent angepasst und verbessert wurde, zur Vergiftung der Einheimischen führte und seinen Weg raus in die Galaxie fand. Eine weitere löchrige Theorie, die versuchte die Katastrophe, die vor Jahrhunderten stattfand, zu erklären.
Nachdem die Verteilungskämpfe ausbrachen, war Lassik eine taktisch wichtige Welt geworden. Die kommenden Jahre geriet sie unter wechselnde Kontrolle, konnte aber nie lange von den einzelnen Konfliktparteien gehalten werden. Einer dieser kurzfristigen Besatzer setzte dem Ringen um die Kontrolle über das Getreide ein Ende. In einem barbarischen Akt beschloss er Lassik seines taktischen Vorteils zu berauben. Die einst so fruchtbaren Böden wurden mit Hilfe einer Chemikalie in karge Wüsten verwandelt. Bis heute besteht der riesige Kontinent aus einer nutzlosen Steppe, auf der höchstens robustes Unkraut wächst. Damit setzte die zweite Entvölkerungswelle auf Lassik ein. Wer konnte verließ den Planeten. Wer nicht das zweifelhafte Glück hatte, sah sich permanenten Hunger ausgesetzt. Unzählige Menschen starben an Nahrungsmittelmangel. Was einst im Überfluss vorhanden war und die ganze Menschheit ernährte, war zum Luxusgut für eine kleine Anzahl Überlebender geworden.
Erst im Zeitalter des Liberators besserte sich die Lage auf Lassik. Bis zu seiner Ankunft war die geschrumpfte Bevölkerung kaum in der Lage zu überleben. Das raue Klima forderte nicht nur aufgrund der Temperaturen zahlreiche Opfer. Hungersnöte reduzierten die Anzahl der Einheimischen auf ein Minimum und die einst so prächtigen Bauten auf den Inseln verfielen in trostlose Ruinen. Unter der Kontrolle des Liberators konnte unter Aufwendung von enormen finanziellen Mitteln wenigstens eine Eigenversorgung wiederhergestellt werden. Es gelang zwar nicht die Wetterkontrollen zu reaktivieren, aber der Einsatz von riesigen Gewächshäusern auf den vom Gifteinsatz verschonten Inseln erlaubte eine regelmäßige Ernte, die je nach Ertrag gute und schlechte Jahre hervorbrachte. Defizite oder Überschüsse wurden im interstellaren Handel ausgeglichen und so gelangten lang vermisste Güter wieder auf den Planeten.
In einer Galaxie in der sich die meisten Menschen von industriell erzeugten Kalorien ernährten, avancierte Getreide zu einem Luxusgut, welches außerhalb von Lassik einen gewissen Wert besaß. Auch wenn sie meilenweit von den goldenen Zeiten der Vorfahren entfernt waren, erblühte Lassik aufs Neue. Mit dem Verschwinden des Liberators begann der Überlebenskampf aufs Neue, aber seine Hinterlassenschaften verhinderten die nächste Katastrophe.
Die Wiedergeburt einer halbwegs stabilen Gesellschaft erschuf neue Probleme. Bestand in den dunklen Jahren eine gewisse Solidarität, die getrieben durch Hunger und Elend die Bevölkerung vor dem Aussterben bewahrte, änderte sich die Struktur zunehmend in eine Klassengesellschaft. Elitäre Kräfte entstanden, die das Machtvakuum nach dem Verschwinden des Liberators nutzten, um ihre eigenen Strukturen aufzubauen. Die Kontrolle des interstellaren Handels war ihr Stützpfeiler zur Ausweitung ihrer Bestrebungen. Mit Hilfe von Korruption und dem Aufbau eigener Seilschaften formten sie den Planeten nach ihren Vorstellungen. Das führte zu Zuständen, die man glaubte längst überwunden zu haben.
Der Hunger war zurück und das einhergehend mit einem Überschuss an Getreide. Während der größte Teil der Bevölkerung nicht wusste, ob sie die nächste Woche überleben würde, gab die privilegierte Minderheit sich Exzessen hin. Die Gewinne des Getreidehandels füllten die Taschen weniger Mogule, was naturgemäß zu Spannungen auf Lassik führte. In ihrem Streben nach maximalen Profit hatten die Mächtigen es übertrieben und die hungrige Masse drohte außer Kontrolle zu geraten. In diese Zeit des brodelnden Vulkans wurde Eva geboren.
Ihrer Familie ging es verhältnismäßig gut. Das politische Amt gewährleistete volle Teller und so blieben die größten Probleme außerhalb ihrer Wahrnehmung. Trotz dieser behüteten Kindheit spürte sie den Wandel von einer halbwegs freien Gesellschaft zu einem Polizeistaat. In jedem Jahr gab es neue Verbote oder Restriktionen, die bis in die Realität einer Grundschülerin durchsickerte. Ein totalitäres System sollte die Revolution des hungernden Prekariat verhindern und alles schien darauf hinzudeuten, dass die Pläne der Elite aufgehen würden.
Es entstand eine Kluft zwischen einer gebildeten Elite mit Zugang zu technischen, militärischen und finanziellen Ressourcen und einer verängstigten Unterschicht an Überlebenskünstlern, deren einziger Daseinszweck darin bestand durch Unauffälligkeit nicht im Gefängnis zu landen. Entlud sich diese Diskrepanz trotz aller Einschüchterung in Gewalt, griffen die Behörden mit voller Härte durch. Im Anschluss an solchen Niederwerfungen von Aufständen folgten brutale Repressalien. Den großen Säuberungen fielen Tausende zum Opfer. Willkürliche Verhaftungen und Standprozesse bändigten die Masse wieder und sicherten das Machtgefüge der wenigen Herrschenden. Das alles wurde gebündelt in der Cereal Inc., die offiziell als Handelsgesellschaft für den interstellaren Handel verantwortlich war. Dort saßen die Strippenzieher von Politikern, Justiz und Militär. Die Hauptstadt stand vollständig unter ihrer Kontrolle und nichts passierte ohne das Wissen der Inc. Einzig ein paar rebellische Inseln entzogen sich den Machenschaften.
Plato war mittlerweile Teil des Systems geworden. Eine erfolgreiche Karriere in der Politik ging einher mit der vollständigen Anpassung an die gesellschaftlichen Gegebenheiten und diese wurden weites gehend von der Inc. vorgegeben. Die Ideale seiner verstorbenen Frau von einem gerechteren Lassik waren längst von der grauen Realität überrollt worden. In dieser Gesellschaft war kein Platz mehr für Träumereien. Moral füllte keine Mägen und so musste er wie die meisten auf diesem kalten Planeten seinen persönlichen Überlebenskampf führen.
Durch diese Anbiederung an die Mächtigen wurde die Inc. ähnlich unausstehlich wie ihr Vater. Für eine rebellische Heranwachsende ein idealer Grund Schule, Gesellschaft und System abgrundtief zu verachten. Ein optimaler Boden für allumfassenden Weltschmerz, aber trotz all dieser Vorlagen fraß sie ihren Frust in sich hinein. Es war gefährlich das vorherrschende Narrativ zu hinterfragen. Eine gewisse Angst konnte sie nicht leugnen, denn die Inc. hatte längst in allen Bereichen ihren Einfluss ausgedehnt. Der Lehrplan triefte nur so vor heiligsprechender Historie der allumfassenden Krake. Die glorreichen Geschichten über die Bekämpfung des Hungers durch die Inc. und die grausamen Schicksale jener, die sich egoistisch gegen das Volk von Lassik wandten und damit tausende Hungertode zu verantworten hatten, wurden bei gesponserten Nachmittagen so lange wiederholt bis auch der letzte Schüler von den guten Absichten überzeugt war.
Die Öffentlichkeitsarbeit der Inc. drang bis in die letzten Winkel der Hauptstadt ein und diente nicht ausschließlich zu Verbesserung des Ansehens. Viel wichtiger war die Erzeugung einer subtilen Angst in der Bevölkerung, um mögliche Gedanken an Aufruhr bereits im Keim zu ersticken. In den letzten Jahren wurde neben der Glorifizierung auf der einen Seite auch ein Alltag aus Denunziationen und Gewalt erschaffen, der schleichend in die Gesellschaft Einzug hielt. Offiziell distanzierte sich die Regierung von den Schlägertrupps, die nach Hinweisen von eifrigen Bewohnern Unzucht, Besitz von illegalen Gegenständen oder Planungen von terroristischen Vereinigungen nachgingen. Trotz der hohen Fehlerquote solcher Aktionen, die nicht selten in Lynchjustiz endeten, gab es höchstens einen formalen Protest. Die Inc. hatte die Lizenz, um Leute für alle Zeit verschwinden zu lassen und das unter dem Deckmantel des Erhalts der gesellschaftlichen Stabilität. Die Trupps etablierten sich im städtischen Erscheinungsbild und wurden irgendwann als normaler Bestandteil des urbanen Lebens eingegliedert.
Ein weiterer Baustein zur Festigung der Machtstrukturen war die freiwillige Mitgliedschaft eines jeden aufrichtigen Bürgers in Inc. nahestehenden Organisationen. Ein soziales Bewertungssystem regulierte die Nahrungsverteilung, die sich hauptsächlich nach Aktivitäten in den verschiedenen Gruppierungen richtete. Niemand wurde gezwungen sich einzubringen, aber der Hunger nötigte zur indirekten Unterstützung der Mächtigen. Evas Mitgliedschaft im Bund der Jugend sicherte ihrer Familie neben gesellschaftlichem Ansehen, auch zusätzliche Nahrungsrationen. Die Inc. war überall. Das große Auge, das alle überwachte und kontrollierte. Wer sich quer stellte, wurde isoliert und sollte das nicht zur Einsicht führen, verschwand der Delinquent als Abschreckung für Nachahmer auf Angst einflößende Weise. Schritt für Schritt wandelte sich Lassik damit zu einem totalitären System.
Einige der wenigen von der Inc. unabhängigen Organisationen war der „Tempel des Friedens”. Ein religiös geführter Personenkult. Der Führer hatte einen Status Quo zur Inc. und obwohl er sich in immer schärferen verbalen Attacken gegen den Einfluss wehrte, blieb die Sekte relativ unbehelligt. Für Eva war es das Auffangbecken, was sie brauchte. Es sollte ihr Gefühl der Einsamkeit lindern.
Der Kontakt entstand über eine Mitschülerin. Diese hatte bereits einige Veranstaltungen des Führers besucht und einen sichtbaren Wandel ihres Wesens durchlaufen. Ähnlich wie Eva befand sie sich im Irrgarten ihrer eigenen Jugend und Frust bestimmte ihr Erwachsen werden. Dieser Zustand der Unruhe änderte sich zuerst in Gelassenheit und entwickelte sich zunehmend in Enthusiasmus. Mit glänzenden Augen und verehrendem Tonfall schwärmte sie für den „Tempel des Friedens” und seine Ideale. Damit drückte sie die richtigen Knöpfe im von Vernachlässigung geprägten Verstand einer Heranwachsenden. Eva opferte eine der wenigen Stunden ihrer Freizeit für einen Besuch und mit der Sehnsucht endlich irgendwo ankommen zu können, folgte sie ihrer Mitschülerin erwartungsvoll. Die ließ es sich nicht nehmen den übergesprungenen Funken weiter anzuheizen.
„Er ist die selbstloseste Person die ich kenne. Für ihn gibt es keine schlechten Menschen. Alle sind es wert geliebt zu werden. Er ermutigt uns dazu seinem Beispiel zu folgen und die Welt mit Zuversicht und Liebe zu betrachten. Ich bin so gespannt, was du von ihm hältst.“ Sie war so aufgeregt und wirkte wie eine frisch Verliebte, die es nicht erwarten konnte ihren neuen Freund vorzustellen. Die Schwärmerei nahm kein Ende und die Geschichten, wie er es schaffte ihr Führung zu geben, glichen einer Erlösung nach jahrelangem Seelenschmerz.
Das Tempelgebäude hatte keinerlei Ähnlichkeit mit einem Hort der Spiritualität. Für einen Erstbesucher wie Eva konnte die Enttäuschung nicht größer sein. Sie standen vor einem seelenlosen Betonklotz, der in seiner quadratischen Form vor Normalität schrie. Der Putz der Fassade war zwar fehlerlos in seiner Zusammensetzung, aber das eintönige Grau wirkte durch grasgrüne Flecken alt und verwittert.
„Du wirst sehen. Was als unanschaulich gilt, zeigt oft mehr Charakter. Das ist es, worum es geht. In dir drin ist dein wahres Ich. Nicht nur das, was deine Hülle den anderen vermittelt“, verteidigte sie das verfallen wirkende Gebäude. Ihre Mitschülerin zitierte den Führer mit einer Begeisterung, die Eva etwas irritierte. Diese Leidenschaft wirkte unheimlich, aber auch ein wenig beneidenswert.
Mit gemischten Gefühlen folgte sie ihr ins Innere. Nach einem schmalen Vorraum betraten sie einen großen Saal, an dessen gegenüberliegender Seite sich eine kleine Kanzel befand. Der ehrfurchtsvolle Blick ihrer Begleiterin auf den Mikrophonständer verriet Eva, dass genau dort die Predigten gehalten wurden. Große Dachfenster erhellten den Raum mit natürlichem Tageslicht und da auf Lassik Sonnenschein eher selten vorhanden war, unterstützten Scheinwerfer mit perfekt abgestimmter Beleuchtung die Wohlfühl-Atmosphäre. Die unnatürliche Stille wurde höchstens durch das Rascheln von Kleidung oder einem kurzen Flüstern unterbrochen. Niemand wagte die heilige Aura des Saals mit unnötigen Geräuschen zu stören. Fast lautlos suchten sie sich zwei Sitze im vorderen Drittel der ordentlich aufgestellten Bankreihen und warteten schweigend auf den Beginn der Predigt. Eva nutzte die Zeit, um die anderen Gäste zu mustern. Offenbar war die Zielgruppe dieser Veranstaltung in ihrem Alter, denn älter als zwanzig schien hier niemand zu sein. Einzig das Personal in den weißen Roben wirkte in ihren ruhigen Bewegungen reifer und ausgeglichener.
Zehn Minuten später war es soweit. Kein Rascheln mehr, kein Flüstern, nur absolute Stille. Als wäre es ein Sakrileg sich in irgendeiner Form zu bewegen, während sich der Führer der Kanzel näherte. Seine Schritte waren ruhig und gelassen, versprühten aber trotzdem eine unbändige Energie, die er bereit war mit seinen Anhängern zu teilen. Eva merkte, wie sie Teil einer Masse wurde, die bereit war seinen unendlichen Vorrat an Güte aufzusaugen. Er postierte sich vor dem Mikrophon und ein mildes Lächeln zierte sein Gesicht. Dieser Mann brauchte keine Worte, um die Menge in seinen Bann zu ziehen. Mit minimaler Gestik schaffte er es erwartungsvolle Blicke in verehrende Begeisterung zu wandeln. Die Ruhe änderte sich in ehrfurchtsvolles Raunen und durch die ermutigende Gestik des Führers dauerte es keine zwei Minuten bis frenetischer Jubel ausbrach. Obwohl er noch kein einziges Wort gesagt hatte, lag ihm die Menge zu Füßen. Er füllte den Saal mit einer Aura aus Güte, Verletzlichkeit und Stärke. Die Natur hatte ihm nicht nur ungewöhnlich gutes Aussehen gegeben, er hatte auch dieses Charismatische an sich, dem sich keiner leicht entziehen konnte. Diese Zusammenstellung aus perfekt abgestimmter Gestik, geheimnisvollem Auftreten und imponierender Ausstrahlung zogen die Loyalität seiner Anhänger an wie ein Magnet.
Eine einzige beruhigende Handbewegung reichte und die Menge änderte ihre euphorische Einstellung in spannungsvolle Erwartung. Seine ersten Worte waren ruhig, aber bestimmt und trotz der hundertprozentigen Aufmerksamkeit konnte Eva keinerlei Aufregung bei ihm ausmachen. Er sprach über die Ungerechtigkeiten dieser Welt und dass gerade die Jugend die Leidtragenden dieser Zeit wären. Seine Stimme gewann an Leidenschaft, als er seinen Schmerz über die Benachteiligung einer ganzen Generation thematisierte und als Schuldige die Politiker von Lassik an den verbalen Pranger stellte.
„Wir können das ändern. Es wird nicht leicht, vielleicht sogar schmerzhaft, aber am Ende sind wir alle bessere Menschen. Die ganze Gesellschaft erfährt einen Wandel zum Guten. Die Ungerechtigkeit, die diese Welt beherrscht, können wir nur gemeinsam bekämpfen. Allein bin ich nicht stark genug und brauche dringend eure Hilfe. Sie brauchen eure Hilfe. Diejenigen, die zu schwach sind.“ Seine Stimme hatte jetzt einen mitreißenden Tonfall angenommen und seine unbändige Energie verschmolz mit der Ehrerbietung seiner Anhänger.
„Schließt euch uns an. Lasst uns gemeinsam Hass, Neid und Missgunst besiegen. Es wird nicht leicht werden, aber wenn ihr die Herausforderung sucht, diese Welt zu einem besseren Ort zu machen, dann lade ich euch ein unter meiner Führung Geschichte zu schreiben. Macht den ersten Schritt und besiegt euren Egoismus, indem ihr den Bedürftigen helft den Ausweg aus der Armut zu finden, hin zur Erleuchtung, die in ein selbst bestimmtes Leben führen wird.“
Er machte eine kurze Pause, um die Wirkung seiner Rede zu verstärken. Jeder sollte die Möglichkeit bekommen, das gerade Gehörte zu verarbeiten. Sein rhetorisches Talent erlaubte ihm genau zum richtigen Zeitpunkt wieder anzusetzen.
„Ihr habt die Möglichkeit euch unter meiner Leitung zu entwickeln, euch selbst zu verwirklichen. Was ich euch biete ist Führung. Was ihr bekommt ist Erleuchtung. Ihr fragt euch sicherlich, was bedeutet diese Erleuchtung?” Wieder eine kurze Pause.
„Ich kenne euren Schmerz und verstehe ihn. Auch ich habe die Qualen der Jugend in diesem System der Unterdrückung erdulden müssen. Nun seht mich an. Ich habe sie überwunden.” Hunderte Augen waren auf ihn gerichtet, so als wollte jedes einzelne das Geheimnis der Erleuchtung erforschen.
„Genauso wie ihr, fühlte ich mich unterprivilegiert, missverstanden und einsam. Ich habe den Ausweg gefunden und ich will euch aufzeigen, wie ihr euer volles Potential ausschöpfen könnt. Ihr alle seid wertvoll und mit Liebe und Hingabe für euch selbst, aber auch für andere, entfalten wir euer wahres Wesen. Folgt mir auf dem Pfad zu eurer Erleuchtung und ich verspreche euch, dass ihr nie wieder einsam seid.“ In diesem Moment fiel sein Blick auf Eva. Diese Güte, aber auch Zielstrebigkeit in seinen Augen zeigte ihr einen Ausweg auf. Zum ersten Mal seit der Tragödie verspürte sie die notwendige Energie den falschen Lebensweg zu verlassen und endlich dem Vermächtnis ihrer Mutter zu folgen. Dieser Mann dort vorne schaffte es den jahrelang angehäuften Frust mit nur wenigen Worten in nützlichen Antrieb zu ändern. Seit vielen Jahren spürte sie wieder lang vermisste Lebensenergie. Der „Tempel des Friedens” war die Möglichkeit neues Vertrauen in ihr Innerstes zu lassen. Noch überwog die Angst erneut verletzt zu werden, aber sie war bereit das Risiko einzugehen. Ihre eigene Familie war nicht in der Lage ihr Halt zu geben und so ergriff sie die Gelegenheit mit der Mitgliedschaft das ersehnte Auffangbecken zu finden.
Ihre schulischen Verpflichtungen verhinderten anfangs ein aktives Mitwirken im Tempel. Die Freizeit war so eng bemessen, dass wöchentlich höchstens zwei Stunden Zeit für den Führer übrigblieben und die nutzte sie, um die Predigten mit Hingabe zu verinnerlichen. Die anfänglichen Vertrauensängste wurden mit jedem seiner Worte weniger und verschwanden irgendwann komplett.
Ihr Alltag bestand hauptsächlich aus Unterrichtsstunden oder betreuten Nachmittagen. Dinge, die nach und nach an Bedeutung verloren. Schleichend kaperte der Führer ihren Verstand und eroberte mit seinen Lehren einen willigen Geist. Die begrenzte Zeit im Tempel wurde mehr und mehr zu ihrem Lebensinhalt. Dieser Ort bescherte ihr Kraft, Zuversicht und vor allen Dingen Hoffnung. Sie machte die Gemeinschaft zu ihrer eigentlichen Familie, die sich nicht über eine gemeinsame Blutlinie definierte. Ihre Verbindung war viel tief gehender und nobler. Ihre Bestimmung war nichts geringeres als die Welt zu verändern.
Wie genau das passieren sollte war vollkommen unklar. Es war ein Teil des Findungsprozesses, eine Reise ins Ungewisse, bei der sich der Führer als erfahrener Mentor zur Verfügung stellte. Gemeinsam würden sie am Ende des Weges die Welt aus den Angeln heben, um eine bessere und schönere Gesellschaft zu erschaffen. In diesem Paradies existierte kein arm oder reich. Keiner würde wegen der Hautfarbe oder einer Behinderung benachteiligt werden und vor allen Dingen würde niemand mehr Hunger leiden müssen. In dieser Vision ohne Standesunterschiede könnten alle ein selbstbestimmtes und erfülltes Leben führen. Das deckte sich mit den Vorstellungen ihrer verstorbenen Mutter. Eva war überzeugt, dass sie in ihrem Sinne handelte und so stieg die Motivation ins Unendliche. Sie sehnte das Ende des Schuljahres herbei. Die vier Wochen in den Ferien wurden in der Regel mit gemeinschaftlicher Arbeit verbracht, was nichts anderes bedeutete als in Inc. nahen Organisationen die Taschen der Mächtigen weiter zu füllen. Die Kontakte des Führers befreiten sie von der freiwilligen Pflicht. Damit konnte sie sich voll und ganz dem Tempel widmen.
Der Zulauf bescherte der Gemeinschaft einen steigenden Zuwachs an Mitgliedern. Wie im Falle von Eva handelte es sich um junge Leute, die sich mit den Idealen kritiklos und schnell anfreundeten. Der Führer lief zur Hochform auf und jedes neue Mitglied schien ihm zusätzliche Energie für seine mitreißenden Ansprachen zu verleihen. Sie waren auf dem Weg die kritische Masse zu erreichen. Jener Punkt an dem die Lawine in Bewegung kommen sollte und alles alte und schlechte davon reißen würde, um Platz für die unendliche Güte des Tempels zu schaffen. Eva spürte die wachsende Kraft, die die Idee zu einer Vision reifen ließ, welche am Ende Realität werden würde. Die Gewissheit unaufhaltsam zu sein, setzte sich in den Köpfen der Jünger fest.
Diese große Bewegung beruhte trotz seines Gemeinschaftsgefühls auf wenig persönliche Nähe. Individuelle Beziehungen jeglicher Art wurden unterbunden und wurden als Sabotage geächtet. Der Schwarm hatte sich der Vision unterzuordnen und sollte seine Energie nicht mit persönlichen Gefühlen innerhalb der Masse verschwenden. Einzige Ausnahme war die Hingabe an den Führer, der sich als eine Art Bienenkönigin berufen sah die wirren Gefühle von Heranwachsenden als Mentor in die passende Richtung zu lenken. Besonders die überkochende Libido, die in der Jugend seiner Mitglieder begründet lag, stellte sich als echte Herausforderung dar. Er schaffte es Enthaltsamkeit als Zeichen von Stärke zu etablieren. Passierte es doch einmal, wurden die Delinquenten öffentlich bloßgestellt und die Enttäuschung mit markigen Worten untermauert. Vor der versammelten Mitgliedschaft mussten sie ihre Sünden beichten und die Missachtung ihrer Tat wurde ausführlich von jedem Anwesenden verurteilt. Die Gemeinschaft zu verärgern galt als größte Sünde im „Tempel des Friedens”.
Die ständig wachsende Gemeinschaft erforderte zwangsläufig die Einführung einer Hierarchie und mit dem entfachten Ehrgeiz alles für die Ideale des Tempels zu tun, sah Eva es als Berufung an von möglichst hoher Position aus die richtigen Weichen zu stellen. Dafür benötigte sie den Respekt ihres Heilands, der den Wettstreit mit ihren Konkurrenten als eine Art Ringen um die besten Positionen genoss. Das Überbieten an blindem Gehorsam und der Eifer die übertragenden Aufgaben mit übertriebenen Tatendrang zu erfüllen, nahm absurde Formen an.
So war es nicht verwunderlich, dass sie eines Tages über das Ziel hinaus schoss. Einer der Bedürftigen wollte von den Anhängern des Tempels nicht erleuchtet werden. Das war im Grunde nichts ungewöhnliches, aber Eva sah ihre Zeit gekommen zu beweisen, dass sie mehr als hundert Prozent hinter der Sache stand. Die Gnade des Führers wischte man nicht mit einer beleidigenden Handgeste einfach hinweg. Sie verbiss sich regelrecht in ihr Opfer, dass sichtlich genervt irgendwann handgreiflich wurde, was sie wiederum mit einer Ohrfeige quittierte. Zu ihrem Unglück wurde das Ereignis medial ausgeschlachtet. Die von der Inc. kontrollierte Presse zerriss die Gemeinschaft nach allen Regeln der Kunst. Eine willkommene Empörung, denn die erneute Nahrungsmittelrationierung ging bei solchen aufgeblähten Skandalen unter.
Die Begeisterung des Führers über ihren Fehler hielt sich erwartungsgemäß in Grenzen und so stand Eva das erste Mal auf der falschen Seite der ritualisierten Demütigung. Vor der gesamten Gemeinschaft musste sie ihren Fehltritt offen kundtun.
„Diese Tragödie darf sich nicht wiederholen. Ich erwarte von jedem absoluten Gehorsam. Die Anweisungen für die Hilfe der Bedürftigen sind eindeutig und wurden hier auf das Gröbste verletzt. Wir müssen zusammenarbeiten. Da draußen gibt es Elemente, die unsere Sache nicht verstehen und uns aktiv behindern. Sie wollen keine Veränderung und versuchen ihre parasitären Vorteile mit allen Mitteln zu verteidigen. Wie können wir solchen Bedrohungen von außerhalb standhalten, wenn wir nicht mal im Inneren eine Gemeinschaft bilden. Darum bitte ich euch Sorgen, zweifelhafte Gefühle oder Gedanken sofort innerhalb der Gruppe zu kommunizieren. Bedenken über andere Mitglieder werden mir sofort mitgeteilt“, hielt der Führer die Standpauke gegenüber der in Ungnade gefallenen Eva und rief damit unverhohlen zur Denunziation innerhalb der Gemeinschaft auf.
Der Rückschlag entmutigte Eva nur kurz und diente als Brandbeschleuniger ihren Ehrgeiz weiter anzuheizen. Sie musste einfach nur lernen diese Energie in bestimmten Situationen zu drosseln, um nicht genau das Gegenteil von dem zu erreichen, wofür sie brannte. Ihre Loyalität galt uneingeschränkt dem Tempel und obwohl die Ungereimtheiten innerhalb der Organisation langsam unübersehbar wurden, erschütterte nichts ihren unbedingten Willen die Vision voranzutreiben. Der Führer war in ihren Augen unfehlbar und all die Zweifel würden sich am Ende als unbegründet herausstellen. Die Verletzung seiner eigenen Grundsätze hatte mit Sicherheit einen tieferen Sinn und sie war sich sicher, dass solche öffentlichen Demütigungen ihn enorm schmerzten. Sie mussten lernen diese ärgerlichen Störungen zu vermeiden. Das ging nur über eiserne Disziplin und so sah sie die Zurschaustellung ihres Fehlers als heilsame Lektion an. Wenn Evas Entwicklung abgeschlossen war, würde sie verstehen, warum die Dinge so sind, wie sie sind.
Nach den Ferien ging es zurück auf die Schule und Eva bedauerte es abseits ihres eigentlichen Lebensinhaltes zu stehen. Es war schwierig den Respekt des Führers wiederzuerlangen, wenn sie ihn höchstens zweimal die Woche zu Gesicht bekam. Zusätzlich dazu fehlte ihr die Gemeinschaft. Im gebündelten Willen der Anhängerschaft die Ziele mit einem Maximum an Energie zu verfolgen, fand sie ihren Sinn des Lebens. Alles was sie vor dem Tempel getan hatte, wirkte bedeutungslos.
Die Inc. kam ihr diesmal zur Hilfe. Im Rahmen der allgemeinen Vereinheitlichung wurde die Schule auf Grund zweifelhafter politischer Auffassungen geschlossen. Ein vorgeschobener Grund, denn politisch war die Schule gar nicht aktiv. Diese Neutralität wurde ihr zum Verhängnis. Der letzte Schritt hin zur vollständigen Kontrolle. Die Inc. ging gegen jene Organisationen vor, die keine unmittelbare Gefahr für sie darstellten, aber mit ihrer Selbstständigkeit nicht hundertprozentig kontrollierbar waren.
Der Tempel blieb weiter unbehelligt, obwohl der Vorwurf zweifelhafter Politik durchaus gerechtfertigt wäre. Das Wissen des Führers über die Leichen im Keller einiger Spitzenpolitiker, ermöglichte ihm die Freiheit seine Visionen der Gleichheit weiter voranzutreiben. Natürlich war auch er nicht frei von Altlasten und so entstand eine Art Status Quo, der ihm vorerst gewisse Freiheiten erlaubte, solange er die Ambitionen der Inc. nicht behinderte. Ein Zustand, der sicherlich nicht ewig halten würde, aber neben seinen rhetorischen Fähigkeiten besaß er ein ähnliches Gespür für das Intrigenspiel der Mächtigen. Der Tempel behielt seine Daseinsberechtigung innerhalb des Mikrokosmos der Inc. Diese entwickelte sich zunehmend zu einem Konglomerat, welches im abzeichnenden Konflikt mit anderen intergalaktischen Großmächten ihren Einfluss von Lassik stetig ausweitete.
Die Gemeinschaft des Tempels, die sich dem Frieden und der Gleichheit aller Menschen verschrieben hatte, begann im Angesicht der fortschreitenden Macht seiner Gegner paramilitärische Übungen durchzuführen. Einer dieser Widersprüche, die das ganze System eigentlich ad Absurdum führen musste, aber die Loyalität erlaubte keine Nachfragen nach dem Sinn von möglicher Gewalt. Die Vision war zum Heiligtum erklärt worden und die Erreichung dieses Ziels rechtfertigte jedes Mittel. Trotz großer Nachfrage stoppte der Führer die Aufnahme neuer Mitglieder und erklärte damit seine Jünger zu einer neuen Elite, die nicht die vorherrschende Meinung der Inc. teilte und damit vorläufig bewaffneten Schutz benötigte. In diesem Moment fühlte sich Eva als eine Art Apostel und mit tiefer Überzeugung verbreitete sie die Ansichten des Tempels auf Lassik. Sie sah sich als privilegierte Abgesandte einer höheren Macht, der sie sich voll und ganz verschrieben hatte.
Mittlerweile 18 und dem Einfluss des Führers ohne große Unterbrechung ausgesetzt, entwickelte sie sich zu einer mustergültigen Idealistin. Ihre Cleverness und ihr unbedingter Wille halfen ihr die Niederungen der unteren Kommandostruktur schnell zu verlassen. Diese Überlegenheit und die Position ihres Vaters, der mittlerweile durch Anpassung an die der Inc. vorgegebenen Spielregeln endlich hohe Ämter in der Politik einnahm und damit auf Grund familiärer Bindungen als potentielle Informationsquelle angesehen wurde, waren entscheidende Vorteile für eine Karriere innerhalb des Tempels.
Als stellvertretende Leiterin der Finanzen hatte sie Einblicke in die Bücher ihrer Gemeinschaft und bereits ein erster Überblick erforderte ein Maximum an Idealismus. Die verwirrenden Geldströme strotzten vor Illegalität und zeigten Verbindungen in die höchsten Ebenen der Politik auf. Sie ignorierte die aufkommenden Zweifel erfolgreich. Was zählte war die Anerkennung des Führers und mit dieser Funktion genoss sie jede Menge Vertrauen bei ihm, dass sie nicht mit unangemessenem Bedenken kontaminieren wollte. Sie lernte schnell keine Fragen zu stellen und dem Dogma „Der Zweck heiligt die Mittel” uneingeschränkt zu vertrauen.
Mit Erreichen der Volljährigkeit brach sie den Kontakt zu ihrem Vater vollständig ab. Die Hoffnung, der Tempel würde aus diesem Grund darauf verzichten ihre familiären Beziehungen zum Wohle der Gemeinschaft zu nutzen, war eine naive Annahme. Der Tag an dem sie vor ihm stehen würde um die Interessen des Führers zu vertreten, würde kommen und obwohl sie dieses zukünftige Ereignis mit aller Macht ihres Verstandes auszublenden versuchte, schwebte es wie ein Damoklesschwert über ihrem Kopf. Die Position innerhalb des Tempels hatte einen furchtbaren Preis und sie ertappte sich des Öfteren, wie sie darüber grübelte, auf welche Art und Weise der Führer diesen Tribut einfordern könnte.
Abgesehen von nützlichen Beziehungen waren Kontakte außerhalb des Tempels nicht gern gesehen. Ausnahmen bestanden in der Beschaffung von Informationen und da wurde ausgerechnet die viel gepriesene Regel der Enthaltsamkeit außer Kraft gesetzt. In den Betten lokaler Politiker wurden einige Geheimnisse preisgegeben, meist mit Hilfe verführerischer weiblicher Reize. Dieses unkeusch erlangte Wissen wurde gebündelt und ausgewertet in einer eigens geschaffenen Abteilung. Gemeinsam mit den Denunziationen innerhalb der Gemeinschaft entstand eine Art Kompendium der Schattenseiten von Lassik. Herrscher über dieses geheime Wissen war Kain.
Auch Eva konnte sich Kains Sammelwut an Informationen nicht entziehen. Ihre Loyalität wurde mehr als einmal auf die Probe gestellt. Auch sie denunzierte Mitglieder und wurde ihrerseits bespitzelt. Sie empfand es als eine Art Disziplinierung, die notwendig war um die eigentliche Vision schneller voran zu treiben. Da es sich meist nur um Kleinigkeiten handelte, akzeptierte sie die Notwendigkeit. Jede Form von unnötiger Ablenkung musste vermieden werden. Die Zunahme an Meldungen ungebührlichen Verhaltens hatte den unangenehmen Nebeneffekt, dass innerhalb des Lager ein Klima des Misstrauens geschaffen wurde. Dein Gesprächspartner konnte in dem Gesagten zweifelhafte Gedanken interpretieren und im schlimmsten Fall Verrat gegenüber der Sache anzeigen. Dieser Mangel an Vertrauen reduzierte Konversationen auf das Notwendigste und so blieben Missverständnisse auf Grund mangelnder Bereitschaft zum Sprechen nicht aus.
In dieser Atmosphäre aus Misstrauen und ständiger Beschäftigung bestanden kaum Möglichkeiten eventuelle Zweifel näher zu hinterfragen. Der Alltag im Tempel war so ausgefüllt, dass für eine Auseinandersetzung mit Widersprüchen keinerlei Zeit blieb. Der Führer hatte es geschafft die Gehirne seiner Jünger in eine Art Dauerstress zu versetzen. Predigten, militärische Ausbildungen und vor allen Dingen die Dogmen und Ziele des Tempels zu verinnerlichen, erlaubten keine Freizeit. Sechzehn Stunden am Tag war die Regel. Das Universum des Tempels hatte seine eigenen Gesetzmäßigkeiten entwickelt und die Tatsache, dass sämtliche Störquellen von außen eliminiert wurden, ließen die mittlerweile absurden Ansichten des Führers zur Normalität werden.
Wie jeder Mann, der vom Nektar der Macht probiert hatte, wollte auch der Führer mehr. Kains Sammlung über die Sünden der Herrschenden von Lassik ermöglichten ihm einen Aufstieg innerhalb der lokalen Regierung. Mit geschickten Erpressungen ergatterte er einen Ministerposten, der auf den ersten Eindruck wenig Einfluss versprach. Von diesem Moment an hatte er Zugang zu den Schaltzentren der Macht. Im Amt für kulturelle Angelegenheiten spann er die ersten Fäden für sein Spinnennetz an Kontakten innerhalb der Regierung. Sein intrigantes Talent ermöglichte ihm schnelle Fortschritte und es dauerte nicht lange bis er von seinen politischen Gegenspielern als ernstzunehmender Kontrahent wahrgenommen wurde. Wie bei einem Schachspiel positionierte er seine Figuren an strategisch wichtigen Stellen, um seinen Einfluss weiter auszubauen. Sein Ziel war die Führungsriege, um langfristig die Geschicke des gesamten Planeten leiten zu können. Seine Vision des Tempels, sollte die Vision von Lassik werden. Gegenspieler würden verschwinden und durch seine Getreuen ersetzt werden. Ein Vorhaben nahe am Größenwahn, aber die Anfänge waren vielversprechend. Stück für Stück tastete er sich an die Macht heran.
Seine großen Pläne brachten zwangsweise Gegenspieler hervor, die naturgemäß andere Vorstellungen von den Regierungsgeschäften hatten. Es war einem Mann namens Dart vorbehalten seinen Machtanspruch zu durchkreuzen. Offenbar war die Munition, die Kain gegen diesen Mann zur Verfügung hatte, nicht ausreichend. Ein ausgeklügelter Plan, ihn durch einen Skandal aus dem Weg zu räumen, scheiterte ausgerechnet an der Loyalität einer seiner Jüngerinnen. Ihr sollte die Schlüsselrolle in der Intrige gegen seinen politischen Kontrahenten zukommen. Angesetzt auf Dart, ihn durch sexuelle Gefälligkeiten angreifbar zu machen, konnte die jahrelange Gehirnwäsche gegen das ganz große Gefühl nicht mehr standhalten. Die viel gepredigte Liebe war in ihrem Falle fehlgeleitet. Sie verriet nicht nur ihren Führer, sondern wirkte auch mit dem Wissen über den Tempel aktiv an der Gegenkampagne mit, die zur Zerstörung seines Lebenstraums führte. Die Sekte war gezwungen die Hauptstadt zu verlassen. Als Folge der Flucht hinterließen sie ein politisches Erdbeben und sorgten für Unruhen innerhalb der Hauptstadt, die nur durch massiven Einsatz des Inc. getreuen Militärs niedergeschlagen werden konnte. Ein paar Bomben aus Kains Arsenal der Informationen kosteten einigen Politikern ihre Ämter. Obwohl die Inc. mittlerweile das alleinige Sagen auf Lassik hatte, war es notwendig geworden Bauernopfer zu bringen, um das Ausweiten der Straßenschlachten zu einer Revolution zu verhindern.
Der Tempel des Friedens war über Nacht zum Inbegriff der Opposition geworden. Die Sehnsucht nach einem besseren Leben für das einfache Volk, ohne die Allmacht der Inc. setzte sich in den Köpfen der Hunger leidenden Unterschicht fest. Die Manifestation als Gegenpol zur herrschenden Kaste war vom Führer so nicht geplant und entwickelte eine ungewollte Eigendynamik.
In der Gewissheit, dass der Veränderungswille eines Volkes nicht vollständig unterdrückt werden konnte, baute die Inc. den Tempel des Friedens gezielt als politischen Gegner auf. Er sollte all die Hoffnung und Sehnsüchte kanalisieren, die ohnehin nur illusorische Trugbilder waren. Damit transportierten sie die Revolutionsgedanken in den Dschungel von Prem und so weit draußen konnten sie keinen Schaden anrichten. Ein Spiel mit dem Feuer, denn das Charisma des Führers konnte schnell in Liebe umschlagen und dann drohte der Inc. ein permanenter Verlust der Kontrolle in der Bevölkerung.
Für diesen Fall konnte der vermeintliche Hoffnungsträger schnell zum Staatsfeind transformiert werden, der Schuld am Elend, dem Hunger und dem schlechten Wetter hätte. Auf Basis ihrer eigenen Informationen über Führer und Tempel starteten sie eine Kampagne, um die neue Hoffnung in ihrem Sinne lenken zu können. Dieser Feind war berechenbar und so steuerten sie gezielt die öffentliche Meinung, um auf unterschiedliche Stimmungen in der Bevölkerung zu reagieren. War die Hungersnot besonders groß, ließ man der Hoffnung auf Verbesserung durch den Tempel besonders viel Leine. Es hielt den Zorn zurück, der sich sonst auf den Straßen der Hauptstadt unkontrolliert seinen Weg bahnen könnte. Auf der anderen Seite brauchte die Inc. einen Sündenbock für unangenehme Entscheidungen und so mutierte der Tempel zu einer zwielichtigen Organisation. Für einen großen Teil der Bevölkerung repräsentierten die Rebellen auf Prem eine Utopie von einer besseren Zukunft für alle. Doch nicht wenige sahen den Führer und seine Eskapaden als wesentlichen Grund für ihr Elend. Eine sehr perfide Form von „teile und herrsche“.
So war es nicht verwunderlich, dass die Inc. den Tempel des Friedens an ihrem Zufluchtsort gewähren ließ. Die Insel Prem war weit weg. Es wäre ein Leichtes für das Militär der Inc. gewesen die schlecht ausgebildeten und technisch heillos unterlegenen Mitglieder des Tempels zu überrollen. Daran war den Mächtigen nicht gelegen. Märtyrer würden unkontrollierbaren Schaden anrichten und so nutzte man den Feind zur Manipulation der eigenen Bevölkerung. Es war der Joker, sollten die Dinge in der Hauptstadt vollends aus dem Ruder laufen. Erst wenn das Volk blutdürstig wurde, käme die Inc. auf den Tempel zurück. Bis dahin war das Treiben auf Prem eine willkommene Ablenkung für die eigentlichen Probleme auf Lassik.
Die Flucht aus der Hauptstadt machte es notwendig neue Wege zur Verwaltung des Tempelvermögens zu finden. Über Außenstehende wurden die Geschäfte weiter geführt, welche naturgemäß nicht mehr so einfach koordiniert werden konnten. Ein hoher finanzieller Verlust stand am Anfang, aber mit der Zeit entwickelten sie ein ausgeklügeltes System. Die Komplexität erschwerte Evas Arbeit enorm und sie brauchte eine Weile ehe sie sich in die veränderten Gegebenheiten eingearbeitet hatte. Die neuen Finanzflüsse waren schwer zu durchschauen, doch am Ende war sie eine der wenigen, die sich einen Gesamtüberblick verschaffen konnte.
Bei ihren Strohmännern in der Hauptstadt handelte es sich zum größten Teil um willige Sympathisanten, die im Tempel eine Art Hoffnung auf ein besseres Leben sahen. Die Treffen fanden ausschließlich persönlich statt und so war einer der Vorteile von Evas Posten, dass sie regelmäßig Prem verlassen konnte, um Einzelheiten über bestimmte Transaktionen zu erörtern.
Der Einblick in die komplexen Geschäfte nährten Evas unterdrückte Zweifel über das System des Tempels aufs Neue. Die große Geldschieberei über Mittelsmänner verschleierte die wahre Identität der Investoren im Hintergrund. Genau genommen kopierte der Führer die Methoden der Inc., denn auch dort befand sich die eigentliche Machtzentrale im Verborgenen. Nicht das öffentliche politische Leben entschied über das Wohl der Bevölkerung, sondern die finanzielle Elite im Hintergrund. Somit bestimmten auswärtige Kräfte über grundlegende Entscheidungen innerhalb der Gemeinschaft. Der Führer konnte sich den Interessen der Strippenzieher kaum entziehen und war zu Entscheidungen gezwungen, die seinen Jüngern immer schwerer zu vermitteln war.
Dieses Handeln widersprach den sozialistisch geprägten Strukturen von Gleichheit innerhalb der Organisation. Doch das geschaffene Klima aus Angst und Misstrauen verhinderte ein Auseinandersetzen mit seinen offensichtlichen Fehlentscheidungen. Unangemessene Fragen zu stellen oder sogar Hinweise auf die Verletzung der eigenen Regeln, konnten einem schnell die Stellung kosten. Eine Zwangsversetzung zu den Bautruppen, die ihren neuen Heimatort auf mehr oder weniger sinnvolle Art veränderten, brachte so manchen Zweifler auf den Weg des Glaubens zurück. Eine Gewissheit durfte innerhalb des Lagers nie angezweifelt werden. Der Führer war unfehlbar. So schwieg Eva, um die wenigen Privilegien ihrer Position nicht zu verlieren. Sie vergrub ihre Zweifel tief in sich hinein und passte sich damit den vorherrschenden Bedingungen an.
Einer ihrer Klienten war ein Ladenbesitzer namens Eric. Seine Begeisterung für den Tempel war eher geringer Natur, dafür war das persönliche Interesse an Eva äußerst ausgeprägt. In Kombination mit dem guten Gefühl außerhalb des drögen Alltags etwas Aufregendes zu erleben, riskierte er seine ganze Existenz, indem er für eine geringe Provision sein Konto den finanziellen Machenschaften der Gemeinschaft zur Verfügung stellte. Offensichtlich war es Eric gar nicht bewusst, welche Konsequenzen ihm drohten, sollte die Inc. dieses Treiben bemerken. Seine naive Einstellung machte es Eva leicht ihn zu beeinflussen. Sie spielte gekonnt mit ihren Reizen und hatte jedes Mal ein schlechtes Gewissen, ihn auf diese Art und Weise zu Dingen zu bewegen, die ihm im schlimmsten Fall als Hochverrat ausgelegt werden konnten.
Eric war der Typ Mensch, der überwiegend Abneigung hervorrief. Dieses zweifelhafte Privileg der Einsamkeit hatte seinen Ursprung in seiner Jugend. Ein Einzelgänger, der sich lieber mit technischen Zusammenhängen beschäftigte, als sich bei Partys zu vergnügen oder wie andere in seinem Alter das weibliche Geschlecht zu erforschen. Freunde hatte er ohnehin nicht und so konnte er seinem Faible für Technik uneingeschränkt nachgehen. Dieses Abtauchen in eine Welt voller Schaltkreise und dem vollständigen Mangel an sozialen Kontakten, ließ ihn schnell sonderlich werden. Er erschuf sich sein eigenes kleines Universum, dass gespeist wurde aus unzähligen Büchern, die größtenteils aus mathematischen Gleichungen bestanden. Hier war alles logisch und nachvollziehbar, ganz im Gegenteil zu seinen Mitmenschen die irrational und triebhaft zweifelhafte Entscheidungen trafen.
Er begriff die grundsätzlichen physikalischen Zusammenhänge und auf dieser Basis betrieb er diesen Laden, der im Wesentlichen aus dem Handel von technischen Komponenten bestand. Ein einträgliches Geschäft, was ihm ein recht angenehmes, aber auch eintöniges Leben ermöglichte. Die wahren Abenteuer fanden außerhalb der Hauptstadt statt und die meisten Schatzsucher, die es wagten in den umliegenden Ruinen nach Technikschrott zu suchen, kamen in seinen Laden, um ein paar Jetons für ihre Beute zu ergattern. Sein technisches Verständnis erschuf daraus neue brauchbare Dinge. Vieles geschah dabei intuitiv und manchmal überraschten ihn die Ergebnisse selber. Wie ein Künstler kombinierte er bestimmte Teile zu eigentlich nicht funktionalen Werkzeugen. Sein Wissensdurst versuchte dann eine Erklärung für die Wunder zu finden, aber die unzureichend ausgestatteten Bibliotheken waren dahingehend nicht ergiebig. Ab einem bestimmten Punkt bestanden auch für ihn die Relikte der alten Welt hauptsächlich aus Magie. Ein unbefriedigender Zustand, die Dinge auf Grund mangelnden Wissens nicht erklären zu können. Zum Glück hatten die Vorfahren ihre Technik aus modularen Bausteinen entwickelt, um ein Maximum an Flexibilität zu erreichen. Das Wissen, wie Energiequelle, Steuerung und operativer Teil modifiziert werden mussten, um Dingen wie elektronischen Spielzeugen bis hin zu industriellen Schneidlasern Leben einzuhauchen, brachten ihm einen guten Profit in einer Welt von ahnungslosen Anwendern.
Neben seiner Naivität und seinem enormen technischen Wissen, war seine Arroganz ein wesentlicher Bestandteil seiner Persönlichkeit. Seine Eltern waren roboterhafte Wesen, die ihren Nachwuchs mit dem Ziel maximaler gesellschaftlicher Akzeptanz groß zogen. Dieser Versuch einen Spitzenbeamten von Morgen zu schaffen, der durch ein Übermaß an Anpassung ein Netzwerk von Kontakten knüpfte und somit in die besten Kreise der Gesellschaft vorstoßen würde, ging furchtbar schief. Durch den Entzug von elterlichen Bindungen lernte er nie die grundlegenden Verhaltensweisen im Umgang mit anderen Menschen. In seiner Leid geprägten Jugend entwickelte er eine Art Schutzfunktion, die in dem Glauben bestand, er sei was Besseres. Der einzig wahre Weg zum Erfolg bestand darin nicht den üblichen Verhaltensmustern zu folgen. Als er merkte, dass er mit seinem angelernten technischen Wissen und seinem gut laufenden Geschäft immer mehr Vorteile gegenüber seinen ehemaligen Schulkameraden besaß, bestärkte es ihn in dem Glauben, seine sonderliche Art wäre die einzig Richtige und alle anderen würden dem Irrweg der Masse folgen. Seine Naivität ergänzte das übersteigerte Bild von sich selbst und brachte den seltsamen Menschen hervor, den Eva heute vor sich hatte. Für ihn bestand keine Notwendigkeit sich der Welt anzupassen, eher war es von Vorteil, dass sich die Welt an ihn anpasste.
Mit dieser Einstellung tendierte seine Anzahl an Freunden gegen null. Mit seinen dreiundzwanzig Jahren hatte er keine nennenswerten sozialen Kontakte. Nur die gezielt gedrückten Knöpfe von Eva gaben ihm das Gefühl jemanden etwas zu bedeuten. Da auch sie innerhalb des Tempels niemanden mehr trauen konnte und damit sozial isoliert war, hatten die beiden eine Art Beziehung, deren Beschreibung jeder Psychologe als Herausforderung betrachten würde. Symbiotisch war wohl das Wort, was es am ehesten beschrieb. Er war ihr Kontakt zu einer Welt, in der sie sich nur schwer zu Recht finden würde. Über ihn bekam sie Informationen außerhalb der Zensur des Tempels. Neue Nahrung für die Zweifel am System auf Prem. Trotzdem gab es für sie keine Alternative zum Führer. Das änderte sich erst, als sie von der Krankheit ihrer Schwester erfuhr. Der Wille alles zu tun, um sie zu retten, stand dem unbedingten Gehorsam ihrer Kameraden gegenüber. Dieser Konflikt verschärfte sich, nachdem der Führer jegliche Unterstützung verweigerte. Die knappen Ressourcen konnten seiner Meinung nach nicht für tot geweihte Außenstehende verschwendet werden. Als stellvertretende Leiterin der Finanzen war ihr der Hohn dieser Worte bewusst. Der finanzielle Aufwand geeignete Maßnahmen einzuleiten, wäre verhältnismäßig gering gegenüber dem vorhandenen Vermögen. Auf Grund dieser Ungerechtigkeit, war sie bereit für den Bruch mit dem Tempel, sollte es ihrer Schwester helfen.
Es war ihr nicht möglich persönlich mit Freya oder ihrem Vater zu sprechen. Eine der ungeschriebenen Regeln des Führers bestand darin familiäre Kontakte zu meiden. Offiziell gab es das Verbot nicht, aber das Ansehen innerhalb der Gemeinde und damit lukrative Posten waren abhängig von der Disziplin gegenüber nicht erwünschter Aktionen mit Außenstehenden. Das sie durch Eric überhaupt auf dem neusten Stand war, stellte sich als Glücksfall heraus. Jeder Besuch brachte Neuigkeiten über den Zustand ihrer Schwester, der sich zu ihrem Bedauern weiter verschlechterte.
Dieser Austausch von Nachrichten stellte sich nicht so einfach da, wie sie erhofft hatte. Aus den Erfahrungen der Vergangenheit, war es keinem Mitglied erlaubt sich alleine den Versuchungen der Hauptstadt auszusetzen. Regelmäßig wurde sie bei ihren Reisen von Dana begleitet. Einer besonders eifrigen Jüngerin, die glücklicherweise mit einer gesunden Portion Naivität gesegnet wurde. Eine solide Grundvoraussetzung für die Aufnahme im Tempel. Laut dem Führer sollte niemand in der feindlichen Welt vom rechten Weg abkommen. Bei Zweifel war immer jemand da, der die Lehren zitieren konnte. Bei jeder Rückkehr nach Prem, gab es ausführliche Berichte über die Ereignisse, in der eventuelle Verfehlungen des Partners besonders hervorgehoben wurden.
Für Dana war Eric nicht nur ein Ungläubiger, der sich über den Führer und die Gemeinschaft lustig machte. Ihre Abneigung ging viel tiefer. Seine arrogante Einstellung ihr gegenüber, seine verletzende Art zu sprechen und diese Attitüde dem Rest der Menschheit überlegen zu sein, nährte ihren ungesunden Hass. Dieser Umstand gab Eva die Möglichkeit, mit ihm allein zu sein. Sie heuchelte ihr vor, besondere Maßnahmen wären notwendig, um die Kooperation von Eric zu ermöglichen. Besonders keusch erzogen und überglücklich, die vom Führer genehmigten Sondermaßnahmen nicht selber ausführen zu müssen, ließ Dana die beiden für jeweils eine halbe Stunde allein. Zu den angedeuteten sexuellen Handlungen kam es allerdings nie. Eva war froh, dass sie zum Wohle des Tempels nie zu solch drastischen Maßnahmen greifen musste. Was für andere Mitglieder gewohnte Praktiken und abgesegnete Mittel zum Zweck waren, kam für sie nicht in Frage.
Es war riskant Nachrichten auszutauschen und noch riskanter war es in irgendeiner Form ihrer Schwester aktiv zu helfen. Sie musste etwas gegen ihre Hilflosigkeit tun und sei es auch noch so banal. Zum Glück war Eric leicht davon zu überzeugen gewesen und er hatte die Idee mit den Bluttests, die eventuell einen geeigneten Spender hervorbrachten. Die praktische Umsetzung stellte sich als schwierig da, aber gemeinsam hatten sie einen guten Weg gefunden. Mit Hilfe eines eigens für diesen Zweck von Eric konstruierten medizinischen Instruments, schaffte sie es fast die komplette Mitgliedschaft des Tempels zu testen und das ohne ihr Wissen. Für die paar Tropfen Blut reichte ein minimaler Einstich, der durch ein Narkotikum vollends unbemerkt blieb. Eric sorgte dafür, dass die Proben gegen einen gewissen Obolus analysiert wurden.
Für diese Tests brauchte sie Geld und da kam ihr das perfide Finanzsystem des Tempels zu Gute. Obwohl sich kaum einer besser auskannte in dem Zahlendschungel, musste sie vorsichtig sein. Sie leitete kleine Beträge um, so dass innerhalb des verschlungenen Geldwäschesystems mit seinen tausenden Transaktionen die Zweckentfremdung dem normalen Beobachter nicht auffiel. Ein mühsamer Weg, denn durch die minimalen Beträge begrenzte sie die Anzahl der Untersuchungen.
Es war an Evas 25. Geburtstag, als sie wieder auf dem Weg in Erics Laden war. Nicht dass man auf Prem die Geburtstage feierte, aber es war einer ihrer wenigen Stützen, eine Art inneren Kalender zu behalten. Das Leben vor dem Tempel verblasste immer mehr und der Kult wurde zur Gewohnheit. Auch wenn der Führer hundert Prozent für die Idee forderte, war sie nie der Überzeugung gewesen alle Geschehnisse der Vergangenheit auslöschen zu müssen. Erfahrungen waren ein Teil von ihr. Sie formten ihren Charakter und als die ersten Zweifel an der Vollkommenheit der Sache aufkamen, hielt sie sich umso fester an den wenigen Erinnerungen außerhalb des Tempels fest. Die spirituelle Reinigung, die der Führer predigte, war nur die Bereitung des Nährbodens für die Saat seines verkorksten Dogmas. Wie ein Gärtner, beackerte er die Gedanken seiner Jünger, aber für Eva stand fest, dass nicht alles Unkraut in ihrer Vergangenheit war. Gerade die Erinnerungen an ihre Geburtstage wollte sie nicht so einfach dem Tempel opfern, beinhalteten sie doch die schönsten gemeinsamen Momente mit ihrer Mutter.
Den Drang ihrer Schwester zu helfen, betrieb sie mit dem gleichen Ehrgeiz, den sie aufbrachte, um gegen ihren Vater zu rebellieren oder um den Führer zu beeindrucken. Natürlich wurde auch unabhängig von ihr nach geeigneten Spendern gesucht, aber die Ergebnisse waren bisher alle negativ. Auch sie hatte kein Glück. Einen Plan, für den Fall der Fälle den geeigneten Spender dann dazu zu bringen die Transfusion durchzuführen, gab es bisher nicht. Ihr Gebilde aus Diebstahl und Heuchelei gegenüber dem Tempel war fragil und sie war sich bewusst, dass es nicht ewig so weiter gehen würde. Ausgerechnet bei diesem Besuch bei Eric drohte alles zu kippen.
„Müsst ihr immer zu zweit kommen?“, fragte Eric während er abschätzig auf Dana blickte. Normalerweise gab es erst ein verhaltenes Lächeln für Eva, bevor er sich über ihre Begleiterin ausließ. Eine Änderung des Rituals beunruhigte sie. Irgendwas stimmte nicht.
„Auch du wirst irgendwann von der Erleuchtung des Führers erfüllt werden. Materieller Besitz und unkeusche Gelüste wird es dann für dich nicht mehr geben. Nur noch Zufriedenheit und Erfüllung“, antwortete Dana in ihrem gelassenen Tonfall, mit dem sie solche Unhöflichkeiten zu kontern pflegte.
„Ja ja, da freue ich mich schon drauf. Könntest du jetzt bitte gehen?“ Er deutete ungeduldig auf den Raum nebenan.
Eva wandte sich Dana zu und flüsterte ihr ins Ohr.
„Er scheint heute besonders begierig zu sein. Ich habe ein wenig Angst“, schürte sie den Fluchtreflex. Auf Danas Feigheit war Verlass.
„Denke immer an den Führer dabei, das wird dir Kraft geben. Er ist bei dir in der schweren Zeit“, erwiderte sie aufmunternd und ihre Erleichterung nicht an Evas Stelle zu sein, konnte sie nur schwer verbergen.
„Danke. Ich werde dir hinterher alles Notwendige erzählen.“ Dana verließ mit schnellen Schritten den Raum.
„Glaubt die immer noch wir würden … Wie naiv ist die denn? Manchmal sind wir nur zehn Minuten allein.“ Er grübelte kurz.
„Moment mal. Was erzählst du ihr denn, wenn es nur zehn Minuten dauert?“, fragte er misstrauisch.
„Da fällt mir schon eine Geschichte ein. Aber das ist jetzt nicht wichtig.“
„Doch ich finde schon“, unterbrach er sie.
„Eric. Was ist los? Stimmt irgendwas nicht?“
Das Männer sich nur auf ein Problem konzentrieren können war ein Klischee, aber bei Eric stimmte es. Es dauerte einen Moment, ehe er den Schalter von seinen angeblichen sexuellen Unzulänglichkeiten wieder auf die eigentliche Frage umlegte.
„Oh ja. Großes Problem. Die Blutproben, die du mir gegeben hast.“
„Haben wir einen Treffer?“, unterbrach sie ihn.
„Würde ich dann von einem Problem sprechen?“, fragte er ziemlich herablassend. Am Anfang hatte Eva Probleme mit dieser Art von Kommunikation gehabt, aber mittlerweile wusste sie diese Worte im Kontext mit Erics Persönlichkeit gut einzuordnen.
„Stimmt irgendwas mit den Ergebnissen nicht?“ Sie musste ihre Stimme dämpfen, damit Dana im Nachbarraum nicht misstrauisch wurde.
„Ich habe keine Ergebnisse. Das ist aber nicht das Schlimme. Alle, die mit diesen Proben zu tun hatten, sind tot oder verschwunden. Larry, unser Mittelsmann. Weg. Der Assistent, der die Untersuchungen vornimmt. Vom Dach gestürzt. Der Dienst habende Arzt. Verschwunden. Das sind nie und nimmer Zufälle. Ich habe Angst, dass ich der Nächste bin.“ Er klang panisch. Seine Stimme überschlug sich.
Eric hatte nie persönlich Blutproben im Krankenhaus abgegeben, was ihm jetzt vermutlich zu Gute kam. Eva war es, die darauf gedrängt hatte noch eine Station dazwischen zu schalten. Ein Tagelöhner namens Larry war der eigentliche Bote.
„Was ist passiert?“, fragte sie angesteckt von der Panik.
„Das „Bayreuth“. Die üble Spelunke in der Larry praktisch wohnt. Ich wollte ihn wie immer da treffen. Er war wohl seit zwei Tagen nicht mehr da. Den Tod und das Verschwinden der Mediziner hab ich aus der Zeitung.“ Er reichte Eva das Pad, die sofort nach den passenden Artikeln suchte. Wie immer musste sie zwischen den Zeilen lesen. Ein Todesfall in öffentlichen Gebäuden konnte auch von der Inc. kontrollierten Presse nicht einfach ignoriert werden. Von einem tragischen Selbstmord des Assistenten war die Rede, während ein anderer Artikel die Abwesenheit des zuständigen Arztes mit der Befragung bei der Behörde für staatliche Angelegenheiten erklärte.
„Die BsA. Selbst ihr in eurem Wald wisst, was das bedeutet. Ich geh jede Wette ein, dass Larry ebenfalls da ist.“
Soviel Kombinationsgabe hätte sie Eric nicht zugetraut. Sie hielt ihn immer für den naiven, weltfremden Eigenbrödler und jetzt musste sie feststellen, dass sie selber nie die richtigen Schlüsse gezogen hätte. Wieder wurde ihr schmerzlich bewusst, dass ihr die Welt dort draußen vollkommen fremd geworden war. Ein Grund mehr dem Tempel den Rücken zu kehren.
„Der Geheimdienst ist hinter uns her?“
„Ganz genau. Das nächste Glied in der Kette bin ich. Dann kommst du und dann derjenige, dem die Proben gehören. Was sind das eigentlich für Leute?“, fragte er Eva.
„Neumitglieder“, wiegelte sie ab. Tatsächlich waren es „Erwerbungen“, die zur Belustigung der Truppe dienten. Die Moral auf Prem war schlecht und um der Unzufriedenheit etwas entgegenzusetzen, bediente sich der Führer des Brot und Spiele Prinzips. Die Angst vor alles und jedem im Lager war so groß, dass die armen Geschöpfe als Ventil herhalten mussten. Der angestaute Frust jedes Einzelnen sollte sich in einem barbarischen Schauspiel entladen und so gab es regelmäßige Treibjagden durch den Wald. Sie hatte es geschafft noch am selben Tag ihrer Ankunft allen sechs Opfern Blutproben zu entnehmen. Trotz des großen Risikos war sie sich sicher gewesen, dass niemand etwas bemerkt hatte. Einen Tag später war sie über die üblichen Schleichwege in die Hauptstadt gelangt und hatte die Proben Eric übergeben. Drei Tage danach, hatte sie Dana unter einem halbwegs plausiblen Grund überzeugen können, noch mal hier her zu kommen. Diese würde sicherlich Kain darüber informieren, aber Eva hatte eine gute Geschichte, um den erneuten Besuch zu rechtfertigen.
„Was immer das auch für Leute sind. Ihr Blut hat hier für mächtig Aufregung gesorgt.“
„Wie gut kannte Larry dich? Hast du meine Empfehlungen beherzigt?“, fragte sie leicht panisch, weil Erics Kettengeschichte ihr bewusst machte, dass sie sich mehr als sonst in Gefahr befand.
„Nur mein Gesicht. Keine Kontaktdaten, weder Namen noch Adresse. Mit solchen Typen schließt man zum Glück keine langfristigen Freundschaften.“ Er klang etwas erleichtert.
„Gut. Jetzt müssen wir nur noch rausfinden, warum das BsA sich eingeschaltet hat.“
„Was? Bist du verrückt?“ Die Panik war zurück in seiner Stimme.
„Ich habe keine Lust auf den BsA-Bunker. Wenn man da überhaupt wieder rauskommt, ist man nicht mehr derselbe.“ Seine Stimme war jetzt so laut, dass Dana mit Sicherheit jedes Wort mitbekommen hatte.
„Na toll. Jetzt muss ich mir Dana gegenüber was einfallen lassen.“ Sie war genervt und das bisschen Sympathie, was sie Eric gegenüber aufbrachte, reichte nicht mehr, um ihre Wut zu unterdrücken.
„Ich bin sicher, da bist du ähnlich kreativ, wie in deinen zehn Minuten Geschichten.“ Auch er war genervt. Unter diesen Umständen war es unmöglich ein konstruktives Gespräch hinzubekommen.
„Du hast damals beschlossen uns zu helfen. Mit der Entscheidung musst du jetzt leben. Halt dich bedeckt. Ich werde in drei Wochen wieder hier sein und dann weiß ich vielleicht genaueres.“ Sie wollte gehen, als ihr einfiel, weshalb sie die Schwierigkeiten eigentlich auf sich nahm.
„Hast du Neuigkeiten von Freya?“, fragte sie, als hätte es den Disput gerade nicht gegeben.
„Nein. Seit den letzten zwei Tagen nichts Neues. Und jetzt geh.“ Sein Tonfall verriet, dass er nicht gewillt war weiter mit ihr zu diskutieren. Sie verließ den Raum und wenig später gemeinsam mit Dana auch das Geschäft.
Die Schwebebahn war das öffentliche Verkehrsmittel der Hauptstadt. Ein Relikt aus besseren Zeiten, dass aus Mangel an Ersatzteilen wenig Sicherheit ausstrahlte. Trotz der steigenden Zahl an Unfällen, wurde es durch die Inc. weiter betrieben. Das ideale Transportmittel um in die Außenbezirke zu gelangen. Auf dem Weg zur nächsten Haltestelle nutzte Eva Danas naive Einstellung, um eine Geschichte über Erics angsterfüllte Bemerkung über die BsA zu ersinnen. Ein wirrer Mix aus sexueller Verweigerung und Drohung mit dem Geheimdienst. Dana würde das sicherlich in dieser Form an Kain weitergeben und da bestand die wahre Herausforderung für ihr Lügengebilde.
In der Schwebebahn unterhielten sich die beiden nicht. Zu groß war die Gefahr, dass jemand zuhörte und die richtigen Schlüsse zog. Eva hatte Zeit ihren Gedanken nachzuhängen. Ihr wurde bewusst, dass der Aufenthalt auf Prem dem Ende zuging. Auf die eine oder andere Weise würde sich ihr Leben in naher Zukunft verändern. Die wahrscheinlichste Option war das Entdecken ihrer finanziellen Machenschaften gegen den Tempel. Das Abzweigen konnte nicht für immer unentdeckt bleiben und bei Diebstahl kam sie nicht mit einer Strafversetzung zu den Bautruppen davon. Der Tod war in solchen Angelegenheiten die Mindeststrafe. Sie würde einfach verschwinden und im Lager war ihr Name, ihr Tun, ihre ganze Existenz ein Thema, dass nie wieder angesprochen werden durfte.
Die einzige Möglichkeit dem zuvor zu kommen, war die Flucht in die Hauptstadt. Eines Tages würde sie sich einfach absetzen und Dana allein zurückkehren lassen. Aber was dann? Wo und vor allen Dingen wie sollte sie leben?
Sie schaute hinab auf die Umgebung unter ihr. Der Regen verstärkte das graue Elend auf Lassik. Wie Insekten, die Schutz vor der Nässe suchten, wuselten die Bewohner über die Straßen. Die wenigen elektrischen Personentransporter wirkten wie Käfer, die sich durch ein Gewimmel von Ameisen drängelten. Über allen zogen sich die Schienen der Schwebebahn, wie Spinnweben hinweg. Nur noch wenige Bahnen waren aktiv. Strom war auf Grund eines geothermischen Kraftwerks im Überfluss vorhanden, doch das Ersatzteilproblem beschränkte sich nicht nur auf komplizierte Steuerungschips. Auch simple Dinge wie Kupfer oder Glasfaserkabel waren nicht ausreichend vorhanden. Das einst schier unerschöpfliche Reservoir von Elektronikschrott, aus den Städten der umliegenden Inseln, ging dem Ende entgegen. Als die Sachen noch im Überfluss vorhanden waren, wurden sie verschachert an intergalaktische Händler. Wie viele Politiker vor ihnen, machte die Regierung den Fehler, den kurzfristigen Profit über vorausschauende Weitsicht zu stellen.
Die Verwaltung konzentrierte sich darauf, das Zentrum mit Strom, Wasser und sonstigen notwendigen Dingen zu versorgen. Die Randgebiete verfielen und beherbergten Flüchtlinge, die bei der Regierung in Ungnade gefallen waren. Ein Überlebenskampf, den sie schwer gewinnen konnten. Auf der Flucht vor dem Tempel und als Staatsfeind der Inc., drohte Eva das gleiche Schicksal. Ihr Weg kannte am Ende nur den Tod. Diese Erkenntnis minderte nicht den Willen, alles für das Überleben ihrer Schwester zu tun. Ganz im Gegenteil. Es spornte sie an, dem Unausweichlichen einen guten Grund zu geben. Nachdem sie in ihrem kurzen Leben mehrfach falsche Entscheidungen getroffen hatte, war sie sich diesmal sicher das Richtige zu tun. Im Tempel waren die Hilfsmöglichkeiten für Freya erschöpft. Es wurde Zeit für die letzte und entscheidende Stufe des Verrates und dafür brauchte sie umfangreiche finanzielle Mittel.
Die Schwebebahn erreichte die Endhaltestelle. Von hier aus mussten sie zu Fuß weiter. Etwa zwei Stunden dauerte der Marsch durch die Ruinen, bevor sie mit einem Personentransporter bis zur Küste fuhren und mit Hilfe eines Bootes nach Prem übersetzten.
V
„Es ist gefährlich Anderen etwas vorzumachen, denn es endet damit, dass man sich selbst etwas vormacht.“
Eleonora Duse
Sie benötigten zwei Stunden bis sie zurück im Lager waren. Wie immer mussten sie umgehend bei Kain persönlich zum Rapport vorsprechen. Auch ohne Lügenkonstrukte hatte sie jedes Mal schreckliche Angst diesem Mann gegenüberzustehen. Zum Glück musste sie dieses Gefühl nicht verbergen, denn Furcht war das vorherrschende Element auf Prem. Misstrauisch würde er werden, wenn sie keine hätte. Zu ihrer Überraschung war auch der Führer anwesend. Mit entsprechend ungutem Gefühl, betraten Dana und sie das kleine Büro im Hauptgebäude.
„Hallo Dana, hallo Eva. Ich hörte von eurer aufopfernden Arbeit und wollte mich vergewissern, dass ihr gesundheitlich in Ordnung seid“, eröffnete der Führer fürsorglich.
In seiner Gegenwart herrschte immer eine Art Beklemmung vor. Eva war überzeugt in Anwesenheit einer solch starken Persönlichkeit konnten Worte ihrerseits nur dummes Geschwätz sein. Sie zog es daher vor nur nach Aufforderung etwas zu sagen.
„Bei diesen wichtigen Angelegenheiten bedarf es einer gewissen Sorgfaltspflicht euch gegenüber. Ich kenne diese Welt dort draußen mit ihren Sünden und Versuchungen. Der Pfad zur Erleuchtung ist steinig und schwer. Es ist mir ein persönliches Anliegen, dass ihr die guten Fortschritte hin zu einem erfüllten Leben, nicht durch leichtfertige Fehltritte wieder zunichtemacht. Daher bitte ich euch, General Kain ohne falsche Scham alle Tätigkeiten bis ins kleinste Detail zu erzählen. Ich will sichergehen, dass euch da draußen kein geistiger Schaden zugefügt wird.“
Trotz des besorgten Tonfalls fiel es Eva schwer nicht in Panik zu verfallen. Es war nicht einfach Kain die Geschichte glaubhaft zu verkaufen. Wie sollte sie dann den Führer täuschen? Das war unmöglich. Trotz all der Zweifel konnte sie keine Gott gleiche Person belügen. Tot umfallen würde sie, wenn nur ein falsches Wort über ihre Lippen käme.
Wie immer war es Dana, die anfing ihren Aufenthalt zu erläutern. Eva hakte an Stellen ein, an denen sie nicht gezwungen war zu lügen. Finanzielle Details, in denen Dana nicht so bewandert war, erklärte sie ausführlicher als es notwendig war. Nach und nach übernahm sie das Reden. Sie brauchte die Kontrolle. Ihr war klar, wollte sie hier heil rauskommen, musste sie den Schwerpunkt des Rapports auf Sachen lenken, die für sie unverfänglich waren. Sie durfte aber auch nicht übertreiben, da ein zu offensichtliches Ablenken, das Misstrauen Danas hervorgerufen hätte. Es war eine Frage der Dosierung, denn am besten versteckt man potentielle Lügen, in dem man sie in einem Meer von Wahrheiten ertränkt.
Diese Taktik der Ablenkung klappte eine Weile ganz gut, bis Dana explizit auf die Treffen mit Eric zu sprechen kam. Sie wollte sich profilieren vor dem Führer und das auf Kosten von Evas angeblichen Praktiken. Das zwang Eva in die Offensive zu gehen.
„Wir haben da einen etwas schwierigen Fall. Einen Händler, der Elektronikschrott verkauft“, fing Dana an und überlegte kurz, wie sie fortfahren sollte. Diese Pause nutzte Eva, um das Wort an sich zu reißen.
„Schwierig ist etwas übertrieben. Dana hat Probleme mit ihm. Ihr fällt es schwer zu kooperieren“, übernahm Eva und kam ihrer Begleiterin damit zuvor die Aufmerksamkeit nicht auf sich selber zu ziehen.
Dana wollte gerade etwas erwidern, als ihr der Führer ins Wort fiel.
„Fahr fort. Erzähl mir von den Schwierigkeiten.“
Es hatte geklappt. Das heikle Thema Eric konnte sie damit ausfüllen, indem sie seine Beziehung zu Dana ausweitete. Sie schaffte es tatsächlich geschlagene zwanzig Minuten über die Probleme zwischen den beiden zu referieren, ohne auch nur eine einzige Lüge anbringen zu müssen. Sie missbrauchte Dana als Schutzschild und verriet dem Führer vertrauliche Gespräche zwischen den beiden Frauen. Danas Abneigung gegenüber Eric und die Erleichterung sich nicht näher mit ihm beschäftigen zu müssen, nutze Eva zum Rundumschlag. Ihre Eloquenz erlaubte es ihr, die Tatsachen zum Nachteil von Dana darzustellen. Sie steigerte sich in einen Rausch. Am Ende erschuf sie den Eindruck, Dana würde nicht alles tun für den Tempel.
Das anschließende Gefühl der Reue verdrängte sie erfolgreich. Nichts durfte ihre Konzentration stören. Zu sehr war sie damit beschäftigt ihre Gefährtin zur Schlachtbank zu führen um sich selbst zu retten. Sie sah Verrat als Notwendigkeit an, um ihr eigenes Überleben zu sichern. Fressen oder gefressen werden und instinktiv war sie ihrer Begleiterin zuvorgekommen. Der Tempelkult brachte gerade das Schlimmste in ihr zum Vorschein. Gegen ihre eigenen Prinzipien von Gerechtigkeit zu handeln, machte sie traurig. Wenn ihre Mutter sie so sehen könnte, würde sie sich von ihr abwenden. Da half es auch nicht, dass sie einen guten Grund hatte sich so zu erniedrigen. Ihre Schwester war wichtiger als Regeln von Anstand und Moral und dafür war sie bereit notfalls ihre grundsätzlichen Überzeugungen zu opfern. Sie setzte nur das um, was sie über die Jahre hier schmerzhaft gelernt hatte. Der Zweck heiligt die Mittel.
„Ich danke dir für diese Informationen. Es wäre ein Leichtes sie pauschal zu verurteilen. Es ist wichtiger die Zweifel zu ergründen und sie zu zerstreuen. Ich denke mit gemeinsamen Anstrengungen werden wir Dana auf den richtigen Weg zurückführen.“ Es war jede Menge Sorge in der Stimme des Führers. Er wandte sich direkt an sie.
„Bei den Brüdern und Schwestern der Baukolonne wird das einfache beschwerliche Leben dich zur Besinnung bringen. Die Arroganz, mit der du dein eigenes Wohl über das Wohl des Tempels gestellt hast, ist ein Hindernis zum Erreichen der Erleuchtung. Harte Arbeit wird dich die Demut lehren, die alle anderen von dir erwarten. Wir helfen dir, wieder ein nützliches Mitglied zu werden.“
Dana war am Boden zerstört und keiner Worte mehr fähig. Vermutlich war ihr nicht mal bewusst, dass Eva sie für eigene Vorteile benutzt hatte. Der Glaube tatsächlich einen Fehler begangen zu haben, ließ sie die Strafe als gerechtfertigt empfinden. Ein Urteil vom Führer persönlich konnte nicht falsch sein. Mit harter Arbeit würde sie sein Vertrauen zurück erlangen und nie wieder den geringsten Zweifel hegen.
Den Rest des Rapportes langweilte Eva Kain mit einer Unmenge von Zahlen. Sein Desinteresse war unübersehbar und so hoffte sie, dass es ihm langsam leid wurde ihren finanziellen Ausführungen zu folgen. Der Führer dagegen schien mit kindlicher Neugierde an ihren Lippen zu hängen und jede Transaktion mit Wohlwollen zu bedenken. Ihr fiel es schwer die Konzentration auf diesem hohen Level aufrecht zu erhalten, aber sie durfte jetzt nicht nachlassen. Über zwei Stunden erklärte sie Einnahmen, Ausgaben und Gewinne. Die gefürchtete Frage nach dem Grund ihres zweiten Besuches bei Eric umging sie, indem sie das Gespräch in eine für sie ungefährliche Richtung lenkte. Sie baute gezielt Ungereimtheiten in ihre Schilderungen ein. Die anschließenden Fragen von Kain nutzte sie, um den Gesprächsfaden weiter weg von Eric und den notwendigen Lügen zu spinnen. Am Ende hatte sie es geschafft die komplette Zeit ohne eine Lüge klar zu kommen, weil sie es geschickt anstellte die heiklen Themen zu meiden.
„Wir werden für dich einen neuen Partner finden müssen. Jemand, der von deinen Fähigkeiten lernen kann und der zu dir passt. Eine perfekte Ergänzung zu deinen Stärken und Schwächen“, sagte der Führer zufrieden. Eva hatte ihre Loyalität bewiesen und es war noch nicht lange her, dass sie ihren Stolz über die anerkennenden Worte wie ein Gockel vor sich hergetragen hätte. Heute hatte der Tempel nicht mehr die höchste Priorität in ihrem Leben. Ganz im Gegenteil. Sie war bereit diesen Irrweg zu beenden, auch wenn die Gefahr groß war dafür mit ihrem Leben zu bezahlen. Ein würdiger Preis, sollte sie Freya damit helfen.
Der Führer und Dana verließen den Raum, so dass sie mit Kain allein war. Noch war sie nicht vom Haken. Bisher hatte sie sich gut geschlagen und den widrigen Bedingungen standgehalten, auch wenn sie auf wenig schmeichelhafte Mittel zurückgegriffen hatte. Die Spielregeln erforderten eine unfaire Vorgehensweise. Sie hatte sich den hiesigen Bedingungen angepasst und einen großen Teil der alten Eva ignoriert, die mit ihren noblen Ansichten zwar moralisch auf der guten Seite stand, aber hier vollkommen unbrauchbar war. Sie musste aufpassen nicht vollkommen zu dem zu werden, was sie verabscheute. Die „Zweck heiligt die Mittel“-Methode konnte ihr am Ende den kläglichen Rest an Würde kosten.
Sie wollte gehen und in der Abgeschiedenheit ihrer Hütte ihr weiteres Vorgehen planen, doch Kain hielt sie zurück.
„Wie geht es eigentlich ihrer Schwester?“, fragte er beiläufig. Kain war nicht der Mann, der sich um Nebensächlichkeiten sorgte. Schon gar nicht, wenn es um Nichtmitglieder ging. Diese Tatsache brachte die Anspannung in Eva zurück. Banale Ansätze wie diese dienten bei ihm zur Ablenkung, um den Gesprächspartner in trügerische Sorglosigkeit zu verführen.
„Ich habe leider keine Informationen über ihren Zustand“, log sie. Das war doch leichter als sie dachte.
Kain schaute ihr ein paar Sekunden tief in die Augen, als wolle er ergründen, ob diese harmlose Aussage nicht tiefer gehende Bedeutung hatte.
„Es ist sicherlich schwer einen geeigneten Spender zu finden“, fuhr er fort.
Für Eva war es nicht einfach die gleichgültige Fassade aufrechtzuerhalten. War sie dabei in eines dieser berüchtigten Spiele zu geraten? Eine gewisse Verunsicherung konnte sie nicht leugnen.
„Ich hoffe, dass es da voran geht“, entgegnete sie in möglichst gelassenem Tonfall.
„Mich würde es zerreißen, nichts tun zu können“, kam es von Kain lauernd. Da es diesmal keine direkte Frage war, sah sich Eva nicht genötigt zu antworten. Mittlerweile konnte sie die aufkeimende Panik nur unzureichend unterdrücken.
„Ich muss zurück, die finanziellen Transaktionen unserer Helfer mit unserer Buchhaltung abgleichen“, versuchte sie sich dem ganzen zu entziehen.
„Ihr Feld sind die Zahlen, genauso wie meins die Informationen sind. Ich weiß so ziemlich alles über jeden hier.“ Immer noch diese zermürbenden Bemerkungen, die jegliche Interpretationen offenließen. Eva war kurz vorm innerlichen zerreißen. Sie war sich mittlerweile sicher, dass er mit ihr spielte.
„Sie haben sich gut geschlagen beim Rapport. War sicher nicht einfach, sich vor dem Führer zu behaupten.“ Es klang wie Lob, aber in seiner Stimme lag etwas Abwartendes.
„Ich habe nur…“ setze Eva an, aber Kain unterbrach sie.
„Sie haben sich gewunden, aber das ziemlich geschickt. Ich bewundere Leute, die unter solchen Bedingungen kühlen Kopf bewahren. Wie haben Sie es geschafft den Elektronikhändler zu überreden die Inc. und den Tempel gleichzeitig zu hintergehen? Ich tippe mal auf weibliche Reize. Würde mich interessieren, wie weit Sie da gegangen sind.“ Er brachte diese Sätze in einem gleich bleibenden Tonfall hervor, als wäre es das Normalste von der Welt Geld zu stehlen. In Evas Kopf herrschte Chaos. Tausend Gedanken drängten in den Vordergrund. Flucht. Hilflosigkeit. Angst. Resignation. Versagen. Jedes dieser Gefühle wollte hundert Prozent Aufmerksamkeit. Sie drohte mental zu überlasten. Die rechte Hand des Führers wusste über ihre Verfehlungen Bescheid. Das Ende schien schneller gekommen, als erwartet.
„Ich bin kein Finanzexperte, aber diese kleinen Ungereimtheiten, die normalerweise im Rauschen der großen Summen untergehen, fielen doch jemandem auf. Sie haben den unbedingten Willen ihrer Kollegen jede noch so kleine Verschwendung zu ergründen unterschätzt. Das bringt mich in die angenehme Lage Gefallen von Ihnen einzufordern.“ Er sagte es eher freundlich, als wolle er sie foppen.
„Wie ich bereits sagte, sind Informationen mein Geschäft. Ich habe Sie in der Hand und könnte Sie jederzeit beim Führer wegen Diebstahls anzeigen. Wäre mir wirklich kein Vergnügen, wenn Sie mich dazu zwingen müssten. Sie sind viel zu clever, um Sie auf diese Art und Weise zu opfern. Die Vorführung gerade hat mir bewiesen, dass Sie eine gute Mitarbeiterin in meiner Abteilung wären. Ich werde Sie daher als meine persönliche Assistentin anfordern.“
Eva war keines klaren Gedankens fähig. Die Aussicht auf das wartende Schafott änderte sich in Sekundenschnelle in eine Beförderung, die sogar einige Privilegien mit sich bringen würde.
„Ich bin sicher es überfordert Sie gerade ein wenig, aber im Grunde haben Sie keine Wahl. Entweder Sie kommen zu mir oder der Führer wird an Ihnen ein Exempel statuieren, denn bei Diebstahl versteht er keinen Spaß.“ Er kam zu ihr rüber und strich ihr eine blonde Strähne aus dem Gesicht.
„Wer weiß? Vielleicht kommen wir uns auch privat etwas näher. Soweit ich weiß wurde Ihnen noch kein Partner zugewiesen. Ein Umstand, der längst einer Korrektur bedarf.“ Eva wurde schlecht. Neben Flucht oder Tod, gab es nun eine dritte Variante, wie die Geschichte für sie ausgehen könnte. Leider waren die Aussichten nicht viel angenehmer. Sie war erpressbar geworden und Kain würde keinen Moment zögern seinen „Joker“ einzusetzen, sollte es zu seinem Vorteil sein. Offensichtlich hatte er ein privates Interesse an ihr. Eine Assistentin, die seine Wünsche befriedigte, auf die eine oder andere Weise und das alles zu Lasten der Hilfe für ihre Schwester. Die Dinge wurden kompliziert.
Ein zufriedener Kain entließ sie endlich und noch am selben Tag bekam sie die Anweisung die Stelle als neue Assistentin anzutreten. Ihre erste Aufgabe bestand in der Organisation der bevorstehenden Jagd. Die armen Geschöpfe drohten in der aufgeheizten Stimmung vorzeitig Schaden zu nehmen. Das alles beherrschende Thema im Lager waren die Fantasien über den möglichst kreativen Tod der eigens dafür angeschafften Fremden. Gemeinsam mit zwei unterstellten Soldaten bestand ihre Priorität darin, die Unversehrtheit der Opfer bis zum Start des Ereignisses zu gewährleisten. Zu diesem Zweck wurde ihr der Rang eines Leutnants verliehen, damit sie auch die notwendige Befehlsgewalt gegenüber ihren neuen Untergebenen ausüben konnte.
Sie fiel die Karriereleiter hinauf. Vor einem Jahr hätte sie mehr als nur eine Gefährtin verraten für solch einen hochrangigen Posten. Kain war nach dem Führer die wichtigste Person im Lager und seine Assistenz stand in der Rangfolge gleich dahinter. Die fehlende Freude über diese glückliche Fügung war ein untrügliches Zeichen dafür, dass sich die Prioritäten in Richtung ihrer Schwester verschoben hatten. Diese neue Verantwortung brachte überwiegend Nachteile mit sich, behinderte sie mit ihren Verpflichtungen doch eine aktive Hilfe. Kain war ihr neuer Befehlshaber und der hatte wie angedroht eine Partnerschaft mit ihr beantragt. Freie Liebe war im Tempel nicht zugelassen. Der Führer entschied, wer mit wem eine Beziehung einging. Bisher wurden alle Anträge in ihre Richtung abgewiesen. Gegenüber den meisten Frauen von Lassik, hatte sie nicht den stark ausgebildeten Nacken, den die erhöhte Schwerkraft normalerweise mit sich brachte. In Kombination mit ihren langen blonden Haaren war sie für die Männerwelt ein begehrtes Unikat im Lager. Kain sah es als Privileg seiner Stellung an dieses Juwel für sich zu beanspruchen.
Es waren nur noch wenige Tage bis zum Start des eigentlichen Spektakels. Eva vermied den direkten Kontakt mit den armen Seelen, die mit ihrem Tod zur Stabilisierung der fragilen Gemeinschaft beitragen sollten. Mit der Flucht nach Prem hatte der scheinbar unerschütterliche Zusammenhalt mit jedem Tag abgenommen. Die Leidenschaft für die Ideale von Frieden und Liebe zu kämpfen, war längst verschwunden. An ihrer Stelle stand falsch verstandene Loyalität gegenüber dem Führer. Zwang ersetzte die Hingebung und würde am Ende zum Untergang führen. Unschuldige bezahlten mit ihrem Leben, um das unausweichliche Scheitern ein paar Wochen hinauszuzögern. Ein unnötiges Töten und sie hatte maßgeblichen Anteil daran. Die künftige Reue war förmlich spürbar. Keine erstrebenswerte Zukunft. Noch hatte sie es in der Hand den Verlauf der Dinge zu ändern. Nicht nur um der Gejagten willen. Ihr eigenes Seelenheil war an das Schicksal der Gefangenen gebunden.
Für diese bestand die Möglichkeit ihr Sklavendasein zu beenden und als freie Menschen die Insel zu verlassen. Falsche Hoffnungen, die dem blutrünstigen Schauspiel ein Anstrich von Fairness verpassen sollten. Doch niemand würde entkommen, denn im Grunde ging es darum die größer werdenden Zweifel an der Sache mit fremdem Blut zu ersticken. Die im Alter von 16 bis 18 Jahren rekrutierten Jugendlichen wurden langsam erwachsen und es stellte sich als zunehmend schwieriger da, mit den immer gleichen Phrasen die Jünger zu begeistern. Brot und Spiele war ein geeignetes Mittel die Widersprüche zu ignorieren. Gib ihnen genug zu essen und etwas Zerstreuung in blutigen Schauspielen, schon wirken der Bürgerkrieg, Lager und sonstiges Elend weniger deprimierend. Garniert mit der ständig vorherrschenden Angst ergeben sich dem Führer treue Untertanen. Noch hatte der Führer Erfolg damit, aber auch dieses Mittel der Unterdrückung funktionierte nicht ewig.
In ihrer alten Position hatte sie den Handel mit der intergalaktischen Händlerin Ruby betreut. Der Tempel fragte kurzfristig nach möglichen Sklaven an und Ruby konnte liefern, da Ware, Position der Kundschaft und Zeitpunkt der Anfrage in glücklicher Konstellation standen. So kam für beide Seiten ein gutes Geschäft zu Stande und dass obwohl einer der Sklaven verletzt war. Der Lagerarzt, mehr Metzger als geschickter Heiler weidete ihn förmlich aus. Selbst in der abgestumpften Atmosphäre des Tempels konnte Eva ihre Abneigung gegenüber dem sinnlosen Tod nicht ganz unterdrücken. Dieser Unschuldige diente dem Tempel, indem er unfreiwillig sein Leben hergab. Wie wollten sie eine gerechtere Gesellschaft erschaffen, wenn sie auf solche Mittel zurückgriffen.
Die Organe des armen Teufels wurden in der Hauptstadt an Mittelsmänner verkauft, die sie an Krankenhäuser weiterverkauften, wo sie schlussendlich hohen Funktionären der Inc. ein längeres Leben ermöglichten. Zum wiederholten Male fragte sich Eva anhand der Geldströme, ob der Führer eine Zeit nach dem Tempel plante. In den letzten Wochen bestand sein Interesse mehr im Anwachsen des Kontostandes und der Anbiederung bei einigen hohen Mitgliedern der Inc. Die Gemeinschaft musste immer größere Entbehrungen ertragen, während das Geld unangetastet in der Bank Rendite erwirtschaftete oder in den Unternehmen der Inc. investiert wurde.
Sie beobachtete die Gefangenen aus der Ferne und fragte sich gelegentlich, welche Geschichten hinter ihren Schicksalen standen. Die meisten hatten Angst, aber ausgerechnet die einzige Frau in ihrer Mitte wirkte von innerer Wut getrieben, fest entschlossen sich nicht so einfach aufzugeben. Ihre Vergangenheit hatte sie bereits abgehärtet und der Aufenthalt auf Lassik schien nur ein weiterer trauriger Höhepunkt in einer Kette von zu meisternden Schicksalsschlägen zu sein. Sie bewunderte ihre Stärke, mit der sie sogar Kain die Stirn geboten hatte. Dieser revanchierte sich für die Unverfrorenheit während der ersten Begegnung mit gelegentlicher Isolation von den anderen Gefangenen. Eva nutzte diese Gelegenheit, um zwei Tage vor der Jagd persönlichen Kontakt aufzunehmen.
Sie befahl der Wache vor der Tür sie zehn Minuten allein zu lassen. Mit pochendem Herzen öffnete sie das Schloss zu dem Raum, in dem die Gefangene saß. Sie war sich nicht sicher, warum sie das tat, aber ihre Intuition zwang sie dazu. Vielleicht glaubte sie, dass ein gewisser Anteil ihres Selbstvertrauens auf sie überginge. Womöglich schaffte sie es eigene Kraft in ihrer Stärke zu finden. Im schlimmsten Fall suchte ihr Gewissen eine Rechtfertigung für die furchtbaren Dinge, die Eva vorbereitete. Im Grunde war es irrelevant, sie wusste nur eins. Nach dieser Begegnung musste sie eine Entscheidung treffen.
Sie betrat den Raum und sofort trafen sich ihre Blicke. Es war unangenehm in ihre anklagenden Augen zu schauen. Diesem unerschütterlichen Selbstvertrauen konnte sie nur schwer was entgegensetzen. Sie wollte etwas fragen, aber die Zeit für Worte war noch nicht gekommen. Es galt ihre vermeintlich stärkere Position zu behaupten und das ging nur über Körpersprache. Selbstsicher steuerte Eva auf den Tisch zu, ohne ihren Blick abzuwenden. Es war wichtig Dominanz zu zeigen, denn sie wollte aus einer Position der Stärke mit ihr reden. Jeder ihrer Schritte wurde regungslos beobachtet, bis sie sich gegenübersaßen.
Fünf Minuten lang fiel kein einziges Wort. Bewegungslos musterten sie sich gegenseitig, denn keine der beiden wollte ihre Schwäche damit zum Ausdruck bringen, indem sie zuerst den Blick abwandte oder zu sprechen begann. Dieser Wettstreit um das erste Blinzeln änderte sich nach ein paar Minuten von Rivalität in eine unheimliche Verbindung von gemeinsamem Schmerz.
Eva konnte sich des Eindrucks nicht erwehren in einen Spiegel zu schauen. Ihr gegenüber saß eine Frau im gleichen Alter mit ähnlicher Entschlossenheit und demselben Gefühl vom Leben enttäuscht worden zu sein. Einsamkeit und die Wut über Verrat waren so eindeutig zu erkennen, wie der Schmerz über den Verlust eines geliebten Menschen. Was aber tatsächlich dieses verrückte Gefühl von Seelenverwandtschaft erzeugte, war die Gewissheit einer viel zu früh beendeten Kindheit. Auch sie hatte diesen einen Moment, der sie zwang, schneller erwachsen zu werden, als ihr gut tat. Dass alles erkannte sie, ohne jegliche Kommunikation oder Bewegung. Sie verstand diese Frau, obwohl sie nicht ein einziges Wort gewechselt hatten. Ihre gescheiterten Träume, ihre verlorene Jugend, die Angst falsche Entscheidungen zu korrigieren und ihren moralischen Kompass zu justieren. Die Aussicht auf ein Leben in allen Facetten menschlichen Leids in Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft einte sie mit ihr. Konfrontiert mit der bitteren Wahrheit, war ihr zum Weinen zu Mute, aber sie musste stark sein. Sie konnte sich jetzt nicht fallen lassen, auch wenn ihre Seele etwas einforderte, was sie lange nicht bekommen hatte.
„Und? Wollen wir uns jetzt bis in alle Ewigkeit gegenseitig bedauern?“, unterbrach die Gefangene das Schweigen. Also war das Gefühl des geteilten Leids keine Einbahnstraße. Auch sie hatte diese Verbundenheit im Schmerz gespürt. Eva wollte etwas Vertrauen aufbauen.
„Wie heißt du?“, fragte sie so freundlich wie möglich. Die Jahre im Tempel hatten ihre Umgangsformen gegenüber Nichtmitgliedern verkümmern lassen, daher wirkte ihre Höflichkeit aufgesetzt.
„Seit wann wollt ihr denn Namen wissen? Ein Grabstein ist doch gar nicht vorgesehen“, bekam sie als schnippische Antwort.
„Ich heiße Eva“, versuchte sie das Eis zu brechen.
„Die Frau, die im Paradies wohnt. Das ist wahre Ironie.“
„Verrätst du mir deinen Namen?“ Es war wichtig nicht verunsichert zu wirken. Die Gefragte beugte sich über den Tisch, so dass ihre Gesichter nur durch wenige Zentimeter Luftlinie voneinander getrennt waren. Sie schaute Eva fünf Sekunden lang tief in die Augen, als ob sie erst prüfen müsste, ob sie es wert wäre ihren Namen zu erfahren.
„Dina. Es wird dir aber nicht helfen dein schlechtes Gewissen zu beruhigen, nur weil du jetzt weißt, wen ihr da hinrichtet“, antwortete sie leise.
„Es tut mir leid“, kam es noch leiser zurück. Dina hatte einen wunden Punkt getroffen und sie damit kurz aus der Fassung gebracht.
„Irgendwann ist dieser ganze Zauber mit dem Tempel des Friedens vorbei und wenn du Glück hast, überlebst du sogar die ganze Sache, lernst einen netten Kerl kennen, gründest eine Familie und ihr zieht ins Grüne. Das volle Programm, bis zum weißen Gartenzaun. Wenn dann klein Eva vor dir steht und fragt: Wie war das damals mit dem Tempel? Dann wirst du dich vielleicht an meinen Namen erinnern.“ Sie lehnte sich wieder zurück und fuhr fort.
„Merke dir diese vier Buchstaben. Sie werden auf Lebenszeit mit dem Mist verbunden sein, der hier abgehen wird.“
Das hatte gesessen und Evas Selbstsicherheit zum Einsturz gebracht. So tief unten im Tal der Zweifel kam ihr die Erleuchtung über den wirklichen Grund dieses Besuches. Kain hatte ihr eine Alternative zu Flucht oder Tod aufgezeigt und ihr Unterbewusstsein hatte diese süße Versuchung schleichend in ihren Verstand eingeschliffen. Ein Leben voller Privilegien, wenn sie nach seinen Regeln spielte, brav die Beine auf Kommando breitmachte und niemals aufmuckte. Die Intrigen, die Denunziationen, die Demütigungen, das Gefühl ständig in Angst leben zu müssen, bis hin zum Töten von Unschuldigen waren der Preis für ein angenehmes Leben. Dina hatte ihr die negativen Konsequenzen schonungslos dargelegt. Besser noch, sie hatte ihr eine verbale Ohrfeige verpasst und ihr damit diese Option endgültig ausgetrieben. Es wurde Zeit endlich ins Handeln zu kommen. Nicht nur ihre Schwester brauchte Hilfe. Woran es ihr bisher mangelte, war Entschlossenheit. Mit neuer Tatkraft wusste sie, was zu tun war.
„Wir sehen uns morgen wieder.“ Sie stand auf und ging zur Tür, ohne noch einmal zurückzuschauen.
Der Tag vor den Spielen war ausgefüllt mit organisatorischen Sachen. Kain und seine Leute hatten alles gut vorbereitet und für Eva beschränkten sich die Aufgaben auf die Kontrolle des geplanten Ablaufs. Der Saal im Hauptgebäude sollte die Bühne für das Spektakel darstellen. Die technischen Gegebenheiten für die Übertragung wurden umfassend getestet und die Einzelheiten des eigens dafür hergerichteten Büffet diskutiert. Eine Auswahl an Waffen wurde bereitgestellt und Kains Ansprache an die Gemeinschaft überarbeitet. Jeder fieberte auf diesen speziellen Tag hin, der mit einem hohen Feiertag gleichgesetzt werden konnte. Die komplette Aufmerksamkeit lag auf der bevorstehenden Jagd. Für Eva bestand dadurch die Möglichkeit trotz ihrer knappen Zeit sich am Abend wieder bei Dina einzufinden.
„Ihr werdet eure Freiheit nicht an der Küste finden, selbst wenn ihr sie erreichen solltet“, begann sie die Unterhaltung. Dieses Mal dauerte es keine zehn Sekunden für die ersten Worte.
„Was du nicht sagst“, antwortete ihr Dina.
„Wenn ihr überleben wollt, müsst ihr euch an mich halten.“ Sie konnte nicht lange bleiben und sah sich daher genötigt ihren Entschluss im Eiltempo zu verkünden.
„Ihr habt dreißig Stunden Zeit, um hier ins Lager zurückzukommen. Ich werde die Insel mit dem Boot verlassen. Wenn ihr es schafft bis dahin hier zu sein, sollt ihr eure Möglichkeit bekommen den Wahnsinn zu überleben.“
Sie holte eine Karte aus ihrer Tasche.
„Leider kann ich euch nur damit helfen.“ Sie legte die Karte ausgefaltet auf den Tisch.
„Versucht die alte Stadt zu erreichen. Da habt ihr die beste Möglichkeit euch eurer Verfolger zu entledigen. Sie werden Bewegungssensoren benutzen, um euch zu lokalisieren. Nutzt die wilden Schafe, um unsichtbar zu bleiben. Auf der ganzen Insel gibt es Herden. Die Sensoren können sie nicht von euch unterscheiden. Mehr kann ich für euch nicht tun. Ich werde nicht warten. Eure Chancen sind immer noch sehr gering, aber ich fürchte mehr ist nicht drin.“
Dina musterte schweigend die Karte und hielt sich mit Kommentaren zurück. In der Kürze der Zeit konnte Eva nicht mehr tun. Das Zuschanzen des Papiers war ein enormes Risiko und trotzdem blieb das Gefühl mit dieser einfachen Aktion nur ihr schlechtes Gewissen beruhigen zu wollen. Diese Frau hatte ihr die notwendige Entschlossenheit verschafft das Kapitel Tempel endgültig zu beenden. Auf dem Höhepunkt der Jagd wollte sie mit einem Boot die Insel verlassen. Eine willkommene Ablenkung, die ausgerechnet Dinas Tod bedeuten würde. Diese moralische Ungerechtigkeit konnte Eva nicht einfach akzeptieren. Sie wünschte mehr tun zu können, doch dafür fehlten ihr Zeit und Mittel. Die Gefangenen mit in die Flucht einzubeziehen, fand sie als gerechtfertigt, auch wenn das ihre eigenen Chancen auf ein Entkommen verringern würde. Zu oft hatte sie in ihrer Vergangenheit gegen ihre Natur gehandelt. Sie wollte ihr neues Leben nicht wieder unter den falschen Voraussetzungen beginnen.
„Viel Glück“, brachte sie noch heraus und wollte gehen.
Dina stand auf und kam auf sie zu. Zum ersten Mal war keine Wut oder Leid in ihrem Gesicht zu erkennen. Eva glaubte einen Funken Hoffnung zu sehen, aber das ordnete sie als Selbsttäuschung ihres Gewissens ein. Mit einem fordernden Lächeln nahm Dina Evas Kopf zwischen ihre Hände und presste ihre Lippen auf Evas. Sie küsste sie so leidenschaftlich, dass Eva aus Überraschung jegliche Gegenwehr unterließ. Nach etwa zwei Sekunden ergab sie sich dem Angriff und entgegnete den Kuss ihrerseits. Erfasst von ihren Gefühlen war plötzlich Zeit irrelevant. Schmerz war irrelevant, sogar die Aussicht auf Tod rückte in den Hintergrund. Dieser Augenblick fühlte sich an, als würde das ganze Universum nur für diesen einen Moment existieren. Ihre undefinierbare Verbindung erreichte neue Höhen. Die gemeinsame Sehnsucht nach Zuneigung vertiefte das unsichtbare Band der Seelenverwandtschaft. Der jahrelange Mangel an Zärtlichkeit und Leidenschaft ließ sie den Augenblick genießen. Vielleicht war es für beide die letzte Gelegenheit auf diese Art von Empfindungen. Keine von beiden konnte sich sicher sein die nächsten Tage zu überleben und so ergaben sie sich dem Augenblick.
„Mein letzter Kuss soll nicht von einem Mann gewesen sein“, sagte Dina, als sie sich trennten. Eva kämpfte mit den ungewöhnlichen Gefühlen. Es dauerte eine Weile, ehe sie ihre Fassung zurückerlangte. Es war lang her, dass sie so ehrliche Emotionen durchlebt hatte. Im Tempel herrschte für gewöhnlich eine Mischung aus Heuchelei und Angst. Diesen Kuss empfand sie als einen Vorgeschmack dessen, was sie für den Fall ihres Überlebens hoffentlich im Überfluss haben würde. Ehrlichkeit.
Evas Nacht war unruhig. Der vergangene Tag hatte jede Menge Stoff für seltsame Gedanken geboten und verhinderte einen erholsamen Schlaf. Dabei ging es nicht ausschließlich um Dina und ihren verwirrenden Kuss. Die ungewisse Zukunft mit all ihren möglichen Varianten hielt sie zusätzlich wach. Der kommende Tag war wegweisend für ihr weiteres Schicksal und so versuchte sie die einzelnen Szenarien im Geiste durchzugehen. Im schlimmsten Fall waren nach kurzer Zeit alle tot. Das würde ihr wenig Zeit geben bei der Flucht, da die Karte sie schnell als Helferin entlarven würde. Sollte sich die Gruppe gegen alle Erwartungen behaupten, drohte Eva ein moralisches Dilemma. Das quälte sie mehr als sie sich eingestehen wollte. Was wenn die dreißig Stunden nicht ausreichen, um zurück ins Lager zu gelangen? Würde sie ihnen mehr Zeit geben oder war sie egoistisch genug allein die Insel zu verlassen? Eva hoffte sich dieser Frage nicht stellen zu müssen. Die Ungewissheit ermüdete sie, ohne dass sie in erlösenden Schlaf verfiel. Am nächsten Morgen kam eine Störgröße hinzu, die alle Überlegungen überflüssig machte.
Unausgeschlafen stand sie am nächsten Morgen Kain gegenüber. In Erwartung der letzten organisatorischen Aufgaben war sie bereit sich dem bisher bedeutendsten Tag ihres Lebens zu stellen.
„Meine Liebe, für Sie habe ich heute Morgen einen Sonderauftrag, der zugegeben etwas kurzfristig kommt.“ Kain hatte das Talent unangenehme Sachen mit reinster Unschuld zu verkünden.
„Der vierte Zug besteht bedauerlicherweise nur aus fünf Mitgliedern. Daher ist eine Aufstockung notwendig. Ich habe Sie dafür vorgesehen“, sagte er in einem bestimmenden Tonfall, der jeden Widerspruch von vornherein ausschloss.
Eva brauchte einen Moment, um das Gesagte zu verdauen. Kain nahm ihr die nächstliegende Frage vorweg.
„Sie wollen sicher wissen wieso ausgerechnet Sie? Das kann ich Ihnen beantworten.“ Kain lauerte auf ihre Reaktion. Für Eva war es schwer die Fassung nicht zu verlieren.
„Ich bin mir nicht sicher, ob sie Ihren neuen Posten wirklich mit der von mir geforderten Professionalität ausfüllen“, sagte er streng. Unkonkrete Andeutungen gehörten zu Kains berüchtigten Taktiken, um Leute zu verunsichern. Dieses psychologische Zermürben verfehlte seine Wirkung nicht.
„Außerdem gibt es ja eine weibliche Gegenspielerin. Genau da setzen wir an. Ihnen wird es vorbehalten sein, sich der Frau anzunehmen. Es wird ein erhebendes Schauspiel. Der Kampf der Amazonen.“ Seine Stimme klang jetzt begeistert. Evas Gedanken überschlugen sich. Sind Dina und sie gestern beobachtet worden? War ihr Kuss nicht unbemerkt geblieben? Vielleicht hatte sie die Tür in ihrem Eifer nicht richtig geschlossen. Sie versuchte sich zu erinnern. Ihre Aufregung war so groß gewesen, dass es durchaus möglich war. Niemand war ihr aufgefallen, aber innerhalb dieser Gemeinschaft aus Misstrauen und Bespitzelung war heimliche Beobachtung nicht unwahrscheinlich. Wusste Kain bereits von ihrem Verrat? Kannte er sogar ihren Fluchtplan? Dann wäre sie längst beim Führer. Vielleicht spielte er nur mit ihr. Das gekränkte Ego, weil sie eine Gefangene in Sachen Zuneigung ihm vorzog? In dem Fall wäre sie einem perfiden Racheplan ausgesetzt.
„Es wäre hilfreich, wenn Sie mir Ihre Zweifel erklären könnten, damit ich in Zukunft meine Arbeit besser erledigen kann“, versuchte sie ihm Informationen zu entlocken. Dummerweise fehlte ihr die nötige Selbstsicherheit, um auf Augenhöhe zu agieren.
Kains wissendes Lächeln über diese Tatsache raubte ihr den Rest an Zuversicht. Er würde sie weiter im Unklaren lassen, so viel war sicher.
„Jegliche Zweifel sind beseitigt, wenn Sie uns da draußen eine gute Vorstellung liefern.“ Damit war für Kain die Diskussion beendet. Eva fehlte der Mut für weitere Versuche der Informationsgewinnung.
Sie musste ihre Gedanken ordnen, um die durchkreuzten Pläne ihrer Flucht anzupassen. Wollte er ihre Loyalität testen oder war es wie vermutet ein ausgeklügelter Racheplan? Die Antwort war irrelevant. Was immer Kain auch vor hatte, es spielte keine Rolle. Es gab kein Zurück mehr. Mit dem Überreichen der Karte hatte sie ihren Weg bestimmt. Das Ziel war klar, nur die Spielregeln hatten sich geändert. Vermutlich nicht zu ihren Gunsten. Sollte ihre geplante Flucht bekannt sein, würde sich das Unweigerliche nur verzögern und ihr Tod diente einzig zur Befriedigung von Kains Ego. Vielleicht war das sein Schwachpunkt, den sie ausnutzen konnte. Noch hatte sie eine Chance auf Überleben.
Der vierte Zug bestand aus Soldaten, denen das Mantra aus Liebe und Erleuchtung egal war. Ihre Rekrutierung erfolgte in einer Phase, in welcher sich die Begeisterung für den Tempel innerhalb der Bevölkerung auf dem Höhepunkt befand. Der Führer hatte eingesehen, dass die pazifistische Ausrichtung allein keinen Wechsel bewirken würde. So begann er den paramilitärischen Arm der Gemeinschaft aufzubauen und benötigte dafür willige Anhänger, die bereit waren alles Notwendige jenseits von Skrupel und Moral zu tun. Der Bodensatz von Lassik sollte notwendige Drecksarbeit erledigen, ohne groß der Doktrin des Tempels folgen zu müssen. Am Anfang schüchterten sie politische Gegner ein, aber mit der Zeit fanden sie Gefallen daran die Ansichten des Tempels von Frieden und erfülltem Leben auch Unschuldigen in Form von Prügel zu vermitteln. Nach der notwendigen Flucht waren sie größtenteils für die Lagersicherheit zuständig, sollten aber auch im Falle eines Angriffs die erste Verteidigungslinie bilden.
Das mangelnde Interesse der Inc. dem vermeintlichen Bürgerkrieg Substanz zu geben, beschränkte ihre Aufgaben auf militärischen Drill und die Kontrolle der internen Strukturen. Kain verkörperte den Anführer als eine Art Feldherr. Die Soldaten sahen sich als überlegene Kaste und im Zusammenspiel mit militärischer Langeweile entstanden Spannungen innerhalb des Lagers. Einzig im geplanten Schauspiel gab es uneingeschränkten Zusammenhalt. Ein falsches Gefühl von Kameradschaft, dass mit dem Blut Unschuldiger genährt werden sollte.
Auf der anderen Seite wurden Mitgefühl, Liebe und Freude Stück für Stück ausgemerzt. Die Gemeinschaft entwickelte sich zu einer elitären Gesellschaft mit eigenwilligen Regeln und der Abneigung gegenüber allem Fremden. Die Welt außerhalb des Tempels war minderwertig geworden und bei nicht wenigen Bewohnern zeigten sich offene Gefühle von Hass gegenüber den Ungläubigen. Diese Ansichten rechtfertigten das Töten, doch Eva konnte sich mit diesem Feindbild nie identifizieren. Mitgefühl war die ursprüngliche Basis ihrer Bewegung gewesen und sie konnte nicht verstehen das genau dieser Grundfeiler so bedenkenlos aufgegeben wurde. Die Gruppe zurückzuführen zu den grundsätzlichsten menschlichen Gefühlen war unmöglich geworden. Diesen Weg musste sie allein gehen. Dina hatte ihr einen kurzen Einblick jenseits dieses Wahnsinns gezeigt. Viel zu lange hatte sie auf Menschlichkeit verzichten müssen. Egal ob Tod oder Freiheit. Sie war bereit diese Vergangenheit hinter sich zu lassen.
Der vierte Zug brachte ihr nichts als Ablehnung entgegen. Ob nun Sprache, Geschlecht oder Dienstrang, alles machte sie zur Außenseiterin. Dirk als Gruppenführer war genauso berüchtigt wie gefürchtet und hatte mit seiner einschüchternden Art auch ohne große Worte klargemacht, dass ihr Offiziersrang für ihn keinerlei Bedeutung hatte. Den leitenden Posten hatte er sich durch besondere Brutalität erarbeitet und den würde ihr ein Püppchen aus besserem Hause nicht streitig machen. Offensichtlich zierten seine Vita bereits mehrere Todesfälle durch Gewalteinwirkung. Niemand war so dumm ihn auf irgendeine Weise zu provozieren. Wer konnte ging ihm aus dem Weg, was ihn nach seinen eigenen Vorstellungen nach dem Führer und Kain zur dritt wichtigsten Person im Lager machte.
Seine moralfreie Ansicht über Gewalt machte ihn nicht zwangsweise zu einem guten Soldaten. Kain hatte seine Mühe ihn an die Befehlskette zu gewöhnen und so gab es oft Widerworte bei unangenehmen Befehlen. Die mangelnde militärische Disziplin übertrug sich auf den gesamten Zug und wäre im Ernstfall eines Kampfes vermutlich ihr verfrühtes Todesurteil. Das Wissen über das Töten täuschte nicht über die Unfähigkeit hinweg einen Konflikt gegen halbwegs ausgebildete Soldaten zu überstehen. Der vierte Zug glich eher einer Truppe rauflustiger Heranwachsender und war weit entfernt von einer erfahrenen Kampfeinheit.
In den nächsten zwei Tagen durften Dirk und seine Untergebenen ihren Blutdurst im Wald von Prem stillen. Damit ihr großer Auftritt im Lager auch anmessend bewundert werden konnte, wurde jeder mit einer mobilen Kamera ausgestattet. Das gab den Mitgliedern des vierten Zugs die Möglichkeit ihr selbsterschaffenes Bild einer elitären Kaste innerhalb des Lagers zu festigen. Eva als Außenstehende war da hinderlich und dementsprechend ungewollt bei der Umsetzung brutaler Fantasien. Seit langer Zeit hatte sie wieder das Gefühl nicht dazu zugehören. Sollte sie tatsächlich überleben und endlich die Gemeinschaft verlassen können, würde genau diese Fremde ihr zukünftiges Leben bestimmen.
Kain zelebrierte die Waffenübergabe mit einem Überschwang an Lob für den Führer. Die Huldigungen nahmen kein Ende und alle Anwesenden hatten Mühe ihre Langeweile hinter den antrainierten Gesichtszügen aus Unauffälligkeit zu verbergen. Dirk und seinen Leuten war es vorbehalten die Stimmung wieder aufzuheizen. Mit militärischen Schlachtrufen läuteten sie den Beginn der bevorstehenden Jagd ein. Angst machte sich bei den Gefangenen breit, nachdem die Waffen mit ihren verheerenden Wirkungen präsentiert wurden. Die Stimmung im Lager befand sich auf dem Siedepunkt, als einer der Gefangenen sich erdreistete mit gezielten Worten seine Peiniger zu verunsichern. Der vorherrschende Blutdurst bekam seinen ersten Dämpfer, als mit Unmengen an Selbstvertrauen eine Gegenwehr verkündet wurde, die mögliche Opfer bei Dirks Leuten versprach. Plötzlich verursachte die mangelnde Ausbildung Zweifel bei den Jägern. Vielleicht waren sie gar nicht so überlegen, wie ihnen die jubelnde Menge suggerierte. Dirk hätte mit ein paar heroischen Worten die einsetzenden Bedenken über die eigenen Defizite hinwegfegen können, doch seine Führungsqualitäten begrenzten sich auf das Erteilen von Befehlen. Diese Ansprache der vermeintlich einfachen Beute versicherte ihnen, dass es Blut nicht ausschließlich bei den Verfolgten geben würde.
Dieses seltsame Verhalten der Gefangenen brachte Eva die Ereignisse in Erics Laden in Erinnerung. Die abgenommenen Blutproben hatten eine Kette von Ereignissen in Gang gesetzt, die auf etwas Ungewöhnliches innerhalb der Gruppe hindeuteten. Das rebellische Verhalten des Anführers könnte damit in Zusammenhang stehen. Etwas stimmte nicht und machte die kommenden Ereignisse undurchschaubar. Eine Unbekannte, die ihre unmittelbare Zukunft in eine vollkommen andere Richtung lenken könnte. Diese Jagd dort draußen im Wald war nicht nur für ihr eigenes Schicksal maßgebend entscheidend. Vielleicht würde es den Tempel des Friedens in einer Weise verändern, die den Führer zu drastischen Maßnahmen nötigte.
Sie hatte mit Dina nur kurz einen Blick austauschen können, der ihr trotz Kains kurzfristiger Änderung versicherte, dass alles beim Alten blieb. Ihre Schicksale waren jetzt unwiderruflich miteinander verbunden, egal welchen Verlauf die Geschehnisse nehmen würden. Es gab nur Flucht oder Tod und das gemeinsam.
Nachdem Dina und ihre Gruppe im Wald ausgesetzt wurden, zog sich Dirk mit seinen verunsicherten Soldaten zur Taktikbesprechung zurück. Eva als Außenseiterin hatte keinerlei Mitspracherecht und musste schweigend die teils naiven Vorschläge für das Aufspüren ertragen. Am Ende einigten sie sich auf das Offensichtliche. Sensoren detektierten zuverlässig jede Bewegung innerhalb eines vorgegebenen Radius und wurden als bevorzugtes Mittel auserkoren. Auch wenn dieses Briefing an Lächerlichkeit kaum zu übertreffen war, schmerzte sie das Gefühl der Ausgrenzung. Wie sehr hatte sie sich an die Gemeinschaft und ihre Aufgabenteilung gewöhnt. Sich innerhalb einer großen Bewegung einzubringen, hatte ihr Halt und Führung gegeben. Bei dieser Unternehmung war sie nur unnötiger Ballast, der alles kompliziert machte. Es traf sie härter als gedacht.
Als Waffe bekam sie eine Pistole mit sechs Schuss Munition. Laut Dirk waren das fünf Kugeln zu viel, denn seiner Meinung nach genügte eine Patrone für ihre eigentliche Aufgabe der Eliminierung von Dina. Kains Missbilligung über die mangelnde Ausrüstung zwang ihn, ihr wenigstens ein volles Magazin zu überlassen. Die genetische Verriegelung verhinderte einen Missbrauch für Außenstehende. Tatsächlich konnte niemand Anderes außer ihr einen Schuss abfeuern. Jede der eingesetzten Waffen war auf ihren Besitzer codiert. Einzige Ausnahme war das Scharfschützengewehr von Kossak. Eine altertümliche Waffe, die in Zeiten aussterbender Hochtechnologie sich mehr und mehr Beliebtheit bei Söldnern erfreute. Ersatzteile und Munition ließen sich mit gewissem handwerklichem Geschick leicht selbst herstellen.
Kain gewährte den Gefangenen drei Stunden Vorsprung. Nach der taktischen Besprechung blieb Eva nur das Warten. Dieses Gefühl des Nichtstuns war ihr fremd geworden. Freizeit existierte innerhalb der Gemeinschaft nicht und so wusste sie mit dem geistigen Leerlauf nichts anzufangen. Im Lager galt Innehalten als Vorstufe zu Faulheit, was die Bewohner zu permanenten Tätigkeiten nötigte, wollte man nicht den Ruf eines Drückebergers erlangen. Durch die ständige Beschäftigung blieb keine Zeit über bestimmte Dinge intensiv nachzudenken oder sogar zu hinterfragen. Im Angesicht des nahenden Spektakels galten diese unausgesprochenen Regeln nicht. Trotzdem war sie froh, als der Flugtransporter sie in den Wald brachte, um endlich ins Handeln zu kommen. Die Müdigkeit war längst der vollen Konzentration gewichen. Die Jagd begann, nur war sie sich unsicher, ob sie als Jäger oder Beute in dieses blutige Spiel einstieg.
Sie wurden an derselben Stelle abgesetzt, wie die Gefangenen drei Stunden zuvor. Vom ersten Moment an versuchte Dirk sich als souveräner Anführer den Kameras zu präsentieren. Abgesehen von Eva hatte jeder Soldat ein Ortungsgerät dabei und so ließ er es sich nicht nehmen bedeutungsvoll nach den Ergebnissen zu fragen.
„Was hast du an Bewegungen?“, fragte Dirk den nervös wirkenden Juth.
„Scheiße. Ich habe jede Menge Signale, aber nichts Eindeutiges, was diese Penner anzeigt.“ Er wirkte leicht überfordert. Er war es nicht gewohnt vor Publikum zu agieren und dementsprechend zittrig klang seine Stimme.
„Lass mal sehen.“ Dirk schaute skeptisch, als würde Juth das Gerät falsch bedienen.
„Diese verdammten Viecher versauen uns die Ortung“, fluchte Dirk. Dina hatte wohl Evas Rat beherzigt und die wild lebenden Schafe als Unterschlupf genutzt. Diese Herden existierten bereits vor ihrer Ansiedlung auf Prem. Ursprünglich sollten sie als zusätzliche Nahrungsquelle in Zeiten von Hungersnöten dienen, aber das Elend war zum Glück nie so groß gewesen für die Notwendigkeit zum Verzehr von Fleisch. Was auf anderen Welten als Selbstverständlichkeit angesehen wurde, hatte sich auf Lassik nie durchgesetzt. Fleischkonsum galt als primitive Art der Nahrungsaufnahme und stempelte den Esser als Teil der Unterschicht ab. Durch diese Abneigung hatten die Schafe auf Prem nichts zu befürchten. Der Führer begrenzte die Population, hielt sich die Schafe aber als mögliche Nahrungsoption offen. Diese Weitsicht erschwerte der Jagdgemeinschaft das Handeln.
„Die sind cleverer als wir dachten“, bemerkte Frend und erntete einen missbilligenden Blick seines Anführers.
„Das wird ihnen nicht helfen“, erwiderte Dirk trotzig.
„Es gibt nur zwei Möglichkeiten, wo sie sich verstecken können.“ Er holte ein kleines elektronisches Pad hervor, auf dem die Karte der Umgebung das Display zierte. Aufgrund der Übertragung ins Lager, erörterte er seinen Plan übertrieben euphorisch. Er wollte entschlossen wirken, aber durch sein mangelndes Talent für Schauspielerei wirkten die Anweisungen aufgesetzt.
„Eine Herde dieser Viecher befindet sich im Norden. Die Aufklärung erfolgt durch Frend. Die andere Herde im Westen wird Dolph kontrollieren. Nur aufklären. Ist das klar?“, forderte er eine Bestätigung der Angesprochenen und bekam als Antwort ein mürrisches Nicken.
„Wir müssen wissen, wo sie sich verkriechen. Treffpunkt ist anschließend bei diesen Koordinaten.“ Er zeigte auf einen Punkt der Karte, der sich ungefähr mittig zwischen den potenziellen Aufenthaltsorten befand.
„Keiner unternimmt selbständig was. Wir werden koordiniert und gemeinsam vorgehen. Verstanden ihr …“ Noch schaffte er es Kraftausdrücke zu vermeiden.
„Kameraden“, schob er statt Maden hinterher.
„Eure Kameras bleiben die ganze Zeit an. Kommunikation geschieht einseitig. Ich gebe die Anweisung, ihr führt aus. Auf geht’s.“ Während Dolph und Frend ihre Aufklärungsmissionen starteten, machte sich der Rest der Gruppe auf zum Treffpunkt.
Beim Marsch dorthin zeigte sich die mangelnde militärische Erfahrung. Das chaotische Vorrücken geschah ohne Absicherung oder Aufklärung. Die Gruppe verließ sich vollends auf ihre Ortungsgeräte und solange die Umgebung frei von Bewegungen war, sahen sie erhöhte Vorsicht als nicht notwendig an. Am Ziel angekommen warteten sie auf Nachricht ihrer Kundschafter. Das Pad zeigte die Kamerabilder der beiden, die sich ihren Aufklärungspunkten näherten.
Es war Dolph vorbehalten den ersten Misserfolg zu verkünden. Seine Signale entpuppten sich ausschließlich als Schafe und so würde Frend höchstwahrscheinlich auf die Gruppe treffen. Gebannt schaute Dirk auf das Pad. Offensichtlich stand der entscheidende Teil der Mission unmittelbar bevor, denn die Perspektive deutete auf kriechende Fortbewegung hin. Dirk wurmte es den ersten Auftritt seiner Gruppe nicht höchstpersönlich präsentieren zu dürfen.
Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt und zwang Frend auf die Nachtsichttechnologie zurückzugreifen. Jedes Mitglied hatte ein brillenförmiges Gerät bekommen, das Körperwärme sichtbar machte und grundsätzliche Formen anzeigte. Diese Bilder wurden übertragen auf die mitgeführte Kamera, um dem Publikum im Lager auch im Dunkeln eine Vorstellung zu liefern. Dirks Pad zeigte die Konturen der von der Dunkelheit eingehüllten Objekte. Bäume und Sträucher waren nur zu erahnen, aber die Schafe glühten regelrecht auf dem Display. Langsam bewegte sich das Bild vorwärts in Richtung der Herde. Die Anspannung war unglaublich. Alle starrten gebannt auf das Pad und jeder wollte als erste ungewöhnliche Silhouetten erkennen.
„Wo stecken die Bastarde?“, fluchte Juth ungeduldig.
„Warte. Ich glaub hinter den beiden Viechern links habe ich was gesehen“, erwiderte Kossak.
Er lag falsch. Zu sehen war nur ein drittes Schaf, was einträchtig hinter den beiden anderen graste.
„Das gefällt mir überhaupt nicht“, murmelte Dirk in Vorahnung nahenden Unheils. Er schaltete das Kommunikationssignal an seiner Kamera ein.
„Frend, nicht weiter, das riecht nach einer Falle.“ Die ruckelnden Bewegungen hörten schlagartig auf. Er lag vollkommen ruhig da und wartete auf weitere Anweisungen.
„Das Signal hinter dir. Was ist das?“, fragte Dirk. Das Ortungsgerät zeigte einen Punkt in Frends Rücken an. Das Bild drehte sich und offenbarte den gerade passierten Abschnitt. Außer ein paar unscharfen Konturen von Bäumen war nichts zu erkennen. Was zum Teufel zeigte dieser Punkt an? Dirk dämmerte es, doch er kam nicht mehr dazu die passenden Befehle zu geben, denn erneut änderte sich die Szenerie auf dem Bildschirm. Erschrocken über die hektischen Bewegungen verfolgte er fassungslos das Geschehen. Irgendwas musste auf Frend gefallen sein, so viel konnte er sich zusammenreimen. War das ein Schrei? Auf den verwackelten Bildern konnte er nichts erkennen. Offensichtlich hatte Frend seine Deckung aufgeben müssen und war gezwungen aktiv zu werden. Erfolgte gerade ein Angriff? Dieser Punkt auf dem Ortungsgerät war mit Sicherheit kein Schaf gewesen. Die Bilder gaben immer noch keinen Aufschluss über die Situation und die chaotischen Geräusche verwirrten zusätzlich. Jammerte da jemand? Obwohl die Geschehnisse weiterhin unklar blieben, war sich Dirk über die Anwesenheit einer weiteren Person sicher.
„Verdammt, was ist los?“, brüllte er den Kommunikator an. Die Entscheidung einer harmlosen Aufklärung drohte in einem Fiasko zu enden. Der geplante Triumphzug des vierten Zuges bekam seinen ersten Makel. Die Kamera lieferte immer noch keine klaren Bilder, aber immerhin waren jetzt Schüsse zu hören. Plopp, plopp. Noch ein drittes Plopp. Das typische Geräusch einer elektromagnetisch angetriebenen Waffe. Das konnte niemals was Gezieltes gewesen sein, zu hektisch waren immer noch die Bewegungen.
„Hast du was getroffen?“
Alle Augen waren auf das Pad gerichtet, als die Kamera endlich zur Ruhe kam.
„Da,“ frohlockte Juth.
Ein leuchtender Körper befand sich im Visier von Frends Waffe. Der tödliche Schuss würde jeden Moment erfolgen.
„Erledige ihn“, zischte Dirk.
Das plopp löste die Anspannung. Erneut zeigte das Pad nur chaotische Bilder und Kampfgetümmel. Es war unmöglich zu sagen, ob der Schuss gesessen hatte. Offenbar war es noch nicht vorbei. Diesmal dauerte es nur wenige Sekunden, bis das Bild wieder ruhig war. Die Kamera lag seitwärts auf dem Boden und zeigte die Umgebung in beängstigender Perspektive an. Bedrückende Stille machte sich breit. Die Anspannung verhinderte eine Bemerkung über die Ereignisse.
„Scheiße Frend, was ist da los? Bericht Soldat“, durchbrach Dirk ungeduldig die unnatürliche Ruhe. Über eine Minute wirkte das Bild wie eingefroren. Seine Taktik mit Aufklärungsmissionen zuerst den Feind zu lokalisieren, schien erwartet worden zu sein. Schlimmer noch. Offensichtlich hatten sie ihr erstes Opfer zu verzeichnen. Die Ungewissheit über Frends Schicksal machte ihn wütend. Diese Demütigung konnte nicht ungesühnt bleiben. Der Drang jemanden wehzutun wurde übermächtig, doch leider bot sich nichts zum Dampf ablassen an. Was Dirk jetzt brauchte, war ein klarer Kopf, doch vorerst gab es kein Ende der Erniedrigungen. Seine Aufmerksamkeit wurde wieder auf das Pad gelenkt. Es kam Bewegung in den dunklen Wald und die Hoffnung auf einen siegreichen Frend wurde schnell enttäuscht. Plötzlich reichte es nicht mehr seinen Frust durch zufügen von Schmerz oder einfachem Tod zu betäuben. Die Ereignisse nahmen eine Wendung, die einzig und allein mit Grausamkeit gerächt werden konnten.
VI
„Es gibt keine Grenzen. Nicht für die Gedanken, nicht für die Gefühle. Die Angst setzt die Grenzen.“
Ingmar Bergmann
Mit Ausnahme der Landefläche war die Gegend dicht bewaldet. Noch schien die Sonne und ermöglichte ihnen eine grundlegende Orientierung. Der Flugtransporter entfernte sich und exotische Laute hüllten die Umgebung ein. Eine Symphonie an Vogelgezwitscher wurde begleitet durch das Zirpen von Grillen und in der Ferne waren stoßhaft vorgetragene Rufe eines paarungswilligen Nagetiers zu vernehmen. Der wilde Charakter von Prem erreichte seine nächste Stufe. Obwohl sie die letzten Wochen im Lager bereits die unangenehmen Entbehrungen der Insel schmerzhaft erfahren hatten, standen ihnen neue Herausforderungen bevor. Hier gab es zwar keine gefährlichen Tiere, aber das fehlende Dach über dem Kopf und der Mangel an halbwegs bequemen Nachtlagern konnten an solch regenreichen Orten wie Lassik schnell zum Verhängnis werden. Sie besaßen keinerlei Nahrungs- oder Wasservorräte und die unpassende Kleidung würde sie spätestens nach Sonnenuntergang frieren lassen. Nach den Erfahrungen der letzten Wochen setzte die Dämmerung in etwa drei Stunden ein. Wenn sie Pech hatten, fiel die Temperatur in den Minusbereich. Ausgerechnet heute gab es nur vereinzelte Wolken und so würde der ungewohnt klare Himmel für ausreichend Kälte sorgen. Ein zusätzliches Handicap im bevorstehenden Konflikt. Sentry war elendig zu Mute und das bisschen Zuversicht aus Plutos Ansprache war bereits dahin. Er hatte keine Idee, welche Richtung sie einschlagen sollten und hoffte das Dina oder Pluto wussten was zu tun war.
„Schauen wir mal auf die Karte, die sie uns gegeben haben“, setzte Pluto an.
„Vergiss es. Da wurden Details verändert oder weggelassen“, unterbrach ihn Dina.
„Vermute ich auch, aber mehr haben wir nicht“, erwiderte Pluto.
„Doch haben wir.“ Dina holte eine eigene Karte hervor und versetzte alle Anwesenden in Erstaunen.
„Woher …?“, setzte Pluto an.
„Ich habe meine Quellen“, verkündete Dina geheimnisvoll.
Pluto war sprachlos. Sie verglichen die einzelnen Exemplare miteinander und tatsächlich gab es Unterschiede hinsichtlich Wege und verlassenen Gebäuden.
Dina genoss den Augenblick Pluto überrascht zu haben. Sie wollte diesen Triumph weiter auskosten, indem sie ihn mit spitzen Bemerkungen provozierte, doch Sentry ging dazwischen, bevor sie auch nur ein Wort ansetzen konnte. Mittlerweile kannte er ihre Schwächen besser als sie selbst. Sie konnte keine Gelegenheit liegen lassen, Männern in angreifbaren Situationen weiter zuzusetzen. Ihre Abneigung gegenüber dem anderen Geschlecht war unübersehbar und nicht zum ersten Mal fragte er sich, ob es mit den Ereignissen rund um Red zu tun hatte oder ob ein Trauma in ihrer Vergangenheit der Auslöser war.
„Offenbar haben wir mehrere Optionen und wir sollten unsere Zeit nicht damit verschwenden gegeneinander zu arbeiten. Wenn wir überleben wollen, sollten wir zusammenarbeiten.“ Dina überlegte kurz, ob sie ihre geplante Provokation auf Sentry leiten sollte, sah aber die Notwendigkeit von Burgfrieden schlussendlich ein.
„Okay. Ich habe folgenden Plan“, begann sie zu erklären. Alle versammelten sich um die Karte und zum ersten Mal gab es das Gefühl von Schicksalsgemeinschaft.
Ihre souveränen Ausführungen konnten unmöglich spontane Eingebungen sein. Sie hatte diesen Plan bereits im Lager ausgearbeitet, soviel war sicher. In ihrer Isolation musste sie in Besitz dieser Karte gekommen sein und ebenfalls weitreichende Informationen über die Umgebung erhalten haben. Wie hatte sie das bewerkstelligt? Die offensichtlichste Option war der Einsatz weiblicher Reize, was im Falle von Dina allerdings eine enorme Überwindung gewesen wäre. Ihre Abscheu gegenüber männlicher Dominanz sprach gegen den Einsatz von Verführung als Waffe. Anderseits konnte er sie immer noch schwer einschätzen. Es war nicht die Zeit über mysteriöse unnahbare Frauen nachzudenken und so lauschte er ihren genauen Plänen.
Offenbar war der Wald nur an dieser Stelle so dicht. Nicht allzu weit nördlich gab es weite Ebenen, bevor ein riesiges Waldstück sich bis zur Küste erstreckte. Das Lager der Gemeinschaft befand sich innerhalb dieses Laubwaldes und die Informationsquelle offenbarte ihr die Vorgehensweise ihrer Verfolger. Mit hoher Wahrscheinlichkeit kamen Bewegungs- und Wärmesensoren mit fast unbegrenzter Reichweite zum Einsatz, was ihnen ein Verstecken unmöglich machte. Egal wo sie hingingen, ihr Aufenthaltsort war jederzeit bekannt. Für diesen entscheidenden Nachteil hatte Dina eine passende Idee parat, der sogar Pluto anerkennend zustimmte. Die einzigen größeren Tiere auf dieser Insel waren friedliebende Pflanzenfresser, die auf den Ortungsgeräten nicht von Menschen zu unterscheiden waren. Ehemalige Nutztiere, die wild in verschiedenen Herden auf der Insel verstreut grasten. Sollten sie vor Ablauf der drei Stunden eine dieser Herden erreichen, würden sie ihren Gegnern das Vorgehen zumindest erschweren. Ein kleiner Tümpel inmitten des nördlichen Waldes schien am vielversprechendsten für einen Aufenthaltsort der Tiere. Wenn sie zügig liefen, schafften sie die Distanz in zweieinhalb Stunden.
Vielleicht hatten sie Glück und trafen auf dem Weg dorthin bereits auf eine Herde. In ihrem Schutz wollten sie die erste Nacht überstehen und anschließend eine verlassene Stadt kurz vor der Küste aufsuchen. Pluto zeigte dem Plan seine Schwächen auf, die nicht von der Hand zu weisen waren. Ihre Jäger konnten bereits vor dem eigentlichen Start ihre Wege verfolgen. In diesem Falle wäre Dinas ausgeklügelter Plan hinfällig und ihnen drohte ein schnelles Ende.
Auch wenn alles regulär ablief, war es trotz der begrenzten Auffassungsgabe ihrer Verfolger nicht besonders schwer ihren Trick zur Überlistung der Ortungsgeräte zu erraten. Ihr potenzielles Versteck besaß dadurch eine begrenzte Haltbarkeit und war zudem abhängig von der Anzahl der Herden innerhalb eines drei Stunden Radius. Sollte es tatsächlich nur eine einzige davon geben, würden sie spätestens morgen früh angegriffen werden.
Die Gruppe versuchte dieses Szenario des schnellen Auffindens auszublenden. Es lag ohnehin nicht in ihrer Hand und so planten sie den anschließenden Tag mit jeder Menge Zuversicht. Die verlassene Stadt bot ideale Voraussetzungen für die unausweichliche Konfrontation, denn im Häuserkampf ergaben sich für sie einige Vorteile. Alle waren sich einig genau dort ihre Verfolger zu stellen, um Plutos Versprechen auf Schmerz bestmöglich umzusetzen. Auf der Karte von Dina war die Stadt eingezeichnet, während sie auf Plutos Pendant fehlte. Kain und seine Leute hatten aus gutem Grund kein Interesse diesen Ort als potenzielle Zuflucht anzubieten.
„Was dann?“, fragte Pius in seiner destruktiven Art und Weise.
„Nehmen wir an das klappt alles so schön, wie das euren Hirngespinsten entsprungen ist. Was dann? Wie wollen wir unbewaffnet gegen sie vorgehen?“
„Da wird sich schon was finden. Ist abhängig von den örtlichen Gegebenheiten“, sagte Dina beiläufig und Sentry rechnete es ihr hoch an, dass sie ihn nicht komplett ignoriert hatte.
Offenbar reichte das Pius nicht. Die Angst drohte seinen Verstand zu kapern. Die Aussicht auf gewalttätige Auseinandersetzungen überforderte ihn zunehmend. Die geistige Kernschmelze stand unmittelbar bevor, doch wieder schaffte es Pluto die tickende Zeitbombe rechtzeitig zu entschärfen. Er hatte eine gute Art mit Leuten umzugehen, die ihm den nötigen Respekt zollten.
„Hör zu. Wir überleben das, okay? Dafür brauchen wir klaren Kopf. Angst ist gut, doch nutze sie als Antrieb, nicht zur Resignation. Wenn du aufgibst, haben die bereits gewonnen. Ich kenne diese Typen.“ Er wandte sich jetzt an die ganze Gruppe.
„Das sind keine Soldaten, höchstens Schläger. Wenn wir uns wehren, haben sie schneller die Hosen voll als ein Kleinkind. Also zeigen wir ihnen, dass sie sich dieses Mal mit den falschen angelegt haben.“ Pius riss sich tatsächlich zusammen. Für den Moment schien er stabil.
Sie machten sich auf den Weg. Nach der Ansprache akzeptierte Dina Plutos Führungsrolle. Vorerst jedenfalls. Die klaren Hierarchien stärkten den Zusammenhalt und die Zuversicht die nächsten Tage zu überleben, war nie größer. Stress und Angst waren trotzdem die vorherrschenden Empfindungen innerhalb der Gruppe. Die Bewältigung praktizierte jeder auf seine eigene Art. Während Dina und Pluto durch Stärke überzeugten, versuchte sich Sentry bei gelegentlichen Disharmonien als Vermittler. Offensichtlich besaß er ein diplomatisches Talent, das die beiden vor größeren Auseinandersetzungen bewahrte. Es beruhigte ihn eine Aufgabe zu haben und damit den Frieden zu erhalten. Wie in einer guten Beziehung einigten sich die beiden dank seiner Hilfe bei unterschiedlichen Auffassungen auf Kompromisse.
Pius kanalisierte seine Angst, indem er unentwegt die Ausweglosigkeit ihrer Situation wiederholte. Er konnte es nicht lassen schreckliche Szenarien zu entwerfen und begab sich damit in eine Spirale der Selbstzweifel und Resignation. Als seine negativen Kommentare die Moral der Gruppe zu beschädigen drohte, sah sich Pluto gezwungen ihn mit wenig schmeichelhaften Worten zum Schweigen zu bringen. Lars hingegen schien die Ruhe selbst zu sein und akzeptierte offensichtlich die Situation. Für ihn waren die Pläne alternativlos und er würde seinen Teil für die Gemeinschaft einbringen, sollte die Zeit dafür gekommen sein. Wie weit dabei sein Mut gehen würde, war schwer einzuschätzen. Blieb noch Terra, der seine Furcht damit überspielte, indem er sinnlos drauf los plapperte. Meist alte Geschichten und Märchen von seiner Heimatwelt. Sentry schaffte es diese Anekdoten als beruhigendes Hintergrundgeräusch auszublenden.
Plutos Tempo war mörderisch. Selbst das zweiwöchige Training im Lager konnte Sentry nicht auf diesen Gewaltmarsch vorbereiten. Mit brennender Lunge hatte er zunehmend Mühe der Gruppe zu folgen, aber Aufgeben war keine Option und so quälte er seinen Körper bis an die Grenzen des Machbaren. Nach zwei Stunden stand er kurz vor dem Kollaps, doch das gnadenlose Vorantreiben hatte sich gelohnt. Noch vor der prognostizierten Zeit erreichten sie ihr Ziel. Sie hatten Glück und an der kleinen Wasserstelle grasten tatsächlich einige Tiere mit struppigem Fell. Etwa zwanzig verwildert wirkende Vierbeiner begrüßten sie mit misstrauischen Blicken.
„Mäh.“ Das war alles, was sie von sich gaben, dann wandten sie sich wieder dem reichlich vorhandenen Gras zu.
„Schafe. Das sind Schafe“, rief Sentry Wissen aus seiner inneren verschütteten Bibliothek ab.
„Es wird bald dunkel. Hier verbringen wir die Nacht“, befahl Pluto und untermauerte seinen Anspruch als Gruppenführer.
„Wir sollten Maßnahmen gegen ungebetenen Besuch ergreifen. Wenn wir die Tiere an den Rand des Waldes treiben, können wir mögliche Angreifer schneller ausmachen“, fuhr er fort.
„Außerdem müssen wir Wachen einteilen.“
Die klaren Anweisungen belebten die Gruppe und erzeugten ein Gefühl von nützlichem Tatendrang. Auch wenn ihr Bestreben nach wirksamen Abwehrmaßnahmen im Angesicht tödlicher Waffen eher lächerlich wirkte, entspannte es kurzfristig. Pluto näherte sich Sentry und Dina.
„Wenn sie sich nicht vollkommen dumm anstellen, werden sie Späher aussenden. Die müssen wir unbedingt erwischen. Ich brauche dazu die Unterstützung von euch beiden. Die anderen bleiben bei den Tieren, während wir versuchen einen der Scanner zu bekommen. Wenn das klappt, können wir ihre Ortung stören.“
„Ich nehme an du hast einen Plan.“ Dinas freudige Erwartung jemanden weh zu tun war unübersehbar.
„Die Annäherung wird nicht von der Ebene her geschehen. Er oder sie werden aus dem Wald kommen und da erwarten wir sie.“ Sein ganzes Auftreten war das eines erfahrenen Soldaten. Sentry fragte sich, ob und wie viel Kampferfahrung er besaß.
„Sie verlassen sich komplett auf die eingesetzte Ortungstechnik und da setzen wir an. Ihr Denken ist zweidimensional.“ Sentry ahnte, was er vorhatte.
„Wir sind über den Schafen?“, fragte er. Pluto grinste zustimmend und zeigte auf die Baumkronen.
„Die drei halten die Tiere an Ort und Stelle. Unsere Aufgabe ist es die möglichen Zugänge abzusichern.“
„Wie sollen wir sie bekämpfen?“, fragte Sentry. Einen schwer bewaffneten Angreifer zu überwältigen, schien ihm aussichtslos.
„Überraschungsmoment und hoffentlich Überzahl. Ihr Spähtrupp besteht aus höchstens zwei Aufklärern. Wir sind zu sechst. Der Beobachtungsposten darf sie nicht wieder ziehen lassen und muss attackieren. Der Rest der Gruppe eilt zur Unterstützung.“ Kein schöner Gedanke wirklich angreifen zu müssen. Hatte Sentry überhaupt den Mut dazu? Wenn ja, würde ihm die Gruppe rechtzeitig helfen, bevor er verletzt oder getötet wurde? Hoffentlich irrte sich Pluto und die Nacht blieb ereignislos. Selbst seine magische Selbstheilung war kein Vorteil. Müssten diese Femtos tatsächlich aktiv werden, drohte ihm ein anschließender Hungertod. Vielleicht offenbarte sich eine der unbekannten Fähigkeiten.
Wie sollte er die Sache angehen für den Fall der Fälle? Unbewaffnet anzugreifen, glich einem Himmelfahrtskommando. Er hatte keine Ahnung von Kampftechniken und die einsetzende Dunkelheit erschwerte sein Vorhaben zusätzlich. Seine Chancen waren gering im Nahkampf siegreich zu sein, trotzdem war es ihm lieber im direkten Duell zu agieren, als mit einem Schuss aus der Ferne hingerichtet zu werden. Er suchte sich einen leicht zu erkletternden Baum in der zugewiesenen Richtung und bewaffnete sich mit einem Stein. Das gab ihm das Gefühl nicht vollends wehrlos zu sein.
Damit ließ er ihn in Ruhe und das kam Sentry sehr zu Gute. Die Hinrichtung hatte seine Einstellung zu Pluto verändert. Diese Schizophrenie zwischen Fürsorge gegenüber ihn und Skrupellosigkeit ein Leben auszulöschen, machte es schwer ihn einzuordnen. Auch wenn Sentrys früheres Leben möglicherweise dass eines Soldaten gewesen sein sollte, widerstrebte es ihm Gefangene einfach zu exekutieren. Das entsprach nicht seinen Vorstellungen von Moral.
Er quälte sich hoch und stellte sich dem unausweichlichen Martyrium. Die Zeit lief gegen sie und sie mussten so schnell wie möglich die Stadt erreichen. Noch etwas schwach steuerte er auf Terra zu.
„Danke. Du hast was gut bei mir.“
„War mir ein Vergnügen“, erwiderte Terra sichtlich gerührt. Die ganze Aktion hatte sie auf unaussprechliche Weise zusammen geschweißt.
Der Fußmarsch übertraf alles an Qualen, was Sentry bisher erlebt hatte und da gab es ja bereits einiges in seiner kurzen Historie. Mehrfach brach er zusammen vor Schwäche, packte es aber immer wieder sich aufzurappeln. Nach knapp zwei Stunden war dann seine Energie restlos aufgebraucht und das Hungergefühl drohte ihn umzubringen. Ein Weitergehen war unmöglich für ihn geworden und so beschloss Pluto eine Pause einzulegen, um die Fleischstücken auf einem Feuer zuzubereiten. Hektisch verschlang er halb rohes Schaf und tatsächlich schaffte er es seinem Überlebenswillen damit den nötigen Brennstoff zu liefern.
Die Rast wurde auch von den Anderen dankbar angenommen. Offenbar zerrten die Gewaltmärsche nicht nur Sentry aus. Der Waldboden lud ihn zu drei Tagen Dauerschlaf ein, aber Pluto gönnte ihnen kaum dreißig Minuten. Das Hungergefühl war auf ein erträgliches Maß zurückgegangen und somit hatte er eine Bürde weniger zu tragen. Sie näherten sich der Stadt und die Angst den Wettlauf gegen die Zeit zu verlieren, indem sie kurz vorher von ihren Verfolgern erwischt wurden, spornte sie zu einem Endspurt an.
Ein paar Steinhaufen waren das erste Anzeichen für das Erreichen der Außenbezirke. Aufgetürmte Ziegel, die im Licht der aufgehenden Sonne aufgrund des feuchten Moos grün glitzerten. Von den ehemaligen Häusern waren höchstens noch die Grundrisse zu erkennen. Sie folgten einer breiten Straße Richtung Zentrum, die zu ihrem Glück kaum ernst zu nehmende Hindernisse aufwies. Eine gespenstische Kulisse von ehemaligem Wohlstand tat sich vor ihnen auf. Zeugnisse des Sterbens einer Hochkultur, die sich an irgendwas verschluckt hatte und am Ende untergegangen war. Wie war der Tod von so vielen Menschen möglich gewesen? Für Sentry blieb keine Zeit auf Hinweise über das größte Geheimnis der Menschheit zu achten. Pluto trieb sie gnadenlos an und nach etwa einer halben Stunde straffen Fußmarsches stießen sie auf erste Gebäude, die nicht vollkommen in sich zusammen gefallen waren. Die mehrstöckigen Häuser ohne Dach trotzten mehr oder minder erfolgreich dem Verfall, waren aber ungeeignet für den geplanten Hinterhalt. Pluto hoffte auf Hochhäuser, die bis zu hundert Meter in den Himmel ragten, um die zweidimensionalen Scanner vollends aus dem Spiel zu nehmen. Sie erreichten eine Anhöhe auf der ein weiter Blick in die Umgebung möglich war.
Ruinen in allen Größen und Formen taten sich vor ihnen auf. Keine dreißig Sekunden brauchte Pluto für die Wahl des zukünftigen Schlachtfeldes. Sein Finger zeigte auf einen dieser Türme, die in der glorreichen Vergangenheit als Bürogebäude verwendet wurden. Es gab einige weitere davon in unmittelbarer Nachbarschaft, doch keins davon wirkte in seiner Bausubstanz so stabil wie Plutos Auswahl. Teilweise standen nur noch Fassaden, die bei kleinstem Windstoß einzustürzen drohten. Beim höchsten Turm fehlte die obere rechte Ecke, als hätte ein gigantisches Wesen seinen Hunger mit einem gewaltigen Biss gestillt. Die komplette Gegend war höchst instabil und konnte jeden Moment in einem Dominoeffekt vollständig zusammen brechen. Auch wenn ihre Zuflucht einen weniger gefährlichen Eindruck machte, war sie durch die enge Bauweise nicht sicher vor äußerlicher Zerstörung.
Sie machten sich auf den Weg und nutzten dafür eine schmale Gasse, die sich die Natur nach und nach zurückerobert hatte. Aus dem aufgerissenen Asphalt sprossen die unterschiedlichsten Arten von Pflanzen und transformierten die einstige Errungenschaft der Zivilisation in ein lang gezogenes Blumenbeet. Die Sonne stand noch nicht hoch genug am Himmel und so bewegten sie sich im Schatten ehemaliger Wolkenkratzer vorwärts. Sentry war froh den Anderen die Orientierung zu überlassen, denn er brauchte seine komplette Energie um in Bewegung zu bleiben. Er stand wieder kurz vor dem Zusammenbruch, als sie ihr Ziel erreicht hatten. Ein äußerlich halbwegs intaktes Gebäude erhob sich majestätisch in den Himmel. Einzig die fehlenden Fensterscheiben machten es zur Ruine. Ansonsten schien der Turm vollkommen intakt. Sollten sie es schaffen auf das Dach zu gelangen, hätten sie einen perfekten Ausblick in die Umgebung.
„Unser neues zu Hause,“ kommentierte Pluto den riesigen Bau.
Sie betraten den Eingangsbereich durch die ehemalige Glasfassade. Unter ihren Schuhen knisterten die Scherben, als sich die Lobby vor ihnen auftat. Sie steuerten auf einen lang gezogenen Tresen zu, der offensichtlich zur Registrierung von Gästen gedient haben musste. Über die Jahre hatten sich Teile aus dem Beton gelöst und so wirkte der ehemals beeindruckende Empfangsbereich eher abschreckend als willkommen. Der dahinter liegende Gang führte zu den Fahrstühlen, der durch Geröll vollkommen verschüttet war. Die Zwischendecke war teilweise eingestürzt und der klägliche Rest drohte jeden Moment zu folgen. Der ganze Innenbereich entpuppte sich als das genaue Gegenteil vom äußerlichen Anschein. Hier konnte jede falsche Bewegung zu bösen Verletzungen führen. Wenn sie Pech hatten, konnte sogar das komplette Gebäude ins Rutschen kommen. Blieb zu hoffen, dass der Turm eine weitere Nacht überdauern würde.
Wie jedes Gebäude dieser Zeit gab es ein Treppenhaus. Sie hatten Glück und der Zugang war nur durch kleinere Gesteinsbrocken der maroden Zwischendecke versperrt. Mit ein wenig Geschick erreichten sie den Zugang. Mehr als zwanzig Etagen lagen über ihnen, was Sentry einen weiteren und hoffentlich letzten Kraftakt abverlangte. Auf dem Dach würde er endlich die erhoffte Erholung finden. Stufe für Stufe quälte er sich aufwärts, bis sie an eine Stelle kamen, an der die Treppe nicht mehr vollständig vorhanden war. Er hasste es die Hilfe von Dina in Anspruch nehmen zu müssen, aber ohne sie hätte er die Lücke niemals überwinden können. Sie verzichtete auf abwertende Kommentare über seine männliche Schwäche. Entweder war sie selbst zu erschöpft oder der Angriff auf den Kundschafter hatte ihm einen gewissen Respekt bei ihr verschafft.
Oben angekommen, offenbarte sich ihnen der erwartet überwältigende Ausblick auf die Umgebung. Die Sonne stand jetzt hoch im Osten und beleuchtete die verfallene Gegend. Die Ruinen wirkten wie dunkle Stalagniten, die sich in einem Tal aus Beton empor gebohrt hatten und nun um ihr Überleben bangten. Ein Mahnmal vergangener Zeiten tat sich unter ihnen auf. Wie viele Menschen hatten hier gewohnt? Wie haben sie gelebt? Ging es ihnen besser als ihren Nachfahren? Vermutlich. Zum ersten Mal zeigte sich Sentry das volle Ausmaß der Katastrophe, die den Knick in der Entwicklung der Menschheit verursacht hatte. Warum hatte man kein Wissen über die Ursache einer solchen Tragödie? Selbst wenn es tausend Jahre her war, musste doch irgendwo hinterlegt sein, was dies alles hier verursacht hatte.
„Relikte aus längst vergangener Zeit“, sagte Terra wehmütig.
„Was ist hier bloß passiert?“, fragte Sentry.
„Das ist so lange her, dass nur noch Gerüchte und Legenden vorhanden sind. Nicht nur hier. Die ganze Menschheit hat irgendwann mal einen kompletten Reset bekommen“, antwortete ihm Terra.
„Auf einmal kommt mir meine eigene verschüttete Vergangenheit so klein vor. Es gibt weit größere Rätsel da draußen als mich.“
„Wir müssen die Gegend absichern, es könnten sich Feinde nähern“, unterbrach sie Pluto.
„Lars du den Norden und den Osten. Terra du gehst auf die Südwestseite. Haltet nach Bewegungen Ausschau. Ich glaube zwar nicht, dass sie sich vor Einbruch der Dunkelheit nähern, aber man weiß ja nie. Wir beide werden das Gebäude erkunden und schauen, ob wir eine geeignete Stelle für einen Hinterhalt finden.“ Mit „wir“ meinte er Dina und ihn. Offenbar hatten die beiden sich mittlerweile gut arrangiert.
„Und was ist mit uns?“, fragte Pius. Sein Ansehen in der Gruppe war nicht besonders gut. Auch Pluto ließ ihn spüren, dass er mehr hinderlich als nützlich war. Sein egoistisches Wesen konnte im bevorstehenden Konflikt zu Problemen führen und so versuchte Pluto ihn mit weniger wichtigen Dingen zu beschäftigen.
„Mach etwas zu essen. Teile das restliche Fleisch auf. Wir können etwas Stärkung gebrauchen.“ Er ließ ihn seine Abneigung spüren, was Pius nervös machte. Er wollte nicht außerhalb der Gruppe stehen und so entfachte er einen ungewöhnlichen Tatendrang.
„Und du mein Freund hast drei Stunden, um wieder fit zu werden. Also ruhe dich aus. Wir brauchen dich“, wandte Pluto sich an Sentry. Damit glitt dieser von der unendlichen Erschöpfung in einen hoffentlich erholsamen Schlaf.
Wieder keine Träume. Nicht zum ersten Mal hatte er gehofft, dass sein Unterbewusstsein ihm etwas über ihn verraten könnte. Nichts. Diese Blockade in seinem Kopf schien undurchlässig. Die letzten Hinweise gab es auf Reds Schiff, als dieser ihm das Bild dieser Frau vor die Nase hielt. Da war die Tür zu seinem verlorenen Ich einen Spalt offen gewesen. Zu kurz für Antworten, aber lang genug, um weitere Fragen aufzuwerfen.
„Ich glaube es geht los“, weckte ihn Lars. Sein Verstand war noch leicht vernebelt, aber diese Worte setzten reinigendes Adrenalin frei. Im Bruchteil einer Sekunde war sein Geist vollkommen klar. Er ging zu den anderen, die bereits erste Anweisungen von Pluto bekamen.
„Das Gebäude ist unser Trumpf. Ihre zweidimensionalen Scanner können nicht anzeigen auf welcher Etage wir uns befinden“, erklärte Pluto der Gruppe. Sentry musste länger als drei Stunden geruht haben, denn die Dämmerung setzte bereits ein.
„Die siebzehnte wird unser Schlachtfeld. Einerseits könnten sie sich schon beim Aufstieg das Genick brechen, anderseits sind die Verhältnisse auf der Etage am günstigsten für uns. Sie haben Wärmequellenortung, wir haben nur das Mondlicht und das ist unser Freund auf der siebzehnten.“
„Wir greifen sie wieder an?“, fragte Terra voller Vorfreude auf einen weiteren Siegesrausch.
„Natürlich. Sie sind im Zugzwang. Sie können uns nicht einfach aushungern. Sie werden bluten und bereuen, dass sie gerade uns als Jagdbeute ausgesucht haben.“ Er legte die Hand auf Terras Schulter.
„Das wird unser Abend.“ Pluto hatte das Auftreten eines Spielführers, der bereit war sich siegessicher einem scheinbar unterlegenden Wettkampf zu stellen. Nur das es hier keinen zweiten Platz gab. Kein Fairplay für den Verlierer. Nur Tod. Selbst wenn sie alle Gegner aus dem Weg räumen, würde der Tempel sie nicht ziehen lassen. Das Spiel würde weiter gehen, auch wenn sie siegen sollten.
Sie nutzen einen anderen Weg nach unten. Offenbar hatten Dina und Pluto bei ihrer Erkundung einen sichereren Abstieg entdeckt. Pluto ging vorweg und wurde nicht müde den bevorstehenden Sieg in seinen triumphalsten Facetten auszumalen. Mit Erreichen der siebzehnten Etage waren alle von ihrem Erfolg überzeugt. Sentry überlegte, ihn nach seinen militärischen Erfahrungen zu befragen, befürchtete aber, dass ihn das unabhängig von der Antwort, nur unnötig verunsichern würde. Plutos Talent eine Gruppe zu motivieren, konnte auch andere Wurzeln haben, aber die Illusion einem militärischen Anführer zu folgen, wollte er nicht mit unnötigen Fragen zerstören. Die Einstellung innerhalb ihrer Gemeinschaft stimmte dank Plutos rhetorischem Geschick, doch die notwendigen handwerklichen Fähigkeiten für das Kriegshandwerk besaßen nur Dina und Pluto. Jemanden zu verletzen oder sogar zu töten, dürfte dem Rest der Gruppe schwerfallen. Diese Drecksarbeit würde an den beiden hängen bleiben.
Die siebzehnte Etage war in einem furchtbaren Zustand. Zu den Zeiten der Vorfahren diente dieser Bereich als technisches Zentrum des Gebäudes. Riesige metallische Schränke in verbeultem Zustand deuteten auf Unmengen an Computertechnik hin, die irgendwann komplett ausgeschlachtet wurde. Dabei wurde nicht viel Wert auf Filigranarbeit gelegt, um an die begehrten Schätze der Vorfahren zu gelangen. Die Zwischenwände aus Gips waren verschwunden. Einzig und allein das Ständerwerk war übriggeblieben. Die verbogenen Streben aus Aluminium waren die letzten Zeugen des eigentlichen Grundrisses, der auf mehrere kleine Räume hinwies. Ganze Legionen an Servern hatten die Etage zu einem Paradies für Plünderer gemacht und sicherlich dem einen oder anderen Abenteurer einen guten Profit eingebracht. In den Böden und Außenwänden klafften teilweise riesige Löcher. Dass die oberen Etagen nicht bereits eingestürzt waren, glich einem Wunder. Wenn die schwache Bausubstanz nachgeben würde, blieb vermutlich von dem gesamten Gebäude nur noch ein gigantischer Schutthaufen übrig. Sentry redete sich ein, dass Pluto diesen offensichtlichen Schwachpunkt absichtlich ausgesucht hatte, um den Einsatz von Explosivgeschossen unmöglich zu machen. Hoffentlich sahen das ihre Verfolger genauso.
Ihre Taktik war vordergründig auf Verteidigung ausgelegt. Sie planten sich an einem schwer zugängigen Ort zu verschanzen und das enge Gelände bei passender Gelegenheit für einen Gegenangriff zu nutzen. Dafür hatten sie sich zwei besonders schwer erreichbare Verstecke ausgesucht, die ihre Angreifer in den Nahkampf zwingen sollten. Nur eine geringe Verbesserung ihrer Überlebenschancen. Selbst wenn es ihnen gelang den Einsatz von Gewehren oder Pistolen unmöglich zu machen, besaßen sie nicht genug Kampferfahrung, um die körperlich überlegenen Gegner zu bezwingen. Trotz aller Ansprachen von Pluto hatten sie realistisch betrachtet kaum Möglichkeiten siegreich zu sein. Wenn es gut für sie lief, verließen weder Freund noch Feind dieses Gebäude lebend. Aufrecht zu sterben und so viel wie möglich gegnerisches Blut zu vergießen, war ihr Anspruch. Überleben dagegen schien unwahrscheinlich.
Mit diesen zweifelhaften Gedanken über einen glücklichen Ausgang des bevorstehenden Konflikts, schloss sich Sentry Dinas Gruppe an, um ihr in eins der Verstecke zu folgen. Pluto rief alle letztmalig zusammen, um ein paar finale Anweisungen zu geben, aber dazu kam es nicht mehr. Das Unglück brach schneller über sie herein, als erwartet. Sie befanden sich in einem großen Raum, durch dessen offenen Boden man einen freien Blick auf die sechzehnte Etage hatte, als die ersten Kugeln durch die Luft zischten. Geräuschlose Killer, die Brocken aus der Wand hinter ihnen herausbrachen.
Es brauchte ein paar Sekunden, bis sich die Erkenntnis in der Gruppe durchsetzte, dass sie angegriffen wurden. Ein paar weitere Sekunden waren nötig, um eine passende Gegenreaktion einzuleiten, die darin bestand aus der Schusslinie zu kommen.
„Deckung“, schrie Pluto und setzte damit die Gruppe in Bewegung. Offenbar zu spät, denn das Splittern von Knochen und ein schmerzverzerrter Schrei zeugten von einem Treffer. Ihre Verfolger hatten sie schneller als erwartet aufgespürt und sie in einem schwachen Moment überrumpelt.
Es hatte Pius erwischt, der mit gequältem Gesicht versuchte aufrecht zu bleiben. Taumelnd suchte er Halt, um nicht in den Abgrund zu stürzen. Vergebens, denn Lars erwies sich als nicht so stabil wie erhofft und so ging es für beide abwärts. Kopfüber fielen sie in das Loch am Boden und hatten dabei doppelt Glück. Einerseits verminderte ein Schutthaufen ihre Fallhöhe und verhinderte weitere ernsthafte Verletzungen und anderseits war es dem Schützen aufgrund des Sturzes unmöglich geworden sie weiter ins Visier zu nehmen. Die Einschläge in der Wand hinter ihnen zeugten von dem Misserfolg. Auch wenn der Absturz schmerzhaft war, es rettete beiden das Leben. Vorerst.
Der Angreifer versuchte weitere Treffer bei dem tragischen Duo zu landen, was dem Rest der Gruppe die Gelegenheit gab sich schadlos aus der Schusslinie zu bringen. Aus den Augenwinkeln erkannte Sentry wie Dina hinter einer halbhohen Wand in Deckung ging. Pluto war irgendwo im Nachbarraum verschwunden und Terras Flucht geschah außerhalb seiner Wahrnehmung. Die längste Reaktionszeit hatte Sentry, der sich gerade noch rechtzeitig entschied Dina zu folgen. Keine Sekunde zu früh, denn die Einschläge hinter ihm waren ein untrügliches Zeichen dafür, dass der Schütze mittlerweile ihn unter Feuer nahm. Sein Herz raste als er sich mit dem Rücken an die schützende Wand drückte. Durch die löchrigen Außenwände zeichnete das Mondlicht gespenstische Konturen der Umgebung, die voll von Angreifern sein konnte. Panisch musterte er den schwach erleuchteten Zufluchtsort nach weiteren Gegnern ab, konnte aber niemanden ausmachen. Er hatte den Angriff unbeschadet überstanden. Seine Lebenszeit hatte sich um ein paar Momente verlängert.
Es war wichtig die Panik einzudämmen, um mit klaren Gedanken vernünftige Entscheidungen treffen zu können. Sentry zwang sich ruhig zu atmen und tatsächlich schaffte er es seinen Verstand zu ordnen und die Todesangst für den Moment auszublenden. Kurzfristig gab es keine Alternative zu ihrer Flucht und von daher war es überlebenswichtig in Bewegung zu bleiben. Das sah auch Dina nicht anders und machte sich bereit den Standort zu wechseln. Aus Mangel an Optionen beschloss Sentry ihr einfach zu folgen. Es brauchte etwas Überwindung, aber als er sie den löchrigen Flur entlang rennen sah, setzte das notwendige Adrenalin ein und beflügelte seine Beine. Er überließ dem Autopiloten das Handeln, denn jede Millisekunde Nachdenken konnte in seiner Situation tödlich sein und so rannte er gesteuert von seinem Überlebensinstinkt durch die halbdunkle Ruine.
Terra kreuzte ihren Weg und offenbar hatte er bei dem Angriff ebenfalls einen Treffer einstecken müssen. Sein Oberschenkel blutete ungewöhnlich stark, obwohl er offensichtlich nur einen Streifschuss abbekommen hatte. Sein Gesicht wirkte blass und verkrampft. Dinas Aufforderung ihnen zu folgen, fiel ihm sichtlich schwer und sein Tempo wurde mit jedem Schritt langsamer.
„Scheiße. Das ist der Biowaffen-Mist“, stellte Dina fest, als Terra vor Schwäche zusammenbrach. Bei einem normalen Projektil wäre die Verletzung nicht der Rede wert gewesen, aber bei dieser perfiden Waffe entfachte der biologische Kampfstoff eine verheerende Wirkung. Die Lähmung setzte ein und machte Terra als erstes laufunfähig. Nach und nach wurde es ihm unmöglich auch andere Gliedmaßen zu bewegen. Es würde nicht mehr lange dauern und die inneren Organe würden ihren Dienst versagen. Keine Minute verging, bis er lautstark nach Luft rang. Sentry zog den steifen Körper hinter eine schützende Wand, legte Terras Kopf in seinen Schoß und versuchte ihn zu beruhigen. In diesem Moment war es ihm egal, ob einer der Verfolger ihn stellen würde. Es war kein Tag her gewesen, dass Terra ihm das Leben gerettet hatte. Hilflos musste er zusehen, wie er gegen das Gift in seinem Inneren ankämpfte. Vergeblich. Die Lähmung griff auf die Lungen über und jeglicher Versuch Luft in seinen Körper zu pumpen, schlug fehl. Der unausweichliche Erstickungstod stand unmittelbar bevor. Verzweifelt presste Sentry seinen Mund auf die Lippen des Sterbenden, um ihn mit dem notwendigen Sauerstoff zu versorgen. Es half nicht und als das Röcheln endgültig erstarb, wurde er wütend. Ein sinnloser Tod zum Amüsement einer stupiden Glaubensgemeinschaft. Der Wahnsinn hatte eine neue Dimension erreicht.
Dina riss Sentry hoch.
„Wir müssen weiter“, forderte sie ihn auf. Seine Wut verlangte nach einem Schuldigen. Jemand worauf er seine Rache konzentrieren konnte. Blut musste mit Blut vergolten werden und plötzlich wollte er nicht mehr weglaufen. Einer dieser Bastarde musste bezahlen für diesen barbarischen Akt des Tötens. Er war bereit zurück in diesen Raum zu stürmen und sich wie ein Berserker auf jeden zu stürzen, der eine dieser lächerlichen Uniformen anhatte.
„Nein“, hielt ihn Dina zurück. Mehr Worte brauchte sie nicht. Ihr Blick zeugte von dem Verständnis über seine Wut und das Wissen über sein ungezügeltes Verlangen nach Vergeltung. Sie hatte diesen Weg in ihrer eigenen Vergangenheit bereits beschritten und die tragischen Konsequenzen leidlich erfahren. Diese ungezügelte Wut wurde ihr mehr als einmal zum Verhängnis und hinterließ prägende Erfahrungen, die sie jetzt dazu veranlasste Sentry in seiner Spirale des Hasses zu drosseln. Widerwillig ließ er sich von ihr abhalten in sein Verderben zu rennen.
Sie liefen weiter bis in einen Raum mit vier löchrigen Wänden. Dort legten sie einen Zwischenhalt ein, um sich für einen Augenblick auszuruhen. Dieser Moment der Entspannung versetzte Sentry in Trauer, die kurze Zeit später erneut in Wut umschlug. Irgendjemand musste bei der Wache nicht aufgepasst haben und als Ergebnis hatten sie mindestens einen Toten zu beklagen. Plutos schöne Pläne von einer triumphalen Gegenwehr waren damit gescheitert. Ihr glorreicher Anführer war irgendwo in die Überreste dieses ehemaligen Büroturms geflohen. Terra war tot und ob Lars und Pius noch lebten war unklar. Seine einzige Unterstützung war Dina, von der er weiterhin nicht wusste, ob sie ihn je nach Situation beschützen oder opfern würde. Er war auf sich selbst angewiesen, ausgestattet mit den Erfahrungen und Fähigkeiten eines Kleinkindes.
Die Lage hatte sich etwas beruhigt. Offenbar hatten weder Jäger noch Gejagte es eilig die Positionen zu wechseln. Diese unheimliche Stille stand im Widerspruch zu den letzten Minuten, die voller Gewalt und Tod waren. Einzig der Wind pfiff leise durch die halb offenen Räume, als unheilvoller Vorbote künftigen Unglücks.
„Was jetzt?“, flüsterte Sentry zu Dina. Auch sie hatte Probleme die neue Situation richtig einzuschätzen und wirkte überfordert.
„Hey. Was jetzt?“, wiederholte er.
„Lass mich einen Moment nachdenken“, antwortete sie verärgert, aber doch leise. Offensichtlich hatten sie keinen Alternativplan für einen vorzeitigen Angriff entworfen.
„Scheiße. Sie haben uns erwischt, bevor …“ Sie hatte Mühe sich zu sortieren.
„Wir müssen nach oben. Wenn sie clever sind, werden sie die Zugänge nach unten absichern und uns immer weiter in die Enge treiben.“ Das klang nicht sehr ermutigend, schien aber im Angesicht der Lage realistisch.
„Wichtig ist es in Bewegung zu bleiben.” Es widerstrebte ihm seine Position zu verlassen, aber sie hatte Recht. Ihre Verfolger wussten auf welcher Etage sie waren. Mit Hilfe ihrer Ortungsgeräte waren sie wieder zu einem leichten Ziel geworden. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie hier aufgespürt wurden.
Dina machte sich auf den Weg und Sentry folgte ihr, um sie nicht aus den Augen zu verlieren. Für ihn war es wichtig zusammenzubleiben. Zu zweit hatten sie weitaus bessere Chancen lebend die oberen Etagen zu erreichen. Dort würde sich ihr endgültiges Schicksal entscheiden und so wie er Dina einschätzte, versuchte sie ihr Ende mit einem guten Kampf zu gestalten. Heroisch in den Tod zu gehen, war ihr neuer Plan. Da musste es doch eine Alternative geben.
„Wir müssen runter“, wagte er es ihr eine Option aufzuzeigen.
„Keine Chance. Darauf lauern die bestimmt.“
„Wir nehmen auch nicht die Treppe.“ Sentry zeigte auf eines der Löcher im Boden.
„Das sind über zwei Meter und ziemlich dunkel“, wiegelte sie ab und wollte damit die Diskussion beenden. Jetzt wo Pluto weg war, sah sie sich wieder als unumstrittene Bestimmerin.
„Die anderen sind da unten. Wenn wir es schaffen sie zu finden, haben wir als Gruppe bessere Chancen“, erklärte er Dina. Selbst bei minimalem Licht konnte er erkennen, dass sein Argument sie zum Nachdenken gebracht hatte.
„Ich gehe zuerst, heile notfalls meine Knochenbrüche und helfe dir dann. Damit verwirren wir sie“, fuhr er fort. Dinas Zwiespalt zwischen ihrem ursprünglichen Plan ein würdiges Ende in den Etagen über ihnen zu finden und der deutlich besseren Alternative ihre Verfolger von unten zu überraschen, war ihr anzusehen.
„Na gut. Wehe du lässt mich hier oben hängen“, drohte sie und akzeptierte damit seine Idee. Vorsichtig näherten sie sich dem Rand des Bodenloches. Sentry versuchte in der Tiefe etwas zu erkennen, aber da war nichts als schwarze Finsternis. Ein Meter oder hundert Meter. Der Abgrund schien unendlich.
„Na dann Wunderknabe. Spring“, forderte ihn Dina auf. Ganz so naiv wollte er nicht in die Dunkelheit abtauchen. Er setzte sich auf den Rand und hangelte sich an der Kante hinab. Ein paar Sekunden hing er an der Kluft und traute sich nicht loszulassen. Die Kraft schwand und Schluss endlich hatte er keine Wahl und ließ sich fallen.
Es war nicht so tief wie erwartet und zu seinem Glück kam er mit wenigen Blessuren davon. Ein paar Abschürfungen und eine kleine Risswunde konnte er ausmachen. Sicher kein Problem für die Femtos. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, ob sie ihn sogar von den Toten auferstehen lassen würden. Vermutlich wäre das kein angenehmer Vorgang. Wo befand sich die Grenze dieser kleinen Kerle und wie weit konnte er seinen Körper belasten, ohne den Hungertod zu sterben.
Er schaute nach oben und konnte im fahlen Licht erkennen, wie auch Dina an der Kante hangelte. Seine Arme reichten bis zu ihren Oberschenkeln und als sie losließ, konnte er ihren Fall so weit mindern, dass sie keinen Schaden nahm. Sie dort zu berühren war unangenehm für beide und bevor sie eine spitze Bemerkung machen konnte, fragte er sie nach der Richtung.
„Dort lang“ zeigte sie den Gang hinunter, wo sie Lars und Pius vermutete.
Sentry tat sich schwer geräuschlos voranzukommen. Das Geröll auf dem Boden verursachte verräterische Aufmerksamkeit, die möglichen Feinden ihren Aufenthalt mitteilen konnten. Ganz im Gegenteil zu seinen tapsigen Versuchen möglichst leise das unwegsame Gelände zu passieren, bewegte sich Dina katzengleich durch die halb verschütteten Gänge. Sie besaß eine gewisse Anmut, die sich hier in diesen Ruinen offenbar als Vorteil herausstellte.
Sie stoppte, als sie ein Wimmern vor ihnen wahrnahm. Sentry brauchte eine Weile dieses weinerliche Gejammer richtig zuzuordnen. Es handelte sich um Pius, der irgendwo vor ihnen lautstark seine Verletzung beklagte. Eine zweite Stimme versuchte ihn zu beruhigen, aber offensichtlich hatte sie wenig Erfolg. Dina zögerte weiterzugehen, obwohl die beiden dringend ihre Hilfe benötigten. Der Feind lauerte sicherlich bereits auf unachtsame Helfer, um ihnen aus dem Hinterhalt eine Kugel zu verpassen. Was sollten sie tun? Die beiden ihrem Schicksal überlassen? Die Situation verlangte eine unangenehme Entscheidung, doch bevor Dina den Rückzug antreten konnte, verlor offenbar einer der Angreifer die Geduld.
Sie vernahmen die tödlichen „Plopps” einer elektromagnetisch angetriebenen Waffe. Dieses Geräusch ging meist einher mit dem Tod. Lars oder Pius waren drauf und dran keine zehn Meter vor ihnen zu sterben. Sentry blieb keine Zeit ihren Tod zu verarbeiten, denn ein Knall ließ das Gebäude erzittern. War das die viel gefürchtete Waffe mit Explosivgeschossen? Das klang eher nach einem Schuss aus einem anderen Gewehr. Das endgültige Todesurteil für ihre verletzten Kameraden vor ihnen. Sie wagten nicht die spärliche Deckung zu verlassen, denn die Gefahr war groß von umher fliegenden Kugeln getroffen zu werden. Sekunden der Anspannung vergingen, in denen Dina mit einer Entscheidung rang. Eine Explosion erschütterte die marode Ruine. Das war definitiv die denkbar schlechteste Waffe für diesen Ort. Eine zweite Explosion löste die befürchtete Kettenreaktion aus, die die Wände wie Dominosteine zum Einsturz brachte. Die ohnehin löchrige siebzehnte Etage war im Begriff auf die sechzehnte einzustürzen. Panik ergriff Sentry, als alles ins Rutschen kam. So würde es also enden. Beerdigt unter Unmengen von Beton. Bitte holt mich nicht zurück, gab er noch als unterschwellige Botschaft an seine Femtos, dann begruben die Wände neben ihm seinen Körper.
VII
„Nicht den Tod sollte man fürchten, sondern ein Leben ohne Prinzipien. Wer für jene einsteht fürchtet sein Ende nicht.“
Silas Winkelmann
Sie hatten ihn einfach exekutiert. Jeder in der Gemeinschaft hatte den Tod eines ihrer Kameraden gesehen. Eva konnte sich ausmalen, wie der Führer versuchte die Tragödie zu beschwichtigen. Diese Jagd sollte Opfer hervorbringen, doch nicht in den eigenen Reihen. Zusätzlich dazu wurde die Hinrichtung mit einer Kaltblütigkeit durchgeführt, die dem naiven Glauben von Unbesiegbarkeit aufgrund von privilegierter Auswahl unreparierbaren Schaden zugefügt haben musste. Das Bild der explodierenden Gehirnmasse von Frend im verwackelten Bild der Kamera würde keiner von ihnen jemals aus dem Kopf bekommen. Nicht nur dieses sinnlose Nachstellen Unschuldiger kam ihr immer absurder vor. Der „Tempel des Friedens” ansich verlor mit solcher Zurschaustellung von Brutalität endgültig an Glaubwürdigkeit. Lag es nicht in der Natur des Menschen friedlich in einer Gemeinschaft für einander da zu sein? Kinder, Familie und gegenseitiger Respekt sollten die Eckpfeiler einer funktionierenden Gesellschaft sein. Hier herrschten Angst, Grausamkeit und Leid. Gedanken, die sicherlich gerade zuhauf durch die Köpfe der Anhänger spukten.
Würde die ursprüngliche Philosophie des Tempels auch nur annähernd umgesetzt werden, wäre Prem der freundlichste Platz auf ganz Lassik. Wann sind sie vom Weg abgekommen? Wie oft in der Geschichte der Menschheit endeten gute Ansätze in solchen Katastrophen? Ganze Religionen fußten auf Ideen großer Männer und wurden anschließend missbraucht für die Zwecke weniger Mächtiger. War die Menschheit verdammt ihre Fehler immer und immer zu wiederholen? Der Teufelskreis musste doch zu durchbrechen sein. Eva weinte. Nicht um Frend oder die armen Gejagten. Sie weinte, weil ihr bewusstwurde, dass jeder auf diesem kalten Planeten seine menschliche Natur verweigerte. Wollten sie mehr als nur überleben, war ein Neustart jenseits egoistischer Bestrebungen notwendig. Etwas, indem das Glück des Individuums im Glück der Gesellschaft aufging. Ein perpetuum mobile der Philosophie. Die Naturgesetze des menschlichen Wesens waren unumstößlich und mit dieser Erkenntnis flossen die Tränen.
Die Reaktion von Dirk auf Frends Tod war bemerkenswert ruhig. Er stand einfach nur da und starrte ungläubig auf das Pad. Egal was noch passieren würde, er war bereits gescheitert bevor er überhaupt aktiv in die Geschehnisse eingreifen konnte. Dieser Tiefschlag hatte alles zerstört. Die ganzen Phantasien über den glorreichen vierten Zug, der unter dem Jubel aller Tempelmitglieder die Trophäen ins Lager zurückbrachte, wichen der Ernüchterung über sein Versagen. Es war nicht die erste Veranstaltung dieser Art, aber bisher blieben sie von eigenen Opfern verschont. Ausgerechnet er hatte diese Gewissheit über die Unverletzbarkeit des Tempels widerlegt. Was ihm blieb, war Schadensbegrenzung und eine Vergeltung, die die bisher gezeigte Brutalität in den Schatten stellen würde. Anders konnte er seine Reputation im Lager nicht wieder herstellen.
In sein Gesicht kam langsam wieder Bewegung. Die Schockstarre wechselte mehr und mehr in Wut. Das Gefühl, irgendjemand wehtun zu müssen, war ihm anzusehen. Er hatte Mühe nicht die Kontrolle zu verlieren, doch bisher behielt er die Selbstbeherrschung. Überraschenderweise begriff er, dass Geduld auf dem Weg der Vergeltung ein unverzichtbarer Begleiter war. Eva hatte ihm diese Form der Kontrolle nicht zugetraut, doch offensichtlich waren ihm die Vorteile eines kühlen Kopfs bewusst. In der Vorfreude auf ein Maximum an Sadismus konzentrierte er seine Gedanken auf die kommenden Ereignisse.
„Sie haben die Ortung gestört“, verkündete Kossak die nächste unangenehme Botschaft. Dirk schaute auf das Pad und sah einen einzelnen blinkenden Punkt auf dem Bildschirm.
„Vielleicht ein weiterer Hinterhalt. Diesmal gehen wir geschlossen vor. Sobald Dolph hier ist, brechen wir auf und beseitigen dieses Störsignal.“ Dirk wollte unbedingt entschlossen wirken, doch seine Unsicherheit war schwer zu überdecken. Die missglückte Aufklärungsmission hatte ihre Spuren hinterlassen. Er hatte die Gegner unterschätzt und das Aufteilen der Gruppe war offensichtlich ein Fehler gewesen. Dieses Mal sollte es besser laufen, auch wenn das bedeutet diesem widerspenstigen Pack mehr Vorsprung zu geben.
Eine halbe Stunde später traf Dolph ein. Die Gruppe verweigerte ihm die Möglichkeit der Pause und brach umgehend auf. Wieder ließen sie jegliche militärische Ordnung vermissen und Dirk nahm sich vor diesen Missstand nach den Spielen in Extraübungen zu beseitigen. Mit dem Verlust der Ortung konnte der Feind praktisch hinter jedem Baum lauern und was dieser mit seinen Verfolgern machte, wurde bereits eindrucksvoll vorgeführt. Trotz starker Bewaffnung war Angst das vorherrschende Gefühl und bremste die Marschgeschwindigkeit maßgebend. Plötzlich war ganz Prem gefährliches Terrain.
Sie erreichten die Lichtung und nachdem sie sich sicher waren, dass kein Feind mehr in der Nähe war, suchten sie das Ortungsgerät um es zu deaktivieren. Der vertraute Anblick auf dem Pad ließ die Gruppe entspannen. Niemand lauerte ihnen auf und erst Frends Leiche brachte ihnen die drohende Gefahr wieder vor Augen.
Während bei seinen Leuten die Angst wieder zunahm, entfachte der Leichnam neue Wut in Dirk. Ein Blick auf das Pad verstärkte diesen Zustand noch. Diese Mistkerle waren auf dem Weg in die naheliegende Ruinenstadt und wie es aussah, war es unmöglich sie vorher zu stellen.
„Dort oben wird es unmöglich sein sie zu erwischen. Vielleicht sollten wir auf Verstärkung warten.“ Juths Stimme klang panisch. Diese negative Einstellung gab Dirk den Rest. Er brauchte ein Ventil, um den angestauten Frust endlich abzuladen und klaren Kopf zu bekommen. Er zog sein Messer und hielt es Juth an die Kehle. Diesen Feigling an den Stamm eines Baumes zu pressen und ihm eine Höllenangst einzujagen, genoss er in vollen Zügen. Kurz überlegte er, ob es den Anblick von Blut wert wäre, mit einem Kämpfer weniger in die Verfolgung zu starten, doch dass würde die Moral der Truppe weiter dämpfen. Also musste er es bei einer Drohung belassen.
„Hör zu. Für dich gibt es nur zwei Optionen. Entweder du gehst mit uns da rein und stellst dieses Pack oder wir lassen dich hier verrotten. Ich werde in nächster Zeit so einiges töten. Es liegt an dir, ob du mit dabei bist.“ Die Drohung verfehlte ihre Wirkung nicht. Die Angst vor Dirks Wut überstieg die Furcht sich dem Gegner in unbekanntem Gelände zu stellen. Die Reue sich auf dieses Spiel eingelassen zu haben, war bei jedem spürbar. Geplant war ein Schauspiel, das vom ersten Moment an auf einen unumstrittenen Triumph ausgelegt war. Das Gefühl auserwählt worden zu sein, um dem Tempel die eigene Loyalität zu beweisen, änderte sich in pure Sorge um ihr Leben. Sie hatten die Waffen und sie hatten die Technik, um alles schnell zu beenden. All diese Vorteile schienen nichtig gegenüber dem Überlebenswillen ihrer Opfer. Der Trupp war ordentlich verunsichert.
Dirks Wutausbruch würde im Lager sicherlich für Unmut sorgen. Es war ihm egal. Sein Ruf war ohnehin ruiniert und von diesem Moment an zählte nur noch Rache für die zugefügte Schmach. Mit dieser Aktion hatte er jeglichen Widerspruch innerhalb der Gruppe unterdrückt und damit seine unumstrittene Führung klargestellt. Juth und die Anderen würden schon aus Angst das tun, was er von ihnen verlangte. Er beendete die Machtdemonstration und befahl den Aufbruch. Das Ziel war klar und so folgten sie den Punkten auf dem Pad und gegen Mittag erreichten sie die ersten Ausläufer der ehemaligen Stadt.
Seit einer Stunde war keine Bewegung der Ziele mehr zu vernehmen. Offenbar hatte der Feind es satt davonzulaufen und begann sich zu verschanzen.
„Sieht nicht so aus als würden sie weiterwollen. Könnte wetten, die haben sich die große Ruine im Zentrum als Unterschlupf ausgesucht“, kam es von Kossak.
„Scheiße, das sind über zwanzig Etagen. Da nützen unsere Scanner nicht viel.“ Dirk klang verärgert.
„Vor allen Dingen sehen die uns von da oben aus schon meilenweit vorher kommen.“ Es war der erste Beitrag den Eva beisteuerte.
„Ich sags nur ungern, aber sie hat Recht. Wir sollten warten bis es dunkel wird“, pflichtete ihr Kossak bei.
„Es gibt einen Hügel in der Nähe. Von dem haben wir freien Blick auf die Ruine, ohne dass sie uns selber sehen. Da haben wir genug Deckung.“ Dirk wollte nicht weiter warten. Es gab mit Sicherheit einen Weg dort unentdeckt reinzukommen. Sie mussten höllisch aufpassen nicht in einen Hinterhalt zu geraten. Trotz überlegener Waffentechnik hatten sie bereits einen Mann verloren. Kains neues Spielzeug hatte Recht. Eine Annäherung bei Tageslicht könnte ihnen einige taktische Nachteile einbringen.
Sie bezogen Stellung an dieser kleinen Aufwallung von Schutt. Ein Überhang verhinderte, dass sie vom Dach aus gesehen werden konnten. Zwischen dem ehemaligen Büroturm und ihrem Versteck befand sich eine kleine Ebene, die gut einsehbar war. Dirk schätzte, dass sie eine halbe Minute brauchten, um sie zu überqueren. Dreißig Sekunden, in denen sie hoffen mussten nicht gesehen zu werden.
Über das elektronische Visir auf Kossaks Scharfschützengewehr versuchten sie Aktivitäten auf dem Dach des Gebäudes auszumachen. Da war nichts, aber der Winkel ließ nur eine begrenzte Ansicht zu. Sollte Dirk sich entscheiden nicht auf die Dunkelheit zu warten, würde es ein Glücksspiel werden, ob sie unerkannt hinein gelangen würden.
Er entschied sich geduldig zu bleiben. Das Risiko war zu groß in einen geplanten Hinterhalt zu geraten. Dolph und Juth bezogen auf dem Hügel Wache, denn so wie die Dinge bisher gelaufen waren, mussten sie mit allem rechnen, sogar einem Gegenangriff. Jeder bekam seine Aufgaben, nur für Eva blieb die Rolle des unnützen Anhangs, die wenn es Dirks Gnade zuließ, vielleicht die Frau innerhalb ihrer Gegner erledigen durfte. Ansonsten hatte sie brav zu gehorchen und still in der Ecke zu sitzen.
Es blieben ein paar Stunden bis zur Dunkelheit. Eva wollte die Zeit nutzen, um den verlorenen Schlaf nachzuholen. Es war wichtig ausgeruht die kommenden Ereignisse anzugehen, doch leider verweigerte ihr Körper die notwendige Regeneration. Ihre Gedanken fanden keine Ruhe. Sie hatte sich in eine Situation begeben, in der sie auf der falschen Seite des Spielfeldes stand. Das tragische Los einer Verräterin. Hatten die Verfolgten überhaupt ihre Hilfe verdient? Frends Tod ließ sie zweifeln, doch es gab kein zurück mehr. Die Entscheidung hatte sie bereits vor dem eigentlichen Start getroffen. Jetzt galt es den richtigen Zeitpunkt für den finalen Akt zu finden. Wieder und wieder verlangte ihr rastloser Verstand nach Möglichkeiten, um möglichst schadfrei ihren Verrat zu offenbaren. Irgendwann stellte sich Resignation ein. Die vor ihr liegenden Ereignisse waren nicht mal annähernd vorherzusagen. Es würde eine Frage der Intuition werden und hoffentlich hatte sie in den Jahren des Tempels nicht alles in der Richtung eingebüßt. Ihre Selbstzweifel waren gerade nur hinderlich, weswegen sie sich mit Gedanken zu der Zeit vor dem Tempel ablenkte. Sie brauchte diese Erinnerungen an ihre Mutter, an ihre Schwester, an die heile Welt, in der alles so einfach schien. Wie ist sie nur hier hergekommen? Wie konnte das alles nur geschehen? Die wehmütigen Gedanken bestärkten nur ihre Selbstzweifel und so suchte sie die Konfrontation mit Dirk.
„Was ist meine Aufgabe beim bevorstehenden Angriff?“, fragte sie ihn. Derzeit gab es keine Bildverbindung ins Lager, so dass Dirk keinerlei Skrupel haben musste derb zu werden.
„Einfach nur gut aussehen. Wir werden dir das Weib schön präsentieren und wenn du Angst hast dir einen Nagel abzubrechen, wird schon jemand für dich einspringen, um das Ganze zu beenden.“
Die herablassende Feindseligkeit tat Eva weh. Im Mikrokosmos des Tempels war sie solche Worte nicht gewöhnt. Das Gemeinschaftsgefühl, auch wenn es auf falschem Fundament aufgebaut wurde, war wie eine Droge und hier wurde sie gerade auf kalten Entzug gesetzt. Das Empfinden von Einsamkeit überkam sie. Der eigentliche Grund, warum sie damals den Lehren des Führers gefolgt war. Sie gehörte nun nicht mehr dazu. Nicht zur Gruppe und auch nicht mehr zum Tempel. Verrat war niemals einfach, aber ihre Familie der letzten Jahre zu hintergehen, war ungeheuer schwer. Zum Glück tat Dirk alles dafür, ihr diesen Schritt zu vereinfachen.
„Ich kann nicht nur einfach danebenstehen. Ich brauche eine Aufgabe“, sagte sie trotzig.
Dirk war genervt und stand kurz davor wieder die Beherrschung zu verlieren. Dieses Mal wollte er sich nicht zurückhalten und ging ohne große Anzeichen eines Gewaltausbruches auf sie zu. Zwei Schritte, dann stand er Eva gegenüber. Sie erkannte das Verlangen ihr wehzutun zu spät und so schaffte sie es nicht vollständig dem ansatzlosen Schlag auszuweichen. Das Schlimmste blieb ihr erspart, trotzdem reichte die Wucht, um zu Boden zu gehen.
„So was wie dich fick ich normalerweise dreimal täglich. Das ist das Einzige, wofür ihr gut seid. Du bist nur hier, weil du den Schwanz von Kain lutschst. Glaub nicht, dass du mir deswegen irgendwas vorschreiben kannst.“ Dirk war wieder außerhalb jeglicher vernünftiger Verhaltensweisen. Ein Zustand, in dem er jemanden töten würde, ohne es auch nur annähernd zu registrieren. Die Vergeltung für Frends Tod drohte in die falsche Richtung zu laufen.
„Dreimal täglich? Du kannst doch froh sein, wenn du ihn überhaupt hochbekommst“, spuckte sie ihm Blut entgegen und rappelte sich mühsam wieder auf. Es war nicht besonders weise ihn in diesem Zustand weiter zu provozieren, doch Eva wollte nicht nachgeben. Viel zu oft hatte sie die letzten Jahre ihre wahren Empfindungen unterdrückt. Es tat gut gegen jegliche Vernunft zu handeln.
Die Nachwirkungen des Schlags zeigten ihre verheerende Wirkung. Sie hatte Mühe nicht ohnmächtig zu werden und kämpfte auf den Beinen zu bleiben. Es war überlebenswichtig einen halbwegs wachen Verstand zu behalten, denn nach dieser Bemerkung würde Dirk für ihr vorzeitiges Ende sorgen. Irgendwie schaffte es sie ihre Waffe zu ziehen.
„Du miese ...“ Er brach ab, als er die Pistole auf sich gerichtet sah.
„Und jetzt? Solche Püppchen wie du haben doch gar nicht den Mumm abzudrücken“, spie er verächtlich aus.
„Lassen wir es drauf ankommen.“ Sie zitterte. Bleib auf den Beinen. Diesen einen Gedanken drückte sie immer wieder in ihren Verstand. Es half. Das Ohnmachtsgefühl wurde schwächer. Was nun? Dirk hatte Recht. Ihr fehlte der notwendige Tötungsinstinkt. Wenn sie es nicht schaffte abzudrücken, war das ihr Ende. Reichte ihr Schneid ihn wenigstens zu verletzen? Sie zielte etwas tiefer. Der Lauf zeigte jetzt auf seinen Schoß.
„Vielleicht breche ich mir dabei den Nagel ab, aber der Frauenwelt werde ich damit einen Gefallen tun.“ Es war an Dirk zu reagieren. Einerseits musste er sein Gesicht wahren, anderseits war er sich nicht sicher, ob sie wirklich zögern würde. Es siegte seine Abneigung sich von Frauen etwas diktieren zu lassen. Evas Konzentration war zu hundert Prozent auf ihren Finger gerichtet. Er war bereit ihren Willen zu testen. Zum Glück aller Anwesenden entspannte das Kommunikationsgerät die Lage.
„Gruppenführer melden Sie sich“, tönte Kains Stimme verrauscht. Dirk zögerte kurz, nutzte dann aber die Möglichkeit, die Situation vorerst zu entspannen.
„Herr General.“ Das Bild auf dem Pad zeigte Kains Gesicht.
„Ich verkneife mir die Frage wie es läuft. Ich denke das wissen Sie besser als ich.“ Dirks Gesicht verfinsterte sich. Er wollte zu einer Erklärung ansetzten, aber Kain unterbrach ihn sofort.
„Das müssen Sie mit sich selber ausmachen. Wichtig ist nur die neue Anweisung. Keiner der Gejagten wird getötet. Wir brauchen sie lebendig. Haben Sie mich verstanden Gruppenführer?“
Dirks Überraschung schlug umgehend in unterdrückte Wut um. Wollte Kain ihn weiter demütigen und seinen Trupp durch einen anderen ersetzen? Das wäre ein Maximum an Schande. Er war unfähig Kain eine Antwort zu geben.
„Ich brauche eine Bestätigung, Gruppenführer“, drängte der General.
„Wieso die Änderung der ...“, Kain unterbrach ihn erneut.
„Das hat Sie nicht zu interessieren. Ich werde Ihnen den ersten und zweiten Zug zur Unterstützung schicken. Sie machen gerade mobil. Warten Sie auf dieser Position, bis sie da sind. Das Kommando werde ich dann übernehmen. Ich brauche eine Bestätigung, dass sie meine Anweisung verstanden haben.“
Dirks Verstand weigerte sich weiter die passenden Worte auszuspucken.
„Gruppenführer. Es gibt nur eine Antwort auf meine Anweisung und die würde ich jetzt gerne von Ihnen hören.“ Mittlerweile war Kains Verärgerung unübersehbar.
„Zu Befehl, Herr General“, antwortete Dirk endlich.
Das Bild erlosch und Dirks schockiertes Gesicht erinnerte Eva an ein bockiges Kleinkind, dem man drohte sein Lieblingsspielzeug wegzunehmen, wenn es nicht sein Zimmer aufräumen würde. Trotz und Wut wechselten sich gegenseitig ab und am Ende traf er die Entscheidung Kains Anweisung zu ignorieren. Er nahm sein Gewehr und baute sich vor Eva auf. Wollte er tatsächlich ihren kleinlichen Zwist vorher noch beenden?
„Siehst du diese Waffe? Die grausamste Art und Weise jemanden zu töten. Hör ich ein falsches Wort von dir, wirst du ihr erstes Opfer.“ Er wartete noch einen Moment um sich zu versichern, dass seine Drohung die gewünschte Wirkung hinterließ und brüllte dann los.
„Alles sofort antreten.“ Es brauchte nur wenige Momente.
„Wir rücken aus. Unser Püppchen wird uns den Rücken freihalten und hier in Stellung bleiben.“ Er zeigte mit dem Gewehrlauf auf sie, als Erinnerung an seine Drohung. Es dämmerte mittlerweile, aber noch waren sie für mögliche Wachen auf dem Dach gut sichtbar. Kossak wollte seinen Einwand erst die Dunkelheit abzuwarten erneuern, aber Dirk brachte ihn mit einem dominanten Blick zum Schweigen.
Sie rückten zu viert aus und ließen Eva allein zurück. Mit dem Verschwinden von Dirk verflüchtigte sich auch die unmittelbare Gefahr, was ihr Körper mit der Einstellung der Adrenalinproduktion feierte. Der zusätzlichen Energie beraubt, drohte ihr nun wieder die Ohnmacht. Sie kannte das Gefühl des Schocks und wusste, dass dieser Zustand nicht lange anhalten würde. Eine Minute kämpfte sie gegen den Schwindel, dann hatte sie es überstanden. Ihr Geist war jetzt frei für Überlegungen und Kains neue Anweisung lieferte jede Menge Futter für Spekulationen.
Kain hatte Dirk zurückgepfiffen, was dieser offenkundig ignoriert hatte. Damit war für ihn das Kapitel Tempel endgültig erledigt. Niemand hinterging Kain und machte so weiter wie bisher. Mal abgesehen von ihr selbst, allerdings würde sie dafür einen hohen Preis zahlen müssen. Sicherlich keine Möglichkeit für Dirk seine Ungnade wieder gutzumachen. Was war der Grund für den Sinneswandel von Kain? An der Gruppe war wohl mehr dran, als es im ersten Moment den Eindruck machte.
Sie konnte nicht einfach sitzen bleiben und auf die Verstärkung warten. Ihre körperliche Verfassung war durch den Schlag noch nicht vollständig wiederhergestellt, aber sie musste etwas tun. Die Situation verschaffte ihr den idealen Zeitpunkt für die letzte Stufe ihres Verrats. Jetzt galt es den armen verfolgten Seelen ihre vollständige Unterstützung zukommenzulassen. Dummerweise kannte nur Dina ihre wahren Absichten und so war diese Ruine voll von potentiellen Feinden. Fast jeder dort drinnen würde nicht zögern sie zu töten. Trotzdem fühlte es sich gut an und so machte sie sich auf, die kommenden Ereignisse mit jeder Menge Zuversicht zu beeinflussen.
Dirk die Stirn geboten zu haben, gab ihr zusätzliches Selbstvertrauen. Die Geburt einer neuen Eva. Winzig und voller Naivität drohte sie neben der Eva des Tempels erdrückt zu werden, doch dieser Einfluss würde über die Zeit schwinden. Sie begab sich auf eine Reise an deren Ende hoffentlich ihr wahres Wesen als Belohnung wartete. Zu oft hatte sie schon geglaubt auf dem richtigen Weg zu sein, doch dieses Mal fühlte es sich richtig an. Die Saat war gesetzt und von nun an galt es die zarte Pflanze zu hegen und zu pflegen. Sie wusste zwar nicht, was sie auf dem Weg erwarten würde, aber sie musste sich emanzipieren von Fremdeinflüssen. Diesen Fehler der Vergangenheit durfte sie nicht wiederholen. Kein Vater, kein Tempel nur hundert Prozent Eva war das Ziel. Hoffentlich würde sie dafür lang genug am Leben bleiben.
Zwanzig Minuten waren nach dem Konflikt mit Dirk vergangen, als sie mit neuem Selbstbewusstsein ihre Rettungsmission startete. Sie schätzte, dass ihre ehemaligen Kameraden zu dem Zeitpunkt bereits auf dem Weg nach oben waren. Ihre Ortungsgeräte würden sicherlich registrieren, dass sie ihren Posten verlassen hatte. Es war ihr egal. Sie hatten nur ein kurzes Zeitfenster um die Jagd erfolgreich zu beenden und von daher blieb ihnen gar nichts anderes übrig, als Eva zu ignorieren. Stockwerk für Stockwerk würde sie sich nach oben begeben, um ihrer Mission zu folgen. Hoffentlich kam sie nicht zu spät.
Sie erreichte die Lobby, die teilweise eingestürzt war. Hilflos sah sie sich um. Irgendwie musste es nach oben gehen. Immerhin war sie nicht die erste, die diesen Büroturm erklimmen wollte. Das Treppenhaus befand sich rechts von ihr und als sie die ersten Schritte nach oben machte, war sie sich sicher den richtigen Weg gefunden zu haben. Die unteren drei Etagen waren komplett verschüttet aber die Treppe am Rand schien intakt. Mutig nahm sie Stufe um Stufe, immer in der Hoffnung mit dem gesamten Aufgang nicht abzustürzen. Es gab ein paar wenige Stellen, an denen sie größeres Geschick aufweisen musste, da Geröll gefährlich den Zugang versperrte.
Bisher hatte sie alles souverän gemeistert und erleichtert stellte sie fest, dass die oberen Etagen in besserem Zustand waren. Die einsetzende Dunkelheit erwies sich als zusätzliches Problem und behinderte ihr Vorankommen. Mehr als ein Mal musste sie das Gelände abtasten, weil sie nicht sicher sein konnte, gefahrlos die nächsten Stufen zu meistern. Das Zählen der einzelnen Etagen gab ihr das trügerische Gefühl von Kontrolle und ab der vierzehnten unterstützte sie das einfallende Mondlicht. Die Außenwände waren hier löchrig und teilweise fehlten ganze Stücke der Fassade. Auf jeder Ebene lauschte sie in der Dunkelheit nach ungewöhnlichen Geräuschen, konnte aber bisher nichts ausmachen. Erst auf der fünfzehnten Etage gab es nicht nur den Wind, der durch die zerstörten Fenster pfiff. Irgendwer schien sich hier zu schaffen zu machen.
Die ohnehin große Anspannung nahm weiter zu. Sie zog ihre Waffe, doch die erhoffte Beruhigung setzte nicht ein. Ihre militärische Erfahrung in Kampfsituationen war praktisch nicht vorhanden und so konzentrierte sie sich darauf bei einsetzender Gefahr in Deckung zugehen. Sie hielt den Atem an, um besser die Umgebung wahrzunehmen. Es war unmöglich diese eindeutig nicht normale Aktivität zuzuordnen. Von umherstreifenden Tieren bis zu schwer bewaffneten Söldnern konnte alles dort im Dunkeln lauern. Wenn sie schon nicht wusste, was da auf sie wartete, konnte sie vielleicht die Entfernung einschätzen. Sie war sich sicher, dass sie noch ein oder zwei Ebenen höher musste. Die Treppe sah gut aus, nichts was ihr den Hals brechen könnte. Langsam, versuchend jedes Geräusch zu vermeiden, nahm sie Stufe um Stufe.
Sie befand sich auf der sechzehnten Ebene. Vollkommen reglos versuchte sie mehr aus den wenigen Lauten herauszuhören. Vergeblich. Was ging da vor sich? In Zeitlupe verließ sie das Treppenhaus. Das viele Geröll machte es ihr schwer lautlos voranzukommen. Sie musste unbedingt jegliche Aufmerksamkeit vermeiden. Die Wände auf dieser Ebene waren nur noch rudimentär vorhanden und durch die Löcher in den Decken schien das Mondlicht. Die Etage über ihr war eindeutig die baufälligste im ganzen Gebäude. Als hätte man gezielt Steine entnommen, um zu testen, wie weit die Außenwände die Last der oberen Stockwerke aushielt. Alles über ihr sah verdammt gefährlich aus. Ihr kam Juth mit seinen Explosivgeschossen in den Sinn. Plötzlich musste sie gegen den Drang diese Ruine zu verlassen ankämpfen.
Je weiter sie voran schlich, umso erkennbarer wurde dieses mysteriöse Geräusch. Offensichtlich schluchzte jemand nicht unweit von ihr. Ansonsten war bis auf den leisen Wind alles ruhig. Zu ruhig für zehn Leute, die sich dort oben gegenseitig umbringen wollten. Entweder war der Kriegsschauplatz auf höheren Etagen oder sie lauerten reglos hinter halb eingefallenen Wänden, bereit sich auf alles zu stürzen, was so naiv war sich ihrer Position zu nähern. Langsam aber stetig kam sie voran, die Pistole im Anschlag und immer die bestmögliche Deckung suchend.
Obwohl sie sich zwang natürlich zu atmen, war ihr das auf Grund der Anspannung unmöglich. Ihre ganze Konzentration galt der Vermeidung verräterischer Laute und das schloss das Luft holen mit ein. Mühsam presste sie Sauerstoff in ihre Lungen, ohne auch nur ein Geräusch zu verursachen. Ihr Hörsinn war so geschärft, dass sie auf jegliche akustische Abweichung sofort reagieren konnte. Mit rasendem Puls kam sie im Schneckentempo voran, bis zu einem riesigem Loch in der Wand vor ihr. Mit der jetzigen Taktik des Schleichens war das Vorbeikommen ein enormes Risiko, denn ohne Deckung wäre sie ein leichtes Ziel. Sie musste sich also entscheiden, ob sie schnell und laut vorbeirannte oder leise und ohne Schutz so weiter machte wie bisher. Sie entschied sich für ersteres und machte sich bereit zu laufen.
Ein letztes Mal versuchte sie in der Stille vor ihr irgendwas Auffälliges zu ergründen, aber da war nichts. Sie war bereit, doch bevor sie ihren ersten Schritt machen konnte, versetzte sie ein Flüstern in lähmende Starre. Das war knapp. Also befanden sich definitiv mehrere Personen vor ihr. Was sollte sie tun?
Die eindeutig männliche Stimme rief leise einen Namen. Sie versuchte etwas bekanntes rauszuhören, aber dafür war sie zu weit weg. Mindestens zwei Leute, so viel konnte sie sich zusammenreimen. Wahrscheinlich lauerten noch mehr in der schweigenden Dunkelheit. Sie war sich sicher, dass sie noch nicht bemerkt wurde, jedenfalls nicht von den Verfolgten. Dirk und seine Leute dagegen, konnten trotz beschränkter Ortungsgeräte die richtigen Schlüsse ziehen. Die Unsicherheit über ihr weiteres Vorgehen ließ sie zögern. Nur bewaffnet mit einer Pistole wollte sie ungern den ersten Schritt aufs Schlachtfeld wagen. Genau diese Vorsicht rettete ihr am Ende das Leben.
Dirk konnte keinen klaren Gedanken fassen. Innerhalb kürzester Zeit brach alles über ihn herein. Frends Tod, dann Kains widerspenstiges Weibsstück und am Ende diese vollkommen irrwitzige Anweisung. Offenbar sollte er bestraft werden für sein totales Versagen. Es wurde Zeit die Dinge auf seine spezielle Art und Weise zu regeln und die würde er ohne Kain und seine Tempelkameraden durchziehen. Er hatte nichts mehr zu verlieren und so war sein Geist vollständig fokussiert auf seine persönliche Rache. Die Bilder, wie dieser Mistkerl seinen Kameraden einfach hingerichtet hatte, bekam er nur durch einen möglichst schmerzhaften Tod aller Beteiligten aus dem Kopf. Dieses triumphale Gesicht, als Frends Gehirnmasse in alle Richtung verteilt wurde, nährte seine Wut. Diese Verhöhnung konnte nicht ungesühnt bleiben.
Seine letzte rationale Aktion bestand darin, Kains Schlampe am Leben zu lassen. Er verzichtete auf die kurzfristige Befriedigung, da er eine Meuterei oder mindestens Diskussionen von seinen Leuten befürchtete. Für so was hatte er keine Zeit. Außerdem war sie ein zähes Luder, was sich zu wehren wusste. Dirk hoffte auf eine zweite Chance für die Lektion, die er ihr unbedingt erteilen wollte. Die Wahrscheinlichkeit dafür war gering, denn Kain würde die Missachtung seiner Befehle nicht ohne Bestrafung hinnehmen. Im schlimmsten Fall würden sie ihn aus der Gemeinschaft verbannen. Der Preis war es ihm wert, solang er vorher den sechs Hurenböcken zu ihrem todbringenden Schicksal verhelfen konnte. Wenn er endlich seine Fähigkeiten unter Beweis stellte, kam er vielleicht am Ende nur mit ein paar Wochen bei den Bautruppen davon. Immerhin wurde jeder Mann gegen die Inc. gebraucht.
Sie hatten nur wenig Zeit. Kains angedrohte Mobilmachung konnte jeden Moment eintreffen, daher war überlegtes taktisches Vorgehen keine Option. Im Sturmlauf überquerten sie die gut einsehbare Ebene vor ihrem provisorischem Lager und stoppten erst, als sie nach Luft ringend in der Lobby standen. Die fragenden Blicke seiner Gefolgschaft verlangten nach einem Grund für das fluchtartige Ausrücken, aber Dirk wollte sich nicht durch unnütze Erklärungen aufhalten lassen.
„Am besten wir fangen von oben an die Stockwerke zu durchsuchen“, sagte er stattdessen, um Entschlossenheit zu zeigen. Er schaute auf sein Pad. Der zurückgelassene Punkt begann sich zu bewegen. Offenbar war er nicht der einzige, der Befehle verweigerte. Also legte sie es drauf an. Vielleicht bekam der Tag ja doch noch seinen Reiz. Getötet durch Eigenbeschuss war eine gute Erklärung, denn mehrere Zeugen würden seine Anweisung zurückzubleiben bestätigen können. Gab es jemals bessere Voraussetzungen für einen tragischen Unfall?
Es war wiederum Kossak, der auf die Schwächen des Planes hindeutete.
„Dann besteht die Gefahr, dass sie uns entwischen. Wir sollten Stockwerk für Stockwerk untersuchen.“
Dieser Kossak nervte ihn, was ihm in diesem Moment der Anspannung eine extra Portion Beherrschung abverlangte. Warum stellte er ständig seine Entscheidungen in Frage? War er auch Kains Meinung, dass er als Anführer ungeeignet war? Dieser Klugscheißer würde nach seiner Befehlsverweigerung vermutlich der neue Zugführer werden. Vielleicht ließ sich ja „getötet durch Eigenbeschuss” noch weiter ausdehnen.
„Wenn sie uns entkommen wollten, wären sie nicht in diese Ruine geflohen. Die hocken da drin und glauben uns dran zu kriegen. Die werden wir sowas von in den Arsch treten.“
Kossak atmete tief durch. Ihm war die Unzufriedenheit über diese Erklärung anzusehen, aber er wagte es nicht erneut zu widersprechen. Dirk ließ ihn stehen und ging Richtung Treppenhaus. Offenbar der einzige Zugang nach oben. Schweigend machte sich die Gruppe an den Aufstieg. Ihr Anführer legte ein höllisches Tempo vor. Das hatte einerseits den Vorteil, dass sie schnell vorankamen und anderseits umging Dirk damit lästige Fragen über die hektische Vorgehensweise. Zehn Minuten brauchten sie volle Konzentration, denn der Aufstieg war nicht ganz ungefährlich. Auf der zwölften Etage sahen sie sich gezwungen ihre Nachtsichtgeräte zu verwenden, denn die Dunkelheit erschwerte ihr Vorgehen. Dirk schaute wieder auf das Pad. Dieses widerspenstige Luder hatte mittlerweile das Gebäude erreicht. Elf Punkte blinkten nun auf dem Bildschirm. Es wurde Zeit die Anzahl zu verringern. Hoffentlich konnte er sein Vorhaben umsetzen, bevor die Verstärkung eintraf.
Die einsetzende Dunkelheit verlangsamte trotz Nachtsichtgerät ihr Tempo. Das hatte den Vorteil leiser das verräterische Geröll auf den Stufen zu umgehen. So blieben sie unbemerkt, als ihnen ihre Gegner von oben entgegenkamen. Mit einem Handzeichen befahl Dirk dem Trupp sich Deckung zu suchen. Die Stimmen über ihnen mussten von der siebzehnten Etage kommen und da sie sich nicht näherten, war das wohl der Ort an dem sie sich verschanzen wollten. Von Zurückhaltung war nichts zu erkennen, denn die Erklärungen konnte Dirk selbst zwei Stockwerke tiefer deutlich hören. Offenbar rechneten sie erst bei vollkommener Finsternis mit einem Angriff. Vorfreude ergriff ihn, denn so wie es aussah, konnte er seinen Rachetrieb leichter befriedigen, als erwartet. Er würde Kain und der Gemeinschaft zeigen, welch harter und unnachgiebiger Anführer er war. Sie mussten alle so schnell wie möglich erledigen, sonst bestand die Gefahr, dass ihnen durch die eintreffende Verstärkung die Zeit davonlief.
Leise gab Dirk seine Anweisungen. Gemeinsam mit Juth wollte er sie aufschrecken. Sollten sie nicht alle erwischen, trieb sie die einsetzende Panik in das Treppenhaus, wo Dolph und Kossak die Sache endgültig erledigen würden. Diesen Hitzkopf mit den Explosivgeschossen wollte er unbedingt an seiner Seite haben. Das Terrain war denkbar ungeeignet für solch eine grobschlächtige Waffe. Zu seinem Glück hatten ihre Gegner es versäumt Frends Waffe unbrauchbar zu machen und so besaß Juth nun eine feinfühligere Alternative. Einer der Vorteile eines Zugführers war die genetische Codierung für andere Mitglieder seines Trupps zu ändern.
Sie durften nicht länger warten, denn die potentiellen Jagdtrophäen waren drauf und dran sich in Nischen zu verkriechen, aus denen sie nur schwer hervorzujagen waren. Vorsichtig näherten sich Dirk und Juth den kommenden Leichen, aber es war schwierig unerkannt vorwärtszukommen, denn nicht nur die Wände wiesen extreme Lücken auf. Auch der Boden schien kaum mehr vorhanden zu sein. Diese Etage war ideal für die Verteidiger und es wäre schwer gewesen sie ohne Überraschungseffekt zu erledigen. Dirks Entscheidung die Sache zu beschleunigen war also richtig gewesen. Jetzt galt es den Abschluss zu vergolden. Eine gute Gelegenheit ergab sich in einem Raum mit freiem Blick auf das darunter liegende Stockwerk. Alle sechs standen am Rand des bodenlosen Geländes und diskutierten ihr weiteres Vorgehen. Die Dunkelheit machte die Angreifer praktisch unsichtbar, während ihre Opfer sich durch die Nachtsichtgeräte als leuchtende Zielscheiben förmlich aufdrängten. Leider war es Dirk unmöglich die Ziele voneinander zu unterscheiden. Zu gern hätte er diesem Anführer einen Streifschuss mit der Biowaffe verpasst, um ihn dann qualvoll verenden zu sehen. Ihm blieb nur die zufällige Auswahl und als er sein erstes Opfer ins Visier nahm, stahl ihm Juth die Genugtuung des ersten Schusses. Ohne offiziellen Befehl feuerte er einfach mit seinem GW3 wahllos in die Gruppe.
Dieser Idiot konnte es nicht erwarten und legte einfach los. Auf den ersten Blick traf er nicht besonders gut. Dirk war sauer, aber es war nicht der richtige Zeitpunkt die angestaute Wut Richtung Juth zu lenken. Die Überraschung über den Angriff würde nicht lange anhalten, also galt es den Moment zu nutzen. Dirk schickte die Kugeln in Richtung des anvisierten Opfers, das sich bereits auf dem Weg in die Deckung machte. Hatte er getroffen? Er war sich unsicher und nahm das nächste Ziel unter Feuer. Viel Auswahl war nicht mehr übrig, denn die Gruppe floh panisch in alle Richtungen. Dieses Mal gab es definitiv keine Treffer. Verdammt. Ihre Ausbeute bei diesem Überraschungsangriff war überschaubar.
Wenigstens hatte Juth getroffen. Im schwachen Licht des Nachtsichtgerätes konnte er die taumelnde Gestalt erkennen, die krampfhaft versuchte Halt zu finden. Sie stürzte abwärts und das nicht alleine. Auf der Habenseite standen damit ein Treffer und eine mögliche Verletzung mit dem biologischen Kampfstoff. Das war weniger als erhofft und der wesentliche Grund bestand in der Ungeduld seines Kameraden. Das Schicksal hatte ihnen die Opfer auf einem Silbertablett präsentiert, umso ärgerlicher war das Ergebnis. Dirk musste sich beherrschen nicht hinterher zu springen, um die Gestürzten mit Kugeln vollzupumpen. Er beschränkte sich darauf näher an die Kante zu robben und die Lage unter ihnen zu kontrollieren. Deutlich erkannte er den Verletzen im fahlen grün des Nachtsichtgeräts. Bereit zur Abfertigung wollte er ihm den Rest geben, doch das wäre eine Verschwendung des teuren Kampstoffprojektils gewesen. Der Typ da unten würde elendig verrecken und das gefiel Dirk viel mehr als der Gnadenschuss. Als Köder könnte er womöglich noch gute Dienste leisten und eventuell seinen Kameraden aus der Deckung locken. Also lauerte er auf naive Versuche dem Verletzten zur Hilfe zu kommen. Die Vorfreude war zurück und hoffentlich würde sein Verlangen jemanden wehzutun ihm nicht zuviel Geduld abfordern.
Dirk schaute auf sein Pad, immer bereit die tödlichen Schüsse abzugeben, sollte sich unter ihm was bewegen. Zwei der Entkommenen hatten sich hinter eine Wand schräg gegenüber geflüchtet und verharrten da ängstlich. Er überlegte, ob er Dolph auf sie ansetzen sollte, entschied sich aber dagegen. Die Absicherung der Zugänge zwang sie auf der Etage zu bleiben und so würde er sie erledigen, sobald die Sache unter ihnen geklärt war. Ein weiterer Punkt näherte sich Kossaks Position. Der glückliche Bastard würde also in Kürze seinen Spaß haben. Gespannt verfolgte er die Bewegungen auf seinem Bildschirm und registrierte, wie die zwei Punkte zu einem verschmolzen. Wer immer da auf Kossak zusteuerte, bereute es gerade genau die Richtung eingeschlagen zu haben. Wie erwartet blieb nur ein Punkt übrig. Damit hatten sie einen der verdammten Bastarde erledigt. Gerade als er über das Kommunikationsgerät Kossak zu seinem Triumph gratulieren wollte, passierte das Unfassbare. Ungläubig starrte er auf das Pad. Was er sah, bedeutete nichts Gutes. Das Störsignal war wieder aktiv.
„Kossak. Melde dich“, raunte er in sein Gerät. Keine Antwort.
„Kossak, verdammt melde dich“, wiederholte er. Das Kommunikationsgerät knisterte. Endlich eine Antwort.
„Jetzt habe ich eine Waffe“, verkündete eine fremde Stimme.
Panik stieg in Dirk auf. Wie konnte das passieren? Trotz Bewaffnung und Ortungsgeräte hatte er bereits seinen zweiten Kameraden verloren und zu allem Unglück befand sich Kossaks uncodiertes Scharfschützengewehr nun auch noch in Feindeshand. Gegen wen zum Teufel kämpften sie hier? Es ging nicht mehr um Jäger und Gejagte. Rache war zur Nebensächlichkeit verkommen, denn der Einsatz hatte sich gerade erhöht. Nichts geringeres als sein Leben galt es zu verteidigen. Ein ungewohntes Gefühl kroch in ihm hoch. Angst.
Nachdem er die neue Situation halbwegs realisiert hatte, bestand seine erste Überlegung darin die Stellung zu wechseln. Ein bewaffneter Gegner, dessen Standort unbekannt war, während die eigene Position für einen Scharfschützen förmlich einladend wirkte, war eine ernste Bedrohung für Leib und Leben. Auf der anderen Seite war die Situation unter ihnen zu verlockend, als dass er sie so ohne weiteres aufgeben wollte. Er gab Juth die Anweisung auf alles zu schießen, was sich da unten dem Verletzten näherte und zog sich zurück. Was er brauchte war ein besseren Überblick über den Raum vor ihnen. Nach kurzer Suche fand er eine Stellung, die zwar keinen Einblick mehr in die Etage unter ihnen ermöglichte, aber aufgrund der Löcher in den Wänden einen weitreichenden Überblick auf das siebzehnte Stockwerk zuließ. Diese kurze Distanz in sein neues Versteck verlangte ihm mehr Mut ab, als der stundenlange Marsch durch den Dschungel. Hinter jeder Ecke konnte einer dieser Mistkerle auf ihn lauern. Dieses Spiel war jetzt ausgeglichen und das gefiel ihm überhaupt nicht. Anderseits versetzte ihn die Angst um sein Leben in einen ungewöhnlichen Rausch. Der Sieg am Ende würde dadurch deutlich aufgewertet werden.
Die Erleichterung war groß, als er seine neue Stellung ohne Zwischenfälle erreichte. Er nutzte eine kleine Aufschüttung als Deckung und bekam dadurch einen besseren Überblick als erhofft. Der größte Teil des Raums war aus dieser Position einsehbar und jetzt galt es eine mögliche Annäherung des Feindes rechtzeitig zu erkennen. Angestrengt suchte er die Umgebung nach potentiellen Bewegungen ab, immer den Finger am Abzug.
Unter ihm tat sich etwas. Außerhalb seines Sichtfelds vernahm er unterschiedliche Stimmen. Eine klang wehleidig und schmerzverzerrt. Höchst wahrscheinlich Juths Treffer. Dazu gesellte sich ein leises Flüstern, dass irgendwie ratlos klang. War es bereit dem klagenden Elend zu helfen? Wenn ja könnten sie einen weiteren Punkt von der Liste streichen. Dirk veränderte geringfügig seine Position, um Juths Verhalten besser beobachten zu können. Der war sichtlich aufgeregt und konzentrierte sich auf die Szenerie unter ihm. Möge er besser treffen als beim ersten Mal.
Der Raum knisterte förmlich vor Anspannung. Eine Minute verging, in der selbst der Wind sein leises Fauchen einstellte. Dann endlich erlöste Juth Dirk von der unerträglichen Ruhe, indem er seine Kugeln in die Tiefe schickte. Hoffentlich hatte einer von den drei Schüssen getroffen. Die Einschläge klangen viel versprechend, denn das hörte sich nach gesplitterten Knochen an. Angestachelt von seinem Erfolg näherte sich Juth dem Bodenloch, um seinen Opfern den Rest zu geben. In dem Moment, als er erneut feuern wollte, schleuderte ihn eine unbekannte Kraft zurück. Dabei verlor er seine Waffe, die in den Abgrund vor ihm fiel. Begleitet wurde dieser schmerzhafte Rückschlag von einem ohrenbetäubenden Knall, der Dirk zusammenzucken ließ. Das Scharfschützengewehr verbreitete seine laute und tödliche Wirkung. Erschrocken über die plötzliche Unterbrechung erkannte Dirk die kauernde Silhouette im grün des Nachtsichtgerätes keine zehn Meter entfernt. Er hatte nicht aufgepasst. Begeistert durch Juths Erfolg vernachlässigte er seine Aufmerksamkeit. Nur kurz, aber es hatte gereicht für diesen Bastard, um sich unerkannt zu nähern. Es wurde Zeit die Sache hier und jetzt zu beenden. Wütend feuerte er in Richtung des Schützen, der sich bereits teilweise zurückgezogen hatte. Die Einschläge im Mauerwerk zeugten von seinem Misserfolg.
„Ahhhhhh.“ Wütend brüllte er seinen Frust in Richtung des Angreifers. Das war definitiv der Drecksack, der Frend erledigt hatte. Diese Ratte musste doch irgendwie zu erledigen sein.
„Scheiße es hat mich erwischt.“ Juths schmerzverzerrte Schreie gaben Dirk den Rest. Wütend sprang er auf und feuerte ohne großes Zielen auf die letzte Position des feindlichen Schützen. Es tat gut seiner Raserei freien Lauf zu lassen, auch wenn er damit Gefahr lief selbst getroffen zu werden.
„Stirb du Mistkerl, stirb endlich...“, seine Hasstirade wurde von einem ohrenbetäubenden Knall unterbrochen. Er war nicht der einzige, der wild durch die Gegend schoss. Juth griff auf seine zweite Waffe zurück, was in dieser Ruine unangenehme Konsequenzen zur Folge haben konnte.
„Hör auf du Idiot”, brüllte Dirk gegen den Widerhall an, als ihm die Tragweite von Juths Kurzschlussreaktion bewusst wurde. Vergeblich.
Boom. Ein zweiter Knall erschütterte die maroden Wände. Juth wartete gar nicht erst ab, ob die erste Explosion irgendwas erledigt hatte. Ähnlich wie Dirk befand er sich im Ausnahmezustand und ballerte wild drauf los. Vermutlich wären auch noch eine dritte oder vierte Explosion auf sein Opfer niedergegangen, doch die komplette vordere Seite des Raumes kam ins Rutschen. Wesentliche Teile der Etage stürzten ab und rissen ihren Verursacher mit in die Tiefe.
Der aufgewirbelte Staub brannte Dirk in den Augen und zwang ihn sein Nachtsichtgerät abzunehmen. Verdammt dieser Idiot hatte mit seiner Raserei alle in Gefahr gebracht, indem er das halbe Gebäude zum Einsturz brachte. Sie hatten Glück gehabt, dass überhaupt noch was stehen geblieben war und sie nicht ihr Ende unter tonnenweise Beton gefunden hatten. Hoffentlich hatte sich wenigstens das Problem mit diesem elendigen Typen erledigt. Niemand entkam dieser Sprengkraft. Obwohl alles in Dirk danach drängte diese Ruine zu verlassen, musste er auf Nummer sichergehen. Er wollte sich ergötzen an der Leiche, die ihm soviel Mist zugemutet hatte.
Der Staub legte sich nach und nach und Dirk konnte sich einen Überblick über die Nachwirkungen von Juths Raserei verschaffen. Die gegenüberliegende Außenwand war verschwunden und ermöglichte einen freien Blick in den Nachthimmel von Lassik. Die dunklen Wolken hüllten den Mond ein, der trotz der verringerten Strahlkraft das Innenleben des arg geschundenen Gebäudes gespenstisch abbildete. Ohne die schützenden Wände peitschte der Wind die Regentropfen in die Ruine. Dirk wagte ein paar Schritte Richtung Abgrund, doch das marode Mauerwerk hatte es noch nicht überstanden. Der Rest oberhalb seiner Etage sah übel aus. Die verbliebenen Teile konnten jeden Moment einstürzen und damit dem ehemals stolzen Gebäude den Rest geben. Er musste hier dringend raus. Scheiß auf die Genugtuung, die ihm der Kadaver seines Widersachers geben würde. Wahrscheinlich war er ohnehin mit dem Rest der Etage in die Tiefe gestürzt.
Er suchte die Umgebung nach einer guten Möglichkeit ab ins Treppenhaus zu gelangen, als er auf etwas Unerwartetes stieß. Das konnte doch nicht wahr sein. Nach all den Rückschlägen und Demütigungen traf er endlich auf seinen fleischgewordenen Alptraum. All der Mist der vergangenen Stunden manifestierte sich in der Gestalt, die vor ihm unter einer Unmenge an Geröll halb verschüttet lag. Der Rachegott schien ein Fan von Dirk zu sein. Als wäre das nicht Grund genug für ein Freudenfest, schien auch noch Leben in dem Mistkerl zu stecken. War der denn gar nicht klein zu kriegen? Egal. Seine Unsterblichkeit würde in Kürze enden. Vier Patronen waren übrig. Mehr als genug für so viel Dreck. Einmal anlegen und die Sache wäre erledigt.
Dirk zögerte. Wo blieb denn da der Spaß ihn einfach nur zu erschießen? Hatte er nicht geschworen ihn möglichst brutal hinzurichten. Seinen ganzen Frust und seinen Zorn wollte er nicht mit einem einfachen Schuss befriedigen, zumal das Schicksal ihn so wehrlos und eingeklemmt präsentierte. Er wollte seine Rache ausgiebig genießen.
Vor dem Spaß gab es die Pflicht. Er musste unbedingt herausfinden, ob andere diesen höllischen Einsturz überlebt hatten. Wenn er gleich seinem Vergnügen nachging, wollte er ungestört bleiben. Der Blick auf sein Pad offenbarte, dass dieses verdammte Störsignal weiterhin aktiv war und so blieb die Ungewissheit über weitere Feinde. Sein Trupp hatte definitiv ein weiteres Opfer zu verzeichnen. Juths Leiche klemmte zwischen zwei abgestürzten Deckenteilen und die Art der Körperhaltung schloss ein Überleben definitiv aus. Dieser verdammte Idiot hatte sich selbst erledigt.
Seine beiden Ziele unterhalb des Raums konnten ebenfalls auf die Todesliste gesetzt werden, denn der gigantische Geröllhaufen war mit hundertprozentiger Sicherheit ihr Grab. Wieder zwei weniger. Damit verblieben einige Unbekannte.
„Dolph, Status“, flüsterte er in sein Kommunikationsgerät.
Er wiederholte mehrmals die Anfrage, bekam aber keine Antwort. Das bedeutete keine Unterstützung mehr. Hoffentlich waren seine Widersacher in ähnlichen Schwierigkeiten.
Wie zum Teufel sollte er diesen Kerl dort unten möglichst schmerzhaft töten, ohne beim Abstieg eine Lawine aus Geröll und Stein in Gang zusetzen? Vorsichtig probierte er einige Wege in Richtung seines Opfers, bis er endlich sicher sein konnte nicht selbst an seiner eigenen Ungeduld zu sterben. Endlich angekommen lauschte er konzentriert auf verräterische Geräusche, um mögliche Feinde zu orten, aber da war nichts. Offenbar hatte kein anderer überlebt. Niemand, außer diesem Elend da vor ihm, was im Schutt steckte. Ganze Deckenteile waren herabgestürzt und trotzdem lebte er noch. Dieser Typ hatte verdammt viel Glück, aber das würde jetzt enden. Genüßlich musterte er die bewegungslose Gestalt. Er brauchte ihn bei Bewusstsein, doch bevor er etwas versuchen konnte, störte ihn der Kommunikator.
„Gruppenführer. Melden Sie sich!“ Es war Kain. Die Verstärkung war eingetroffen und würde mit Sicherheit in Kürze hier auftauchen. Das letzte was er jetzt brauchte, war eine Zurechtweisung über sein Fehlverhalten, also schaltete er sein Kommunikationsgerät ab, um ungestört seine Belohnung genießen zu können. Es würde ewig dauern sich durch den Schutt der unteren Etagen zu wühlen. Ihm blieb viel Zeit die Grenzen seiner sadistischen Neigung auszutesten.
Er ging in die Knie, um auf selber Höhe zu sein. Mit ein paar gezielten Ohrfeigen schaffte er es, Leben in den bewusstlosen Körper zu bekommen.
„Guten Morgen, Schlafmütze.“ Dirks Grinsen im fahlen Mondlicht musste dämonisch wirken. Gut so. Vor dem Schmerz kam die Angst und davon wollte er jede Menge in seinem Gegenüber spüren. Es war Teil seiner Rache auch den geistigen Zustand seines Opfers in qualvollen Untiefen zu versenken.
„Du hast uns eine schöne Show geliefert, aber nun ist es vorbei“, begann er in einem hinterhältigen Plauderton, den er bei Kain abgekupfert haben konnte.
„Dafür habt ihr mich doch gekauft. Ich denke mal, ich war jeden Taler wert.“ Diese ruhige und angstfreie Antwort verunsicherte Dirk für einen kurzen Moment. Diesen Zustand der Gelassenheit musste er unbedingt ändern.
„Wird Zeit es möglichst grausam zu beenden. Wir beide sind jetzt unter uns. Wir können uns viel Zeit lassen.“ Dirk versuchte sich in Sachen psychologischer Kriegsführung an Kain zu orientieren, aber ihm fehlte das notwendige Charisma dafür. Seine Worte erzeugten nicht viel Eindruck bei seinem Opfer.
„Dann leg los und quatsch mich nicht mit leeren Versprechungen voll.“ Diese Provokation ließ die Wut in Dirk wieder ansteigen. Er benötigte viel Selbstbeherrschung, um sein Messer nicht in den Kopf dieses Mistkerls zu bohren. Wahrscheinlich eine gewollte Reaktion seines Opfers, um die Sache zu beschleunigen.
„Netter Versuch”, murmelte er und legte sein widerwärtigstes Grinsen auf.
„Ich sollte mit der Zunge anfangen, dann habe ich meine Ruhe.“ Er packte seinen Schopf und wollte seine Androhung in die Tat umsetzen, als ein Geräusch in seinem Rücken ihn zögern ließ. Offenbar gab es doch weitere Überlebende.
Er richtete sich auf. Wer immer da so unverhofft auftauchte, hatte ihn nicht gleich über den Haufen geschossen. Vorsichtig drehte er sich um. Die Störung entpuppte sich als Kains neues Spielzeug, das alles andere als selbstbewusst eine Pistole auf ihn richtete.
„Das hatten wir doch schon”, grinste er sie unverhohlen an. Die Sache wurde immer besser, denn es ergab sich die Möglichkeit seine Triebe von Tod und Verderben auf ein weiteres Opfer auszuweiten. Voller Überzeugung, dass sie nicht abdrücken würde, ging er ein paar Schritte auf sie zu.
„Stehen bleiben“, erwiderte sie mit zittriger Stimme. Für diese Aufforderung erntete sie nur ein mitleidiges Lächeln. Das Fehlen des notwendigen Tötungsinstinkt war ihr deutlich anzusehen. Keine fünf Meter trennten die beiden voneinander. Mit schnellem Schritt ging er auf sie zu, um sie zu entwaffnen. Mit ihr würde er anfangen und im Rausch dann diesem Mistkerl im Schutt förmlich ausweiden. Dirk war bereit für den besten Moment seines Lebens.
Eva blieb weiter regungslos und lauschte in den dunklen Gang vor ihr. Das Flüstern hatte aufgehört, aber das Wimmern war noch deutlich zu vernehmen. Das klang nach Schmerzen. Brauchte dort drüben jemand medizinische Hilfe? Sie war unschlüssig, bis sie das typische Geräusch eines Sturmgewehrs vernahm. Das Plopp eines GW3 versetzte sie in Bewegung. Sie befand sich näher an der Kampfzone, als angenommen und musste dringend hier weg. Sie änderte ihre Deckung und war jetzt von drei Seiten geschützt. Zu spät realisierte sie, dass die Kugeln von oben auf ihre Opfer niedergingen. Somit war auch sie nicht sicher. Ihr Instinkt riet ihr schnellstens zu verschwinden, doch noch überwog die Angst in die Schusslinie zu geraten. Ein Knall erschütterte das marode Gemäuer und gab ihr endlich die nötige Entschlossenheit. Ohne groß auf Hindernisse zu achten, rannte sie los und stolperte über einen Gesteinsbrocken von der Größe eines Fußballs. Zum Glück wusste sie, wie sie den Sturz richtig abfangen konnte. Ihr Körper leitete intuitiv das Abrollmanöver ein und so kam sie mit ein paar Blessuren davon. Sie rappelte sich auf und überlegte kurz ihr weiteres Vorgehen, als eine gewaltige Explosion ihren Gehörgang malträtierte. Wer zum Teufel war so wahnsinnig ausgerechnet hier mit Explosivgeschossen um sich zu ballern?
Eine zweite Explosion holte sie aus der Starre. Vom Überlebensinstinkt angetrieben, rannte sie weiter nach vorn und entkam damit der einstürzenden Decke.
Irgendwas hatte ihren Kopf getroffen. Schwindel ergriff sie und machte das koordinierte Laufen zur Unmöglichkeit. Zum zweiten Mal an diesem Tag kämpfte sie mit der Ohnmacht. Ihr Körper erhöhte die Adrenalinproduktion, um auf den Beinen zu bleiben. Vergeblich. Die Muskulatur unterhalb ihres Beckens wurde zu Pudding und zwang sie auf die Knie. Die ganze Ruine begann sich in einem atemberaubenden Tempo zu drehen und drohte sie davon zu schleudern. Sie verlor die Kontrolle und im Schleier der einsetzenden Schwäche fiel ihr Oberkörper nach vorn. Der Aufschlag würde schmerzhaft werden, doch zum Glück drückte ihr Bewusstsein rechtzeitig den Notausknopf.
Die Kopfschmerzen holten sie zurück. Eva hatte Mühe das Chaos in ihrem Verstand zu bändigen. Erinnerungen an ihre Mutter, den Tempel oder den Streit mit ihrem Vater fluteten ihren Geist. Sie musste unbedingt Ordnung schaffen. Was war geschehen? Wo war sie? Es fiel ihr schwer sich die letzten Momente in Erinnerung zu rufen. Es dauerte eine Weile, bis sich ihr Gedächtnis regenerierte und die wilden Gedanken verdrängte. Eine einstürzende Ruine blieb als einziger Fetzen ihrer Rückschau zurück.
Mühsam richtete sie sich auf. Der Schmerz in ihrem Nacken machte jede Bewegung zur Tortur. Vorsichtig lehnte sie sich sitzend an eine Wand und versuchte sich zu sammeln. Wie lange war sie weg gewesen? Sekunden oder Stunden? Es war immer noch stockdunkel, aber irgendwie hatte es das Mondlicht geschafft weiter in das verfallene Gebäude vorzudringen. War sie weiterhin in Gefahr? Die Stabilität der Umgebung hatte sich mit Sicherheit nicht verbessert. Irgendwer hatte es für eine clevere Idee gehalten mit Explosionen alle ins Verderben zu stürzen.
Sie tastete den höllischen Schmerz an ihrem Kopf ab. Ein Gemisch aus Blut und Haaren blieb an der verschwitzen Hand hängen und beunruhigte sie. Kopfverletzungen konnten unangenehme Begleiterscheinungen, wie Lähmungen oder Gedächtnisverlust zur Folge haben. Sie testete alle Gliedmaßen auf Bewegung und erst als alles zuverlässig funktionierte, begann sie sich ein wenig zu entspannen. Sie hatte verdammtes Glück gehabt, denn die Schutthaufen in ihrer unmittelbaren Umgebung zeugten von gigantischen Kräften, die schnell zu ihrem Grab hätten werden können. Ein paar Minuten Ruhe gönnte sie sich, dann begab sie sich auf ihre äußerst wackligen Beine.
Der Schmerz an ihrem Hinterkopf verkam zu einem unangenehmen Pochen. Offenbar war die Verletzung nicht so schlimm, wie anfangs befürchtet. Nach und nach stellten sich die Erinnerungen der letzten Stunden ein. Eva, die Verräterin leuchtete dabei ganz hell. Sie hatte die Seiten gewechselt, doch fast niemand in diesem verfallenen Gebäude wusste davon. War überhaupt noch jemand am Leben? Sie brauchte Gewissheit und folgte dem wenig Vertrauen erweckenden Gang vor ihr.
Ihr geistiger Zustand verbesserte sich mit jedem Schritt. Die Bewegung tat ihr gut und nach zehn Minuten vorsichtigen Vorankommens, diagnostizierte sie sich als halbwegs zurechnungsfähig. Daher entschied sie für sich, dass die Stimmen unmöglich nur in ihrem Kopf vorhanden sein konnten. Ein paar Schritte vor ihr unterhielten sich mindestens zwei weitere Überlebende in einem gemütlichen Plauderton. Verwirrt über die unpassende Stimmlage näherte sie sich vorsichtig der Quelle der Unterhaltung.
Das blasse Mondlicht und ihr lädierter Kopf machten es schwer die Situation vollständig zu erfassen. Das gemütliche Palaver stand im Widerspruch zu den Umständen der beiden Männer vor ihr. Einen von ihnen hatte es schwer erwischt. Verschüttet und offensichtlich verletzt, strahlte er eine Gelassenheit aus, die in dieser Lage mehr als unpassend wirkte. Sein Gesprächspartner redete im unterschwellig aggressiven Ton freundlich auf ihn ein, machte aber nicht den Anschein wirklich helfen zu wollen. Den Einsturz schien er unbeschadet überstanden zu haben und seine Bewaffnung machte ihn zur möglichen Gefahr für Eva. Es wurde Zeit ihre Waffe zu ziehen, was zu ihrem Bedauern nicht geräuschlos funktionierte. Mit Erschrecken erkannte sie Dirks Gesicht, als der sich im gespenstischen Licht zu ihr drehte.
Panik stieg in ihr auf. Sie hatte auf Überlebende gehofft, aber musste es ausgerechnet dieses Ekel sein. Damit ging es in die zweite Runde ihres Kräftemessens und wieder hatte Eva nicht viel Hoffnung auf einen glücklichen Ausgang. Mit biestigem Lächeln kam er langsam auf sie zu und warf ihr widerliche Beleidigungen an den Kopf. Außerstande das Gesagte zu verarbeiten, rang sie mit ihrer fehlenden Entschlossenheit. Auf halben Weg zu ihr erkannte sie sein Messer in der Hand. Es ging um alles oder nichts und zu ihrem Bedauern fehlte ihr weiterhin der Mut das Notwendige zu tun. Adrenalin setzte ein und steigerte die Panik ins Unendliche. Ihr Körper fing an zu Zittern und bestärkte damit sein Handeln. Wenn sie diesen Tag überleben wollte, musste sie ihre Unschuld heute zu Grabe tragen. Andernfalls würde es hier und jetzt enden und das auf keine angenehme Art und Weise.
Ihr „Stehen bleiben“ wirkte lächerlich und bestärkte Dirk in seinen widerlichen Plänen. Höhnisch grinste er sie an und ließ seiner diebischen Freude freien Lauf. Schritt für Schritt bahnte sich das Verhängnis seinen Weg. Eva war keiner Bewegung mehr fähig und der Vergleich mit einem Kaninchen vor der Schlange war nie angebrachter als in diesem Moment. Erinnerungen aus allen Phasen ihres kurzen Lebens überkamen sie. Im Zeitraffer wiederholten sich die Erlebnisse im Tempel. Angefangen mit der Euphorie, die sie für die Thesen des Führers empfand, über die ersten Zweifel, bis hin zu diesem Tag, an dem mit hoher Wahrscheinlichkeit alles enden würde. Ihre Mutter, ihre Schwester, selbst Dina hatten einen kurzen Auftritt in dem wenig schmeichelhaften Rückblick. Sie kramte in dieser Autobiographie nach einem Grund diesen Abzug zu drücken, aber nichts gab ihr die Zuversicht den Finger zu krümmen. Zu oft hatte sie in ihrer Vergangenheit die eigenen Überzeugungen über den Haufen geworfen. Im Angesicht des Todes galt es die letzten Prinzipien zu bewahren. Eiskalter Mord wäre die Spitze ihres verhunzten Lebens. Ihre Entscheidung stand fest. Sie würde mit einem Rest an Anstand die Ehre ihrer Familie bewahren. Eva, Tochter von Tela und Plato, würde hier in den Trümmern einer alten Stadt sterben, ohne jede Chance auf große Taten oder Glück in ihrem Leben gehabt zu haben. Dirks Gesicht ließ da keine Zweifel aufkommen.
Das „plopp” ihrer Pistole überraschte sie mehr als ihr Opfer. Es gab keine bewusste Erinnerung an die Millisekunde, in der sie sich gegen ihren Tod wehrte. Welcher Teil von ihr gegen die Entscheidung rebellierte moralisch einwandfrei das Zeitliche zu segnen, konnte sie weder bestimmen noch nachvollziehen. Sie hatte ihren Überlebensinstinkt unterschätzt, der im Moment drohenden Unheils die bewusste Eva ausblendete und das Handeln übernahm. Bereit das vorherrschende Narrativ von edler Gesinnung durch vorgetäuschte Unschuld zu ignorieren, erledigte er das Notwendige. Als sie abdrückte, wurde ihr selbst das Zuschauen verwehrt und erst als Dirk in sich zusammensackte, hatte sie die Kontrolle über ihr Tun zurückerlangt. Schockiert über das Ergebnis rutschte ihr die Waffe aus der Hand. Es war ihr unmöglich das vorherrschende Gefühl in ihrem Verstand zuzuordnen. Schock, Überraschung und Ekel verschmolzen zu einem einzelnen undefinierbaren Brei aus Emotionen. Ein wenig Erleichterung konnte sie ebenfalls erkennen und die verhinderte einen mentalen Kollaps. Wie war es möglich, dass ihr Bewusstsein so einfach ins Hinterstübchen ihres Gehirns verbannt wurde, während vernichtende Kräfte ungehindert gegenläufige Interessen durchsetzten? Das war nicht sie, die da den Schuss abgab, nicht ihr eigentliches Wesen. Was da stand und Dirk den tödlichen Kopfschuss versetzte, war reduziert auf die ursprünglichste Lebensform und die kannte nur einen Gedanken. Überleben. Trieb siegte über Vernunft.
Ungläubig schaute sie auf den Körper zu ihren Füßen, der die letzten Zuckungen von sich gab. Ein einziger Schuss hatte gereicht, um Dirk zu erledigen. Kurz und schmerzlos. Die Bestie, welche ihr die Kontrolle entrissen hatte, war ohne Zweifel effizient gewesen. Der Teil in ihr, der in dunklen Abgründen hauste, hatte sich zurückgezogen, doch das Wissen über jenen unbeherrschbaren Dämon veränderte ihre Persönlichkeit nachhaltig. Wie war sie zu sowas fähig gewesen? Das Misstrauen in ihre eigenen Überzeugungen war nie größer. Alles war unwirklich und nicht zu glauben, obwohl seit den Geschehnissen keine Minute vergangen war. Wie konnte sie unter diesen Voraussetzungen einen Neustart angehen? Das Leben nach dem Tempel sollte voll von Zuversicht und guter Taten sein. Diese unbewusste Exekution war ein monumentaler Fehlschlag. Eines wurde ihr in diesem Moment bewusst. Dieses Ereignis würde sie mehr prägen als alle Jahre im Tempel.
Was jetzt? Am liebsten wäre sie weggerannt, irgendwo ans Ende der Welt, wo niemand auch nur ein Wort über das Geschehene verlieren würde. Ein einfacher Weg und an Feigheit nicht zu übertreffen. Am sichersten war es einfach dazustehen und nichts zu provozieren. Vielleicht war die Bestie noch hungrig und keine zehn Meter entfernt gab es genug Futter für weitere Gräueltaten. Vermutlich wäre sie im Stehen verhungert, wenn nicht eine Bewegung rechts von ihr sie aus der Starre geholt hätte. Panisch suchte sie den dunklen Boden nach ihrer Waffe ab, aber die Pistole befand sich irgendwo außerhalb ihrer Reichweite. Ein wenig Erleichterung konnte sie nicht leugnen, denn das erschwerte eine Wiederholung der furchtbaren Ereignisse. Vorsichtig drehte sie sich zu der Person, die sich ihr im Halbdunkel langsam näherte.
„Respekt, hätte ich dir gar nicht zugetraut“, hörte sie Dina verschwommen. Offenbar hatte Eva noch nicht die volle Kontrolle über ihre Sinne zurück. Es wurde Zeit sich zusammenzureißen.
„Oh. Das erste Mal“, stellte Dina fest. Evas Gesichtsausdruck ließ dahingehend wohl keine Zweifel aufkommen. Unfähig ein paar Worte zu erwidern, fing ihr Körper wieder an zu zittern.
„Alles gut. Setz dich“, forderte Dina Eva in ungewohnt fürsorglichen Tonfall auf. Mit dem Hintern auf dem Boden zu sitzen, verschaffte ihr tatsächlich etwas Entspannung.
„Okay. Geht’s wieder? Ich muss mal darüber.“ Dina entfernte sich und Scham ergriff Eva. Sie wollte nicht schwach wirken, doch ihr Körper verweigerte weiterhin jegliche Bewegung. Ein paar Minuten saß sie einfach da und haderte mit ihrem Schicksal, dann holte sie ein innerer Alarm zurück in die Wirklichkeit.
„Wir müssen hier sofort raus“, brüllte sie in Richtung der anderen und sprang auf. Als Reaktion bekam sie nur einen kurzen Blick, dann wurde sie wieder ignoriert. Endlich war ihre Entschlossenheit zurück und die befeuerte ihre Schritte. Als sie die beiden erreichte, bot sich ihr ein grausamer Anblick. Dina hatte den Verletzten frei bekommen, aber auch ohne ärztliche Sachkenntnis war jedem klar, dass die blutigen Gliedmaßen keine Möglichkeit der Wiederherstellung boten. Eva bewunderte die Gelassenheit des armen Teufels, der sich wie durch ein Wunder bei Bewusstsein hielt.
„Das wird wieder“, beschwor Dina den Verletzten.
„Es ist sinnlos. Wir alle wissen, dass es vorbei ist“, kam es von dem Todgeweihten mit schmerzverzerrter Stimme.
„Wir lassen dich nicht zurück.“ Dina wirkte wild entschlossen.
„Wir müssen dringend weg. Kain und seine Leute können jeden Moment hier sein“, brachte Eva den Grund ihrer Warnung an.
„Perfekt“, zischte der Verletzte schwach.
„Ein perfekter Abgang für einen Soldaten. Ich kann einige dieser Bastarde mit in den Tod reißen. Danach werden sie keinen mehr für diese Jagd holen.“ Er hatte Mühe bei Bewusstsein zu bleiben, aber selbst in seinem Todeskampf entwickelte sein Verstand einen Plan.
„Was hast du vor?“, fragte Dina besorgt. Er grinste schwach.
„Einen würdigen Abgang mit Feuerwerk.“ Sein Blick fiel auf die Explosivgeschoßwaffe.
„Geht klar.“ Dina hatte sich abgefunden mit der Tatsache ihm nicht helfen zu können. Es galt nun ihr eigenes Überleben zu sichern. Sie hatte ihren Anflug von Mitleid überwunden und war wieder vollkommen rational. Das geplante Feuerwerk ihres Kameraden würde sein Leiden beenden und ihnen die Möglichkeit zur Flucht geben. Tatsächlich hatte es der Verletzte geschafft sich durch sein selbstloses Vorhaben einen gewissen Respekt bei ihr zu verschaffen. Ein einziges Wort sollte den würdigen Abschied eines Kameraden adeln.
„Danke.“ Dina ging zu dem Gewehr und hob die Waffe mit einer ungewöhnlichen Zurückhaltung auf. Die zerstörerische Wirkung löste eine gewisse Vorsicht bei ihr aus. Sie legte es neben dem Sterbenden ab und schenkte ihm ein zartes Lächeln. Zitternd ergriff er seine letzte Möglichkeit auf Vergeltung. Das blinkende rote Licht verweigerte ihm die Nutzung.
„Warte kurz“, sagte Dina und ging zu Dirks Leiche. Gemeinsam mit Eva hievten sie den toten Körper in die Nähe des Gewehrs. Sie mussten höllisch aufpassen die Waffe nicht aus Versehen auszulösen, als sie die klammen Finger an den Abzug legten. Das erlösende grüne Licht erzeugte Entspannung. Ein kurzes Kopfnicken des Verletzten diente als Abschied, dann machte sich Dina auf die Ruine zu verlassen.
„Lass uns hier verschwinden“, forderte sie Eva auf. Sie verließ den Raum, aber zu Evas Überraschung ging sie nicht in Richtung des Treppenhauses. Jede Sekunde war kostbar und trotzdem verschwendeten sie ihre Zeit mit unnützen Umwegen.
„Hilf mir mal“, hörte sie eine Aufforderung aus der Dunkelheit.
„Wir haben keine Zeit, sie werden jeden Moment hier sein“, fluchte Eva vor sich hin. Sobald ein Tempelmitglied auf dieser Etage in das Sichtfeld des Sterbenden geriet, würde er dafür sorgen, dass kein Stein auf dem anderen blieb. Noch konnte sie die aufkommende Panik beherrschen, aber der Gedanke unter Tonnen von Schutt ihr Ende zu finden, machte sie unruhig.
„Was soll das?“, fragte sie ungläubig, als sie Dina in einem Nebenraum wiederfand.
„Ich lass nicht noch jemanden zurück. Hast du Kalorien dabei?“ Eva reichte ihr ungläubig eine Flasche mit violettem Inhalt.
„Nicht für mich. Für ihn. Er muss es trinken.“ Erst jetzt bemerkte Eva den leblosen Körper, der vorsichtig an eine marode Wand gelehnt saß. Es gab also noch weitere Überlebende, obwohl es ihr schwer fiel diese abgemagerte Gestalt als lebendig zu bezeichnen. Wie konnte er in so kurzer Zeit so viel Gewicht verlieren? Es war nicht die Zeit für Fragen. Sie mussten sich beeilen. Eva öffnete die Flasche und versuchte dem Verletzten das Getränk einzuflößen. Leider ging ein nicht unbeträchtlicher Teil daneben. Ihre Aufregung verhinderte eine Zielgenauigkeit und die Bewusstlosigkeit ihres Gegenübers erschwerte das Trinken. Sie musterte ihren Patienten, der erstaunlicherweise keinerlei Verletzungen aufwies.
„Das muss erst mal reichen. Wir müssen runter und dann raus. Du gehst voran.“ Dina war wieder in ihrem Element als Anführerin. Das Gefühl die Dinge unter Kontrolle zu haben, trieb sie an. Eva dagegen war froh über diese Tatkraft. Der Tempel hatte sie geprägt Anweisungen zu folgen und so ergänzten sich die beiden ideal.
Wie angewiesen steuerte Eva Richtung Treppenhaus, während Dina ihr mit dem geschulterten Leib des Verletzten folgte. Sie hatten Glück, denn die Treppe wies keinerlei Beschädigungen infolge der Explosionen auf. Stockwerk um Stockwerk ging es nach unten und obwohl die Dunkelheit ihren Abstieg erschwerte, kamen sie gut voran. Sie wechselten sich ab mit dem Tragen des bewusstlosen Körpers und an einigen kritischen Stellen waren sie gezwungen sich ihre Last gegenseitig zuzuwerfen. Dieses erschreckende Leichtgewicht war keine große Belastung und erneut fragte sich Eva, wie ein Mensch so schnell an Masse verlieren konnte. Auf der fünften Etage gaben sie ihm den Rest an Kalorien zu trinken, was die reglose Gestalt etwas zu beleben schien.
„Da sind sie“, stellte Dina leise fest, als sich Geräusche von unten näherten. Die Verstärkung war eingetroffen und mit einer abfedernden Geste ihrer linken Hand, wies sie Eva an in Deckung zu gehen. Sie verließen den Aufgang, um hinter einem Haufen aus Geröll Kains Truppen passieren zu lassen. Die stürmten an ihnen vorbei und zeigten zu ihrem Glück keinerlei Interesse an der fünften Etage. Als sie sicher waren, dass niemand mehr von unten nachkam, machten sie sich an den weiteren Abstieg. Es blieb nicht mehr viel Zeit bis zum endgültigen Inferno und das trieb sie an höhere Risiken einzugehen.
Sie erreichten die Lobby und Dina ließ es sich nicht nehmen mit ein paar hektischen Worten Eva zum Sprint anzutreiben.
„Renn Mädchen. Renn“, fauchte sie und richtete den Körper auf ihrer Schulter neu aus. Dann raste sie los und versetzte Eva mit ihrer unkonventionellen Art des Vorankommens in Panik. Jede Sekunde konnte das Gebäude über ihnen zum Einsturz kommen. Sie feuerte ihren Körper zur Höchstleistung an und stoppte erst, als sie mit brennender Lunge im Freien einen tiefen Atemzug aus Lassiks Nachtluft in sich einsaugte. Mit Erleichterung spürte sie die Regentropfen auf ihrem Gesicht.
„Da passiert nichts“, stellte sie fest, als sie wieder normal atmete. Vielleicht war der Zurückgelassene nicht mehr in der Lage den Abzug zu drücken.
„Gib ihm noch einen Moment. Der ist zäh und zieht das durch, glaub mir“, antwortete Dina und legte den Körper vorsichtig vor ihr ab.
„Ist auch egal. Wir müssen…“ Weiter kam Dina nicht, denn aus dem Dunkel vor ihr pellten sich mehrere bewaffnete Gestalten. Eva erkannte eine der Silhouetten sofort. Kain.
Nach ihrer abenteuerlichen Flucht aus der Ruine hatten sie das Pech ausgerechnet Kain in die Arme zu laufen. Seine Gesichtszüge waren in der Finsternis nicht zu erkennen, aber Eva war sich sicher, dass er selbstgefällig seinen Erfolg feierte. Die Falle hatte zugeschnappt und jetzt galt es die Beute zu zerlegen. Mit dem Tod von Dirk war es trotz allen Verlangens von Kain für Eva unmöglich geworden mit irgendwelchen Vereinbarungen davonzukommen. Nichts Geringeres als der Tod erwartete sie und der Tempel würde ihre Hinrichtung als abschreckendes Beispiel für Ungehorsam förmlich zelebrieren. Dina wog kurz die Möglichkeiten ihrer Flucht ab, aber da gab es nichts, wo sie sich hätten verstecken können. Zwei von Kains Begleitern richteten bereits ihre Waffen auf sie und machten ein Entkommen unmöglich.
„Herzlich willkommen“, begrüßte sie Kain und heizte damit die Wut der beiden Frauen an. Diese eitle Art mit geschlagenen Gegnern umzugehen, genoss er in vollen Zügen.
„Sie haben mich enttäuscht Leutnant“, setzte Kain zu seinen üblichen Spielchen an. Er wollte seinen Triumph voll auskosten und seine perfide Falle mit möglichst viel Freude zu Ende bringen, als ein Knall oberhalb ihrer Köpfe seine Aufmerksamkeit erregte.
„Bericht, Gruppenführer“, blaffte er in den Kommunikator.
„Wir sollten dringend hier weg“, warnte Dina und machte einen Schritt nach vorn. Einem der Bewaffneten gefiel das gar nicht und das Gewehr in seiner Hand ermahnte sie stehenzubleiben. Weitere Explosionen erschütterten das Gebäude und erste Gesteinsbrocken fielen zu ihren Füßen.
„Lauft“, schrie Dina und ignorierte die Wachen. Die hatten mittlerweile ohnehin andere Prioritäten. Die Köpfe in die Höhe gereckt verfolgten sie weitere Trümmerteile, die auf sie herabregneten. Ermutigt durch die Tatsache, dass keiner versuchte Dina aufzuhalten, ergriff Eva den abgelegten Körper und folgte Dina in die Dunkelheit. Hinter ihr brach das Inferno los. Sie spürte, wie Steine in ihrer unmittelbaren Umgebung einschlugen. Wieder mobilisierte sie ihre Reserven, um sich und den Fremden in Sicherheit zu bringen. Nicht einen Augenblick dachte sie daran sich ihrer Last zu entledigen. Nachdem sie ein Leben genommen hatte, war es nur fair ein anderes zu retten. Der Boden unter ihren Füßen begann zu zittern, als die Ruine ins Rutschen kam und Tonnen von Beton in sich zusammensackten. „Lauf“, peitschte sie sich an und rannte wild in die Dunkelheit.
Das Bersten von Metall erinnerte sie an das Brechen von Knochen. Die finale Phase des Zusammenbruchs war eingeleitet und spornte Eva an ihr Tempo zu beschleunigen. Hoffentlich hatte sie genug Abstand zwischen sich und dem rutschenden Stahlbeton gebracht. Wieder musste sie um ihr Leben bangen. In den vergangenen zwei Tagen hatte sie die Grenzen ihrer mentalen Belastung permanent erweitert. Die Aussicht irgendwann vor Erschöpfung zusammenzubrechen, machte ihr Angst. Nicht jetzt, rief sie sich als Aufmunterung zu. Sie war einem Kollaps nahe, aber noch feuerte sie ihr Überlebensinstinkt an weiter zu rennen. Staub umhüllte sie und nahm ihr das letzte bisschen Orientierung. Einfach weiterlaufen und nicht stürzen. Sie hetzte blind durch die Wolke aus Dreck und Regen. Hoffentlich war ihr Fluchtweg frei von Hindernissen, denn wenn sie zu Fall kam, würde die Ruine sie begraben.
Eva lief immer weiter und entkam dem Epizentrum der Katastrophe ohne ernsthaften Schaden zu nehmen. Der Einsturz war vorüber und die üblichen Geräusche der Umgebung eroberten die akustische Vorherrschaft zurück. Das Gemisch aus Regen und Staub verkrustete ihre Augen und erschwerte die optische Orientierung. Was sie brauchte, war zwei Minuten Ruhe, um das Paniklevel etwas herunterzufahren. Sie stoppte, um mit den Füßen den Boden vor ihr abzutasten. Sie wollte den Körper unbeschadet ablegen, doch zu ihrer Überraschung stand sie keinen halben Meter von einer Wand entfernt. Das Nachbargebäude befand sich näher als gedacht und wäre sie in dem Tempo blind weitergerannt, hätte sie sich schwerwiegende Verletzungen zugezogen.
„Hier rüber“, hörte sie Dina aus unbestimmter Richtung.
„Los.“ Dina klang jetzt fordernd. Die Wand vor ihr bot ihr nur zwei Optionen. Rechts oder links? Sie tendierte nach links und lag bei der fünfzig zu fünfzig Chance goldrichtig. Nur drei Schritte, dann griff eine Hand nach ihr und zog sie durch ein Loch in das verfallene Gebäude. Hier konnte nichts mehr über ihnen zusammenbrechen, denn es existierten nur noch mannshohe Grundmauern. Sie hatten es geschafft und waren in Sicherheit. Endlich kam Eva zu ihrer benötigten Pause.
„Wie geht es ihm?“, fragte Dina, als Eva vorsichtig ihre Last abgelegt hatte.
„Er ist schwach und immer noch nicht bei Bewusstsein. Keine Ahnung, ob er es überleben wird.“ antwortete Eva schwer atmend.
„Wir brauchen weitere Kalorien.“ Eva schaute misstrauisch. Warum bestand Dina unbedingt auf wenig hilfreiche Kaloriengetränke.
„Wie sollen die ihm weiterhelfen? Er braucht wohl eher einen Arzt.“
„Glaub mir Liebes. Kalorien sind da hilfreicher als irgendwelche Quacksalber. Seine Fähigkeiten solltest du nicht unterschätzen“, erwiderte Dina. Sie musterte den Verletzten, aber eine medizinische Versorgung hielt sie nicht für notwendig. Eva kamen die Ereignisse in Erics Laden wieder in Erinnerung. Die Blutproben hatten die Behörden in Aufruhr versetzt und nun zeigte einer dieser Untersuchten dieses merkwürdige Verhalten. Dieser Gewichtsverlust in rapidem Tempo und die Tatsache, dass trotz seines miserablen Zustandes keinerlei Verletzungen zu erkennen waren, passte nicht zusammen. Es war offensichtlich, dass hier ein Zusammenhang bestand.
„Was hat er denn für Fähigkeiten?“, fragte sie Dina. Die zog geräuschvoll die Luft ein, weil sie das Gesagte bereute.
„Kann es sein, dass sein Blut irgendwas Außergewöhnliches aufweist?“, hakte Eva nach. Dina ignorierte die Frage. Offenbar war sie auf der richtigen Fährte. Vielleicht war das auch der Grund, warum Kain den Tötungsbefehl aufhob. Der Meister der Informationen hatte sicherlich irgendwann Wind von den Geschehnissen in der Stadt bekommen und seine Schlüsse daraus gezogen. Nicht rechtzeitig wie es schien, denn die Jagd hatte bereits begonnen.
„Was ist sein Geheimnis?“, fragte sie erneut. Dina rang mit einer Entscheidung.
„Geheimnis hin oder her. Es ist Privatsache. Ich werde dir nichts darüber sagen. Soll er dich darüber aufklären, wenn er dazu bereit ist. Für ihn zählt jetzt nur eins. Er braucht Energie. Gibt es hier irgendetwas Essbares in der Umgebung?“
Eva überlegte kurz. Kains Stoßtrupp hatte sicherlich weitere Kaloriengetränke dabei. Es war ihre einzige Möglichkeit an Nahrung zu gelangen, indem sie die nähere Umgebung nach verschütteten Soldaten absuchten. Der Gedanke da rauszugehen und vielleicht Kain oder anderen Bewaffneten über den Weg zu laufen, brachte die Angst zurück.
„Ich hoffe die paar Kalorien sind es wert.“ Eva erhob sich und zog ihre Pistole. Noch fünf Schuss. War sie in der Lage wieder zu töten? Hoffentlich blieb diese Frage weiter unbeantwortet. Wieder wollte sie keine Schwäche gegenüber Dina zeigen. Diese Frau hatte so viel Mist durchgemacht, dass sie mit ihrem eigenen Verhalten wie eine verweichlichte Politikertochter wirkte. Vorsichtig schritt sie die schützende Wand entlang und bog dann ab in Richtung des eingefallenen Gebäudes. Die Pause hatte ihrer Muskulatur nicht gutgetan. Vollkommen steif näherte sie sich dem Ort der letzten Begegnung mit Kain. Würde irgendwas Unvorhergesehenes auftreten, war ihr geschundener Körper nicht in der Lage schnell wegzurennen.
Den ganzen Weg über ging ihr Kain nicht aus dem Kopf. Sie hatte furchtbare Angst vor ihm und insgeheim hoffte sie, dass er von einem herabfallenden Brocken erschlagen wurde, damit sie endlich Ruhe in seinem endgültigen Schicksal finden würde. Bei jedem Schritt erwartete sie sein Auftreten aus der Dunkelheit. Er hatte sie überführt, aber wie viel wusste er von ihrem Verrat? Hatte er Maßnahmen getroffen, um eine Flucht von der Insel zu verhindern? Ihre beste Möglichkeit bestand in der Nutzung des Transportbootes. Wenn er ihren Zugang gesperrt hatte, würden sie hier festsitzen, selbst wenn sie die Küste erreichten. Ihre Chancen dorthin zu gelangen, waren ohnehin gering, da die Ortung sie überall aufspüren konnte. Es war zum Verzweifeln. Ihr Entkommen schien von vornherein zum Scheitern verurteilt. Bisher hatten sie nur Glück gehabt, doch das würde nicht ewig anhalten. Sie hatten widrigen Bedingungen getrotzt, um dieser Ruine lebend zu entrinnen und trotzdem hatte sie das Gefühl ihrem Ziel nicht näher zu kommen.
Mit der Waffe im Anschlag näherte Eva sich vorsichtig der Stelle an der Kain sie überrascht hatte. Das Mondlicht zeichnete gespenstisch aussehende Konturen der zerstörten Umgebung, aber Soldaten oder Verletzte konnte sie nicht erkennen. Kein Grund zur Entspannung, denn aus der Dunkelheit konnten jederzeit Feinde auftauchen und ihr eine tödliche Kugel verpassen. Sie musste die Möglichkeit eines plötzlichen Todes unbedingt ausblenden und sich konzentrieren. Jedes Geräusch vermeidend steuerte sie auf die eingefallene Ruine zu, immer den Blick auf den Boden gerichtet, um Hindernisse zu umgehen oder tote Körper ausfindig zu machen.
Am Fuße des gigantischen Trümmerhaufens wurde sie fündig. Der arme Kerl musste nicht schnell genug weggekommen sein, denn seine Leiche wies massive Kopfverletzungen auf, die definitiv von herabstürzenden Steinen verursacht wurden. Sie brauchte etwas Überwindung für eine genauere Inspektion, aber es war zu ihrem Bedauern nicht Kain. Die arme Seele vor ihr im Dreck hatte hoffentlich einen raschen Tod erlitten, denn die zertrümmerten Gliedmaßen erinnerten sie an das Leid von Dinas Kameraden in der sechzehnten Etage.
Der Regen nahm zu und machte es Eva schwer in der Umgebung mögliche Geräusche wahrzunehmen. Das Adrenalin setzte wieder ein und drängte sie sich zu beeilen. Sie beugte sich runter und drehte die Gestalt auf den Rücken. Die unnatürliche Reaktion des Kopfes ließ sie schaudern. Der Genickbruch hatte ihm hoffentlich ein schnelles Ende bereitet. Offene, tote Augen starrten sie an und versetzten sie kurz in Starre, denn die Leiche war kein Unbekannter. Daniel war erst seit kurzem Mitglied des zweiten Zuges und voller Enthusiasmus von den Bautruppen zum Militär gewechselt. Die Verteidigung des Tempels hatte er als ehrenvolle Aufgabe angesehen, die er bis zum Tod ausführen wollte. Zu seinem Bedauern passierte das schneller als gedacht. Er war sicherlich nicht der Einzige, der heute gestorben war. Die Lüge lebend und vereint im Irrglauben was Gutes zu tun, hatten sie ihr viel zu junges Leben sinnlosen Idealen geopfert. Reue ergriff sie, als sie ihn nach dem benötigten Getränk absuchte. Sie fand eine Flasche mit rotem Inhalt, ein Messer, eine Taschenlampe und ein Ortungsgerät. Mit eiligem Schritt machte sie sich auf den Rückweg, immer in Erwartung eines spektakulären Auftritts von Kain.
„Hast du was gefunden?“, wurde Eva von Dina empfangen, als sie in ihr Versteck zurückkehrte. Sie überreichte die Flasche, dessen rote Farbe auf hohe Kaloriendichte hinwies. Diese Art der Verpflegung wurde nur vom Führer höchstpersönlich genehmigt. Diese Mission hatte offensichtlich hohe Priorität, wenn solche Mittel zur Verfügung gestellt wurden. Wieder kamen ihr die Blutproben und ihre Folgen in den Sinn. Ihr Blick fiel auf die reglose Gestalt, die gerade von Dina mit Nährstoffen versorgt wurde.
Eva wollte sich ausruhen, aber ihr Geist war zu aufgeregt, um wirklich Ruhe zu finden. Sie kramte nach dem Ortungsgerät, dass zu ihrer Überraschung nur das Störsignal anzeigte. Ein ungewohntes Gefühl ergriff sie. Hoffnung.
„Wir sind zu nah an der Einsturzstelle. In Kürze wird der Tempel mit weiteren Leuten auftauchen und alles absuchen. Wir sollten uns Richtung Küste aufmachen. Zum Glück ist euer Störsignal noch aktiv.“ Dina schien Evas Vorschlag sorgfältig abzuwägen, bevor sie eine Entscheidung fällte.
„Du hast Recht. Wir müssen hier weg, aber zehn Minuten Ruhe tun uns gut.“ Dina wirkte unglaublich müde. Das ihre Begleiterin auch nicht unendlich belastbar war, gab Eva zusätzliches Selbstvertrauen. Warum erwischte sie sich immer wieder dabei ihre Unzulänglichkeiten mit Dinas Stärke zu vergleichen? Keine guten Vorrausetzungen für ein selbstbestimmtes Leben nach dem Tempel, wenn sie sich an unrealistische Vorstellungen klammerte. Das Leben in der Gemeinschaft hatte sie zur Anpassung und dem Vergleich geprägt und so suchte sie unbewusst immer wieder nach Orientierung bei Anderen. Es würde ewig dauern diese Angewohnheit abzulegen, aber die Erkenntnis darüber war immerhin der erste Schritt in die Unabhängigkeit.
Sie gönnten sich sogar eine halbe Stunde Pause, ehe sie sich aufmachten. Der Plan war weiterhin mit dem Transportboot die Insel zu verlassen. Die Erschöpfung war beiden anzusehen, aber ihr Wille peitschte sie durch den Nieselregen von Lassik. Bis zum Morgengrauen war die Taschenlampe ihre einzige Lichtquelle und so stolperten sie kaum vorwärtskommend durch den Wald, wobei das Wurzelwerk sie öfter ins Straucheln brachte. Mit Anbruch des Tages erhöhten sie das Tempo und vermieden aufgrund der Kälte längere Pausen. Die Bewegung hielt sie warm und in der Erwartungshaltung eines erlöschenden Störsignals mobilisierten sie Kräfte, die eigentlich längst aufgebraucht schienen. Gegen Mittag konnten sie den Hunger nicht weiter ausblenden und so stoppten sie vor einem Busch mit verlockend aussehenden Beeren. Keine von beiden konnte die Auswirkungen dieser Früchte vorhersagen und so entschieden sie nach kurzer Diskussion der Versuchung zu widerstehen. Wenigstens war Durst kein Thema und so fiel es leichter die knurrenden Mägen zu ignorieren.
Die dichten Wolken am Himmel machten die Orientierung schwer und trieben sie in die Verzweiflung. In der Überzeugung sich für immer verlaufen zu haben, waren sie kurz vor der Resignation, als sie auf einen breiten Weg trafen. Das war die unbefestigte Straße zum Dock, da war sich Eva sicher. Weniger sicher war sie sich bei der Richtung.
„Wo lang?“, fragte Dina.
„Nach Norden“, antwortete Eva in der Hoffnung, dass Dina sich mit den Himmelsrichtungen auskannte. Ihr fragender Blick brachte Ernüchterung.
„Diese verdammten Wolken“, fluchte Eva.
„Ganz ruhig Liebes. Du lebst hier schon eine halbe Ewigkeit. Irgendwas in der Natur muss uns doch einen Hinweis auf Himmelsrichtungen geben.“ Eva überlegte.
„Ich weiß, dass Prem für seinen stetigen Westwind bekannt ist. Ist wohl der Insellage geschuldet“, erklärte sie.
„Na dann. Besser als zu raten“, sagte Dina, prüfte kurz den Wind und machte sich auf in den vermeintlichen Norden.
Nach zehn Minuten stießen sie auf eine kleine Hütte, die Nutzern der Straße einen Unterschlupf für plötzlich einsetzenden Regen bot. Eine ideale Gelegenheit für eine Rast. Erschöpft legten sie den immer noch bewusstlosen Körper auf eine der harten Holzpritschen nieder. Eva war nach zwei Tagen durchschlafen zu Mute, aber lange durften sie hier nicht verweilen.
„Wir werden es nicht vor der Dämmerung bis zur Küste schaffen“, entmutigte Eva Dinas Hoffnung die Insel heute noch zu verlassen. Diese nickte nur müde.
„Selbst wenn wir das Boot erreichen, ist nicht sicher, dass wir es auch nutzen können“, fuhr Eva fort. Dina schien teilnahmslos.
„Hörst du! Wir haben vermutlich keine Chance auf Freiheit.“ Der Versuch ihre Verzweiflung aus ihrer Aussage rauszuhalten, lief schief.
„Ach Liebes. Das wird sich schon finden“, quittierte Dina den Anflug von Aufgabe mit Gelassenheit.
„Wie kannst du nur so gleichgültig bleiben? Wenn sie uns erwischen, werden sie uns für den Tod von Dutzenden von Menschen verantwortlich machen. Weißt du, was das bedeutet?“
„Genau dasselbe, was es vor zwei Wochen bedeutet hat. Ich muss um mein Überleben kämpfen.“ Dina klang weiterhin gleichgültig, während Eva kurz vor einer Panikattacke stand.
„Die Menschen mit denen ich gelebt habe, werden mich töten.“ Eva sprang auf und lief ans andere Ende der Hütte.
„Was habe ich getan?“, fragte sie sich selbst mit bebender Stimme. Ein emotionaler Tsunami drohte sie zu überrollen. Unfähig sich ihren Gefühlen zu entziehen, drohte der mentale Kollaps. Alles drehte sich in unglaublicher Geschwindigkeit und raubte ihr den Atem. Keuchend rang sie nach Luft, aber aus einem unerfindlichen Grund versagten die Lungen ihren Dienst. Irgendwo her legte sich eine Hand auf ihre Schulter, aber das registrierte sie nur am Rande. Die Panik beherrschte ihr Handeln und verhinderte sogar das Atmen.
„Hey.“ Dina schüttelte sie durch und holte sie damit tatsächlich aus der Spirale des selbstgewählten Untergangs.
„Konzentrier dich auf das Offensichtliche.“ Dina presste ihre Hände wie einen Schraubstock an Evas Gesicht und drehte ihren Kopf in Richtung des Bewusstlosen.
„Wenn er sprechen könnte, würde er dir dasselbe sagen, was ich dir jetzt sage.“ Sie drehte den Kopf erneut und jetzt sahen sie sich gegenseitig tief in die Augen. Vorsichtig legte Dina ihre Stirn auf Evas Stirn.
„Danke, dass du uns da rausgeholt hast“, flüsterte sie leise und löste sich von ihr. Mit einem Schlag war all die Panik wie weggeweht. Diese wenigen Worte beruhigten sie und selbst ihre Lungen verarbeiteten die Luft, als hätte es die letzten Sekunden der Atemnot nie gegeben.
„Wir packen das. Okay?“ Eva sah Dina das erste Mal Lächeln.
„Okay“, lächelte sie zurück.
„Vorher müssen wir ihn auf die Beine kriegen.“ Dina deutete auf den reglosen Begleiter.
„Übernachten wir hier. Sammeln Kraft und hoffen auf eine wundersame Auferstehung.“ Dina machte es sich auf eine der vier Pritschen bequem. Mehr Mobiliar hatte ihr Unterschlupf nicht zu bieten. Draußen wurde der Regen stärker. Hoffentlich hatte keiner ihrer Verfolger das Bedürfnis ausgerechnet hier einen Unterstand zu finden.
Mitten in der Nacht weckten Eva ungewöhnliche Geräusche. Das Wetter hatte sich beruhigt und die nächtliche Schwärze verbreitete angenehme Stille. Sie wagte ein paar Schritte vor die Tür und war fasziniert vom Sternenhimmel. Nicht eine einzige Wolke konnte sie am Himmel erkennen und selten hatte sie das Mondlicht so hell erlebt. Ein wahrlich ungewöhnlicher Zustand eines nasskalten Planeten wie Lassik. Hatte ein Tier sie geweckt oder näherten sich Feinde? Ihre Hand legte sich auf ihre Waffe, als sie begriff das die Quelle der Unruhe sich innerhalb der Hütte befand. Ihr Begleiter war im Begriff zu erwachen.
„Leuchte hier rüber“, forderte Dina sie auf, als sie zurück ins Innere schritt.
„Hey. Kannst du mich verstehen?“, fragte Dina als der Lichtkegel sein Gesicht traf. Sichtlich verwirrt, versuchte er sich zu orientieren.
„Was…“, kam es schwach.
„Wo bin ich?“
„Alles gut. Wir sind in Sicherheit“, beruhigte Dina den Erwachenden. Ein paar Minuten vergingen, in denen sie ihm das Notwendigste erklärte. Eva war sich nicht sicher, ob er wirklich alles verstand, aber die Genesung seines Zustandes war mit Sicherheit ungewöhnlich. Kein normaler Mensch war so schnell in der Lage wieder zu laufen, nachdem ihm große Teile eines Hochhauses auf den Kopf gefallen waren.
„Schön, dass es dir wieder gut geht. Wir haben nämlich keine Lust deinen Hintern weiter durch den Wald zu schleppen“, erklärte Dina nach den ersten Schritten durch die Hütte. Eva verfolgte ungläubig die Bewegungen. Sein Blick blieb an ihr hängen und wurde leicht panisch.
„Ich kenne dich. Du bist eine von denen“, sagte er verwirrt.
„Großes Missverständnis“, hakte Dina ein.
„Oh. Ich verstehe. Die mysteriöse Hilfe aus dem Feindeslager“, stellte er misstrauisch fest.
„Die dir übrigens deinen Arsch gerettet hat und uns hoffentlich von dieser Insel bringen wird. Also sei nett zu ihr.“ Dina klang leicht verärgert über seine ablehnende Haltung. Ein paar Sekunden stand er unschlüssig da und musterte Eva. Dann kam er auf sie zu und hielt ihr die Hand hin.
„Ich bin Sentry.“ Er war freundlich, doch noch immer nicht frei von Misstrauen. Verständlich, denn sie hatten ihn unter unmenschlichen Bedingungen im Lager vegetieren lassen, um ihn dann anschließend wie ein Tier zu jagen. Sie hatte die Verantwortung für diese Tortur getragen. Dieser Mann hatte alles Recht der Welt misstrauisch zu sein. Wortlos und etwas verlegen drückte sie seine Hand.
„Das ist übrigens Eva“, übernahm Dina die Vorstellung. Eva war nicht in der Lage irgendwelche Worte an ihn zu richten. Zu groß war die Scham über die Ereignisse im Lager. Selbst die Neugierde über sein Blut brachte sie nicht dazu ihr Schweigen zu brechen. Lautlos warteten sie die ersten Sonnenstrahlen ab, um sich weiter auf den Weg Richtung Küste zu machen.
Peinliche Stille begleitete die Gruppe, als sie wieder unterwegs waren. Dina versuchte mit ein paar Bemerkungen die Stimmung aufzulockern, aber weder Eva noch Sentry gingen auf die krampfhaften Bemühungen ein eine Konversation zu starten. Soziale Umgangsformen waren Eva schon vor der Zeit des Tempels fremd gewesen und nichtssagendes Palaver gegenüber jemanden, der ihr misstraute, schien nicht angebracht. Sie würde sich an Dina halten und jeglichen Kontakt zu ihm minimieren. Bis zum Verlassen der Insel mussten sie sich irgendwie arrangieren. Danach ging hoffentlich jeder seine eigenen Wege. Im Tempel hatte sie gelernt skeptischen Leuten mit Ignoranz zu begegnen. Ein hilfreiches Mittel, um das Gefühl der Ablehnung zu verdrängen. Vielleicht wurde es Zeit ihr Verhalten zu ändern, aber noch brauchte sie die vertrauten Muster.
Zwei Stunden folgten sie mehr oder minder schweigend den Weg Richtung vermeintlicher Küste. Eva war sich weiterhin unsicher, ob Dina die richtige Entscheidung getroffen hatte. Das Gefühl bergab zu gehen, konnte auch ein Ausdruck fehlgeleiteter Hoffnung sein. Sie suchte weitere Hinweise auf Meeresnähe, als Sentry plötzlich stoppte und auf sie zukam. Eva konnte das Zucken ihrer Hand, die unbedingt Richtung Waffe wollte nicht ganz verhindern.
„Danke. Ohne dich wäre ich nicht mehr am Leben“, presste er eilig heraus. Die Überwindung für diese Worte waren ihm anzusehen, trotzdem war keinerlei Lüge zu erkennen. Eva wollte etwas erwidern, aber brachte nur ein erstauntes “oh” heraus.
Es war peinlich für beide und Dina konnte sich ein hämisches Grinsen nicht verkneifen. Sentrys Versuch das Eis zu brechen, hatte nur mehr Kälte erzeugt und so war der weitere Weg endgültig schweigsam. Sie schafften es tatsächlich ohne ein weiteres Wort bis an die Küste. Als sich der Strand vor ihnen offenbarte, dämmerte es bereits.
Der Regen hatte wieder eingesetzt und die nasse Uniform ließ Eva frösteln. Es wurde Zeit für einen trockenen Ort und als einzige Möglichkeit bot sich die kleine Hütte vor dem Steg an. Mit Erleichterung stellte sie die Anwesenheit des Transportbootes fest. Ein kleiner Hoffnungsschimmer, denn weiterhin war nicht klar, ob Kain vorsorglich ihren Zugang gesperrt hatte. Sie hatten keinen Plan B und ihre Flucht würde ein tödliches Ende finden, sollte das Boot nicht ablegen. Hier und jetzt würde sich ihr weiteres Schicksal entscheiden. Plötzlich war Eva die nasse Kälte egal. Die Ungewissheit ließ ihren knurrenden Magen rebellieren und zum ersten Mal war sie froh in den letzten Stunden nichts gegessen zu haben. Ihr Blick fiel auf das Ortungsgerät, dass stoisch einen blinkenden Punkt anzeigte. Sie atmete tief ein und folgte Dina auf dem Weg zur Hütte.
Eva wusste, dass mindestens eine Wache vor Ort sein musste. Dina verzichtete auf taktische Überlegungen für eine gefahrlose Annäherung und ging schnellen Schrittes auf den Eingang zu. Als sie die Tür aufriss, überraschte sie einen milchgesichtigen Buben mit kurzen roten Haaren, der offensichtlich eine Ablösung erwartet hatte. Er setzte zu einer Wutrede an, die den verspäteten Wechsel beklagen sollte, als er begriff, wen er vor sich hatte. Der Steg lag außerhalb der eigentlichen Jagdzone und so verstörte ihn das Auftauchen der Fremden. Im fahlen Licht der Innenbeleuchtung änderte sich sein Gesicht von zornig auf ängstlich.
Eva richtete die Waffe auf ihn und wirkte dabei wenig souverän. Sie hoffte, dass der Junge sie nicht zwingen würde unangenehme Entscheidungen treffen zu müssen. Mehr als einen kurzen Blick auf sein Gewehr in der Ecke wagte er nicht. Bevor er den Mut für eine unüberlegte Tat aufbringen konnte, hatte Dina ihm jegliche Möglichkeit genommen, indem sie die Waffe ergriff. Dieses Manöver entspannte die Situation. Langsam senkte Eva die Pistole.
„Leutnant. Was geht hier vor?“, fragte er nervös.
„Keine Angst. Wir werden dir nichts tun, aber wir brauchen das Boot.“ Eva versuchte sich an den Namen des Rothaarigen zu erinnern, aber die Aufregung blockierte ihr Gedächtnis.
„Was habt ihr mit mir vor?“ Die erhobenen Arme wirkten lächerlich, doch bevor Eva ihn auffordern konnte sie runterzunehmen, hakte Dina ein.
„Was glaubst du denn? Wir geben dir hundert Meter Vorsprung und dann jagen wir dich durch den Wald. Wenn du die Fahne erreichst, bleibst du am Leben“, spottete sie. Offenbar war Sarkasmus innerhalb des Tempels eine Unbekannte, denn Panik stieg in ihm auf.
„Nein bitte nicht“, flehte er.
„Niemand wird hier mehr gejagt. Nimm die Arme runter und lauf zurück ins Lager“, versuchte Eva ihm die Angst zu nehmen. Noch zögerte er.
„Los“, feuerte ihn Dina an und panisch rannte er nach draußen. Sie suchte den Raum nach Nahrung ab und fand eine halbvolle Flasche mit orangenem Inhalt. Hungrig nahm sie einen großen Schluck und reichte dann Eva das Getränk. Auch wenn es ratsam war etwas Energie zu tanken, verweigerte sie die Möglichkeit. Sentry dagegen trank seinen Anteil und behielt einen Rest übrig.
„Dann wollen wir mal.“ Eva nahm einen tiefen Atemzug und ging vor die Tür. Die zehn Schritte bis zum Boot waren voller Zweifel. Mit rasendem Puls betrat sie die kleine Kommandobrücke, die außer dem einzigen Stuhl im Zentrum, ausschließlich aus technischen Konsolen bestand. Trotz dieser Vielfalt gab es nur eine einzige LED, die erleuchtet war. An dieser Stelle musste sie ihre Hand auflegen, um alles zu aktivieren. Voller Hoffnung sah sie Dina an, die ihr aufmunternd zunickte. Theatralisch hob sie den Arm und nach kurzem Zögern tat sie das Unvermeidliche.
VIII
„Schämen sollen sich die Menschen, die sich gedankenlos der Wunder der Wissenschaft und der Technik bedienen und nicht mehr davon geistig erfasst haben als die Kuh von der Botanik der Pflanzen, die sie mit Wohlbehagen frisst.“
Albert Einstein
„Versuch es noch mal.“ Dina wollte ihr Scheitern nicht akzeptieren. Die einzige Reaktion auf Evas Versuch das Boot zu aktivieren, war ein kurzes Blinken der leuchtenden LED. Diese kaum wahrnehmbare Verhöhnung ihrer fehlgeleiteten Hoffnung war schlimmer als alle psychologischen Spielchen von Kain. Es war vorbei und im Grunde blieb ihnen nur noch das Warten auf die unvermeidliche Festnahme durch den Tempel. Sich im Wald zu verstecken, würde ihr tödliches Schicksal nur Verzögern. Sie hatten verloren und alle Aussichten auf ein besseres Leben außerhalb des Führerkults waren dahin. Erschöpft ließ sich Eva auf den Stuhl fallen, unfähig ihre missglückte Flucht in Worte zu fassen. Schuldgefühle ergriffen sie und befeuerten die einsetzende Panikattacke. Noch hatte sie die Kontrolle, aber die Resignation würde letztendlich siegen und dem Entsetzen freien Lauf lassen.
„Verdammt noch mal.“ Dina hatte Mühe ihre Wut im Zaum zu halten.
„Transportboot bitte kommen. Was geht da bei euch vor?“, plärrte das Funkgerät aus der Ecke blechernd. Offenbar war der Lautsprecher leicht defekt. Jetzt gab es bei Dina kein Halten mehr.
„Was hier vorgeht? Wir versenken euer dämliches Boot, da sitzt ihr in eurem Scheißparadies für alle Ewigkeit fest“, brüllte sie als Antwort. Es war ihre spezielle Art der Frustbewältigung. Die andere Seite blieb still. Vermutlich hatten sie Probleme die derben Worte richtig zu verarbeiten. Eva konnte sich bildlich vorstellen, wie das ungehobelte Verhalten die Gegenseite verstörte.
„Wir sollten hier verschwinden“, schlug Sentry vor.
„Und wohin? Auf dieser Insel gibt es keinen Ort, an dem wir uns verstecken können.“ Eva klang deprimiert.
„Können wir diese verdammte Technik nicht irgendwie in Gang kriegen?“ Sentry hatte Dina noch nie so verzweifelt gesehen. Dieser Zustand wirkte ansteckend, aber irgendwas in seinem Inneren wehrte sich gegen den zunehmenden Frust. Er war sich nicht sicher, ob Intuition, Logik oder einfach nur Hoffnungslosigkeit ihn antrieb, aber sein Unterbewusstsein fand sich mit der Niederlage nicht ab. Im Gefühl das Notwendige zu tun, legte er seine Hand auf die Stelle, an der Eva zuvor versagt hatte.
„Ha“, frohlockte Dina, als die stille Umgebung sich in ein Meer von blinkenden und piependen Lichtern verwandelte.
„Was? ...“ Eva saß regungslos und ungläubig auf dem unbequemen Stuhl und bestaunte die erwachenden Konsolen. Wer war dieser Sentry, der offenbar von seinen eigenen Fähigkeiten überrascht wurde.
„Wie hast du das hinbekommen?“, fragte sie vollkommen verwirrt.
„Ein Hoch auf die Femtos“, jubelte Dina euphorisch.
„Die was?“
„Keine Zeit für Erklärungen. Wir sollten schnellstens hier weg. Kannst du das Boot steuern?“, fragte Dina.
„So schwer ist das nicht. Ziel eingeben und der Rest erfolgt automatisch. Ihr müsst nur die Leinen lösen.“ Dina befand sich bereits wieder auf dem Steg und machte sich an der Vertäuung zu schaffen. Es dauerte eine Weile, bis das Boot endlich frei war, denn keiner von ihnen hatte Erfahrungen mit dem Lösen von Seemannsknoten. Als sie endlich in Bewegung waren, machte sich Erleichterung breit. Gegen jede Wahrscheinlichkeit hatten sie Prem verlassen. Ein neues Leben lag vor ihr. Kein Tempel, Führer oder Kain mehr. Eva war zurück auf Anfang und bekam die Möglichkeit die Fehler der Vergangenheit zu korrigieren. Beginnen würde sie mit ihrer Schwester, auch wenn das eine unangenehme Begegnung mit ihrem Vater bedeutete. Ihre ganze Familie war ein offenes Minenfeld, was unbedingt entschärft werden musste. Unvermeidliche Konfrontationen lagen vor ihr, doch noch gab sich der „Tempel des Friedens” nicht geschlagen.
„Eva, bitte melde dich“, plärrte das Funkgerät erneut. Es war der Führer höchstpersönlich. Seine Stimme klang besorgt und barmherzig. Der defekte Lautsprecher entschärfte die charismatische Tonlage, trotzdem kroch Ehrfurcht in ihr hoch. Sie wollte ihm nicht antworten, aber ein fehlgeleitetes Gefühl von Loyalität zwang sie dazu das Sprechgerät in die Hand zu nehmen. Immerhin hatte es auch gute Momente in den letzten Jahren gegeben und sie wollte es nicht mit Ignoranz enden lassen.
Was sollte sie sagen? Scham ergriff sie. Würde er ihr ihren Verrat vorwerfen? Der Bruch mit dem Tempel war endgültig, trotzdem schaffte sie es nicht den ängstlichen Respekt vor dem Führer abzulegen und mit eigenem Mut ihre Gründe zu erklären. Ohne Selbstvertrauen würden ihre Rechtfertigungen wie Ausreden klingen. Zitternd drückte sie den Knopf der Antworttaste.
„Hier ist Eva“, erwiderte sie schüchtern.
„Geht es dir gut?“ Die Frage überraschte sie. Bevor sie was sagen konnte, fuhr er fort.
„Du kannst uns doch nicht einfach im Stich lassen. Wir brauchen dich.“ Durch den defekten Lautsprecher war es schwer die Sorge auf Authentizität zu prüfen.
„Das Ganze ist nicht mehr richtig“, antwortete sie zitternd und fühlte sich wie ein kleines Mädchen, dass sich über das Aufräumen ihres Zimmers beklagte. Dass sie es überhaupt geschafft hatte ihm zu widersprechen, verbuchte sie als Erfolg. Jetzt brauchte sie mehr Selbstbewusstsein, um nicht wie ein dummes Kleinkind zu wirken.
„Es sind Menschen gestorben. Unnötigerweise. Das hat doch nichts mehr mit deinen Lehren zu tun. Wir haben unsere Ideale verraten“, schoss es aus ihr heraus.
„Das ist nicht wahr und das weißt du. Unsere Vision von Frieden und Gerechtigkeit umzusetzen, lässt uns manchmal zweifeln in den Mitteln der Wahl. Warum bist du nicht zu mir gekommen und hast mich um Rat gebeten? Ich kenne dich und deine Schwächen. Was du brauchst ist nur ein wenig Führung. Du hast dich verirrt, aber deine Willenskraft ist weiterhin stark und so können wir dich gemeinsam auf den Pfad der Erleuchtung zurückbringen. Die Gemeinschaft wird dich dabei unterstützen. Lass uns dir helfen. Wir lieben dich doch. Ich liebe dich. Bitte geh nicht. Alle fragen mich besorgt, was mit Eva passiert ist. Sie vermissen dich.”
„Ich muss gestehen, der Tempel hat mir gutgetan, als ich Führung benötigte”, sagte Eva schüchtern.
„Ihr habt mir geholfen, als ich es wirklich brauchte. Dafür bin ich euch dankbar. Es war eine schöne Zeit.” Sie stockte, weil das folgende aber dem Führer nicht gefallen würde.
„Es hat sich alles geändert. Angst, Misstrauen und Denunziationen sind an der Tagesordnung. Alles ist verboten worden. Wir dürfen ja nicht mal mehr Kontakt zu unserer Familie haben. Warum kann ich meiner Schwester nicht helfen? Sie ist tot krank.“ Jetzt flossen bei Eva die Tränen.
„Du willst es nicht verstehen. Diese Menschen sind nicht mehr deine Familie. Ungläubige behindern uns auf dem Pfad der Erleuchtung. Entledige dich ihrer. Der Tempel ist jetzt deine neue Heimat und uns allen hast du sehr weh getan. Diese Leute, mit denen du unterwegs bist, haben dich verwirrt und zu schrecklichen Taten verführt. Trotzdem wollen wir dich nicht aufgeben. Wende das Boot. Mach es nicht noch schlimmer. Unsere Liebe ist groß genug, um dir zu verzeihen, aber du musst bereit sein deine Fehler zu erkennen und an ihnen zu arbeiten. Wir geben dir die Möglichkeit dazu. Bitte komm heim.“
„Es ist zu spät. Ich habe abgeschlossen mit dem Tempel. Ich will leben und meine eigenen Entscheidungen treffen, auch wenn ich dabei Fehler mache. Andere Menschen, wie meine Schwester, brauchen mich. Es mag vielleicht egoistisch klingen, aber ich will Selbstbestimmung. Der Vorhang ist gefallen und hat das wahre Wesen des Tempels offenbart. Ich kann nicht mehr zurück. Was ich will, ist Freiheit.“ Ihre Worte klangen nicht so selbstbestimmt wie sie es sich gewünscht hätte, verfehlten ihre Wirkung trotzdem nicht. Die Gelassenheit des Führers war dahin.
„Ich will, ich will, ich will. Genau das habe ich gemeint mit dem Irrweg. Ich kann dir helfen diesen Egoismus zu überwinden. Du bist so weit gekommen. Willst du das jetzt alles aufgeben für ein trügerisches Gefühl von Freiheit? Wahre Bestimmung findest du nicht in dem Ausleben selbstsüchtiger Ziele. Nur in der Gemeinschaft kannst du dein vollständiges Potential entfalten. Du enttäuschst uns, wenn du auf halben Weg umkehrst.“
Seine Worte weckten den Zweifel in Eva. Hatte sie sich tatsächlich verlaufen und kurz die Orientierung verloren? War der Neuanfang wirklich die richtige Entscheidung? Sie sah in das Gesicht von Dina, die alle Selbstbeherrschung aufbringen musste, um nicht dazwischen zu poltern. Eva hätte einen Rat gut gebrauchen können, doch diesen Kampf musste sie allein ausfechten. Wut ergriff sie, weil er es geschafft hatte ihre neue Überzeugung zu erschüttern. Es wurde Zeit den unangebrachten Respekt abzulegen.
„Ihr redet von wehtun und Enttäuschung. Was ist mit mir? Der Tempel hat mich zu schlimmen Taten getrieben. Ich habe gelogen, betrogen, gestohlen und am Ende sogar getötet. Das alles habe ich nicht aus egoistischen Motiven getan. Das alles ist passiert, weil die Umstände mich dazu gezwungen haben. Da helfen auch keine schönen Worte von Gerechtigkeit. Vielleicht solltet ihr eure Energie nicht darauf verschwenden die unbequeme Wahrheit zu bekämpfen, sondern zu den Tugenden zurückkehren, für die der Tempel am Anfang stand. Ihr betrachtet mich als Verräterin. Mag sein. Aber nicht nur ich habe die Idee verraten. Das haben wir alle.“ Eva brauchte diesen endgültigen Abschluss. Diese erklärenden Worte rundeten den Abschied ab und erleichterten ihren Seelenzustand.
„Das heißt ihr könnt uns mal“, schickte Dina noch einen abschließenden Funkspruch hinterher. Die Gegenseite gab sich geschlagen.
„Und ihr erklärt mir jetzt, wie ihr dieses Boot in Gang gesetzt habt.“ Evas Zorn war noch nicht verraucht und brauchte eine neue Richtung. Sie nutzte die freigesetzte Energie, um endlich hinter das Geheimnis ihres Begleiters zu gelangen.
Zum wiederholten Male war Sentry gezwungen seine Leidensgeschichte zu erörtern. Diesmal war kein Widerwillen vorhanden. Er schuldete ihr was und vielleicht sah ihr Elend im Schatten seines eigenen Leids nicht mehr ganz so mies aus. Zu seiner unbekannten Historie kam jetzt ein neues Kapitel dazu. Sie wussten nun, dass neben der Selbstheilung, das Aktivieren von genetisch verriegelter Technik zu seinen Fähigkeiten zählte.
„Femtos? Das klingt nicht besonders technisch. Und du hast keine Erinnerungen, wo die herkommen?“, versicherte sich Eva, ob sie alles richtig verstanden hatte.
„Ich nehme mal an, dass die Blockade in meinem Kopf künstlich ist. Irgendjemand will nicht, dass ich mich erinnere“, erwiderte Sentry.
„Kannst du jede verriegelte Technik aktivieren?“, fragte sie.
„Bis vor zehn Minuten wusste ich noch nicht mal, dass ich es überhaupt kann. Das ist komplett neu für mich“, antwortete er.
„Ich überlege mir gerade wie viel Technologie allein auf Lassik vor sich hin schimmelt, weil keiner mehr in der Lage ist sie zu aktivieren. Das macht dich zu einer der wertvollsten Personen auf diesem Planeten“, hakte Dina ein. Mit dieser Wahrheit konfrontiert, wurde Sentry kreidebleich. Wenn das bekannt werden würde, wären sämtliche Reds, Rubys und Kains hinter ihm her. Daher waren die folgenden Worte wie ein Schlag ins Gesicht.
„Der Tempel weiß vermutlich von deinen Femtos“, sagte Eva verlegen. Sie hatte mit ihrer Hilfe für ihre Schwester unbeabsichtigt sein Geheimnis enthüllt. Nun war sie dran die Zusammenhänge zu erklären. Angefangen von ihrer kranken Schwester, über die Blutproben, bis hin zu Kain. Der Abbruch der Jagd war reine Spekulation, aber passte hundertprozentig als letztes Puzzleteil.
„Wenn ich dich richtig verstanden habe, wissen nicht nur die Tempeljünger von den Femtos, sondern auch die Leute in der Hauptstadt“, stellte Sentry fest.
„Ja. Ich wusste nicht, was ich damit in Gang setze.“ Zum ersten Mal tauschten sie mehr als verlegene Floskeln aus und das gemeinsame Schicksal von Tempel und Behörden gesucht zu werden, ließ Evas aufgebaute Barriere etwas bröckeln.
„Vielleicht können diese Biester ja deiner Schwester helfen“, sagte Sentry und überraschte Eva mit dem Angebot. Sie hatte keine Ahnung, was sie antworten sollte.
„Als Wiedergutmachung für mein Leben“, schickte er hastig hinterher. Evas ohnehin spärlich ausgeprägten Umgangsformen gingen in einem Tsunami an wilden Gedanken unter. War das eine reelle Option für Freya? Sie brauchte Gewissheit.
„Ich weiß, wo wir hinmüssen“, sagte sie trocken und verunsicherte mit ihrer fehlenden Dankbarkeit Sentry. Sie überlegte, ob sie etwas Freundliches auf sein Angebot erwidern sollte, doch ihr mangelndes Einfühlungsvermögen, würde die Antwort unauthentisch und aufgesetzt wirken lassen. Daher zog sie es vor zu schweigen.
Eric würde ihnen helfen können. Mit ein paar verführerischen Blicken und dem Ausblick auf Technologie der Spitzenklasse würde sie mit ihm leichtes Spiel haben. Keine zehn Minuten und er würde ihnen alles über die Femtos erzählen. Die üblichen manipulativen Methoden des Tempels waren da zuverlässig, doch wurde es nicht Zeit genau das Verhalten abzulegen? Wollte sie sich irgendwann vollständig von den Prägungen der vergangenen Jahre lösen, musste sie die angelernten Muster abstellen. Die Umgangsformen außerhalb der Gemeinschaft waren ihr fremd geworden, und so stellten sogar einfache Bitten eine große Herausforderung dar. Ihr Blick blieb an Sentry hängen. Ein mahnendes Beispiel ihrer verkrüppelten sozialen Fähigkeiten stand direkt neben ihr. Ein einfaches Danke für sein Angebot wollte ihr weiterhin nicht über die Lippen kommen.
Die Küste kam in Sichtweite und Eva erklärte in kurzen Worten ihren Plan. Ein verlassener Steg war ihre Anlegestelle und von dort aus würden sie sich zu Fuß Richtung Innenstadt aufmachen. Noch vor Tagesanbruch mussten sie Erics Laden erreichen, wo sie dann fürs erste einen Unterschlupf finden würden. Unterwegs konnten sie sich in einem vom Tempel angelegten Versteck mit Kalorien stärken. Wenn sie Glück hatten, würden sie sogar Sachen und Waffen vorfinden. Die Standorte der Notfallverstecke kannte Eva von ihren gelegentlichen Ausflügen in die Hauptstadt. Bisher war sie nicht dazu gezwungen gewesen darauf zurückzugreifen.
Sentry atmete tief ein, als sie das Boot verließen. Zum ersten Mal in seiner kurzen Existenz erfuhr er das Gefühl von Freiheit. Wenn er jetzt in die Dunkelheit draufloslief, wäre niemand da, der ihn mit Gewalt aufhalten würde. Für einen kurzen Moment wollte er dem Gefühl nachgeben, aber die Logik zwang ihn zur Zurückhaltung. Sein Schicksal lag weiterhin nicht in seinen eigenen Händen. Ohne die Frauen waren seine Überlebenswahrscheinlichkeiten deutlich geringer und so war die Abhängigkeit von Dina und Eva schwer zu leugnen. Letztere konnte er schwer einschätzen und dass obwohl er ihr sein Leben zu verdanken hatte. Eigentlich die ideale Basis, um eine Vertrauensgrundlage zu schaffen, aber irgendwie tat sie sich schwer den Schutzpanzer abzulegen. Bei Dina hatte es auch Zeit gebraucht, um den Eisberg an Misstrauen wenigstens anzutauen und so hoffte er durch Taten mehr Zutrauen zu erreichen. Obwohl alle unterschiedliche Ziele verfolgten, wurde ihr Zusammenhalt gespeist durch gemeinsamen Schmerz. Dina beklagte den Verlust ihrer Familie, Sentry das Fehlen seiner Erinnerungen und Eva den Verrat am Tempel. Ihre traumatische Vergangenheit war der Kitt, der die Gruppe zusammenhielt. Eine Gemeinschaft von Getriebenen und Ausgestoßenen.
Die Anlegestelle musste zu den Zeiten der Vorfahren ein bedeutender Umschlagplatz für Waren aller Art gewesen sein. Riesige Lagerhäuser in unterschiedlichen Zuständen des Verfalls säumten die Küste. Die breite Straße ins Landesinnere war nur noch zu erahnen, denn die Natur hatte große Teile des Asphalts bereits zurückerobert. Hier raus verirrten sich keine Stadtbewohner, denn dieser ehemalige Hafenkomplex hatte mehr Gemeinsamkeit mit einer Anhäufung von Bauschutt als mit brauchbaren Gebäuden. Eva steuerte auf ein kleinen Verwaltungsbau entlang der Hauptstraße zu. Welchen Grund gab es, diese nach Einsturz schreiende Ruine freiwillig zu betreten? Sentry war froh ihr nicht folgen zu müssen und gemeinsam mit Dina warteten sie davor ihre Rückkehr ab.
Offenbar befand sich darin eines ihrer Notfallverstecke, denn Eva kam mit zwei Flaschen voller Kalorien zurück. Hastig tranken sie den Inhalt leer und betäubten damit kurzfristig den schlimmsten Hunger. Sie wollten sich gerade aufmachen dem Verlauf der Straße zu folgen, als Sentry eine Idee hatte.
„Lass mich mal was probieren.” Er zeigte auf Evas Waffe, die sie ungern an ihn übergeben wollte. Es bedurfte ein paar beschwichtigender Worte, bevor sie nicht ganz ohne Misstrauen ihm die Pistole aushändigte.
„Ich will nur schauen, ob ich die Sperre überwinden kann.” Er verstand ihre Zweifel nicht, immerhin hatte er mehrfach Dankbarkeit für seine Rettung angebracht. Vorsichtig ergriff er die dargereichte Waffe, die seinen Zugriff mit einem bestätigenden grünen Licht quittierte.
„Mal sehen, ob ich sie für andere nutzbar machen kann.“ Er schaffte es die grüne LED zum blinken zu bringen und reichte die Pistole weiter an Dina. Das Licht ging wieder in den Dauerbetrieb.
„Es klappt“, bestätigte Dina den Erfolg euphorisch.
„Bitte gib mir die Waffe zurück.“ Offenbar gefiel Eva diese Errungenschaft ganz und gar nicht.
„Keine Angst Liebes. Du bist hier unter Freunden. Keiner will dir was Böses. Nicht wahr”, forderte sie Sentry auf diese Behauptung zu bestätigen. Mit einem kurzen Kopfnicken stimmte er ihr zu. Evas Anspannung verschwand trotzdem erst, nachdem sie die Pistole in ihr Halfter zurückgesteckt hatte.
„Wir sollten die Dunkelheit nutzen, um in die Stadt zu kommen. In diesem Aufzug würden wir bei Tageslicht nur auffallen“, erklärte Eva und beendete damit die unangenehme Situation. Mit Erschrecken musste Sentry feststellen, dass sie Recht hatte. Die letzten Tage hatten ihre Spuren hinterlassen. Nicht nur Evas Tempeluniform würde für Aufsehen sorgen, auch die zerfetzen Lumpen die Dina und Sentry kleideten, würden Blicke auf sich ziehen. Vor allen Dina mit ihrem zerschlissenen Abenteuer-Aussehen könnte so manche männliche Fantasie entfachen.
Sie folgten etwa dreißig Minuten dem Verlauf der Straße, bevor es Eva für ratsamer hielt auf Nebenwege auszuweichen. Ähnlich wie auf Prem gingen die Schutthügel ehemaliger Gebäude mehr und mehr in einsturzgefährdete Häuser mit maximal zwei Stockwerken über. In den guten Zeiten musste hier eine Art Vorstadtidylle geherrscht haben, mit weißen Lattenzäunen und grünem Rasen. Heute gab es nur noch Ruinen, die versuchten dem Zahn der Zeit zu trotzen. In ein paar Jahren würden auch davon nur Berge aus Geröll übrigbleiben.
Erste Anzeichen von Bewohnern zeigten sich eine weitere halbe Stunde später. Vereinzelte Lichter in den Gebäuden kündigten die Außenbezirke der Hauptstadt an. Hier lebten die Ausgestoßenen und Vergessenen der Gesellschaft in bitterster Armut. Jene, die im System der Inc. keinen Platz fanden. Es gab weder Strom noch fließend Wasser. Ihre Lichtquellen speisten sich aus diversen Brennstoffen aus der Umgebung. Der Geruch von verbranntem Plastik lag in der Luft und kratzte unangenehm im Hals. Der Tempel war gezwungen gewesen hier gelegentlich Waren auf dem hiesigen Schwarzmarkt zu erwerben. Eva erinnerte sich an einen dieser Ausflüge, mit all den unangenehmen Begleiterscheinungen, die solche Orte mit sich brachten. Das vorherrschende Faustrecht bedeutete Gefahr und für Eva war es jedes Mal eine Herausforderung gewesen hier unbeschadet durchzukommen. Dabei war die wichtigste Voraussetzung nicht aufzufallen und bekannte Schleichwege zu nutzen. Diese Gegend konnten sie nicht schnell genug durchqueren.
Sie erreichten die äußerste Station der Schwebebahn. Hier begann die vermeintlich zivilisierte Zone der Hauptstadt. Eva entschied sich gegen diese einfache Möglichkeit ins Zentrum zu gelangen. Das Risiko war zu groß innerhalb der Bahn erkannt zu werden und so blieb ihnen nichts anderes übrig als die Distanz zu Fuß in den dunklen Schatten der Häuser zu absolvieren. Sie rechnete mit zwei Stunden strammen Fußmarschs bis zu Erics Laden. Hoffentlich überraschte sie nicht der Sonnenaufgang, denn dann würde alles kompliziert werden.
Über die Nebenstraßen kamen sie gut voran. Zu dieser frühen Stunde waren nur wenige Bewohner unterwegs und die nutzten überwiegend die Hauptschlagader der Stadt. Es gab nur eine spärliche Beleuchtung in den Gassen und so konnten sie sich in der Dunkelheit verstecken, wenn sie doch gelegentlich auf Passanten trafen. Der Zustand der Häuser wurde mit fortschreitender Annäherung ans Zentrum besser und tatsächlich trafen sie zunehmend auf Gebäude, die einen gemütlichen Anschein erweckten. An den brüchigen Fassaden konnten sie exotische Pflanzen ausmachen, die trotz des rauen Wetters auf Lassik in verschiedenen Farben die Reihenhäuserfronten förmlich zudeckten. Die Wege waren frei von Müll oder Gestein und wirkten trotz des gespenstischen Dämmerlichts urig. Die Bewohner dieser Häuser versuchten mit geringen Mitteln ihre Wohngegend in ein trügerisches Paradies von Wohlstand zu verwandeln.
Der Sonnenaufgang rückte näher und zwang die Gruppe auf die Hauptstraße. Jetzt war Eile geboten und auf der geradlinigen breiten Allee kamen sie schneller voran. Noch begegneten ihnen nur wenige Passanten, aber mit Anbruch des Tages würden die Bürgersteige überquellen mit Bewohnern, die zu ihren Arbeitsstellen eilten. Hier gab es deutlich mehr Laternen und so war es schwierig unauffällig voranzukommen. Zu ihrem Glück ignorierten die Vorbeieilenden die Gruppe, aber ganz sicher konnten sie sich nicht sein, dass irgendjemand eine Meldung über uniformierte Fremde an den BsA gab. Mit eiligem Schritt hasteten sie an den spärlich vorhandenen Personentransportern vorbei und über ihren Köpfen dröhnte das metallische Quietschen der Schwebebahn. Die Morgendämmerung setzte ein und ihr elendiger Zustand wurde immer offensichtlicher. Gerade noch rechtzeitig erreichten sie ihr Ziel. Mit kräftigen Schlägen an die Tür eines unscheinbaren Gebäudes kündigte Eva ihr Kommen an.
„Es ist noch geschlossen“, hörte Sentry müde aus dem Inneren. Eva ignorierte die Stimme und klopfte weiter an. Auf Laufkundschaft wurde hier offensichtlich verzichtet, denn nichts an der Fassade deutete auf ein Geschäft in üblichem Sinne hin.
„Was soll denn das?“ Jetzt konnten sie das Geräusch eines sich öffnenden Schlosses vernehmen. Die Tür schwang auf und offenbarte einen jungen Mann, der offensichtlich noch keine zwei Minuten wach war. Mit seinem zerzausten Haar, dem zerknitterten Gesicht und dem abgetragenen Bademantel wirkte er wie jemand, der es gewohnt war nicht vor Mittag aufzustehen.
„Oh, du bist es. Dich habe ich …“ Weiter kam er nicht, denn Eva drückte sich an ihm vorbei in den Laden. Der Rest der Gruppe folgte ihr und ließ einen verblüfften Besitzer kommentarlos in der Eingangstür stehen.
„Ja kommt nur rein“, sagte er ironisch, als er sich wieder gefangen hatte. Er schloss die Tür und musterte ungeniert die Besucher.
„Mit dem Tempel scheint es ja ordentlich bergab zu gehen, wenn sie euch so rumrennen lassen“, kommentierte er das zerlumpte Aussehen von Evas Begleitern. Die Herablassung in seinen Worten überraschte Sentry. Statt Hilfe gab es erst einmal Spott.
„Naja Schätzchen, im Vergleich zu dir bin ich hier die Schönheitskönigin“, konterte Dina. Verlegen fuhr er sich durchs rötliche Haar und versuchte die schlimmsten Auswirkungen der abrupten Unterbrechung seines Schlafes zu bändigen.
„Wer seid ihr denn?“, fragte er gereizt. Diesen beleidigenden Ton von Tempelmitgliedern war er nicht gewohnt. Normalerweise biederten sie sich an, weil sie was von ihm wollten oder mieden ihn, weil er in seiner Art abstoßend war. Irgendwas stimmte nicht und machte ihn misstrauisch.
„Ich bin kein Mitglied des Tempels mehr“, erklärte sich Eva.
„Oha, das musste ja irgendwann so kommen. Haben sie dich rausgeschmissen? Unwahrscheinlich. Eine Mitgliedschaft gibt’s da ja nur auf Lebenszeit. Du bist abgehauen.“
„Eric das sind Dina und Sentry“, stellte Eva ihre Begleiter vor.
„Jaja. Schön und gut. Was wollt ihr hier? Warum kommt ihr ausgerechnet zu mir?“, fragte er genervt.
„Weil du der Einzige bist, der uns helfen kann.“
„Ach. Ist das so?“ Offenbar kitzelte Eva damit sein Ego, denn zum ersten Mal konnte Sentry nicht nur Abneigung erkennen.
„Wir haben Technik dabei, die du uns erklären musst.“ Damit hatte sie sein Interesse geweckt, dass bedauerlicherweise nicht lange anhielt.
„Soso. Habt ihr die in den Hosentaschen oder in irgendwelchen Körperöffnungen?“ Er schaute dabei Dina an.
„Nur in deinen Träumen“, quittierte sie seine offensichtlichen Gedanken mit einer abwertenden Bemerkung.
„Erinnerst du dich an die Blutproben? Ich habe die Erklärung dafür, aber vorher brauchen wir Kalorien und eine Dusche und wenn du hast, auch was zum Anziehen“, forderte Eva.
„Das ist ziemlich viel auf einmal. Wieso erwartet ihr das ich euch helfe?“
„Eric bitte. Ich weiß sonst nicht, wo wir hinsollen.“ Eva hasste diesen schwachen Moment und für einen Augenblick hatte sie überlegt ihre verführerische Manipulation wieder hochzufahren, doch erstens passte der Moment nicht und zweitens wollte sie aufrichtig bleiben. Das ging bedauerlicherweise nur mit Betteln und funktionierte überraschend schnell.
„Zweite Tür links. Es gibt aber nur kaltes Wasser.“ Er hatte ein paar Sekunden mit sich gerungen, aber Evas verletzliche Bitte verursachte ungewohntes Mitgefühl. Er deutete mit dem Kopf Richtung Privatbereich.
„Danke“, übernahm Sentry für Eva, die sich immer noch schwertat die sozialen Mindeststandards wiederanzunehmen.
„Kalorien findet ihr in der Küche.“ Erics Begeisterung über den unangemeldeten Besuch war weiterhin gering und er versuchte auch nicht diese Tatsache irgendwie zu verbergen. Allein Evas Verletzlichkeit motivierte ihn zu einem Mindestmaß an Anstand.
Dina war die erste, die in den Genuss von sauberem Wasser kam. Während sie duschte, stärkten sich Eva und Sentry mit Kalorien. Es tat gut keinen starken Hunger mehr zu haben. Dieses selbstverständliche Gefühl wusste man erst zu schätzen, wenn es längere Zeit vermisst wurde. Als er nach Eva seinen eigenen Körperdreck loswurde, empfand er das erste Mal Entspannung. Das kalte Wasser floss seinen Rücken hinab und spülte all den Ballast der letzten Wochen den Abfluss runter. Er wollte diesen Moment aus kleiner Zufriedenheit bis in alle Ewigkeit genießen, aber irgendwann fing er an zu frösteln.
Für Sentry war dieser kleine Laden paradiesisch. Kein Vergleich mit den bisherigen Unterkünften in die er gezwungen wurde. Hier gab es keine Wärter, ausreichend Kalorien und die Aussicht auf ein weiches Bett. Das Gefühl von komfortabler Sicherheit war trügerisch, trotzdem genoss er es in vollen Zügen. Lange würde er ohnehin nicht hierbleiben können, denn Erics Hilfsbereitschaft stand und fiel überwiegend aus seiner Empfindung für Eva. Wieder eine dieser Mysterien seiner Gedächtnisblockade. Trotz fehlender Erfahrung erkannte er die verheerende Anziehungskraft seiner Begleiterin vom ersten Augenblick an.
Als er das Duschen beendete, fand er neue Sachen vor. Die saubere Kleidung auf frisch gewaschener Haut steigerte seine Zufriedenheit. Zum ersten Mal fühlte er sich wie ein Mensch. Neid auf Eric und die anderen Bewohner von Lassik ergriff ihn. Ihr Alltag bestand aus solch selbstverständlichen Dingen wie regelmäßige Hygiene, die er in seinem bisherigen Dasein nur als Ausnahme genießen durfte. Sie gingen früh zur Arbeit, hatten ihr Auskommen und kamen abends heim zu ihren Familien. Sicher kein leichtes Leben, doch im Gegensatz zu seinem Schicksal eine Existenz, die er ohne Zweifel eintauschen würde. Mit seinen Femtos blieb ihm so eine Realität verwehrt. Wenn er Pech hatte, jagte ihn eines Tages die ganze Galaxie.
Die Gruppe hatte sich in dem Verkaufsraum des kleinen Ladens versammelt und als er zu ihnen stieß, verstummte die Gesprächsrunde abrupt. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass er gerade das Thema war. Vermutlich wurde seine Leidensgeschichte erörtert.
Der Laden machte den Eindruck einer Bastelstube für technisch versierte Nerds und schien in Sentrys Augen ungeeignet für Geschäfte aller Art. Unzählige Pappkartons umringten einen zentralen Tresen, auf dem sich die exotischsten Dinge stapelten. Offenbar verdiente Eric sein Geld überwiegend mit Reparaturen, denn die kleine Werkbank in der Ecke schien der meistgenutzte Ort zu sein. Es drang kaum Tageslicht in diesen nach verbranntem Lötzinn und erodierten Metallen riechenden Ort, denn die vollgestopften Regale versperrten die Fenster. Selbst an den wenigen sonnigen Tagen konnte Eric mit Sicherheit nicht auf elektrisches Licht verzichten. Aus diesem trostlosen Ort aus Unrat und Dämmerlicht führte ein kleiner Gang in den Privatbereich des Ladenbesitzers. Küche, Bad und Schlafzimmer waren so winzig, dass Eric nichts anderes übrig blieb seine Zeit in diesem vermeintlichen Laden zu verbringen.
Inmitten all diesem chaotischen Durcheinander bewegten sich ein halbwegs hergerichteter Eric und zwei vollkommen veränderte Fluchtgefährtinnen. Vor allen Dingen Dina hatte durch die Dusche und die neue Kleidung eine atemberaubende Veränderung durchgemacht, die Sentry sichtlich verunsicherte. Eric hatte ihr ein hautenges T-Shirt gegeben, dass ihren Oberkörper in ein makelloses Kunstwerk verwandelte und jegliche Unauffälligkeit an absurdum führte. Ihr schulterlanges Haar glänzte förmlich in dem rotblond und in Kombination mit den blauen Augen und der blassen Haut war sie in der Lage auf jedem Schönheitswettbewerb die Konkurrenz in den Suizid zu treiben. Für Sentry war es schwierig seinen Blick abzuwenden, was zu einem peinlichen Moment zwischen den beiden führte. Seine Hormone hatten ihm eine neue Herausforderung präsentiert. Plötzlich kam ihm Eric weniger naiv vor.
Auch Eva hatte sich verändert. Vor allen Dingen ihren langen blonden Haaren konnte er sich nicht entziehen. Im Gegensatz zu Dinas verführerischer Anziehung komplettierten sie die zierliche Figur, die so untypisch war für Lassik. Eric hatte ihr eine Garderobe verpasst, die weniger aufreizend wirkte dafür eine stilvolle Eleganz verbreitete. So viel Modegeschmack hatte er dem Ladenbesitzer gar nicht zugetraut. Einzig der Bluterguss in ihrem Gesicht trübte das Gesamtbild einer unschuldigen Tempeljüngerin. Ihre Körperhaltung verbreitete diese Unsicherheit, die auch auf ihn passen könnte. Sie schien durch die neue Freiheit überfordert. Praktisch über Nacht musste sie lernen, ohne die Gemeinschaft klarzukommen, was mit einem nicht wesentlichen Verlust ihres Selbstvertrauens einherging. Er war sich sicher, dass sie sich es Stück für Stück zurückerobern würde. In ihrer endlosen Wüste aus Unsicherheit war die Oase der Stärke zu erkennen und die würde ihr grün mit jedem Tag erweitern.
Ein langer Weg lag vor ihr und Sentry erlag im direkten Vergleich der optischen Reize vorerst Dinas selbstsicherer Ausstrahlung. Es fiel ihm sichtlich schwer nicht in fehlgeleitete Fantasien abzuschweifen und jede Bewegung von ihr befeuerte seine unkeuschen Vorstellungen. Er brauchte einen Moment, dann hatte er sich im Griff. In gutem Glauben die alten Verhältnisse innerhalb der Gruppe wieder hergestellt zu haben, näherte er sich den Dreien. Im Dunstkreis von Dina und ihrem betörenden Geruch drohte erneut ein hormoneller Supergau, aber mit aller Willenskraft der Welt ignorierte er ihren unbeabsichtigten Angriff auf seinen Trieb.
„Sieh mal an, was da unter dem ganzen Dreck zum Vorschein kommt“, begrüßte sie ihn. Tatsächlich hatte er sich als halbwegs attraktiv eingeordnet, als er sich zum ersten Mal überhaupt beurteilen konnte. Der Badezimmerspiegel offenbarte ihm ein abgemagertes, aber durchaus attraktives Gesicht. Seine schwarze lockige Haarpracht bedurfte eines Haarschnittes, auch wenn er keine Ahnung hatte, welche Frisur zu ihm passte. Überrascht hatte ihn der dunkle Hautteint, immerhin gab es seit seiner Geburt nicht viel Sonnenlicht.
„Dito“ murmelte er zurück, sichtlich bemüht jegliche Regung zu vermeiden. Offenbar übertrieb er es damit, denn Dina schenkte ihm ein wissendes Lächeln.
Es war Eric, der die aufgeheizte Stimmung endgültig abkühlte.
„So. Du hast also Technologie in dir“, kam er ohne große Umschweife zum Punkt. Wieder einer mehr, der von seinem Geheimnis wusste. Wenn das so weiter ging, würde bald die halbe Menschheit ihn danach fragen.
„Die Femtos“, antwortete Sentry.
„Die was? Femtos? Nie davon gehört. Was soll denn das sein?“
„Kleine Roboter, die mich verrückte Dinge machen lassen.“
„Nanotechnologie. Wie kommt man auf diesen verrückten Begriff Femtos? Das ist totaler Schwachsinn. Wenn, dann heißen sie Nanos.“
„Wie auch immer. Ich hab da noch einiges Unbekanntes in mir. Kannst du mir sagen, was die so anstellen?“
„Wenn du das selbst nicht weißt, wie soll ich dir da weiterhelfen. Außerdem ist das wohl eher Biotechnologie. Nicht mein Fachgebiet.“
Erics Art der Kommunikation frustrierte Sentry. Es war offensichtlich, dass er nichts über die Femtos wusste, außer dass sie Nanos hießen. Mit Worten würde er hier nicht weiterkommen. Vielleicht würde eine Demonstration seiner Fähigkeiten die Motivation steigern.
„Hast du etwas, was nicht mehr zu aktivieren geht, weil es genetisch gesichert ist?“, fragte er Eric.
„Sicher. Warum?“ Offenbar hatte Eva diesen Teil seiner Geschichte noch nicht erzählt.
„Zeig es mir. Dann wird dir einiges klar.“ Seine geheimnisvolle Ankündigung machte Eric neugierig. Aus den Kisten kramte er einen kunstvoll geschliffenen Kristall in Form einer Pyramide hervor. Das Gebilde saß auf einem quadratischen Sockel aus Kunststoff.
„Ich wollte schon immer wissen, was das ist. Leider passiert das.“ Er tippte auf ein Bedienfeld am unteren Ende.
„Sie haben keine Berechtigung“, verkündete eine mechanische Stimme monoton.
„Also, kann dir einer deiner Femtos sagen, was das ist?“ Er betonte das Wort „Femtos“, als würde es Brechreiz in ihm auslösen.
„Besser“, antwortete Sentry, nahm die Pyramide in die Hand und berührte dieselbe Stelle.
Gegenüber dem missglückten Versuch von Eric, war diesmal ein helles Licht zu sehen. Aus den Lichtpixeln baute sich eine kleine männliche Gestalt zusammen. Die verschüttete Bibliothek lieferte ihm einen passenden Begriff dazu. Hologramm.
„Liebste, ich vermisse dich so sehr. Ich kann dir gar nicht sagen, wie ich mich nach dir verzehre. Ich vermisse deine zarte Haut, deine Ohren, deine ...“ Sentry beendete die schwülstigen Liebesbekundungen. Offenbar hatte er eine elektronische Grußkarte aktiviert.
„Das ist mies“, kommentierte Eric das Ergebnis trocken.
„Ist es. Die arme Frau“, bestätigte Dina.
„Nein, nein. Diesen Mist werde ich doch nie los.“ Offenbar begriff Eric immer noch nicht Sentrys wahre Intension.
„Vergiss diese elektronische Grußkarte. Es geht darum, dass ich es einschalten konnte. Ich kann vermutlich alles aktivieren. Glückwunschkarten, Toaster, Waffen, Atombomben. Alles.“
Endlich begriff Eric die Dimensionen von Sentrys Fähigkeiten. Es war ihm förmlich im Gesicht anzusehen, wie er die dargebotenen Erkenntnisse realisierte.
„Das Technologielager von Lassik“, sagte er nach kurzem intensivem Nachdenken.
„Was?“, fragte Eva.
„Es gab Gerüchte über Leute, die verriegelte Technik aktivieren können. Genaues wusste man nicht, also wurden die ganzen nutzlosen Spielzeuge eingelagert, in der Hoffnung, dass eines Tages jemand wie er vorbeikommt und alles wieder zum Leben erweckt. Waffen, Werkzeuge, vielleicht sogar Schiffe rosten da vor sich hin. Verdammt du bist der neue Messias auf den alle warten.“
Jetzt begann Eva ihre grauen Zellen auf Hochleistung zu bringen. Wenn sie ehrlich war, hatte sie bisher keine konkreten Vorstellungen, wie sie ihre Hilfe für Freya praktisch realisieren könnte. Mit Erics Worten ergab sich das erste Mal eine Gelegenheit ihrem Versprechen Substanz zu geben.
„Was ist mit Medizintechnik? Könnte da unten etwas sein, dass Krebs heilt?“, fragte sie hoffnungsvoll.
„Durchaus möglich.“
„Wir müssen in dieses Lager.“ Eva klang voller Energie.
„Ich habe keine Ahnung, wo sich das Lager befindet.“
„Kain“, schoss ihr sein Name sofort in den Kopf. In seinem unendlichen Arsenal an Informationen gab es sicherlich den passenden Hinweis. Der Gedanke an ihn ließ sie versteifen. Es musste andere Optionen geben, um den Standort des Lagers zu erfahren.
„Was ist mit dem BsA. Die sollten es doch wissen“, lotete sie die nächste Möglichkeit aus.
„Klar wissen die das. Ihr geht dahin, fragt sie einfach danach und geht dann fröhlich eurer Wege.” Er hatte seinen Sarkasmus über die Jahre perfektioniert.
„Bist du verrückt, dass du überhaupt darüber nachdenkst. Keiner geht freiwillig in diesen Bunker“, antwortete Eric wieder ernst. Ratlosigkeit machte sich breit, bis eine dritte Variante zur Diskussion stand.
„Das organisierte Verbrechen“, sagte Eric ehrfurchtsvoll.
„Dann fragen wir die“, schlug Dina naiv vor und brachte Eric zu seinem altbekannten Sarkasmus zurück. Offensichtlich war das seine Art mit schönen Frauen umzugehen, die ihn selbst als letzten Mann auf Erden ignorieren würden.
„Ohja, ihr fragt einfach nach dem Weg. Die sind bestimmt so freundlich und werden euch alles sagen. Das wird so einfach und am Ende verpassen sie euch einen Schwimmkurs mit Betonschuhen. Wie naiv ist die eigentlich?“, wandte er sich an Eva.
„Wir müssen es probieren“, unterstützte diese Dina und erntete ein ungläubiges Kopfschütteln. Sentry sah sich gezwungen in die Überlegungen mit einzusteigen.
„Was ist mit mir? Werde ich gar nicht gefragt, ob ich überhaupt mit Verbrechern zusammenarbeiten will?“ Er konnte seinen Ärger über die Selbstverständlichkeit seine Fähigkeiten anzuwenden nicht mehr zurückhalten.
„Du musst das tun. Du schuldest mir was. Ohne mich wärest du auf Prem gestorben.“ In dem Moment, in dem Eva ihm die Worte entgegenbrachte, bereute sie es umgehend. Er hatte Recht. Auch wenn er in ihrer Schuld stand, sie hätte ihn nicht komplett ignorieren dürfen. Der Tempel hatte ihre Manieren auf ein Minimum zusammenschrumpfen lassen und diese Ausrede nahm sie zum Anlass, nicht weiter auf die Diskussion einzugehen.
„Ganz ruhig. Da gibt es sicherlich genug Technik, die wir versilbern können, um diesen Planeten verlassen zu können. Das ist unsere Chance hier weg zu kommen“, beruhigte Dina die Gemüter. Damit hatte sie einen Punkt. Hier auf Lassik waren zu viele Menschen hinter ihm und seine Femtos her. Doch wohin sollte er gehen? Er fühlte sich weiterhin nicht in der Lage sein Leben selbstständig zu meistern, also blieb ihm nur Dina und ihr Pakt der Hilfe.
„Und dann?“, fragte er.
„Alles ist besser als hier“, antwortete sie. Offenbar hatte sie selbst keine konkreten Vorstellungen über die Zeit nach ihrer Flucht.
„Die werden euch ohnehin nicht helfen.“ Eric war der einzige Pessimist in der Runde. Alle anderen hatten ihren Antrieb das Wagnis einzugehen.
„Alles eine Frage des Geldes.“ Dina wirkte langsam genervt von Eric. Eine seiner geheimen Superkräfte, Ignoranz langsam in Verärgerung zu wandeln.
„Du musst uns begleiten.“ Evas Stimme klang Eric gegenüber weicher, als bei Sentrys Aufforderung seine Fähigkeiten einzusetzen.
„Ach ja. Warum sollte ich?“
„Wir brauchen jemand, der sich mit Technik auskennt. Bitte“, versuchte sie sein Ego zu kitzeln. Erneut sah sie sich gezwungen zu betteln. Dieses Mal ohne Erfolg.
„Ich bekomme das auch hin“, sagte Dina überzeugt.
„Viel Glück. Kennst du den Unterschied zwischen Gleichrichter und Wechselrichter? Weißt du, wie man ein Kommunikationsmodul repariert? Sicher nicht. Ihr werdet an mich denken, wenn ihr vor einem Toaster steht und euch fragt, wo die Wäsche reinkommt.“ Dina ignorierte seine beleidigende Art und fuhr unbeirrt fort.
„Egal. Dann finden wir jemand anderes, der uns hilft. Bleib du nur hier in diesem Laden sitzen, während da draußen tausende von technischen Anwendungen darauf warten, ausprobiert zu werden.“ Das hatte gesessen. Die Aktivierung seines Spieltriebes gegenüber Technik schien der richtige Weg ihn zu überzeugen.
„Das willst du dir doch nicht entgehen lassen“, schob Eva mit sanfter Stimme nach.
„Bitte“, rang sie sich ab, weil Eric weiter mit sich kämpfte. Als Antwort bekam sie ein unverständliches Knurren, was sie als Zustimmung interpretierte.
„Schön. Dann sind wir uns einig“, bestätigte sie, bevor er es sich doch anders überlegte.
„Wir werden alle sterben.“ Erics Pessimismus schien unumstößlich.
Es tat gut einen Plan zu haben, auch wenn er vor Gefahr triefte. Gegen Abend würden sie sich aufmachen, um Kontakt mit der hiesigen Unterwelt aufzunehmen. Die Flucht von Prem war erschöpfend gewesen und Sentrys Körper schrie förmlich nach einem Bett. Leider besaß Eric kein Gästezimmer und es bedurfte einiger Überzeugungskraft, um wenigstens den Frauen in seinem Schlafgemach eine bequeme Erholung zu ermöglichen. Für Sentry selbst blieb nur der harte Boden im Laden, was wenig erholsam war. Seine Gedanken kreisten ohnehin nur um die neuen Femtos und manifestierten sich in seinen Träumen. In dieser grausamen Welt bedeutete es nichts Gutes mit diesen Fähigkeiten geschlagen zu sein. Am Ende war er wertvoller als das stärkste Kriegsschiff. Wer weiß, vielleicht sogar gefährlicher. Hinzu kam die Tatsache, dass bereits mehrere Gruppierungen hinter ihm her waren. Sein träumendes Unterbewusstsein zeigte ihm Red und Kain in einem dramatischen Kampf um seine Eingeweide. Schweißgebadet erwachte er, bevor dieses blutige Spektakel seinen Höhepunkt erreichen konnte. Er rief sich das Bild dieser Frau auf dem Foto wieder ins Gedächtnis. Der Grund, warum er das alles auf sich nahm und nicht den Notausgang des schnellen Todes wählte. Wer war sie? Konnte sie ihm helfen? Er brauchte diesen mentalen Anker, um nicht dem Wahnsinn zu verfallen. Damit schaffte er es seinen aufgewühlten Geist zu beruhigen und seine Gedanken auf etwas anderes zu lenken. Dina in ihrer hautengen Kleidung löste nicht jugendfreie Fantasien aus, was ebenfalls wenig hilfreich war, um erholsamen Schlaf zu finden. Diese Frau mit ihrer selbstsicheren Art beschäftigte ihn mehr, als er zugeben wollte. Irgendwann siegte die Müdigkeit über all die Reize der letzten Tage und bescherte ihm eine traumlose Rast.
Es war bereits dunkel, als Sentry erwachte. Trotz des harten Bodens fühlte er sich erholt und halbwegs ausgeruht. Er vernahm Stimmen irgendwo hinten im Privatbereich. Offensichtlich waren die anderen bereits dabei Vorbereitungen für die abendlichen Unternehmungen zu treffen. Erics gereizte Stimme ließ darauf schließen, dass erneut Uneinigkeit über das Vorgehen bestand. Der Rücken schmerzte, als er sich hoch quälte. Diese verdammten Femtos waren ziemlich wählerisch in ihrer Bekämpfung von körperlichen Befindlichkeiten.
Nach einem kurzen Abstecher ins Badezimmer gesellte er sich zu der Gruppe in der Küche. Dina waren die Vorteile der Ruhepause anzusehen. Sie wirkte frisch und energiegeladen. Eva dagegen hatte einen ähnlichen Kampf ausfechten müssen wie Sentry und die Verarbeitung der Ereignisse auf Prem machten ihre Rast wenig erholsam. Trotz dieses übermüdeten Eindrucks schien Eric ihre geballte Entschlossenheit sichtlich zu überfordern.
„Dieser Ort ist gefährlich. Die Geschichten enden meist auf „und er wurde nie wiedergesehen“.“ Also machten sie da weiter, wo sie am Morgen aufgehört hatten. Aus den Diskussionen konnte Sentry vernehmen, dass sie planten den größten Schwarzmarkt aufzusuchen. Dort würden sie versuchen die hiesige Unterwelt zu kontaktieren, um ins Lager zu gelangen. Erics Angst führte zu erneuten Streitereien und Dina plädierte dafür ihn einfach stehen zu lassen und allein aufzubrechen. Evas Einfluss ermöglichte nach langem Zureden eine fragile Überzeugung, die jederzeit in erneutem Beklagen gipfeln konnte. Einen bockigen Eric als Begleiter zu haben, war keine schöne Aussicht, aber irgendwie schaffte es Eva die schlimmsten Auswirkungen seiner Launen mit treffenden Worten zu unterdrücken. Dieses unerwartet einfühlsame Talent beeindruckte Sentry. Der Antrieb ihrer Schwester zu helfen, offenbarte bisher ungewohnte soziale Fähigkeiten.
Zehn Minuten später brachen sie auf und nachdem sie die ersten Schritte vor die Tür gemacht hatten, konnte keiner in der Gruppe die Aufregung leugnen. Selbst die abgebrühte Dina schien sich unsicher über den Ausgang ihrer Unternehmung. Ihre gespielte Gelassenheit konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass ihr Vorhaben schnell mit Erics prophezeitem Schwimmkurs enden konnte. Sich auf Kriminelle einzulassen war immer ein Spiel mit dem Feuer. Dass wusste sogar Sentry mit seinen beschränkten Erfahrungen. Mit mulmigem Gefühl folgten sie Eva durch enge Gassen und mieden die belebten Hauptstraßen. Ihr Ziel waren die Randgebiete, die mit ihren eigenen Regeln höchste Vorsicht erforderten. Mit Annäherung an den Markt verfiel die Gegend zunehmend und nach einer halben Stunde straffen Fußmarsches bot sich Sentry das bereits bekannte Bild der Verwahrlosung. Hier draußen herrschte das Gesetz des Dschungels. Die verfallenen Gebäude schrien förmlich nach Rückzug, aber Eva hielt keinen Moment inne. Ihre Entschlossenheit war bewundernswert und Sentry wäre froh gewesen nur ein Bruchteil dieses Willens zu haben.
Gelegentlich kamen ihnen Leute entgegen, die sie aufgrund ihrer intakten Kleidung misstrauisch musterten. Die in Lumpen gehüllten Gestalten, passten perfekt in das Gesamtbild der Ruinenlandschaft. Hier draußen gab es kein fließendes Wasser oder Strom und der Gestank nach Fäkalien zeugte von der Willkürlichkeit bei der Verrichtung der Notdurft. Armut und Elend waren hier Normalität und jeder Tag war ein Kampf gegen das Verhungern. Evas Pistole hielt die verzweifelten Geschöpfe auf gebührenden Abstand und verhinderte unnötige Konflikte.
Diese dunklen Außenbezirke verbreiteten eine schwer greifbare Bedrohung. Jederzeit bestand die Gefahr Opfer eines Überfalls zu werden und bei jedem mannshohen Geröllhaufen erhöhte Sentry seine Verteidigungsbereitschaft. Diese permanente Anspannung erschöpfte seinen Körper und es fiel ihm schwer sich auf den steinigen Weg zu konzentrieren. Sie waren gezwungen Umwege einzugehen, um herumlungernde Gruppen nicht zu überstürzten Taten zu verleiten. Diese verwahrlosten Ausgestoßenen wärmten sich an Feuern und betäubten ihren Frust mit allerhand Drogen. So unauffällig wie möglich durchquerten sie dieses gefährliche Gelände und waren erleichtert, als Eva vor einem unscheinbaren Tor verkündete ihr Ziel erreicht zu haben.
Sentry bezweifelte, dass hinter dieser verfallenen Häuserfront belebter Handel betrieben wurde. Dafür war es einfach zu ruhig. Anderseits durften solche Orte nicht auffallen und so war er gespannt, wie sie es schafften vollkommen geräuschlos einen illegalen Markt zu tarnen.
„Was jetzt?“, fragte Dina als Eva nichts unternahm, um sich anzukündigen.
„Wir warten. Sie wissen, dass wir hier sind.“ Sie zeigte mit dem Finger auf einen kleinen unauffälligen Kasten in der bröckelnden Fassade, der sich bei näherer Betrachtung als Kamera herausstellte. Fünf Minuten dauerte es, bis ein gut genährter Kerl in der Tür erschien. Auf ganz Lassik gab es mit Sicherheit nur wenige Menschen, die solch einen enormen Nahrungsüberschuss auf den Rippen trugen. Trotz dieser korpulenten Erscheinung besaß er ein weitaus markanteres Merkmal, das jegliche Blicke auf sich zog. Sein Gesicht. Lippen, Augenbrauen und Ohren waren mit unzähligen Schmuckstücken verziert, so dass jeder Metalldetektor bereits aus zwei Metern Entfernung anschlagen würde. Mit seinem ungepflegten Bart und den gelben löchrigen Zähnen wirkte er wie ein Pirat, der nach Wochen auf See bereit war auf jegliche Hygiene zu verzichten. Diese Gestalt flößte der Gruppe ordentlich Respekt ein und war ein Vorgeschmack auf das, was sie hinter diesem Tor erwarten würde. Mit der jahrelangen antrainierten Arroganz eines Türstehers, musterte er die Neuankömmlinge.
„Was wollt ihr?“, fragte er grob.
„Waren kaufen“, antwortete Eva.
„Ha. Verschwindet. Solche Bettler wie ihr brauchen wir hier nicht. Ihr habt doch gar nichts von Wert.“
„Vielleicht nichts, was wir in den Taschen haben“, sagte Dina und machte eine eindeutig zweideutige Geste. Diese frivole Vortäuschung von Geschlechtsverkehr verfehlte seine Wirkung nicht und die Einstellung des Türstehers änderte sich von Arroganz auf Verlangen. Für ihre feindliche Einstellung gegenüber Männern wusste sie erstaunlich gut bestimmte Instinkte zu wecken.
„Verstehe. Solche seid ihr. Okay, bei eurem Aussehen werdet ihr da drinnen sicherlich Arbeit finden. Macht aber nichts auf eigene Rechnung, sonst ist eure Haltbarkeit hier begrenzt. Meldet euch bei Balta, der verschafft euch Kundschaft.“ Er musterte die beiden Männer und überlegte kurz, ob er ihnen den Zutritt verwehren sollte, entschied sich aber dagegen. Widerwillig händigte Eva ihre Waffe aus, dann durften sie passieren.
Sie folgten einem schmalen Gang und hinter einer Tür ging es über mehrere Treppen nach unten. Drei Stockwerke tiefer fanden sie sich in einer Tiefgarage eines ehemaligen Verwaltungsgebäudes wieder. So tief unter der Erde war es egal welcher Lautstärkepegel vorherrschte. Hier drang selbst ein Kanonenschlag nicht an die Oberfläche.
Sie verließen das Treppenhaus und waren schlagartig Teil einer turbulenten Masse. So viele Menschen hatte Sentry nicht erwartet. In dieser Bahnhofskulisse fühlte er sich für einen Moment überfordert. Der Geruch von gebratenem Fleisch stieg ihm in die Nase und löste schlimme Erinnerungen an Prem aus, wo sie gezwungen wurden diese rattenartigen Tiere zu essen. Keine zwei Meter entfernt, erkannte er die Quelle der Belästigung. Ein hemdsärmlicher Mann mit dreckiger Schürze wendete gerade einen widerlich aussehenden Fleischbrocken über offenem Feuer und würdigte die Neuankömmlinge keines Blickes. Unzählige Stände taten sich links und rechts vor ihnen auf und ließen gerade mal einen halben Meter Gang übrig, damit sich potentielle Kunden Nahrung, Sachen oder Gegenstände aller Art anschauen konnten.
Gigantische Scheinwerfer sorgten für ausreichend Beleuchtung und erhellten die Halle bis in den letzten Winkel. Als Sentry nach oben schaute, sah er Lüfter, die mühsam die geballten Ausdünstungen der Anwesenden davon schaufelten. Nach wenigen Sekunden war klar, dass dieser Ort keine lose Ansammlung von Händlern war. Strom, Luft und Wasser waren reichlich vorhanden, was auf eine bessere Infrastruktur als an der Oberfläche schließen ließ. Vorsichtig steuerte er auf einen der Stände zu und begutachtete die dargebotenen Waren. Dinge, die vermutlich auf dem Rest des Planeten Mangelware waren und größtenteils gegen Tauschgegenstände erworben wurden. Der Wert gestaltete sich danach, was der Käufer bereit war zu tauschen.
Eva kannte diesen Ort, hatte ihn aber nie persönlich aufgesucht. Der Tempel war gelegentlich gezwungen gewesen Dinge zu erwerben. Nur Ausgewählte durften diesen Sündenpfuhl betreten und dementsprechend rankten sich Gerüchte über diesen Markt. Neben den Tauschgeschäften gab es angeblich Glücksspiel, Prostitution, Drogen und sogar Boxkämpfe, die nicht selten mit dem Tod endeten. Sie hatte heute die Gelegenheit den Wahrheitsgehalt dieser Geschichten zu ergründen. Offiziell war hier alles illegal, aber die Inc. akzeptierte diese Ansammlung menschlicher Abgründe und profitierte in Form von Schweigegeldzahlungen sogar davon. Wo immer es die Möglichkeit gab Geld zu verdienen, hielten die korrupten Politiker die Hand auf. Sie erinnerte sich, wie Kain einmal verärgert erwähnte, dass auf Anweisung der Politik in der Hauptstadt künstlich Waren verknappt wurden, um hier höhere Preise verlangen zu können. Regierung und organisiertes Verbrechen hatten hier einen unheiligen Pakt zum Nachteil der Bevölkerung geschlossen.
Sie gingen ein paar Schritte den von Ständen gesäumten Weg entlang und musterten die Auslagen. Ein schmieriger Kerl mit gegeltem Haar bot lebensnotwendige Medikamente an, die seit Ewigkeiten in keiner Apotheke der Stadt mehr zu bekommen waren. In Eva stieg die Wut hoch und sie hatte Mühe ihre Beherrschung zu behalten. Bevor es zum Ausbruch kam, zog Dina sie zu einer verlausten Frau mit glasigem Blick, die ihren Stand überwiegend mit allen möglichen Sorten von Alkohol betrieb, den sie wahlweise als Brennstoff deklarierte. Eric diskutierte mit einem Händler über Elektronikschrott und Sentry interessierte sich mehr für die logistischen Herausforderungen, die so ein Ort mit sich brachte. Er kam schnell zu dem Schluss, dass eine mafiöse Struktur vorhanden sein musste. Genau der Ort, den sie suchten. Doch wo sollten sie ansetzen? Vielleicht war dieser erwähnte Balta der Zugang zur Unterwelt.
Sie gingen weiter, bis sie auf einen breiteren Weg trafen. An dieser Kreuzung gab es keine Händler, sondern ausschließlich blinkende Werbetafeln, die auf verschiedene Etablissements hinwiesen. Ein pinkfarbener Pfeil über dem Schriftzug „Pussy Riot“ deutete geradeaus, während verschiedene Casinos mit Sonderangeboten für Anfänger nach rechts lockten. Links luden verschiedene Bars und Clubs zum Trinken und Tanzen ein. Diese Reizüberflutung aus blinkenden Lichtern ließ Sentry staunen. Auf diesem tristen Planeten hatte er so was nicht erwartet und wieder war er durch die fehlenden Erfahrungen unsicher, wie er sich an einem solchem Ort verhalten sollte. Hier stießen Verzweiflung und Habgier in einer unheilvollen Mischung aufeinander. Kein Wunder, dass an jeder Ecke bewaffnete Aufseher die fragile Ordnung aufrecht erhielten.
„Ich hätte nie gedacht, dass es hier so groß ist.“ Eva fühlte sich im Lichtermeer verloren. Es war an Dina die Richtung vorzugeben.
„Ich würde sagen wir gehen da lang.“ Sie zeigte nach links und begann sich einen Weg durch die Menschenmenge zu bahnen, als Eric sie zurückhielt. Dieses Mal war es keine Angst, die zu Diskussionen führte.
„Warum schauen wir uns nicht weiter um.“ Er war sichtlich begeistert von dem dargebotenen technischen Schrott. Für jeden normalen Menschen wurde hier nur elektronischer Abfall angeboten, aber für Erics Geist waren es bereits neue Spielzeuge, mit denen er sich beschäftigen konnte.
„Niemand hält dich davon ab.“
„Ihr lasst mich allein?“ Dina verschwand wortlos in der Masse und stürzte damit Eric in ein Dilemma. Als Eva und Sentry ihr schweigend folgten, musste er sich zwischen der technischen Neugierde und der Angst vor diesem Ort entscheiden. Am Ende siegte sein Spieltrieb und die Abneigung sich mit kriminellen Elementen abzugeben, bestärkte ihn die Gruppe zu verlassen.
„Wir treffen uns wieder hier“, schickte er den anderen hinterher und verschwand in der Masse.
Sentry und Eva strahlten eine Unsicherheit aus, die im Kontrast zu Dinas selbstsicherer Art stand. Offenbar kannte sie vergleichbare Orte aus ihrer Vergangenheit und war vertraut mit den Mechanismen dieses vermeintlichen Handelsplatzes. Während sie souverän auf eine Bar mit dem Namen „Lassik junction“ zusteuerte, fühlten sich ihre Begleiter zunehmend unwohler. Als Sentry von einem Werber eines Bordells aufgefordert wurde ihm zu den schönsten Mädchen des Planeten zu folgen, verlor er seinen ohnehin spärlichen Rest an vorgespielter Gelassenheit. Dieser Ort war durch seinen lauten Geräuschpegel, seinen penetranten Vermittlern und den blinkenden Lichtern eine einzige Überforderung für sein auf mentales Gleichgewicht ausgelegtes Gemüt. Das Verhalten in großen Gruppen war Neuland für ihn. Er musste erst lernen sich unter einer Masse von Fremden zurechtzufinden. Ein kurzer Blick in Evas Gesicht bestätigte ihm, dass er damit nicht allein war.
„Wie sollen wir das angehen?“, schrie Eva gegen den Lärm an. Sentry zuckte nur mit den Schultern und deutete Richtung Dina, die sich weigerte irgendwelche Erklärungen abzugeben. Den beiden blieb nichts anderes übrig, als ihr hinterher zu eilen, was seltsam anmutete. Die Gruppe machte den Eindruck zweier verängstigter Pudel, die anhänglich ihrem Frauchen hinterher trotteten. Unter den misstrauischen Blicken der Einheimischen betraten sie die Bar. Neue Gesichter wurden offensichtlich nicht nur als potentielle Kunden angesehen, sondern auch als mögliche Bedrohung.
Das „junction“ beinhaltete eine Ansammlung der seltsamsten Gestalten, die Sentry je gesehen hatte. Sein erster Blick viel auf die leicht bekleideten Bedienungen, die allesamt durch ihre üppige Oberweite das wesentlichste Kriterium für die Einstellung mitbrachten. Sie wuselten gestresst zwischen den abgeranzten Tischen hin und her, die scheinbar wahllos vor einer meterlangen Theke aufgestellt wurden. Mit aufgesetzter Höflichkeit bedienten sie die überwiegend männliche Kundschaft, die sich nicht zu schade war, jedes dargebotene Getränk mit anzüglichen Sprüchen zu kommentieren. Besonders eine Vierercombo aus wenig vertrauenserweckenden Kerlen steigerte den Lärmpegel mit ihrem Gegröle ins Unermessliche. Diese Ansammlung aus eher schlichten Gemütern wurde misstrauisch beäugt von einem Kleiderschrank von Rausschmeißer, der nur den richtigen Anlass suchte, um seine Jobbeschreibung in die Tat umzusetzen. An der Theke endete gerade ein Trinkspiel und die frei gesetzte Aufmerksamkeit lenkte sich komplett auf die Neuankömmlinge um. Die Blicke blieben überwiegend an Eva hängen, die sich mit dieser extremen Form an Interesse sichtlich unwohl fühlte.
Es wurde deutlich ruhiger an dem Vierertisch. Offensichtlich klüngelten sie aus, wer von ihnen den ersten Schritt bei Eva wagen durfte. Nach zwei Minuten unterdrückten Diskussionen schlenderte die wahrlich schlechteste Option voller grundlosem Selbstvertrauen auf die drei zu, stoppte aber abrupt, als aus dem hinteren Bereich sich ein Mann mit besserem Kleidungstil näherte. Dort drüben saß der gehobene Teil der Kundschaft, denn das Ambiente zeugte von mehr Geschmack. Das Mobiliar bestand nicht aus Jahrhundertealten Plastikstühlen und die Einrichtung verbreitete eine künstlerische Gemütlichkeit. Verschiedene Instrumente, wie Gitarren, Saxophone und Keyboards hingen an den Wänden und auf einer Bühne spielten gelegentlich Live-Bands. Ein Aufseher stellte sicher, dass die Exklusivität gewahrt blieb und wies jeden mit schlechten Manieren oder unpassender Garderobe gnadenlos ab.
„Herzlich willkommen“, begrüßte die unscheinbare Gestalt einen verblüfften Sentry. Die ausgestreckte Hand wirkte wie der Rest des wenig einschüchternden Mannes. Klein und zerbrechlich. Trotz seiner schwachen Ausstrahlung änderte sich das Verhalten der Kundschaft. Die ausgelassene Stimmung kühlte deutlich ab und mit ordentlich Respekt zog sich der Aufreißer zu seinen drei Kumpanen zurück, die jegliche Lärmbelästigung eingestellt hatten. Der nervöse Auftritt passte nicht zur unterwürfigen Reaktion der Anwesenden.
„Kennen wir uns?“, fragte Dina nachdem Sentry nicht in der Lage war den Gruß zu erwidern. Peinlich berührt zog der Fremde seine Hand zurück. Sein Auftreten hatte die Selbstsicherheit eines Buchhalters, der lieber mit Zahlen jonglierte als mit unbekannten Leuten zu sprechen.
„Nein, aber wir kennen Sie. Bitte folgen Sie mir“, wandte er sich jetzt an Dina.
„Wohin gehen wir?“
„Zu wichtigeren Leuten wie mir“, antwortete er mysteriös. Die drei sahen sich fragend an und als der namenlose Mann sich in Richtung des VIP-Bereichs auf machte, fasste Dina sich ein Herz und ging ihm nach. Angesteckt von ihrer Entschlossenheit folgten Eva und Sentry. Letzterer hatte kein gutes Gefühl bei der Sache und war sich sicher, dass seine Femtos indirekt der Grund für diese geheimnisvolle Vorstellung war. Im schlimmsten Fall erwartete sie Kain mit einem Trupp Soldaten. Plötzlich war er sich unsicher über die Entscheidung hier her zu kommen.
Die Gruppe kam vor einem der Separees zum Stehen. Nach einer höflichen Aufforderung kurz zu warten, verschwand ihr Führer hinter dem roten Vorhang. Nur zehn Sekunden später tauchte er wieder auf und bat alle ihm zu folgen. In fester Erwartung Kain oder Red auf der anderen Seite anzutreffen, durchschritt Sentry mit klopfendem Herzen den Eingang.
Es war dunkler als erwartet und durch den dichten Zigarettenqualm hatten seine Augen Mühe die schemenhaften Konturen zu erkennen. Als erstes fiel ihm dieses riesige U-förmige Sofa auf, dass in seiner weißen unschuldigen Farbe viel zu sauber und gepflegt daherkam. Mehrere Personen räkelten sich auf den Kissen. Erst auf den zweiten Blick erkannte er, dass es sich überwiegend um leicht bekleidete Frauen handelte, die an diesem Ort einen Zusatzverdienst erhofften. Im Bauch des Sofas stand ein passgerechter Glastisch, auf dem unzählige Gläser und Flaschen mit halbvollem Inhalt standen. Sentry wollte sich gerade fragen, wie bei diesen vielen potentiellen Verschmutzungsquellen das Sofa so sauber bleiben konnte, als er den wahren Mittelpunkt des Raumes erkannte. Die schwarze Haut stand im Kontrast zu der Reinheit des Sofas und die souveräne Ausstrahlung machte den Mann zum Anziehungspunkt für die Blicke der Neuankömmlinge. Keine Frage er war hier der Anführer. Das war klar, bevor auch nur ein Wort gewechselt wurde.
„Herzlich willkommen. Begrüßt meine Gäste”, forderte er die Mädels auf dem Sofa auf. Ein laszives „Hallo” flutete den Raum und eine der Bikinischönheiten mit langen blonden Haaren erhob sich und ging in aufreizender Verführung auf Sentry zu. Zärtlich gab sie ihm einen leichten Kuss auf die Wange.
„Hallo mein schöner Mann”, hauchte sie in sein Ohr und löste damit einen Hormonsturm in ihm aus.
„Schon gut. Zum Vergnügen kommen wir später. Vorher sollten wir noch einige Dinge besprechen”, kam es vom Sofa. Das war eine Aufforderung für sämtliche Vertreter des käuflichen Spaßes den Raum zu verlassen.
„Wir sehen uns später”, verabschiedete sich die Blondine im lasziven Tonfall und gab ihm einen weiteren Schmatz auf die Wange. Sentry brauchte eine Weile, um seinen Gedankengang wieder in den Normalzustand zu versetzen.
„Setzt euch. Was wollt ihr trinken?”, fragte der Schwarze freundlich, aber bestimmt. Außer ihm waren jetzt nur der Buchhalter und zwei Leibwächter im Hintergrund anwesend. Mit Erschrecken stellte Sentry fest, dass sie mit Pistolen bewaffnet waren. Die üblichen Regeln des Schwarzmarktes schienen hier drinnen nicht zu gelten.
„Ich nehme mal an, wir sind nicht hier, weil du uns einen Drink spendieren willst?”, fragte Dina und bekam vorerst keine Antwort. Der Mann ließ sich in die weiche Rückenlehne fallen, kreuzte die Finger und musterte ungeniert seine Gäste. Mit dieser selbstsicheren Geste verunsicherte er Eva und Sentry. Nur Dina blieb unberührt und nahm auf dem Sofa Platz. Mit einer einladenden Handbewegung forderte er auch den Rest auf sich zu setzen. Die Angst waren Eva und Sentry deutlich anzusehen, als sie an seiner Seite saßen.
„Also. Warum sind wir hier?”, fragte Dina erneut.
„Ihr habt ordentlich Chaos auf Prem hinterlassen”, überraschte ihr Gastgeber die Gruppe. Selbst Dina war verwundert. Diese Einleitung konnte sie nicht ohne passende Antwort ignorieren.
„Haben wir, Balta.” Treffer. Jetzt war die Überraschung auf der Gegenseite. Auch wenn sie nur einen Bruchteil einer Sekunde zu erkennen war, befriedigte es Dina. Ein anerkennendes Lächeln für die gelungene Retourkutsche, dann lehnte er sich nach vorn und wandte sich an Eva. Sein kahler Kopf spiegelte das Deckenlicht wieder und für einen Moment wirkte er wie eine Gottesgestalt mit Heiligenschein.
„Dann brauche ich mich ja nicht mehr vorzustellen. Das ist meine rechte Hand Gunter. Leider sind mir eure Namen nicht bekannt. Ich nehme mal an, du bist die abtrünnige Tempeljüngerin.” Diese Worte verkündete er mit viel Respekt, was Eva zusätzlich verunsicherte. War das eine plumpe Art ihr Vertrauen zu erlangen?
„Eva”, stellte sie sich kurz vor.
„Schön dich kennenzulernen. Eva.” Balta hielt ihr die Hand hin und schaute ihr tief und lange in die Augen. Nach Sentrys verkümmerten Erfahrungen konnte er kein Verlangen oder Trieb erkennen. Es war eine abgeschwächte Art, wie ein Vater seine Tochter nach einem bestandenen Schulabschluss anschaute. Eva quittierte diese Geste der Anerkennung mit einem zaghaften Händedruck.
„Das ist Sentry und ich bin Dina”, wurden sie unterbrochen. Im Gegensatz zu Eva bekam keiner der beiden einen Händedruck.
„Ein ungewöhnlicher Name. Sentry.” Balta zündete sich eine Zigarette an und legte die Schachtel als Angebot in die Mitte. Dann ließ er sich in die Kissen des Sofas zurückfallen und setzte ein breites Lächeln auf. Diese Pose hatte mit Sicherheit das ein oder andere Frauenherz erobert. Die makellos weißen Zähne und die selbstsichere Ausstrahlung weckten Neid in Sentry. Dina dagegen sah sich genötigt ihn dieses Vorteils mit verbaler Ablehnung zu berauben.
„Wir wollten Dinge besprechen und nicht rauchen”, drängte sie Balta endlich zum Punkt zu kommen.
„Ah… Ungeduld. Gut lassen wir das mit den Höflichkeiten. Trotzdem will ich euch kurz meine Geschichte erklären.” Balta nahm einen tiefen Zug und warf die halbe Zigarette in ein rotes Getränk, wo sie zischend erlosch.
„Man sagt mir nach, ich hätte ein Gespür für gute Gelegenheiten. Seht ihr, das Ganze hier wurde erschaffen von einem Typen namens Coid oder Boyd. Verdammt ich hab seinen Namen vergessen. Egal. Sein Talent war Dinge aufzubauen und zu entwickeln. Sein Ehrgeiz war so groß, dass er das alles hier mit Herzblut erschaffen hatte. Er wusste welche Behörden er schmieren musste, er kannte Leute mit Geld die ihn finanzierten und er hatte die Entschlossenheit auftretende Probleme zu lösen. Woran er am Ende scheiterte, war die menschliche Verkommenheit. Dieser Loyd ist längst Geschichte und alle Nachfolger teilten sein Schicksal. Dieser Ort drohte unterzugehen, bis ich die Sache in die Hand nahm. Ich erkannte die Schwachstellen und nutzte die Gelegenheit. Wie gesagt es ist ein Talent aus dem Chaos den maximalen Nutzen zu ziehen. Als mir meine Vögelchen die Geschichten von Prem zutrugen, hatte ich eine Art Déjà-vu. Dort drüben ist Chaos und mich interessiert dringend, welchen Profit ich daraus schlagen kann.“
„Willst du der neue Führer werden?”, fragte Dina belustigt.
„Unwahrscheinlich. Ich sehe aber das Potential, was gerade brach und ungeschützt liegt. Nicht mehr lange und die Aasgeier kreisen über Prem. Ich will ihnen zuvorkommen.”
„Als erster Aasgeier sozusagen.”
„Nenn es wie du willst, aber irgendetwas hat das stabile System auf Prem zum Wanken gebracht und ich bin mir sicher, dass ihr damit zu tun habt. Ich habe nach euch suchen lassen, doch bevor ich euch finden konnte, taucht ihr hier in meinem Wohnzimmer auf. Ein seltsamer Zufall.” Er schaute zu Eva hinüber, welche diese erhöhte Aufmerksamkeit beunruhigte und fuhr dann fort.
„Da ist noch mehr. Die BsA ist in heller Aufregung und hat die Generalmobilmachung ausgerufen. Sie planen Prem zu überrennen. Auf der anderen Seite haben wir den Tempel, der sich ja nie wirklich an seine eigenen Regeln gehalten hatte, mittlerweile aber auch ihre letzten Prinzipien über Bord geworfen haben. Wenn man den Gerüchten Glauben schenken kann, haben die ihre halbe Truppe verloren. Und dann gibt es noch euch. Geflohen von Prem und immer auf der Hut vor den örtlichen Behörden. Der ganze Planet ist in Aufruhr. Also liebe Eva. Kannst du mir erklären, was hier los ist.” Dina übernahm weiter das Reden.
„Wir würden es dir ja gerne erklären. Da gibt es nur ein Problem. Wir trauen dir nicht.“ Dinas direkte Art amüsierte Balta und rang ihm ein anerkennendes Lächeln ab.
„Dann versuche ich euer Vertrauen zu erlangen. Seht ihr die Jungs hinter mir? Meister der Folterkunde. Keine dreißig Minuten mit euch und ich weiß alles”, erklärte er in ruhigem Tonfall.
„Und wie soll uns das Vertrauen geben?”
„Ich will euch nur meine Optionen aufzeigen, aber keine Angst die Jungs sind Plan B. Ich will euch nicht wehtun. Wir kommen da sicher mit den üblichen Mitteln ins Geschäft. Ihr seid hier, weil ihr irgendwas benötigt.” Balta faltete die Hände und beobachtete Dinas Gewissenskonflikt.
„Wir wollen von diesem Planeten runter.”
„Das ist alles?” Dina schaute Sentry an und Balta deutete ihre Zweifel richtig.
„Oh. Ihr habt Angst, dass ich euch nicht gehen lasse. Jetzt bin ich wirklich neugierig.” Wieder tauschten Sentry und Dina Blicke aus, die Balta als wortlose Kommunikation beobachtete.
„Du bist hier das wahre Geheimnis”, stellte er fest. Sentry fühlte sich ertappt, aber war es nicht ihr Ziel mit seinen Fähigkeiten hausieren zu gehen. Mit einem Kopfnicken gab er Dina die Zustimmung die Verhandlungen zu starten.
„Du hilfst uns diesen Planeten zu verlassen und du wirst mächtiger und reicher als in deinen feuchtesten Fantasien. Dann rekeln sich nicht nur drei Nutten auf dem Sofa, sondern dreihundert. Kommen wir ins Geschäft?” Dina hielt ihm die Hand hin. Balta musterte sie und ging seine Optionen durch. Er war in der stärkeren Position und mit Plan B in der Hinterhand, konnte er nicht verlieren. Mit einem festen Händedruck besiegelte er die Abmachung.
„Ich höre”, forderte er die Gruppe auf.
„Zuerst eine Demonstration, dann lässt es sich einfacher reden. Ich brauche deine Waffe”, forderte Dina eine der Wachen auf. Die ignorierte die freche Anfrage. Erst mit der Zustimmung Baltas bekam Dina die Pistole ausgehändigt, die sofort in den Sperrmodus schaltete. Sie reichte sie weiter an Sentry und als die LED auf grün sprang, zuckte Gunter kurz zusammen.
„Keine Munition”, beruhigte ihn die Leibwache aus dem Dunkeln. Balta hatte dagegen keinerlei Regung gezeigt. Nicht mal Überraschung oder Neugierde war zu erkennen. Das perfekte Pokerface.
„Sehr interessant“, bemerkte er nach einer kurzen Pause.
„Hier ist der Vorschlag. Du bringst uns in das Technologielager. Wir aktivieren all die schönen Dinge darin für dich und dann sorgst du dafür, dass wir mit ausreichend Taschengeld den Planeten unbehelligt verlassen.“ Dina lauerte, ob Balta sich darauf einlassen würde. Eine ganze Minute verging in denen Gunter leise Vorschläge in Baltas Ohr verkündete. Vollkommen regungslos saugte er die dargereichten finanziellen Vorteile in sich auf. Sentry konnte seine Anspannung kaum zurückhalten und fing an auf dem Sofa hin und her zu rutschen.
„Nein“, sagte Balta kurz und fest entschlossen. Die Angst kroch in Sentry hoch. Sie hatten alles auf eine Karte gesetzt und verloren. Wie konnten sie nur so naiv sein und glauben das sie irgendwelche Geschäfte mit Kriminellen abschließen konnten. Wahrscheinlich würde er wieder als Ware enden. Er sah sich bereits auf einer Auktion, wo der Höchstbietende ihn ersteigern konnte.
„Soweit zu Vertrauen.“ Dina klang aufrichtig enttäuscht.
„Tut mir leid, aber ich muss nachverhandeln. Dieser ganze Zauber passiert durch Nanotechnologie. Korrekt?“ Sentry nickte zustimmend.
„Das will ich auch.“
„Soweit ich weiß, ist eine Übertragung nicht ganz einfach.“
„Man benötigt eine spezielle Technologie, dass ist richtig. Im Lager sollte sie vorhanden sein. Hier mein Gegenangebot. Wir übertragen diese Nanotechnologie auf mich und dann gebe ich euch ein erste Klasse Fahrschein weg von diesem Planeten. Schlagt ihr ein?“
„Was passiert, wenn es da nicht die passende Vorrichtung gibt?“, fragte Sentry und war sich nicht sicher, ob er die Antwort hören wollte.
„Dann kann ich dich nicht gehen lassen. Allen anderen steht es natürlich frei uns danach zu verlassen.“ Sentry hatte Probleme diesen Mann richtig einzuschätzen. Er wirkte freundlich und vernünftig, gar nicht wie ein Mafiaboss, dem unzählige Schandtaten bis hin zu Mord nachgesagt werden. Seine Wortwahl, die besonnene Art seine Forderungen anzubringen, selbst die Androhung von Folter hatten eine höfliche Attitüde. Auf der anderen Seite kamen nie Zweifel auf, dass er nicht zögern würde auch grausame Mittel anzuwenden. Diese charismatische Präsenz war widersprüchlich zwischen Freundlichkeit und Bedrohung. Größte Vorsicht war geboten. Gegenüber Reds rabiaten Methoden ging Balta mit Cleverness vor. Das Ziel war bei Beiden das Gleiche. Die hochmoderne Technik, die durch seine Blutbahnen kreuzte.
„Also habe ich keine Wahl“, stellte Sentry deprimiert fest.
„Nachdem du das „junction“ betreten hattest, blieb dir nur diese Option. Sieh es positiv. Du stehst jetzt offiziell unter meinem Schutz. Weder BsA noch Tempel werden es wagen dich anzurühren. Woher hast du eigentlich diese Technologie?“ Sentry erklärte in einer verkürzten Variante erneut sein Dasein, vermied es aber die weiteren Femtos zu erwähnen.
„Ich kann mich ja mal umhören, vielleicht finde ich was raus.“ Wieder diese schwer einzuschätzende Freundlichkeit, die es einem unmöglich machte zwischen Sorge und egoistischem Verlangen zu unterscheiden.
„Morgen früh starten wir. Ich muss ein paar Vorkehrungen treffen. Bis dahin seid ihr meine Gäste. Amüsiert euch. Alle Dienstleistungen gehen aufs Haus.“ Damit war ihr Schicksal besiegelt. In ein paar Stunden würde sich entscheiden, ob sie diesen nasskalten Planeten verlassen werden.
IX
„Das Vertrauen junger Menschen erwirbt man am sichersten dadurch, dass man nicht ihr Vater ist.“
Henry de Montherlant
Eva lehnte Baltas Angebot ab die Annehmlichkeiten seines Reiches zu genießen. Diese Orte waren es nicht wert dort längerfristig zu verweilen. Die menschlichen Abgründe deprimierten sie und tatsächlich hatte sie dringende Dinge zu klären. Gemeinsam mit Eric machte sie sich auf den Rückweg in die Innenstadt. Für ihn war der Ausflug ein riesiges Abenteuer gewesen, an dessen Ende jede Menge neue Technik in seinen Besitz übergegangen war. Sie hatte sichtlich Mühe seine lautstarke Begeisterung in dieser gefährlichen Gegend zu zügeln. Wahrscheinlich würde dieser Enthusiasmus weitere Diskussionen über das Betreten des Technologielagers erübrigen. Er hatte trotz Gefahr Blut geleckt und wollte mehr.
Sie trennten sich vor Erics Laden. Für Eva wurde es Zeit sich den Dämonen längst vergangener Tage zu stellen. Wieder stand sie vor einem Berg an Herausforderungen, die alle Überwindung der Welt benötigten. Sie brauchte die Krankenakte von Freya und zu ihrem Bedauern bekam sie die nur nach einer Konfrontation mit ihrem Vater. Tausend Einstiege in das Treffen ging sie durch, als sie die Schwebebahn in die Vororte nahm. Das letzte Mal sah sie ihn, als sie endgültig in den Tempel wechselte. Da war sie 17. Wie sollte sie ihm nach so langer Zeit begegnen? Es war unmöglich die passende Eröffnung zu finden. Hoffentlich fingen sie nicht gleich wieder an zu streiten.
Während die alte Bahn sie ordentlich durchrüttelte, kam ihr der erste Tag nach der endgültigen Trennung wieder in den Sinn. Ein ungewollter Anflug von Nostalgie. Damals wurde eine aufgewühlte Eva zum Führer geleitet, der sie mit warmen Worten willkommen hieß und ihr eine glorreiche Zukunft voller Selbsterkenntnis und Erleuchtung versprach. Die Gemeinschaft nahm sie auf und sofort ergriff sie das Gefühl des Ankommens. Im Labyrinth des Lebens hatte sie scheinbar den Ausgang gefunden. Umso mehr schmerzte es sie, wieder nur falsch abgebogen zu sein. Die Führung, die Gemeinschaft, selbst ihre damaligen Emotionen waren nur Betrug an ihr selbst gewesen. Wie konnte sie sich so dermaßen irren?
Als Konsequenz hatte sie eine extreme Unsicherheit entwickelt, die sie an sich selbst zweifeln ließ. Diese unangenehmen Rückblenden würden sie weiter peinigen, bis sie hoffentlich irgendwann ihren Frieden mit der Zeit in dem Tempel machen könnte. Bis dahin blieb das Gefühl der seltsamen Einzelgängerin, die mit jeder Form von Gesellschaft fremdelte. In ihren über zwanzig Jahren Lebenszeit hatte sie es nicht geschafft Stabilität in ihr Wesen zu bekommen. Sie musterte die anderen Fahrgäste und fragte sich, ob sie mit dieser Bürde der mangelnden Orientierung allein dastand. Schweren Herzens stellte sie fest, dass der Tod ihrer Mutter ihr jegliche Führung entzogen hatte. Sie kämpfte mit den Tränen, schaffte es aber erfolgreich die bevorstehende Sintflut zu unterdrücken. Die Opferrolle war nur ein weiterer Hinkelstein, der sie in dem Meer von Selbstmitleid zu ertränken drohte. Vielleicht gab es ihr Kraft den Weg eine Weile allein zu beschreiten, obwohl sie für die bevorstehende emotionale Achterbahnfahrt für jegliche Unterstützung dankbar wäre. Nicht nur ihr Vater würde sie an ihre Grenzen bringen, auch der Gesundheitszustand ihrer Schwester machte ihr Sorgen. Trotz der Freude sie wiederzusehen, machte ihr die Krankheit Angst.
Sie versuchte sich abzulenken, indem sie sich die Geschehnisse auf dem Schwarzmarkt in Erinnerung rief. Dieser Balta war trotz seines offensichtlichen Mankos als Oberhaupt des organisierten Verbrechens ein faszinierender Mann. Diese Ausstrahlung des absoluten Alphawolfes mit intellektuellem Anstrich hinterließ bleibenden Eindruck. Mit dieser verwirrenden Zurschaustellung von höflichen Drohgebärden, passte er in keine Schublade. Soziale Fähigkeiten waren ohnehin nicht ihre Stärke, aber auch mit intaktem Einfühlungsvermögen wäre es schwer ihn einzuschätzen. Zu allem Überfluss schien er ein persönliches Interesse an ihr zu haben. Nichts Anziehendes oder Sexuelles. Das verwirrte sie noch mehr und machte es ihr unmöglich ihn von Grund auf unsympathisch zu finden. Sie musste aufpassen nicht dem nächsten charismatischen Mann zu verfallen.
Sentry war das genaue Gegenteil. Seine Unsicherheit war das Ergebnis fehlender Erinnerungen und so tappte er ähnlich unwissend durch die Welt wie sie. Doch auch bei ihm blitzten widersprüchliche Emotionen auf, die den Schleier der Unschlüssigkeit ab und an durchbrachen und auf mehr als nur Angst schließen ließ. Eine gewisse Neugier über seine Vergangenheit konnte Eva nicht leugnen. Mit seinen Fähigkeiten konnte er unmöglich ohne Aufsehen verschwinden. Irgendwer musste ihn doch vermissen und nach ihm suchen. Sie tat sich schwer mit ihm, obwohl sein Schicksal vielleicht sogar noch schwerwiegender war als ihres. Er wirkte wie ein Kleinkind auf sie, dass hilflos an den kleinsten Herausforderungen zu scheitern drohte. Trotzdem war er bereit sich seinem Schicksal zu stellen und das bewunderte sie sogar ein wenig. Nach den Ereignissen im Tempel war sie noch nicht bereit Vertrauen gegenüber Fremden zu fassen und so hielt sie ihn aus Selbstschutz auf Distanz. Bei Dina war sie bereits einen Schritt weiter, obwohl sie ihre Vergangenheit auch nicht kannte. Die direkte Art machte sie leicht einschätzbar und dieser Moment in der Baracke auf Prem hatte eine gute Basis gelegt. Die gemeinsame Erkenntnis, dass sie an ihrem bisherigen Lebensweg durch widrige Umstände gescheitert waren und die Dinge einen falschen Verlauf genommen hatten, wurden untermauert durch diesen unglaublichen Kuss. Für Eva war das keine gleichgeschlechtliche Anziehung, sondern ein Ausdruck stiller Verzweiflung. Sie hoffte das Dina das ähnlich sah, sonst würde die Zukunft womöglich kompliziert werden.
Die Fahrt in die Randbereiche der zivilisierten Innenstadt zeigte eine Welt, die ihr die letzten Jahre fremdgeworden war. Die Route führte sie durch Ghettos, in denen der größte Teil der Einwohner weit unterhalb des erträglichen Minimums an Lebensqualität vor sich hinvegetierte. Die Behörden hatten sich größtenteils aus diesen ärmlichen Vierteln zurückgezogen und so gab es ein inoffizielles Netzwerk von Dienstleistungen aller Art, die außerhalb der öffentlichen Wahrnehmung meist unentgeltlich stattfanden und das Leben ein wenig erträglicher machten. Die Bewohner sahen es als überlebenswichtig an den sozialen Zusammenhalt über egoistische Motive zu stellen. Kontakte und Beziehungen linderten die größte Not. Gegenseitige Gefallen waren die Währung mit denen Reparaturen, Instandhaltungen, sogar Hunger entgegengetreten wurde. Dort unten herrschte bittere Armut und die wurde offensichtlich im Erscheinungsbild der engen Nebenstraßen. Die Überreste der zivilisierten Welt türmten sich zu Müllbergen auf, in denen streunende Hunde in Konkurrenz mit Ratten nach Futter suchten. Gelegentlich sah sie Gruppen von Jugendlichen, die aus Mangel an Beschäftigung an den Häuserecken lungerten, um die Langeweile ihres Tages untereinander auszuwerten. Vor Jahren war Eva eine von ihnen gewesen, die später in der Nacht zu ihren Familien zurückkehrte, um das Trauerspiel am nächsten Tag zu wiederholen. In der Phase, in der sich Eva mit der Unterschicht solidarisierte, war sie fast täglich in dieser Gegend. An diesen Ecken wurden Nichtigkeiten über das eintönige Leben desillusionierter Heranwachsender ausgetauscht. Wer ging mit wem oder welches Paar hatte sich gerade getrennt, wurde in stundenlangen Dialogen erörtert. Das Leben war damals banal und trotzdem kompliziert. Mit Wehmut schaute sie hinab und erkannte, dass Generation um Generation von Lassik ihre Jugend damit verschwendete, irgendwie über den Tag zu kommen. Wie viel potenzielle Ingenieure, Ärzte oder Künstler mögen da unten verkümmern, weil die Chancenlosigkeit jegliches Talent unterdrückte.
Die Gegend unter ihr änderte sich im weiteren Verlauf der Fahrt. Die vermüllten Straßen gingen über in die Spießigkeit einer bessergestellten Vorstadt. Die Laternen waren zahlreicher und beleuchteten helle und saubere Straßen. Gegenüber der düsteren Atmosphäre in den Ghettos gab es hier einen trügerischen Anschein von Normalität. Noch zwei Stationen, dann war sie der vertrauten Gegend ihrer Kindheit ganz nah. In dieser Nachbarschaft musste man nicht täglich um das Überleben kämpfen, da Wasser und Nahrung ausreichend vorhanden waren. Hier lebten Verwaltungsangestellte, Politiker und Selbstständige mit geregeltem Einkommen in langgezogenen Reihenhäusern. Innerhalb dieses Mikrokosmos gab es weitere Standesunterschiede, die sich in den unterschiedlichen Phasen des Verfalls der Gebäude zeigten. Eine wohlbehaltene Fassade festigte das gesellschaftliche Ansehen und so versuchte man trickreich mit allerhand überwucherndem Grünzeug den Anschein einer intakten Bausubstanz zu vermitteln. Als Kind hatte Eva diese natürlich wirkende Umgebung geliebt und ihre Fantasien über märchenhafte Gestalten, die in den Hecken der Nachbarn ihr Unwesen treiben, teilte sie mit ihrer Schwester. Dieser Ort definierte sich über Äußerlichkeiten. Im Gegensatz zu den Armenvierteln, wurde hier mehr Energie dafür aufgebracht die richtige Illusion von Wohlstand zu erzeugen. Eva kannte das Leben hinter den Türen dieser angeblichen Mittelschicht. Weniger Hunger war der entscheidende Unterschied zu den arbeitslosen Proletariern in den vermüllten Vierteln ein paar Schwebebahnstationen entfernt. Hier gab es weniger Tristess, dafür mehr Einmischung der Regierung. Die Inc war allgegenwärtig und nur drei Blocks von ihrem Haus entfernt, befand sich eine Außenstelle der BsA. Unangebrachte Worte konnten einem in dieser Gegend schnell den Umzug in die Ghettos einbringen. In dieser Vorstadtidylle aus privilegierter Sklavenhaltung war Eva aufgewachsen. In einer Mischung aus Vorfreude, Angst und Nostalgie verließ sie die Bahn.
Zu ihrem Erstaunen hatte sich in den vergangenen Jahren kaum was in der Umgebung geändert. Zielstrebig verließ sie die Haltestelle und steuerte auf ihre alte Heimstätte zu, als wäre sie wieder zwölf und käme gerade von der Schule. In dieser elendig langen Häuserzeile kam sie vor einer Tür zum Stehen, deren einziges unterscheidendes Merkmal ein goldfarbener Türknauf war. Ihre Eltern hatten diese Kuriosität auf einem Flohmarkt ergattert und von diesem Tag diente es als Abhebung von den einheitlich weiß gehaltenen Türen der Umgebung. Langsam ging sie den gepflasterten Weg entlang, der die kleine Wiese vor dem Haus in genau zwei gleichgroße Teile spaltete. Offenbar hatte ihr Vater viel Zeit darauf verwendet, einen gepflegten Eindruck zu erzeugen, denn am Rasen waren keinerlei Mängel in Farbe und Schnittlänge zu erkennen. Das passte zu ihm, denn nach außen hin durften keine Zweifel über die dargestellte Familienidylle entstehen. Sie kannte das Haus mit der Nummer 222 nur zu gut und wusste, dass das äußere Erscheinungsbild nicht mit der Realität im Inneren übereinstimmte. Nach dem Tod ihrer Mutter waren das die Mittel, um Gerüchte über die familiären Verwerfungen des beliebten Politikers mit vorgetäuschter heiler Welt zu entkräften. Vergebens, denn seine Karriere stockte trotz dieser illusorischen Taschenspielertricks und so blieb sein Einfluss lokal begrenzt.
Sie stand vor der Tür und in einem erneuten Anfall von Nostalgie versuchte sie zu schätzen, wie oft sie als kleines Mädchen den Schlüssel in dieses Schloss gesteckt hatte und den Flur entlang gerannt war, um ihrer Mutter in der Küche die neusten Erlebnisse zu erzählen. Die Erinnerungen an verregnete Tage, an denen sie im wärmenden Wasser der Badewanne saß, sich auf das Abendessen freute und sie keine weiteren Sorgen hatte, als ihrer besten Freundin nicht erzählen zu können, welche Abenteuer sie im Laufe des vergangenen Tages erlebt hatte, konnte sie nicht zurückhalten. Ihre Kindheit hatte viel zu schnell geendet und die wenigen schönen Erlebnisse verblassten mehr und mehr im Strudel des Vergessens. Der frühe Tod ihrer Mutter hatte ihr vieles vorenthalten und zum zweiten Mal an diesem Tag kämpfte sie mit den Tränen. Wieder kein guter Zeitpunkt, um dem Fluss freien Lauf zu lassen. Sie riss sich los aus der Spirale der Nostalgie und klopfte heftig an die Tür.
Noch vor dem Öffnen hatte sich das Bild eines ungehaltenen Vaters in ihrem Kopf verfestigt, der ihr mit ärgerlicher Stimme die Störung zu so später Stunde vorhielt. Nach all den Jahren assoziierte sie ihn immer noch mit Streit. Diese übertriebene Einschätzung seines Charakters brachte die Furcht vor der bevorstehenden Konfrontation zurück.
Wieder ging sie im Schnelldurchlauf die in der Bahn ersonnenen Strategien für das Wiedersehen durch, als sie von einer Frau mittleren Alters überrascht wurde. Hatte ihre Familie den Wohnsitz gewechselt oder waren sie gezwungen einige der Zimmer zu vermieten? Die Option einer neuen Partnerin kam ihr als letztes in den Sinn.
„Ja bitte?“, fragte die Unbekannte. Ihr dunkelblondes Haar war zu einem Dutt nach oben gesteckt und ihr strenger Blick erinnerte Eva an ihre Mathematiklehrerin in der zweiten Klasse, die keinerlei Vertrauen in ihre arithmetischen Fähigkeiten hatte.
„Ich.. ich..“ Eva konnte das Stottern nicht vermeiden und zog weiteren Missfallen auf sich. Die Stirnfalte der Fremden verzog sich und Ärger machte sich in ihrem Gesicht breit.
„Was wollen Sie denn?“
„Ich muss Plato sprechen“, polterte sie ungeschickt heraus.
„Und wer sind Sie?“ Eva tat sich schwer eine langfristige Erklärung abzugeben und so brachte sie nur ihren Namen heraus.
„Eva.“ Diese drei Buchstaben änderten den Gesichtsausdruck der Frau von Ärger in Überraschung. Zwei Sekunden später kam Verlegenheit hinzu.
„Oh…“, antwortete sie kurz und war unschlüssig, wie sie sich verhalten sollte. Offenbar war Eva keine Unbekannte für sie.
„Kommen Sie erstmal rein“, beschloss sie nach kurzem Zögern.
Eva betrat den Flur und obwohl sie seit einer Ewigkeit dieses Haus nicht betreten hatte, fühlte sich die Rückkehr vertraut an. Die Einrichtung hatte sich nur minimal verändert und Teile der kitschigen Dekoration erinnerten sie schmerzhaft an ihre Mutter. Vor allen Dingen diese kleinen Porzellanfiguren mit Flügeln standen stellvertretend für ihre Kindheit. Erinnerungsfetzen über die Zerstörung eines der geliebten Engel durch ihre Schwester überkamen sie. Das war alles so lang her und wirkte wie der Rückblick einer Fremden. Langsam ging sie auf das Regal zu und nahm vorsichtig eine dieser angeblichen Kostbarkeiten in die Hand. Als Achtjährige hätte sie es nie gewagt auch nur in die Nähe zu kommen. Zu groß war die Angst versehentlich was zu zerbrechen und sich den Unmut ihrer Mutter zuzuziehen.
Sie hatte nicht mitbekommen, dass sie sich mittlerweile allein auf dem langen Flur befand, der die untere Etage teilte. Aufgeregte Stimmen kamen links aus der Küche und keine zehn Sekunden später erschien die Person, die Eva am liebsten gemieden hätte.
„Evie“, wurde sie enthusiastisch begrüßt. Diese faltige Gestalt mit grauen Haaren hatte nichts mehr mit der Vitalität eines Vaters aus ihren Erinnerungen gemein. Mit Tränen in den Augen stürzte er auf sie zu und Eva war sich nicht sicher, ob sie seine geplante Umarmung zulassen wollte. Er stoppte von sich aus, als er ihren Bluterguss im Gesicht bemerkte. Vorsichtig ergriff er ihre Oberarme und musterte sie nach weiteren Verletzungen. Nur wenige Sekunden brauchte er, um ihre Unversehrtheit festzustellen, dann nahm er sie in die Arme. Es gab keine Gegenwehr, aber auch keine Erwiderung und so dauerte seine herzliche Begrüßung nicht lange. Verlegen entließ er sie aus seinem Griff und schaute sie mit verquollenen Augen an.
„Du bist hier“, stellte er das Offensichtliche mit unglaublich altem Gesicht fest. Eva war unfähig etwas zu erwidern, denn damit hatte sie nicht gerechnet. In diesem Moment wäre es ihr lieber gewesen, sie hätten da weiter gemacht, wo sie vor Jahren aufgehört hatten. Mit Streit. Auf diesem Feld kannte sie sich aus. Väterliche Zuneigung dagegen war ihr vollkommen fremd geworden und überforderte sie.
„Ich bin so froh dich zu sehen. Wie ist es dir ergangen?“ Selbst auf diese banale Frage konnte sie kein „gut“ erwidern.
„Darf ich dir Alina vorstellen.“ Verlegen zeigte er auf die Frau an seiner Seite. Immer noch unfähig was zu erwidern, versuchte Eva ihre Fassung wiederzufinden. Diese Person war ein erbärmlicher Ersatz für ihre Mutter. Wut stieg in ihr auf, hatte aber keine Chance gegen das aufrichtige Lächeln. Diese freundliche Begrüßung nahm ihr jegliche Legitimation sauer auf die beiden zu sein.
„Schön, Sie kennen zu lernen.“ Alina lächelte unsicher und wirkte ähnlich verlegen wie ihr Vater.
„Dich kennen zu lernen“, korrigierte sie sich. Wer waren diese Menschen? Stand sie wirklich ihrem Vater gegenüber? Diese ausgemergelte Person hatte nicht nur an Gewicht und Feindseligkeit verloren. Das Erschreckende war diese aufrichtige Freude sie wiederzusehen. Das stand im Gegensatz zu ihrem selbsterschaffenen Bild eines nachtragenden Vaters.
„Komm. Ich mache dir eine heiße Schokolade.“ Er zog die sprachlose Eva in die Küche. Alina folgte ihnen. Auch hier wurde Eva sofort von kindlichen Erinnerungen überwältigt. Sie wollte jeglichen Anfall von erneuter Nostalgie vermeiden und so blieb ihr Blick auf dem einzigen unbekannten Objekt hängen. Der neue Küchentisch war deutlich kleiner und weniger abgenutzt als das Pendant aus ihrer Vergangenheit.
Ihr Vater kramte in den Schränken, um die versprochene Schokolade zuzubereiten. Ein Luxusgut in der heutigen Zeit und sicher nur speziellen Gästen vorbehalten.
„Ich habs gleich. Erzähl mal. Wie ist es dir ergangen?“ Er kramte eine verbeulte Dose hervor und war nun auf der Suche nach einem Löffel.
„Mach dir keine Mühe. Ich will nichts.“ Endlich bekam sie ein paar Worte heraus, auch wenn ihre Botschaft banal war. Es täuschte über ihren aufgewühlten Zustand hinweg.
„Dann keine Schokolade.“ Er setzte sich ihr gegenüber und schwieg. Es war an Eva ihr Anliegen vorzubringen, aber sie fühlte sich weiter unfähig über wichtigere Dinge als Schokolade zu sprechen. Warum klang er so besorgt? Sie hatte sich ihr Wiedersehen anders vorgestellt. Gerechnet hatte sie mit dem üblichen lauten Wortwechsel, bei dem sie die Gelegenheit bekäme ihm die Schuld an ihrem lausigen Leben der letzten Jahre zu geben. All den Mist nach dem Tod ihrer Mutter plante sie bei ihm abzuladen. Die Flucht in den Tempel, die Entbehrungen auf Prem, ja sogar Freyas Krankheit. Irgendwie hatte er es geschafft die Annahme ihres mentalen Ballasts zu verweigern.
„Ich habe nicht viel Zeit“, sagte sie kurz und trocken.
„Du bist doch gerade erst gekommen. Was hast du denn noch vor zu so später Stunde?“ Platos Strategie war eindeutig. Jegliche Konfrontation wollte er vermeiden. Dafür hasste sie ihn.
„Es geht um Freya. Ich will ihr helfen.“
„Du bist wegen ihr hier?“ Sie hatte ihn getroffen, aber das Triumphgefühl wollte sich nicht einstellen.
„Ich brauche ihre Krankenakte.“
In diesem Moment wirkte Plato tatsächlich wie ein hundertjähriger Greis. Eva konnte förmlich spüren, wie etwas in ihm zerbrach. Seine Möglichkeiten auf Versöhnung hatten sich verschlechtert, da er den Besuch falsch eingeordnet hatte. War das seine neue Strategie? Mitleid einfordern.
„Bleib doch eine Weile“, sagte er kaum hörbar. Evas ablehnendes Schweigen schmerzte ihn.
„Hier bist du immer willkommen. Dein altes Zimmer ist frei und du könntest...“ Er brach ab, denn seine Worte klangen zu flehentlich.
„Und dann? Wie lange geht das gut? Was passiert, wenn ich deinen Vorstellungen nicht entspreche? Holst du dann wieder die Therapeuten, die mich auf politische Korrektheit zurechtstutzen, damit ich die brave Familientochter gebe? Ich bin keine sechzehn mehr. Ich lebe mein eigenes Leben, auch wenn ich gerade nicht weiß, wie das aussehen soll. Doch eins ist sicher. Hier wieder einzuziehen wäre ein Rückschritt. Ich will das alles nicht noch mal durchmachen.“ Es tat gut wenigstens die Stimme zu erheben, auch wenn sie sich mehr Frustabbau erhofft hatte. Dieses Mal hatte sie nicht nur einen Wirkungstreffer erzielt. Die Verletzung war irreparabel. Er kämpfte mit den Tränen und Alina drückte tapfer seine Hand. Ihn so zu sehen hätte ihre jüngere Version vor Freude tanzen lassen. Doch die heutige Eva empfand nur Reue. Für einen Moment rang sie um tröstende Worte, aber dazu konnte sie sich nicht überwinden. Die mentalen Wunden waren noch nicht verheilt. Mitleid ergriff sie. Die grausamste aller Emotionen, egal ob sie verteilt oder erhalten wird. Sie zwang sich zur Gefühlskälte und erhob sich von ihrem Stuhl.
„Ahja, die Akte“, murmelte Plato weinerlich und begann sich zu fangen. Auch er hatte gelernt seine Gefühlswelt zu kontrollieren. Mit einem dargereichten Papiertaschentuch wischte er sich die Tränen aus dem Gesicht und erhob sich ebenfalls. Auch wenn er jetzt mehr Souveränität ausstrahlte, war seine gebrochene Seele unverkennbar.
„Sie befindet sich oben in ihrem Zimmer. Wir müssen leise sein. Freya schläft gerade und sie braucht jeden Moment der Ruhe“, sagte Plato gefasst.
Für Eva war die Situation äußerst unangenehm und daher war sie froh die Szenerie zu wechseln. Sie betraten wieder den Flur und für einen Moment überkam sie der Fluchtreflex. Nur ein paar Schritte, dann käme sie durch die Haustür ins Freie. Kein Vater, keine kranke Schwester und vor allen Dingen keine furchtbaren Gefühlswallungen mehr. Die Verlockung dem Problem durch Flucht zu entkommen war übermächtig. Das würde nur ein weiteres unangenehmes Gefühl hervorbringen. Feigheit. Das wäre der Gipfel des Versagens.
Schweigend folgten sie der Treppe in den ersten Stock. Das Fehlen von Fenstern und die düstere Beleuchtung hatte den beiden Mädchen immer Angst gemacht. Die Dachluke war der Innbegriff des Horrors und obwohl ihr Vater sie öfter mit rauf genommen hatte, um die mystische Aura von Gespenstern zu entkräften, konnten Bedenken über Wesen aus der Geisterwelt im Dachboden, nie endgültig bei den Kindern ausgeräumt werden. Drei winzige Zimmer gab es hier oben, wovon das Größte als elterliches Schlafzimmer genutzt wurde. Heute war es vermutlich die Spielwiese von Alina und Plato. Eva vermied es die Gedankenspiele weiter zu spinnen und steuerte auf die Kinderzimmertür ihrer Schwester zu.
„Bitte sei leise. Das Pad mit der Akte befindet sich auf dem Schreibtisch.“ Er übergab ihr ein weiteres Pad, auf dem sie die Krankenakte kopieren konnte.
„Wer schön, wenn du das irgendwann zurückbringen würdest.“ Um gar nicht erst den Verdacht aufkommen zu lassen sie nochmals zum Wiederkommen überreden zu wollen, schob er einen weiteren Satz hinterher.
„Die Dinger sind mittlerweile ziemlich teuer geworden.“ Ohne eine Reaktion abzuwarten, ging er die Treppe wieder hinunter.
In einer Mischung aus Sorge und Vorfreude öffnete sie die Tür. Der Geruch von Krankheit stieß ihr sofort entgegen und ließ sie zögern das Zimmer zu betreten. Wollte sie wirklich die Erinnerung an ein junges Mädchen mit langen blonden Haaren und einer Vorliebe für Zöpfe durch den Anblick einer kränklichen Frau zerstören? Diese wenigen Schritte kosteten sie weitere Überwindung, aber die Hoffnung auf eine Heilung trieb sie voran.
Die Dunkelheit wurde einzig durch ein kleines Bettlicht durchbrochen. Aus mehreren Gründen wagte Eva es nicht den Raum heller zu beleuchten. Das sanfte Atmen deutete auf einen ruhigen Schlaf ihrer Schwester hin und den wollte sie auf keinen Fall stören, auch wenn sie gern ein paar Worte mit ihr gewechselt hätte. In diesem Dämmerlicht wirkte der gesundheitliche Zustand von Freya halbwegs ansehnlich und sie befürchtete bei besserer Sicht die ganzen Auswirkungen der kräftezehrenden Krankheit zu erkennen. Ihr Anblick war selbst unter diesen Bedingungen schwer zu ertragen. Das eingefallene Gesicht und die vielen Schläuche trieben ihr die Tränen in die Augen. Jetzt war der richtige Zeitpunkt für Weinen und so setzte sie sich an ihre Seite und streichelte vorsichtig ihre Hand. Sie fühlte sich schuldig, diese Tragödie nicht verhindert zu haben. Ihre dummen rebellischen Entscheidungen trieben Freya in die Einsamkeit und am Ende vielleicht in den Tod. Evas Hass auf sich selbst war nie größer als in diesem Moment.
„Es tut mir so leid“, flüsterte sie und beobachtete das sanfte Heben und Senken ihres Brustkorbes.
„Ich hätte bei dir sein sollen. Alles wird wieder gut. Versprochen.“ Mit Erschrecken stellte Eva fest, dass ihr wenig Zeit blieb. Dieser verdammte Krebs befand sich im Endstadium. Jeder Tag konnte Freyas letzter sein. Zehn Minuten gönnte sie sich Erinnerungen an ihre glückliche Kindheit. Bilder wie sie gemeinsam durch die Wohnung rannten, auf der Straße spielten oder zu viert unten im Wohnzimmer saßen und Mutter ihnen Geschichten vorlas, wurden von Tränen der Reue begleitet. Diese wiederbelebten Aufrufe aus ihrer Kindheit schmerzten. Es wurde Zeit ins Handeln zu kommen und so erstickte sie den reuigen Ausflug in ihre Vergangenheit und mit einem sanften Kuss auf die Stirn beendete sie ihr eigenes Martyrium. Fest entschlossen ein versöhnliches Ende zu erzwingen, ging sie zum Schreibtisch hinüber und begann eine Kopie zu erstellen. Ein letzter hoffnungsvoller Blick auf ihre Schwester, dann verließ sie das Zimmer.
Im Flur des ersten Stocks hielt sie kurz inne und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Niemand sollte sie in diesem Zustand der Schwäche sehen. Schon gar nicht ihr Vater. Als sie ihre Fassade aus Gefühlskälte zurückerlangt hatte, begab sie sich nach unten. Sie wollte hier nur noch raus. Ihre Aufgabe war erfüllt, trotzdem zögerte sie das Haus ohne Verabschiedung zu verlassen. Die letzten Jahre hatte sie Entscheidungen vermieden, die sie am Ende ins Gefühlschaos stürzten. Wenn sie jetzt einfach gehen würde, gäbe es in naher Zukunft weitere Momente der Reue, also zwang sie sich in die Küche zu gehen. Mit erwartungsvollen Blicken wurde sie schweigend empfangen. Es war an Eva eine Erklärung abzugeben.
„Es besteht Hoffnung sie zu heilen“, begann sie zu erläutern. Wahrscheinlich hatten die beiden diese Worte zu oft gehört, als dass sie sie glauben konnten. Ohne große Erwartung nickten sie nur.
„Ich meine es ernst. Ich komme wieder und dann …“ Eva hatte Mühe den Satz zu vollenden.
„… klären wir alles“, brachte sie es doch noch zu Ende. Plato stand auf und für einen Moment drohte eine erneute unangenehme Umarmung. Zu ihrer Erleichterung blieb er einfach am Küchentisch stehen.
„Ich will, dass du eins weißt“, begann er kryptisch und zögerte mit der eigentlichen Botschaft. Er tat sich schwer die offensichtlich wichtigen Worte zu formulieren.
„Ich wollte dich da rausholen, aber der Tempel hat alles abgeblockt. Ich habe dich immer geliebt. Ich war nur zu dumm es zu zeigen und ich…“ Eva unterbrach die wahllose Anreihung von Sätzen.
„Wir klären das, wenn ich zurückkomme.“ Sie hatte Mühe ihre vorgetäuschte Gleichgültigkeit aufrecht zu erhalten. Ohne weitere Worte verließ sie die Küche und stürzte durch die Haustür nach draußen. Mit schnellem Schritt ging sie Richtung Haltestelle und erst in der Bahn schaffte sie es wieder normal zu atmen. Sie hatte ihre persönliche Hölle durchschritten. Dummerweise war das noch nicht das Ende. Wenn alles gut lief im Technologielager war sie gezwungen sich erneut ihren Ängsten zu stellen.
Sie hatte Glück gehabt und die letzte Schwebebahn erwischt. Laut dem eigentlichen Fahrplan wurde der Betrieb bereits seit zwanzig Minuten eingestellt, aber in den heutigen Zeiten waren das nur Richtwerte und keine verlässlichen Abläufe. Sie war allein in ihrem Wagon und musste sich nicht um die Außenwirkungen ihres aufgewühlten Zustands kümmern. Dieser Besuch in die Vergangenheit hatte einen eigenartigen Verlauf genommen, mit dem sie nicht gerechnet hatte. Ihr Verstand hatte alle Mühe mit der Verarbeitung der Geschehnisse. Die Freundlichkeit, der Zustand ihrer Schwester, selbst Alina. Nichts hatte mit ihren Vorstellungen übereingestimmt. Bei ihrem zweiten Besuch würde es hoffentlich weniger chaotisch ablaufen, obwohl sie keine Idee hatte, wie sie mit der Charmeoffensive ihres Vaters umgehen sollte. Am Ende musste sie sich eingestehen, dass ihre Verweigerungshaltung eine Versöhnung bisher blockiert hatte. Der Grund, warum alle Beteiligten im mentalen Ausnahmezustand zurückblieben. Das schlechte Gewissen meldete sich und zum ersten Mal zweifelte sie an ihrem unerschütterlichen Recht wütend auf ihren Vater zu sein. Das geplante Wiedersehen würde nicht unbedingt einfacher werden.
Vorerst galt ihre Konzentration der Rückkehr zum Schwarzmarkt. Es war weit nach Mitternacht und die Gefährlichkeit der Umgebung hatte zu dieser Stunde seinen Höhepunkt. Geschickt vermied sie es gesehen zu werden und stand wieder vor dieser unscheinbaren Tür, die als Einlass zu einer Welt voller ungeahnter Möglichkeiten stand. Sie wollte für den morgigen Tag ausgeruht sein. Ihr Plan war es nach einem frühen Aufstehen Eric von der Schwebebahnhaltestelle abzuholen. Es war nicht sicher, ob er seine Angst überwinden konnte. Die Appetithappen an Technik in den Regalen der Händler hatten seine Abenteuerlust gestärkt und so hoffte sie, dass er genug Mut zusammenbrachte, um sie zu begleiten. Gemeinsam würden sie Balta in das Lager folgen, der einen Spezialisten für Medizintechnik als Unterstützung organisierte. Wenn es am Ende gut lief, käme sie vielleicht sogar mit der passenden Medizin zurück. An diesem Wunschdenken kam bereits vor dem Betreten des „junction“ erste Zweifel auf, als ihr ein aufgebrachter Eric entgegenkam. Was zum Teufel suchte er hier? Irgendetwas musste schiefgelaufen sein.
„Alles ist aus“, begrüßte er sie panisch. Offensichtlich war er schon geraume Zeit hier und wartete förmlich nur darauf, um ihr diese schrecklichen Worte zu verkünden.
Als Eva sie verließ, machte sie nicht den Eindruck sich auf ein Wiedersehen mit ihrer Familie zu freuen. Sentry erkannte die Aufregung und die Überwindung sich auf den Weg in die Stadt zu machen. Trotz dieser Abneigung hatte er nie Zweifel, dass sie kneifen würde. Er kannte sie noch nicht sehr lange, aber ihre Entschlossenheit sich auch unangenehmen Dingen zu stellen, fand er nicht nur faszinierend, sondern auch beneidenswert. Diese Willensstärke ihr Ziel trotz aller Widerstände zu verfolgen, fehlte ihm bei seinen eigenen Bemühungen. Eigenständige Entscheidungen waren in seinem kurzen Leben eher selten gewesen. Er überlebte aufgrund von Dina, Eva und jeder Menge Glück. Der Versuch sich bei Eva für die selbstlose Tat zu bedanken, hatte zu peinlichen Momenten geführt. Ihre zwischenmenschlichen Defizite waren kaum zu übersehen, doch besaß sie eine Aura, der sich keiner so leicht entziehen konnte. Selbst Balta schien ihre Präsenz auf unerklärliche Weise zu beeindrucken. Ohne große Diskussionen akzeptierte er ihre Forderung seinen Experten für Nanotechnik auch für ihre eigenen Zwecke einzubinden. Wahrscheinlich war es ihre Ausstrahlung aus Überforderung und gleichzeitiger Hingabe, die in ihrer Umgebung Hilfsinstinkte, aber auch Bewunderung auslösten. Dieser kruden Mischung aus abweisender Körpersprache und einem stummen Schrei nach Hilfe war sie sich nicht einmal bewusst und diese Ahnungslosigkeit erzeugte unterschwelliges Vertrauen. Ob es gerechtfertigt war oder einfach nur trügerisch würde die Zeit zeigen, aber seine Instinkte waren das einzige, bei dem er sich halbwegs sicher war. Nicht nur ihr Verhalten wirkte exotisch, auch optisch stand sie im Gegensatz zum typischen Einwohner von Lassik. Keine breiten Schultern durch die erhöhte Schwerkraft und auch keine roboterhaften Bewegungen einer vom Leben gebeutelten Frau. Ihre Energie war förmlich spürbar. Was sie brauchte, war Zeit diese Eigenschaften in die passende Form zu bringen. Für Sentry stand sie außerhalb jeglicher Kritik, denn die Ereignisse auf Prem hatten ihr unbegrenzten Kredit für Gefallen eingebracht. Er hoffte so sehr, dass er sich mit Hilfe seiner Femtos revanchieren konnte.
Es war zu früh für die Nachtruhe und die Erholung in Erics Laden hatte ohnehin ihren Schlafrhythmus durcheinandergebracht. Sämtliche Annehmlichkeiten an diesem Ort standen Sentry und Dina kostenlos zur Verfügung und so drohte keine Langeweile für die Überbrückung der Nacht. Das Angebot an Vergnügungen überforderte ihn. Von Spielautomaten, über Drogen aller Art bis hin zu käuflichem Sex war gesorgt. Baltas Imperium ließ keine Wünsche offen und obwohl Sentry nahegelegt wurde die verführerische Blondine vom Sofa aufzusuchen, entschieden sich die beiden vorerst im „junction“ zu bleiben. Obwohl die Bar mittlerweile brechend voll war, organisierte der Wirt ihnen einen Tisch. Die Nähe zu Balta ermöglichte ihnen einen Vorteil, der zugegebenermaßen ein unangebrachtes Gefühl von privilegiertem Status hervorrief.
„Was hältst du von diesem Balta?“, fragte Sentry Dina, nachdem sie ihr erstes Bier vor sich stehen hatten. Mit ihr allein zu sein verunsicherte ihn mehr als üblich. Sie übte eine verhängnisvolle Anziehung auf ihn aus. Er war sich nicht sicher, was ihn in ihrem Orbit aus Hass und Abneigung gegen sein Geschlecht hielt, aber es war ihm unmöglich sie mit der angebrachten Distanz zu behandeln. Mit small talk versuchte er seine Nervosität zu kaschieren.
„Solchen Männern ist schwer zu trauen.“ Keine ermutigende Antwort.
„Haben wir irgendwelche Alternativen?“, fragte Sentry. Dina sah ihn mitleidig an, bevor sie eine unangenehme Wahrheit aussprach.
„Wir? So bitter es für dich auch sein mag. Es geht hier nicht um mich oder die kleine Tempelfee. Alles was er will sind deine Fähigkeiten. Siehst du den Typen da drüben?“ Sie winkte einem unauffälligen kleinen Mann zu, als wolle sie ihn zu einem Drink einladen. Peinlich berührt wandte sich der Auserkorene ab.
„Sobald du in die Nähe des Ausgangs kommst, wird er Alarm schlagen und keine zwei Minuten später wirst du umringt sein von Leuten, die dich alle freundlich bitten werden zu bleiben. Mich dagegen wird keiner aufhalten.“
„Freut mich für euch, dass ihr so gut wegkommt. Bleibt die Frage, ob ihr wirklich irgendwann geht und mich allein lasst oder ob ich weiter auf eure Unterstützung hoffen kann?“ Diese ärgerliche Reaktion tat ihm sofort leid. Er wollte sie nicht gegen sich aufbringen und so überlegte er eine Entschuldigung nachzuschieben. Immerhin hatte sie ihre Loyalität bereits bewiesen und ihn nicht in den Trümmern auf Prem verrecken lassen. Zu seinem Glück war Dina nicht sehr empfindlich gegenüber solchen Bemerkungen.
„Mein Ziel ist es diesen Drecksplaneten zu verlassen. Das geht nicht ohne dich. Daher hast du meine volle Unterstützung. Außerdem brauche ich dich, um an Red ranzukommen.“ Sie hielt kurz inne.
„Wenn dieser Mistkerl das Zeitliche gesegnet hat, musst du allein klarkommen.“ Diese Aussage tat Sentry weh. Nach allem, was sie durchgemacht hatten, war es für sie immer noch nicht mehr als eine Abmachung, die mit erreichen ihrer Ziele endete. Vielleicht interpretierte er zu viel in ihre Beziehung hinein. Die Gefangenschaft und die erfolgreiche Flucht hatten ihn davon überzeugt einen zarten Ansatz von Freundschaft geknüpft zu haben. War Dina wirklich so eiskalt oder war das reiner Selbstschutz, um nicht wieder verletzt zu werden? Egal was die Motive waren, er fühlte sich unglaublich einsam.
„Ich verstehe das nicht“, sagte er niedergeschlagen.
„Was hat dich so gebrochen?“, fragte er leise.
„Gebrochen? Du lebst noch nicht lange in dieser kranken Welt. Alle sind auf die eine oder andere Art gebrochen. Es ist der Regelzustand. Jeder hat sein Päckchen zu tragen und keine Zeit für die Probleme des Anderen. Wenn du anfängst dich auch noch mit den Befindlichkeiten Fremder zu beschäftigen, ist die Gefahr groß ausgenutzt zu werden. Ich sag es dir klipp und klar. Konzentriere dich auf deine eigenen Ziele. Sonst verlierst du den Fokus und gehst dabei unter.” Sie nippte an ihrem Bier. Wie konnte sie nur so egoistisch sein. Gab es in ihrem Leben niemanden, der ihr was bedeutete. Bevor es ihm bewusst wurde, hatte er die Worte bereits ausgesprochen.
„War es bei Ned auch so?” Jetzt hatte er ihre volle Aufmerksamkeit. Listig musterte sie ihn und in Erwartung einer drohenden Bemerkung überraschte sie ihn mit Sarkasmus.
„Ich bin beeindruckt. Du solltest lieber in deiner eigenen Vergangenheit stöbern, als meine zu analysieren.“
„Die Nachwirkungen des „yellow nightmare“, klärte er sie auf.
„Ah, der Höllentrip. Ned war ein Moment der Schwäche. Das ist der Fluch unserer Zeit. Sobald du angreifbar bist, wird sich jemand finden, der versucht seinen Nutzen daraus zu ziehen. Ich kann dich gut leiden, aber mehr auch nicht. Ich will Fehler nicht wiederholen. Mein Ziel ist, dass Red seine Strafe bekommt. Alles andere ist Nebensache und entbehrlich.“ Sie nahm einen großen Zug aus ihrem Bierglas.
„Was ist das für ein Leben, indem das einzige Ziel die Rache an einem Typen ist, der es nicht wert ist, dass man auch nur einen Gedanken an ihn verschwendet? Wie kann man seine Zeit mit Egoismus und Misstrauen vergeuden? Was nützt es in diesem Wahnsinn zu leben, wenn man keine Freunde hat, den man vertrauen kann? Vielleicht täusche ich mich, aber diese ganze Technologie, über die in der gesamten Galaxie gestritten wird, ist nicht entstanden weil man sich gegenseitig die Köpfe einhauen wollte. Wir sind keine selbstsüchtigen Wesen. Unsere Natur ist es füreinander einzustehen. Gemeinschaft bringt uns Befriedigung. Warum glaubst du hat der „Tempel des Friedens” trotz all der Lügen so gut funktioniert? Die Menschen sehnen sich nach gemeinsamen Glück. Wenn wir diese Hölle aus Egoismus als gegeben hinnehmen, führt es uns weiter ins Verderben. Überleben lohnt sich nur, wenn wir zu unseren Wurzeln zurückkehren.“ Es tat ihm gut seinem Unmut Luft zu machen. Dina lächelte. War das Spot über seine naive Einstellung?
„Dein Idealismus ist herzerfrischend. Ein Grund mehr hier lebend rauszukommen. Wenn du dann irgendwann auf dem Boden der harten Realität gelandet bist, werde ich hoffentlich neben dir stehen und dir die Worte „Damals im junction habe ich dir das prophezeit“ an den Kopf hauen.“ Der Drang, das nicht als letzte Aussage stehen zu lassen, ließ ihn angriffslustig werden.
„Ganz im Gegenteil. Irgendwann wirst du realisieren, dass ich Recht hatte. Der ganze Hass auf Red, auf Männer und von mir aus auch auf die Gesellschaft ist verschwendete Lebenszeit. Ich hoffe für dich, dass dich diese Erkenntnis nicht erst in allzu ferner Zukunft ereilt.“
Dina funkelte ihn an. Offenbar hatte Sentry einen unterschwelligen Konflikt an die Oberfläche gezerrt. Für einen kurzen Moment verlor sie ihre überlegende Attitüde und zeigte tatsächlich einen Hauch von Zweifel an ihrer Mission. Nur kurz, dann hatte sie sich wieder unter Kontrolle.
„In dieser Welt gibt es keine Alternative zu meinem Weg“, antwortete sie nachdenklich, aber entschlossen.
„Die gibt es immer“, gab Sentry leise zurück. Für einen kurzen Moment verharrten ihre Blicke in der gemeinsamen Erkenntnis, dass einer von beiden log.
„Das schreit nach einer Wette“, beendete Dina den seltsamen Moment zwischen den beiden, der ungewollt einen Riss in ihrem Schutzpanzer offenbart hatte.
„Einer von uns wird am Ende seine Überzeugung über den Haufen werfen. Wer immer das sein wird, gibt dem Anderen ein Bier aus.” Sie hielt ihm die Hand entgegen, die Sentry mit nicht viel Kraft drückte. Dina leerte ihr Bier.
„Und jetzt gehen wir tanzen“, überraschte sie Sentry. Sie zog ihn vom Tisch hoch und drängte ihn Richtung Ausgang. Vor der Tür folgten sie der lauten Musik, deren Quelle das „pussy riot” war. Das Bier zeigte erste Wirkung, als er durch die Pforte schritt, die sicherlich nicht ohne Grund an das weibliche Genital angelehnt war. Er musste dringend seinen Alkoholkonsum reduzieren, denn sein Körper schien keinerlei Erfahrung mit dem Nervengift zu haben, da selbst dieses gepanschte Getränk bereits erste Ausfallerscheinungen hervorrief. Sie standen in einer Art Schleuse, die neben dem Ausgang einen Zugang nach vorn und einen nach links ermöglichte. Über letzterem prangte eine Leuchtzeile, die in kleinen farbigen Buchstaben das Wort „Gentlemans Club” anpries. Dina zog ihn nach vorn in Richtung der Musik und als sie den Vorhang passierten, offenbarte sich ihnen eine große Tanzfläche, auf der dicht gedrängt sich Feierwütige zu elektronischer Musik hingaben. Ohne groß zu zögern, wurde Dina Teil dieser Masse und fing an hemmungslos zu tanzen.
Diesen Teil ihrer Persönlichkeit hatte er nicht erwartet. Eine ausgelassene Dina passte nicht in das erschaffene Bild aus Zynismus und Verbitterung. Vorsichtig beobachtete er sie bei den wilden Bewegungen, die seine unkeuschen Fantasien über sie weiter anheizte. Das elektronische Bassgewitter ließ auch ihn nicht vollkommen unberührt, aber die Hemmungen sich dem durchaus verlockenden Tönen ähnlich freizügig hinzugeben wie alle anderen in diesem Raum, waren zu hoch. Er wollte diesen für ihn unpassenden Ort verlassen, als ihn Dina am Handgelenk packte und Richtung Zentrum zog. Steif stand er inmitten der Menschenmenge, unfähig seine Bewegungen dem Rhythmus anzupassen. Mit eindeutigen Gesten forderte Dina ihn auf seine Verweigerungshaltung aufzugeben und tatsächlich begannen seine Beine ein Eigenleben zu entwickeln. Am Anfang noch hölzern, begann er eine eigenwillige Interpretation der Musik zu verkörpern. Erst als er seinen Verstand abschaltete und seinen akustischen Reizen die Kontrolle übergab, kam sein Körper in den richtigen Fluss.
Irgendwann schien er perfekt in den Strom aus Klängen eingebettet zu sein und die Freisetzung von Endorphinen setzte ein. In diesem Moment passte alles. Seine Bewegungen, seine Umgebung, selbst sein Gemütszustand standen im Einklang zur Musik. Ein Rausch vollkommen frei von Drogen setzte ein und zum ersten Mal in seinem Leben empfand er etwas ähnliches wie Spaß. Sein Verstand verdrängte alle Sorgen über seine Zukunft. An diesem Abend existierten kein Red, Kain oder andere düstere Gestalten, die hinter ihm her waren. Er gab sich voll und ganz den elektronisch peitschenden Bässen hin und genoss seine trügerische Freiheit in ausdrucksvollem Tanz. Wieder ertappte er sich dabei, wie seine Fantasie Dinas Bewegungen falsch zuordnete. Diese verhängnisvolle Anziehung würde er nicht so einfach abschütteln können. War das nur eine Einbahnstraße oder hatte auch er Eindruck bei ihr hinterlassen? Ihre Blicke trafen sich und zwei Sekunden intensiver Kontakt nährten seine Hoffnung auf mehr als nur ihre Abmachung. Sie wandte sich ab und lächelte geheimnisvoll vor sich hin. Schenk mir ein zweiten Blick, flehte sein unterbewusster Trieb. Leider verweigerte sie ihm diesen Gefallen und erdete damit die Euphorie.
Er verließ die Tanzfläche und begab sich zur Bar. Es wurde Zeit für härtere Sachen als Bier. Auch wenn seine Vernunft alles versuchte ihn davon abzuhalten, verlangte sein Ego danach. Eine Substanz mit dem Namen Tequila löste Hustenanfälle bei ihm aus, als er das Glas zu schnell lehrte. Von diesem Moment an, nahm der Abend eine unangenehme Wendung. Sein untrainierter Körper bekam eindeutig zu viel Alkohol verpasst und so dauerte es nicht lange, bis die Notbremse als letztes Mittel zur Kontrolle einsetzte.
Es gab nur schemenhafte Erinnerungen an die nächsten Stunden. Zwei, vielleicht drei Gläser Tequila konnte er einwandfrei zuordnen, dann tat sich ein schwarzes Loch in seinem Gedächtnis auf. Er übertrieb es mit dem Alkohol und der nächste Morgen würde ihn mit den üblichen Konsequenzen aus Übelkeit und Kopfschmerzen erfreuen. Seine Vernunft hielt ihm immer wieder diesen kapitalen Fehler der schnellen Flucht aus der Realität vor, indem sie ihm die Verschwendung von Energie aufzeigte, welche die kommenden Tage fehlen würde. Ein sinnloses Unterfangen gegen die Menge von Tequila, die irgendwann alles Rationale davon spülte. Aus Trotz leerte er ein Glas nach dem anderen, in der Hoffnung all die Reds, Baltas und Kains für immer zu vergessen. Leider funktionierte das auf diese Weise nicht und die Erkenntnis, dass keine Substanz auf dieser Welt eine schnelle und einfache Lösung bietet, schlug mit aller Härte durch. Es gab kein Entrinnen. Im Gegensatz zu Eva versuchte er seine offenen Probleme zu ertränken, anstatt sich ihnen zu stellen. Der falsche Weg, wie ihm viel zu spät bewusst wurde.
Keine Ahnung, wer ihn am Ende in dieses Hinterzimmer verfrachtet hatte, das so exzessiv nach Latex und billigem Sex roch. Da hatte er endlich mal ein weiches Bett als Nachtlager bekommen und dann schaffte er es wieder nicht ausgeruht zu Erwachen. Mühsam richtete er seinen Oberkörper auf und verlagerte damit seinen Kopf in ein Meer aus Schmerzen. Wieso ist es so dunkel? War er in seinem Rausch doch in den Armen der Blondine gelandet? Panisch tastete er seine Umgebung nach einer Lichtquelle ab, was einiges an Inventar lautstark auf den Boden beförderte. Als er es endlich schaffte das kleine Zimmer zu beleuchten, stellte er erleichtert fest, dass er allein war. Sein Magen sendete erste Grußbotschaften aus Galle die Speiseröhre hinauf. Nicht mehr lange und er würde sich übergeben. In weiser Voraussicht hatte ihm jemand einen Eimer bereitgestellt, den er sofort ergriff. Jetzt gab es kein Halten mehr und der Mageninhalt forderte sein Recht auf Freiheit ein.
Vom Würgen angezogen, betrat Dina das Zimmer. Ihr Gesicht zierte ein dickes Grinsen voller Häme und Spot.
„Guten Morgen”, begrüßte sie ihn. Als Antwort bekam sie nur ein weiteren Schwall Mageninhalts, der lautstark im Eimer landete. Angewidert verzog sie das Gesicht.
„Ich brauch noch einen Moment.” Sentrys Worte klangen kratzig und in einer viel zu tiefen Stimmlage.
„Den haben wir leider nicht.” Dina ergriff seinen Arm und half ihm hoch. Widerwillig und viel zu schwach für Gegenwehr versuchte er eine weitere Entleerung zu unterdrücken.
„Oh…”, artikulierte Sentry seinen Schwindel so kurz wie möglich.
„Nicht besonders trinkfest deine Femtos. Sag denen wir haben jetzt keine Zeit für einen Kater.“
„Haha.. “, kommentierte er die Bemerkung mit einem Minimum an kommunikativen Aufwand. Dina drängte ihn sich anzuziehen. Erst jetzt merkte er, dass irgendjemand sich die Mühe gemacht hatte ihn bis auf die Unterwäsche zu entkleiden.
„Fang nicht gleich wieder an zu kotzen, aber da ist ...” Eric erschien in der Tür.
„Alles ist aus. Ich bin erledigt. Ihr müsst mir helfen das Missverständnis aufzuklären”, warf er den beiden entgegen. Seine Lautstärke schien jegliche Skala zu sprengen.
„Was ist denn los?”, schaffte es Sentry mühsam drei Worte aneinanderzureihen.
„Ich hatte Besuch. Eine ganze Schwadron dunkel gekleideter Männer hatt meinen Laden verwüstet. Ihr wisst, was das heißt. Die BsA ist hinter mir her.”
„Langsam werden wir eingekreist. Wird Zeit, dass wir hier verschwinden“, antwortete Dina.
„Ihr müsst dahingehen und das klären.“ Diese Aussage klang so naiv, dass Dina nicht anders konnte als laut loszuprusten.
„Und dann? Bauen sie dir deinen Laden wieder auf, schicken dir ein Strauß Blumen und eine Entschuldigungskarte und du kannst so weitermachen wie bisher? Das mag dir nicht gefallen, aber du bist jetzt einer von uns. Heimatlos und auf der Flucht“, erklärte Dina Erics bevorstehendes Schicksal.
„Nein, nein, nein. Das geht nicht. Ich kann nicht fliehen. Ich habe ein Geschäft und was soll aus meinen Kunden werden? Ich habe Verpflichtungen.“ Die Panik schien jegliche Logik bei ihm zu unterdrücken. Er wollte weitere Gründe für eine notwendige Rückkehr in sein altes Leben anbringen, als Balta den Raum betrat.
„Wer sind Sie denn?”, fragte Eric überrascht, als sich der für ihn fremde Mann ohne große Scheu dazugesellte. Die Neugier erdrückte für den Moment seine Angst. Nur so lange bis er realisierte, wer da so dreist war sie zu stören.
„Der Obergangster“, erleuchtete er sich selbst. Ehrfurchtsvoll trat er einen Schritt zurück.
„Das ist ein wenig beleidigend ausgedrückt, aber im Grunde stimmt es schon.” Balta musterte Eric und als er seinen Arm leicht anhob, war sich Eric sicher, dass der berühmte Daumen nach unten ihm die letzten Minuten seines Lebens prophezeiten. Die Leibwächter in Baltas Rücken verstärkten diesen Eindruck mit ihren muskulösen Oberkörpern, die sie wie durch ein Wunder durch die enge Tür bekommen hatten.
“Balta ist mein Name und ich bevorzuge die Anrede Boss oder Chef.” Eric wurde die Hand dargereicht, die er mit aller Unterwürfigkeit der Welt sanft drückte.
„Äh… Ich wollte nicht. Also das mit dem Obergangster, das ähem …“, stammelte er entschuldigend.
„Was ist denn mit der BsA?”, fragte Sentry ungeduldig. Wieder stieg Übelkeit in ihm auf, aber offenbar hatte sein Magen nichts mehr herzugeben.
„Ohja. Die haben meinen Laden verwüstet. Ich bin sofort abgehauen.”
„Hat dich jemand gesehen?”, fragte Balta.
„Nein. Ich glaube nicht. Habe mich dann in der Stadt rumgedrückt und bin dann heute Morgen hier her.” Einen gewissen Stolz über das erfolgreiche Entkommen war ihm anzuhören. Balta erdete ihn mit den folgenden Worten.
„Sie können jeden Moment hier sein. Evakuierung”, befahl er seinen Leibwächtern, die sich sofort aufmachten, um die Befehle weiterzugeben.
„Das ist nicht nötig. Niemand hat mich gesehen.”
„Der BsA entkommt man nicht. Selbst wenn das stimmt, finden die irgendwann raus, wo du untergekommen bist. Die haben ein großes Netz an Spitzeln. Ich dachte wir hätten etwas mehr Zeit, aber da hab ich sie wohl unterschätzt.” Balta schaute Sentry an.
„Ich habe dir Schutz versprochen und den bekommst du. Macht euch bereit. In einer halben Stunde brechen wir auf.” Balta verschwand, um die Abreise zu koordinieren.
„Der ist ganz nett”, kommentierte Eric das erste Treffen mit der gefürchteten Unterwelt.
„Nur so lange bis er bekommen hat, was er will”, erdete ihn Dina. Sie verließen das „junction“ und Sentrys Hoffnung auf frische Luft wurde enttäuscht. Die riesigen Lüfter schafften es nicht diese Ansammlung von trockenen und stickigen Ausdünstungen der letzten Nacht restlos davonzuschaufeln. Wieder kämpfte er mit der Übelkeit, doch die Anspannung beruhigte paradoxerweise seine aufgewühlten Eingeweide. Ein Wettlauf stand ihnen bevor. Die Inc. würde demnächst hier auftauchen und jeden Stein umdrehen, um ihn zu finden. Das hektische Treiben bestätigte seine Befürchtung, dass die Bewohner hier mit dem Schlimmsten rechneten. Wer konnte, verließ umgehend diesen Ort und alle anderen versuchten eine Illusion von harmlosen Geschäften vorzutäuschen. Mit viel Glück war Baltas Unternehmung bereits auf dem Weg ins Lager, wenn hier das Inferno ausbrach. Von da an war es eine Frage der Zeit, bis die Inc. dahinterkam, wo ihre Reise hinging. Nur ein eingeweihter Kreis kannte ihr Ziel. Trotzdem brauchte es nicht viel Kombinationsgabe, um am Ende alles zusammenzuzählen. Gezielt streute Balta ein paar glaubhafte Gerüchte, um die Inc. möglicherweise auf die falsche Fährte zu leiten und sich mehr Zeit zu erkaufen.
Der Weg nach oben wurde begleitet von geschäftigem Trubel. Waren und Kisten wurden auf Transporter verstaut und verschwanden in mysteriösen Verstecken. Die Routine, mit der die Abläufe durchgeführt wurden, zeugten von einem guten Training. Diese Razzien waren zwar selten, kamen aber vor, obwohl Inc. und organisiertes Verbrechen eng zusammenarbeiteten. Gelegentliche Bestrafungsmaßnahmen blieben von Seiten der Behörden nicht aus. Meist ging es um Querelen innerhalb der Regierung, die ein neues Gefüge der Bestechung notwendig machte.
Inmitten dieses hektischen Verpackens alles Illegalen, kam Eva von ihrem Heimatbesuch zurück. Eric begrüßte sie ähnlich panisch wie Sentry im „junction“. Wild gestikulierend erklärte er ihr die Situation, doch mittlerweile hatte er eingesehen, dass es keine Rückkehr in sein altes Leben gab. Eva linderte gekonnt sein Leid und schaffte es ihn zu beruhigen. Mit gezielten Worten fand sie den Zugang zu Eric, der den meisten verwehrt blieb. Sie fühlte sich verantwortlich ihn in diese Situation gebracht zu haben. Er war einer der vielen Unschuldigen, die in den letzten Jahren durch ihre egoistischen Bestrebungen mehr als nur Geld und Ansehen verloren hatten. Sie sah es als ersten Teil der Wiedergutmachung an, ihn in diesen schwierigen Zeiten zu unterstützen.
Sie erreichten die Oberfläche als die Morgendämmerung einsetzte. Sentry schätzte, dass sein Rausch in der Kürze der Zeit nur unzureichend auskuriert war. Er fühlte sich unheimlich schwach und hatte Probleme seine Umgebung in ausreichendem Tempo zu verarbeiten. Hoffentlich mussten sie nicht zu Fuß weiter, denn vom versprochenen Transporter war weit und breit nichts zu sehen.
„Was jetzt”, fragte Dina stellvertretend für alle Anwesenden.
„Geduld”, versuchte Balta die Gruppe zu beruhigen. Bei Eva funktionierte das nur bedingt.
„Und der Experte? Was ist mit dem Experten?“, fragte sie ungehalten, als sie außer Baltas Leibwächter keinerlei zusätzliches Personal erkennen konnte. Dieser fordernde Tonfall amüsierte Balta. Niemand in seiner unmittelbaren Umgebung würde es wagen so mit ihm zu sprechen.
„Keine Angst. Ich brauche ihn genauso wie du.” Er schenkte ihr ein sanftes Lächeln. Ihr ungewollter Charme eines sympathischen Dickkopfes hatte Eva wieder vor der Konfrontation bewahrt. Selbst Balta konnte sich der chaotischen Mischung aus unbedingtem Willen, Naivität und Hilflosigkeit nicht entziehen. Sentry fand kein Fachbegriff dafür und so ordnete er es als väterlichen Schutzinstinkt ein, den Eva mit ihrem Auftreten bei Männern gehobeneren Alters auslöste.
Motorengeräusch erklang aus den Untiefen der Ruinen und zwang die Gruppe hinter einer Mauerwand in Deckung zu gehen. Dieses Manöver versetzte Sentrys vernebelten Geist in Panik und erzeugte eine Klarheit, die ihm unter diesen Bedingungen als unmöglich schien. Erst nachdem sich Balta versichert hatte, dass nicht die Inc. sondern der verabredete Transporter in ihrer Nähe zum Stehen kam, entspannte sich die Gruppe. Ein Kleinbus stand keine zwanzig Meter von ihrem Versteck entfernt und als sich Balta offenbarte, entstieg eine bullige Gestalt dem Gefährt und erläuterte ihm den Zustand ihres Fahrzeuges. Ein vollgetankter Hybrid mit Verbrennungsmotor und elektrischem Antrieb, der zu Sentrys Überraschung sogar schwimmfähig war. Die riesigen länglichen Tanks auf dem Dach sollten das Gefährt bei Bedarf über Wasser halten. Stand ihnen eine Bootsfahrt außerhalb der Hauptstadtinsel bevor? Wer weiterhin fehlte, war der Experte, dafür gab es vier weitere Schergen aus Baltas Heer der Unterweltarmee. Sentry war sich nicht sicher, ob sie zu ihrem Schutz da waren oder einfach nur sicherstellten, dass er unabhängig vom gesundheitlichen Zustand das Ziel erreichte. Wieder ging ihm die Frage durch den Kopf, was passieren würde, sollte sich keine passende Technik für die Transfusion der Femtos in dem Lager befinden. Wahrscheinlich würde er dann sein Leben als Leibeigener von Balta fristen, der ihm alle möglichen Spielzeuge aktivierte. Im schlimmsten Fall endete er in einem Labor, verkauft als Versuchskaninchen an verrückt gewordene Wissenschaftler. Wieder mussten die unbekannten Femtos in seinem Inneren als Hoffnungsträger herhalten, die ihm schon auf Prem mit ihren verborgenen Fähigkeiten die Flucht ermöglicht hatten.
Der Bus setzte sich in Bewegung und nutzte die löchrige Straße Richtung Osten. Dem Fahrer war es unmöglich alle Schlaglöcher zu vermeiden und so wurden sie ordentlich durchgeschüttelt. Nach einer halben Stunde ging der Asphalt in einen unbefestigten Waldweg über, der sie bis an die Küste führte. Hier endete vorerst ihre Reise.
Balta gab Anweisungen, die im Grunde darauf abzielten ihr Gefährt für die See tauglich zu machen. Werkzeuge wurden hervorgeholt, mit denen seine Leute die Umbauten starteten. Bereits nach zehn Minuten meldeten sie die erfolgreiche Umrüstung des kleinen Busses, der jetzt statt der Räder die mitgeführten Tanks an der Unterseite hatte. Noch zögerte Balta mit dem Aufbruch und begann aufgeregt in seinen Kommunikator zu sprechen. Er brauchte Gewissheit über die Abläufe auf dem Schwarzmarkt.
„Wie befürchtet hat die Inc. den Markt überrannt und filzt jeden Winkel”, informierte er die Gruppe. Er klang verärgert über die Tatsache, dass er die Razzia nicht persönlich in die richtigen Bahnen lenken konnte. Wahrscheinlich würde heute ohnehin kein Bestechungsgeld der Welt helfen, trotzdem tat es ihm weh weitab der Geschehnisse zu sein. Er hoffte, dass Gunter die Sache auch ohne ihn meistern würde. Für Sentry taten sich mit der Inc. neue Horrorszenarien auf, die Baltas Leibeigenschaft locker in den Schatten stellten. Seine Informationen über die Methoden von BsA und Inc. verselbständigten seine Fantasien und heizten die Angst an. Ein totalitäres Regime, indem Menschenleben keine Rolle spielten und dass seine Interessen mit Einschüchterung und Gewalt durchsetzte, war für niemanden eine gesunde Lebensgrundlage. Sollten sie ihn in ihre Fänge bekommen, würden sie ihn wahrscheinlich Stück für Stück auseinandernehmen. Dort wäre er kein empfindsames Lebewesen, sondern nur eine Ansammlung von Technik, an dessen Knöpfe man beliebig drehen konnte.
„Wir warten auf jemand”, erklärte Balta, als die fragenden Gesichter nur noch schwer zu ignorieren waren.
„Dann stechen wir in See und setzen auf den Kontinent über. Leider müssen wir diesen umständlichen Weg nehmen, denn die Luftüberwachung würde jeden Flugtransporter sofort aufspüren.” Baltas Kommunikator meldete sich und verkündete, dass die Person am anderen Ende des Gesprächs in fünf Minuten bei ihnen wäre.
Tatsächlich schafften sie es in kürzerer Zeit als angekündigt. Ein kleiner Personentransporter kam aus dem Wald, der unmöglich mehr als zwei Passagiere befördern konnte. Dieses dreirädrige Gefährt kam vor ihnen zum Stehen und ein weiterer bewaffneter Angestellter von Balta entstieg dem Fahrzeug. Er schulterte seine Waffe und half einem alten, wenig mobilen Mann aus dem engen Sitz.
„Doc. Ich bin froh Sie zusehen. Es tut mir leid, dass ich Sie in ihrem Alter hier herausbitte, aber wir brauchen den Besten für diese Mission.” Die freudige Begrüßung von Balta ließ auf eine enge Beziehung zwischen den beiden schließen. Der Alte winkte ab und musterte die Gruppe.
„Sparen sie sich die Schmeicheleien. Stellen Sie mich lieber den Damen vor.“ Er wirkte höflich und zivilisiert, was in diesen Zeiten Seltenheitswert hatte.
„Natürlich.“ Im Schnelldurchlauf ratterte er die Namen runter und zog sich damit das Missfallen seines Gastes zu, da seiner Meinung nach das Mindestmaß an Höflichkeit nicht erfüllt wurde.
„Wir sind leider in Eile. Ich gebe ihnen mehr Informationen im Bus“, drängte Balta und befahl seinen Leuten einzusteigen.
„Sie sind immer in Eile. Das bringt wohl ihr Beruf mit sich.“ Die aufkommende Hektik ließ den Alten vollkommen unberührt. Ruhig und seines hohen Alters angemessen, steuerte er bedächtig auf die Eingangstür des Busses zu. Er verweigerte die dargebotene Hand und erklomm die wenigen Stufen ins Innere in einem gemächlichen Tempo, dass im Kontrast zur effektiven Art und Weise seiner Umgebung stand. Mühsam quälte er sich in den abgenutzten Sitz hinter dem Fahrer und ließ es sich nicht nehmen sich bei Balta über den mangelnden Komfort zu beschweren. Ihm folgte der Rest und so waren sie einschließlich des Fahrers zu zehnt.
Danach ging alles ganz schnell. Über eine Seilwinde wurde der Bus gewassert und als die Wellen ihren fahrbaren Untersatz in ein schaukelndes Boot verwandelten, sah sich Sentry erneut mit den Nachwirkungen der letzten Nacht konfrontiert. Ihm war es peinlich, dass sein Unwohlsein als Seekrankheit ausgelegt wurde, trotzdem verzichtete er auf langwierige Erklärungen und ertrug die Häme von Baltas Leuten. Zu seinem Glück dauerte die Fahrt nicht mal eine halbe Stunde und er war seinem Magen unendlich dankbar, dass er seinen Inhalt in dieser Zeit für sich behielt.
Nachdem sie an der fremden Küste dem Boot entstiegen waren, wurde sofort die erneute Umrüstung zu einem fahrbaren Bus in die Wege geleitet. Zeit genug, um die neue Umgebung ausgiebig zu begutachten.
„Das ist der zentrale Kontinent“, stellte Eric ehrfurchtsvoll fest. Für ihn existierte dieser Ort nur in den Beschreibungen seiner Kunden, die hier auf der Suche nach Technik der Vorfahren fündig geworden waren. Er selber hatte es nie für notwendig gehalten auch nur einen Fuß auf dieses öde und riesige Eiland zu setzen. Dieser Flecken Erde hatte in den goldenen Zeiten die halbe Galaxie ernährt und wurde bei den Unruhen nach der großen Katastrophe unwiederbringlich verseucht. Chemikalien hatten die einst fruchtbaren Böden in eine riesige Wüste aus feuchten Steinen, Dreck und Sand verwandelt. Diese trostlose Ebene zog sich bis zum Horizont, denn es gab keinerlei nennenswerte Erhebungen oder Natur, wie Bäume oder Seen. Im Gegensatz zu den Inseln war hier Land in unendlicher Menge vorhanden, auch wenn es vollkommen nutzlos war. Das Charisma einer verödeten Steppe erstickte jegliche Form von Lebendigkeit.
„Dieser Ort ist noch trostloser als gedacht.“ Eric schaute sich um und registrierte, dass niemand seine Worte vernahm. Der Doc versuchte vergebens mit Eva ins Gespräch zu kommen, Balta koordinierte den Umbau und Dina und Sentry ignorierten ihn von Haus aus. Er steuerte auf Eva zu, die mit dem alten Mann nichts so Recht anzufangen wusste.
„Hätte nicht gedacht diesen dreckigen Kontinent wiederzusehen“, versuchte der Doc es mit allgemeinem Palaver. Auch er konnte sich Evas unschuldiger Attitüde nicht entziehen. Mit gezielt eingestreuten Komplimenten versuchte er das Eis zu brechen, aber erst mit dem Themenwechsel in sein medizinisches Fachgebiet gelang es ihm ihre Einsilbigkeit zu durchbrechen.
„Es geht um meine Schwester. Sie ist krank“, rang Eva sich ein paar einleitende Worte ab.
„Das tut mir leid“, erwiderte er aufrichtig und bekam endlich die gewünschte Aufmerksamkeit. Ihm wurde ein Pad gereicht, dass die komplette Krankengeschichte beinhaltete. Regungslos überflog er die Daten. Ein antrainiertes Verhalten, um nicht mit verräterischen Signalen falsche Schlussfolgerungen heraufzubeschwören.
„Chronisch myeloische Leukämie. Unglücklicherweise schon in der Blastenkrise“, sagte er kryptisch und emotionslos.
„Können Sie das mit geeigneter Technik heilen?“, fragte Eva hoffnungsvoll.
„Ich nehme mal an es wurde kein geeigneter Spender gefunden.” Eva schüttelte traurig den Kopf.
„Tatsächlich gibt es ein Gerät, dass mit eine Art Blutwäsche die entarteten Zellen beseitigt. Es beendet auch die genetische Ursache. Ich habe seit dreißig Jahren diese Art von Technik nicht mehr gesehen.”
„Wir hoffen es in diesem Lager zu finden.”
„Ahja. Dieses ominöse Lager. Balta hat mir drei Gegenstände meiner Wahl versprochen, wenn ich ihm bei der Nanotechnologie helfe. Sind Sie die Unglückliche, die mit dieser Art von Technik gepeinigt ist?” Eva nickte Richtung Sentry.
„Der arme Kerl. Wer immer ihm das angetan hat, tat ihm keinen Gefallen damit.”
„Ich nehme mal an, wir müssen meine Schwester und das Gerät zusammenbringen.”
„Die Prozedur dauert etwa 2 Tage.” Eva wusste nicht, wie sie die Frage um Hilfe formulieren sollte. Bevor sie die passenden Worte anbringen konnte, ergriff der Doc ihre Hand.
„Ja, ich werde Ihnen dabei helfen”, verkündete er lächelnd. Eva schossen die Tränen in die Augen, was ihr für den Moment peinlich war. Dieses selbstlose Verhalten hatte sie überrascht und die Hoffnung auf eine Heilung von Freya überwältigte sie, obwohl sich ihre Chancen weiterhin um keinen Deut verbessert hatten. Alles war von der Anwesenheit dieser Maschine im Lager abhängig. Ihr Verstand drängte nach einer Umarmung des Docs, doch dazu konnte sie sich nicht durchringen.
„Danke”, flüsterte sie und rieb sich die Tränen aus den Augen.
Für Sentry gab es nicht viel zu erkunden auf dem vermutlich langweiligsten Flecken Erde dieser Galaxie, also beobachtete er die Umrüstarbeiten, die sich dieses Mal als langwieriger herausstellten. Balta kam auf ihn zu und informierte ihn über den Fortschritt.
„Dieses verdammte Ding ist zickig. Wir müssen improvisieren. Irgendwie ist das Salzwasser an die Elektronik gekommen. Hoffentlich sind wir hier nicht gestrandet.”
„Ist es weit bis zum Lager?”
„Ohja. Mit dem Bus etwa ein Tag.”
„Klingt nicht gut”, versuchte Sentry das Gespräch zu beenden. Es war kein gutes Gefühl mit Verbrechern so belanglos zu plaudern. Balta ließ ihn aber nicht in Ruhe.
„Darf ich es sehen?”, fragte er.
„Was denn sehen?”
„Das Ding in deiner Hosentasche. Es muss sehr wertvoll für dich sein, da du permanent kontrollierst, ob es noch da ist.” Tatsächlich merkte Sentry erst jetzt seinen unbewussten Trieb regelmäßig nach dem Schmuckstück zu greifen. Er zog es hervor und reichte es Balta.
„Ich weiß nicht, was es ist, aber es scheint ein Teil meiner Vergangenheit zu sein.“
„Die verschütteten Erinnerungen. Das macht es unmöglich für mich dich einzuschätzen. Da du nicht weißt, wer du bist, kann ich deine Unsicherheit schwer zuordnen. Bei den meisten geht das einher mit einem Mangel an Selbstvertrauen. Bei dir stimmt das nur zum Teil. Dir fehlt Orientierung. Du traust dir selber nicht. Die Technik in deinen Blutbahnen macht dir Angst. Das fängt man sich nicht einfach so ein und so bin ich mir sicher, dass deine Amnesie kein Zufall ist. Irgendjemand will nicht, dass du dich erinnerst. Bleibt die Frage, ob zu deinem Schutz oder zu unserem. Da haben wir ein richtig großes Geheimnis.“ Sentry hasste es so analysiert zu werden, aber Balta hatte Recht. Die Erinnerungsblockade hatte einen Grund und war mit Sicherheit keine Folge eines traumatischen Erlebnisses. Dafür war sie zu selektiv. Das große Ganze aus seiner Vergangenheit war in seiner Unbestimmtheit beunruhigend. Vielleicht war es besser nicht zu tief zu graben.
„Meine Beobachtungen können manchmal ziemlich erschreckend sein, aber ich weiß gern, mit wem ich es zu tun habe“, verteidigte Balta die unangenehme Wahrheit.
„Und was ist das jetzt?“, fragte Sentry mit viel zu wenig Selbstvertrauen in der Stimme. Balta begann das Schmuckstück ausgiebig zu mustern.
„Das passt perfekt in deine geheimnisvolle Vergangenheit“, erklärte Balta und weckte Sentrys Neugier.
„Du kennst es? Du weißt, was das ist?“, fragte er zittrig.
„Ein primitiver Informationsspeicher, aber sehr wirkungsvoll. Drei Variablen ergeben unzählige Möglichkeiten, um sein Geheimnis zu entlocken. Siehst du den Kristall? Bring ihn in eine spezielle Position, bestrahl ihn mit einer bestimmten Wellenlänge in einem bestimmten Winkel und schon weißt du mehr. Es kann nicht viel sein. Vielleicht ein Wort, maximal ein Satz oder eine Zahlenreihe. Wer weiß?“ Balta grübelte über den möglichen Inhalt.
„Eine Art Trigger womöglich.“ Er starrte auf Sentrys Kopf, als ob er den Inhalt des Schädels ergründen wollte.
„Du meinst eventuell der Schlüssel zum Einreißen der Blockade? Was ist die richtige Einstellung?“
„Keine Ahnung. Vermutlich gibt es eine Art Vorrichtung, in die du das Ding nur reinlegen brauchst. Dann aktivierst du es und schon weißt du mehr über dich. Wenn du Pech hast, ist es nur ein Scherzartikel. Ich an deiner Stelle würde nicht zu viele Hoffnungen in diesen Kristall setzen.“ Sentry war sich sicher, dass es mehr als nur ein Schmuckstück ohne Wert war. Nicht umsonst lag es als Grabbeilage in seinem Kühlschrank. Seine Gedanken wurden unterbrochen durch die Vollzugsmeldung der Umrüstung. Baltas Leute hatten es geschafft den Bus wieder fahrtauglich zu machen.
Nachdem alles verstaut war und sich alle im Inneren des Fahrzeugs wiederfanden, startete der Fahrer den Verbrennungsmotor und setzte damit den Bus in Bewegung. Baltas Plan war es zwischen den beiden Antrieben hin und her zu wechseln, um das Maximum an Reichweite zu generieren. Laut seinen Berechnungen würde es somit für Hin- und Rückweg gerade so reichen. Kein Spielraum für Verirrungen oder unnötige Umwege.
Mit dem Verlassen der Küste ergab sich in jede Richtung derselbe Anblick. Eine Unendlichkeit von Ödnis suggerierte ihnen eine grenzenlose Steppe aus unnützem Land. Während der stundenlangen Fahrt änderte sich nur der Sonnenstand und die dunklen Wolken am Himmel tauchten den Horizont in unterschiedliche Grautöne. Gelegentlich schickten sie ihren feuchten Inhalt zu Boden und verwandelten das Vorankommen in einen Kampf gegen Pfützen und Schlamm. Unbeirrt dieser Hindernisse bewegte sich ihr Vehikel Meter um Meter durch die endlose Geröllhalde. Durch das Fehlen von geographischen Orientierungspunkten war der Fortschritt kaum greifbar und so war es schwer zu beurteilen, wie schnell sie vorankamen. Wo hier draußen sollte sich ein Lager voller Technologie befinden? Nach zwei Stunden Eintönigkeit zweifelte Sentry daran, dass es hier irgendetwas anderes als feuchten Dreck gab.
Der langweilige Ausblick zwang Sentry sich mit dem Geschehen innerhalb ihres Gefährts zu beschäftigen. Baltas Schergen diskutierten lautstark die einzelnen Vor- und Nachteile verschiedener Prostituierter und ignorierten vollends die Anwesenheit weiblicher Mitfahrer. Eva schien ohnehin in ihre eigene kleine Welt versunken zu sein und Dina wusste, dass sie mit der Aufgabe ihrer Ignoranz die Themenwahl nur befeuern würde. Eric hatte mit sinnlosen Worten über Technik versucht Eva aus ihrem Gedankenkokon zu holen, aber irgendwann kapitulierte er und schwieg einfach. Balta tauschte mit dem Doc alte Anekdoten aus und so saß Sentry allein im hinteren Teil des Busses und beobachtete Dina, die versuchte zu schlafen, aber immer wieder durch Erschütterungen daran gehindert wurde. Durch den Mangel an Ereignissen machten sich die Fantasien über ihre Vergangenheit selbstständig. Red und sie verband eine Tragödie, die sich für Sentry nicht richtig erschloss. Eine tote Familie war wohl der Antrieb ihres Hasses. Dina als liebende Mutter erschien ihm absurd. Auf ihn wirkte sie wie eine Einzelkämpferin, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, die ganze Welt gegen sich aufzubringen. Besonders Männer schienen auf ihrer Feindesliste ganz oben zu stehen, was sie als treusorgende Ehefrau disqualifizierte. Trotz all dieser Makel konnte sich Sentry ihrer Anziehung nur schwer entziehen. Neben ihren optischen Reizen strahlte sie auch eine gewisse Zielstrebigkeit und Stärke aus, die ihre Verletzlichkeit komplett unterdrückten. Eine gebrochene Seele, die jegliche Gefühlsregung ihrem Hass untergeordnet hatte.
Sentry zwang seinen Verstand sich auf die eigene Zukunft zu fokussieren. Zum ersten Mal fühlte er sich frei in seinen Handlungen. Leider war dieses Gefühl von Unabhängigkeit trügerisch. Balta würde ihn erneut zum Sklaven seiner Femtos machen, sollten die Dinge im Lager nicht den gewünschten Verlauf nehmen. Selbst wenn er ihn gehen ließ, war er an Dina gebunden, die ihm dort draußen die nötige Führung geben musste. Hier auf Lassik überforderten ihn schon kleinste Probleme. In der riesigen Galaxie war er allein verloren und so ängstigte es ihn, sollte Dina ihre Ankündigung wahr machen und mit der Erfüllung ihrer Rache ihn seinem Schicksal überlassen. Er war noch nicht so weit ein selbstständiges Leben zu führen, auch wenn er gegen jede Wahrscheinlichkeit die letzten Wochen überlebt hatte. Daraus zog er seine Hoffnung die Widrigkeiten außerhalb Lassiks ebenfalls meistern zu können. Das ging bedauerlicherweise nur mit fremder Hilfe. Wenn Dina sich weigerte, musste er neue Kameraden finden. Dieser Gedanke brachte die Gesichter der unmittelbaren Vergangenheit an die Oberfläche. Pluto, Terra und die anderen Opfer waren der Blutzoll für sein Überleben gewesen. Der Zeitpunkt war günstig, um endlich damit abzuschließen. Eine letzte Auseinandersetzung mit all dem Leid seit seiner Geburt war notwendig, um seinen Verstand zu entlasten. Er brauchte die volle Konzentration für kommende Ereignisse. All die Toten gaben sich noch ein Mal die Ehre. Angefangen mit Lisa, über Pius zu Pluto, der mit seinem Märtyrertod ihnen die Flucht ermöglicht hatte. Sie würden alle einen ewigen Platz in seinen Erinnerungen bekommen. Sein Blick fiel auf Eric. Auch wenn seine Sympathien begrenzt waren, wollte er kein neues Gesicht in der Galerie der Verstorbenen mehr. Er musste weiteren Kollateralschaden für sein Überleben unbedingt vermeiden. Das Sterben um ihn herum hatte er so satt.
Balta riss ihn aus seinen Gedanken, indem er sich neben ihn setzte. Der Doc war eingeschlafen und so bekam Sentry das zweifelhafte Vergnügen der Gesellschaft eines Unterweltbosses. Die Aufregung konnte er nur schwer unterdrücken.
„Wird es langsam besser?“, spielte Balta auf seinen unruhigen Magen an. Der hatte sich tatsächlich in den Normalzustand zurückbegeben. Was Sentry zu schaffen machte, waren seine Kopfschmerzen.
„Alles gut“, erwiderte er leise und für sein Empfinden viel zu schüchtern.
„Dann können wir uns ja ein wenig unterhalten.“ Da es keine weitere Frage war, zog Sentry es vor zu schweigen.
„Hör zu. Ich weiß die Sache ist für dich äußerst unangenehm. Ich will dir versichern, dass ich keinerlei Pläne habe dir zu schaden. Wir ziehen die Sache einfach durch und am Ende geht jeder seiner Wege. Das ist ein Versprechen. Deine Kooperation ist mir wichtig und daher mache ich dir das Angebot. Also keine schrägen Fluchtpläne oder Widerstände, dann können wir das hier für alle unkompliziert beenden.“ Balta musterte Sentry und erriet seine Gedanken, bevor er eine Frage stellen konnte.
„Natürlich wird es komplizierter, wenn wir nicht fündig werden. Aber auch dann gilt: niemand wird verletzt. Natürlich nur solang ihr euch an die Regeln haltet und kooperiert.“ Diese Drohung verfehlte ihre Wirkung bei Sentry nicht. Zuckerbrot und Peitsche funktionierte.
„Ich bin mir sicher, dass du es verstanden hast.“ Balta schenkte ihm ein zweideutiges Lächeln, das Sentry gleichzeitig Vertrauen und Angst einflößte.
„Bei ihr allerdings …“ Balta deutete mit dem Kopf auf Dina.
„Ich bezweifle, dass sie Ärger wegen mir riskieren würde“, antwortete Sentry gedrückt.
„Ohh… In Sachen Frauen bist du ja noch unwissender als über deine Vergangenheit.“ Sentry sah ihn fragend an. Ähnlich wie bei seinem Kontrollwahn mit dem Schmuckstück, musste Balta auch etwas bei Dina aufgefallen sein.
„Ich glaube nicht, dass sie dich so einfach über die Klinge springen lässt. Irgendeine schräge Verbindung gibt es zwischen euch. Keine Ahnung was, aber da ist etwas oder jemand, der sie an dich bindet.“ Red, schoss es Sentry durch den Kopf. War ihr Verlangen nach Rache so groß, dass sie sich sogar mit dem organisierten Verbrechen anlegen würde? Schwer zu glauben. Es würde schwieriger für sie werden, aber nicht unmöglich, wenn Balta ihn aus ihren Racheplänen entfernen würde.
„Unter ihrer ganzen Wut steckt sogar mehr als nur diese komische Verbindung. Keine Ahnung, wie du es geschafft hast, aber du hast sie zum Zweifeln gebracht. Du solltest mit ihr reden und beruhigend auf sie einwirken.“
„Sie hat ihren eigenen Kopf. Da gibt es im ganzen Universum niemanden, auf den sie hören würde“, antwortete Sentry.
„Unterschätze deinen Einfluss nicht. Ich bin ganz gut im Beobachten und Einschätzen von Menschen. Bei meinen Geschäften ist das überlebensnotwendig. Glaub mir. Die Einzelkämpferin ist nur eine Maske. Keine Ahnung, was ihr da auf Prem durchgemacht habt, aber ihr Weltbild vom alleinigen Weg habt ihr erschüttert.“ Diese Worte schmeichelten Sentry. Hatte Balta Recht mit der Behauptung, dass er ihr Feinbild Mann zumindest angekratzt hatte? Bisher glaubte er nur von der Stärke seiner umgebenden Begleiter zu zerren, ohne dafür eine Gegenleistung erbracht zu haben. Das er neben dem vielen Nehmen auch was zurückgegeben haben soll, war schwer zu glauben. Das wertete sein elendiges Dasein um einiges auf und steigerte tatsächlich sein Selbstvertrauen. Er wollte sich in diesem Gefühl der Euphorie sonnen, als aus den Tiefen seines Verstands eine Alarmglocke ihn in die Realität aus Unsicherheit zurückholte. Balta war nicht nur ein guter Beobachter. Seine wahre Stärke lag in der Manipulation. Das Zuckerbrot wurde ihm gerade ohne sein Wissen verabreicht. Er musste höllisch aufpassen, dass Balta sie nicht zu ihrem Nachteil beeinflusste.
„Ich werde mit ihr reden”, antwortete Sentry ohne groß sein Misstrauen zu tarnen. Das wäre ohnehin sinnlos, denn für Balta war er trotz gegenteiliger Behauptung ein offenes Buch.
„Sehr gut.” Balta musterte ihn kurz und ließ ihn dann allein. Er wechselte ein paar Worte mit dem Fahrer, der daraufhin das Tempo reduzierte. Kurze Zeit später brachte er den Bus komplett zum Stehen. Da draußen musste etwas sein, dass seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Alle starrten durch die Fenster, aber für Sentry hatte sich die Umgebung nicht verändert. Hatten sie ihr Ziel erreicht? Dann hätten sie weit weniger als einen Tag gebraucht.
Balta verließ den Bus und suchte den Boden nach Hinweisen ab. Sentry schaute genauer hin und erkannte den bröckligen Asphalt, der auf eine alte Straße schließen ließ. In dieser Umgebung aus Steinen und Geröll war dieses Relikt aus Zeiten der Vorfahren schnell zu übersehen. Nach ewigem Durchqueren der Steppe waren sie auf erste Anzeichen von Zivilisation gestoßen. Balta wies den Fahrer an das Gefährt Richtung Süden zu steuern und der Straße zu folgen. Für den Rückweg markierte er den Abzweig mit einer roten Fahne. Wenn alles gut lief, war das der Punkt, der sie wieder Richtung Küste brachte.
Von hier an waren es etwa zwanzig Stunden bis zu dem Lager am Ende der Straße. Sentry traute sich nicht zu fragen, was sie genau dort erwartete, aber es musste eine Art zentraler Knotenpunkt sein, an dem der einst landwirtschaftlich geprägte Planet die Ernte einfuhr. Ein langer Weg lag vor ihnen. Leider bot der enge Bus wenig Komfort und so drohte der Rest der Reise eine Tortur zu werden. Mit Wehmut erinnerte sich Sentry an das weiche Bett im „junction“, dessen Bequemlichkeit er im Vollrausch verpasst hatte.
Sie kamen bis zur Abenddämmerung gut voran, doch mit Einbrechen der Dunkelheit war es notwendig geworden das Tempo zu drosseln. Zu groß war die Gefahr aufgrund von Schlaglöchern irreparablen Schaden zu erleiden. Die größte Tragödie wäre ein Liegenbleiben inmitten dieser Steppe aus Geröll. Balta erkundigte sich über Funk nach dem Status auf dem Schwarzmarkt. Die Inc. war abgezogen und hatte ein paar Verdächtige festgenommen, die hoffentlich seine gezielt gestreuten Gerüchte preisgaben und ihnen so die notwendige Zeit verschafften. Ohnehin musste vieles passen, damit sein eng getakteter Plan aufging. Angefangen mit dem Betreten des Lagers. Mit Sicherheit gab es eine Art Schloss, aber mit Sentrys Fähigkeiten war das Öffnen der einfachste Punkt auf der Liste. Beim Finden des Nanotransfusionsgerätes brauchten sie weitaus mehr Glück. Im Idealfall dauerte es ein paar Stunden, bis er die Nanotechnik übertragen hatte. Anschließend wollten sie das Lager wieder versiegeln und erst zurückkehren, nachdem sich alles beruhigt hatte. Sentry hatte dann längst den Planeten verlassen und auf Lassik wäre der Status Quo wiederhergestellt. Ein paar Wochen später könnte Balta in aller Seelenruhe die Geheimnisse des Lagers ergründen und den Profit seines Lebens einfahren.
Sentry versuchte die Nacht zu nutzen, um durch Schlaf seine Energie zu regenerieren. Am Anfang hinderten ihn seine wilden Gedanken am Einschlafen. Red war bei der Untersuchung seines Blutes auf die Vielfalt seiner Femtos gestoßen. Bei Balta drohte dasselbe Ergebnis und mit der Erkenntnis, dass da mehr als nur die Türöffner in seinen Adern wuselten, wäre ihre Vereinbarung über das Verlassen des Planeten fraglich. Hoffentlich war Balta Ehrenmann genug, um sich an sein Versprechen zu halten. Die Aussicht auf ein Leben als Laborratte wirkte wenig beruhigend, aber irgendwann schaffte er es diese wilde Alternative zu seiner unmittelbaren Zukunft auszublenden.
Ein unangenehmer Geruch stieg Sentry in die Nase, als er durch wildes Rütteln an seiner Schulter geweckt wurde. Wer immer da versuchte ihn aus dem Schlaf zu holen, hatte offensichtlich seit Tagen nicht geduscht. Müde schaute er in ein schmutziges Gesicht, dass ihn derb aufforderte endlich aufzustehen. Verschlafen schaute er aus dem Seitenfenster. Wieder nur karge Einöde, aber immerhin war es bereits morgen.
„Wir sind da”, begrüßte ihn Balta. Sentry wagte einen Blick durch die Frontscheibe und tatsächlich erkannte er in dem Grau der tiefhängenden Wolken eine Kontur, die so gar nicht in die trübselige Umgebung passte. Ein Gebäudekomplex tat sich vor ihnen auf, der in seiner langweiligen Architektur an eine typische Ansammlung von Verwaltungsbauten erinnerte.
Es war an Eric die seltsame Erscheinung am Horizont zu erklären. Er wusste aus seinen Büchern, dass es mehrere solcher zentralen Punkte gab, an denen die Ernte zwischengelagert wurde.
„Als hier noch Landwirtschaft im großen Umfang betrieben wurde, dienten solche Stationen zur Kontrolle der umliegenden Felder. Man koordinierte den Anbau, brachte die Ernte ein und beeinflusste sogar das Wetter. Diese Orte gibt es zu hunderten auf dem Kontinent.“ Eine gewisse Ehrfurcht war ihm anzuhören.
„Mit Hilfe von künstlicher Intelligenz wurden optimale Erträge erzielt”, fuhr er begeistert fort. Er konnte kaum glauben einer dieser Wunderwerke an Effizienz höchst persönlich zu besuchen.
Sie passierten das zerstörte Eingangstor, an dem seit Ewigkeiten keine Zugangskontrolle mehr stattfand. Die kleine elektronische Box, die über Eintritt oder Ablehnung entschied, war vollkommen ausgeschlachtet worden. Der kleine metallische Kasten war ein Vorbote dessen, was sie dort drinnen erwartete. Über die Jahrhunderte war alles von wert geplündert worden und hatte diesen Komplex in ein Gebiet voller löchriger Gebäude verwandelt. Trotz der Zerstörungswut waren die Ruinen nicht in sich zusammengefallen. Offenbar hatten die Vorfahren ihr Wissen über Architektur auf einen Stand gebracht, der Bauwerke zwar nicht für die Ewigkeit, aber doch für eine verdammt lange Zeit vor dem Verfall schützten. Die zentrale Verwaltung war flach gehalten, denn Platz war hier draußen reichlich vorhanden. Langgezogene Flügel erstreckten sich wie ein Stern, um eine kreisförmige Mitte. Drei Etagen konnte Sentry ausmachen, die unzählige Räume enthielten.
Sie parkten den Transporter vor dem ehemaligen Haupteingang. Die Glasfront war längst verschwunden und der Wind peitschte den Nieselregen in die verwitterte Lobby. Mahnend knisterten die Scherben unter ihren Schuhen, als sie sich dem ehemaligen Empfangsbereich näherten. Die Vergänglichkeit menschlicher Entwicklung war nie ersichtlicher als an diesem Ort. Über Jahrhunderte hatte hier ein Gigantismus vorgeherrscht, der so unerschütterlich in seinem Glauben schien und für alle Ewigkeit vorgesehen war. Eine Unendlichkeit von Wohlstand musste vorhanden gewesen sein, gespeist durch unermüdliche Arbeitskräfte, die hier ihr Bestes gegeben hatten, um ein Maximum an Nahrungsmitteln zu erzeugen. Bauern, Buchhalter und Wissenschaftler hatten hier ihr gesichertes Auskommen und führten ein weit angenehmeres Leben als ihre Nachfahren. Eric versuchte sich an fiktiven Geschichten, wie die Abläufe an diesem Ort vor einer Ewigkeit Tag für Tag reibungslos erfolgten. Durch sein technisches Wissen hatte er einen guten Überblick und für Sentry erklärten sich damit scheinbar sinnlose Dinge. Die gigantischen, in den Boden eingelassenen Tore mit den Rutschen, dienten zum Zwischenlagern der Ernte, die über Laster aus der Umgebung herangebracht wurde. Die riesigen unterirdischen Speicher horteten das Getreide und je nach Kundenwunsch wurde es zu Mehl verarbeitet oder durch Raumschiffe in die letzten Winkel der bekannten Galaxie verschifft. Dafür gab es Landeplätze, die die galaktischen Transporter über hydraulisch absenkbare Plattformen in die Tiefen der Lagerräume brachten. Die effiziente Abwicklung ermöglichte optimale Erträge und nichts wurde bei den Abläufen dem Zufall überlassen. Vom Saatkorn bis zum Verlassen des Planeten überwachte die künstliche Intelligenz sämtliche Prozesse auf Verschwendung und handelte dementsprechend, sollte sie Potenzial für Optimierung erkennen. Für unwissende Nachfahren wie Sentry wirkten die bunt ausgeschmückten Erläuterungen wie magische Legenden aus einer hochzivilisierten Kultur, die an ihrem eigenen Ehrgeiz erstickt war.
Was übrig blieb waren die einsturzgefährdeten Bauten, die wie mahnende Relikte einer Überschussgesellschaft mitten im Niemandsland emporragten. Noch trotzten sie den widrigen Wetterbedingungen, aber in wenigen Jahren würden nur noch ein paar Schutthaufen auf den ehemaligen Prunk vergangener Tage hinweisen, bis diese dann selber über die Jahrhunderte endgültig zu Staub zerfallen würden. Ein seltsamer Ort, um wertvolle Technik zu lagern, aber offensichtlich war es das Ziel den Zugang so schwer wie möglich zu machen.
„Sind das Einschusslöcher?“, fragte Eric, während er in der löchrigen Wand hinter dem nur noch rudimentär vorhandenem Empfangstresen puhlte.
„Wahrscheinlich rivalisierende Plünderer“, erklärte Balta kurz. Er gab Anweisungen an seine Leute, die sich aufmachten, um die Umgebung zu erkunden.
„Wo ist das Lager?“, fragte Dina.
„Wahrscheinlich in den Speichern.“
„Wahrscheinlich?“ Dina wirkte überrascht.
„Ich war nie hier gewesen, aber wir werden es schon finden“, bestätigte Balta ihre Vermutung, dass er keine genaue Kenntnis über den Standort des Lagers hatte.
„Die Dinger sind riesig. Wie sollen wir da unten was finden?“, fragte Eric pessimistisch.
„Mit Beobachtungsgabe und gesundem Menschenverstand“, erklärte Balta und Eric wagte es nicht zu widersprechen, obwohl seine Mimik dem naiven Plan kaum Chancen einräumte. Auch Sentry war skeptisch. Ihnen rannte die Zeit davon, denn die Inc. konnte jederzeit hier auftauchen. Das Auffinden des Eingangs konnte Stunden dauern. Plötzlich drängte es ihn zur Eile, denn die Aussicht in den Bunkern des BsA zu enden, war wenig verlockend.
X
„Wenn man alle logischen Lösungen eines Problems eliminiert, ist die unlogische obwohl unmöglich unweigerlich richtig.“
Sherlock Holmes
„Ich gebe dem Hasenfuß da drüben nur ungern Recht, aber die Sache sieht nicht sehr viel versprechend aus.“ Der Doc und Balta hatten sich ein wenig von der Gruppe entfernt und konnten daher ungestört die weiteren Dinge besprechen. Hasenfuß Eric hatte beim Anblick der verkommenden Station sofort wieder schlechte Stimmung verbreitet, aber Balta hatte gelernt ihn zu ignorieren und sich auf wesentlichere Dinge zu konzentrieren. Die Zeit war begrenzt und wenn sie Pech hatten, waren die Truppen der Inc. bereits auf dem Weg hierher. In dem Fall hätten sie bereits verloren, denn anders als ihre Gruppe, würde die Inc. nur ein Bruchteil der Zeit brauchen, um diese Station zu erreichen.
„Einfach, mein lieber Doktor, wird es leider nicht werden. Dieser Hasenfuß hat uns auch noch unter Zeitdruck gesetzt. Die Inc. ist hinter ihm her und damit nun auch hinter uns.“ erwiderte Balta. Der Doc wirkte wenig geschockt auf diese Neuigkeit. In seinem Alter konnten ihn solche Banalitäten wohl nicht mehr beeindrucken.
„Habe mich schon gefragt, wozu Sie ihn mitgenommen haben. Bei jedem Anderen in ihrer Position läge der schon eins achtzig tief. Sie stecken voller Geheimnisse. Wie haben Sie es mit der Einstellung geschafft die komplette organisierte Kriminalität auf Lassik zu übernehmen?“ Der Doc schüttelte ungläubig den Kopf. Balta lächelte nur geheimnisvoll.
„Leider muss ich Ihnen die Antwort vorerst schuldig bleiben.“ Er ging zurück zur Gruppe und begann damit die Suche zu koordinieren. In Zweiergruppen durchsuchten sie den Komplex, wobei Sentry in den Genuss des zweifelhaften Vergnügens kam, Eric an seiner Seite zu haben. Der reinen Logik folgend, konzentrierten sie ihre Suche auf den unterirdischen Teil der Anlage. Was immer auch an Technologie hier versteckt war, es brauchte viel Platz. Platz, der nicht ganz so offensichtlich wahrgenommen wurde. Die riesigen unterirdischen Getreidespeicher waren hervorragend geeignet, um technologische Schätze aller Art zu verbergen.
Die schiere Größe dieser Speicher erschwerte die Suche. Ein halbes Leben würde vermutlich nicht reichen, um in den dunklen Hallen mögliche Verstecke zu finden, also brachen sie nach einer halben Stunde ihre Suche erfolglos ab.
„Diese Lager sind riesig und vor allen Dingen sind sie dunkel. Wir brauchen ewig hier was zu finden. Wenn wir wenigstens Licht machen könnten.“ Eric klang enttäuscht.
Sie standen im Hangar und zehn Meter über ihnen befand sich ein horizontales Tor, das zur Hälfte geöffnet war. Das Tageslicht fiel herein und hellte das Grau der ursprünglichen Landeplattform etwas auf. Staub und Dreck schluckten die Sonnenstrahlen und ließen die Umgebung wie ein eintöniges Stillleben ohne jegliche Farben wirken. Herumliegende Gesteinsbrocken in allen Größen und Formen erinnerten die beiden daran, dass es jederzeit möglich war, dass sich weitere Bruchstücke über ihnen lösen könnten. Vor unzähligen Jahren war dies der Platz, an dem die Schiffe mit Getreide beladen wurden. Von hier aus nahm es seinen Weg in die Galaxie. Die Dimensionen mussten gigantisch gewesen sein. Vor ihnen lag ein riesiges dunkles Loch, dessen Ausmaße nicht mal ansatzweise zu erahnen waren. Wie weit würde diese unterirdische Halle gehen? Die Schienen auf dem Boden deuteten auf ein komplexes Transportsystem hin, welches das Getreide aus den letzten Winkeln dieses Monstrums hier her transportiert hatte. Allein die Beleuchtung und die Belüftung dieser Halle muss Unmengen von Energie verbraucht haben, denn es gab keinerlei Öffnung in der Decke. Zu allem Überfluss existierte eine zweite Halle auf der anderen Seite des Komplexes, die vermutlich ähnlich riesig war. Was sagte der Doc? Es gab hunderte dieser Stationen. Sentry wurde schwindlig bei der Vorstellung, wie viel Getreide damals auf Lassik vorhanden sein musste. Die Koordinierung eines so komplexen Projektes erschien ihm unmöglich. Plötzlich hatte er keine Zweifel mehr, dass dieses Lager existierte. Es ging einfach unter in diesen Dimensionen. Sie würden es nie finden, selbst wenn sie ein Leben lang Zeit hätten zu suchen.
Nach und nach trafen auch die anderen Gruppen ein und die Gesichtsausdrücke aller Beteiligten spiegelten die Resignation wieder, die auch Sentry erfasste.
„Ich hoffe es gibt noch mehr Anhaltspunkte, ansonsten ist das hier ein Flop.“ durchbrach Dina die bedrückende Stille.
„Ich habe tatsächlich etwas gefunden, was uns eventuell weiter helfen könnte.“ sagte Balta.
„Effizienz war das Credo unserer Vorfahren. Die Menschen, die diesen Planeten erschaffen haben, sind äußerst berechnend vorgegangen. Ich könnte wetten, die haben das hier tausendmal durch simuliert, bevor sie hier nur einen Finger krumm gemacht haben. Dann haben sie die perfekte Lösung umgesetzt, für ein Optimum an Profit. Nichts wurde dem Zufall überlassen. Alles griff perfekt in einander. Werte ohne Verschwendung schaffen, war ihr Motto.“ Für den größten Teil der Gruppe schien diese Rede nur wieder eine dieser Geschichtslektionen zu werden, die sie schon vom Doc hörten, als sie die Zeit im Transporter überbrücken mussten. Nur Sentry lauschte gespannt den Ausführungen, denn er hatte gelernt, wie Balta die Welt sah. Er zog seine Schlüsse aus seinen Beobachtungen und offenbar war ihm wieder etwas aufgefallen, was alle anderen übersahen.
„Einige Dinge scheinen logisch zu sein. Konzentriert euch auf die Sachen, die auf den ersten Blick keinen Sinn ergeben. Dadurch kommen wir dem Geheimnis unter Umständen etwas näher.“ Er schaute jetzt Sentry an, so als würde er ihn auffordern seine eigenen Schlüsse aus der Umgebung zu ziehen.
„Wir haben den Vorteil, dass alles doppelt da ist. Offenbar sahen die Vorfahren das Maximum an Effizienz in der Zahl zwei. Also brauchen wir die beiden Hallen nur vergleichen und die Unterschiede finden.“ Es arbeitete in Balta und Sentry konnte förmlich sehen, wie er die einzelnen Bausteine in seinem Gehirn sinnvoll zusammensetzte.
„In der anderen Halle hatten sie vier Landeplätze im Hangar. Hier gibt es nur drei und dass obwohl genug Platz für vier wäre. Diese Zwischendecke verhindert, dass Schiffe dort landen können.“ Balta zeigte auf eine leer stehende Fläche und tatsächlich, jetzt wo Sentry drauf aufmerksam gemacht wurde, kam ihm dieser Aufbau vier Meter über dieser Fläche sinnlos vor. Es wäre ein leichtes das Hindernis abzureißen und schon hätte man eine effizientere Abwicklung gehabt, also musste dieser Aufbau einen bestimmten Grund haben. Er schaute sich um, wollte seine eigenen Schlüsse ziehen. Da gab es die ehemaligen Büros, in denen vermutlich der Warenausgang bearbeitet wurde, ein Fahrstuhl, der an die Oberfläche führte und eine Treppe, über die sie runter gelangt waren. Nichts Außergewöhnliches. Wenn es einen Grund für die Verschwendung dieses Platzes gab, war er nicht mehr ersichtlich.
„Vielleicht brauchten die Vorfahren mehr Lagerfläche und wollten nicht, dass Schiffe sie blockierten.“ versuchte sich Eric im Kombinieren.
„Zusätzliche Lagerfläche? Bei den riesigen vorhandenen Kapazitäten. Unwahrscheinlich. Aber in einer Sache hast du Recht. Sie wollten nicht, dass da Schiffe landeten.“ Baltas Gehirn lief wieder auf Hochtouren und plötzlich, als hätte ihm jemand den entscheidenden Tipp gegeben, rannte er Richtung Verwaltungstrakt. In freudiger Erwartung, dass er vielleicht den Durchbruch auf ihrer Suche erreicht hatte, folgte ihm die Gruppe. Balta ging Richtung Fahrstuhl. Die uralte Kabine war wohl abgestürzt und befand sich damit zwangsläufig auf der untersten Etage. Wie alles andere in dieser Station, war auch hier jede mögliche Form von Technik geplündert worden. Obwohl es eigentlich nicht viel weiter abwärts gehen konnte, traute sich Balta nicht die Kabine zu betreten.
„Sechs.“ grinste er in sich hinein. Offenbar hatte er das gefunden, nachdem er suchte.
„Dieser Fahrstuhl hielt in sechs Etagen.“ Er zeigte auf längst verblasste Symbole, die in die Konsole der Bedienung eingestanzt waren. In dem Moment kam auch Sentry die Erleuchtung. Drei Etagen im Gebäude auf der Oberfläche, dazu das Erdgeschoß und der Schiffshangar. Wo zum Teufel fuhr das Ding denn noch hin? Er schaute rüber zu Balta und der zeigte mit dem Daumen nach unten. Plötzlich wusste er um das Geheimnis dieser ominösen Fläche. Statik, simple Statik. Die Vorfahren wollten nicht, dass dort drüben Schiffe landeten, weil es einen weiteren Bereich darunter gab.
„Schön. Und wie soll uns das weiter helfen?“ Eric stand die Erleuchtung noch bevor.
„Tja, Leute die nur bis drei zählen können, bekommen bei der Sache natürlich Probleme.“ nutze Dina die Vorlage für eine ihrer Spitzen.
„Keine Treppe. Scheinbar ist der einzige Zugang über diesen Fahrstuhlschacht.“ Balta klopfte mit der Fußspitze auf den Boden der Kabine. Die gab sofort ein Stück nach.
„Das Ding steht kurz vorm Absturz. Die Sicherungen sind wohl nicht auf tausend Jahre ausgelegt.“ fuhr Balta fort.
„Dann lassen wir es abstürzen und klettern hinterher.“ Sentry war jetzt in Entdeckerlaune. Was immer da unten auch sein mag? Ein Raumschiff würde er vermutlich nicht vorfinden. Trotzdem. Die beste Option, die sie derzeit hatten, war unterhalb dieser Stellfläche.
Balta trat weiter mit dem Fuß auf die Bodenplatte der Kabine ein. Es dauerte nicht lange und der Fahrstuhl kam ins rutschen. Unglücklicherweise verkeilte er sich etwa zwei Meter unter ihnen.
„Das war noch nicht das Ende. Ich klettere runter und mach weiter.“ sagte Balta. Gesagt getan, aber trotz mächtiger Tritte schien der Fahrstuhl fest zu hängen.
„Dann müssen wir wohl durch den Fahrstuhl durch.“ Balta sprang jetzt auf das Dach der Kabine, öffnete die Dachluke und verschwand im Inneren.
„Der ist doch wahnsinnig. Ich werde da auf keinen Fall mit runter.“ Eric hatte sichtlich Angst.
„Da unten gibt es vermutlich mehr Technik, als du je in deinem Leben gesehen hast. Wenn du dir das entgehen lassen willst, deine Sache. Wie heißt es so schön. Angst geht vorüber, Bedauern hält ein Leben lang.“ Damit wagte sich Dina an den Abstieg. Ihr folgten Sentry und Eva. Selbst der Doc schien, trotz seines fortgeschrittenen Alters, relativ furchtlos und mit ein wenig Hilfe von Baltas Männern, überstand er den Abstieg schadlos. Nachdem nur noch einer von Baltas Leuten bei Eric war, siegte dessen Angst vor dem Allein sein im Hangar, über die Angst den Fahrstuhl auf den Kopf zu bekommen. Er stellte sich nicht besonders geschickt an im Abstieg, aber glücklicherweise war die Kabine so verkeilt, dass trotz der miserablen Kletterkünste von Eric, der Lift nicht zu ihrem Grab wurde. Durch ein Loch in der Bodenplatte betraten sie unbekannte Dunkelheit.
Etwa drei Meter unterhalb des verkeilten Fahrstuhls war der Ausstieg in die unterste Etage. Die Türen ließen sich leicht öffnen. Die Luft war stickig und ein dunkler gespenstisch wirkender Gang von etwa fünf Metern Tiefe lag vor ihnen. Im Licht der mitgebrachten Lampen konnten sie eine Tür am Ende erkennen. Durchbrach im Hangar durch das offene Tor der Wind ab und an die Stille, war es hier komplett ruhig. Bei elf Leuten in einem 1.50m breiten Gang, stellte sich automatisch ein klaustrophisches Gefühl ein. Das Ganze hatte etwas von einem Gemeinschaftssarg.
„Da ist ja der Türöffner.“ entfuhr es Balta. Er legte seine Hand auf eine unscheinbar wirkende Platte an der rechten Wand. Ein rotes Licht blinkte ihm entgegen.
„Yeah, offenbar darf hier nicht jeder rein. Das lässt einiges Gutes erwarten auf der anderen Seite.“ frohlockte Balta. Die Anspannung war enorm. Sie standen unmittelbar vor ihrem großen Ziel.
„Ich probier mal mein Glück.“ In diesem Moment war sich Sentry selbst nicht sicher, ob seine Fähigkeiten auch auf Türöffner wirkten.
Im Gegensatz zu Balta wurde sein Versuch mit einem grünen Dauerlicht quittiert. Ein kurzes Klack aus Richtung der Tür und schon stand sie einen Spalt weit offen. Das kurze Gefühl der Überlegenheit auf Grund seiner Fähigkeiten wischte er weg. Arroganz konnte er jetzt gar nicht gebrauchen. Der Neugierde allerdings, ließ er freien Lauf.
Die Tür war massiv. Fast zehn Zentimeter dick und Baltas Leute hatten ordentlich zu tun sie aufzudrücken. Im Regelfall wurde diese Tür durch einen hydraulischen Antrieb geöffnet. Aus Mangel an Energie musste Muskelkraft herhalten. Alle waren gespannt, was sich hinter der Tür befand. Nur Eric starrte weiter auf die Platte des Türöffners.
„Was stimmt denn nicht?“ fragte Eva.
„Es hat eine externe Energiequelle.“ sagte Eric grübelnd.
„Ja und?“ fragte Eva zurück.
„Ich habe mein halbes Leben mit Technik verbracht. Solche Energiespeicher halten bei minimalen Verbrauch höchstens zehn Jahre, dann müssen sie aufgeladen oder ersetzt werden.“ Er grübelte weiter.
„Willst du damit sagen, dass jemand vor kurzem hier war und die Batterien getauscht hat. Das ist unmöglich.“ Eva bezweifelte ihre eigene Theorie.
„Verdammte Vorfahren. Vielleicht schaffen sie es auch nur das Ding auf eine uns unbekannte Art und Weise aufzuladen. Wir sollten da nicht soviel reininterpretieren.“ Eric wollte nicht paranoid gegenüber Eva wirken und ließ damit die Sache auf sich beruhen.
Als Anführer ließ es sich Balta nicht nehmen die Tür als erstes zu durchschreiten. Wenig überraschend registrierte er, dass auf der anderen Seite sich ebenfalls nur Gänge befanden. Zwei Schritte und er stand an einer T-Kreuzung. Der Gang rechts war verschüttet und das beklemmende Gefühl, dass der Hangar über ihm zu seinem Grab werden könnte, griff auch auf alle anderen über. Vor ihm konnte er das Ende nicht erkennen, aber rechts und links des Ganges befanden sich Türen. Im schlimmsten Falle handelte es sich um einen weiteren Bürokomplex. Der breitere Gang zu seiner Linken endete nach etwa fünf Metern an einem großen Tor. Sentry versuchte sich zu orientieren. Die Sperrfläche über ihnen befand sich etwa zweihundert Meter zu ihrer Linken, also sollte sich nach Baltas Theorie ein großer Teil dieser Etage dort befinden. So verwunderte es nicht, dass sich die Gruppe nach links orientierte.
Wieder legte Sentry die Hand auf eine Platte neben der Tür, aber dieses Mal gab es überhaupt keine Reaktion.
„Keine Energie. Einen Moment, das haben wir gleich.“ Erics Lichtkegel verschwand in dem Gang, aus dem sie gerade gekommen waren und wenig später tauchte er mit der Energieversorgung der ersten Platte wieder auf. Zwei, drei Handgriffe und schon ging die Tür bei einem erneuten Versuch auf.
Das Tor öffnete sich diesmal ohne große Anstrengungen. Sentry konnte es kaum glauben, aber die Luft die ihnen entgegenkam, war noch um einiges staubiger. Offenbar hatten sie den Luftzug unterschätzt. Wenn er es nicht besser wüsste, würde er meinen auf der anderen Seite hätte jemand tausend Jahre auf den perfekten Moment gewartet, um ihnen einen Sack voll Dreck entgegen zu schleudern. Instinktiv bedeckte jeder der Anwesenden sein Gesicht.
Als sich der Staub ein wenig gelegt hatte, setzte sich die Erkenntnis durch, dass ein herumirren im Dunkeln viel zu gefährlich war. Sie mussten den Kontrollraum finden und versuchen die Energieversorgung zu reaktivieren.
Dina hatte Eric nicht zuviel versprochen. Bei der Durchsuchung der Räume im schmalen Gang, offenbarte sich ihm sein persönliches Paradies. Da es hier unten keine Möglichkeit auf Plünderungen gab, war alles noch komplett vorhanden. Unter dicken Staubschichten stapelte sich die Rechentechnik. Wie ein Kind im Süßwarenladen, konnte er es nicht erwarten die Lampen und Monitore wieder zum blinken zu bekommen. Die Gruppe musste ihn förmlich zügeln in den halb verfallenen Räumen nicht unnötige Risiken einzugehen. Die Frage war nur, wie weit alles noch einsetzbar war? Eine Antwort darauf würde es nur geben, indem sie die geothermische Energieversorgung reaktivieren.
„Zentrale Energiever…..“ verkündete das Schild an einer der Türen und es brauchte nicht viel Fantasie, um den verloren Rest dazu zu dichten. Sie hatten also Glück, dass der Kontrollraum sich nicht in dem verschütteten Gang befand.
„Heureka“ jubelte Eric und bevor ihn die Anderen daran hindern konnten, hatte er den Raum schon betreten.
„Licht. Ich brauche Licht. Kommt her mit euren Lampen.“ In seiner Begeisterung merkte er gar nicht, dass er eigentlich nicht in der Position war Anweisungen zu geben. Nur die Neugierde aller Anwesenden, ließ ihn den Kommandoton durchgehen.
„Das muss der Leitrechner sein. Den müssen wir wieder flott kriegen.“ Eric zeigte aufgeregt auf ein eingestaubtes Terminal.
„Du scheinst dich damit auszukennen.“ Zum ersten Mal hatte Dina nix spöttisches in ihrer Stimme, als sie zu Eric sprach.
„Natürlich. Diese Rechentechnik ist legendär. Hätte nie gedacht, dass ich mal vor einem Evonix-System stehe. Das Beste, was die Vorfahren je gebaut haben. Ich kenne jeden Schaltkreis von diesem Ding. Ich hab jeden verfügbaren Text darüber gelesen. Es gibt vermutlich keinen zweiten, der sich so gut damit auskennt.“ Seine Stimme überschlug sich förmlich vor Stolz.
„Um es wieder in Gang zu kriegen, brauchen wir eine externe Energiequelle. Sozusagen Starthilfe.“ Er schaute in Richtung Balta.
„Ich nehme mal an die Batterie aus der Öffnungsplatte wird da nicht reichen.“ entgegnete dieser.
„Natürlich nicht. Was glaubst du denn, was wir hier haben? Eine Spielkonsole? Das ganze ist viel komplexer, als so ein Türöffner.“ Jetzt erst merkte Eric mit welcher Arroganz er Balta gerade bedacht hatte und als ihm diese Erkenntnis kam, bereute er umgehend das Gesagte.
„Ich wollte damit nicht sagen, dass…“ wieder fehlten ihm die passenden Worte. Balta kam auf ihn zu und hielt ihm den Lichtkegel seiner Lampe genau ins Gesicht.
„Würde eine der Batterien unseres Transporters das Problem lösen?“ Die Warnung in der eigentlich harmlosen Frage war unüberhörbar und verfehlte ihre Wirkung nicht. Eric schlotterten die Knie. Trotzdem bestanden erhebliche Zweifel über die Haltbarkeit dieser Einschüchterung. Es war seine Art des sozialen Umgangs und nur wenn er sich stark konzentrierte, konnte er das Schlimmste verhindern. Aber Konzentration in diesem Umfeld von massenhaft vorhandener Technik war fast unmöglich und so war der nächste Ärger vorprogrammiert.
„Ja, das würde wahrscheinlich gehen.“ Eric war sich nicht bewusst, dass er fähig war mit einer so dünnen Stimme zu antworten. Ein paar kurze Anweisungen und schon waren zwei von Baltas Männer verschwunden, um den Transporter auszuschlachten. Es dauerte dreißig Minuten bis sie wieder auftauchten und weitere zehn, bis Eric alles angeschlossen hatte. Jetzt stand er davor und begutachtete sein Werk.
„Na dann los, schalt es ein.“ Balta wirkte anhand des Zeitverlustes und der ständigen Gefahr, dass die Inc. jeden Moment auftauchen könnte, ungeduldig.
„Er kennt zwar jeden Schaltkreis, aber wo sich der Hauptschalter befindet, das stand wohl in keinem Buch.“ spöttelte Dina wieder in bekannter Tradition.
„Verdammt. Das war so explizit nicht beschrieben. Ich hatte mit so einer Art roten großen Knopf gerechnet, auf dem „Ein“ drauf steht.“ rechtfertigte sich Eric. Balta schaute auf das Bedienfeld des Leitrechners. Er drückte wahllos auf einigen Feldern rum und tatsächlich schaffte er es den Rechner zu starten. Zuerst sprangen die Lüfter an, dann erleuchteten die Lampen auf dem Display und nach und nach blinkte die ganze Konsole.
„Ist wie bei meiner Spielkonsole. Einfach drücken.“ sagte er hämisch. Eric verkniff sich eine Antwort, zu frisch wirkte die Warnung von vorhin noch nach.
„Ok. Der Leitrechner ist online. Ich schalte jetzt die einzelnen Systeme dazu. Fangen wir an mit dem Start der Turbinen.“ Er tippte mit dem rechten Zeigefinger auf das Display. Nur ein kurzes „piep, piep“ ansonsten passierte nichts.
„Hätte mich auch gewundert nach so langer Zeit. Das heißt, wir versorgen alles nur aus dieser Batterie.“ Eric genoss es im Mittelpunkt zu stehen.
„Bekommst du das Licht an?“ fragte Balta. Eric drückte auf eine andere Stelle des Bedienfeldes. Über ihnen zerbarst eine der Leuchtmittel und ließ die Gruppe kurz zusammen zucken. Glücklicherweise erwiesen sich andere Leuchten als robuster, so dass der Raum in ein trübes Licht getaucht wurde. Ganze drei Lampen waren noch aktiv und diese beleuchteten den elendigen Zustand. Ein riesiger Monitor befand sich an der Wand, vor dem schön aufgereiht etwa zwanzig eingestaubte Rechnerarbeitsplätze standen, wohl alle dafür gedacht, die Energieversorgung für den Komplex zu sichern.
„Mehr geht nicht. Es sei denn ihr habt Ersatzbirnen mit.“ sagte Eric.
„Wie lange bis uns der Saft ausgeht?“ fragte Balta.
„Sechs Stunden, dann ist hier alles wieder dunkel.“ antworte Eric eingeschüchtert.
Sie verließen den Kontrollraum und begaben sich wieder zu dem Tor, das sie zwar öffnen konnten, aber auf Grund der schwarzen Leere dahinter nicht durchschritten hatten. Die Gänge waren mehr als spärlich beleuchtet. Die wenigen funktionierenden Lampen flackerten vor sich hin und verstärkten den eh schon beklemmenden Eindruck der Klaustrophobie. Sie passierten das Tor und betraten eine riesige Halle. Die funktionierenden Lampen waren hier ungleich verteilt. Während zu ihrer Linken fast alles komplett im Dunkeln lag, war die rechte Seite ordentlich beleuchtet. Das Licht fiel auf zwei Dampfturbinen, die ursprünglich für die Stromversorgung der Anlage vorgesehen waren. Auch hier war die Staubschicht so dick, dass nur die Umrisse auf die eigentliche Funktionalität hinwiesen. Die Luft war immer noch schlecht und das Atmen fiel allen sichtlich schwer, also beschränkte sich die Kommunikation auf das Wesentliche.
Die Turbinen ragten etwa dreißig Meter in die Halle hinein und bildeten den Kontrast zu den unzähligen Kisten, die sich dahinter auftürmten. Es war unmöglich zu erkennen, wie viel da in der Tiefe an Schätzen auf sie wartete, da praktisch jeder Quadratzentimeter bis zur Decke zugestellt war. Die Anspannung stieg, denn die Gruppe war sich sicher, unter der Plane war das, was sie suchten.
„Wenn wir die Plane einfach wegziehen, können wir vermutlich gar nicht mehr atmen.“ Balta fuhr mit den Fingern über die staubbedeckte Abdeckung. Sie beschlossen wenigstens einen Teil freizulegen, um sicher zu gehen, dass sie wirklich die erwartete Technik vorfinden würden. Während zwei von Baltas Männern die Plane vorsichtig anhoben, zogen zwei weitere ein Gerät hervor, das auf den ersten Blick als Kleiderschrank der Vorfahren durchgehen würde. Was immer auch sich Rechts und Links an diesem Monstrum befand, es war eingehaust, während sich in der Mitte eine Aussparung befand, in der locker ein Mensch aufrecht stehen konnte.
„Was ist das?“ fragte Eva allgemein in die Runde, die Antwort wurde allerdings von Eric erwartet.
„Ich habe keine Ahnung. Ein Kühlschrank, ein Teleporter. Vielleicht einfach nur eine beleuchtete Umkleidekabine.“ Eric war ratlos.
„Da drüben ist ein Energieanschluss. Wenn wir es da rüber räumen, könnten wir es mal einschalten.“ Er brannte darauf es auszuprobieren.
Baltas Männer schleiften den Klotz etwa zwanzig Meter, bis sie in der Nähe des Anschlusses waren. Wieder ein paar Handgriffe von Eric und der Apparat war verkabelt. Eine einzelne rote Leuchte glimmte auf. Sentry drückte seinen Daumen auf die vorgesehene Stelle und schon war die Bedienkonsole hell erleuchtet.
„Bitte Programm laden.“ ertönte eine mechanische Stimme.
„Mal sehen, was wir hier haben.“ Eric drückte auf dem Bedienfeld ein paar Tasten.
„Sieht aus wie ein großes Unterhaltungsangebot. Spiele, Filme, Wissen, Sex.“ Ohne zu zögern wählte er die letzte Option.
„Bitte Brille aufsetzen und die Kabine betreten.“ forderte die mechanische Stimme auf. Alle schauten sich um, aber eine Brille war nicht vorhanden.
„Dann ohne.“ In der Erforschung von Technik schien Eric keine Angst zu kennen. Er betrat die Kabine und so wie er da stand, aufgeregt wartend auf die Dinge, die da auf ihn zukommen würden, wirkte er wie jemand in einem Fahrstuhl, der ungeduldig auf das Schließen der Türen hinfieberte.
„Programm gestartet.“ Unwillkürlich machte die Gruppe einen Schritt rückwärts.
„Ohne Brille scheint das Ding wohl nicht zu funktio... Ohhooo.“ Eric sprang regelrecht aus der Kabine und klopfte sich mit den Händen auf die Oberschenkel. Er machte den Eindruck, als würde er etwas verscheuchen wollen.
„Verdammt. Wer hat mir da gerade in den Schritt gefasst?“ Panisch schaute er Dina an.
„Mit Sicherheit nicht.“ antwortete diese. Der Doc klärte die Gruppe mit einer weiteren Geschichte aus längst vergangenen Zeiten auf.
„Das ist ein großer Zauberkasten. Virtuelle Realität. Dieses Gerät simuliert deine Rezeptoren. Wenn du was berührst oder dich etwas berührt, reagieren die und geben die Signale an dein Gehirn weiter. Irgendwie schafft es dieser Kleiderschrank auch ohne Rezeptoren die bestimmten Bereiche zu stimulieren, so dass du glaubst, du wurdest berührt. Mit der Brille gäbe es vermutlich auch noch die passende Optik dazu. So hast du das Gefühl, ein Geist hätte dich angefasst.“
„Ein Jammer. Da berührt dich schon mal eine Frau da unten und du weißt nicht mal, wie sie aussieht.“ stichelte Dina erneut.
„Das muss ich weiter testen.“ Eric war entschlossen wieder in den Apparat zu steigen. Balta hielt ihn am Arm zurück.
„Da fuhrwerkt tausend Jahre alte Technik in deinem Kopf herum. Sei froh, dass das Ding nicht Wabbelpudding aus deinen Gehirnwindungen gemacht hat. Außerdem brauchen wir jedes bisschen Energie für ...“ Balta hielt inne. Offenbar hatte etwas seinen inneren Alarm ausgelöst.
Sentry merkte es als nächstes. Es war die Art und Weise wie sich Baltas Männer bewegten. Langsam, aber bedacht, nahmen sie bestimmte Positionen ein. Zwei von ihnen rahmten Sentry ein, während sich jeweils einer hinter Dina und Balta positionierten. Sie kreisten sie ein, aber für was? Einen Angriff? Warum hatten sie dann aber Balta im Visier? Ihr Vorhaben war noch nicht komplett, aber da sie aufgeflogen waren, mussten sie reagieren.
„Keiner bewegt sich.“ Ein kahl geschorener Muskelberg mit tiefer Stimme und grimmigen Blick übernahm die Kontrolle des Geschehens. Seine gezückte Pistole untermauerte seine Absichten. Offensichtlich rebellierten sie gegen Balta.
„Der Zeitpunkt ist wie immer schlecht. Ich hätte gewartet, bis wir was wirklich Sinnvolles gefunden haben.“ Balta schien nicht überrascht.
„Schnauze.“ brüllte der Anführer. Er wirkte leicht überfordert mit der Situation.
„Los, wir bringen sie raus. Gunter müsste jeden Moment hier sein.“ Also hatten sich die Spielregeln erneut geändert. Balta hatte nun alle gegen sich. Die Ruhe, die er dabei ausstrahlte, war verblüffend. Entweder markierte er nur den Abgebrühten oder er hatte mit so etwas gerechnet. So wie Sentry Balta bisher kennengelernt hatte, war die letzte Variante wahrscheinlicher.
Er kannte auch Dina und die Gefahr, dass auf Grund ihrer impulsiven Art sich die Situation zuspitzen würde, war ziemlich groß. Sie war gerade erst der Gefangenschaft entkommen und die Aussicht auf den erneuten Verlust ihrer Freiheit würde sie gewisse Risiken eingehen lassen. Sentry war angespannt und erwartete daher nichts Anderes als eine Eskalation der Situation. Die Gelegenheit für sie ergab sich, als ihr Bewacher sie an den Unterarm griff, um sie zur Bewegung anzutreiben. Der Letzte, der dies versuchte, endete als Organspender und so befürchtete Sentry auch diesmal das Schlimmste. Wie damals auf Rubys Schiff, galt ihr Angriff erneut dem Arm ihres Angreifers, aber ihr Gegenüber stellte sich geschickter an, als seiner Zeit Björn. Er wich dem Konter gekonnt aus und revanchierte sich seinerseits mit einem gezielten Schlag ins Gesicht für den Versuch.
„Dann auf die harte Art.“ kommentierte der Sieger den gescheiterten Versuch. Er zog Dina an den Haaren Richtung Ausgang.
Die Abtrünnigen hatten einen entscheidenden Nachteil. Sie waren reine Befehlsempfänger. Damit waren sie berechenbar und durch Baltas Gabe, die Dinge schnell zu durchschauen und sie zu seinem Vorteil auszulegen, bestand die Gefahr, dass sie trotz der Überzahl schnell ins Hintertreffen geraten konnten. Von daher war es nicht verwunderlich, dass sie die Verantwortung schnellst möglich wieder loswerden wollten. Die Eile, mit der sie alle entwaffneten und an die Oberfläche zurücktrieben, ließ darauf schließen, dass sie sich dieses Nachteiles bewusst waren. Sie hatten ordentlich Respekt vor ihrem ehemaligen Anführer und scheinbar war dieser Gunter derjenige, dem sie es zutrauten mit ihm fertig zu werden.
Wieder zurück im Sonnenlicht der Oberfläche bot sich ihnen ein neuer Anblick. Ein Flugtransporter war gerade am landen und ihm entsprangen ein Dutzend bewaffnete Soldaten. Sie trugen die Uniform der Inc. Also kamen sie schneller als befürchtet hinter Baltas Pläne. Resignierend wurde Sentry bewusst, dass sie verloren hatten. Er wäre vermutlich der Einzige, der überleben würde, aber was für ein Leben wäre das? Ein Dasein als Versuchskaninchen in einem Labor, in dem man ihn Stück für Stück sezieren würde. Es würde nicht lange dauern und sie hätten seine Selbstheilungskräfte erkannt und dann wäre das Erste, was er ertragen müsste, das Ausloten der Grenzen dieser Gabe. Ihm kam unweigerlich sein elendiger Zustand auf Prem in den Sinn, als ihm eine halbe Ruine um die Ohren flog. Wieder fragte er sich, ob er auch sterben könne.
Bei Gunter handelte es sich um die rechte Hand von Balta. Es war jene unauffällige Person, die sie vor zwei Tagen auf dem Schwarzmarkt in Empfang genommen hatte. Zwischen den ganzen Soldaten wirkte er vollkommen deplaziert, zumal der Mann an seiner Seite, ihn förmlich erdrückte, mit seiner autoritären Ausstrahlung. Die dominante Art, in der er Befehle von sich gab, verriet ihn als Anführer. Ein Offizier namens Dart. Als Eva seinen Namen vernahm, verkrampfte sie innerlich. Sie war ihm vorher nie begegnet, aber für den Tempel war er der personifizierte Antichrist. Der Führer hatte ihn in seiner unnachahmlichen Art für all die Probleme verantwortlich gemacht und ihn zum erbitterten Widersacher aufgebaut. Angefangen mit der Vertreibung aus der Hauptstadt, was natürlich Darts egoistischer und dekadenter Einstellung geschuldet war, über das elendige Dasein, was sie zwang im Wald zu leben, bis hin zu möglichen bewaffneten Konflikten, in denen er in vorderster Front jedes einzelne Tempelmitglied in den Tod schicken würde. Es verging keine Predigt, in der nicht sein Name im Zusammenhang mit Niedertracht und Verrat fiel. Ein Automatismus in ihrem Gehirn lief an und sie hasste diesen Mann aus tiefstem Herzen. Sie fühlte sich zurück versetzt in die Ruine, als sie die Waffe auf diesen Widerling Dirk richtete. Damals ging es um ihr Leben und trotzdem haderte sie mit ihrer Entscheidung. Die Reue über ihre Tat wird sie ein Leben lang begleiten und ein Gefühl der Schande überkommt sie jedes Mal bei dieser eingebrannten Erinnerung. In ihrer Vorstellung ersetzt sie Dirks Gesicht mit dem von Dart und der indoktrinierte Hass gaukelt ihr die Notwendigkeit vom Töten vor. Ihr verdrehtes Unterbewusstsein rechtfertigt das Anwenden von Gewalt und zeigt ihr einen scheinbar bequemen Ausweg. Vor ihr stand kein Mensch. Vor ihr stand das personifizierte Böse und anders als auf Prem, hätte sie keine Skrupel ihn zu töten.
„Gunter, wie ich sehe hast du dir neue Freunde gesucht. Offensichtlich reicht dir das Leben im Überfluss von Geld, Nahrung und Frauen nicht mehr. Glaubst du etwa, du kannst den Laden besser schmeißen als ich.“ Balta klang wenig aufgeregt hinsichtlich des Verrates.
„Wir hatten ja schon immer unsere Differenzen, was das optimieren unserer Profite angeht.“ Gunter antwortete ihm mit buchhalterischer Langeweile.
„Was willst du denn ändern? Drogenschmuggel und Kinderprostitution einführen. Ich habe dich immer gut behandelt. Wir hatten mehr Geld als wir ausgeben konnten, haben uns fette Bäuche angefressen und mit Frauen geschlafen, die uns im Normalfall nicht mal angeschaut hätten. Willst du mehr Geld und Macht? Was nützt es dir in Zukunft am Kopf der Tafel von goldenen Tellern zu essen, wenn du Pädophile oder Leute wie ihn am Tisch sitzen hast.“ Balta klang jetzt aufrichtig enttäuscht.
Gunter antwortete nicht mehr, denn Dart übernahm das Reden. Mit der Entschlossenheit, mit der er die Sache anpackte und die schnellen entscheidenden Maßnahmen, die ihm seine uneingeschränkte Autorität sicherten, ließen Gunter an seiner Seite wie ein ergebendes Hündchen wirken. Die durchtrainierten 1.85m, der keine Zweifel zulassende Gesichtsausdruck, aber vor allen Dingen sein scharfer Kommandoton, unterstrichen seinen Führungsanspruch.
„Genug. Gunter sie kommen mit mir. Welcher ist der mit dem genetischen Schlüssel?“ Kurze knappe Anweisungen und schon sprang ehrfurchtsvoll die halbe Truppe.
„Er kommt auch mit. Doc Sie kommen ebenfalls mit.“ Er ging voran, gefolgt von drei seiner Leute und den aufgerufenen Personen.
Der eingestürzte Fahrstuhl wurde weiter frei gelegt, so dass mit Hilfe einer Leiter der Einstieg in die unterirdisch gelegene Energieversorgung einfacher gelang, als bei ihrem ersten Abstieg. Es herrschte respektvolles Schweigen, dass nur gelegentlich durch kurzes knappes Fragen nach dem Weg unterbrochen wurde.
Sentry fühlte sich wie ein Zootier, dass man in die Manege führte, um seine Kunststücke zu zeigen. Vielleicht würde der Goldesel ein paar Möhren bekommen, wenn er zur Zufriedenheit seines Dompteurs funktionierte, aber seine Freiheit war für immer dahin. Dementsprechend deprimiert folgte er Dart in die Tiefe. Die Trennung von der Gruppe trat sein Übriges. Er hatte sich die letzten Tage an ihre Gesellschaft gewöhnt und das ungewisse Schicksal über ein Wiedersehen, versetzte ihn in Unruhe. In dieser für ihn unbekannten schrecklichen Welt waren sie so etwas wie Freunde für ihn geworden, auch wenn keiner von ihnen ähnliche Gefühle für ihn aufbrachte. Trotzdem brauchte er die Illusion, um nicht endgültig in Angst und Wahnsinn zu verfallen.
Es dauerte nicht lange und sie standen wieder vor dem Kleiderschrank, in dem Eric seinen Selbstversuch gestartet hatte. Dart kommandierte Befehle in sein Funkgerät und zehn Minuten später tauchten einige seiner Leute mit einer weiteren Energiequelle auf. Sie schlossen ein paar Lampen an und plötzlich war die Halle hell erleuchtet. Der bisher dunkle Bereich entpuppte sich als Laborkomplex. In den Trennwänden befanden sich große Scheiben, die den Blick auf komplizierte Gerätschaften freigaben. Selbst einem Laien wie Sentry war klar, dass es sich um außergewöhnliche Spezialgeräte handelte.
Warum sollte man ein Krankenhaus tief unter der Erde bauen? Offensichtlich waren diese Räume nicht dafür gedacht Patienten zu behandeln. Sentry erinnerte sich an eine der Geschichten, die ihnen der Doc auf dem Weg hierher erzählte. Lassik war die Kornkammer der Galaxie. Die Vorfahren gingen sogar so weit, dass sie ihr Getreide genetisch veränderten. Sind sie hier auf eines der Forschungslabore gestoßen? Es würde Sinn machen. Sicherlich waren die Ergebnisse zu der damaligen Zeit hochgeheimes Wissen. Wissen, was solch hohe Sicherheitsmaßnahmen rechtfertigte.
Dart ignorierte die bis an die Decke gestapelte Technologie und steuerte direkt auf die Labore zu. Mit den Händen abgeschirmt, presste er sein Gesicht an eine der Scheiben und entdeckte den Zugang links von sich. Mit Hilfe von Sentrys Fähigkeiten überwanden sie die genetische Sperre und wenige Sekunden später standen sie im ersten Labor.
„Wir hatten eine Abmachung.“ Gunter wirkte alles andere als fest entschlossen Dart mit diesem Einwand zu konfrontieren.
„Nehmen Sie den Plunder da draußen und dann verschwinden Sie.“ entgegnete dieser eher beiläufig.
„Ohne ihn ist das Zeug nicht viel wert. Wir brauchen ihn.“ Gunter wirkte jetzt deutlich fordernder.
„Wenn ich es für angebracht halte, werden Sie ihn bekommen. Solange bleibt er bei uns.“ Die Verachtung war nicht zu überhören. Gunter war ihm lästig und die Warnung, ihn nicht weiter zu nerven, schwang mit jedem seiner Worte mit.
Hatte Dart Sentry bisher ignoriert und in ihm nicht mehr als ein Werkzeug gesehen, wurde sein Interesse durch den Besitzanspruchs Gunter geweckt.
„Vor zwei Jahren sind wir auf diesen unterirdischen Komplex aufmerksam geworden. Recherchen ergaben, dass es sich hier um ein Forschungslabor der Vorfahren handeln musste. Seitdem haben wir Szenarien entwickelt, wie wir hier reinkommen, ohne dass uns das Alles endgültig einstürzt. Ehrlich gesagt gab es Nichts, was halbwegs viel versprechend war. Das Risiko schien uns immer viel zu hoch. Gerade in dem Moment, indem wir bereit waren das genau jenes Risiko einzugehen, viel uns eine Alternative buchstäblich vom Himmel.“ Er zeigte auf Sentry, als Bestätigung dafür, dass er die Lösung seiner Probleme war.
„Wir waren immer einen Schritt zu spät um euch zu kriegen. Schon die Herkunft der Blutprobe zu ergründen, dauerte zu lange. Dummerweise ist uns der Tempel auch noch zuvor gekommen und die haben es dann ordentlich versaut. Ihre sogenannte militärische Elite hat euch doch erst die Flucht ermöglicht. Unser Spitzel hat sich bedauerlicherweise auch nicht rechtzeitig melden können, sonst hätten wir die Insel einfach überrannt. Euer Fluchtboot haben wir gefunden, wieder ohne euch. Dann hatten wir endlich den Gemischtwarenhändler als den Boten der Blutproben ausgemacht. Wer war nicht da? Ihr. Also ließen wir ihn laufen, in der Hoffnung, dass er uns zu euch bringt. Ein Fehler wie sich im Nachhinein herausstellte. In dem Augenblick, in der unsere gesammelte Inkompetenz das ganze Projekt zum Scheitern bringen würde, da kam Gunter mit seinem Verrat. Stellt euch meine Freude vor, als ich erfuhr, dass ihr ausgerechnet hier her wollt. Nach all den vergeblichen Anstrengungen brauchten wir die Dinge nur noch laufen lassen.“
Sentry folgte den Ausführungen mit keiner großen Aufmerksamkeit. Zu viele dieser selbstgefälligen Monologe musste er schon ertragen. Ob Kain, Balta und nun Dart. Das Bedürfnis machthungriger Anführer ihre Erfolge zu glorifizieren, wurde auf die Dauer langweilig und so war es ihm eine Genugtuung dieses Geltungsbedürfnis zu kontern.
„Ich bin noch nicht lange auf dieser Welt, aber scheinbar wollen hier alle am großen Rad drehen. Sie sind nicht der Einzige, der hinter mir her ist und ehrlich gesagt die Tatsache, dass Sie einfach Glück gehabt haben mich zu erwischen, zeugt von nicht viel Talent. Ich gehe davon aus, dass Sie nicht lange Freude an mir haben werden. Also tun Sie das, was Sie tun müssen. Wer weiß, wie viel Zeit Ihnen noch bleibt?“ Die vorlaute Art verfehlte ihre Wirkung nicht. Obwohl Dart keinerlei Regung zeigte, war klar das Sentry tief im Inneren einen wunden Punkt getroffen hatte. Er fühlte sich gut, denn zum ersten Mal hatte er sich gegen einen seiner Besitzer gewehrt. Arroganz ist eine starke Waffe gegen Überlegende und in seiner Situation, in der er unverzichtbar war für Dart, schien es genau das richtige Mittel um zu zeigen, dass er bereit war, mehr als das von ihm erwartete Werkzeug zu sein. Instinktiv wusste er, dass es der richtige Moment war, um Stärke zu zeigen. Der ängstliche Sentry, der auf Reds Schiff das Licht der Welt erblickte, nahm immer mehr Eigenschaften seines geheimnisvollen Vorgängers an. Ein Gefühl von Schizophrenie machte sich in ihm breit. Er musste mental stabil bleiben und das ging nur, in dem er die unbekannte Persönlichkeit in sich genauso akzeptierte, wie den von wenig erfreulichen Erfahrungen geprägten Sentry. Die Herausforderung bestand in der richtigen Zuordnung seiner Instinkte und Eingebungen. Es war eine Frage des Vertrauens an sein unbekanntes Ich.
„Mir wird es eine Freude sein, die sechs anderen Funktionen zu erforschen.“ erwiderte Dart drohend und degradierte damit Sentry wieder zu einem nützlichen Ding.
„Was haben Sie hier eigentlich vor?“ mischte sich der Doc ein.
„Können Sie was mit diesen Apparaturen anfangen?“ fragte Dart zurück.
„Pipetten, Reagenzgläser, Elektronenmikroskope, Zentrifugen. Das sieht alles nach Erbgut verändernden Forschung aus. Etwas, was Ihren Horizont weit überschreitet. Selbst wenn Sie das hier alles zum Laufen bekommen würden, gäbe es auf ganz Lassik Niemanden, der auch nur annähernd den Grips dazu hätte, dass Alles zu nutzen. Das Zeug da draußen ist viel wertvoller. Also was wollen Sie damit?“ erwiderte der Doc.
„Lassen Sie das unsere Sorge sein.“ Dart signalisierte ihm damit, dass er an einer Erklärung nicht interessiert war.
Sentry öffnete weitere Labore, die sich nicht grundsätzlich zu dem ersten unterschieden. Es gab jedesmal zwei oder drei Rechnerarbeitsplätze, jede Menge Reagenzgläser, komplizierte medizinische Geräte, dessen Funktion sich einem Laien nicht erschloss, sowie immer mindestens einen Kühlschrank, indem vermutlich Proben aufbewahrt wurden. Der Doc hatte Recht. Selbst wenn das Alles noch funktionieren sollte, wer hätte Interesse an solch kompliziertem Spielzeug.
Zwei Dutzend dieser Labore hatte er freigelegt und auch diese Femtos verlangten ihren Tribut. Offenbar war der Energieverbrauch auf Grund der Menge der zu öffnenden genetischen Verschlüsselungen enorm gewesen. Da Sentry die einzige Energiequelle war, stellten sich bald die gewohnte Müdigkeit und der Hunger ein.
„Ich brauche eine Pause und vor allen Dingen brauche ich Kalorien. Die Dinger sind wahre Energiefresser.“ sagte Sentry.
Dart nickte kurz einem seiner Leute zu und schon war Sentry im Besitz einer Flasche mit rotem Inhalt. Also hatten sie ihm den guten Tropfen überlassen.
„Ruhe gibt es wohl nicht. Dieser unsägliche Gunter verlangt nach den speziellen Fähigkeiten. Bring ihn hin. Er hat dreißig Minuten um seinen Trödel zu aktivieren, dann haben wir unseren Teil der Abmachung erfüllt.“ gab Dart die Befehle und wendete sich ab. Er schien sich damit wieder wichtigeren Dingen zu widmen.
Sentry wurde wieder an die Oberfläche geleitet. Mittlerweile war ein weiterer Flugtransporter auf dem Vorplatz gelandet. Gunters Männer waren dabei ihn mit Gerätschaften zu beladen.
„Ihr habt dreißig Minuten, dann holen wir ihn wieder ab.“ wurde Gunter von Sentrys Begleitung mit größt möglicher Arroganz belegt.
„Die Zeit reicht nie und nimmer.“ protestierte Gunter, was Sentrys Bewachung relativ egal war.
„Dreißig Minuten.“ antwortete er gelangweilt.
„Schnell holt eine Energiequelle und dann legen wir los.“ wies Gunter seine Männer an.
Sentry musste im Akkord arbeiten. Immer wieder wurde er gezwungen seltsam aussehende Gerätschaften zu aktivieren. Nur jedes dritte Gerät funktionierte noch, der Rest war höchstens als Ersatzteilspender tauglich. Mit der Ausbeute war Gunter alles andere als zufrieden. Höchstens ein Dutzend war von wirklichem Wert, als die halbe Stunde rum war.
„Wir brauchen mehr Zeit.“ flehte Gunter.
„Unser Teil der Abmachung ist erfüllt.“ antwortete der Soldat der Inc. und machte keinen Hehl aus seiner Verachtung gegenüber dem kleinen schmächtigen Gunter. Die unterschiedlichen Ansichten über Sentrys Einsatzzeiten ließ die Situation eskalieren. Es war unmöglich zu erkennen, welche der beiden Parteien zuerst die Waffen im Anschlag hatten, jedenfalls standen dem halben dutzend Männern aus Gunters Gefolge, zehn Soldaten der Inc. gegenüber. Als Zankapfel stand Sentry genau zwischen den Fronten und die Wahrscheinlichkeit bei einem Blutbad ohne Treffer davon zu kommen, war ziemlich gering. In Sentry wurde der Drang sich hinzulegen immer größer, doch er wollte nicht der Funken sein, der die angespannte Situation zur Explosion bringt, also vermied er jegliche Bewegung.
„Es hieß wir brauchen mehr Zeit.“ zischte einer von Baltas ehemaligen Söldnern den Anführer der Inc. Soldaten an und zeigte damit die Entschlossenheit, die Gunter fehlte.
„General Dart, Ihre Anwesenheit hier oben ist unbedingt erforderlich.“ raunte einer der Soldaten in sein Funkgerät, ohne dabei auch nur einen Moment Augen und Waffen von seinem Gegenüber zu lassen.
Es dauerte elendig lange fünf Minuten bis Dart auftauchte. Zeit, in der jeder bestrebt war keinen Grund für ein Massaker zu liefern. Es schien fast so, als ob derjenige verlieren würde, der sich zuerst bewegt. So stand jeder regungslos da, wartend auf den Erlöser in Form von Dart.
„Soldaten die Waffen runter.“ brüllte dieser, sobald er die Situation erkannt hatte. Alle schienen sich zu entspannen, trotzdem belauerte man sich gegenseitig.
„Gunter, zum ersten Male in ihrem Leben zeigen Sie Biss. Muss das ausgerechnet mir gegenüber sein. Das könnte sich noch als großer Fehler erweisen.“ Dart war bemüht seinen Zorn zu unterdrücken.
„Ich brauche einfach mehr Zeit mit ihm. Das muss doch zu machen sein.“ Gunter zeigte auf den sichtlich geschwächten Sentry.
„Na gut. Dann lassen Sie uns verhandeln. Was haben Sie anzubieten.“ fragte Dart den verdutzten Gunter.
„Sie wollen mehr Zeit, also müssen Sie mir was bieten.“ fuhr er fort.
„Wie wäre es mit deinem Leben?“ hakte wieder Baltas ehemaliger Legionär ein und richtete seine Waffe auf Dart. Sofort waren sämtliche Waffen im nahen Umkreis wieder im Anschlag.
„Vielleicht sollte ich mit Ihnen verhandeln.“ Dart zeigte sich wenig beeindruckt durch die drohende Gefahr.
„Meine Herren, ich hätte da etwas, was uns neue Möglichkeiten aufzeigt.“ mischte sich Balta ein. Die Gefangenen standen etwas abseits, trotzdem hatten sie die ganze Situation mitbekommen.
„Was könnte das wohl sein?“ Dart wirkte genervt. Balta gesellte sich zu Sentry in die Mitte des Geschehens. Er streckte seinen rechten Arm aus. Die geschlossene Faust zeigte nach oben und verbarg den metallischen Körper nur halbherzig. Er öffnete sie und zum Vorschein kam eine Betäubungsgranate.
„Verdammt, wir haben dich doch durchsucht. Wie konntest du die vor uns verheimlichen?“ Baltas ehemaliger Legionär war sichtlich überrascht.
„Die Soldaten der Inc. sind konditioniert gegen solche Art von Waffen. Wenn jemand die Betäubung am besten wegsteckt dann meine Leute. Wollen wir wetten, wer als erster wieder steht. Ich tippe auf den Leutnant. Der hat sich in den Übungen als sehr robust erwiesen. Also los lassen Sie sie fallen.“ Dart strahlte eine Gelassenheit aus, als würde diese Granate nichts am Ausgang dieses Konflikts ändern.
Balta drehte sich zu Sentry.
„Enttäusche mich nicht.“ flüsterte er noch, dann ließ er sie fallen.
Die Granate hatte den halben Weg zum Boden bereits zurückgelegt, als Sentry der letzte Satz bewusst wurde. Die Femtos, vermutlich die, welche den Trick mit der Selbstheilung drauf hatten, würden auch irgendwie dafür sorgen, dass was immer auch gleich passieren würde, für ihn weitaus weniger unangenehm wird, als für alle anderen Anwesenden. Die Frage war nur. Woher wusste Balta von ihnen? Mit welchen Aktionen hatte sich Sentry verraten? Es blieb keine Zeit um nachzudenken, zumal die Reaktion von Dart, dem praktisch im selben Moment bewusst wurde, dass die Nanotechnologie ihn gerade ins Hintertreffen bringen würde, weitaus amüsanter war. Sentry schaffte es leider nicht mehr ein überlegenes Lächeln in seine Richtung zu schicken. So eins mit der Aufschrift „Ich habe es dir ja prophezeit“.
Als sie aufschlug, passierte im ersten Moment gar nichts. Sie rollte einfach noch ein paar Zentimeter und blieb dann ohne jeglichen Effekt liegen. In dem Augenblick, als alle glaubten, dass Ding wäre ein Blindgänger, versagten nicht nur bei Sentry sämtliche Muskeln. Was immer auch dieses Mistding mit ihnen machte, es sorgte dafür, dass jeder im nahen Umkreis förmlich in sich zusammen sackte. Er sah noch wie einer der Soldaten mit dem Kopf auf den Transporter knallte, als auch seine Wahrnehmung aussetzte. Seinen eigenen Aufprall erlebte er nicht mehr bewusst mit, aber er hatte eine Sicherheit. Sollte er sich irgendwie wehtun, wäre das im Hand umdrehen wieder geheilt.
Da war es wieder dieses Eichhörnchen, was ihn auch schon auf Reds Schiff ins Leben zurück begleitet hatte. Es saß einfach nur da und schien ihn mit seinen Knopfaugen zu verspotten. Sentry wollte nach ihm greifen, es schütteln und würgen und für all den erlittenen Schmerz verantwortlich machen, aber er war gar nicht vorhanden. Kein Körper, keine Arme, keine Hände. Nichts, womit er diesem Mistvieh hätte den Garaus machen können. Dieser verdammte Nager grinste ihn mit jener Selbstsicherheit an, die Sentry die Lächerlichkeit seines Vorhabens aufzeigte. Konzentration. Das hat schon mal geholfen. Beherrsche es. Vertreibe es. Wach auf.
Der Übergang in die Realität war durch das Fehlen der Drogen diesmal kurz und schmerzlos. Sentry war sofort betriebsbereit. Einzig das erneute Auftauchen seines nagenden Freundes ließ ihn kurz inne halten. Was hatte es mit diesem Nagetier auf sich? Es kann unmöglich Zufall sein, dass er wiederholt seinen Geist verwirrt. Welche Geschichte verarbeitet er mental damit? Ihm blieb nicht viel Zeit zum Grübeln, denn Balta saß neben ihm.
„Wusste ich es doch. Los komm. Wir haben nicht viel Zeit. Du musst mir helfen, sie zu entwaffnen und zu fesseln.“ trieb Balta ihn an und verschwand in ihrem Transporter.
Sentry brauchte nicht lange, um die Anweisungen zu verstehen. Sie hatten jetzt einen Vorteil, der nicht lange anhalten würde. Also stand er auf und fing an den nächst liegenden Soldaten zu durchsuchen. Neben dem Gewehr besaß dieser zwei Pistolen und zwei Messer. Die Vielzahl der Waffen ließ ihn zweifeln, ob er wirklich alles gefunden hatte, aber er hatte keine Zeit. Da lagen noch ein Dutzend Leute vor ihm, die alle noch entwaffnet werden mussten.
Balta tauchte wieder auf, drückte ihm ein Bündel Kabelbinder in die Hand und begann ebenfalls einen der Soldaten zu durchsuchen.
„Ich habe einen guten Grund warum ich wieder stehe, aber was ist mit dir?“ Sentry war neugierig, warum die Granate keine Wirkung auf Balta zeigte.
„Nicht jetzt. Wir müssen das hier erst erledigen. Dann erkläre ich dir alles.“ antwortete Balta und schmiss eine weitere Pistole auf den bereits ansehnlich gewachsenen Waffenhaufen.
„Warum sollte ich dir trauen?“ er kramte mittlerweile das dritte Messer bei seinem derzeitigen Soldaten hervor.
„Vielleicht sind die Dinge bisher nicht so gelaufen wie du das gerne gehabt hättest, aber eines kannst du mir nicht vorwerfen, dass ich dich hintergangen hätte. Jetzt wo Gunter mich verraten hat, habe ich keine viel versprechende Zukunft auf Lassik. Also vertraue mir, ich bin die beste Option, wenn du von diesem Planeten runter willst.“ Er war gerade fertig Dart zu fesseln.
„General bitte kommen“ tönte das Funkgerät. Die beiden Soldaten, die gemeinsam mit dem Doc in den Laboren zurückgeblieben waren, hatte Sentry vollkommen vergessen.
„Die beiden übernehme ich. Mach du das hier fertig.“ Damit verschwand Balta und Sentry war allein.
Er schaffte es gerade noch rechtzeitig die verbliebenen Soldaten zu entwaffnen, bevor sie wieder zu sich kamen. Getrennt nach Inc. und Gunters Trupp, saßen sie gefesselt vor ihren jeweiligen Transportern. Das ungute Gefühl nicht alle Waffen gefunden zu haben, ließ ihn vorsichtig bleiben. Dina und Eva kamen wieder zu sich und Sentry klärte sie über die Situation auf. Wenigstens bewachten nun sechs Augen die Gefangenen, bis Balta wieder zurückkehren würde.
„Lass uns einen der Transporter nehmen und hier abhauen. Der Kerl kommt auch ohne uns ganz gut klar.“ sagte Dina.
„Ich denke wir haben bessere Chancen mit ihm. Er kennt sich hier aus. Er bringt uns hier weg. Ich vertraue ihm.“ erwiderte Sentry.
„Im Sinne unseres Paktes muss ich dich warnen, dass du einen Fehler begehst.“ Wieder legte sie diese Abmachung allein zu ihrem eigenen Vorteil aus. Was sollte er tun? Die Abwägung aller Fakten brachte ihn nicht weiter. Dina oder Balta? Es fühlte sich einfach falsch an diesen Transporter zu besteigen und Balta im Stich zu lassen. Klar würde der zu Recht kommen, aber da war noch mehr. Ihn faszinierte die Art mit der Balta die Dinge anging. In dem Wellengang des Wahnsinns, den er bisher erlebt hatte, schien er die richtige Methode gefunden zu haben, um dem Schlimmsten zu trotzen oder auszuweichen. Vielleicht hatte Dina Recht und es war ein Fehler, aber er konnte nicht gegen seine innere Überzeugung.
„Ich bleibe.“ sagte er konsequent.
„Na toll. Kommst du mit?“ Dina wandte sich an Eva.
„Nein. So lange die Chance besteht, dass da unten etwas ist was meiner Schwester hilft, bleibe ich.“ antworte diese. Jetzt war es an Dina ihre Entscheidung zu treffen.
„Ihr seid verrückt. Wer weiß, wie viel Möglichkeiten es noch gibt?“ Sie zauderte. In dem Moment tauchte der Doc aus einem der Gebäude auf. Irgendwas erregte ihn enorm.
„Verdammter Balta. Tötet sie, als wären sie irgendwelche Insekten, die man einfach zertretet.“ Der Doc war sichtlich erbost. Sein Hemd war rot vom Blut der Soldaten.
„Lieber Doktor, es gab keine Alternative.“ rechtfertigte sich Balta ein paar Schritte hinter ihm.
„Ich wusste nicht, dass Ihnen ein Menschenleben so wenig wert ist. Was ist nur aus dieser Gesellschaft geworden?“ der Doc schüttelte ungläubig den Kopf.
„Doc, haben Sie dort unten etwas gefunden, was meiner Schwester weiterhelfen kann?“ Eva schaffte es mit dieser Frage den Doktor von dem gerade Erlebten abzulenken.
„Es sind so viele Gerätschaften da unten. Bisher ist nichts Brauchbares dabei. Wir haben allerdings auch erst einen Bruchteil untersucht.“ Er hatte seinen Tonfall von Ärger auf Sorge umgestellt.
„Dann müssen wir wieder da runter. Weiter suchen.“ Eva klang verzweifelt, wie jemand dem die Zeit davon läuft.
„Kindchen.“ Der Doc griff sie an beide Oberarme, so dass sie jetzt direkt vor ihm stand und gezwungen war ihn anzuschauen. Eva blickte ihm tief in die Augen und was sie sah, ließ sie in Tränen ausbrechen. Dieser Blick voller Mitleid machte sie wütend und traurig zu gleich. An ihrem einzig verbliebenen Daseinszweck, der Heilung von Freya, würde sie scheitern. Sie wollte nicht aufgeben. Ein Mal in ihrem Leben würde sie das Richtige tun. Was weiß dieser Arzt schon? Es wird eine Rettung geben, es muss eine geben.
„Geh zu ihr und sei bei ihr in den letzten Momenten ihres Lebens. Das ist das Einzige, was du noch für sie tun kannst. Selbst wenn wir da unten was finden, es ist zu spät.“
„Nein. Ich gebe nicht auf. Das kann nicht umsonst gewesen sein. Ich habe verraten und getötet, alles nur für sie. Ich lasse sie jetzt nicht einfach sterben.“ Sie schrie den Doktor förmlich an, so als würde es seine Meinung ändern, je lauter sie ihm widersprach.
„Eva.“ Es war Dina, die mit einer ungewohnt ruhigen Stimme ihre Aufmerksamkeit auf sich zog.
„Der Doktor hat Recht. Glaube mir, ich weiß wovon ich spreche. Nutze jeden verbleibenden Augenblick mit ihr.“
Zu viel Chaos war in Evas Kopf. Da war die Stimme, die nicht aufgeben wollte. Sie schrie am lautesten. Dann war da die Vernunft, die Dina Recht gab und sie eher mit sanften und versöhnlichen Worten verführte. Und dann war da noch die Angst, die heimtückisch im Hintergrund auf ihre Chance lauerte. Bilder des entstellten Körpers ihrer Schwester waren die Argumente und ihre Furcht einflößende Wirkung blieb nicht aus. Die Versuchung der Einfachheit alles zu ignorieren war bittersüß. Sie war unfähig eine Entscheidung zu treffen. Zu lange wurde ihr Handeln von anderen beeinflusst.
XI
„Es gibt Gefahren, denen zu entfliehen nicht Feigheit ist, sondern höchster Mut, die Kraft sich selbst zu besiegen.“
Berthold Auerbach
„Du hast Femtos im Blut. Die Selbsheilenden. Habe ich Recht?“ Sentry konnte sich nicht irren. Die Anzeichen waren eindeutig. Es gab keine andere Erklärung.
„Kleine Kobolde, Roboter und nun Femtos. Ganz einfach Nanotechnologie. Ja, ich habe sie, aber lange nicht so coole wie deine.“ Balta antwortete, als wäre es das Normalste von der Welt. Durch die Gewissheit überschlugen sich Sentrys Gedanken. Tausend Fragen schwirrten in seinem Kopf kreuz und quer. Nein eher zehntausend Fragen, aber er war unfähig auch nur eine zu formulieren. Hier stand jemand vor ihm, der das eigentlich rare Gut der Nanotechnologie in sich trug. Wahrscheinlich gab es Einen auf einer Milliarde, der so was hatte. Konnte es Zufall sein, dass gerade auf einem Planeten wie Lassik zwei dieser Auserwählten aufeinander trafen?
„Ich habe mich schon immer gefragt, wie Sie ihr blendendes Aussehen halten konnten. Jetzt wird mir einiges klar.“ Der Doc wirkte wieder wenig beeindruckt, aber mittlerweile war klar, dass er nur eine gute Selbstbeherrschung besaß. Zuviel hatte er in den letzten Stunden erlebt, als das es keinen großen Eindruck hinterlassen hätte.
„Woher?“ Sentry war unfähig eine zusammenhängende Frage zu stellen. Dass er überhaupt dieses Wort hervorbrachte bei dem Chaos in seinem Kopf, überraschte ihn selber.
„Ich habe sie erworben. Es war Teil eines Geschäfts.“ antwortete Balta.
„In welchem Kaufmannsladen gibt’s denn so was zu kaufen?“ fragte der Doc skeptisch.
„Die sind nicht einfach übertragbar. Sie müssen genetisch angepasst werden. Die Sache ist also ein wenig komplizierter, als sie einfach nur zu kaufen.“ Sentry zwang sich zu klarem Denken. Er stand kurz vor ein paar wichtigen Antworten. Ihm durfte nichts entgehen, bloß weil er sich nicht richtig konzentrieren konnte.
„Wie so oft ist Vorfahrentechnologie der Schlüssel.“ blieb Balta weiter geheimnisvoll. Was hatte Red damals gesagt? Er wüsste, wo er die Femtos für sich nutzbar machen könne. Offenbar gab es einen Ort, an dem man die Dinger duplizieren konnte.
„Woher hatte es der Verkäufer?“ präzisierte Sentry seine Frage.
„Vermutlich aus der selben Quelle wie du.“ antwortete Balta nichts sagend. In Sentry stieg die Wut hoch.
„Ich verstehe deine Ungeduld, leider kann ich dir auch nicht viel über das Geheimnis der Nanotechnologie sagen. Nicht, weil ich es nicht will, sondern weil ich es nicht weiß. Was ich dir anbieten kann, ist dich dort hin zu bringen, wo ich sie bekommen habe.“ Sentry musste sich beherrschen. Balta wand sich, dass war ihm klar. Leider waren Zeit und Ort nicht geeignet, um eine Eskalation zu riskieren. Sie waren noch nicht in Sicherheit. Vielleicht war die Verstärkung der Inc. schon unterwegs. Zusammenhalt war jetzt wichtig, um zu entkommen.
„Na gut und als Gegenleistung willst du vermutlich die Türöffner.“ erwiderte Sentry.
„Lass uns die Vertragsverhandlungen später diskutieren. Wir müssen hier erstmal weg und dann runter von diesem Planeten.“
„Du kannst uns hier weg bringen?“ hakte Dina ein. Damit hatte es Balta endgültig geschafft von der Nanotechnologie abzulenken. Zum Beweis dafür, dass er das Thema vorerst für erledigt hielt, ließ er sie stehen und ging zu dem immer noch betäubten Eric rüber. Er holte ihn unsanft aus seiner Bewusstlosigkeit und wies ihn an zur Gruppe zu gehen.
„In fünf Minuten sind wir hier weg. Wir nutzen Gunters Transporter.“ Balta war jetzt wieder in der Rolle des Anführers, was Dina mit einem Murren zur Kenntnis nahm. Immerhin würden sie diesen verdammten Planeten bald verlassen.
„Du kommst auch mit uns. Wir haben noch einiges zu klären.“ Balta packte Gunter am Kragen und schleifte ihn zum Transporter rüber.
Nachdem sie den Inc-Transporter unbrauchbar gemacht hatten, verließen sie die Station. Beim Flug in die untergehende Sonne schaffte es Sentry erstmals seine Gedanken zu ordnen. Die ganze Geschichte hatte eine vollkommen neue Wendung genommen. Kein Raumschiff, die Chancen dafür waren von vorn herein sehr gering. Immerhin hatte Balta seinen Teil der Abmachung eingehalten und sogar sie raus gehauen, gegen seine eigenen Leute. Vermutlich stand nur Eigennutz dahinter, denn in dieser Welt gab es so was wie Solidarität nicht. Trotzdem vertraute er ihm weiterhin und das nicht nur, weil die Femtos sie verbanden. Dahin gehend würde er noch ein paar Worte mit ihm wechseln müssen, denn bisher hielt sich Balta auffallend bedeckt. Wieder einmal bekam er mehr neue Fragen als Antworten serviert. Es wird Zeit das Verhältnis umzudrehen. Sein Selbstbewusstsein wuchs mit jedem Tag, den er überlebte. Nach all den vergeblichen Versuchen ihn und seine Fähigkeiten zu bekommen, wurde das Gefühl nichts und niemand könne ihm was anhaben zur trügerischen Gewissheit. Kein Grund unvorsichtig zu werden, denn er hatte eine ordentliche Portion Glück gehabt.
Sobald sie in der Luft waren, meldete sich die Flugkontrolle. Gunter konnte glaubhaft vermitteln, dass sie mit Genehmigung der Inc. unterwegs waren. Eine eventuelle Rückfrage bei Dart hätte ein schnelles Ende ihres Fluges zur Folge, aber der Rückweg war deutlich kürzer und daher war die Hoffnung die Hauptstadtinsel unbehelligt zu erreichen durchaus realistisch. Dem über zwanzig Stunden mühseligen Hinweg, standen gerade mal fünfzehn Minuten Flugzeit zurück gegenüber. In der Gewissheit von der Flugkontrolle überwacht zu werden, landeten sie den Transporter, sobald sie die Küste erreicht hatten. Von hier aus mussten sie zu Fuß weiter und das in tiefster Dunkelheit. Kein Mond stand am Himmel, der ihnen wenigstens spärliches Licht spendete.
Das Vorankommen war mühsam, was einerseits an der vollkommenen Finsternis lag und anderseits auch am Doc, der in seinem fortgeschrittenen Alter selbst dem verminderten Tempo nicht mithalten konnte. Balta zögerte ihn zurückzulassen. Erst als verschiedene beleuchtete Flugobjekte am Himmel in Richtung Landeplatz ihres Transporters unterwegs waren, rang er sich durch getrennte Wege zu gehen. Die Verabschiedung war kurz. Eine knappe Respektbezeugung in Richtung Balta und jeweils ein distanziertes Nicken für die Übrigen. Nur Eva bekam die ganze Herzlichkeit zu spüren, die sie förmlich überrumpelte. Sie kannte diesen Mann nicht und trotzdem schaffte er es ein lang verlorenes Gefühl in ihr zu wecken. Unbewusst verglich sie die offenen gutmütigen Empfindungen des Doktors, mit den ersten Begegnungen des Führers. Damals war sie blind den süßen, wärmenden Worten gefolgt. Ein Fehler wie sich Jahre später herausstellte. Trotzdem hielt sich ihr Misstrauen dem Doktor gegenüber in Grenzen. Seine Gesichtszüge vermittelten eine ungewohnte Aufrichtigkeit. Sie zweifelte nicht am Doktor. Was ihr zu schaffen machte, war ihre innere Barriere, die ihre emphatische Entscheidungsfähigkeit abschnitt und alle Eindrücke in vorgefertigte Schubladen zuordnete. Ihr Unterbewusstsein wusste, dass ihr hier ein großes emotionales Geschenk gemacht wurde, aber ihre Konditionierung verhinderte die Würdigung eines solchen Ereignisses. Der Tempel hatte sie seelisch verstümmelt, aber die Erkenntnis, dass der Fehler in ihrem eigenen mentalen System lag, machte Hoffnung auf eine teilweise Wiederherstellung ihrer geistigen Normalität. Die Gemeinschaft würde immer ein Teil ihres Lebens bleiben, wichtig war es die Ereignisse im Nachhinein richtig einzuordnen. In ihrem noch jungen Alter fehlte ihr eine brauchbare Referenz. Nur neue Erfahrungen würde die Vergangenheit im richtigen Licht erscheinen lassen, aber das benötigte seine Zeit.
Sie schlichen weiter Richtung Hauptstadt. Da nun auch einer der Monde aufgegangen war, kamen sie etwas zügiger voran. Auf dem Weg erklärte ihnen Balta ihr Ziel. Ein interstellares Handelsschiff würde sie fort bringen von Lassik. Er hüllte sich in Schweigen, welche Beziehungen er anzapfen würde. Ihnen blieb nicht viel Zeit für eine geeignete Auswahl, aber so wie Sentry Balta einschätzte, hatte dieser bereits die passenden Vorkehrungen getroffen. War nur die Frage, ob sein Fluchtplan für mehr als eine Person vorgesehen war.
Es dauerte nicht lange und sie erreichten die ersten Ruinen. Am Anfang unbeleuchtet und nur als Silhouette im Mondlicht erkennbar. Je näher sie dem Zentrum kamen umso mehr häuften sich die Lichtquellen. Einzelne Feuer gingen nach und nach über in elektrisches Licht. Waren am Anfang wenig Menschen in den Ruinen ersichtlich, gab es mit zunehmender Zivilisation immer mehr Bewegung in den verfallenen Gassen. Sentry kannte bereits das Szenario der steigenden Lebensqualität, je näher sie ins Zentrum vorrückten, doch hier war das Bild anders. Selbst zusammengebaute Hütten, von denen vermutlich jede zweite einem größeren Windstoß nicht standhalten würde, standen an den Stellen, wo die einstmals prächtigen Gebäude der Vorfahren bis auf die Grundmauern abgerissen wurden. Das Material wurde für die Provisorien verwendet, welche die heutigen Einwohner ihr Zuhause nannten. Im besten Fall bestanden die Hütten aus verrotteten Ziegeln. Überwiegend waren die Verschläge allerdings aus Wellblech, die eingerahmt wurden aus zeltähnlichen Behausungen, denen man die begrenzte Haltbarkeit förmlich ansah. Also führte sie ihr Weg durch den Slum der Hauptstadt, bewohnt von Leuten deren Habseligkeiten in eine Hosentasche passten. Die wenigen verbliebenen Hochhäuser waren Sammelpunkte für mehr oder weniger legale Geschäfte. In Baltas Revier des Schwarzmarktes befand sich die Kriminalität in geordneten Bahnen. Es stand zu befürchten, dass an diesem Ort das Gesetz des Dschungels herrschte. Derjenige mit der größten Waffe machte die Regeln. Zum Glück hatten sie sich ordentlich bedient an den Truppen der Inc.
Ihr Ziel war der Raumhafen und Sentry zweifelte mehr als einmal diesen unbeschadet zu erreichen. Was zum Teufel suchten sie in dieser Gegend? Zu allem Unglück fielen sie auch noch auf. Ihr Aussehen passte nicht zu dem verlumpten Äußeren der Menschen, die ihnen entgegen kamen. Die Dunkelheit konnte ihre bessere Herkunft gut verbergen, erst mit der Annäherung auf wenige Meter an die örtliche Bevölkerung wurden sie zur potentiellen Beute für herumlungernde Kriminelle. Besonders Eva und Dina mit ihren blonden Haaren würden die Hemmschwellen männlicher Bewohner für einen Überfall auf ein Minimum schrumpfen lassen. Die Angst trieb sie an schneller zu gehen. Balta steuerte auf eine der wenigen übrig gebliebenen Ruinen zu. Der einzige brauchbare Teil war das Erdgeschoß. Alles oberhalb bestand nur noch aus vereinzelten Mauerresten. Das Gebäude sah bedrohlich aus und jeder Zeit konnten weitere Teile abstürzen. Trotzdem sah sich niemand dazu gezwungen, dem Unvermeidlichen entgegenzuwirken. Es wäre halt Pech, würde man von Bruchteilen erschlagen werden.
Die Anspannung stieg weiter und kurze Zeit war sich Sentry nicht mehr sicher, ob Balta wirklich wusste, was er tat. Das Gefühl dem Silbertablett die letzte Politur zu geben, um möglichst attraktiv für gewaltsame Übergriffe zu erscheinen, verstärkte sich noch, als sie auf eine Gruppe übel dreinschauender Gesellen zusteuerten. Diese waren sichtlich überrascht über die offensive Einstellung.
„Du. Ich muss mit dir reden.“ Balta ließ keinerlei Selbstzweifel in seiner Stimme zu.
„Ach ja.“ Mehr brachte der überraschte Angesprochene nicht hervor. Seine Sachen waren genauso schmutzig, wie die seiner Kameraden, aber der Verschleiß in Form von zerrissenen Hosen oder Schuhen war bei ihm weniger ausgeprägt. Offenbar machte ihn der bessere Kleidungsstil zum Anführer dieser Gruppe.
„Was willssst duu?“ Eine Reihe von Zahnlücken und ein angeborenes Talent zum Nuscheln ließen ihn wenig verständlich rüber kommen.
„Dir ein Geschäft vorschlagen.“ antwortete Balta mit keinerlei Angst und keinerlei Arroganz gegenüber dem sichtlich begrenzten Intellekt seines Gegenüber.
„Was?“ kam es begriffsstutzig zurück. Sie waren zu sechst, bewaffnet ausschließlich mit Knüppeln und Stöcken. An ihren Reaktionen war deutlich zu erkennen, dass sie kurz davor standen diese auch einzusetzen. Der Durst nach Vergeltung für die miesen Karten, die ihnen das Leben zugespielt hatte, sollte in einem kurzen Blutrausch an den dreisten Eindringlingen gestillt werden.
„Hey, hey, hey.“ versuchte Balta die Gruppe zu beruhigen.
„Lass uns reden bevor ihr von uns niedergeschossen werdet.“ Er zog seine Pistole, vermied es allerdings sie auf einen seiner potentiellen Angreifer zu richten. Darauf hin erntete er das denkbar furchtbarste Lächeln, das sein Gegenüber mit seinen letzten verbliebenen Zähnen noch hinbekam.
„Bei deinem Zahnarzt würde ich jede Form von Grinsen vermeiden.“ entfuhr es Dina.
„Klappe.“ fuhr Balta ihr über den Mund. Bevor Dina die passenden Widerworte fand, wurde ihr bewusst, dass da nicht nur sechs Gestalten waren. Wie aufgescheuchte Ratten kam plötzlich Bewegung in die Umgebung. Hinter Wänden, Mauervorsprüngen und halb verfallenen Gängen kamen weitere Knüppelbesitzer zum Vorschein. Sentry schätzte, dass sie ihnen mindestens eins zu fünf überlegen waren und das waren nur die, die sie sehen konnten.
„Na gut. Lass uns reden bevor ich dich niederschieße.“ Balta war immer noch ohne Angst. Eine Eigenschaft, mit der er ziemlich alleine dastand. Jetzt richtete er seine Waffe gezielt auf den Anführer.
„Dieses Gewehr, was mein Freund dort bei sich trägt. Es soll dir gehören. Du bekommst hundert Schuss Munition dazu. Alles was wir wollen ist deinen Schutz.“ Es war förmlich erkennbar, dass selbst so einfache Entscheidungen seinen Gesprächspartner überforderten.
„Ich mache dir die Wahl einfach. Entweder bekommst du dieses Gewehr, bist weiterhin die Nummer eins und keiner kann dir mehr was mit dieser schönen Waffe oder du metzelst uns alle nieder, bist dann vermutlich aber der erste, der mit einem Loch im Kopf zu Boden geht. Dann wird dein Kumpel neben dir der neue Gewehrbesitzer und macht all die schönen Sachen, die du hättest machen können, wenn du das Gewehr angenommen hättest.“ Balta schaute ihm tief in die Augen.
„Gib ihm das Gewehr, aber ungeladen.“ zischte er zu Sentry rüber. Dieser entlud es, deaktivierte die genetische Sicherung und gab es seinem neuen Besitzer.
„Die Munition bekommst du, wenn wir im Raumhafen sind. Wir wollen nur deinen Schutz. Sind wir im Geschäft?“ Er hielt ihm die freie Hand hin, die gering schätzend ignoriert wurde. Balta wurde uninteressant, dafür rückte Eva in das Blickfeld. Offenbar sollte sie Bestandteil der Vereinbarung werden.
„Sie bleibt.“ sagte er kurz als würden ihn weitere Worte intellektuell überfordern.
„Keine Chance. Die Bedingungen sind nicht verhandelbar.“ antwortete Balta weiterhin selbstbewusst und ruhig, immer noch die Waffe auf ihn richtend. Sein Gegenüber zögerte kurz, drehte sich zu seinen Männern und kläffte etwas vollkommen Unverständliches in ihre Richtung. Diese entspannten sich zusehends, was darauf hindeutete, dass sie eine Übereinkunft hatten.
„Gut. Ich werte das mal als Zustimmung. Bis zum Raumhafen brauchen wir den Geleitschutz.“ sagte Balta.
Eva kannte den Slum nur von den Erzählungen einiger Tempelbewohner. In der Anfangszeit der Bewegung, als man noch weniger nach elitärer Auswahl gegangen war, sondern der eigentlichen Idee mehr Aufmerksamkeit schenkte, war der Slum ein idealer Hort für die Neurekrutierung von Mitgliedern. Der Führer höchst persönlich begab sich hierher, um verlorene Seelen in den Schoß des Tempels zu überführen. Irgendwann musste er sich mit den Bewohnern überworfen haben, denn von einem Moment auf den anderen wurde es zu gefährlich für einen Besuch. Offiziell hieß es, dass die Erleuchtung verirrter Wesen in den Reihen des Bürgertums verstärkt würde, da im Slum bereits alles menschenmögliche getan wurde. Der wirkliche Grund blieb außerhalb der Reihen des Tempels. Auch Eva wusste nicht was vorgefallen war und in der Atmosphäre von Angst und Denunziation war es nicht besonders ratsam ihre Neugierde zu befriedigen. Trotzdem gab es verschiedene Informationen, die ehemalige Einwohner in beiläufigen Bemerkungen erwähnten. Alles was ihr zu Ohren gekommen war, ließ auf einen höllischen Ort schließen. Der Slum war eingegrenzt von Stacheldraht und teilweisen Mauerwerk. Nur zur Küste hin gab es keine Beschränkung, was einige Anwohner nutzten um Schmuggelware über das Wasser hereinzuschleusen. Die Bewohner wuchsen ohne Schulbildung, Perspektive und Möglichkeiten auf. Dementsprechend herrschte ein Klima aus Armut, Hunger und Gewalt. Tägliche Nahrungslieferungen sorgten für die notwendigsten Bedürfnisse. Natürlich waren Aufstände nicht vermeidbar, aber bisher wurden sie von der Inc. erbarmungslos niedergeknüppelt. Raus kam nur, wer einen Wohnsitz nachweisen konnte oder als Tagelöhner innerhalb der Stadt gebraucht wurde. Bewacht wurde alles von den Soldaten der Inc., die sich aber hüteten innerhalb des Stacheldrahtes aktiv zu werden. Offiziell war es ein Vorort, wie viele andere auch. Keine Erwähnung in den Medien über die katastrophalen Zustände und das obwohl jeder wusste, was da vor den Toren der Hauptstadt vor sich ging. Die Augen blieben verschlossen vor dem, was nicht seien durfte. Zu sehr war die Bevölkerung mit ihren eigenen Problemen beschäftigt.
Der Raumhafen befand sich unmittelbar an den Grenzen und wurde dementsprechend stark gesichert. Mit der beschlossenen Vereinbarung konnten sie sich unbehelligt ihrem Ziel nähern. Am Ende würde die Frage stehen, wie sie ihre Flucht von dem Planeten vollenden wollten. Der Weg durch den Slum war die beste Art und Weise voran zu kommen, immer unter der Vorraussetzung, dass ihre Bewacher sich nicht doch noch entschlossen den von Balta aufgezwungenen Pakt zu brechen. Das offensichtliche Interesse an Eva versetzte diese in eine leicht panische Aufregung. Würde die Sache nicht gut ausgehen, wäre sie die große Verliererin in Baltas Poker.
Sie hetzten durch die Gassen. Ein Wildwuchs an Wellblechhütten, wahllos errichtet an Plätzen, die ihre Bewohner für geeignet hielten. Ihr Weg führte sie quer durch Müllberge aus Plastik, die rechts und links der Pfade aufgehäuft standen, als würden sie ihren Führern den passenden Weg weisen. Ohne großartige Orientierung folgten sie den düsteren Gestalten, immer in der Hoffnung nicht in eine vorgefertigte Falle zu geraten. Erst jetzt registrierte Eva, wie viele Menschen auf diesem engen Raum lebten. Lange Zeit hielt sie die Beschreibungen im Tempel über diesen Ort als übertrieben, aber jetzt, wo sie hier war und sich verstärkt durch Angst ein eigenes Bild von den Zuständen machen konnte, kam ihr ihr eigenes bisheriges Leben vor wie der pure Luxus. Hier gab es keinen Ausweg. Die Menschen wurden hier geboren, lebten mit permanenter Gewalt und starben entweder an Krankheiten oder einem eingeschlagenen Schädel. Mit ihren knapp 25 Jahren lag sie vermutlich über der durchschnittlichen Lebenserwartung. Das Universum dieser Bewohner endete an dem Stacheldrahtzaun und mit derselben Unwahrscheinlichkeit, wie Eva auf einen anderen Planeten gelangen würde, war es für die Leute hier drin unmöglich den Zaun zu überwinden. Dina hatte Recht. Ihre Heimat war ein Drecksplanet, egal ob im Tempel, in der Stadt oder im Slum. Der einzige Unterschied lag in der Abstufung des Elends, wobei selbst die beste Stufe keine Garantie auf volle Mägen war. Lassik war eine Welt ohne Zukunft.
Der Einzige, der Probleme hatte dem verschärften Tempo zu folgen, war Gunter. Das gute Leben als Nummer zwei in Baltas Reich hatte ihn faul und träge werden lassen. Der Kollaps war nur eine Frage der Zeit und just in dem Moment, als es passierte, starteten die Einheimischen ihren Angriff. Sie nutzten die Gelegenheit der Ablenkung, um Baltas Alternativszenario ohne den erwähnten Kopfschuss zu erproben.
Es war überraschend, wie punktgenau die Angreifer es schafften den günstigsten Moment für ihre Attacke zu starten. Sie befanden sich gerade in eine Art Hof, der eingerahmt von mehreren Hütten, nur zwei Zugänge hatte. Balta war nur einen Augenblick abgelenkt, in dem er Gunter eigentlich klarmachen wollte, dass er entweder hier bleiben könne oder sich zusammenreißen solle. Daher war es unmöglich den überraschenden Angriff effektiv abzuwehren, da die halbe Sekunde nicht reichen würde, dem unvermeidlichen Schlag, den der zischende Anführer bereits auf ihn niedersausen ließ, effektiv auszuweichen. Instinktiv entschied er sich für die einzig verbliebende Alternative. Abducken und hoffen, dass der Schaden, den er gleich nehmen würde, so begrenzt war, dass er im Nachhinein dem Bastard das Gehirn wegblasen könne. Also zog er den Kopf ein und in dem Bruchteil einer Sekunde vor dem Unvermeidlichen, sah er wie einer der Angreifer sich gerade auf Eric stürzen wollte. War es Wut oder einfach nur Reflex? Auf alle Fälle war es keine gewollte Aktion, denn er hatte nicht genug Zeit für Überlegungen. Es passte einfach, da er genau in Schussrichtung der Beiden stand und irgendwas in seinem Inneren drückte instinktiv den Knopf, der ihn dazu veranlasste, den Finger zu krümmen.
Balta bekam nicht mehr mit, ob er was getroffen hatte, denn der Einschlag des Angreifers und das Plop seiner Pistole waren praktisch synchron. Die Hoffnung, dass er dem Schlimmsten mit seinem Abducken entgehen konnte, hatte sich nicht erfüllt. Im Fallen verlor er das Bewusstsein und das Letzte was er sah, war das Ringen Sentrys mit einem dieser elendigen Verräter. Sie hatten sie eiskalt erwischt und die Schmach darüber war schlimmer, als der eigentliche Schmerz, denn der war temporär, dank seiner Nanotechnologie. Sie hatten verloren und das gegen eine Horde Wilder mit Knüppeln.
Der Ausweichreflex war legendär. Sentry hatte keine Ahnung, ob es eine antrainierte militärische Reaktion war oder eine unbekannte Funktion seiner Femtos, jedenfalls hätte er sie sich selber nicht zugetraut. Umso überraschter war sein Angreifer, das der Schlag ins Leere ging. Fest damit rechnend, dass der Knüppel Sentrys Knochen zum Splittern bringen würde, war es unmöglich nach dessen Ausweichmanöver das Gleichgewicht zu halten. Er fiel ihm förmlich vor die Füße und die Gelegenheit seinem Angreifer mit einem gezielten Fußtritt außer Gefecht zu setzen, ließ Sentry ungenutzt. Offenbar stieß die militärische Ausbildung, sollte sie denn wirklich vorhanden sein, hier an ihre Grenzen. Anstatt sich weiter seinem Angreifer zu widmen, machte er den Fehler sich einen Überblick über die Situation zu verschaffen. Eric wurde ebenfalls attackiert, allerdings gingen bei seinem Kampf beide zu Boden und das Knirschen eines zerborstenen Schädels wies darauf hin, dass einer von den beiden Baltas Kugel vermutlich direkt zwischen die Augen bekommen hatte. Dieser steckte gerade einen massiven Schlag ein und während Sentry gerade versuchte die Gesamtsituation zu verarbeiten, stürzte sich sein Angreifer erneut auf ihn. Diesmal war er es, der über die schnelle Reaktion nach dem Sturz überrascht war.
Der Angriff war halbherzig. Primäres Ziel war es offensichtlich Sentry daran zu hindern seine Waffe einzusetzen. Beide Handgelenke umklammernd, blieben seinem Angreifer nur die Beine, um mögliche Wirkungstreffer zu setzen. Es fehlte ihm dabei nicht nur an Geschick, sondern auch an Kraft und so war es ein Leichtes die Tritte abzuwehren. Nach ein paar Sekunden Gerangel bekam Sentry seine bewaffnete Hand frei. Nun stand ihm die Möglichkeit offen, mit einem gezielten Schuss seinen Gegner hinzurichten. Er entschied sich dagegen und schlug ihn mit dem Griff seiner Pistole gegen die Stirn. Ein Glücksgefühl durchflute ihn. Er hatte seinen Kampf gewonnen. Dass sein Gegner schwächlich und vermutlich durch Krankheit gezeichnet war, störte ihn nicht. Der Triumph des Sieges in seiner primitivsten Form des Faustkampfes ist eines der erhabensten Gefühle, die die Evolution einem Mann mitgegeben hatte.
Balta war außer Gefecht, ob Eric noch lebte war unklar und Gunter war auf Grund seines erbärmlichen Zustandes wohl nicht würdig für einen Übergriff. Dina hatte sich gleich zwei Verehrer zu erwehren, die einem Leid tun konnten, denn sie unterschätzten sie vollkommen. In der Überzeugung leichtes Spiel zu haben, konzentrierten sie sich mehr darauf ihre Ansprüche gegenüber des jeweiligen Anderen geltend zu machen, als sich dem eigentlichen Ziel zu widmen. So war es ihr ein Leichtes mit gezielten Schlägen die vollkommen überraschten Angreifer auszuschalten. Auch sie war aufgepuscht vom Triumph und in der Hoffnung dieses Glücksgefühl weiter steigern zu können, war sie auf der Suche nach weiteren Opfern. Zwei weitere Angreifer sollten ihre Gelüste stillen, doch diese waren recht mutlos, nachdem sie ihre Kameraden blutend am Boden liegen sahen. Jeweils auf den anderen wartend, wirkten sie wenig entschlossen und nachdem Dina auf sie zu stürzte, ergriffen sie angsterfüllt die Flucht.
Ihres Spaßes beraubt, blieb Dina nur Baltas Bezwinger. Der hatte sich nach bester Anführertradition seiner wohlverdienten Belohnung gewidmet. Vollkommen die umgebenen Ereignisse ignorierend, kannte er nur Eva als Ziel, um seine primitivsten Gelüste zu befriedigen. Diese war unfähig sich zu wehren oder wegzulaufen. Es war der Gestank, der ihr ein Leben lang im Gedächtnis bleiben würde und damit bei jeder Erinnerung an diese Situation vermutlich einen Würgreiz auslösen würde. Weder seine Hand in ihrem Schritt noch, das Gesicht in ihrem Ausschnitt konnten ablenken von der Abscheu über diesen verfaulten Geruch.
Dina erlöste sie von ihrem Elend, gerade rechtzeitig, denn ihr Peiniger war gerade drauf und dran sein bestes Teil auszupacken. Sie packte ihn an der verschlissenen Jacke und zerrte ihn von Eva runter. Altersbedingt gab die Kleidung nach und so verlor sie ihn wieder, aber der Schwung reichte aus die beiden zu trennen. Er fiel auf den Rücken und seine Verwunderung über die plötzliche Unterbrechung, ließ ihn für einen Moment hilflos wirken. Erst als er Dina erblickte, mit dem Stofffetzen in der Hand, legte er wieder dieses verächtliche Grinsen mit seinen verfaulten Zähnen auf. Sein Teil baumelte aus der offenen Hose.
„Lusssch meinen Ssschwanz, du dumme Nutte.“ Er streckte ihr sein Becken entgegen.
„Den lussscht keiner mehr.“ entgegnete Dina trocken. Sie zog ihre Waffe und zielte auf seinen Schritt. Die Panik, die in seinem Gesicht erkennbar wurde, gab Dina die Genugtuung, die sie benötigte.
„Typen wie du sind das Übel unserer Zeit. Ihr glaubt euch gehört die Welt und ihr könnt machen was ihr wollt. Dabei schafft ihr es nicht mal drei zusammenhängende Worte fehlerfrei auszusprechen.“ Sie hielt kurz inne, als müsste sie mit ihrem inneren Gewissen kämpfen. Dann drückte sie ab.
„Du hättest beim Gewehr bleiben sollen.“ rechtfertigte sie ihre Tat. Als Antwort bekam sie nur ein furchtbares Gejaule. Ihr Opfer wand sich mit den Händen im Schritt.
„Was soll denn das?“ brüllte Sentry sie an.
„Wenn du willst das Hunde ruhiger werden, dann musst du sie kastrieren.“ sie lachte, ein Lachen was Sentry unheimlich Angst machte. So hatte er sie noch nicht erlebt. Die Wut, der Sarkasmus und der Egoismus ihre Rache durchzusetzen, waren nichts gegen diesen Genuss ihrer Genugtuung. Das Ganze war ein Vorgeschmack dessen, was Red bevorstand, wenn sie ihn in die Finger bekommen würde. Sie hatte probiert von der Droge „Rache“ und sie wollte mehr. Notfalls auch ohne Red.
In diesem Zustand war sie vernünftigen Argumenten nicht zugänglich, also beschloss Sentry sie einfach stehen zu lassen und sich den Anderen zu widmen. Balta hatte eine riesige Beule am Kopf, aber in der Gewissheit, dass seine Femtos das als Standardaufgabe in wenigen Minuten erledigen würden, kümmerte er sich zuerst um Eva. Vollkommen verängstigt kauerte sie an einer Wand und wie sie da hockte, die Knie an die Brust gepresst, erinnerte sie ihn an die apathische Lisa auf Reds Schiff.
Damals kannte er Lisa nicht, eine perfekte Ausrede, um seine begrenzten sozialen Fähigkeiten zu kaschieren. Ein Argument, mit dem er sich diesmal nicht selbst täuschen konnte. Er musste etwas tun, aber er hatte das Gefühl das keine Worte ihre Angst lindern konnte. Er nahm ihre Hand und in Erwartung, dass sie sie einfach weg schlagen würde, überraschte sie ihn, indem sie sie fest drückte. Sie hob ihren Blick und Sentry spürte ihren Kampf zwischen emotionaler Stabilität und dem fallen lassen. Es war einer dieser Momente, wo nicht die vernünftige, rational denkende Eva am Steuer stand, sondern ihr tiefstes innerlich unverrückbares Sein die Entscheidungsgewalt übernahm. Es war die erste Hürde weg von der tief verankerten Konditionierung durch den Tempel, hin zu einem ersten entscheidenden Schritt in die mentale Unabhängigkeit. Sie fiel Sentry um den Hals und mit den Tränen trennte sie sich nicht nur von dem Ballast der vergangenen Minuten, sondern sie leerte auch ihren Rucksack, der voll gepackt war mit den Widrigkeiten der vergangenen Jahre. Es tat so gut zu weinen und mit jeder Minute in der die Tränen rollten, fühlte sie sich freier.
Während sie in seinen Armen weinte, öffnete sich seine innere Bibliothek des freigegebenen Wissens erneut. „Das Schicksal eines Menschen ist nicht zwangsläufig auf glückliche Zeiten ausgerichtet, sondern auf perfekte Augenblicke“ stand in der Kategorie Philosophie. Genau solch einen Augenblick erlebte er gerade. Sie hatte ihren Schutzpanzer für ihn geöffnet. In all dem Mist, der um sie herum passierte, teilte er mit ihr einen tief greifenden verbindenden Moment. Nicht nur sie profitierte von den Tränen, auch er merkte zum ersten Mal, dass es neben Femtos und verschütteter Vergangenheit, weitaus wichtigere Dinge gab. Pure Emotion. Er schaute rüber zu Dina. Ihre pure Emotion war Hass und der würde sie auf Dauer einsam machen.
Balta erholte sich überraschend schnell. Es war ein komisches Gefühl für Sentry die Selbstheilung nicht bei sich selber zu beobachten. Sie hatten ein paar Kalorienreserven der Inc. bei sich, so dass Baltas Hungergefühl relativ schnell befriedigt werden konnte. Erst jetzt fiel ihm Eric und sein unbekanntes Schicksal wieder ein. Er ging zu den beiden Körpern rüber und war trotz der Abneigung erleichtert, dass es nur den Angreifer erwischt hatte. Eric war unglücklich gefallen, hatte eine Platzwunde am Kopf und war dementsprechend orientierungslos.
„Er hat auf mich geschossen. Er hat auf mich geschossen. Dieser schwarze Bastard hat auf mich geschossen.“ Eric klang wie ein Insasse einer Nervenheilanstalt.
„Schon gut. Du bist nicht angeschossen worden. Deine Verletzung ist nicht schlimm.“ beruhigte ihn Sentry.
„Was, ich bin verletzt? Wo?“ Offenbar hatte Eric seine Platzwunde bisher gar nicht wahrgenommen. Er tastete seinen Kopf ab.
„Autsch. Nicht schlimm? Das tut höllisch weh.“ schrie er, nachdem er die Wunde gefunden hatte.
„Wir müssen dringend weiter, bevor sie zurückkommen.“ Balta stand vor ihnen und drängte sie zur Eile.
„Du...“ fauchte ihn Eric wütend an.
„.. bist vollkommen unversehrt. Was ist denn hier los?“ seine Wut ging über in zweifelnde Verwunderung.
„Nanotechnologie. Ich erkläre dir das später. Wir müssen hier schleunigst weg, sonst geht die ganze Sache wieder von vorne los.“ Das Gejammer des verletzten Einheimischen wurde leiser, trotzdem war es laut genug, um sämtliche Aasgeier der Umgebung anzuziehen.
„Was hat er denn für ein Problem?“ fragte Eric.
„Was immer es ist, es wird sich gleich noch verschärfen. Los folgt mir.“ trieb Balta an. Er schnappte sich Gunter und scheuchte ihn vor sich her. Sie durchquerten weiter die engen Gassen zwischen den Wellblechhütten, immer in der Hoffnung, dass Balta als ihr Anführer den richtigen Weg kannte. Nachdem sie zwei Minuten unterwegs waren, ging das Gejammer in ängstliche Schreie über.
„Nein, nein verssschwindet.“ kamen die Schreie aus der Richtung aus der sie gerade flüchteten. Dann wurde es ruhig bis auf ein paar vereinzelte Laute, die nach Raubtieren klangen.
„Was zum Teufel? Zerreißen die den?“ fragte Eric ungläubig.
„Nicht fragen. Laufen. Sonst bist du der Nächste.“ hielt ihm Balta entgegen.
Sie liefen weiter, weg von dem grausigen Schauplatz. Was immer auch mit dem verletzten Anführer passiert war, er hatte es nicht überlebt. Dieser Ort wurde immer unheimlicher und die Panik ein ähnliches Schicksal zu ereilen, trieb sie weiter an. Die Hütten schienen kein Ende zu nehmen und gelegentlich trafen sie auf neugierige Hausbewohner, die schnell in ihren Behausungen verschwanden, sobald sie in ihr Sichtfeld gelangten. Hier war eine der wichtigsten Überlebensregeln sich abzuducken, wenn potentielle Gefahren im Anmarsch waren und an diesem Ort zu dieser Zeit war das so ziemlich alles, was sich bewegte. So hetzten sie durch einen Dschungel von Hütten, bis sie abrupt vor einer Mauer zum stehen kamen.
Um die zehn Meter hoch erstreckte sich das Hindernis. Keine Frage sie waren an der Begrenzung des Slums angekommen. Der glatte Putz sollte ein Erklimmen ohne geeignete Hilfsmittel verhindern. Selbst wenn jemand es schaffen sollte die zehn Meter irgendwie zu überwinden, fand er sich nicht sofort im Bereich des Raumhafens wieder. Es gab eine zweite Mauer ungefähr fünf Meter hinter der ersten, an denen die Soldaten der Inc. patrouillierten und auf alles schießen würden, was sich in dem Zwischenbereich bewegte.
Am Fuße befanden sich weitere Hütten. Die Aussicht ein Wellblech zu sparen und den Schutz der Mauer gegen Wettereinflüsse und Übergriffe zu nutzen, hatte förmlich keinen Zentimeter Freiraum gelassen. Wie an einer Perlenkette aufgezogen, standen die Verschläge dicht an dicht. Offenbar war ein Platz an der Mauer die exklusive Lage im Slum.
„Was nun?“ fragte Dina, als sie Balta unschlüssig vor einer der Hütten stehen sah.
„Es gibt hier eine Schleuse, sozusagen einen Hintereingang, meist genutzt für Wartungszwecke, wenn man mal in den Todesbereich muss. Das ist unsere Chance durchzukommen.“ erwiderte Balta.
„Schön. Also rechts oder links lang?“ fragte Dina zurück.
„Rechts lang.“ Balta wirkte fest entschlossen, aber Sentry bezweifelte, dass er sich sicher war, die Richtung zu kennen. Für Balta bestand kein Grund die Gruppe zu beunruhigen. Die Chancen, dass er richtig lag standen bei 50%, egal ob den Anderen bewusst war, dass er keine Ahnung hatte, wo sie sich befanden.
Sie liefen die Hütten an der Wand entlang und nach etwa zehn Minuten fanden sie das, was sie suchten. Ein Durchgang nicht breiter und höher als zwei Meter. Es gab keine Behausungen im Bereich des Tores, dafür türmte sich hier der Müll über die Maßen. Sie nutzten den Abfall, um in Deckung zu gehen.
„Da sind wir und sogar noch zwanzig Minuten zu früh. Sonst hätten wir bis morgen warten müssen.“ frohlockte Balta.
„Und nun?“ fragte Dina erneut.
„Warten wir auf unseren Türöffner.“ Balta erklärte ihnen kurz, dass er sich die Dienste eines Inc-Soldaten erkauft hatte, indem er ihn mit notwendigen Medikamenten für seine kranke Frau versorgte.
„Es wird Zeit, dass wir uns unterhalten.“ Balta zerrte Gunter in eine Müllausbuchtung. Sie waren fast unter sich, nur Sentry bekam jedes Wort mit, obwohl er sie nicht sehen konnte.
„Ich werde diesen Planeten verlassen und ich habe gewisse Bedenken, wie es mit den Geschäften weitergehen soll.“ eröffnete Balta das Gespräch.
„Du willst nicht, dass ich sie weiter betreibe, weil ich dich verraten habe. Willst du mich umbringen?“ fragte Gunter.
„Der Verrat ist eine Sache, aber nicht das Hauptproblem.“ ignorierte Balta bewusst die Frage. Er wollte Gunter im Ungewissen über sein Schicksal lassen.
„Ich sehe den Schwarzmarkt als Notwendigkeit an. Er ist eine Garantie für das Überleben Vieler. Wir, die Inc. und die Händler leben gut von dem Leid der Leute auf Lassik. Ich habe immer dafür gesorgt, dass wir es nicht übertreiben.“ Balta legte eine kurze Pause ein, um die Worte wirken zu lassen.
„Kurzum, ich habe gewisse Geschäftsfelder immer außen vor gelassen. Ich fürchte bald, dass du eine Gewinnmaximierung anstrebst, sobald ich dir den Rücken kehre.“ Er fixierte Gunter um seine Reaktion auf die Vorwürfe zu ergründen.
„Du meinst Meth. Ich habe dir immer gesagt, wenn wir das Geschäft nicht machen, dann tun es Andere.“
„Wir konnten es nicht verhindern, aber wir sollten es nicht noch unterstützen.“ Balta wirkte verärgert gegenüber soviel Ignoranz.
„Ich kann es kontrollieren. Wenn ich das Monopol inne habe, kann ich es nach belieben einschränken.“
„Es ist ein Unterschied, ob wir jemanden Nahrung oder Medikamente verkaufen oder ob wir ihm chemischen Mist andrehen, der ihn krank und süchtig macht.“ Balta hatte das Gefühl gegen eine Wand zu reden.
„Was willst du machen? Dir bleibt nur eine Alternative mich daran zu hindern. Und wenn du mich umbringst, steht der Nächste bereit und der ist vielleicht noch kreativer in Sachen Gewinnmaximierung als ich.“ Gunter wirkte ungewohnt selbstbewusst.
„Ich mache mir nicht die Mühe dich zu töten. Du strahlst soviel Schwäche aus, dass jeder Kleinkriminelle versuchen wird deinen Platz einzunehmen. Vielleicht schaffst du es ja dich zu behaupten und für den Fall werden wir folgende Vereinbarung treffen. Versuch es mit dem Drogenhandel. Ich würde es dir nicht raten, weil du es dann mit Leuten zu tun bekommst, die vielleicht eine Nummer zu groß für dich sind, aber ich werde es akzeptieren. Im Gegenzug versicherst du mir, dass es keine Kinderprostitution geben wird. Ich werde irgendwann auf diesen Planeten zurückkehren und unsere Vereinbarung überprüfen. Sollte das, was ich vorfinde nicht zu meiner Zufriedenheit sein, werde ich dir persönlich die Eier abschneiden und glaub mir, dass wird nicht in fünf Minuten erledigt werden.“ Damit war das bisschen Selbstbewusstsein, was Gunter zusammen gekratzt hatte, wieder dahin.
„Warum das Ganze? Wir waren doch Partner.“ fragte Balta ungewohnt sanft.
„Waren wir das? Du warst immer der Chef, alles ging nach deinem Kopf. Hatte ich eine Idee, konnte ich froh sein, wenn du sie überhaupt angehört hattest. Meistens wurde sie dann mit einer Handbewegung abgetan. Nichts und niemand durften dem großen Anführer reinreden. Es war nicht unser Geschäft, es war deins. Weißt du wie qualvoll es ist, wenn man bestimmte Vorstellungen hat, wie das Ganze aussehen soll und dann ist man Tag für Tag gezwungen Anweisungen auszuführen, die einen immer weiter von dem eigentlichen Ziel wegbringen. Die Gelegenheit war günstig meine eigene Vision umzusetzen.“
„Vision? Visionen sind das was uns antreibt, worauf wir am Ende stolz sind, etwas geschaffen zu haben, was vorher noch nicht da war. Worauf willst du stolz sein? Auf die Vermehrung deines Reichtums? Das Meth-Junkies für ihren nächsten Kick ihre eigene Mutter umbringen würden? Das jede Perversion an unschuldigen Kindern ausgelebt werden kann? Ist es das was du willst?“ Balta schrie ihn förmlich an.
„Für dich gab es immer nur schwarz und weiß. Gut und Böse. Mir schwebt etwas dazwischen vor.“ erwiderte Gunter.
„Was? Auch wenn das Ding Schwarzmarkt heißt, befinden wir uns in einer permanenten Grauzone. Glaubst du mir fällt es leicht Regierungsbeamte zu schmieren, wenn ich ganz genau weiß, dass das Geld später an irgendwelche Zuhälter fließt. Meinst du ich hätte kein schlechtes Gewissen, wenn ich mit einem dieser Inc-Bonzen in einem dieser elitären Restaurants sitze, Geschäfte mache und genau weiß, dass er einen Tag zuvor zehn Leute hat hinrichten lassen, weil sie gegen die Kürzung der Nahrungsmittelrationen demonstrierten. Die Welt in der wir leben ist scheiße und jeder muss sehen, wie er mit dem Arsch an die Wand kommt. Wir tanzen mit dem Teufel, aber bisher konnten wir vermeiden, dass er uns fickt. Glaubst du, deine Vision hält deinen Hintern jungfräulich? Wie naiv bist du eigentlich?“
Balta war jetzt vollkommen außer sich. Für ihn gab es keine Alternative zu dem Status Quo, den er unter diesen Bedingungen herbeigeführt hatte. Es war extrem mühsam zwischen Sklavenhändlern, gierigen Geschäftsleuten und korrupten Politikern die Waage seines Gerechtigkeitsgefühls auch ab und an in Richtung der Bevölkerung ausschlagen zu lassen. Jeder sollte profitieren von seiner Organisation, auch wenn der materielle Gewinn für die Ärmsten überschaubar blieb. Er wollte wieder ansetzen, als ihm jemand zuvor kam.
„Ihr macht soviel Krach, dass ihr das halbe Ghetto und die komplette Inc. auf euch aufmerksam macht.“ Es war eine für Sentry unbekannte Stimme. Alle gingen sofort in Angriffstellung.
„Detak, schön dich zu sehen.“ entspannte Balta die Situation. Alle Anwesenden scharrten sich um den Neuankömmling. Ein Soldat in der typischen Uniform der Inc. hatte sich fast unbemerkt genähert. Das Gewehr geschultert, stand er in der für Soldaten üblichen militärischen Pose, immer bereit bei Gefahr sofort in Deckung zu gehen. In dem Mondlicht war schwer zu schätzen wie alt er war, aber die dreißig hatte er mit Sicherheit noch nicht hinter sich. Das Tor hinter ihm stand einen Spalt weit offen. Durch den Zwist zwischen Balta und Gunter war seine Ankunft unbemerkt geblieben.
„Ihr solltet etwas leiser sein.“ Seine dunkelblonden zersausten Haare bestätigten den Eindruck des heruntergekommenen Soldaten. Er wirkte ungepflegt und unterernährt. Die ganze Körpersprache strotzte nur so vor Angst. Seine eingefallenen Augen wirkten gespenstisch in dem Mondlicht. Auch die saubere akkurat getragene Uniform konnte nicht verbergen, dass die Zeiten für ihn nicht einfach waren.
„Wie geht es Mia?“ fragte Balta besorgt.
„Mit Medikamenten geht es, aber es wird immer schwieriger sie zu bekommen.“ antwortete Detak gequält.
„Da kann ich dir helfen, vorher musst du aber uns helfen.“
„Deswegen sind wir hier. Was immer ihr auch angestellt habt, die Inc. macht gerade mobil. Sie glauben ihr versteckt euch im Slum und sie bereiten gerade eine komplette Durchsuchung vor. In dreißig Minuten rückt meine Einheit aus. Eine andere kommt von der Küste her. Das wird Tote geben.“ Seine Angst in der Stimme war unüberhörbar.
„Dann sollten wir das hier so schnell wie möglich zu Ende bringen.“ sagte Balta.
Detak ging als erster durchs Tor. Ihm folgten Balta und der Rest der Gruppe. Auf einen halben Meter Dicke schätzte Sentry die Mauer. Der Pfad nach dessen durchqueren war gesäumt von Stacheldraht. Dieser verhinderte, dass mehr als zwei Personen nebeneinander stehen konnten. Fünf Meter vor ihnen befand sich die zweite Mauer, welche zwar nur ein drittel so hoch war, trotzdem nicht weniger einschüchternd wirkte, wie ihr zehn Meter hohes Gegenstück. Auch hier gab es ein Tor, welches in Stabilität dem ersten nicht nachstand. Die Strahler rechts und links blieben in Zeiten von Energieknappheit dunkel und wurden nur im Falle eines Aufruhrs zugeschaltet. Die Gruppe beeilte sich den Zwischenbereich möglichst schnell zu durchqueren.
Als sie das zweite Tor passierten, standen sie auf freier Fläche, was Detak als Anlass nahm sie weiter anzutreiben. Es war eine große Portion Glück nötig, um nicht einem anderen Wachposten aufzufallen. Die Mobilmachung spielte ihnen in die Karten, denn dadurch war so ziemlich jeder Soldat beschäftigt entsprechende Vorbereitungen zu treffen.
Sie steuerten auf eines der Nebengebäude zu und Detak öffnete mit seinem Handabdruck den Zugang. Sie liefen ein paar Gänge entlang, bis sie zu einer Kreuzung kamen.
„Einfach diesen Weg entlang bis zur Tür, dann seit ihr im Eingangsbereich des Raumhafens. Von da ist es nicht mehr weit bis zur Schwebebahn.“ Detak zeigte mit dem Arm in die rechte Richtung.
„Und wo geht’s zum Sicherheitsbereich?“ fragte Balta.
„Da lang. Ich habe aber keine Zugangsberechtigung für den Sicherheitsbereich.“ Er zeigte in die andere Richtung.
„Das ist nicht notwendig. Danke für deine Hilfe. Frag im „junction“ nach Linda. Bei ihr habe ich ein Paket für dich hinterlegt. Ich hoffe Mia schafft es.“ Bei der Erwähnung ihres Namens zuckte er kurz zusammen. Dann ließ er sie ohne Verabschiedung stehen.
„Zeit sich zu entscheiden.“ Balta wandte sich an Eva. Konfrontiert mit dem plötzlichen Ende der Gruppe, war diese überrascht über die Wehmut, die schlagartig über sie kam. Wieder musste sie eine Gemeinschaft verlassen und diesmal hatten die vergangenen Tage mehr Intensität in Sachen Zusammengehörigkeit, als all die Jahre im Tempel. Sie erinnerte sich, wie aufgewühlt sie nach den Ereignissen auf Prem war, wie sie sich durch die Ruinen der alten Stadt quälten, kurz nachdem sie einen Menschen getötet hatte. Wie sie Sentry halfen und wie er ihr half nach der versuchten Vergewaltigung. Der Kuss mit Dina, der ihren Schmerz teilte über die verpasste Chance ein glückliches Leben zu führen. Erst jetzt, im Angesicht der Trennung, wurde ihr die Stabilität bewusst, die ihr die beiden gaben. Unbewusst waren sie ein Ventil für den Überdruck ihres emotionalen Kesseldrucks geworden. Alleine wäre sie schon längst explodiert.
„Ich komme mit euch.“ platzte es aus ihr heraus, bevor sie alle für und wieder abwägen konnte. Endgültig brach sie mit ihrer Schwester. Wieder eine unrühmliche Entscheidung gegen ihre innere Überzeugung, aber eine Entscheidung für ihr Überleben. Das Gefühl erneut Verrat zu begehen, wurde zur Gewohnheit, aber es wäre ihr Todesurteil hier auf Lassik zu bleiben.
„Die einzig vernünftige Entscheidung.“ bestätigte Balta überraschend ihren Entschluss.
„Wo willst du auch anders hin? Staatsfeind des Tempels, Staatsfeind der Inc. Das Gleiche gilt übrigens für dich auch.“ Balta meinte Eric.
„Ich? Nein. Ich bin doch kein...“ Eric ging seine Optionen durch.
„Sie werden mich hinrichten. Oder schlimmer noch. Foltern.“ Er redete wieder mit sich selbst.
„Das macht dich zum Einzigen, der in die andere Richtung muss.“ Diesmal wandte sich Balta an Gunter.
„Du kennst die Bedingungen, unter denen ich dich am Leben lasse und die Konsequenzen, wenn du dagegen verstößt.“ Bevor Gunter auch nur eine Antwort erwidern konnte, bekam dieser einen so gezielten Kinnhaken, dass er in sich zusammen sackte.
„Schade, meistens bekomme ich den KO erst beim zweiten Schlag hin. Ich hab’s trotzdem genossen.“ Sie verstauten den bewusstlosen Gunter in einem Wartungsraum.
„Das sollte uns eine halbe Stunde geben. Bisher ging alles glatt. Hoffentlich klappt die letzte Etappe der Flucht auch noch.“ sagte Balta.
„Alles glatt? Mal abgesehen davon, dass wir mitten in Feindesland sind, ich nicht mehr zurück kann in mein altes Leben, ich zweimal niedergeschlagen wurde, der halbe Planet hinter uns her ist, abgesehen davon läuft doch alles bestens.“ Eric stand vor einer Panikattacke und der Versuch diese mit Sarkasmus zu unterdrücken, zeigte wenig Wirkung. Die Aussicht seine Heimat für immer verlassen zu müssen und die Angst sein behütetes sicheres Leben gegen unbekannte Gefahren einzutauschen, ließen ihn jegliche Vorsicht vergessen.
„Komm wieder runter oder ich pack dich zu Gunter in den Schrank. Reiß dich zusammen.“ Balta drohte unverhohlen.
„Ich kann nicht weg. Ich, ich… „ Eric blendete seine Umgebung vollkommen aus und brabbelte vor sich hin. In dem Moment als Balta seine Drohung ernst machen wollte, kam ihm Eva zuvor.
„Ich kläre das.“ hielt sie Balta von einem weiteren Kinnhaken ab. Sie stellte sich vor Eric, packte ihn sanft an den Ellenbogen und schaute ihm in die Augen.
„Hör mir zu. Eric hör mir zu.“ Sie hielt inne, bis sie sicher war, das sie seine volle Aufmerksamkeit hatte.
„Es tut mir Leid. Es ist alles meine Schuld, hörst du. Ich habe dich damals gedrängt mir zu helfen, durch mich hast du deinen Laden verloren und bist zum Flüchtling vor der Inc. geworden. Meinetwegen stehst du hier und hast keine Wahl als uns zu folgen. Du hast alles verloren, was dir wichtig war. Ich stehe in deiner Schuld, also werde ich dir helfen das durchzustehen. Du bist nicht allein. Gemeinsam packen wir das.“ Sie küsste ihn sanft auf die Stirn.
„Es tut mir so Leid.“ Sie war den Tränen nahe. Eigentlich war sie es, die in dem Moment Trost brauchte. Eric reihte sich in ihre lange Liste des Versagens, die angeführt von ihrem Vater und ihrer Schwester, über den Verrat am Tempel, bis zum töten eines Menschen immer länger wurde. Was auch immer sie in besten Absichten probierte, das Ergebnis war nur Leid und Schmerz. Sie fühlte sich verloren. Schlimmer noch. Sie fühlte sich schuldig für das Elend, dass sie in ihrer Umgebung hinterließ und jeder Versuch die Katastrophen der Vergangenheit zu korrigieren, vergrößerte den Wirkungskreis ihres verhängnisvollen Handelns und zog weitere unschuldige Opfer mit in den Strudel.
Ob es nun Evas überraschende Offenheit war oder der sanfte Kuss, jedenfalls beruhigte sich Eric. Sie hatte es wieder geschafft ihn zu beeinflussen, aber dieses Mal stand keine kühle Berechnung dahinter. Eric gehörte nun zur Gruppe und irgendwie fühlte sie sich für ihn verantwortlich. Damit hatten die Beziehungen innerhalb ihrer Gemeinschaft seltsame Züge angenommen. Balta und Sentry verbanden die Femtos, letzterer stand wiederum in der Schuld von Eva, die immer noch ein inneres Band mit Dina knüpfte, welche wiederum auf Sentry hoffte, ihre Rache zu verwirklichen. Eine seltsame Mischung, die sich da aufmachte den Planeten zu verlassen.
Sie folgten dem Flur zum Sicherheitsbereich. Die kalkweißen Wände vermittelten den Eindruck von Ratten in einem Labyrinth, die verzweifelt versuchen den rettenden Ausgang zu finden. Ab und an kamen ihnen Mitarbeiter entgegen, die gehetzt von scheinbar wichtigen Dingen sie vollkommen ignorierten. Für sie lag es im Bereich des Unmöglichen, dass Unbefugte innerhalb ihres Sicherheitskosmoses agierten, daher wurde die Flucht begünstigt durch vollkommenes Vertrauen in die hiesigen Sicherheitsmaßnahmen. Einzig Erics Kopfwunde würde bei näherer Betrachtung zu ungewollten Fragen führen, also waren sie gezwungen einen Zwischenhalt auf der Toilette einzulegen. Etwas Wasser und ein erste Hilfe-Kasten sorgten dafür, dass Eric wieder halbwegs unauffällig wurde. Das blutige Hemd wurde kaschiert mit einer gestohlenen Jacke, die viel zu klein für ihn ausfiel und ihn dadurch noch verkrampfter wirken ließ, als er von Natur aus war. Die Sicherheitstür stellte dank Sentrys Fähigkeiten kein Problem da und so betraten sie die Abflughalle vollkommen unbehelligt.
Der Transitbereich wirkte vollkommen überlaufen, was weniger an den Passagieren lag, als an den Unmengen an Soldaten, die permanent Kommandos schreiend hin und her eilten. Auf dem anliegenden Flugfeld verließen Truppentransporter den Raumhafen, um ihre unheilvolle Fracht im Slum abzuladen, wo sie wie geplant jede Hütte nach den Flüchtigen durchsuchen würden.
„Los zurück.“ zischte Dina.
„Zu spät. Wir müssen jetzt da durch.“ Balta hielt sie am Arm fest. Ein Soldat eilte mit gesengtem Gewehrlauf bereits auf sie zu. Dina umklammerte ihre Pistole, bereit dem vermeintlichen Angreifer einen gezielten Schuss zu verpassen.
„Was sucht ihr hier? Zivilflüge sind vorerst ausgesetzt. Sie stehen uns nur im Wege. Gehen Sie zurück in die Lounge und warten Sie bis alles vorbei ist.“ brüllte der Soldat sie an. Offenbar war ihm nicht klar, dass der Grund für diesen Trubel direkt vor ihm stand. Sentry schaute sich um. Die Lounge befand sich genau am gegenüberliegenden Ende der Abflughalle. Die Wahrscheinlichkeit, dass hundert Soldaten ähnlich einfältig waren wie ihr Gegenüber, ging gegen null. Wie sollten sie da durch ohne erkannt zu werden?
„Was ist denn hier los?“ spielte Balta den Naiven.
„Das geht Sie gar nichts an. Scheiß Zivilisten. Soldat, bringen sie diese Leute zur Lounge und passen Sie auf, dass sie unterwegs keinen Schaden anrichten.“ Damit ließ er sie stehen.
„Los. Ihr habt den Unteroffizier gehört. Ich bringe euch zurück. Wir gehen außen rum, da behindern wir am wenigstens.“ Sein Blick ruhte auf Dina. Alle Anderen nahm er nur am Rande wahr.
„Ein Jammer, dass Sie uns verlassen. Ein echter Verlust für die hiesige Männerwelt.“ fing der Soldat an zu flirten.
„Hier haben wir wohl einen echten Herzensbrecher.“ erwiderte Dina schnippisch.
„Mehr als das. Wenn Sie mal wieder auf Lassik sind, fragen Sie nach Dave vom 13. Zug. Ich zeige Ihnen Dinge außerhalb der üblichen Touristenroute.“ Er setzte seinen muskulösen Körper in Bewegung und wies die Gruppe an ihm zu folgen.
„Sie meinen es gibt hier mehr als Ruinen und halb verfallene Regierungsgebäude.“ Dina antwortete in ihrem üblichen Sarkasmus.
„Aber natürlich. Meist bin ich im „Chicas“ anzutreffen. Nur Mut. Ich bleibe voll und ganz ein Gentleman.“ entgegnete er selbstbewusst.
„Mache ich den Eindruck, als stehe ich auf Gentleman?“ Jetzt hatte sie die hundertprozentige Aufmerksamkeit des Soldaten, dessen Gedanken nun sich in nicht jugendfreien Fantasien verirrten und ihn damit blind machten für mögliche Schlüsse, die ihm die Zusammensetzung der Gruppe geben könnte.
„Wie gesagt. Schade, dass Sie gehen.“ antwortete er noch im zweideutigen Tonfall und führte die Gruppe in einem großen Bogen um die Truppen herum. In der Lounge angekommen, wiederholte er noch einmal sein Angebot und kehrte dann zu seiner Einheit zurück.
Auch die Lounge war vollkommen überfüllt. Sämtliche Passagiere, sowie die Besatzungsmitglieder der zivilen Schiffe im Hafen, teilten auf engstem Raum das Schicksal der bedrückenden Beengung. Ein Gewirr aus aufgebrachten Stimmen verkündete unentwegt den Unmut über die Behandlung. Ein paar Soldaten versuchten halbherzig die Menge zu beruhigen, aber jede Minute die verging, heizte die Unzufriedenheit weiter auf. Die Stimmung war aggressiv und das Eintreffen weiterer Insassen veranlasste einige Kapitäne der Handelsschiffe ihren Protest gegen die rigorose Einschränkung ihrer Freiheiten zu verstärken. Sie drohten unverhohlen mit der Einstellung der Handelsbeziehungen mit Lassik, was bei dem verantwortlichen Offizier nicht ohne Wirkung blieb. Es musste ein Friedensangebot her, um eine Eskalation zu vermeiden. Der ursprüngliche Plan den zivilen Luftverkehr erst nach positivem Ausgang der Mission wieder zu zulassen, wich dem Kompromiss den Abflug der Handelsschiffe nach dem Verlassen der Truppen zu erlauben. Ein folgenschwerer Fehler, welcher für Balta und seine Kameraden sich womöglich als weiterer Glücksfall herausstellen könnte.
„Dort drüben.“ Balta musste gegen den Geräuschpegel regelrecht anbrüllen. So ziemlich jeder in dieser bedrückenden Enge schien sich mit verbalen Unmutsäußerungen gegen die Zwangsunterbringung zu wehren. Sie zwängten sich durch die aufgebrachte Menge auf einen gelassenen wirkenden, wohl beleibten Mann zu. Sein krausen schwarzen Haare, die durchzogen von grauen Strähnen recht gepflegt wirkten und sein dichter Vollbart zeugten von seinem fortgeschrittenen Alter. Er hatte sehr breite Schultern auf knapp zwei Meter Körpergröße, aber die für Lassik typische Muskulatur im Nackenbereich war wenig ausgeprägt. Dieser Planet war nicht seine Heimat, soweit konnte Sentry die Statur zuordnen. Seine Augen waren klein, was ihn in Verbindung mit dem Bart ein freundliches Antlitz verlieh.
„Balta, Sie haben aber auch ein Pech. Der ganze Trubel verzögert unsere Abreise. Ich hoffe Sie haben Zeit mitgebracht.“ begrüßte die massige Gestalt Balta.
„Leider nein. Und das ist auch nicht unserer einziges Problem.“ erwiderte Balta.
„Oh, erschwerte Bedingungen. Das ändert unsere getroffene Vereinbarung. Hoffentlich haben Sie genug neue Verhandlungsmasse mit.“ Baltas Gegenüber war in freudiger Erwartung weiterer guter Geschäfte.
Das Gewehr, welches eigentlich dem Anführer ihres Slum-Begleitschutzes überlassen werden sollte, befand sich in Einzelteile zerlegt unter Baltas Mantel. Erneut würde es den gegebenen Anreiz liefern, um Hilfe von Außenstehenden zu erkaufen. Leicht verdeckt zeigte Balta das Griffstück.
„Tsss. Ein Inc-Sturmgewehr. Hoffentlich genetisch entsichert.“ sprach der Kommandant ziemlich leise, so dass er in dem ganzen Trubel fast nicht mehr zu verstehen war.
„Natürlich. Und hier sind unsere Bedingungen. Fünf statt zwei Passagiere und wir müssen sofort weg.“ Balta war wieder im vor Selbstvertrauen strotzenden Verhandlungsmodus, den er schon im Slum erfolgreich angewandt hatte. Diesmal stand er einem Profi gegenüber, der genau wusste, in welch verzweifelter Lage sich die Gruppe befand.
„Lassen Sie die Schauspielerei. Sie sind eindeutig in der schlechteren Verhandlungsposition. Diesen ganzen Zauber veranstalten die doch allein wegen euch.“ Damit hatte er Balta sprichwörtlich die Hosen runter gezogen. Zum ersten Mal war Balta sprachlos.
„Na gut. In zehn Minuten werden sie den zivilen Luftfahrtverkehr wieder freigeben. Ich werde dann genau dreißig Minuten in meinem Schiff auf euch warten. Schafft ihr es mit dem Gewehr durch die Kontrollen, sind wir im Geschäft. Ansonsten werdet ihr wohl oder übel hier zurück bleiben.“ Der Schiffskommandant wendete sich ab, entschied sich dann doch noch mal für eine Rückkehr.
„Achja. Am Terminal dort drüben könnt ihr euch genetisch registrieren lassen. Ich habe dort zwei blanko IDs hinterlegen lassen. Viel Glück.“ Damit ließ er sie in ihrer Verzweiflung allein. Das Risiko lag nun bei der Gruppe. Eine wirklich angenehme Situation für den Kommandanten.
„Wir lassen euch nicht hier.“ kam Sentry Baltas Gedankenspielen zuvor.
„Leider gibt es durch diese Militäraktion zusätzliche Kontrollen. Wir haben nur zwei IDs. Keine Chance da fünf Leute durch zu bekommen.“ Balta erwog nicht mal ein Alternativszenario.
„So einfach machen wir uns das nicht.“ Sentry war nicht bereit jemanden zurückzulassen. Das wäre der sichere Tod.
„Ich werde da auf jeden Fall durch und wenn ich mich durchschießen muss. Ich will hier nur weg, auf die eine oder andere Weise.“ Dina wirkte fest entschlossen.
„Ok. Dann versuchen wir es zuerst mit Grips. Schießen können wir immer noch.“ Baltas Verstand ging bereits die Möglichkeiten durch. Es dauerte nur wenige Sekunden bis sein Plan stand. Vermutlich hatte er sich schon einen Alternativplan zu Recht gelegt, denn die Erklärungen wirkten ausgereift.
„Dina und ich nehmen die IDs. Ich denke mal für dich wird die genetische Kontrolle kein Problem. Ihr habt einheimische IDs. Die Gefahr ist allerdings groß, dass ihr bereits auf der Fahndungsliste steht.“ Das Vorhaben hatte einige Haken. Erstens waren die IDs auf männliche Nutzer ausgelegt. Die Wahrscheinlichkeit, dass in dem allgemeinen Trubel jemand darauf achtet war zwar gering, aber durchaus vorhanden. Zweitens hatte Sentry keine Ahnung, ob seine Femtos auch IDs generieren konnten und letztendlich war da der offensichtlichste Schwachpunkt, dass Eva und Eric gesucht wurden und vermutlich bereits erfasst waren.
„Da brauchen wir eine ordentliche Portion Glück.“ In Dinas Stimme schwang die Gewissheit mit, dass es nicht alle schaffen würden. Sie ging mit Balta an das Terminal, an dem sich beide registrierten. Durch die Fenster der Lounge konnten sie mitverfolgen, wie die Truppen innerhalb des Transitbereiches immer weniger wurden. Mit jedem Soldaten, der in einen der Truppentransporter stieg, wuchs die Anspannung unter den Wartenden. Sentry fiel es immer schwerer normal zu atmen. Endlich ging es los. Drei Soldaten, ausgestattet mit einem Kontrollgerät, standen am Ausgang und überprüften die Abreisenden. Einer nach dem Anderen legte den Daumen auf den Scanner. Niemand rechnete mit was anderem als dem Aufleuchten der grünen Lampe. Die Informationen auf den Bildschirmen wurden weites gehend ignoriert, was insbesondere die Zuversicht von Dina wachsen ließ.
Die Gruppe befand sich im vorderen Drittel. Balta wurde als erstes kontrolliert. Eiskalt und ohne jede Scheu drückte er den Daumen auf die Kontrollen. Grün. Der Erste war durch, aber mit nix anderem hatte die Gruppe gerechnet. Dann war Dina dran. Hoffentlich ignorierten sie weiter die angezeigten Informationen. Wieder grün. Ein kurzer Blick auf das Display ließ alle kurz den Atem anhalten.
„Weitergehen.“ murmelte die Kontrolle. Dina konnte sich ein schwaches Grinsen nicht verkneifen.
Eric und Sentry wurden parallel kontrolliert, wobei Eric ein paar Sekunden eher seinen Daumen auf den Scanner legte. Das gelbe Licht ließ Sentrys Kloß im Magen auf Kürbisgröße anschwellen. Das verdutzte Gesicht der Kontrolle nahm er nur am Rande wahr. Er war der Nächste. Die Souveränität, die er sich zu Recht gelegt hatte, war mit einem Schlag verschwunden. Bei ihm würde nicht nur das gelbe Licht blinken. Tiefrot wäre seine Farbe.
XII
„Und wenn ihr euch nur selbst vertraut, vertrauen euch die anderen Seelen.“
Johann Wolfgang von Goethe
„Nun machen Sie schon. Einfach den Daumen drauf legen.“ raunte ihn sein Kontrolleur ungeduldig an. Panik ergriff Sentry. Er hatte das Gefühl zu fallen, aber diesmal hatte es nichts von Befreiung. Ganz im Gegenteil, der Aufschlag war unausweichlich und jede Millisekunde die verging, steigerte die Panik vor dem Unvermeidlichen. Hier und jetzt könnte es enden. Es blieb keine andere Option mehr übrig, er war gezwungen seinen Daumen auf dieses verdammte Feld zu legen und dem Schicksal seinen Lauf zu lassen. Wie in Zeitlupe bewegte sich sein Unterarm in Richtung Kontrolle und während er auf der Hälfte des Weges mit dem Schlimmsten rechnete, übernahm eine unbekannte Macht sein Handeln. Er fühlte sich ferngesteuert, als ob ihm der Steuerungsknüppel entrissen würde. Der neue Pilot, das unbekannte innere Wesen, traute ihm die Bewältigung dieser Situation nicht zu. Er war nur noch Zuschauer und das unangenehme Gefühl des Verlustes der Kontrolle über sich selbst, wich der Erleichterung sich dem künftigen Problem nicht bewusst stellen zu müssen. Bequem setzte er sich in das Hinterzimmer seines eigenen Geistes. Kein stupider Autopilot, der die Kontrolle übernahm. Es war jener verschüttete Teil von sich selbst, der aktiv wurde, weil sein bewusstes Ich namens Sentry nicht mehr weiter kam. Seine geheimnisvolle Vergangenheit fand den Weg durch die mentale Barriere, um eine passende Alternative zur scheinbar aussichtslosen Situation aufzuzeigen. Die Anstrengung, die dahinter steckte, erlaubte nur eine zeitlich begrenzte Überwindung, aber es reichte, um einen kurzen Blick hinter die Kulissen zu werfen und neue Erkenntnisse über den verborgenen Teil seines Wesens zu erhaschen. Wieder dieses Gefühlschaos, als sich für einen Augenblick das Bild dieser geheimnisvollen Frau in den Vordergrund drängte. Keine Zeit für Sentimentalitäten, sein zweites Ich setzt Prioritäten. In der Gewissheit, dass er selber oder es oder eine Mischung aus seinen zwiespältigen Persönlichkeiten einen zufrieden stellenden Ausgang herbeiführen würde, beschleunigte er seinen Arm und drückte den Daumen auf den Scanner.
War es ein Befehl? War es ein Reflex? Sentry wusste es nicht und die Tatsache, dass in seinem Gehirn so bewusst Dinge passierten, welche er nicht verstehen, geschweige denn kontrollieren konnte, beunruhigte ihn dann doch. Irgendwas hatte er ausgelöst und die Empfänger waren höchst wahrscheinlich seine Femtos. Er musste erneut an Red und seine kläglichen Versuche denken sie zu aktivieren. Jetzt klappte es und er hatte keine Ahnung wie oder durch was er mit ihnen kommuniziert hatte. Zu schnell war der Impuls. Das er es überhaupt bemerkt hatte, verdankte er den Nachwirkungen der Übernahme durch sein anderes Ich.
Die gelbe Lampe leuchtete, dann die rote und die grüne. Sie wechselten sich ab, mal leuchteten alle drei, mal nur eine. Ein buntes Zusammenspiel aller möglichen Kombinationen. Nicht nur das, auch Erics Kontrollgerät blinkte munter vor sich hin. Alle drei Kontrolleure hatten die gleichen Probleme. Sentry hatte einen Virus eingeschleust. Also konnte er nicht nur genetische Sperren überwinden. Na klar. Warum sollten sich die Femtos darauf beschränken elektronische Systeme zu knacken. Der weitere Schritt hin zum Systemabsturz war nicht mehr besonders schwierig. Alles was er brauchte, war die richtige Stimulation.
„Was ist denn jetzt los?“ Der Soldat schaute zu seinem Vorgesetzten, der etwa zwei Meter hinter ihm stand.
„Verdammt. Der Basisrechner ist abgestürzt.“ entgegnete der Offizier panisch. Die Blicke der Soldaten fielen in militärischer Geschlossenheit auf eine dunkle Kiste, welche auf einem Tisch im Eingangsbereich der Lounge stand.
„Kriegt ihr den wieder hin?“ fragte der Offizier. Die Aussicht einen Großteil der aufgebrachten Zivilisten weiterhin in der Lounge zu bewachen, machte ihn hektisch.
„Keiner von uns hat die notwendigen Kenntnisse.“ antwortete einer der Soldaten.
„Na toll.“ Er schaute auf die ungeduldige Menge vor ihm. Die genervten Gesichter setzten ihn unter Druck eine schnelle Entscheidung zu treffen.
„Wir werden schnellst möglich ein Ersatzgerät organisieren.“ brüllte er in die Menge, was einen Sturm der Entrüstung nach sich zog. Von mehreren Seiten wurde er bedrängt, diese aus Sicht der Zivilsten getroffene Fehlentscheidung zu korrigieren. Er war es nicht gewohnt, dass jemand die Anweisungen der Inc. anzweifelte, aber hier handelte es sich fast ausschließlich um Auswärtige und sein Handlungsspielraum zur Durchsetzung dieser Maßnahme beschränkte sich ausschließlich auf Sturheit. Zu seinem Unglück fehlte ihm die Gelassenheit, um die Entrüstung wirklich konsequent zu ignorieren und als ihm schließlich noch mitgeteilt wurde, dass alle Geräte auf Grund der Suchaktion im Einsatz waren und daher kein Ersatzgerät vorrätig war, löste sich das letzte bisschen Schutzpanzer endgültig auf.
„Na gut. Im Endeffekt hatten wir ja schon Kontrollen beim Betreten des Sicherheitsbereiches.“ rechtfertigte er sich vor seinen Soldaten. Damit war er endgültig umgefallen und bevor irgendwelche Zweifel auftraten, wurden sie bereits überrannt von den wartenden Reisenden.
„Was für ein Glück. Ich habe echt gedacht das wars.“ Erics Puls kam nur mit Mühe wieder runter.
„Quatsch. Das hatte mit Glück nichts zu tun. Was steckt denn noch in dir?“ forderte Balta Sentry auf auszupacken.
„Offenbar haben wir alle unsere Geheimnisse.“ konterte dieser. Warum sollte er einseitig mit der Wahrheit rausrücken. Baltas Geheimniskrämerei übertraf vermutlich die seine um einiges.
„Gehen wir an Bord. Da haben wir genug Zeit zum plaudern.“ Die Gruppe brauchte nicht lange um Landeplatz 22 zu finden. Das stolze Schiff, mit dem sie Lassik verlassen würden, hieß „Baltim“ und machte von außen alles Andere als einen zuverlässigen Eindruck. Sie wirkte wie eine riesige verbeulte und zerkratzte Zigarre, an deren Seiten zwei kleinere, nicht minder vertrauenswürdig aussehende Zigarren angebracht waren. Drei Stützen hielten das ganze Konstrukt etwa einen Meter über der Erdoberfläche. Während der große mittlere Teil fast ausschließlich aus Metal bestand, gab es in den kleineren Zylindern Fenster, die einen Blick in das Innenleben ermöglicht hätten, wären sie nicht mit Vorhängen ausgestattet gewesen. Eindeutig waren dort die Kabinen der Besatzungsmitglieder, während die Mittelzigarre als Laderaum diente. Die Kommandobrücke wirkte wie ein aufgesetzter Pickel über dem Frachtraum und war der höchste Punkt des gesamten Schiffes.
„Willkommen auf der „Baltim“.“ begrüßte sie der Kommandant am Fuße einer Treppe, die in den Frachtraum führte.
„Wir sollten so schnell wie möglich verschwinden.“ ignorierte Balta den freundlichen Empfang.
„Natürlich. Sobald ich eure Eintrittskarte habe.“ blieb der Kommandant freundlich. Es dauerte nicht einmal eine Minute, bis Balta das Gewehr aus seinen Einzelteilen zusammengesetzt hatte. Nachdem der Kommandant seine „Eintrittskarte“ übernahm, sich genetisch registrieren ließ und sich des brauchbaren Zustands versichert hatte, begann er sich vorzustellen.
„Ich begrüße euch an Bord. Mein Name ist Mario del Gran Edificio. Sicherlich hat der Name auch eine Bedeutung. Leider konnte mir bisher niemand sagen welche. Daher bin ich euch nicht böse, wenn ihr mich einfach Mario nennt.“ Er grinste über das ganze Gesicht und es war an Hand des Vollbartes schwer zu ergründen, ob er über die unbekannte Herkunft seines Namens feixte oder ob er sich über das neu erworbene Gewehr freute.
„Mario vom großartigen Anwesen.“ übersetzte Sentry vollautomatisch. Nicht nur er war über dieses nutzlose Wissen überrascht. Diese Aktion brachte ihm die fragenden Blicke sämtlicher Anwesenden ein.
„Hier haben wir wohl jemanden der tote Sprachen spricht. Ich habe da noch ein paar Sachen, die du mir bei Gelegenheit übersetzen kannst.“ Marios Überraschung war deutlich rauszuhören.
Zum ersten Mal spürte Sentry das erhabene Gefühl von Freiheit, als er durch den Boden das Schiff betrat. Dieser Haufen Metall würde ihn wegbringen von den furchtbaren Erlebnissen der vergangenen Wochen. Für ihn war die „Baltim“ der Stift mit dem er ein neues Kapitel seiner bisher übersichtlichen Biographie schreiben würde. Frei von Schmerz und Leid, soviel hatte er sich vorgenommen. Keine Reds oder Kains, die in ihm nicht mehr als ein Spielzeug sahen. Er allein würde sein Schicksal bestimmen, in dieser für ihn unbekannten Welt.
Eva war direkt hinter ihm gewesen, aber sie zögerte die „Baltim“ zu betreten. Ein letzter Anflug von Zweifel überkam sie. Von all den Entscheidungen, die sie in ihren noch jungen Jahren getroffen hatte, war nichts mit diesem Augenblick vergleichbar. Sie würde Lassik verlassen. Mehr noch sie würde ihre Familie zurücklassen. Das Bild ihrer Schwester kam ihr in den Sinn, wie sie da lag, vollkommen ausgemergelt und blass in ihrem Zimmer. Sie wollte die Erinnerung nicht auf dieses letzte Treffen reduzieren, aber ihr Gewissen verwehrte ihr angenehmere Rückblicke. In dieses Schiff zu steigen war logisch, denn die Alternative wäre ihr sicherer Tod. Sie war auf der Flucht. Warum hatte sie dennoch das Gefühl genau das Falsche zu tun? Sollte sie nicht die letzten Momente mit ihrer Schwester teilen? Sie schaute zurück auf die Menschen, die im Sicherheitsbereich hin und her eilten, um ihre verspäteten Flüge zu bekommen. Würde sie Lassik je wieder sehen? Dina holte sie aus der Wehmut.
„Nun sind wir alle heimatlos. Das Leben kann echt beschissen sein.“ versuchte sie sich als Trösterin, aber der Effekt war gleich null. Eva schaute rüber zu Eric, der ebenfalls zögernd auf der Treppe stand. Sie nahm seine Hand und gemeinsam überwanden sie ihre Zweifel und betraten die „Baltim“.
Es gab nur eine Passagierkabine und die war unglücklicherweise für maximal zwei Personen ausgelegt. Zu fünft mussten sie sich abwechseln mit schlafen und da bei Balta die Nanotechnologie ihren Tribut forderte, bekam er das Privileg der ersten Erholung. Diejenigen die nicht ruhten, verbrachten die Zeit im Aufenthaltsraum, der gleichzeitig auch als Kantine diente. Kommandant Mario hatte seine eigene Kabine und die vier Besatzungsmitglieder teilten sich zwei weitere Räume. Alles im allen war die „Baltim“ sehr spartanisch eingerichtet und Sentry drängte sich der Vergleich zu Reds Schiff förmlich auf. Er war zwar kein Gefangener mehr, aber die Freiheit beschränkte sich zwischen Schlafkabine und Aufenthaltsraum. Die Aussicht wochenlang in diesem beengten Schiff zu zubringen, gefiel ihm überhaupt nicht.
„Ok hier unserer Zeitplan.“ Mario hatte die Passagiere vor dem Start in der Kantine zusammen gerufen.
„72 Stunden bis zum Exson. Ohne größere Verzögerungen haben wir weitere 72 Stunden bis zum Sprung. Unser Ziel ist wie vereinbart die Yuma-Station. Vom so genannten Zentrum des Universums, könnt ihr dann eigentlich überall hin.“ Sentry schaute in die Gesichter der Gruppe. Offenbar war er der Einzige, der die Worte des Kommandanten nicht verstand.
„Kann mich jemand aufklären, was das alles bedeutet?“ fragte er eher schüchtern in die Runde.
„Du weist was Schafe sind, du kennst ausgestorbene Sprachen, aber ein Exson kennst du nicht? Da hast du wohl in der Schule die falschen Fächer belegt.“ Dina schaute ihn ungläubig an. Sentry konzentrierte sich auf die freigegebene Bibliothek seines Wissens. Nichts. Das Wort Exson gab es nicht.
„Tut mir Leid, aber offenbar habe ich da eine Wissenslücke.“ erwiderte er trotzig. Auch der Kommandant war verwirrt. Sentry fühlte sich wie ein Kind, das gerade daran scheitert sich die Schnürsenkel zu binden. Es war Balta, der die peinliche Situation auflöste.
„Es gibt nur wenige Schiffe mit einem Sprungantrieb. Dieses hat keins. Das bedeutet die meisten sind auf eine Art Transporter angewiesen, der zwischen den Systemen pendelt. Es gibt nur noch sieben dieser Transferschiffe. Alle stehen unter der Verwaltung der Exson. Daher auch der Name. Ihre Zentrale ist Yuma. Von da aus springen die Schiffe in die einzelnen Regionen und wieder zurück. Da sie quasi das Monopol haben und über den Fahrplan entscheiden können, sind sie so was wie die heimlichen Herren der Galaxie. Wir werden also in drei Tagen andocken an eines der Exson und drei Tage später geht’s nach Yuma. Das ist das, was Mario uns eigentlich sagen wollte.“ übersetzte Balta für Sentry. Dina hatte Recht. Wieso fehlten genau solche wesentlichen Informationen in seinem Wissen?
„Gut. Da jetzt auch der Letzte über unsere Pläne Bescheid weiß, würde ich jetzt die Standardschwerkraft zuschalten und dann verschwinden wir von hier.“ beschloss Mario die Versammlung.
Das hatte Sentry vollkommen vergessen. Die erhöhte Schwerkraft auf Lassik hatte er mittlerweile als gegeben hingenommen und in dem Moment, in dem man die Gewichte von seinen Schultern nahm, fühlte er sich vollkommen überangepasst an die hiesigen Verhältnisse.
„Ein Wahnsinn. Ich habe das Gefühl als könnte ich 200kg stemmen.“ Eric drückte die Empfindung aus, die auch Sentry gerade durchflutete. Einmal mehr hielt er sich für unverwundbar.
„Genieß das Gefühl, denn in ein paar Wochen wirst du vermutlich breiter als höher sein.“ warnte Dina.
„Wieso denn das?“ fragte Eric.
„Sie traut dir nicht zu das Ungleichgewicht zwischen Kalorienzufuhr und Kalorienverbrauch anzupassen.“ hakte Mario spöttisch ein.
„Hä?“ Diesmal war es Eric, der nichts verstand.
„Ganz einfach. Auf eurem Höllenplaneten brauchtest du mehr Energie und daher auch mehr Kalorien. Hier brauchst du weniger Energie, also auch weniger Kalorien. Du wirst sehen, dein Körper verlangt weiterhin die gewohnte Menge und schon mutierst du vom Muskelprotz zum Schwabbelbauch.“ Mario feixte über Dinas Vergleich.
„Mehr zum lieben für die Frauen.“ Er strich lachend über Erics Bauch.
„Niemals.“ Eric wirkte entschlossen.
„Das schreit nach einer weiteren Wette.“ Dina war guter Laune, als sie spürte wie das Schiff abhob.
„Zehn Kilo in 8 Wochen.“ schlug sie vor.
„Niemals. Da halte ich dagegen.“ Er konnte sich gar nicht vorstellen zehn Kilo zu zunehmen.
„Einsatz? Diesmal kein Bier. Egal was der Gewinner verlangt, der Verlierer tut es. Einverstanden?“ Dinas Grinsen verlieh Eric das Gefühl gerade seine Seele verpfändet zu haben. Trotzdem schlug er ohne zu zögern ein.
„Ich überlege mir inzwischen schon was Schönes.“ Dina wirkte siegesgewiss.
Sentry stand am Fenster der Kantine. In Bewegung zu sein, gab ihm das Gefühl seinen eigenen Dämonen näher zu kommen. Dabei hatte er Angst, trotzdem musste er sich ihnen stellen. Der umwerfende Anblick, wie der Planet unter ihm kleiner wurde, wie die Sonne im Hintergrund ihr Licht entfaltete und die Monde halb erleuchtete, stärkten das Gefühl der Überlegenheit, dass ihm die überdimensionierte Muskulatur vortäuschte. Er war voller Selbstvertrauen, immerhin hatte er diesem Planeten mit all seinen Widrigkeiten getrotzt und jetzt ließ er ihn hinter sich, schüttelte ihn ab, wie ein lästiges Insekt, das ihn viel zu lange genervt hatte. Im Nachhinein betrachtet, wirkten die vergangenen Ereignisse als widrige Erfahrung, aus denen er gestärkt hervor ging. Das er fast jeden Moment da unten um sein Leben fürchtete und das sämtliche Obrigkeiten hinter ihm her waren, verblasste mit jedem Meter, den das Schiff zwischen ihn und den Planeten brachte. Immer mehr überwiegten die wenigen positiven Erfahrungen und die nutzte er, um seine geistige Stabilität weiter zu festigen. Er brauchte die Kameradschaft von Eva, Dina und auch Eric, um das mentale Durcheinander in seinem Kopf in Grenzen zu halten. Die Tatsache, dass da mehr als er selbst in seinem Kopf ist, verängstigte ihn mehr als alle Reds dieser Welt. Was passiert wohl, wenn die geistige Barriere fällt? Würde Sentry dann aufhören zu existieren? Plötzlich war er sich nicht mehr sicher, ob die Blockade in seinem Kopf ihn abhalten sollte etwas über sich zu erfahren oder ob sie als Schutz zu seinem jetzigen Ich diente. Sentry war mittlerweile viel zu weit entwickelt, als das er einfach so überschrieben werden könne. Er hatte Angst einfach ersetzt zu werden.
Obwohl die Reise zum Exson nur drei Tage dauerte, zeigten die beengten Verhältnisse schnell ihre Wirkung. Der Ton der üblichen Kabbeleien zwischen Dina und Eric wurde rauer. Auch Eva wurde zunehmend gereizt. Obwohl der Aufenthalt auf der „Baltim“ für Sentry das erste Mal aus freien Stücken erfolgte, war der Lagerkoller nicht weniger heftig als in Reds Gefängniszelle. Gab es damals einen gewissen Zusammenhalt, weil man das Schicksal der Unterdrückung teilte, ging man sich hier schon wegen Kleinigkeiten an die Gurgel. So sehnten alle die Ankunft herbei, denn alles was über das Exson bekannt war, versprach mehr Abwechslung, als der triste Alltag auf der „Baltim“.
Für Sentry war die Anspannung solange hoch, bis er dem unausweichlichen Gespräch mit Balta beiwohnte. Die Mädchen hatten die Nachtschicht und Eric fachsimpelte im Kontrollraum mit der Besatzung. Sie waren unter sich. Sentry begann mit seiner Geschichte, wie er von Red in einem Tiefkühler gefunden wurde und sein Gedächtnis diese Erinnerungen hemmende Blockade aufwies. Er schilderte sein Dasein als Gefangener und schließlich erzählte er ihm von dem Schmuckstück und der Frau auf dem Foto. Die Femtos ließ er vorerst außen vor. Balta hörte sich das Ganze an und begann seinerseits mit der Geschichte.
„Ich bekam die Nanotechnologie vor etwa dreißig Jahren.“ Schon der erste Satz versetzte Sentry in ungläubiges Schweigen. Balta konnte doch höchstens 25 sein.
„Wenn man infiziert wird, machen die eine Art Kopie von deinem Körper. Die kleinen Kerle sind darauf programmiert, genau diesen Zustand zu erhalten. Alles was an Beschädigungen vorher eingetreten war, ist unwiderruflich hinüber. Dem Kerl, von dem ich die Dinger bekommen hatte, fehlten zum Beispiel zwei Finger. Und ja, man altert nicht, denn Altern ist eine Art Verschleiß von Zellen und Verschleiß ist für die kein Problem.“ Balta machte eine Pause.
„Das heißt ich kann nicht sterben?“ fragte Sentry skeptisch.
„Jedenfalls nicht auf natürlichem Wege. Wie ich die Vorfahren kenne, gibt es bestimmt auch ein Gegenmittel gegen diese Biester. Würde mich wundern, wenn nicht.“ Balta fuhr fort.
„Wie du schon richtig festgestellt hast, kann man die nicht einfach transferieren. Man muss sie auf den jeweiligen Wirt anpassen und das geht nur über Vorfahrentechnologie. Das ist nicht das einzige Problem. Man benötigt auch einen Spezialisten, der sich mit dieser Technologie auskennt. Selbst als Neuling in dieser Welt müsste dir mittlerweile klar geworden sein, dass Spezialisten in Genforschung eher die Ausnahme sind. Aber es gibt einen Ort, an dem Forschung und Wissenschaft betrieben werden. Nur Wenige wissen, wo er ist. So viel vorweg, ich weiß es auch nicht.“ Sentry war enttäuscht. Immerhin hatte er sich erhofft, dass Balta ihn dort hin brächte.
„Ich kenne jemanden, der weiß, wie man da hinkommt.“ kam Balta Sentrys Frage zuvor.
„Forschung? Wer finanziert denn so was?“ fragte er stattdessen.
„Sie erforschen nichts Neues. Sie sammeln jegliche Form von Vorfahrentechnologie, ergründen ihr Prinzip, stellen es selber her und verkaufen es weiter. Ich denke mal die klügsten Köpfe der Menschheit sind an diesem Ort.“
„Wir erforschen unsere eigenen Entwicklungen?“ fragte Sentry ungläubig.
„Das Wissen ist über die Jahrhunderte verloren gegangen. Die ganzen technischen Spielzeuge, die wir auf Lassik gefunden haben, wären eine Goldgrube für die Science.“
„Und diese Science sind so geheim, dass nur wenige von ihnen wissen?“ fragte Sentry ungläubig.
„Nein. Würde nicht viel Sinn machen, da sie ja was verkaufen wollen. Jeder weiß, dass es sie gibt. Nur keiner weiß, wo sie sich befinden. Sie handeln ausschließlich über Geschäftspartner ihres Vertrauens und ich kenne einen von ihnen.“ In Sentry arbeitete es. Reds Kontakte, die wussten, wie man die Femtos aus ihm herausbekommen würde und wie er sich selber infizieren könne. Das waren diese Science. Ihm kam das Bild in den Sinn, wie Dart in diesem unterirdischen Bunker die Computer den eigentlichen Schätzen vorzog. Das Wissen über genetisch verändertes Getreide würde die Inc. mächtiger machen als, all der Trödel der noch da unten rum lag. Auch das ging vermutlich nur mit Hilfe der Science.
„Und du warst bei ihnen?“ fragte Sentry.
„Vor über dreißig Jahren. Ihr Standort ist kein Planet, soviel weiß ich, es ist etwas Mobiles. Sie können ihre Position ändern.“ Balta war ungewöhnlich auskunftsfreudig, was Sentry nutzen wollte, um weiter nachzuhaken.
„Wenn ich da auftauchen würde mit meinen winzigen Viechern in der Blutbahn. Wie würden sie mich empfangen?“ fragte er.
„Du bist vermutlich das Wertvollste, was sie je in die Hände bekommen haben. Ich nehme mal an, du hast nicht nur zwei verschiedene winzige Viecher in dir.“ Baltas Kombinationsgabe überraschte Sentry nicht mehr.
„Es sind sieben. Was mich interessiert ist Folgendes. Sehen sie mich als Laborrate und machen alle möglichen Tests an mir oder würden sie mir ernsthaft helfen?“ Sentry wusste nicht, ob er eine ehrliche Antwort bekommen würde, immerhin verfolgte Balta hier eigene Interessen.
„Sieben? Und du kennst nur zwei Funktionen. Mich würde es zerreißen, wenn ich nicht wüsste, was die Anderen so drauf haben.“ wand sich Balta.
„Das ist keine Antwort auf meine Frage.“ beharrte er weiter.
„Vermutlich liegt die Wahrheit irgendwo dazwischen. Es sind in erster Linie Geschäftsleute und ihr primäres Ziel ist Gewinn zu machen. Anderseits machten sie mir damals nicht den Eindruck über Leichen zu gehen, sowie die Inc. das praktiziert.“ Er zögerte kurz bevor er fortfuhr.
„Meines Erachtens hast du nur zwei Optionen. Du versuchst diesen Red zu finden und hoffst, dass er dir mehr über dich erzählt oder du versuchst dein Glück bei der Science. Ich würde letzteres bevorzugen und das nicht nur aus Eigennutz. Alles, was ich bisher gehört habe über diesen Red, ist er eher der Typ, den man meiden sollte.“ Balta hatte Recht. Auf der Suche nach sich selbst hatte er das erste Mal eine Gabelung erreicht, an der er eine Entscheidung treffen musste. Es war offensichtlich welcher Weg der Einfachere war, auch wenn das bedeuten würde, dass er und Dina in Zukunft getrennte Wege gehen würden. Der Gedanke daran versetzte ihn in Wehmut. Zu viel hatte man gemeinsam durch gestanden. Sie war ein wesentlicher Bestandteil seines bisherigen Daseins geworden. Eine sichere Konstante in dem Chaos seines Lebens. Er würde sie vermissen.
„Sagen wir mal ich bevorzuge Variante zwei. Mit Sicherheit willst du die Türöffner als Preis.“
„Nein. Diese Dinger sind mehr Fluch als Segen. Von dir verlange ich gar nichts. Die Science wird mich bezahlen.“ Balta klang bedrückt.
„Also werde ich doch wieder verkauft. Wie hoch ist denn mein Preis?“ Sentrys Freiheit war ein Trugschluss. Er war gezwungen diesen Weg zu gehen, ob aus freien Stücken oder unter Zwang. Das Ziel war die Science, sie alleine würde Licht in die Dunkelheit seiner Vergangenheit bringen.
„Kein Geld. Ich habe fast jede Welt in den letzten dreißig Jahren besucht und auch wenn du das anders siehst, war Lassik noch einer der besseren Planeten. Wir leben in einer Galaxie voller Leid. Egal wo du bist, es ist immer ein Überlebenskampf. Der einzige Ort, der lebenswert ist, ist bei der Science. Mein Preis wird das Aufenthaltsrecht sein und ich will, dass sie diese Mistviecher in mir deaktivieren.“ Sentry war keiner Antwort fähig. Damit hatte er nicht gerechnet. Balta hatte sich ihm offenbart und damit seine bisherige Sichtweise auf ihn vollkommen verändert. Auf einmal war es kein Geschäft mehr zwischen den beiden. Sentry würde ihm helfen einen Fehler der Vergangenheit zu korrigieren und damit würde sie die ganze Mission stärker verbinden, als pure eigennützige Ziele. Er hatte Mitgefühl mit ihm, denn er kannte den Fluch der Femtos, trotzdem blieben die warnenden Stimmen im Hintergrund. Zu berechnend war Balta bisher gewesen. Vielleicht hatte er auch nur gezielt einen Knopf gedrückt. Zum ersten Mal zweifelte er an der Richtigkeit seiner Instinkte. Hatte er es geschafft ihn zu manipulieren und wenn ja zu welchem Zweck? Er musste wachsam bleiben. Er brauchte dringend Informationen über diese Science.
Eva betrat den Raum und beendete damit unbeabsichtigt ihr Gespräch. Zuviel ging ihr durch den Kopf, als dass sie hätte schlafen können. Sie hatte keine Ahnung, wie es weiter gehen sollte. Nicht nur dass sie selbstständiges Denken in den letzten Jahren auf ein Minimum zurück gefahren hatte, sie befand sich auch in einer Welt, die sie nicht kannte. Die vorherrschende Angst wollte sie Niemanden zeigen. Die Erlebnisse im Slum hatten schon zuviel von ihrer Verletzlichkeit preisgegeben. Wenn sie eins gelernt hatte im Tempel, dann war es das unterdrücken von Empfindungen, die sie gerade beschäftigte. Sie setzte sich an das andere Ende des Tisches, soweit weg wie möglich von ihren Begleitern. Balta verabschiedete sich und nutzte das freie Bett für die Regeneration. Seit der Heilung im Slum hatte er es nicht geschafft die nötige Ruhe zu finden. Die beiden Verbliebenen betrieben bisher keine große Konversation und somit war das Schweigen nach dem Austauschen einiger Höflichkeitsfloskeln bedrückend.
„Es ist bestimmt nicht leicht die Familie zu verlassen.“ Sentry bereute diese Aussage sofort, aber ihm fiel auf die Schnelle nix Besseres ein das peinliche Schweigen zu durchbrechen.
„Du weißt nichts über sie.“ raunte sie ihn an.
„Ich bin dir unheimlich dankbar für das, was du getan hast.“ versuchte er seinen Fehler zu korrigieren. Der Erfolg hielt sich in Grenzen, denn Eva blieb weiter abweisend.
„Ohne dich wäre ich nicht hier. Du hast dein ganzes Leben aufgegeben, um mir zu helfen.“ versuchte er es unbeirrt weiter.
„Das hatte nichts mit dir zu tun.“ kam es kühl zurück.
„Egal. Ich stehe in deiner Schuld und ich habe das Gefühl etwas zurückgeben zu müssen.“ Sentry zögerte kurz bevor er fort fuhr.
„Ich habe Angst.“ gestand er.
„Ich habe Angst vor dem da draußen, Angst was mich erwartet. Vor allen Dingen traue ich mir selbst nicht. Ich weiß nicht, ob ich den Dingen, die vor mir liegen, gewachsen bin. Ich bin Leuten wie Balta hilflos ausgeliefert.“ Damit hatte er unbeabsichtigt eine Gemeinsamkeit geschaffen. Bisher hatte Eva das Gefühl gehabt, Sentry meistere sein schweres Los souveräner.
„Ich bin verletzlich, weil ich niemandem trauen kann, nicht einmal Dina. Du bist der erste Mensch, der diese Bezeichnung auch verdient. Du hast mein Wohl über dein Eigenes gestellt. Es ist paradox. Bei der Einzigen, bei der ich bereit wäre so etwas wie Vertrauen entgegen zu bringen, beiße ich auf Stein. Wir teilen ein ähnliches Schicksal, aber du hast die Erinnerungen an deine Familie, wenn die Zeiten ungewöhnlich hart werden. Ich habe nur ein Bild einer unbekannten Frau, bei der ich mir nicht mal sicher sein kann, ob das meine eigenen Erinnerungen sind.“ Er hielt inne.
„Ich beneide dich für diesen Anker.“ Er hatte sich vor ihr mental entblößt und die Wirkung blieb nicht aus. Auch wenn Eva unfähig war ihre Empfindungen zu zeigen, hatte er mit der Offenbarung seines seelischen Zustandes einiges an Vertrauen erkauft. Sie nahm seine Hand und diese Geste war das höchste Maß an Durchlässigkeit, was ihr emotionaler Schutzpanzer zuließ.
„Ich kann dir nicht geben, wonach du suchst. Ich habe in der Vergangenheit zu viele Leute enttäuscht.“ Sie rang nach den richtigen Worten.
„Ich bin niemand, der man vertrauen sollte.“ Damit hielt sie das Gespräch für beendet, aber Sentry sah sich gezwungen etwas Abschließendes zu sagen.
„Das sehe ich anders und ich bin mir sicher irgendwann wirst du das auch anders sehen.“ Trotz der klaren Absage hatte er das Gefühl ihr wieder ein Stück näher gekommen zu sein. Ihre Vergangenheit ließ sich nicht so ohne weiteres abschütteln, das benötigte Zeit und er hoffte, dass sie ihren Weg gemeinsam weiter gehen würden.
Er lag im Bett als die Durchsage Sentry unsanft aus dem Dämmerschlaf holte. Just in jenem Moment, in dem die Müdigkeit über seine rastlosen Gedanken siegte, weckte ihn Marios Stimme.
„Aufgepasst. Das Ende unserer Reise naht. Wir haben Glück. Auf der Steuerbordseite haben wir die Exson 5, auch genannt die „verruchte Braut“. Mein absoluter Favorit unter den Exsons. Wir werden in etwa dreißig Minuten anlegen. Macht euch bereit für Spaß und Abenteuer.“ verkündete der Lautsprecher Marios Botschaft. Im anderen Bett fühlte sich Eric ähnlich durch den Wind wie Sentry.
„Ist Steuerbord links oder rechts?“ fragte er müde und zog den Vorhang weg.
„Definitiv rechts. Wow ist das ein Teil.“ Er starrte wie paralysiert aus dem Fenster. Sentry gesellte sich zu ihm. Was er sah, verschlug auch ihm die Sprache. Durch das Fehlen von Vergleichsmöglichkeiten war die Dimension des Exsons schwer zu schätzen, aber es musste das Größte von Menschen erschaffende Objekt sein, das er je gesehen hatte. Je näher sie kamen, umso mehr füllte es das komplette Sichtfeld aus. Am Anfang sah es aus, als hätte man einen Mantel um ein gigantisches aufrecht stehendes Ei gepackt. Nur oben und unten schauten die Pole heraus. Erst mit der Annäherung stellte sich heraus, dass es sich eigentlich um ein Geflecht von Ringen handelte, die um das zentrale Ei angebracht waren. Sechs konnte er gerade noch zählen, bevor sie so dicht dran waren, dass er die oberen und unteren nicht mehr sehen konnte. Weitere zwei Minuten später erkannte er Schiffe an den Ringen, erst die größeren, dann auch kleinere. Andockbuchten. Sicher war das auch ihr Ziel. Manche der Schiffe sahen aus wie die „Baltim“, die meisten unterschieden sich aber deutlich in Form und Größe. Wie schon in der Station auf Lassik, rechnete er hoch, wie enorm das technische Potential der Vorfahren gewesen sein musste, wenn vor ihm nur noch ein Bruchteil dessen lag, was die Jahre überlebt hatte.
„Allein für diesen Anblick hat sich dass Verlassen von Lassik gelohnt. Auf ein Mal kommt mir meine Heimat wie tiefste Provinz vor.“ Eric war wieder in seinem Element. Der Anblick dieser technischen Leckerbissen ließ ihn das Heimweh vergessen.
„Wie groß ist das?“ fragte Sentry mehr sich selbst.
„In der Längsausdehnung 4,2km in Querrichtung über 10km. Die Spitzen sind eigentlich rechts und links, also Back- und Steuerbord. Na wie auch immer. Jedenfalls kommen wir gedreht rein.“ erklärte Eric, der sein Wissen über die Exsons technischen Beschreibungen aus der Bibliothek von Lassik entnahm. Als hätte der Kommandant die Worte von Eric gehört, vollzog das Schiff eine halbe Rolle, so dass das eingehüllte Ei nun in Längsrichtung vor ihnen lag.
„Erzähl mir mehr davon.“ Sentry war von seinem Enthusiasmus angesteckt.
„Viel weiß ich auch nicht. Die Dinger sind wie eine große Stadt. Angeblich sollen bis zu 50000 Menschen an Bord sein, die von den Reisenden leben. Technisch weiß ich nur soviel, dass im Kern des zentralen Körpers sich der Sprungantrieb befindet. Die Ringe sind Schleusen für die ankommenden Schiffe. Über 600 Andockbuchten. Vermute mal, dass die in der heutigen Zeit nicht alle ausgelastet sind.“ erklärte Eric sichtlich erfreut sein angelerntes Wissen anzubringen.
„Wie funktioniert das mit dem Sprungantrieb? Den Raum zu krümmen muss doch wahnsinnig viel Energie verbrauchen.“ Sentry kramte wieder im freigegeben Wissen, aber da waren nur Fragezeichen.
„Gut kombiniert. Die Energiemenge ist so groß, dass alle Materie dieses Universums benötigt werden würde.“ bestätigte Eric und erntete einen ungläubigen Blick.
„Sie zapfen Paralleluniversen an. Genau genommen zerstören sie sie. Frag mich nicht wie, aber dieses Ei in der Mitte schafft eine Brücke und dann saugen sie es aus.“
„Sie saugen es aus?“ Sentry war skeptisch.
„Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll. Du musst dir die andere Welt als riesigen Treibstoffbunker vorstellen und wir halten von unserer Seite das Streichholz ran. Mit einem riesigen Knall katapultiert es uns in die gewünschte Richtung. Was zurück bleibt sind Abgase.“ Der Vergleich war sehr vereinfacht, aber möglicherweise gab es niemanden mehr, der ihm Details erläutern konnte.
„Sie zerstören ganze Universen. Was, wenn das jemand mit unserem Universum macht?“ Sentry schauderte.
„Unwahrscheinlich. Es gibt unendlich viele Variationen. Nachzulesen in der Quantenphysik. Dass es überhaupt etwas gibt, dass unserer Welt ähnelt ist schon ziemlich unwahrscheinlich.“ Eric wusste auch nicht mehr und in Sachen Quantenmechanik war sein Wissen ähnlich überschaubar, wie das von Sentry.
Sie begaben sich in den Gemeinschaftsraum, wo sie bereits von den Anderen erwartet wurden.
„Sollten Sie nicht auf der Kommandobrücke sein und den Andockvorgang überwachen?“ fragte Eric Mario besorgt. Dieser lächelte freundlich zurück.
„Die Mannschaft ist bestens ausgebildet, mein besorgter Freund. Was euch viel mehr Sorgen machen sollte, ist die Tatsache, dass ihr mittellos seid. Ihr könntet die Tage hier auf der „Baltim“ zubringen, während da draußen sich so ziemlich jeder amüsiert oder ihr habt etwas, was ihr gegen harte Währung eintauschen könntet.“ Mario sah mit Freuden dem nächsten Geschäft entgegen.
„Da bleiben nur wieder Waffen. Wir haben noch drei Pistolen.“ machte Balta das erste Angebot.
„Wunderbar. Das Exson ist sowieso waffenfreie Zone. Ich mache euch ein faires Angebot.“ Es folgte ein professionelles Gefeilsche. Erst zehn Minuten später konnten sich beide Parteien auf einen Preis einigen. So blieb der Gruppe gerade noch eine Pistole, die im Ruheraum sicher verwahrt wurde. Der Erlös, die so genannten Kredite wurden gleichmäßig verteilt. Dabei handelte es sich um eine Art Jetons, die fälschungssicher einen Transponder beinhalteten. Sentry bekam fünf Blaue und während er noch überlegte, was er sich dafür auf dem Exson leisten konnte, ging ein leichtes Ruckeln durch die „Baltim“. Sie hatten angelegt.
„Die „verruchte Braut“ ist ein sehr raues Pflaster. Es gibt zwar einen Sicherheitsdienst und Waffen sind offiziell verboten, trotzdem ist jede Menge Gesindel unterwegs. Versucht nicht negativ aufzufallen und euch an bestimmte Regeln zu halten, dann könnt ihr viel Spaß haben. Ich empfehle euch Habitatring vier, da ist am meisten los. Wir befinden uns an Habitatring zwei, Dock 72b. Nur zur Info für den Fall, dass ihr Heimweh nach der „Baltim“ bekommt.“ gab Mario noch ein paar letzte Informationen, bevor er die Schleuse öffnete. Sentry gab wieder das Wort „Exson“ in die Maske seiner mentalen Suchmaschine ein. Nichts und schon gar keine Informationen darüber, wie man sich an solch einem Ort benehmen sollte. Wie konnte er sich an bestimmte Regeln halten, wenn er nicht wusste, was sie beinhalten. Er schaute rüber zu Eva und Eric. Auch sie zweifelten an den neuen Gegebenheiten und Marios Worte verunsicherten sie genauso wie ihn. Sie mussten sich an Dina und Balta halten, bis sie mit den örtlichen Bedingungen vertraut waren.
„Sie werden gleich wieder einen genetischen Scan machen. Versuche nicht ihr ganzes Computernetzwerk lahm zu legen. Das ist nur zur Registrierung.“ raunte ihm Balta in der Luftschleuse zu. Als hätte Sentry auf Lassik die Wahl gehabt. Auch jetzt ist er seinen Femtos ausgeliefert, aber irgendwas in ihm wusste, dass die Sache diesmal ereignislos ausgeht. Es gab einfach keinen Grund für solche Maßnahmen.
„Eingangsregistrierung.“ wurden sie von einem kleinen Mann in schwarzer Uniform an der Luftschleuse begrüßt. Er tippte fleißig auf seinem Pad, ohne auch nur einmal aufzuschauen.
„Ich hoffe ihr wart alle schon mal hier und seit bereits registriert, dann bringen wir die Sache schnell über die Bühne.“ Er wirkte, als würde die lästige Formalität ihn von wichtigeren Dingen abhalten.
„Leider nein. Drei Neuankömmlinge.“ nahm ihm Balta seine Illusion.
„Na toll. Fangen wir mit den Bekannten an. Daumen drauf.“ Er hielt Balta das Pad vor die Nase. Dieser drückte wie befohlen seinen Daumen auf die vorgesehene Fläche. Ein kurzer bestätigender Ton und schon war die Sache für ihn erledigt. Ähnlich erging es Dina, die ebenfalls schon Gast der „verruchten Braut“ war. Die nächste war Eva, nach ein paar Standardfragen wie Herkunft, Geschlecht und eventuelle Krankheiten, wurde sie nach zufriedenstellenden Antworten genetisch neu registriert. Eric verhaspelte sich ein paar Mal mit seinen Antworten, bekam aber trotzdem die ersehnte Registrierung. Als letztes musste sich Sentry den Fragen stellen, wobei er Angst hatte, bei einigen Sachen ins Schwimmen zu geraten. Wie sollte er sich über seine Herkunft äußern? Also log er in bestimmten Sachen und das vollkommene Desinteresse des Fragestellers, ließ ihn das schlechte Gewissen schnell verdrängen.
„Gut. Daumen drauf und dann haben wir es.“ forderte der Uniformierte. Sentry zögerte kurz, aber nach der Einsicht, keine andere Wahl zu haben, drückte er entschlossen seinen Daumen auf das Pad.
Das folgende Signal war anders und schon allein diese Tatsache reichte aus, um seinen gelassenen Gemütszustand in panische Unruhe zu versetzen.
„Was soll denn das? Verschwenden hier meine Zeit. Sie sind bereits im System. Wir hätten uns das alles sparen können.“ fluchte der Registrator. Sentry krampfte sich der Magen zusammen. Er war schon mal hier gewesen. Was er jetzt brauchte waren mehr Informationen.
„Wann?“ blaffte er den kleinen Mann an. Zu mehr Worten war er nicht in der Lage, bei seinem heftigen Pulsschlag.
„Was? Sie wollen Informationen. Wenn Sie selbst nicht über sich Bescheid wissen, von mir erfahren Sie nichts.“ gab er trotzig zurück. In Sentry kochte die Wut hoch. Auf einen Schlag personifizierte dieser kleine Mann all die schlechten Erfahrungen der letzten Wochen. Er freute sich auf das befreiende Gefühl, die geballte Faust im Gesicht dieses elendigen Wichts zu versenken.
Es war Balta, der ihn von dem sicheren Ärger abhielt, den solch eine Aktion mit Sicherheit nach sich ziehen würde. Er zog einen seiner blauen Jetons aus der Tasche und hielt sie dem sichtlich verärgerten Beamten vor die Nase.
„Sie müssen ihn verstehen, sein Gedächtnis ist nicht mehr das Beste. Daher wären wir Ihnen sehr verbunden, wenn wir einige Informationen über den letzten Aufenthalt bekommen könnten.“ Beim Anblick des Jetons entspannte sich die Miene des kleinen Mannes.
„Gut. Mal schauen, was wir hier haben. Der letzte Besuch muss mehr als 15 Jahre zurückliegen. Es gibt nämlich nur noch die Registriernummer und einen Negativ-Eintrag.“ Diese Information befriedigte Sentry nicht wirklich.
„Wieso ist alles Andere gelöscht?“ fragte er gereizt.
„Wir haben nicht unendlich Speicherplatz. Wir nutzen das Ringspeicherprinzip, bei dem die ältesten Informationen überschrieben werden, sobald die Grenzen erreicht sind. Eigentlich sollte nur die Registriernummer verbleiben. Der Negativ-Eintrag sollte nach mehr als 15 Jahren ebenfalls verfallen sein. Seltsam. Sie können doch nicht älter als zehn gewesen sein. Was haben Sie denn damals angestellt, dass das immer noch im System ist?“ Er tippte weiter auf seinem Pad rum.
„Was auch mit Ihnen los ist, ich darf es nicht wissen. Der Inhalt des Eintrages ist außerhalb des Netzwerkes hinterlegt.“ Sentry wurde jetzt ungläubig gemustert.
„Da müssen Sie sich wohl an die Verwaltung wenden, wenn Sie mehr Informationen brauchen. Schönen Tag noch.“ Er schnappte sich den Jeton und ließ die Gruppe stehen.
„Du wirst immer geheimnisvoller. Also warst du schon mal hier. Vor mehr als 15 Jahren und offenbar kannten sie deinen niedlichen Trick mit dem Knacken von Rechnern, so dass sie auf Nummer sicher gingen und deine Untaten separat abgelegt haben. An deiner Stelle wäre ich sehr vorsichtig. Offenbar bist du kein unbeschriebenes Blatt hier.“ Dina verunsicherte ihn damit noch mehr. War es wirklich möglich, dass er nach der ganzen Zeit noch als Problemfall galt? Fünfzehn Jahre oder hundert oder tausend? Hätte er doch nur gefragt, wann die ersten Registrierungen stattfanden. Er war sich sicher, dass er damals kein Kind war, nicht nachdem ihm Balta offenbarte, dass er nicht altere. Wie kam er nur an diesen Eintrag ran? Es war alles Andere als ratsam bei der Verwaltung nachzufragen, denn das Wort Negativ-Eintrag und die Tatsache, dass sein Femto-Geheimnis bekannt war, würden sicherlich nicht die Hilfsbereitschaft der hiesigen Behörden fördern. Ganz im Gegenteil. Die Geschichte von Lassik würde sich wiederholen. Wieder würde er zum Objekt der Begierde der Mächtigen auf diesem Exson werden. Was passiert, wenn dieser kleine nervige Mann selber zur Verwaltung ginge und pflichtbewusst seine Meldung über den Negativeintrag abliefert oder schlimmer noch, schon längst eine automatische Nachricht an wen auch immer abgegangen war, dass er wieder hier ist? Es endet nie. Irgendwann würde irgendjemand ihn und seine Femtos erwischen. Ein Leben lang auf der Flucht. Sie mussten zur Science und die Dinger aus ihm raus bekommen. Nur dann hat er Ruhe.
Habitatring zwei entpuppte sich als relativ langweiliges Pflaster, jedenfalls war das die einhellige Meinung von Dina und Balta. Für den Rest der Gruppe war alles neu und dementsprechend aufregend fanden sie die ungewohnte Umgebung. Während die Außenseite fast ausschließlich für andockende Schiffe vorgesehen war, befanden sich an der Innenseite Geschäfte und Wohnquatiere, die sich sogar über vier Etagen erstreckten. Über eine Wendeltreppe kam man wahlweise zwei Etagen höher oder eine Etage tiefer. Eva und Eric waren begeistert von der Fülle der angebotenen Waren. Etwas, was sie auf Grund des mangelnden Angebotes auf Lassik nur schwer glauben konnten. Es gab nicht nur eine Vielzahl von Nahrungsangeboten, auch Kleidung und Gegenstände des täglichen Bedarfs, wie Geschirr oder Hygieneartikel, bis hin zu Büchern waren in ungewohnter Anzahl käuflich zu erwerben. Trotz alledem, gab es sehr viel Leerstand an Läden, was dazu führte, dass die Gruppe sich zeitweise fühlte, als wären sie allein auf der Station, da niemand ihnen begegnete und die Räume mit einem Verweis auf den Vermieter anzeigten, dass sie noch zu haben wären.
Die Habitatringe waren verbunden durch Lifte. Fast zehn Minuten brauchten sie, um den ersten zu finden. Auf Geheiß von Mario fuhren sie zum Ring vier. Als die Fahrstuhltüren sich wieder öffneten, war die überschaubare Menge von Passanten einem Gewimmel von Leuten gewichen. Hier gab es fast ausschließlich Bars, Restaurants und Casinos. Musik drang aus verschiedenen Clubs und vereinzelt tanzten Leute auf den Fluren. Alles in allem war es sehr laut und eine Unterhaltung war nur möglich, indem sie sich gegenseitig anschrieen. Die Feier war wohl schon im fortgeschrittenen Stadium, denn die Anzahl der Angetrunkenen übertraf die der Nüchternen um einiges. Sie kämpften sich durch die Menge der Feierwütigen und kamen in ein Bereich, indem es etwas ruhiger zuging.
„Die erste Runde geht auf mich. Danach könnt ihr eure eigenen Pläne durchziehen.“ lud Balta in normalen Tonfall die Gruppe ein.
Der Zeitpunkt die Bar Namens „Twister“ zu betreten war denkbar schlecht. Offenbar hatte sich ein Konflikt dermaßen hochgeschaukelt, dass es nur einer Kleinigkeit bedurfte, um zu eskalieren. Diese Kleinigkeit war etwa 80kg schwer, hatte furchtbar lächerliche Kleidung an und hörte auf den Namen Eric. Als wären diese Eigenschaften nicht schon Handicap genug, platzte er mit einer Bemerkung über den Geruch heraus, der seiner Meinung nach ihn stark an Urin erinnerte und als er die ungepflegten Hosen einzelner Gäste erblickte, konnte er es sich nicht verkneifen, seine eigenen Schlüsse großspurig zu verkünden. Sein Pech war noch, dass das aktuelle Lied, welches gerade noch als Ablenkung im Hintergrund lief, sich dem Ende neigte und somit die benötigte Ruhe erzeugte, um die Bemerkungen über 120kg schwere Muskelpakete, die sich gerade eingenässt hatten eindrucksvoll zu verstärken. Wie immer wurde ihm erst bewusst, was er getan hatte, als alles Schlimme bereits gesagt wurde. Sein Auftreten veranlasste die gerade noch verstrittenen Parteien sich gemeinsamen ihrem neuen Opfer zu zuwenden.
Es war eine Mischung aus der neu einsetzenden Musik, aus Baltas Überredungskünsten und, Sentry konnte es kaum glauben, aus Dinas Charmeoffensive, die Eric vor einer ordentlichen Tracht Prügel bewahrte. Das langsam beginnende Lied nahm urplötzlich Fahrt auf und selbst Eva konnte sich der Dynamik nicht entziehen, die dieses Musikstück urplötzlich auf alle Anwesenden im Raum ausübte. „Don´t stop me now“ verkündete der Sänger mit einer prägnanten Stimme in einem Moment noch und kurze Zeit später forderte er alle auf „having a good time, having a good time.“ Unglaublich, welche Wirkung Musik haben kann. Das Tempo des Liedes zog an. Wie im hypnotischen Einklang bewegten sich alle passend zu den Rhythmen und die schlechten Schwingungen, die gerade noch den Raum fluteten, wurden raus getragen, auf den Wogen der Musik.
Eric protestierte zwar kurz, aber der Rest der Gruppe war einstimmig der Meinung, dass auf Grund der knapp entgangenen Schlägerei, die erste Runde auf ihn ging. Das Wechselgeld war eine Anhäufung von roten und grünen Jetons und erst jetzt konnte Sentry den Wert eines blauen Jetons gut einschätzen. Sie waren finanziell gut dabei, was insbesondere Eric eine Warnung einbrachte, seinen Reichtum nicht überall herum zu zeigen.
„Ich geh ins Casino, da kann man mit ein paar einfachen Rechnungen in Wahrscheinlichkeit bestimmt ein riesigen Gewinn machen.“ verabschiedete sich dieser leicht angeheitert nach dem ersten Bier und verschwand Richtung Trubel.
„Da wird er wohl eine weitere Lektion in Sachen Demut erhalten. Ich hoffe bloß, der bringt nicht alle gegen sich auf.“ kommentierte Balta seine Aussage. Eva verabschiedete sich wieder. Die vielen Leute, die sich hemmungslos den Gelüsten hingaben, waren ihr zu wider. Außerdem war ihr nicht nach feiern, daher zog sie die Einsamkeit der „Baltim“ vor. Dina und Balta, sahen es als eine Art Gastgeberpflicht an, dem Neuankömmling Sentry die örtlichen Gegebenheiten zu zeigen. Dieser hatte eigentlich wenig Lust sich zu amüsieren, da er versuchte hinter jeder Ecke irgendetwas Bekanntes zu finden. Aber irgendwann gab er auf, denn selbst nach mehr als 15 Jahren war dieses Unterfangen schon mit funktionierenden Erinnerungen schwierig, mit seiner geistigen Sperre eigentlich unmöglich. Er grübelte immer noch, ob er nach Informationen über sich selber fragen sollte, verschob aber die Entscheidung darüber auf den nächsten Tag. Eigentlich hatten die beiden Recht. Heute sollten sie feiern. Die Probleme wären morgen auch noch da.
Das „Diamant House“ war das komplette Gegenteil zum „Twister“. Das Ambiente war ausgelegt auf Kundschaft mit sehr vielen blauen Jetons und da sie ausreichend davon besaßen, waren sie gern gesehene Gäste. In der hauseigenen Boutique konnten sie sich neu einkleiden und wie Sentry Dina so sah, in ihrer neuen umwerfenden Kleidung, meldeten sich die ursprünglichsten Triebe wieder. Er hatte seit seiner Wiedererweckung keinen Sex gehabt und von daher stand er ordentlich unter Dampf. Das Ganze wurde noch verschärft, nachdem sie den eigentlichen Vergnügungssaal betraten. Dieser ging über die vollen vier Etagen und auf den Rängen rekelten sich Tänzerinnen verführerisch zur Musik. Eine große dunkle Tanzfläche war im Zentrum des Saals und am gegenüberliegenden Ende legte ein DJ elektronische Musik auf. Rechts und links gab es Bars, welche die Feierwütigen mit alkoholischen Getränken versorgten. Sentry konnte gar nicht die Augen von den Tänzerinnen lassen, wie sie da perfekt ausgeleuchtet, sich zu den Klängen der Musik bewegten.
„Für ein paar grüne Jetons gehen sie mit dir mit. Aber das hat Zeit. Lass uns noch ein wenig anderweitigen Spaß haben.“ Balta bestellte drei Cocktails und es dauerte nicht lange, ehe er Dina mit auf die Tanzfläche riss und die beiden anfingen ausgelassen zu tanzen. Sentry kam sich wie ein Fremdkörper vor in der Menge der feiernden Menschen. Als er die beiden aus den Augen verlor, fühlte er ungewohnte Einsamkeit. Gerade Dina fehlte ihm. Jetzt erst wurde ihm schmerzhaft bewusst, dass sie eine ständige Begleiterin in seinem bisherigen Leben war. Bisher waren sie ununterbrochen zusammen.
„Hey schöner Mann. Du wirkst irgendwie verloren an diesem Ort.“ säuselte eine Stimme in sein linkes Ohr, als er sich in eine ruhigere Ecke zurückgezogen hatte.
Er drehte sich nach links und die gerade abgeflauten lüsternen Gedanken in Richtung Dina oder der Tänzerinnen bekamen neue Nahrung. Vor ihm saß eine Frau, die sich anschickte in ihrem atemberaubenden Einteiler, der ihre an sich schon anbetungswürdige Figur noch weiter hervorhob, einen perfekten ersten Eindruck bei ihm zu hinterlassen. Sie hatte die pechschwarzen Haare zu einem Zopf nach hinten gebunden. Die kakaofarbende Haut schien makellos und das Gesicht, welches durch das Zusammenspiel von Nase, Augen, Mund und Kinn kaum besser hätte ausfallen können, wurde dezent durch Make-up perfektioniert. Ihre tiefdunklen Augen machten ihn sprachlos. Es war fast unmöglich zu atmen, geschweige denn zu antworten. „Sie war eine dieser Frauen, bei der man auf die Knie fallen möchte, um Gott zu danken, dass man ein Mann ist.“ schoss ihm ein Zitat durch den Kopf, dass ungewollt aus seiner freigegeben Bibliothek in den Vordergrund geschleudert wurde. Er grinste und war sich nicht sicher, ob über den Inhalt oder die Tatsache, dass sein Unterbewusstsein zu solchen Scherzen fähig war.
„Das ist nicht ganz das, was ich erwartet habe, aber immerhin scheine ich dich ja zu amüsieren.“ gab sie flirtend zurück. Erst jetzt registrierte er die Peinlichkeit seiner Situation.
„Entschuldigung, das Grinsen war nicht Ihnen gewidmet.“
„Na ein Glück. Sah so aus, als hättest du einen Clown gesehen.“ Sie war immer noch am Flirten, aber jetzt musste was Gelassenes zurückkommen, sonst wirkte er langweilig. Das Glück, dass so eine Traumfrau ihn ansprach, konnte er nicht einfach chancenlos vertun.
„Kein Clown dieser Welt könnte so atemberaubend aussehen, wie Sie in diesem umwerfenden Kleid.“ Er war verwundert, wie selbstbewusst das rüber kam.
„Ein fast perfektes Kompliment.“ Sie schenkte ihm eines dieser Lächeln, das ganze Eisberge zum schmelzen bringen würde.
„Was fehlt denn zur Perfektion?“ fragte er mit diesem balzenden Unterton, der uneingeschränktes Interesse an ihr bekundete.
„Zaja ist mein Name und damit hoffe ich, dass du mich endlich duzt.“ Auch ihr Interesse war deutlich zu spüren.
„Sentry ist meiner und da wir uns jetzt offiziell vorgestellt haben, spricht nichts mehr dagegen dich zu einem Cocktail einzuladen.“ Das Eis war gebrochen und so unterhielten sie sich eine Stunde lang, die ihm vorkamen wie fünf Minuten. Er hielt sich zurück mit speziellen Informationen über seine unbekannte Vergangenheit. Er schaffte es irgendwie immer die Gesprächsrichtung zu ändern, sobald es zu nahe an Vertraulichkeit ging. Belanglose Informationen, wie die Ankunft mit der „Baltim“ konnte er spannend verpacken, so dass er trotzdem ihr Interesse erhielt. Ihre Geschichte war ebenso banal, wie seine Erzählungen. Sie arbeitete hier auf dem Exson und das war die einzige Klippe an der sich Sentry schwer tat sie zu umschiffen. Irgendwie hatte sich die Vorstellung in sein Gehirn gefressen, er hätte es mit einer Professionellen zu tun und es benötigte einige Anstrengung seine Zweifel vor ihr zu verbergen. Erst als sie verlauten ließ, dass sie Kellnerin in einem Edelrestaurant auf dem ersten Habitatring war, konnte er sich entspannen, wobei die Entspannung natürlich nicht allzu offensichtlich seien sollte. Es dauerte eine weitere Stunde und sie waren so vertraut miteinander, dass er aufpassen musste nicht doch noch die falschen Informationen über sich preis zu geben. Da er sie ungern anlügen wollte, drohte das Gespräch in Banalitäten abzudriften.
„Wie ist das Leben auf der Exson? Wie wohnt man denn hier?“ fragte er.
„Wie man hier wohnt? Das kann ich dir zeigen?“ Sie nahm einen letzten Schluck aus dem Cocktailglas und zog Sentry von der Bar.
„Ich muss meinen Freunden noch Bescheid geben.“ Er war vollkommen überrumpelt.
„Die sind bestimmt alt genug und können auf sich aufpassen. Komm schon.“ Bevor er sich versah, stand er mit ihr auf dem Flur des Habitatringes. Wortlos gingen sie zum nächsten Lift, fuhren hinauf zum Ring 2, hatten noch fünf Minuten Fußweg und standen dann vor ihrem Quartier. Sentry schaute sich um, während sie mit ihrem Daumen die Türverriegelung öffnete. 22a. Ein vermutlich weiter Weg bis 72b. Er betrat ihr Appartement, das nur aus einem Raum bestand. Ein breites Bett in der Mitte, eine Küchenzeile links und ein abgetrennter Bereich, der als Badezimmer diente. Dem Bett gegenüber befand sich ein Monitor.
„Schönes zu H…“ er kam nicht zur Vollendung seines Satzes, denn sie presste ihre Lippen auf seine und umarmte ihn dabei.
„Spar dir die schönen Worte. Du hast mich bereits rumgekriegt, also lass es uns tun.“ Sie küsste ihn erneut. Mit der rechten Hand öffnete sie seine Hose und fing an ihn da zu massieren, wo es jeder Mann am liebsten hat. Die Reaktion in seinem Schritt war unübersehbar. Für Sentry war es eine Reizüberflutung. Das Küssen war schon unglaublich, aber als sie anfing sich in seiner Hose auszutoben, wurde das alles sofort wieder nebensächlich. Sie war erfahren, das merkte er sofort, denn sie wusste um die Stellen, die Männer zur Ekstase brachten. Er hatte Mühe das Finale nicht sofort vorzuziehen, aber so wie sie die Sache anging, war es schwierig es nicht zu versauen. Gerade in dem Augenblick, in dem er sich der Entladung hingeben wollte, ließ sie von ihm ab.
Sie öffnete ihr Haar und er konnte es kaum glauben, diese Frau sah mit offenen Haaren noch umwerfender aus. Als würde ein kleines Stück gefehlt haben, um die Attraktivität auf 100% zu erhöhen. Der Schnitt ihrer gelockten Haare vollendete das Gesamtkunstwerk, das ihr Körper und ihr Gesicht eigentlich schon als perfekt definiert hatten. Sie zog sich komplett aus und ihre Brüste hatten die erhoffte Form, die ihr BH suggerierte. Alles war perfekt an dieser Frau und er würde gleich Sex haben mit ihr. Der beste Abend seines bisherigen Lebens lag vor ihm.
Er ergriff die Initiative und küsste sie lang und innig. Ihre Zungen berührten sich und gaben dem Kuss was Verruchtes. Er fuhr ihr durchs Haar, schaute ihr tief in die fast schwarzen Augen und drückte sie dann auf die Knie. Das war die ideale Höhe, um mit dem Mund das zu tun, was er verlangte. Willig öffnete sie ihn und allein das Einführen verlieh ihm einen erhabenen Moment der Dominanz. Er griff ihr in die Haare und bewegte sich vor und zurück. Egal ob er ihr wehtat, er wollte ihn ganz rein bekommen, schaffte es aber trotz größter Motivation nicht. Er münzte den Misserfolg in einen Erfolg um, indem er sich einredete, dass er zu groß wäre, um komplett in ihrem Mund zu verschwinden. Rhythmisch bewegte er sein Unterteil hin und her und jedes Mal hatte er die Illusion seinen Penis ein kleines Stück tiefer zu versenken. Plötzlich war es ihm egal, ob er zu früh kam. Er wollte sich in ihrem Mund entladen. Die schönste Triebbefriedigung für einen Mann. Wieder und wieder stieß er zu und dann war es soweit. Das Gefühl soweit vorgedrungen zu sein, wie bei keinem seiner Stöße zuvor, verstärkte die Explosion in seinem Unterleib.
Zaja hatte nur kurz Probleme mit der Aufnahme. Ihre Erfahrung in solchen Situationen zahlte sich aus. Sie schaffte es trotz aller Schwierigkeiten, die solch ein ergießender Penis in ihrem Mund hervor rief, zu schlucken. Als größeres Problem stellte sich die Menge heraus. Wann hatte dieser Typ das letzte Mal Sex gehabt, dass diese Quantität bei solch mieser Qualität zu Stande kam.
„Dann hoffe ich mal, dass das noch nicht alles war.“ Sie wischte sich den Mund ab, denn trotz aller Bemühungen, hatte sie es nicht rückstandsfrei entsorgen können.
„Gib mir fünf Minuten. Dann geht’s weiter.“ versprach Sentry vollmundig.
„Gut. Zeit genug, um Zähne zu putzen oder willst du mich so küssen?“ sie bleckte ihre weißen Zähne, in denen immer noch ein Teil des Spermas hing.
Als sie im Bad war, zweifelte er urplötzlich an der Perfektion ihres Aussehens. Es war fast so, als hätte der Abgang die Illusion zerstört. Die rosarote Brille, mit der er sie betrachtet hatte, wurde mit dem Erguss regelrecht weggeblasen. Als würde er auf einmal wieder klar denken können und dann zeigte sie ihm auch noch ihre Sperma verhangenden Zähne, so als ob ihn das weiter antörnen würde.
Sie gab ihm sogar zehn Minuten, bis sie wieder aus dem Bad kam und die Klarheit, die er so kurz nach dem Abgang hatte, war sofort wieder dahin. Bekleidet nur mit einem Hemd, dass so dünn war, dass es mehr zeigte als verhüllte, schwebte sie zum Monitor rüber. Ihr Gang raubte Sentry fast den Verstand und das gedämmte Licht tat sein Übriges.
„Gut. Weiter mit der harten Tour, aber jetzt spielen wir nach meinen Regeln.“ Sie tippte auf dem Bedienfeld und dann ertönte die Musik. Boom chuck, boom chuck. Zwei Töne, die sich regelmäßig abwechselten. Sie kam im Takt auf ihn zu. „You let me violate you“ setzte der Gesang ein. „You let me penetrate you“ ging es weiter. Der aggressive Unterton des Liedes nahm mit jedem Wort zu. Zaja setzte sich ohne jedes Vorspiel auf ihn, massierte seine empfindlichste Stelle bis sie das Ergebnis für geeignet genug hielt und führte die neu erblühte Pracht ohne weitere Spielereien ein. „You bring me closer to god.“ Sie schaukelten sich gegenseitig am Lied hoch. Zwei Minuten ging das nun schon so. Er schmiss sie auf den Rücken, ohne auch nur einen Millimeter aus ihr raus zu gleiten. Seine Stöße wurden heftiger, getrieben von dem „health me“, welches aus den Lautsprechern tönte. Er schaute ihr direkt ins Gesicht und sah den Genuss, der ihr die Stöße brachten. Er wollte sie küssen, aber sie stieß ihn weg.
„Fick mich nur einfach.“ raunte sie ihn an.
„Fuck you like an animal“ bestätigte der Sänger ihren Wunsch. Sentry synchronisierte seine Stöße mit ihren Bewegungen. Er war jetzt fremd gesteuert, unfähig sich ihrem Einfluss zu entziehen. Die Musik tat ihr übriges. Laut und aggressiv verschmolz er mit der aufgeschaukelten Libido.
„Fick mich“ schrie sie, als sie kam und mit dem letzten Ton des Liedes kam auch Sentry das zweite Mal.
Die nächsten Stunden vergingen wie im Fluge. Sie trieb ihn an seine Grenzen und das nicht nur physisch. Mit jedem gemeinsamen Höhepunkt ging sie einen Schritt weiter. Die Toleranzgrenze, was sexuelle Experimente anbelangte, war bei ihr weitaus höher, so dass er sich gezwungen sah, ihr beim erreichen bestimmter Grenzen ein Stoppschild vorzuhalten. Solch prüde Partner war sie offenbar nicht gewohnt, so dass sie das mit einer abfälligen Bemerkung kommentierte. Sentry war zu ausgelaugt zum protestieren. Fünf Stunden war er jetzt bereits bei ihr und der Drang zu gehen wurde stärker. Sie lag mit dem Kopf auf seiner Brust und er hoffte zum Abschied noch einmal den engeren Eingang in ihrem Unterleib nutzen zu dürfen, als sie plötzlich aufstand.
„Gib’s zu. Macht doch weitaus mehr Spaß, als mit den blassen Blondinen, mit denen du dich sonst so abgibst.“ Er wusste die Bemerkung nicht so recht einzuschätzen. Offenbar kannte sie seine Begleiterinnen, aber Eva war schon gegangen, bevor sie das „Diamant House“ betraten. Sie zog sich ihren Slip an, also schien ihre gemeinsame Zeit zu Ende zu gehen.
„Ich mag dich, also gebe ich dir einen Rat.“ Sie stieg wieder zu ihm ins Bett, setzte sich rittlings auf ihn und flüsterte ihm ins Ohr. Ihr Geruch erschwerte seine Konzentration, aber das, was sie sagte, benötigte auch nicht viel.
„Traue nicht dem schwarzen Mann.“ flüsterte sie. Sie stieg wieder aus dem Bett und zog sich ihren BH an.
„Ich kenne ihn und ihm ist nicht zu trauen. Das, was du in dir hast, ist ein Geschenk. Lass dir das nicht kaputt machen.“ Diese zweideutige Bemerkung ließ Sentry jegliche Trägheit, an der sie ja nicht ganz unschuldig war, vergessen.
„Was ich in mir habe?“ versuchte er sich dumm zu stellen. Sie zog sich weiter an.
„Das, was du glaubst zu kennen, was aber unerreichbar scheint. Dein wahres Ich, welches tief in dir eingesperrt ist. Seit Jahren warten wir darauf, dass einer von euch auf den Exsons auftaucht. Ich kann es immer noch nicht glauben, dass du gerade in meine Arme läufst.“ Sie war jetzt komplett angekleidet.
„Sag mir, wer ich bin?“ Sentry stand jetzt nackt vor ihr. Die Lösung aller Fragen, sie war keine zwei Meter von ihm entfernt.
„Wer du bist? Ich hoffe doch einer von uns.“ Sie streichelte ihn im Gesicht und gab ihm einen Kuss.
„Ich weiß du willst Antworten, aber die darf ich dir nicht geben. Du bist in eine Art Selbstfindungsprozess, an dessen Ende eine Entscheidung steht. Du musst deinen eigenen Weg finden, deine eigenen Entscheidungen treffen. Wir können dir nur helfen, wenn wir den Eindruck haben, dass äußere Mächte falschen Einfluss nehmen. Ich hoffe wir sehen uns wieder. Nur soviel. Traue nicht dem schwarzen Mann. Gehe nach Cree, dort wird es Antworten geben. Und jetzt schlaf.“ Sentry hielt sie am Arm fest, entschlossen sie nicht gehen zu lassen, bis sie auch die letzte seiner Fragen beantworten würde. Plötzlich wurde er müde. Was zum Teufel hatte sie ihm angetan? Seine Kraft verließ ihn, er wurde unsagbar schläfrig. Der Kampf gegen die Müdigkeit war verloren. Irgendwie hatte sie es geschafft ihn außer Gefecht zu setzen. Er will nicht einschlafen. Verdammte Femtos. Wo seid ihr, wenn man euch braucht? Es hatte keinen Zweck. Er kippte rücklings aufs Bett und das Letzte was er sah, war ihr hübsches Gesicht über ihm und wie sie ihm einen sanften Kuss auf die Stirn gab. Dann wurde es dunkel.
XIII
„Wenn Männer alles wüssten was Frauen denken, wären sie tausendmal kühner.“
Pablo Picasso
Nutzlos. Das war das Wort, was wie in Stein gemeißelt immer wieder aus ihrem Unterbewusstsein nach oben geschwemmt wurde. Sie war unnütz, keine Aufgabe, kein Ziel, keinen Lebenssinn. Jetzt, wo Eva zur Ruhe kam, die ganzen Erlebnisse auf Lassik schön säuberlich ins Archiv ihres Gedächtnis ablegt wurden und sie endlich die Gedanken frei hatte über ihre Zukunft zu grübeln, jetzt wurde ihr bewusst, da war nichts. Zum ersten Mal in ihrem Leben fehlte ihr der Antrieb. Sie vermisste den Tempel, mit seinem geregelten Ablauf, wo sie noch vor Sonnenaufgang beweisen konnte, dass sie das in sie gesetzte Vertrauen rechtfertigte, indem sie den Lagerausbau durch körperlich schwere Arbeit freiwillig mit vorantrieb und sie ihre buchhalterischen Fähigkeiten trotz Schwielen an den Händen zur vollsten Zufriedenheit erledigte. Wie sie ihre Mittagspause opferte, um den Predigten des Führers zu lauschen und am Abend in missionarischer Tätigkeit seine Lehren an die Ungläubigen weitergab. Es war ein hartes Leben und es war gezeichnet durch Zwänge und Verpflichtungen. Jetzt war sie frei und konnte ihre Persönlichkeit frei entfalten, aber genau mit dieser Freiheit wusste sie nichts anzufangen. Sie starrte hinaus ins Weltall. Es gab Milliarden von Sternen da draußen und viele waren ohne Planeten, waren einfach nur da, leuchteten vor sich hin und verpulverten ihre Lebensenergie an die Dunkelheit des Alls, bis sie irgendwann verglühten. Nutzlos, einfach nur nutzlos.
Die Anderen wollten die gelungene Flucht feiern, aber ihr war nicht danach. Die trüben Gedanken in ihrem Inneren machten sie zur Spaßbremse. Sie hatte ihre Schwester verraten, dem Tempel geschadet und sie hatte einen Menschen getötet. Wie konnte sie da feiern? Allein diese drei Sachen würden sie ein Leben lang belasten und diesmal gab es keine Möglichkeit diese Fehler zu korrigieren. Sie hatte auch Menschenleben gerettet, aber derzeit überwog die deprimierende Grundstimmung. Also zog sie sich zurück auf die „Baltim“ und ertränkte sich in Selbstmitleid. Stundenlang gab sie sich dem guten Gefühl der Aufgabe hin, aber das war nicht sie. Die Stärke ihrer Mutter hatte der Doc in ihr gesehen. Sie musste sich zusammen reißen. Die Dinge waren geschehen und unwiderruflich. Es war nun an ihr damit klar zu kommen. Das Leben ist nun mal kein Süßwarenladen, also schob sie irgendwann all die dunklen Wolken beiseite und kramte in ihrem Inneren nach der viel beschworenen Stärke. Die Energiequelle für die neue Eva, eine Eva die bereit war sich den neuen Bedingungen zu stellen.
Sie war zurück, vorerst jedenfalls. Trotzdem hatte sie keinen Plan, wie ihre weitere Zukunft aussehen sollte. Irgendwann würde sich das Fenster für den richtigen Weg auftun, aber bis dahin gab es nur das Angebot Sentry zu begleiten. Sie mochte ihn. Soweit sie das mit ihren vom Tempel verdrehten Fähigkeiten einschätzen konnte, war er ehrlich. Jede Unterstützung in dieser unbekannten Umgebung war willkommen und wie er schon sagte, müssen sie sich gegenseitig stützen. Sie bezweifelte, ob sie ihren Teil dazu beitragen könne, aber die Bereitschaft das Beste zu tun war vorhanden. Dann war da noch Dina. Ihr fiel sofort wieder dieser Kuss ein und das unglaubliche Gefühl, als hätte die Zeit einen Moment still gestanden. Eine Frau zu küssen war soviel anders. Obwohl sie nicht weniger ehrlich erschien wie Sentry, war hier ein gesundes Misstrauen nicht verkehrt. Sie würde alles über ihre Rache stellen und das machte sie gefährlich. Welche Leiden ihr in der Vergangenheit widerfahren waren, hoffentlich war es das wert ihr ganzes Leben darauf auszurichten. Blieb noch Balta. Er hatte es geschafft ihr ordentlich den Kopf zu verdrehen. Sein Charisma war ähnlich dem des Führers, was sie dazu veranlasste ihn möglichst auf Distanz zu halten. Hinzu kam sein wirklich blendendes Aussehen und sie ertappte sich einige Male, wie sie ihn musterte. Sie hatte seit Jahren keinen Sex mehr gehabt und dementsprechend hatte das Unterbewusstsein leichtes Spiel ihr die vernachlässigten Triebe vorzuhalten. Sie musste aufpassen nicht wie ein offenes Buch für ihn zu sein, denn seine Kombinationsgabe glich manchmal der Hellseherei. Wieder etwas, was er mit dem Führer gemeinsam hatte.
Eric riss sie aus den Gedanken. Wie Balta es vorhergesehen hatte, beschränkte sich sein Glück in den hiesigen Casinos darauf, nicht alle Jetons zu verspielen. Immerhin hatte er es geschafft auszusteigen und noch ein Rest seines Vermögens zu behalten. Er echauffierte sich auf seine eigene Weise über sein Pech, indem er Eva mit Wahrscheinlichkeiten bombardierte, die eigentlich gar nicht hätten eintreten dürften und doch im passenden Moment ihm den Einsatz gekostet hatten. Bevor er in Verschwörungstheorien über Betrug verfiel, erreichten auch Dina und Balta die „Baltim“. Es waren noch ungefähr zwei Stunden bis zum Sprung und eine mechanische Stimme wurde nicht müde alle zehn Minuten über das Lautsprechersystem den aktuellen Countdown zu verkünden.
„Und. Wie viel hast du gewonnen?“ fragte Balta spöttisch, als er den aufgebrachten Eric sah.
„Alles nur Betrüger.“ antwortete er kurz. Sein Respekt vor Balta war immer noch groß.
„Natürlich betrügen die manchmal, aber ich denke mal bei dir war das gar nicht notwendig. So einen Frischling wie dich, ziehen die auch mit legalen Mitteln ab.“ fiel Dina in den Spott ein.
„Haha.“ war Erics einzige wenig schlagfertige Antwort.
„Und was habt ihr so getrieben?“ versuchte er von seiner Schmach abzulenken.
„Erwachsenensachen.“ grinsten sich Balta und Dina gegenseitig an.
„Was denn für Erwachsenensachen?“ Eric verstand wieder mal gar nix.
„Sie hatten Sex. Was glaubst du denn?“ Eva klang zorniger, als ihr lieb war.
„Was? Etwa miteinander? Oh verstehe.“ Erst jetzt verarbeitete er die scheinbar unmögliche Tatsache, dass die beiden sich körperlichen Gelüsten hingaben.
„Muss man kein großes Ding draus machen.“ Dina war sichtlich irritiert über Evas ablehnende Haltung.
„Kein großes Ding? Das klang aber vorhin noch anders.“ versuchte Balta mit einem Scherz über seine Ausstattung die Situation zu entspannen.
„Wie auch immer, wo habt ihr denn den Jungen mit den Superkräften gelassen?“ fragte Eric. Obwohl Sentry voller Technologie steckte, bewahrte er eine gewisse Distanz. Die offen zur Schau getragene Sympathie für Eva, nährte zusätzlich seine Eifersucht.
„Wir haben ihn verloren, aber ich denke mal, er ist alt genug nach Hause zu finden. Du hast es ja immerhin auch geschafft.“ Dina musste einfach weiter sticheln.
Die letzte Stunde vor dem Sprung verbrachten sie auf der „Baltim“. Eric und Eva schienen leicht peinlich berührt über den Fakt, dass Balta und Dina sich ihren Trieben hingaben, so dass die Konversation auf ein Minimum reduziert blieb. Die Uhr tickte weiter runter und gerade als sich alle Sorgen machten, ob Sentry denn pünktlich erscheinen würde, Mario wollte sofort nach dem Sprung ablegen und hatte allen eingebläut rechtzeitig zurück zu sein sonst würde er ohne sie los, erschien er und war aufgewühlt. Irgendwas Schreckliches schien ihm widerfahren zu sein, denn die gelassene Ausstrahlung, mit der sie ihn zurückgelassen hatten, war vollkommen dahin.
„Du siehst aus, als wärst du auf deinen Erzfeind getroffen.“ sagte Balta eigentlich mehr im Spaß. Sentrys überraschte Situation verriet ihm, dass er ins Schwarze getroffen hatte.
„Wie macht er dass immer?“ fragte Eric in die Runde, sichtlich beeindruckt von Baltas Fähigkeiten.
„Diesmal war es nur ein Schuss in Blaue. Also. Wen hast du gesehen?“ fragte er Sentry. Dieser schaute rüber zu Dina.
„Red? Er ist hier?“ In ihren Augen blitze sofort wieder die Wut auf.
„Wo ist er? Wo hast du ihn getroffen?“ Ihr Tonfall war wieder deutlich aggressiver.
„Er hat mir ein Angebot gemacht.“ Sentry war unsicher. Beim Thema Red konnte man bei Dina nur verlieren.
„Ein Angebot? Was hat er denn vor? Will er dich zum Tanz ausführen? Dieser schleimige Mistkerl. Dem ist nicht zu trauen.“ Dina schäumte fast vor Wut. Sentry konnte es nicht vermeiden, aber auf Dinas Frage, was er denn vor hatte, kam reflexartig ein Seitenblick zu Balta und damit signalisierte er unfreiwillig sein neu erworbenes Misstrauen ihm gegenüber.
„Beruhige dich. Ich weiß, dass man ihm nicht trauen kann. Er ist keine Option für mich.“ Er war sich fast selbst nicht sicher, ob er nun Red oder Balta mit diesen Worten meinte.
„Dass er so nah an dir dran ist, hätte ich nicht gedacht. Damit wirst du mich weiter auf dem Hals haben, bis ich ihn erwische.“ Zwei Minuten bis zum Sprung signalisierte die mechanische Lautsprecherstimme. Dina beruhigte sich. Das ihr geliebter Feind in ihrer Nähe war und sogar gezwungen wurde aktiv zu werden, gab ihr ein gutes Gefühl für ihre Rache.
Eva fühlte sich mehr und mehr als Außenseiter. Die Geschichte mit Red drängte sie noch weiter an den Spielfeldrand des Geschehens. Es wurde Zeit wieder aktiver mitzuwirken, also entschied sie sich, ob nutzbringend oder nicht, den von Sentry beschworenen Zusammenhalt auszuprobieren.
„Willst du drüber reden?“ ihr fielen diese vier Worte so unheimlich schwer. Sie hatte einen Moment abgewartet, an dem sie mit ihm allein war. Balta und Dina hatten sich nach dem Sprung in den Ruheraum zurückgezogen und Eric war wieder auf der Brücke und ließ sich die Technik erklären.
„Ja das wäre schön.“ er war sichtlich überrascht über ihre Offensive.
„Dina kennt nur ihre Rache und Balta...“ Sentry zögerte und sprach dann etwas leiser weiter.
„Ich weiß nicht, ob man ihm trauen kann.“ Sentry wurde nachdenklich und ging gedanklich alle Pro und Contras hinsichtlich Balta durch.
„Ich habe jemanden kennen gelernt auf dem Exson. Sie kannte ihn und sie warnte mich ausdrücklich vor ihm.“ Drei einfache Buchstaben, die Evas inneren Gemütszustand weiter in Unruhe versetzten. Der Genuss von Sentrys Vertrauen wich der Enttäuschung, dass da noch jemand war, mit der er seine Zweifel gegenüber Balta teilte. Jemand weibliches. Sie ließ sich ihre Enttäuschung nicht anmerken, eine Technik, die sie im Tempel perfektioniert hatte. Was wollte sie auch? Sie hatte ihn zurückgestoßen. Er hatte alles Recht der Welt wo anders Trost zu finden.
„Was hat sie denn gesagt?“ fragte sie nach. Sentry setzte zu einer Antwort an, brach aber wieder ab. Offensichtlich fiel es ihm schwer die passenden Worte zu finden.
„Eigentlich nicht viel. Das Verrückte war, sie kannte meine Geheimnisse, meine Fähigkeiten, meine Vergangenheit. Sie wusste wer ich bin. Anstatt mir zu erzählen, wo ich herkomme, riet sie mir nach Cree zu gehen und Balta zu meiden. Ich hatte das Gefühl sie wäre...“ er suchte nach dem passenden Wort.
„Familie?“ ergänzte Eva.
„Volk oder Stamm passt wohl besser.“ beruhigte Sentry seine inzestiösen Gedankenspiele.
„Vielleicht hat sie auch nur deine Gedanken vernebelt. Frauen können so manipulierend sein.“ Ihr fiel ihre eigene Vergangenheit ein. Wie sie windige Finanzgeschäfte einfädelte und nicht geizte mit ihren weiblichen Reizen. Es gab andere Tempelmitglieder, die sogar einen Schritt weiter gingen, was trotz der sexuellen Enthaltsamkeit im Tempel vom Führer geduldet wurde. Sie fragte sich, wie weit die Unbekannte bei ihm ging, war sich aber nicht sicher, ob sie die Antwort wirklich wissen wollte.
„Das ist genau der Punkt. Jeder, den ich bisher getroffen habe, verfolgt seine eigenen Interessen und ich bin nur das Mittel zum Zweck. Dina will mich für ihre Rache, Balta will mich um Pluspunkte bei der Science zu sammeln, Red will diese Mistviecher in mir. Und Zaja? Wer weiß was sie will? Vielleicht diene ich nur zum Zeitvertreib? Deswegen bin ich so froh, dass du da bist. Du bist unvoreingenommen.“ Sentry zögerte. Er war sich nicht sicher, ob er sie mit dem letzten Satz überforderte. Sie hatte ihn schon einmal abgewiesen, was noch keine Woche her war. Die Erinnerung an die Worte, wie sie sich jegliches Selbstvertrauen absprach, war noch frisch. Ihre Blicke trafen sich und diesmal erwiderte sie nichts. Er lächelte sie an, in der Hoffnung auf ein Lächeln ihrerseits, aber die ungewohnten Gesichtszüge bekam sie nicht hin. Wieder ein Punkt, den sie erneut lernen musste.
„Erzähl mir mehr von diesem Red.“ wand sie sich aus der ihr unangenehmen Situation.
Auf ein Neues erzählte er seine Geschichte, aber diesmal tat er es gern und fügte persönliche Empfindungen hinzu. Es tat gut, sich auf diese Art und Weise zu erleichtern. Schnell kam er von Red zu seinem gesamten bisherigen beschränkten Lebenslauf. Zum ersten Mal gab er seine Empfindungen über seine gespaltene Persönlichkeit preis, dass da noch jemand hinter dem Vorhang ist, der seine Vergangenheit verbarg. Wie beunruhigt er ist, wenn er die Kontrolle verlor. Er redete ohne jede Scheu und ohne Bedenken zu viel von sich Preis zu geben. Nur bei der Geschichte mit Zaja hielt er sich zurück und war froh, dass sie nicht nachfragte, wie sie denn die ganzen Stunden verbracht hätten.
„Was wollte Red?“ Dina betrat den Raum. Offensichtlich machte ihr seine Anwesenheit auf dem Exson zu schaffen. Sie verfiel in alte Muster voller Hass und Wut. Die Gemeinschaft hatte ihr gut getan, aber es hatte den Anschein, dass die bloße Nähe von Red den Schalter wieder um legte auf ihr eigentliches Ziel. Sie hatte sich verändert und das nicht nur durch das Auftauchen von Red. Ihre Liaison mit Balta war mittlerweile auch Sentry bekannt und damit hatte sie für ihn die Seiten gewechselt. Urplötzlich war wieder eine Distanz zwischen den Beiden und zerstörte die Illusion, dass sie Freunde wären. Das Gemeinschaftsgefühl der Gruppe, entstanden in der abenteuerlichen Flucht durch den Slum und dem gemeinsamen Kampf gegen die Einheimischen, über die Reise zum Exson bis hin zum gemeinsamen Bier im Twister, hatte gewaltige Risse bekommen. Die Treffen mit Zaja und Red zerstörten die naive Vorstellung, dass ihr gemeinsames Schicksal in wirklicher Freundschaft enden würde. Die einzelnen Pakete, die jeder Einzelne mit sich schleppte, waren zu gewaltig für eine Rücksichtnahme untereinander. Sie waren eine Zweckgemeinschaft, dass wurde Sentry in diesem Moment schmerzlich bewusst.
„Was wird er schon wollen? Mich natürlich. Du kennst doch meine Talente.“ antwortete er möglichst nichts sagend.
„Und das Angebot? Was hat er denn auf den Tisch gepackt?“ Ihr drohender Tonfall machte deutlich, dass sie konkretere Antworten verlangte. Sentry verfluchte den Moment, in dem er das Wort „Angebot“ in den Mund nahm. Die Option sich zu winden, war bei Dina sinnlos. Blieb nur die Wahrheit.
„Meine Vergangenheit.“ kam es dann doch sehr unpräzise.
„Immerhin hat er dich ja gefunden. Viel Spielraum für einen guten Bluff.“ erwiderte sie.
„Sehe ich genauso. Wie gesagt. Diese Möglichkeit ist keine Alternative für mich.“ Er war froh, dass sie da gleicher Meinung waren.
„Du weißt ja wie es heißt. Der Freund meines Feindes ist mein Feind.“ verdrehte sie das Sprichwort absichtlich.
„Nicht das ich dich am Ende umbringen muss.“ Trotz Lächeln war sich Sentry nicht sicher, ob dieser Satz als abschließender Scherz gemeint war. Sie verließ den Aufenthaltsraum und ließ ihn in verwirrter Stimmung zurück.
Die Beiden waren wieder unter sich und da Sentry seine gesamte Lebensgeschichte dargelegt hatte, war es nun an Eva persönlich zu werden. Er versuchte den Einstieg mit einfachen Fragen zu weiteren Geschwistern, hatte aber nie das Gefühl den Eisberg anzuschmelzen. Sie war noch nicht soweit sich zu öffnen und Druck würde genau das Gegenteil erreichen von dem, was er wollte. Vertrauen. Ein Gut das sie nicht bereit war leichtfertig zu vergeben. Also beendete er ihre Unterhaltung mit belanglosen Kommentaren über die Schiffsaustattung und zog sich zurück in die Schlafkabine.
Eigentlich brauchte er keinen Schlaf, dass was er brauchte war Ruhe zum Nachdenken. Er legte sich in das von Dina freigewordene Bett und wollte objektiv über die Geschehnisse auf dem Exson urteilen. Ihr Geruch hing in den Kissen und unweigerlich fühlte er sich zurück versetzt in Zajas Appartement. Die Stunden bei ihr waren das Unglaublichste, was er bisher erlebt hatte. Einzelne Details in seinem Gedächtnis drängten sich wieder in den Vordergrund und als er die Erregung in seiner Hose spürte, wusste er, dass er sich am falschen Ort für objektives Bewerten befand. Er wechselte die Bettwäsche und versuchte sein Glück erneut, nicht ohne noch einen kräftigen Atemzug Dina einzusaugen. Sie roch so unheimlich gut und das einzige Gegenmittel um endlich freien Kopf zu bekommen, war sich die Begegnung mit Red wieder ins Gedächtnis zu rufen.
Zaja hatte ihn irgendwie lahm gelegt und das in einem schwachen Moment, indem er eigentlich glaubte sie würde die nächste Runde einläuten. Er vermutete eine kleine Injektion mit Betäubung der Einstichstelle, aber trotz intensiver Suche an sich, konnte er keine Wunde entdecken. Die Ohnmacht dauerte nicht lange, seine Femtos wurden sofort wieder aktiv, was eine zusätzliche Energiezufuhr notwendig machte. Hungrig begab er sich nach Habitatring zwei und setzte sich in eines der zahlreichen Restaurants. Er hatte genug von geschmacklosen Kaloriengetränken, also entschied er sich, trotz der Gefahr seinen Magen zu überfordern, für eines der vielfältigen Angebote auf der Karte. Die Vorfreude auf gezuckertes Obst wurde begleitet von dem Knurren seines Magens. Während er auf den Kellner wartete, ging er seine Optionen durch. Eine Stunde hatte er noch. Zu wenig Zeit, um auf diesem riesigen Exson Zaja aufzuspüren. Sie würde nicht zurückkehren nach 22A. Die Gewissheit gab ihm das „zu Vermieten“ Schild, welches er beim Verlassen ihres angeblichen Quartiers wahrnahm. Die Wohnung war also nicht ihre. Wie konnte sie dann die Tür öffnen? Vermutlich auf dieselbe Art und Weise, wie es ihm möglich war Sperren zu umgehen. Sie hoffte, dass er einer von ihnen war. Einer von was? Von einem Volk, mit allen technischen Möglichkeiten?
Der Kellner störte seine Überlegungen. Schön angerichtet stellte er ihm einen Teller mit Zuckergussüberzogenen Früchten vor die Nase. Er probierte eine in Schokolade getauchte Banane und unterschätzte die Süße. Die Geschmacksexplosion in seinem Mund war unglaublich. Nie zuvor hatte er Vergleichbares zwischen die Zähne bekommen. Selbst die gemeinsamen Cocktails mit Zaja, hatten nicht annähernd diesen Zuckergehalt. Er stopfte sich ein weiteres Stück Banane in den Mund.
„Hey, langsam. Wir wollen doch nicht, dass deine Femtos Verstopfungen bekommen.“ Sentry erinnerte sich an die Angstgefühle, die diese Stimme aus dem Hintergrund in ihm auslösten. Zu sehr stand sie in Verbindung mit der Hölle auf Reds Schiff. Die ganzen verdrängten Erinnerungen schwemmten sofort an die Oberfläche. Und dann saß es vor ihm, dieses Narbengesicht, welches ihm damals unter Drogeneinfluss den Schock seines Lebens versetzte. Als wären sie die besten Freunde, setzte er sich wie selbstverständlich an die gegenüberliegende Seite des Tisches. Die Angst dauerte nur einen Bruchteil und glich eher einem Reflex, als dass sie nachhaltige Wirkung ausüben konnte. Zu sehr hatte sich Sentry verändert. Im Rückblick genoss er den Sieg über seine Furcht vor Red durch sein neu erworbenes Selbstvertrauen. Etwas, was er ihm unbedingt zeigen wollte.
„Keine Sorge mir ist der Appetit vergangen.“ er warf den Rest der Banane wieder auf den Teller. Nicht nur, dass das klebrige Zeug seinen Magen verkrampfte, auch die Gesellschaft verdarb ihm die Freude.
„Oh. Da hat dir die Schlampe wohl gezeigt wie man Eier bekommt.“ zeigte sich Red nur kurz verwundert keinen ängstlichen Sklaven mehr vor sich zu haben. Mit Schlampe war natürlich Dina gemeint und Reds Abneigung ihr gegenüber war wohl ähnlich groß wie ihre.
„Was willst du?“ Ihn widerte es an sich mit ihm unterhalten zu müssen.
„Das sollte dir doch klar sein. Diesmal bin ich auch bereit dafür zu bezahlen.“ Red grinste ihn mit seinen verstümmelten Zähnen an.
„Ach übrigens. Hast du raus gefunden, was du noch so drauf hast?“ fragte er weiter nach und griff sich eine Banane von seinem Teller.
„Ich kann Obst vergiften.“ antwortete Sentry gelangweilt. Red zögerte kurz und steckte sich die halbe Banane grinsend in den Mund.
„Ich kann dich dahin bringen, wo ich dich gefunden habe. Glaub mir. Der Ort hat es in sich.“ Hatte er zu dem Zeitpunkt überhaupt einen Moment ernsthaft überlegt, ob er das Angebot annehmen sollte? Er konnte sich nicht erinnern. Für ihn war es nur eine Gelegenheit zusätzliche Informationen zu bekommen.
„Dann füttere mich mal an. Was macht denn diesen Ort so besonders?“ fragte er. Red beugte sich vor zu ihm, als wäre er im Begriff ihm ein großes Geheimnis zu verraten.
„Mehr von deiner Sorte.“ gab er geheimnisvoll von sich. Sentry mimte weiterhin den Unbeeindruckten.
„Bilder sagen mehr als Worte.“ Red hielt ihm ein Pad unter die Nase. Die Erinnerung an die unscharfe Aufnahme und die Gleichgültigkeit mit der er das Bild abtat, wirkte im Nachhinein leichtfertig. Warum hatte er in diesem Moment nicht nach Details gesucht? Etwas, was ihm irgendein Hinweis gab. Sein Stolz verbot ihm Interesse zu zeigen.
„Leider fehlt Igor jegliches Talent zur Fotographie. Sechzehn Kammern. Genau wie deine.“ Red tippte eine ganze Reihe von schemenhaften Punkten auf dem Bild ab. Sarg hatte er damals die Kryonik-Kammern genannt.
„Wir haben versucht euch da raus zu bekommen, mit sagen wir mal geringem Erfolg. Nur bei dir hat es geklappt. Deine Kammer war in einer Art Notfallmodus. Weniger als 2% Energie. Ich schätze mal das war der Grund, warum wir dich da lebend raus bekommen haben.“ Sentry erinnerte sich an den Drang dieses grinsende Gesicht einzuschlagen.
„Die Anderen sind tot?“ fragte er viel zu interessiert. Dieses elendige überlegende Grinsen hatte sich in Reds Gesicht zementiert.
„Nein. Was denkst du denn von mir? Es gab zwar den einen oder anderen Unfall, aber der überwiegende Teil ist noch am Leben. Wenn man das so nennen kann.“ Auch jetzt, wie er in der Koje der „Baltim“ lag und die Ereignisse noch einmal durchging, kam die Wut erneut in ihm hoch. Dieser Mistkerl hatte sich als Gott aufgespielt und über Leben und Tod entschieden. Und dann sagte Red das, was ihn dann doch aus der Fassung brachte. Es tat weh sich diese Worte wieder in Erinnerung zu rufen.
„Wären wir nicht gewesen, wärst du vermutlich verreckt. Du verdankst mir dein Leben.“ betont gönnerhaft verkündete Red die unangenehme Wahrheit und wenn er damit die Absicht hatte Pluspunkte zu sammeln, erreichte er genau das Gegenteil. Sentrys Pokergesicht wich der blanken Wut. Vor seinem geistigen Auge ging er die einzelnen Bewegungsabläufe noch einmal durch. Zuerst die Früchte, die gezielt in seinem Gesicht landeten. Dann zerbrach er den Teller und mit der schärfsten Kante wollte er dem Narbengesicht eine persönliche Note verleihen. Nichts von alledem passierte, da Igor in seinem Rücken ihm unmissverständlich klar machte, dass dieses Vorhaben nicht gut für ihn ausgehen würde.
„Die Wahrheit tut weh, aber du schuldest mir was.“ fuhr Red fort, nachdem sich Sentry etwas beruhigt hatte.
„Schulden? Du hast mich gefoltert, gedemütigt und verkauft. Ich schulde dir gar nichts.“ Sentrys Wutpegel stieg wieder an.
„Da hast du wohl Recht. Sagen wir, wir sind quitt. Die beste Vorraussetzung für ein neues Geschäft. Was sagst du? Ich bringe dich dort hin und du kannst eine Woche machen was du willst. Dann gehen wir zur Science, holen die kleinen Kerlchen aus dir raus und dann geht jeder seiner Wege. Ist das ein gutes Geschäft?“ Red hielt ihm die Hand hin, so als würde sein Plan alternativlos sein.
„Selbst wenn du mir kein Messer in die Hand rammst, wie das letzte Mal, mit dir mache ich keine Geschäfte. Kein Interesse.“ Sentry hatte seine Selbstkontrolle zurück. Red schaffte es ihn sofort wieder zu provozieren.
„Ich lasse dir eine gewisse Zeit zum Überlegen und werde wieder auf dich zukommen. Aber hey, noch sind da die Kammern mit deinesgleichen. Solltest du ablehnen, bin ich gezwungen weiterhin mein Glück mit deinen Freunden zu probieren, mit allen unangenehmen Folgen, die da auftreten können.“ Die Drohung hatte gesessen. Sollten sich dort tatsächlich weitere Kryonik-Kammern befinden, wäre er irgendwann im Zugzwang. Eine Tatsache, die auch Red bewusst war.
„Ich habe dich an den Eiern und im Gegensatz zu meinem Freund Olof, hängt da der ganze Kerl noch mit dran. Mein Angebot ist das Beste, was du derzeit hast. Gehe deine Optionen in Ruhe durch.“ Das tat er auf der Pritsche der „Baltim“ und kam zu der Erkenntnis, dass alle Möglichkeiten ihre Tücken hatten. Er wusste nicht woran er bei Balta oder Zaja war. Nur Red konnte er definitiv nicht trauen. Leider besaß der den größten Joker. Selbst wenn alles stimmen würde und selbst wenn er die anderen aus ihren Särgen holen könnte, sie würden vermutlich ähnliche Gedächtnislücken aufweisen wie er. Vielleicht war es seine Familie die da lag und er würde sogar die Frau auf dem Foto dort finden. Die Wut stieg wieder hoch, als er vor seinem geistigen Auge Red an den Kammern rumwerkeln sah. Den Pakt mit dem Teufel wollte er nicht. Blieb als Alternative nur der Tod. Nicht seiner oder der der Anderen. Nein Red musste sterben. So oder so, er würde eine unangenehme Entscheidung treffen müssen.
Der Transfer nach dem Sprung zog sich hin. Die Entscheidung ob Science, Cree oder Red beschäftigte Sentry die vollen drei Stunden und jedes Mal, wenn er glaubte endlich die beste Lösung gefunden zu haben, kamen die Zweifel nicht alles genau bedacht zu haben. Baltas Plan auf der Yuma-Station einen Science-Vertrauten zu kontaktieren, war zeitlich unbestimmt. Sie konnten Glück haben, dass gerade einer die Station besuchte und willig war sie zu ihrem Ziel zu bringen. Im schlimmsten Falle allerdings mussten sie wochenlang warten, bis jemand geeignetes auftauchte. Der Transport würde sie einiges kosten und es war eher unwahrscheinlich, dass die Jetons reichen würden. Die Alternative Cree hatte ebenfalls ihre Tücken. Er hatte sich schlau gemacht in Marios Bordcomputer über den Planeten, dennoch waren die Informationen spärlich. Es gab keine regelmäßige Verbindung durch die Exson. Genau genommen war Cree als Ziel zu uninteressant geworden und der letzte Sprung lag mehr als zwei Jahre zurück. Der Fahrplan verkündete nur ein „vorübergehend eingestellt“. Also war auch hier ein separater und teurer Sonderflug notwendig. Die dritte Option, die ja ursprünglich keine war, bohrte sich trotzdem immer wieder in seine Überlegungen. War die ganze Sache nur ein gut angelegter Bluff seitens Red? Er hatte keine wirklich überzeugenden Argumente gesehen. Was, wenn er nicht log? Konnte er das Risiko eingehen ihn zu ignorieren? Sicher nicht. Aber wie Red die Informationen entlocken, ohne seine Seele zu verkaufen?
„Hier spricht ihr freundlicher Kommandant. Wir sind im Begriff das Ziel unserer Reise zu erreichen.“ plärrte der Lautsprecher.
„In zwanzig Minuten werden wir an die Yuma-Station andocken.“ Sentry begab sich wieder ans Fenster.
Unter dem Eindruck des ersten Erblickens der „verruchten Braut“ erwartete Sentry etwas ähnlich Kolossales vorzufinden. Er war leicht enttäuscht, über das, was er sah. Mal abgesehen von dem einzigen, riesigen Habitatring, war die eigentliche Station eher überschaubar. Eine zentrale Kugel an der symmetrisch etwa zwei Dutzend Streben die Zugänge zu dem Andockring bildeten. Hätte ihm Mario nicht versichert, dass es sich um Yuma handelt, man hätte das ganze Gebilde leicht für einen zu groß geworden Satelliten halten können. Der eigentliche Planet, Yuma-Prime, welcher grau im Hintergrund schimmerte, war durch einer der vielen Auseinandersetzung in den vergangenen Jahrhunderten unbewohnbar geworden. Eine atomare Wüste auf der nichts und niemand länger als zehn Minuten am Leben bleiben würde. Die Überlebenden der Katastrophe hatten Zuflucht auf den damals noch zahlreichen Raumstationen gefunden. Diese umkreisten den Planeten und waren dem Zerfall ausgesetzt. Nach und nach wurde eine Station nach der Anderen aufgegeben. Das geschah nicht nur weil die technischen Mängel das weitere Überleben zum Glücksspiel werden ließ, sondern auch, weil es bessere Orte zum Leben gab. Wahrscheinlich wäre heute kein Mensch mehr in diesem System, hätte Exson damals nicht beschlossen ihre Zentrale hier her zu verlegen. Nur noch zwei Stationen sind in Betrieb. Eine für die Herstellung von Treibstoff und die Andere für die organisatorische Abwicklung der Geschäfte. Und auf die Letztere steuerten sie nun zu. Besucher blieben für gewöhnlich nicht lange. Die Abläufe waren mittlerweile so optimiert, dass neunzig Minuten reichten, um die doch umfassende Bürokratie zu erledigen. Die Wartezeit bis zum Sprung wurden lieber auf einem der Exsons verbracht, so dass auf Yuma ein ständiges Kommen und Gehen herrschte, aber nie jemand lange verweilte. Neben dem Personal, welches fast ausschließlich aus Wartung und Instandhaltung bestand, gab es nur noch Gestrandete, deren Geld nicht reichte für den Anschlussflug. Es gab Gelegenheitsarbeiten, mit denen sie ihren Aufenthalt finanzieren konnten, aber wer pleite war, wurde einfach abgeschoben. Ein Schicksal, das auch Sentrys Gruppe drohte, denn es war unklar, wann ihre finanziellen Reserven erschöpft waren.
Wieder gab es eine Registrierung beim verlassen der Luftschleuse, die mit dem gleichen Elan des zuständigen Beamten von statten ging, wie beim Betreten des Exsons. Nur ein kurzer Abgleich der vorhandenen Daten diesmal, aber auf die Frage, was denn ihr zukünftiges Ziel wäre, log Balta ungeniert. Die Wahrheit war, sie wussten es nicht und da ungewisse Aufenthaltzeiten hier ungern gesehen waren, suchte er sich die längst mögliche Alternative für seine Lüge aus. Das Exson nach Comox verlies Yuma erst in sechs Tagen. Soviel Zeit blieb ihnen also, um eine weitere vernünftige Ausrede für ihren Besuch zu finden.
Mario verabschiedete sich sofort wieder. Wichtige Geschäfte ließen ihn nicht lange auf der Station verweilen und immerhin hatte er seinen Teil der Vereinbarung erfüllt. Es war schon bedrückend keinen gewohnten Rückzugsort mehr zu haben, also war Sentry komplett Baltas Gnade ausgeliefert. Er war der Einzige, der sich an solchen Orten auskannte.
Im Gegensatz zu der Feierstimmung auf dem Exson, herrschte hier eine nüchterne Atmosphäre. Die metallischen kargen Wände erinnerten Sentry an Reds Schiff. Offenbar war das ein Einheitsdesign der Vorfahren. Es gab nur eine Bar, die auch gleichzeitig die Verpflegung bereitstellte und als sozialer Treffpunkt für die Einheimischen diente. Der Rest bestand aus Wohnquartieren, Läden und allen möglichen Dienstleistungen, wie medizinischer Versorgung oder Reparatur von elektrischen Geräten. Nicht mehr als dreitausend ständige Bewohner gab es auf Yuma und vielleicht noch mal soviel an wechselnden Besuchern, so dass auf Grund der überschaubaren Anzahl, die Gruppe auffiel, als sie die Station betrat. Besonders die Frauen wurden von den meist männlichen Anwesenden gemustert, so dass sich die Reserviertheit gegenüber Fremden, die normalerweise von den Einheimischen an den Tag gelegt wurde, diesmal in Grenzen hielt.
„Was für ein trostloser Ort. Müssen wir hier lange bleiben?“ entfuhr es Eric und wieder schaffte er es, mit dieser Bemerkung den Unmut der Bevölkerung auf sich zu ziehen. In dem Moment, als sie die Bar betraten, richteten sich ungefähr zwanzig Augenpaare auf sie.
„Kannst du dich nicht einmal zurückhalten mit deinen Bemerkungen.“ Eva war peinlich berührt von dem ersten Eindruck, den sie gerade hinterlassen hatten.
„War nicht so gemeint.“ entschuldigte sich Eric halbherzig und merkte wieder zu spät, was er angerichtet hatte. Zum Glück war die Klientel nicht auf Ärger aus, so dass man mit ein paar bösen Blicken die ganze Sache auf sich beruhen ließ.
„Herzlich Willkommen in meinem Etablissement. Hübsche Frauen sind hier immer gern gesehene Gäste. Nörgelnde Kinder mögen bitte draußen bleiben.“ begrüßte sie der Wirt hinter der Theke. Ein etwas untersetzter Mann Mitte 50 und mit keinem einzigen Haar auf dem Kopf. Sein Kinnbart und seine beruhigende Stimme unterstrichen seine sympathische Ausstrahlung. Über die Jahre hatte er sich ein perfektes Auftreten gegenüber Kundschaft antrainiert, so dass sich die Gruppe trotz des verpatzten Auftretens in der Bar willkommen fühlte.
„Danke für das herzliche Willkommen. Mein Freund Eric würde dieser netten Gemeinde gerne eine Runde Bier ausgeben.“ entgegnete Balta die Begrüßung.
„Saalrunde.“ brüllte der Wirt in die Menge. Bevor Eric protestieren konnte, rückten weitere Gäste aus dem Flur in die Bar.
„Was…? Hey. Nein. Was soll denn das?“ wandte er sich irritiert an Balta.
„Das ist wie mit dem Hund, dem man auf die Füße treten muss, damit er einen nicht mehr anspringt. Irgendwann springst du nicht mehr.“
„So sehr ich das Hündchen auch dressieren möchte, aber sollten wir unser spärliches Geld nicht zusammenhalten, um hier schnellst möglich wieder weg zu kommen.“ Dina war skeptisch wegen der Saalrunde.
„Die Jetons reichen eh nicht. Was wir brauchen ist das Vertrauen der Einheimischen. Nur über sie bekommen wir Informationen und vielleicht sogar das nötige Geld, um weiter zu reisen.“ erwiderte Balta. Er wandte sich an den Wirt, stellte die Gruppe namentlich vor und versuchte mit seinem üblichen Charme die Geschicke in die gewollte Richtung zu lenken.
„Wir sind auf der Suche nach einem eher privaten Transport.“ rückte er mit seinem Anliegen raus, nachdem er mit ein paar Minuten allgemeinen Palaver das Fundament für diskretere Fragen gelegt hatte.
„Da wenden Sie sich lieber an die Administration. Die Firma sieht nicht gern Konkurrenz auf Yuma.“ erwiderte Salik der Wirt.
„Ich brauche ja nur einen Tipp.“ Er legte einen Jeton auf die Theke. Die Exson duldete ein gewisses Maß an freien Transporten. Erstens zog es weitere Kundschaft an und zweitens konnten sich verschiedene Angestellte ihr spärliches Gehalt durch gewisse Extrazahlungen aufbessern. Offiziell wurde jegliche Konkurrenz verboten und es passierte schon oft, dass Kommandanten mit Überlichtantrieb Strafen zahlen mussten, aber die Exson nutzte diese Mittel nur, wenn sie das Gefühl hatte ihre eigenen Geschäfte würden zu sehr beeinträchtigt.
„Es gibt gerade zwei Alternativen, die Sie nutzen können.“ Salik rührte den Jeton nicht an, erst in dem Augenblick indem Balta einen zweiten dazu legte, verschwanden beide in seiner Tasche.
„Ich arrangiere was. Seien Sie in zwei Stunden wieder hier.“ lächelte er freundlich und stellte Balta ein weiteres Bier hin. Das hieß für die Gruppe die Zeit zu überbrücken. Während Balta und Dina weiter dem Alkohol frönten, beschlossen Sentry, Eva und Eric die Station zu erkunden. Es war deprimierend, die immer gleichen blassen Gesichter zu sehen. Sie waren gezeichnet von Alkohol und Tabak. Leute in ihrem Alter wirkten verbraucht und ausgebrannt, als würden sie die meisten ihrer Lebensjahre schon hinter sich haben. Die Lebenserwartung ohne frische Luft und Sonnenlicht war nicht besonders hoch. Die Geschichten glichen sich. Gestrandete, die mit Gelegenheitsarbeiten anfingen und dann das zweifelhafte Glück hatten durch den Tod oder den Weggang eines permanenten Bewohners dessen Aufgabe übernehmen zu dürfen. Da war Kurt, der Barbier, der ohne Ausbildung die notwendige Stelle durch die Administration zu gelost bekam. Er setzte sich gegen sechs Mitbewerber durch und die anfängliche Freude wich dem tristen Alltag auf Yuma. Sein siebentes Jahr war er hier, hatte sein festes Auskommen, aber die Tage waren austauschbar geworden. Zwölf Stunden mehr oder weniger stressige Arbeit, dann hing er vier Stunden bei Salik ab, bevor er betrunken in sein spärlich eingerichtetes Ein-Zimmer-Quartier taumelte, um den nächsten Tag wie die vorangegangenen zu verbringen. Oder Welko der Mechaniker, welcher zwischen den Stationen pendelte. Zwölf Jahre kümmerte er sich um die Maschinen der Raffinerie, ohne einen Tag Pause. Unmöglich sein Alter unter dem ganzen Schmutz und der dreckigen Kleidung zu schätzen. Yuma war kein Ort um sein Glück zu finden. Kinder oder Familien gab es hier nicht. Es war ein Ort der verlorenen Träume. Wer es schaffte hier wieder los zu kommen, sah sich nur wenig besseren Alternativen gegenüber. Für den Rest war Yuma die Endstation und man durfte sein Leben als Platzhalter für Haare schneiden oder Bier ausschenken hergeben. Es war einerlei, ob hier oder auf Lassik oder sonst wo. Für die Menschheit waren Orte wie Yuma zur trügerischen Sicherheit geworden, im Kampf um das tägliche Überleben in dieser unmenschlichen Welt.
Nicht mal vierzig Minuten reichten, um die wesentlichen Attraktionen der Station zu sehen. Das sie überhaupt solange brauchten, war dem technischen Interesse Erics zu schulden, der im einzigen Laden für elektronisches Zubehör sich selber wieder fand. Er diskutierte über fünfzehn Minuten mit dem Inhaber, was dieser denn besser machen könne, bis der ihn dann einfach genervt vor die Tür setzte. In seiner für ihn typischen Aufregung musste Eva ihn beruhigen und Sentry wurde schmerzhaft bewusst, dass sie mit Eric ein ernsthaftes Sicherheitsrisiko besaßen. Entweder lernte er es unauffälliger zu werden oder sie mussten sich von ihm trennen, was vermutlich gleichbedeutend mit seinem Tod wäre. Wenn es eine schaffen würde ihn auf den richtigen Weg zu bringen, dann war es Eva. Etwas, was ihr noch nicht so Recht bewusst war oder mit großer Ignoranz ausgeblendet wurde.
Sie begaben sich zurück in die Bar und setzten sich zu Dina und Balta. Die Stimmung war verkrampft. Der gewachsene Gruppenzusammenhalt nach der Flucht von Lassik war dahin. Alle hatten das Gefühl, dass sich zwei Lager gebildet hätten. So saßen sie schweigend vor ihrem Bier, bis Dina die peinliche Stille beendete.
„Ist das kalt hier.“
„Was? Es sind 22°C. Frauen frieren wohl sogar in der Hölle.“ erwiderte Eric. Dina ignorierte ihn. Offenbar war es ihr wichtiger die Probleme anzusprechen, als ihrem Lieblingszeitvertreib nachzugehen.
„Was ist das Problem? Seitdem wir…“ Sie zögerte kurz, um die richtigen Worte zu finden.
„Seitdem wir unseren Spaß hatten, scheint die Harmonie leicht gestört. Ihr seid doch nicht etwa eifersüchtig?“
„Ich glaube da ist mehr als Eifersucht. Misstrauen.“ hakte Balta ein.
„Red. Irgendwas ist passiert, was du uns noch nicht gesagt hast.“ Balta lag zum ersten Mal falsch. Wie sollte er auch wissen von der Geschichte mit Zaja.
„Oh. Kein Red. Etwas Anderes ist passiert.“ korrigierte er sich sofort, nachdem er Sentrys Gesichtszüge gedeutet hatte. Dieser war nun der Mittelpunkt des Geschehens.
„Wir haben soviel Scheiße miteinander durchgemacht. Ich habe sogar deinen süßen Arsch gerettet. Hast du jemals das Gefühl gehabt, dass ich dich hintergangen hätte? Also was ist passiert, dass sich zwischen uns was geändert hätte?“ Zum ersten Mal sah er in Dinas Gesicht Sorge. Konnte es sein, dass es ihr wichtig war, was er von ihr hielt. Es war Dina, die Frau, die für ihre Rache alles Andere als unwichtig einstufte.
„Es ist nicht deine Ehrlichkeit.“ Sentry rang nach den richtigen Worten.
„Nein. Eigentlich ist es deine Ehrlichkeit. Erinnerst du dich? Wir saßen im „junction“ und auf die Frage, ob ich auf dich zählen kann, sagtest du, dass es keine Garantie für das gibt, was nach dem Verlassen von Lassik passiert. Nun sind wir hier, gegen jede Wahrscheinlichkeit. Es wird Zeit, erneut Stellung zu beziehen.“ Damit lag der Spielball in Dinas Hälfte und die eigentliche Forderung nach Vertrauen musste sie nun ihrerseits erst bestätigen.
„Du willst einen neuen Treueschwur?“ So hatte sich Dina das nicht vorgestellt. Das eingeforderte Bekenntnis zu der Gruppe kam als Bumerang zu ihr zurück. Sie zögerte, raffte sich dann aber zu einer Antwort auf.
„Das ist nur fair. Ich habe dich damals im Unklaren gelassen, aber für mich hat sich nichts geändert. Du bist meine beste Chance Red zu bekommen. Das ist das Einzige, was zählt.“ Sentry war ein wenig enttäuscht. Hatte er tatsächlich gehofft, dass sie ihm aus rein menschlichen Gründen beistehen würde.
„Das wäre geklärt. Nun zu mir. Auch zwischen uns sind dunkle Wolken aufgezogen.“ Balta etwas vorzumachen war schwierig. Für Sentry blieb nur die Wahrheit oder Schweigen. Ihre Blicke trafen sich und den Konflikt, den er gerade mit sich austrug, ob er ihm von Zaja erzählen sollte oder nicht, bedachte Balta mit etwas Spöttischem in seinen Geschichtszügen.
„Cree“ Er hatte nicht das Gefühl eine bewusste Entscheidung getroffen zu haben. Dieses Wort rutschte ihm einfach raus und beschloss damit das Ende seines inneren Konfliktes. Nun gab es kein zurück mehr, aber ewiges Schweigen wäre keine Option gewesen.
„Du willst dahin?“ fragte Balta vollkommen unbeeindruckt.
„Kennst du es? Warst du schon mal da?“ Gleich zwei Gegenfragen sollten seine Unentschlossenheit auf Baltas Frage kaschieren.
„Ja.“ blieb er einsilbig. Immer noch sahen sie sich gegenseitig an, aber dem Spöttischen in Baltas Blick war das Abwartende gewichen. Sentry hoffte, dass er ebenso auf Balta wirkte. Zwei Männer, die sich gegenseitig belauerten. Wer zuerst blinzelte, hatte verloren.
„Ich liebe diesen Macho-Kram, aber auf Dauer wird euch das nicht weiter bringen. Also, warum willst du nach Cree?“ Dina ermöglichte damit Sentry einen Ausweg, ohne sein Gesicht gegenüber Balta zu verlieren. Es war eine gute Frage. Was sollte er antworten? Weil er den besten Sex seines Lebens gehabt hatte. Weil Zaja ihn so manipuliert hatte, dass er eher seinen Trieben, als seinem Verstand folgte. Nein da war mehr. Es bestand eine gewisse Vertrautheit zu ihr, die weit über Gelüste hinausgingen. Cree war nicht der Reiz des Unbekannten. Ganz im Gegenteil. Irgendwas in seinem Inneren sagte ihm, dass er schon mal da war.
„Ich kann es nicht erklären, aber ich denke ich war schon mal da.“ sagte er unsicher.
„Und was erwartet uns auf Cree?“ fragte Dina.
„Cree ist natürlichen Ursprungs. Kein Terraforming durch die Vorfahren. Es gibt eine größere Siedlung in Eigenverwaltung. Sie erwirtschaften ihr Geld im Bergbau und ein wenig Landwirtschaft. Es gibt viele esoterische Spinner dort, die in kleinen Dörfern den ganzen Planeten bevölkern. Achso. Und Leute wie ich sind dort nicht gern gesehen.“ erklärte Balta das Notwendigste.
„Du meinst dein Charme zieht dort drüben nicht.“ merkte Dina an.
„Rassismus. Aber hey, dafür stehen blonde, blauäugige Frauen ganz oben auf der Beliebtheitsskala. Heißt das, du willst nicht zur Science?“ fragte Balta wieder ernst in Richtung Sentry.
„Es zerreißt mich nicht zu wissen, was diese verdammte Technologie in mir alles anstellen kann, aber es zerreißt mich genauso meine Ursprünge nicht zu kennen. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, was gerade das Beste ist.“ Sentry hatte das Gefühl zu viel Unsicherheit Preis gegeben zu haben. Er wollte sicher und souverän wirken, aber damit war es nun vorbei.
„Warum auf einmal Cree? Auf Lassik war das kein Thema. Also. Was ist passiert auf dem Exson?“ Balta war jetzt ungeduldiger. Dass ein Alternativplan zu der Science existierte, machte ihn nervös. Sentry schaute rüber zu Eva. Sie kannte seine Geschichte und er erhoffte von ihr eine Entscheidung für das weitere Vorgehen, aber sie konnte ihm nicht helfen, selbst wenn sie wollte.
„Es ist mir empfohlen worden, von jemandem der mich kannte.“ Wieder war es ihm unmöglich die ganze Wahrheit zu sagen. Baltas Pokerface hatte für einen Moment Risse bekommen. Offenbar schockierte ihn diese Aussage so sehr, dass er es nicht zu 100% schaffte unbeeindruckt zu bleiben. In diesem Moment entschied sich Sentry dagegen ihm von Zajas Warnung zu erzählen. Offenbar hatte diese ihre Berechtigung.
„Sie kannte meine Geschichte, meine Talente, meine Kameraden. Leider konnte ich sie nicht dazu befragen. Das Einzige was sie mir sagte, ich solle nach Cree gehen.“ Er hoffte damit Baltas Neugierde zu befriedigen.
„Geheimnisvollen Frauen verfällt man schnell. Selbst ich bin davor nicht gefeilt. Ich denke mal, sie hatte dir ordentlich den Kopf verdreht. Vielleicht hilft ja eine neutrale Sichtweise eine Entscheidung zu treffen. Du solltest uns alles erzählen, was passiert ist.“ Das war zu plump, als das er wirklich als ernst gemeinter Versuch durchgehen würde mehr Informationen zu bekommen. Vermutlich wollte er Sentry in trügerischer Sicherheit belassen seinen Bluff erkannt zu haben, um über verräterische Signale an die gewünschten Geheimnisse zu kommen. Er musste höllisch aufpassen nicht ungewollt mehr Preis zu geben, als ihm lieb war. Dieser Balta war gerissen und er hatte Blut geleckt. Das beste Mittel war es überhaupt nix zu sagen, aber selbst Gesten und Reaktionen konnten ihn verraten.
„Es ist egal, ob Cree oder Science. Unsere finanziellen Mittel reichen nicht aus. Wenn wir kein Geld haben, ist die einzige Möglichkeit hier weg zu kommen unsere Talente einzusetzen. Mit unsere meine ich natürlich deine.“ Balta wechselte von sich aus das Thema, da er einsah, Sentrys Vertrauen weiter einzubüßen, wenn er bei der Cree-Geschichte nachhaken würde.
„Es wäre mir lieb, wenn wir das nicht ans schwarze Brett aushängen würden.“ Sentry wirkte beunruhigt hinsichtlich Baltas Plänen.
„Kann ich nicht versprechen. Ich glaube unsere erste Möglichkeit hier weg zu kommen, ist gerade angekommen.“ Balta deutete auf eine Frau an der Bar, die ausgelassen mit dem Wirt diskutierte. Außer ihm hatte keiner ihr Ankommen bemerkt, zu sehr waren sie mit ihren internen Querelen beschäftigt gewesen. Sie schaute zu ihnen rüber und ein kurzer abfälliger Blick, so als würde ein gestandener Seebär einen Haufen Landratten begutachten, dann wand sie sich wieder Salik zu, der ihr ein frisches Bier hinstellte. Die Gruppe musterte sie ungeniert. Das Auffälligste an ihr war ihre Kleidung. Es war weniger die Farbe oder der Schnitt, die ins Auge fielen, es war das Material. Unmöglich zu sagen aus was ihr Overall bestand, aber es war kein gewöhnlicher Stoff. Alles wirkte multifunktional und vermutlich konnte sie damit ebenso durchs Höllenfeuer laufen, wie durch Eiswüsten marschieren. Unzählige Taschen, in denen Werkzeug, Zigaretten oder wer weiß was verstaut werden konnte. Keine Frage, diese Frau war auf so ziemlich alles vorbereitet. Sie hatte ihr dunkelblondes Haar zu einem Zopf zusammen gebunden. Sentry schätzte sie auf Anfang vierzig und auf ihn wirkte sie attraktiv. Von Natur aus war sie keine Schönheit, es war eher ihre Ausstrahlung, die ihn beeindruckte. Selbstbewusst, als könne ihr keiner was, schritt sie in einer Art und Weise auf sie zu, die sagte „Ich bin hier der Chef und es wird schwer werden mich zu überzeugen, dass wir ins Geschäft kommen.“. Sie war Profi indem was sie tat, dass war jedem sofort klar und plötzlich war Sentry froh, dass sie Balta dabei hatten. Wenn einer von ähnlichem Schlag war, dann er.
„Ihr sucht also einen Transport.“ kam sie ohne Umschweife zur Sache. Sie stand vor ihrem Tisch und musterte jeden Einzelnen persönlich. Da alle anderen saßen, hatte sie einen optischen Vorteil bei möglichen Verhandlungen. Ein Defizit was Balta schleunigst zu korrigieren versuchte.
„Biete der Dame doch deinen Platz an.“ wandte er sich an Eric.
„Dame ist gut. In dem Aufzug wirkt sie wie ….“ versuchte dieser seinen Platz zu verteidigen.
„Nicht springen Hündchen, nicht springen.“ wies ihn Balta zu Recht.
„Eine schlechte Wahl als Wachhund. Den Posten sollte sie übernehmen. Sie hat das richtige Feuer dafür.“ Ihr Gast deutete auf Dina, nachdem sie den freigewordenen Platz übernommen hatte.
„Das ist richtig. Wir benötigen einen Sondertransport.“ bestätigte Balta.
„So etwas ist immer sehr kostspielig, gerade für eine große Gruppe wie euch.“ Ohne großes Palaver stieg sie in die Verhandlungen ein.
„Ich bin…“ Balta wurde unterbrochen.
„…jemand der eine Mitfahrgelegenheit sucht. Ich weiß.“ unterbrach sie ihn eiskalt. Offenbar war es für sie einfacher mit anonymen Kunden zu verhandeln.
„Was habt ihr anzubieten?“ fuhr sie fort. Die Summe die Balta anbot, war konkret jene, die sie bei zusammenlegen aller Jetons besaßen. Ihr Lächeln auf dieses Angebot war undefinierbar. Das Fehlen jeglicher Relation zu dem Wert eines solchen Transportes, ließ Sentry für einen Moment hoffen, dass es ein gutes Geschäft für ihre Gegenüber wäre. Als sie aufstand und im Begriff war zu gehen, wurde ihm bewusst, dass er sich geirrt hatte.
„Einen Moment. Wir haben noch mehr im Angebot.“ hielt Balta sie zurück. Sentry zog es den Magen zusammen. Sein Auftritt als Joker stand unmittelbar bevor.
„Du kennst die Geschichte von Modoc? Wir können sie wiederholen.“ Die Frau zögerte kurz und setzte sich dann wieder.
„Große Sprüche. Normalerweise erkenne ich ein Großmaul.“ sagte sie ernsthaft interessiert.
„Du bist noch hier, also scheine ich nicht in diese Kategorie zu fallen. Ich halte dich für clever genug, das einschätzen zu können.“ Balta startete seine Charmeoffensive.
„Das Angebot ist folgendes. Ich bin mir sicher du kennst Dutzende Orte wie die auf Modoc. Bring uns zu einem und wir machen dich glücklich. Machen wir dich unglücklich, kannst du mit uns machen, was du willst. Ich glaube auf dem Sklavenmarkt könnten wir ein schönes Sümmchen erzielen. Ich bin mir aber hundertprozentig sicher, wir machen dich glücklich und dann bringst du uns dahin, wo wir wollen.“ Baltas Angebot klang überzeugend. Wie Sentry später erfuhr war Modoc eine dieser Geschichten, wie sie sie auf Lassik erlebt hatten. Irgendjemand hatte es geschafft ein Technologielager der Vorfahren aufzuspüren und sich Zutritt zu verschaffen. Ob dies der Wahrheit entsprach, konnte nicht nachgewiesen werden, aber die Geschichten von unendlichem Reichtum schwirrten wie Legenden durch die Galaxie. Seine Codeknacker sollten also als Pfand herhalten.
„Keine Chance. Ich bin nicht der Typ, der an Märchen glaubt.“ Sie wandte sich an Eva.
„Was ist deine Geschichte? Irgendwie passt du nicht hierher. Eigentlich passt du nirgendwo hin. Du wirkst, als hättest du die letzten Jahre in einem Kokon verbracht.“ Das passte eigentlich eher auf Sentry, aber er hatte sich mittlerweile so gut angepasst, dass seine Unsicherheit nicht mehr auffiel. Urplötzlich stand Eva im Mittelpunkt, was ihr sichtlich missfiel. Auch Balta war außen vor, was er als persönlichen Affront empfand.
„Das ist persönlich und geht Sie nichts an.“ erwiderte sie schroff. Die Frau grinste.
„Ich mag dich und das ist auch der Grund warum ich euch eine Chance gebe.“ Sie ignorierte Balta als Anführer vollkommen und betrachtete die Gruppe als eins.
„In etwa zwanzig Tagen werde ich auf Cayuse sein.“ Sie zog einen Zettel aus der Tasche und Sentry war überrascht, dass so etwas wie Papier immer noch genutzt wurde.
„Zehn Dinge stehen auf dieser Liste. Bringt mir zwei davon und wir sind im Geschäft. Im „Bali“ werdet ihr mich finden. Ach ja. Mein Name ist Gerda.“ Damit war die Sache für sie erledigt. Sie schaute wieder rüber zu Eva.
„Pass auf, dass die Welt dich nicht verschluckt.“ sagte sie mystisch und auf welche Knöpfe Eva bei ihr auch drückte, sie schien die Einzige zu sein, die sie halbwegs respektierte. Gerda ging zurück an die Theke, wechselte noch ein paar Floskeln mit dem Wirt, stürzte ihr Bier hinter ohne abzusetzen und verließ die Bar.
„Wow. Ein klasse Auftritt.“ Dina war sichtlich beeindruckt. Balta funkelte sie an. Er war es nicht gewohnt so abgekanzelt zu werden. Seine Vorstellungen, wie die ganze Geschichte laufen sollte, funktionierte nicht mal ansatzweise. Schlimmer noch. Sie hatte ihn vorgeführt und das machte ihn wütend. Wie froh war er doch gewesen, als er sah, dass sein Gegenüber weiblich war. Mit dem üblichen Charme wäre es ein Leichtes gewesen, leider hatte sie ihn sofort auflaufen lassen. Ihr Selbstbewusstsein hatte die ganze Gruppe beeindruckt und er hatte das Gefühl einen Teil seines eigenen Respekts gegenüber den Anderen verloren zu haben. Er musste jetzt souverän wirken. Schmollen würde die Sache nur schlimmer machen.
„Gut. Schauen wir mal, was sie will.“ Er lass den Zettel vor, auf dem jede Menge technische Gerätschaften standen.
„Das sind alles Schiffsersatzteile. Woher sollen wir denn das ganze Zeug bekommen? Wer weiß, ob es das überhaupt noch gibt. Keine Chance.“ Erics Pessimismus war diesmal angebracht.
„Yuma-Prime. Da wird es das geben.“ Balta klang sehr bedrückt, als wäre ihre Chance ihr Verderben.
„Die radioaktive Wüste? Keine so gute Idee.“ warf Dina ein.
„Die Radioaktivität ist unser geringstes Problem da unten. Schauen wir mal, was unsere zweite Option ist.“ Balta sprach damit Saliks zweite Möglichkeit an, ein Raumschiff mit Überlichtantrieb zu mieten.
Sie warteten etwa eine halbe Stunde, aber ihr Plan B löste sich in Luft auf. Es kam niemand, was Salik mit einem einfachen Schulterzucken kommentierte. Natürlich gab es keine „Geld zurück Garantie“ und die Gruppe konnte froh sein, wenigstens eine Gratisrunde Bier zu erhalten. Also blieb ihnen nur Gerda. Balta machte sich umgehend daran einen Plan zu erstellen. Yuma-Prime war eines der industriellen Zentren in den guten alten Zeiten. Hier wurde so ziemlich alles hergestellt, was die Menschheit brauchte. Das fing an bei einfachen Zahnbürsten bis hin zu komplexen Raumschiffen. Nach der atomaren Katastrophe rotteten die technischen Schätze vor sich hin, bis windige Plünderer ihre Schiffe so aufrüsteten, dass sie gefahrlos Gegenstände von der Oberfläche bergen konnten. Jahrelang war Yuma-Prime eine Goldgrube und lockte alle möglichen Leute an. Es war einfach mit ein paar Modifikationen am Schiff an die Technik zu kommen, aber irgendwann waren die Rosinen auf dem Kuchen weg und man benötigte Spezialwissen, Spezialausrüstungen und ausreichend Erfahrung, um weiterhin profitabel plündern zu können. So reduzierten sich die Bergungsschiffe auf ein paar wenige Spezialisten. Leute die verwegen genug waren ihren Lebensunterhalt damit zu verdienen, die Technik und Rohstoffe der Vorfahren zu bergen und zu verkaufen. Verrückte wie Odin und seine Mannschaft. Es war leicht auf seinem Schiff anzuheuern, denn Abenteurer waren ein gutes Nebengeschäft. Gegen einen Pfand und eine Gebühr verlieh er seine zahlreich vorhandenen Schutzanzüge und die Wagemutigen konnten auf Schatzsuche gehen. In der Mehrzahl der Fälle kamen sie nicht zurück von der Oberfläche, so dass Odin seine Anzüge für einen besseren Preis loswurde, als er es je auf einen der Märkte hätte verhandeln können, zu mal die Nachfrage von Schutzanzügen relativ gering war. Bei einer erfolgreichen Wiederkehr ließ er sich prozentual auszahlen. Aber die letzten Male kamen sie nicht wieder, was ihn und seine Männer veranlasste die Oberfläche so selten wie möglich zu betreten. Ihre Bergungstechnik war mittlerweile so ausgefeilt, dass sie das auch nicht mehr als zu oft mussten. Irgendetwas Unheimliches ging da unten vor, das hatte sich rum gesprochen, so dass sein Ausflugsgeschäft zum Erliegen gekommen war. Umso erfreuter war er über den Zusatzverdienst, der ihm durch die Gruppe winkte.
„Pfff…“ pfiff Odin als er die Liste an Bord seines Schiffes durchging.
„Keine Ahnung, ob es die Dinge da unten wirklich gibt. Wenn ja, dann solltet ihr in den Schiffen am ehemaligen Raumhafen suchen.“ Odin war nur 1.65m groß und in Kombination mit dem Drang Ansehen und Respekt ihm gegenüber in seinem Umfeld als Gegebenheit anzusehen, sah er jemanden wie Balta als Beleidigung seines Egos an. Dieser hatte alles was ihm fehlte. Er war groß, sah gut aus und vor allen Dingen hatte er Erfolg bei Frauen. Spätestens da wurde der Neid unerträglich und weckte eine gewisse Heimtücke bei Odin. Er hoffte, dass dieser Ausflug schief gehen würde. Dann würden er den zurückgebliebenen Frauen die Vorteile kleiner Männer näher bringen.
„Habe ich das richtig verstanden? Ihr beide geht runter und er weißt euch von hier oben ein. Wie wollt ihr euch denn verständigen?“ fragte Odin in Erwartung eines neuen Geschäfts. Mit den Beiden meinte er Balta und Sentry, die mit Hilfe von Erics Wissen über Technik den Raumhafen nach den benötigten Dingen durchsuchen wollten. Balta legte den kompletten Rest der Jetons auf den Tisch.
„Ich bin sicher es findet sich was Geeignetes an Bord.“ sagte er.
„Gut. Das keine Missverständnisse auftreten. Ihr habt es damit nur geliehen.“ grinste er, denn selbst gekauft, wäre das ein zu hoher Preis für den Kommunikator, den er plante den beiden anzudrehen.
„Damit sind wir pleite.“ kommentierte Dina das miese Geschäft, als die Gruppe wieder unter sich war.
„Zum Erfolg verdammt. Notfalls habt ihr noch die Pistole, die ihr versilbern könnt.“ Balta drückte sie ihr in die Hand. Sie wies ihn zurück.
„Glaub mir die Gefahren hier oben sind genauso real, wie die da unten. Steck sie ein. Ich fürchte bald du wirst sie brauchen.“ Dina steckte sie weg und gab ihm einen leidenschaftlichen Kuss.
„Danke“ grinte er verschmitzt.
„Als Motivation zurückzukommen. Dann habe ich mehr für dich. Ich hoffe diese kleinen Kerle in dir passen auf dich auf und bringen dich heil wieder zurück.“ Dina versuchte jegliche Sentimentalität aus ihrer Stimme zu bekommen, was ihr nicht vollständig gelang. Sie wandte sich an Sentry.
„Komm her.“ Auch er bekam einen Kuss, wenn auch weniger leidenschaftlich. Sie schaute ihm tief in die Augen.
„Ich hoffe, ich habe dein Vertrauen.“ sagte sie. Diesmal war sich Sentry sicher, dass es Sorge war. Sie hatte ihren Schutzpanzer geöffnet für ihn. Ein Blick auf ihr wahres Ich freigegeben. Ein großer Augenblick, den sie gerade teilten.
„Das hast du.“ erwiderte er und umarmte sie. Wieder stieg ihm dieser unglaubliche Geruch in die Nase. Diesmal machte es ihn nicht scharf, dafür war die Angst zu groß sie nie wieder zu sehen. Er wollte da unten nicht sterben. Was er wollte war mehr von diesen Momenten, mehr vom Leben, mehr von Dina.
XIV
„Die Angst ist die andere Hälfte vom Mut.“
Reinhold Messner
Die Aufregung war ihm deutlich anzumerken. Sentry zitterte, als er sich in den Anzug quälte. Die Größe passte nicht so richtig, aber mit ein paar Tricks bekamen sie es hin, dass ihn die Übergröße nicht behinderte. Immer wenn die Aufregung in Angst umzuschlagen drohte, holte er sich Dinas Kuss und ihre Worte in Erinnerung. Sie hatte es geschafft sein vorhandenes Misstrauen zu zerstreuen. Jedenfalls für den Augenblick. Mehr noch. Sie war sein Licht für die vor ihm liegende radioaktive Dunkelheit geworden. Er hatte Angst da raus zu gehen, dass musste er sich eingestehen und obwohl Odin nur Andeutungen über die Gefahren da unten machte, war seine Phantasie entfesselt über die Dinge, die ihnen da unten passieren konnten. Zum ersten Mal bewunderte er Balta, dem die ganze Situation scheinbar nix anhaben konnte.
Ihr Ziel innerhalb des Raumhafens war ein Wartungshangar. Wenn es noch brauchbare Ersatzteile gab, war dies der passende Ort. Odin landete etwa fünfzig Meter vor einem riesigen verriegelten Tor. Sein Schiff hätte viermal so groß sein können und trotzdem wäre noch genug Platz, um unbeschadet durch das Portal zu gelangen. In den florierenden Zeiten wurden weitaus größere Schiffe in dem vor ihnen liegenden Hallen repariert.
Krachend setzte die Ladeluke auf den Asphalt auf und wie sie da so standen, in ihren Schutzanzügen etwa drei Meter über der Oberfläche, überkam Sentry endgültig Panik. Das Licht tauchte die Umgebung in ein gespenstisches rot, aber was ihm wirklich Angst machte, war die absolute Stille nach dem Abschalten der Antriebe. Alles schrie nach Tod auf diesem Planeten und er war froh, dass jemand an seiner Seite war, sonst hätte er vermutlich keinen einzigen Schritt gemacht.
„Lass uns gehen. Wir haben nur für drei Stunden Luft.“ hörte er Balta gedämpft durch die Anzüge und erst als dieser ein paar Schritte voraus ging, schaffte es Sentry sich aus seiner Lethargie zu befreien und die Rampe hinab zu gehen.
Auf dem Weg zum Tor schaute er sich um. Das Licht war zu schwach, um viel erkennen zu können. Er entdeckte mehrere Schiffswracks, die rechts und links den Weg säumten. Viel kleinere Schiffe als das, was sie gerade verließen. Vermutlich waren es Transportmittel, mit denen damals innerhalb des Raumhafens verkehrt wurde. Geplünderte Mahnmale längst vergangener Zeiten. Sie erreichten das Tor und er konnte dem Zwang nicht entkommen, sich zu vergewissern, dass ihr sicherer Zufluchtsort immer noch da war. Erleichtert erkannte er die schemenhaften Umrisse des Schiffes.
In dieser roten Dämmerung war es schwer Auffälligkeiten zu erkennen, aber irgendwie hatte es Balta recht zügig geschafft das Loch im Tor zu finden. Ein Relikt von Vorgängern ihres Plündergewerbes. Sentrys Freude über den leichten Zugang zum Hangar hielt sich in Grenzen, weil eben dieses Loch bewies, dass sie nicht die Ersten waren, die hier ihr Glück versuchten. Auf der anderen Seite erwartete sie nichts als Dunkelheit und selbst Baltas Lampenstrahl wirkte verloren innerhalb dieses schwarzen Nichts. Erst ein paar Lichtstäbe, die er Odin noch abgeschwatzt hatte, erhellten den Bereich soweit, dass sie wenigstens soviel sahen, um genug Futter für eine ordentliche Fantasie zu haben, wo sie sich denn befanden.
Die Dimensionen dieser Halle waren nicht mal annähernd zu schätzen. Irgendwo, weit außerhalb des schwachen Lichtes, musste es Wände geben, die das Ganze begrenzten, aber vermutlich würde ihnen eher die Luft ausgehen, bevor sie an eine der Außenwände stoßen würden. Das war auch unwichtig, wichtig waren Schiffe, die sie hätten plündern können und davon war nichts zu sehen. Vor ihnen lag nur eine betonierte Fläche, auf der ab und an ein verrosteter Hubwagen oder geplünderte Werkzeugkisten standen. Nichts, was irgendwie von Nutzen war. Also gingen sie weiter in der Hoffnung, dass ihnen nicht die Leuchtstäbe ausgingen, bevor sie auf etwas Brauchbares stießen.
Langsam schritten sie voran, immer vorsichtig nichts zu übersehen oder über irgendetwas zu stolpern. Es kam Sentry wie eine Ewigkeit vor und nach etwa fünfzehn Minuten überkamen ihn die ersten Zweifel. Wenigstens hatte sich die Angst gelegt, denn trotz aller Todesfantasien, die er noch auf dem Schiff hatte, waren sie bisher ohne große Probleme vorgedrungen.
„Na bitte.“ zischte Balta. Sentry starrte in die Dunkelheit vor ihm. Offenbar hatte Balta etwas erkannt, was ihm verborgen blieb. Er konzentrierte sich und tatsächlich erkannte er ein paar Umrisse fünf Meter über ihm. Sie befanden sich bereits unterhalb eines Schiffes, ohne dass es ihm aufgefallen wäre. Sie gingen vorsichtig weiter, bis sie eine der Stützen erreichten, die das Schiff trugen. Skeptisch schaute Sentry nach oben. Es wäre ein Eingang in das Schiff, aber er bezweifelte, dass sie ohne geeignete Hilfsmittel nach oben klettern könnten.
„Und nun?“ fragte Sentry flüsternd in die Dunkelheit.
„Ich hatte gehofft, dass die Luke offen ist, aber offenbar ist es nicht ganz so einfach. Entweder wir finden einen anderen Eingang oder wir finden ein anderes Schiff.“ antworte Balta. Sentry hatte nicht die geringste Lust weiter in dieser Dunkelheit herumzuirren. Er ging zwei Schritte zurück, um vielleicht eine bessere Sicht auf ihr Dilemma zu bekommen, als er fast über einen Gegenstand auf dem Boden stolperte.
„Heureka. Eine Leiter. Was für ein Glück.“ entfuhr es Sentry. Baltas Lichtkegel wanderte abwechselnd von der Leiter zum Einstieg hin und her.
„Sieht so aus, als wäre die Leiter umgekippt und liegen gelassen worden.“ Er kniete sich nieder. Wie ein Fährtensucher, der versuchte das Geschehene an Hand von Spuren zu ergründen, fing er automatisch an zu kombinieren.
„Entweder haben sie die Leiter hier gelassen, um wieder zurück zu kommen oder sie mussten so überstürzt weg, dass sie keine Zeit hatten sie mit zu nehmen. So oder so haben wir gute Chancen da drinnen noch was zu finden.“ Balta griff sich die Leiter und stellte sie an die Stütze. Die Gewandtheit, mit der er die Sprossen erklomm, überraschte Sentry, denn die Leiter war alles Andere als sicher, so dass er sich bei seinem Aufstieg mehr Zeit nahm, um nicht mit einem Genickbruch auf dem Beton zu enden. Er schob sich an der Stütze vorbei ins Innere des Schiffes, indem er Balta diskutierend mit Eric am Kommunikator vorfand.
„… ist kein richtiger Raum. Da, wo ihr euch befindet, gibt es höchstens einen Wartungszugang. Irgendwo muss eine Leiter nach oben sein, über die ihr durch eine Luke ins eigentliche Schiff kommt.“ Eric war kaum zu verstehen, zuviel Rauschen begleitete seine Ratschläge. Die Lichtkegel suchten die Wände ab. Wieder fand Balta den Zugang eher als Sentry, obwohl letzterer deutlich näher stand. Er folgte ihm die Leiter hoch mit gebührendem Respekt über die Unerschrockenheit, die der dabei an den Tag legte. Der Anstieg endete in einem Gang, höchstens anderthalb Meter breit. Mühsam krochen sie durch die eingelassene Luke im Boden ins eigentliche Schiff. Auch hier waren die Spuren früherer Schatzsucher deutlich zu erkennen. Die Löcher in den Wänden waren Zeugnisse geplünderter Rechentechnik und ließen ihre Erfolgsaussichten weiter schrumpfen. Sie mussten den Technikraum finden, die beste Chance fündig zu werden.
„Da lang.“ kam es von Balta fest entschlossen, obwohl Zweifel über die Richtigkeit seiner Entscheidung angebracht waren. Sie gingen bis zur nächsten Gabelung und tatsächlich hatte er richtig gelegen. Verblasste Schilder an den Gängen wiesen ihnen den Weg, noch drei weitere Gabelungen und sie standen vor dem Technikraum. Wieder war es Balta der zuerst rein ging. Er opferte seine letzten beiden Leuchtstäbe, was gleichbedeutend war mit der Tatsache, dass es keinen Plan B gab. Dieser Raum war die einzige Möglichkeit ihr Vorhaben zu realisieren. Wenn sie hier nichts finden würden, war ihr Schicksal die Yuma-Station. Er sah sich schon Haare schneiden, bis ans Ende seiner Tage. Sie mussten einfach was finden.
Das spärliche Licht gab den Blick auf ein paar Konsolen frei. Sie standen nahe des Eingangs und dienten allein dem Zweck, die im Hintergrund befindlichen Maschinen zu kontrollieren. Balta ignorierte die Computerterminals und begab sich zu den Maschinen.
„Verdammt alles zerlegt. Hier gibt es garnix.“ raunte er wütend in das Funkgerät.
„Keine Panik. Solche Schiffe hatten über ein Dutzend Maschinen. Irgendetwas wird sich schon finden.“ Dina war jetzt an der anderen Seite ihrer Kommunikationsverbindung, um den bei Eric aufkommenden Pessimismus zu vermeiden. Eine halbe Stunde brauchten sie für eine umfassende Untersuchung. Überall dasselbe. Ihre Vorgänger hatten alles mitgenommen, was irgendwie von Wert war.
„Ich habe was gefunden.“ kam es von Balta aus einer dunkeln Ecke. Er klang nicht sehr erfreut darüber, also machte sich Sentry wenig Hoffnung auf eines der gesuchten Teile. Was war das? Er schaute dem Lichtkegel entlang und konnte mit dem Klumpen, der da zwischen zwei Maschinen lag, nicht gleich was anfangen.
„Der arme Kerl hat es nicht zurückgeschafft.“ Eine Leiche. Jetzt erkannte Sentry die Konturen. Der Kopf, der Rumpf und die Beine. Der Verfall des Schutzanzuges war mittlerweile so weit fort geschritten, dass das Skelett deutlich erkennbar war. Irgendwas stimmte an diesem Leichnam nicht. Keine Arme. Ja das war es. Es mussten doch mindestens Knochen zu sehen sein.
„Ich habe noch eine Idee.“ Eric war wieder an der Kommunikation.
„Mach schnell, ich habe hier ein ganz mieses Gefühl.“ Balta war unruhig geworden und das gab Sentry einen neuen Schub Angst.
„Habt ihr da unten Kontrollstationen. Vielleicht findet ihr noch ein paar Prozessoren, die ihr mitnehmen könnt.“ Balta ging zu den Konsolen. Sentry wollte ihm folgen, als ein Geräusch in seinem Rücken ihn zwang noch einmal zurückzuschauen. Er ging wieder ein Schritt auf den Leichnam zu. Etwas hatte sich verändert. Der Kopf. Er war verschwunden. Vorsichtig suchte er mit seiner Lampe die nähere Umgebung ab und fand ihn im Schoß des armen Kerls. Einfach abgefallen. War es möglich, dass sie das verursacht hatten? Keine zwei Meter hatten sie sich genähert. Sein Verstand war bereit das als dummen Zufall abzutun, als er wieder etwas hörte. Der Selbstbetrug funktionierte nicht mehr. Sein Körper bestätigte seine Skepsis mit einem neuen Schub Adrenalin. Irgendwas Bewegliches war dort.
Er griff sich eine der zahlreichen Eisenstangen und richtete das Licht wieder auf die Leiche. Baltas Diskussionen mit Eric rückten in den Hintergrund. Hoch konzentriert war er bereit dem Geheimnis des gefallen Kopfes auf den Grund zu gehen. Wieder ein Geräusch. Diesmal rechts von ihm. Kam das aus dem Inneren der Maschine? Klick klack, klick klack. Schnell hintereinander, aber gedämpft. Irgendwas Kleines bewegte sich schnell auf ihn zu. Dann war wieder gespenstische Ruhe. Kann es sein, dass er nicht der Jäger sondern der Gejagte war? Er konzentrierte sich wieder auf die Leiche, die sich abermals verändert hatte. Oberhalb des Torsos ragte etwas heraus. War das ein Fühler? Klick klack, klick klack wurde er von rechts erneut abgelenkt. Der Fühler war verschwunden. Vorsichtig tippte er mit der Stange gegen den Rumpf. Dieser fing sofort an zu vibrieren. Was immer da auch drin steckte, es war auf einen Schlag voller Energie. Sentry ging zwei Schritte zurück und prallte gegen Balta. Der war mittlerweile auch mit einer Stange bewaffnet. Der Fühler tauchte wieder auf. Jetzt waren es schon zwei. Noch einer. Sentry hatte sich geirrt. Das waren keine Fühler. Was er sah konnte nicht sein. Hoffentlich irrte er sich erneut.
Eva fühlte sich nicht wohl. Es war weniger die neue Umgebung, die ihr zu schaffen machte, sondern die Gesellschaft in der sie sich befanden und wenig Vertrauen erweckte. Sie wusste es war nur vorübergehend und sie würden auf ihrer weiteren Reise vermutlich ähnlich unangenehme Kompromisse schließen müssen um voran zu kommen, aber als sie hörte das Balta und Sentry das Schiff verlassen würden, verfiel sie in böse Vorahnung. Es war die Art und Weise wie Odin sie anschaute. Wie ein Kind, das darauf wartete, dass das Spielzeug des Anderen frei würde, um selber hemmungslos damit Spaß zu haben. Frauen waren in seinen Augen Besitzgegenstände und wie jeder Mann stand er in Konkurrenzkampf zu seinesgleichen. Bereit die möglichst besten Stücke für sich zu beanspruchen, um sich in der Anerkennung der unterlegenen Mitstreiter zu sonnen. Wie auch schon im Tempel war Eva ein lohnendes Ausstellungsstück und auch hier vermittelte sie auf Grund ihrer Ausstrahlung den Eindruck ein williges Opfer zu sein. Odin war kein Kain. Sein Imperium beschränkte sich auf ein verrostetes Schiff und drei Vasallen deren Intelligenz sich darauf beschränkte zwischen Schlitz- und Kreuzschraubendreher zu unterscheiden. Was sie gemeinsam hatten, war das scheinbar unendlich große Ego. Sie bewunderte Dina dahingehend, dass sie allein mit ihrer Körpersprache in der Lage war unangenehme Zeitgenossen auf Distanz zu halten.
„Wir müssen aufpassen. Ich traue hier keinem.“ wies sie Dina unnötigerweise auf ihre Zweifel hin.
„Geht mir genauso. Sollte den beiden da unten was passieren, haben wir hier ein Problem. Zum Glück haben wir noch die hier.“ Dina tippte auf die Pistole in ihrer Seitentasche. Eva war eigentlich der Meinung, dass Balta sie eingesteckt hätte, aber das war nur ein Täuschungsmanöver für die Mannschaft, die nun glaubte sie seien unbewaffnet. Dina hielt ihr die Waffe hin.
„Ich komme auch ohne ganz gut klar, deswegen solltest du sie nehmen.“ Reflexartig griff Eva nach der Waffe. Sie war es immer noch gewohnt Anweisungen ohne großes Überlegen auszuführen. Erst als sie das Metall auf ihrer Hand spürte, wurde ihr bewusst, dass sie das Ding nicht wollte. Wer eine Waffe besaß, musste auch bereit sein sie einzusetzen und da bestanden bei ihr erhebliche Zweifel. Die Erlebnisse auf Prem kamen ihr wieder in den Sinn. Nie wieder wollte sie in solch einer Situation sein. Nie wieder wollte sie gezwungen werden eine Entscheidung über Leben und Tod zu treffen.
„Nein. Behalte sie.“ Sie hielt Dina die Waffe entgegen.
„Was?“ erntete Eva ein Stirnrunzeln.
„Ich will die Dinger nicht mehr.“ sagte sie kurz und knapp.
„Ich weiß du hast Probleme den Tod dieses Schleimbeutels auf Prem zu verarbeiten.“ Dina hatte sich wohl ein paar hellseherische Fähigkeiten von Balta abgeschaut.
„Hättest du damals nicht abgedrückt, wären wir alle tot. Du hast drei Leben gerettet, indem du eins genommen hast. Wir alle standen schon vor solchen Entscheidungen und so wie es aussieht, werden wir auch in Zukunft solche Entscheidungen treffen müssen. Glaub mir, auch mir wäre es lieber, wenn meine größte Sorge darin bestehen, würde mit wem ich zum Abschlussball gehe. Aber leider müssen wir täglich ums Überleben kämpfen. Also nimm diese Waffe und tu das was im Ernstfall zu tun ist.“ Dinas Vortrag brachte Eva ins Grübeln.
„Vielleicht ist es für dich eine schöne Ausrede fürs Töten, wenn am Ende ein Plus vor der Anzahl der Überlebenden steht. Aber ist es das wert? Was nützt uns das Überleben, wenn wir ständig gezwungen sind zu töten?“
„Du bist ja genauso idealistisch wie Sentry. Also sage ich dir, was ich auch ihm schon gesagt habe. Wenn du nicht bereit bist zu töten, wirst du immer der Spielball derjenigen sein, die dazu in der Lage sind. Du kannst die Welt nicht an dich anpassen. Willst du überleben, musst du dich an die Welt anpassen und in der gilt nun mal das Recht des Stärkeren. Auch du wirst das eines Tages einsehen müssen.“ Damit ließ sie sie stehen und begab sich auf die Kommandobrücke. Eva fühlte sich alles Andere als sicher mit der Pistole. Die Verantwortung schien sie förmlich zu erdrücken. Das Dejavu würde seinen Lauf nehmen.
„Immer noch keine Meldung.“ hörte sie Eric sagen, als sie die Brücke betrat. Neben ihm stand Dina und beide starrten auf den Kommunikator, so als könnten sie es dazu bringen endlich ein paar Laute von sich zu geben. Odin saß in der Mitte des Raumes und diskutierte mit seinem Navigator. Ein weiterer von seinen Leuten lag unter einer der Konsolen und fluchte vor sich hin. Offenbar hatten sie Probleme mit dem Terminal.
„Gib ihnen Zeit. Da unten ist es stockduster.“ Dina klang trotz der beruhigenden Worte ungeduldig. Sie hatten vereinbart, das Balta sich meldete, so bald er Hilfe benötigte. Bis dahin galt Funkstille und auch wenn es Eric in den Fingern kribbelte, hielt er sich bisher daran.
„Hey Eric, kommen.“ krächzte das Sprechgerät überlagert von allen möglichen Störungen.
„Ja hier Eric.“ antwortete er stolz. Zum ersten Mal hatte er seinen Namen von Balta gehört. Für ihn ein eindeutiges Zeichen, dass er eine Stufe aufgestiegen war.
„Wir sind über eine der Stützen ins Innere gelangt. Wie kommen wir weiter?“ Balta war kaum zu verstehen.
„Ihr seid im Stützenraum.“ Eric grübelte kurz.
„Stützenraum? Wie kreativ. Das hast du dir doch gerade ausgedacht.“ bremste Dina seine Wichtigtuerei.
„Der Stützenraum ist kein richtiger Raum. Da, wo ihr euch befindet, gibt es höchstens einen Wartungszugang. Irgendwo muss eine Leiter nach oben sein, über die ihr durch eine Luke ins eigentliche Schiff kommt.“ ignorierte er die Kritik über seine Wortschöpfung. Am anderen Ende war nur noch Rauschen, dann verstummte der Kommunikator.
„Ihr wisst ja, wie ihr mich erreicht, wenn ihr Hilfe braucht.“ sprach Eric zu dem Kommunikator. Erst nach zehn Minuten gab es wieder das typische Rauschen.
„….hier gibt es garnix.“ war das Einzige was verständlich rüber kam. Der wütende Tonfall war deutlich erkennbar.
„Lass mich mal.“ Dina übernahm jetzt das Sprechen und versuchte Balta zu beruhigen, was ihr auch ganz gut gelang. Über eine halbe Stunde blieb der Kommunikator still.
„Verdammt. Was machen die da unten? Die müssten doch inzwischen irgendwas gefunden haben.“ Erics Ungeduld steckte alle Anderen an, so dass keiner protestierte, als er von sich aus wieder die Verbindung herstellte.
„Ich habe noch eine Idee.“ die darin bestand, wenigstens einige Computerchips mitzubringen, um ein paar Jetons auf Yuma zu ergattern.
„Auch das sieht nicht gut aus.“ kam es von der Oberfläche.
„Nur Datenspeicher. Ich steck sie mal ein. Da haben wir dann… Moment.“ Der Lautsprecher verstummte.
„Was denn jetzt?“ Eric starrte auf den Kommunikator.
„Datenspeicher? Na ja, vielleicht finden wir ja ein paar nette Anekdoten aus der Vergangenheit.“ Fünf Minuten passierte nichts. Eric brach die Funkstille erneut.
„Hallo ihr da unten. Kommen.“ versuchte er sein Glück. Nichts.
„Sagt was. Geht’s euch gut?“ fragte er.
„Wir sitzen ziemlich in der Scheiße.“ Diesmal war Sentry am anderen Ende.
„Das Problem….. grzz ….. Wolkov-Spinnen. Es wimmelt …grzz… Melden uns wieder.“ Odin, der drei Meter entfernt das Treiben von seinem Kommandositz beobachtete, konnte trotz der schlechten Verbindung die Kernaussage entschlüsseln.
„Ich fürchte das war es für eure Leute.“ sagte er kurz und trocken.
„Habe ich das richtig verstanden. Spinnen?“ fragte Eric skeptisch.
„Hallo. Jetzt ist die Verbindung wieder besser. Wir haben hier Wolkov-Spinnen.“ Balta war wieder in der Leitung.
„Dann zertretet sie.“ Eric verstand das Problem nicht.
„So große Stiefel haben wir leider nicht. Wir treten den Rückzug an und versuchen….“ Ein kreischender Ton beendete die Kommunikation.
„Hallo? Was sind denn Wolkov-Spinnen?“ fragte Eric.
„Biologische Kriegsführung der Vorfahren. Genetisch verändert säuberten sie ein Gebiet von sämtlichen Lebewesen. Ihre Lebenspanne beträgt normalerweise nur ein paar Tage, aber die radioaktive Strahlung war wohl dahingehend eher vorteilhaft für die Biester.“ erklärte Odin in seiner unendlichen Weisheit.
„Und ihr wusstet davon und habt sie trotzdem runter gehen lassen.“ Dina war wütend. Odin grinste nur.
„Gut. Lass uns hier verschwinden.“ wies er einen seiner Männer an. Der strohblonde schmächtige Kerl fing an wild auf seiner Konsole zu tippen. Dina ging zu ihm rüber.
„Drückst du hier noch einen Knopf, breche ich dir das Handgelenk. Wir warten hier.“ funkelte sie den Piloten an. Ein Blick in ihr Gesicht reichte und er wusste, dass sie es ernst meinte. Er zögerte.
„Verdammt. Wer ist hier der Kommandant? Bring uns hier weg.“ Odin war sauer, dass seine Anweisungen nicht umgesetzt wurden. Für den Blonden stand nun die Entscheidung zwischen dem Gehorsam seines Kommandanten und dem Ärger mit einer Frau an. Für ihn war Dina das kleinere Übel und so fuhr er fort mit den Vorbereitungen für den Abflug.
Seine Fehlentscheidung gipfelte in einem spitzen Schrei. Sie schaffte es zwar nicht das ganze Handgelenk zu brechen, aber ein paar Finger mussten dran glauben. Die Situation eskalierte und wieder war es Dina, die das Streichholz an die Lunte hielt.
„Verdammtes Miststück. Colt, hilf ihm.“ wies Odin fluchend den an der Konsole schraubenden Mechaniker an. Dieser richtete sich auf und erst jetzt war ersichtlich, welche stattlichen Ausmaße sein Körper besaß. Er machte zwei Schritte auf das Handgemenge zu und wirkte so Furcht einflößend, dass Eric seinen kurzen Anfall von Mut, den er überraschenderweise aufbrachte um Dina beistehen zu wollen, sofort wieder verlor. Colt wirkte wie ein Riesenbaby, als er Dina von hinten umklammerte und sie vom Navigator regelrecht weg hob. Die bizarre Situation wurde komplettiert, als Dina ihren Arm frei bekam und das nutzte, um ihrem Angreifer mit dem Ellenbogen eins auf die Rippen zu geben. Die Ignoranz, mit der ihr Schlag bedacht wurde, machte sie noch wütender, aber irgendwann musste sie einsehen, dass sie gegen diesen Muskelberg das Nachsehen hatte. Ihr freier Arm wurde vorerst ignoriert, so dass sich Colt der Perfektion seiner Umklammerung widmen konnte. Sie wirkte wie eine zappelnde Puppe in seinen Armen und nachdem sie einen zweiten erfolglosen Versuch gestartet hatte dem Schrank ernsthaft weh zu tun, gab sie auf. Gut gesichert wurde sie vor Odin gestellt.
„Fessel sie und sperr sie weg. Thor soll dir dabei helfen.“ gab er überheblich seine Befehle. Er schaute sich um und sein Blick blieb bei Eric hängen.
„Nimm den auch mit. Verdammt. Wo ist die Süße hin?“ Eva hatte es geschafft unbeobachtet zu verschwinden.
„Ich suche sie. Und du machst, dass wir hier weg kommen.“ Der Pilot sah wimmernd auf seine gebrochenen Finger und fing unbeholfen an die Tasten auf seiner Konsole zu drücken. Fünf Minuten später hob das Schiff ab.
Fehlte ihr einfach der Mut? Eva hätte doch einfach nur die Waffe zücken müssen. Ein paar selbstsichere Worte in Richtung dieses Mistkerls und Dina hätte vermutlich den Rest erledigt. Als sie sah, wie dieser Koloss spielend die Situation entschärfte, wurde ihr bewusst, dass dies die falsche Entscheidung gewesen wäre. Es war keine Feigheit, es war Kalkulation. Ihre Unsicherheit in Sachen Waffeneinsatz hätte den drei Gegnern die Sache vereinfacht. Also nutzte sie Dinas Spektakel um abzuhauen. Aber was jetzt? Sie kannte das Schiff nur im groben Umriss und selbst wenn sie Verstecke finden würde, es war nur eine Frage der Zeit bis sie sie aufspürten. Ihr Albtraum war nur aufgeschoben. Der Frage, ob sie es schaffen würde den Abzug erneut zu betätigen, musste sie sich stellen.
Während sie durch den Flur irrte, gingen ihr die verschiedensten Gedanken durch den Kopf. Neben der Suche für ein vernünftiges Versteck und der Sorge ihre Waffe nutzen zu müssen, hatte sie Angst um das Wohl der Hinterbliebenen. Die Endgültigkeit mit der Odin ihr Schicksal besiegelte, ließ nichts Gutes erwarten. Spinnen? Sie hatte nie was gehört von Todesspinnen, die in radioaktiv verseuchten Gegenden ihr Unwesen trieben. Die Sache klang nach billiger Panikmache. Sie mussten unbedingt zurück, um die beiden dort raus zu holen. Verdammt ihnen lief die Zeit davon. Dringendes Handeln war notwendig, bevor sie ersticken würden.
Die verzehrte Durchsage, die über den Bordfunk das ganze Schiff beschallte, begann zeitgleich mit dem Schließen der Tür zum Lagerraum. Sie wagte kein Licht anzumachen und so war die einzige Sinneswahrnehmung Odins Stimme, welche in der Dunkelheit unheimlich klang.
„Hör zu Mädel. Ich glaube dir sollte klar sein, dass Versteck spielen hier wenig sinnvoll ist. Komm einfach raus und wir werden schon eine Lösung finden.“ Wie sollte die denn aussehen? Eva kam die Parallele zu Kain wieder in den Sinn. Auch damals sollte sie die Puppe sein, mit der Männer gerne spielen. Keine Chance. Sie nahm die Pistole in die Hand und stellte sich neben die Tür. Die Waffe war nicht ihr einziger Trumpf. Odin unterschätzte sie. Was sie jetzt brauchte war Stärke und Selbstbewusstsein. Das ging nur, wenn sie von sich selber überzeugt war. Sie riss sich zusammen und nutzte die Dosis Adrenalin, um Dinas Ratschlag konsequent umzusetzen. Die Bereitschaft zu töten, gab ihr den Mut, den sie brauchte. Unglaublich wie eine Extremsituation ihre Zweifel verstummen ließ. Das bisschen Freiheit, dass sie nach dem Verlassen von Lassik erkämpft hatte, wollte sie nicht so einfach aufgeben. Kein Lamm, was bereitwillig zur Schlachtbank trottete. Sie war bereit sich zu wehren.
Fünfzehn elendig lange Minuten stand sie neben der Tür. Warum dauerte das so lange? Keine Minute brauchte man von der Kommandobrücke bis hier her und der Lagerraum war die einzige Möglichkeit für ein Versteck. War Odin doch cleverer als angenommen und stellte ihr eine perfide Falle? Endlich tat sich was hinter der Tür. Da war nicht nur einer, soviel war klar. Die Sache würde kompliziert werden.
Durch die geöffnete Tür drang das Licht herein und plötzlich wurde Eva ihr Nachteil bewusst. Die Dunkelheit war ihr Joker und sollte Odin den Lichtschalter erreichen, wäre sie geblendet leichte Beute. So einfach wollte sie es ihnen nicht machen. Sie musste in die Offensive.
„Nicht weiter.“ kam es viel zu zittrig von ihr, als sie Odin die Pistole an den Kopf hielt.
„Schätzchen, wo hast du denn die Waffe her?“ fragte er unbeeindruckt. Selbst bewaffnet nahm er sie nicht als Gefahr war. Es war nun an Eva ihn vom Gegenteil zu überzeugen.
„Weißt du überhaupt, wie man damit umgeht?“ Odin selbstgefälliges Grinsen gab ihr die Kraft abzudrücken.
Sie hatte eigentlich auf den Fuß gezielt, aber die Koordination zwischen endgültigem Ziel und dem idealen Zeitpunkt passte nicht. Viel zu früh löste sich der Schuss und erwischte Odins Schienbein. Der erwartete Knall blieb aus. Kein Rückschlag. Nur ein leises flop. Sein Jaulen über den Schmerz, ließ sie einen Schritt zurückweichen, was Colt die Gelegenheit nahm, sie in gewohnter Manier zu packen. Das wimmernde Elend gab ihr nicht nur Genugtuung in dem was sie getan hatte, sondern verlieh ihr auch den notwendigen Biss die Sache zu Ende zu bringen. Soweit sie sehen konnte, waren beide unbewaffnet.
„Los nimm ihn.“ Diesmal klang sie selbstsicher. Colt war immer noch geschockt über das, was passiert war. Sie richtete die Waffe auf ihn.
„Du sollst ihn nehmen.“ wiederholte sie ihre Forderung und diesmal kam er dem nach. Er schulterte Odin und erwartete weitere Anweisungen.
„Wo sind die Gefangenen? Lass uns zu ihnen gehen.“ Eva folgte den beiden zu einer Tür. Auf dem Weg dorthin trafen sie ein weiteres Mannschaftsmitglied, was dem Gejammer von Odin nachgehen wollte. Überrascht über das, was er vor sich sah, konnte sie ihn mit ihrer Waffe gefügig machen. Sie waren nun in deutlicher Überzahl und Eva sah sich gezwungen schnell zu handeln, bevor sie die Zeit hätten irgendetwas gegen sie auszuhecken oder ihr der Mut ausging die Sache sauber zu beenden.
Sie schob die drei förmlich durch die Tür und machte das Licht an. Dina und Eric saßen mit Kabelbinder gefesselt an der Wand. Odin jammerte immer noch und Eva genoss den Gegensatz zu der überheblichen Art, mit der er sie bisher bedacht hatte. Das Püppchen hatte sich gewehrt und nun hatte er nicht nur ein kaputtes Bein, sondern auch ein gekränktes Ego.
„Du. Mach sie los.“ wies sie Thor an. Der zuckte sein Messer. Mit Schrecken registrierte sie seine Bewaffnung. Im Tempel wurden ihre Anweisungen nie hinterfragt und mit größter Sorgfalt ausgeführt. Eine Selbstverständlichkeit, die hier nicht anwendbar war. Sie musste sich zwingen konzentriert zu bleiben.
„Ganz vorsichtig. Keine Spielchen, dann kommen wir hier alle unbeschadet raus.“ Thors Blick fiel auf Odins verletztes Bein.
„Von jetzt an jedenfalls.“ sah sich Eva gezwungen nachzuschieben. Dina wurde zuerst erlöst. Sie nahm sich das Messer und schob ihren Befreier zur Seite.
„Gut gemacht und alle leben diesmal noch.“ sagte sie, nachdem sie Erics Fesseln durchschnitt. Dieser begann sofort sich in seiner typischen Art zu beschweren.
„Verdammt, diese blöden Kabelbinder haben mir die Haut aufgescheuert. Musste das so fest sein?“ fragte er Odin.
„War’s schlimm?“ fragte Eva Dina.
„Furchtbar. Warum habt ihr ihm nicht einen Mundknebel verpasst?“ Ihre Freiheit versetzte Dina in gute Laune. Sie fesselten die Mannschaft und ließen sie im Dunkeln zurück. Eva durchfloss ein unglaubliches Glücksgefühl. Das Schaf hatte dem Schäferhund gezeigt wo es lang ging. Es fühlte sich so wahnsinnig gut an und nun zeigte sie das erste Mal Verständnis für den Führer, der seiner Schafherde unbedingt seinen Stempel aufdrücken wollte. Andere zu beherrschen konnte süchtig machen und sie hatte nur einen kleinen Teil der Droge erfahren. Welchen Vollrausch musste es geben, wenn die Unterlegenen freiwillig, ohne Wissen und voller Freude das tun würden, was sie für angebracht hielte. Das Bild ihrer Mutter kam ihr in den Sinn, als Warnung dafür, dass sie die eigenen Grenzen ihrer Moral schon allein mit diesen Gedanken überschritt. Also lenkte sie ihre Freude auf angenehmere Rückblenden. Sie hatte die Situation gerettet und dass ohne jemanden zu töten. Ihren Daseinszweck in der Gruppe hatte sie bewiesen, aber die Mission war noch nicht beendet. Ihnen lief die Zeit davon. Sie mussten zurück auf den Planeten, bevor da unten die Luft knapp werden würde.
Der Pilot registrierte am Anfang nicht mal wer da die Brücke betrat. Er war es gewohnt, dass nur Mannschaftsmitglieder sich ungebeten hier aufhielten, dass er nicht mal in Erwägung zog, jemand Anderes könne die für ihn heilige Regel brechen. Die Frage, ob denn alle Gäste endlich dingfest gemacht wurden, blieb ihm im Halse stecken, als er sich Dina und der Waffe gegenüber sah. Mit diesen überzeugenden Argumenten war es ein Leichtes ihn zur Umkehr zu bewegen.
„Hören Sie. Es ist unnötig wieder da runter zu gehen. Selbst wenn eure Leute die Spinnen überlebt haben, die Sauerstoffvorräte sind längst weg, wenn wir da ankommen.“ sagte er schüchtern, in der Hoffnung nicht wieder da runter zu müssen. Auch wenn er Recht hatte, Dina ließ sich nicht von ihrem Vorhaben abbringen. Immerhin hatten die beiden einen Joker. Die Femtos würden die verlorene Zeit schon ausgleichen.
„Da ist noch was. Etwas, was Sie noch nicht wissen.“ gab der Pilot nicht auf, die Sinnlosigkeit ihres Unterfangens zu untermauern. Evas Angst um die Beiden verstärkte sich. Eine Viertelstunde hatten sie gebraucht, um ihr in den Lagerraum zu folgen. Fünfzehn Minuten, die das Schicksal der Beiden dort unten besiegelte. Was zum Teufel konnte in solch kurzer Zeit passieren?
Balta reagierte blitzschnell. Noch bevor dieses Mistvieh das tun konnte, was es tun wollte, spießte er es mit der Eisenstange auf. Er stach zweimal auf den verrottenden Torso ein, dann hatte er es erledigt. Wie ein Fischer, der mit einem Speer eine Krabbe erlegt hatte, begutachtete er seine Beute. Das, was da in Sentrys Lampenstrahl noch leicht zitterte, war das Widerlichste, was er je gesehen hatte. Acht Beine an einem Körper, der so groß war wie ein Rucksack. Schwarzes Blut tropfte aus der Stelle, an der Balta es erwischt hatte. Eine Wolkov-Spinne wurde er aufgeklärt. Nichts, was sich in seiner mentalen Bibliothek befand. Eine Unbekannte. Das Einzige, was er wusste, da wo die herkam, gab es noch mehr. Sie mussten hier schleunigst raus.
Ein kurzes „weg hier“ von Balta und schon hatten die beiden den Technikraum verlassen. Sentry hatte den Kommunikator übernommen und gab einen kurzen Statusbericht an das Schiff. Er war sich nicht sicher, ob die Nachricht durchkam. Es war zweitrangig. Priorität hatte das unversehrte Verlassen des Schiffes. Sie standen an der Luke zum Stützenraum. Balta griff den Kommunikator.
„Hallo. Jetzt ist die Verbindung wieder besser. Wir haben hier Wolkov-Spinnen.“ Er klang hektisch. Sentry schaute zurück in den dunkeln Gang. Nichts deutete auf weitere Spinnen hin. Er wollte sich gerade dem diskutierenden Balta zu wenden, als etwas kreischend von der Decke auf ihn zu gesprungen kam. Reflexartig schlug er mit der Eisenstange danach und traf die Spinne perfekt. Diese schlug krachend an der Seitenwand auf. Der Rückstoß ließ ihn gegen Balta stolpern. Dieser hatte Mühe nicht in den Zugang zum Stützenraum zu fallen und so entging er den Knochenbrüchen nur auf Kosten des Kommunikators. Scheppernd schlug dieser unten auf. Sentry sah drei weitere Spinnen an den Wänden und an der Decke auf ihn zu kommen. Angststarre ergriff ihn. Er war unfähig sich zu bewegen. Gegen drei von diesen Biestern hatte er keine Chance. Sie sprangen. Nicht auf ihn, sondern auf ihren verletzten Artgenossen drei Meter vor ihm.
„Los.“ holte ihn Balta aus der Starre und verschwand unter ihm. Jetzt war auch Sentry wieder hell wach. Begeleitet von dem Geräusch zerfetzenden Spinnenfleisches ging es abwärts. Er schloss die Luke hinter sich. Unten atmeten beide erstmal tief durch.
„Das war knapp.“ Sentry klang erleichtert.
„Wir haben es noch nicht gepackt.“ entmutigte ihn Balta und begab sich zur Leiter, die in den Hangar führte. Vorsichtig ging es weiter abwärts. Unten angekommen kippten sie die Leiter um, wie es schon einer ihrer Vorgänger gemacht hatte. Sie hatten keine Leichen auf den Weg hier her gefunden, also hatte dieser es vermutlich geschafft hier lebend raus zu kommen. Sentry fasste neuen Mut.
Klick klack, klick klack. Der Lampenstrahl ging nach oben zum Schiffsrumpf. Nichts war zu sehen, was beide aber nicht wirklich beruhigte.
„Lauf.“ schrie Balta, doch Sentry war schon längst unterwegs. Eilig folgte er der Spur aus Lichtstäben und jetzt machte sich das Handicap des unpassenden Raumanzuges bemerkbar. Als wäre er in einem Traum, in dem man vor dem schwarzen Monster davon lief, aber nicht wirklich von der Stelle kam. Nur hier war es kein Traum und die Monster waren real. Geschickt wich er dem Gerüll aus, dass in dem faden Licht immer wieder vor ihm auftauchte. Es war ein Wunder, dass er bei der Vielzahl an Schrott nicht stürzte. Erst kurz vor dem Ausgang erwischte es ihn und das auch nur, weil er mit dem Blick auf das Loch nach draußen übermütig wurde. Er wusste nicht was da vor ihm lag, aber er war sich sicher mit einem geschmeidigen Sprung das Hindernis locker passieren zu können. Das Gewicht des Anzuges belehrte ihn eines Besseren. Mit der Schuhspitze blieb er in der Schlaufe einer Tasche hängen. Neugierig was ihn da zu Fall brachte, vergaß er einen Moment die akute Gefahr. Mit der Taschenlampe beleuchtete er die Tasche. Sie konnte noch nicht lange hier liegen, zu gut war ihr Zustand. Sein Lichtstrahl suchte die nähere Umgebung ab. Weitere Leichenteile offenbarten sich ihm. Also hatte es der Leiterumwerfer nicht geschafft. Ein Geräusch aus der Dunkelheit ermahnte ihn weiter zu gehen. Er griff sich die Tasche und stürzte auf den Ausgang zu. Das Rascheln aus der dunklen Tiefe überlagerte sich. Wie viele von diesen Biestern waren da hinter ihm? Egal. Das rettende Schiff war in greifbarer Nähe.
Das rote Licht im Freien erleichterte ihn und gab ihm neuen Mut. Vor seinem geistigen Auge stand er bereits auf dem Schiff, drückte den Knopf, der die Luke hinter ihnen schließen würde und hakte diese Spinnenplage als weiteres unangenehmes Kapitel seines kurzen Lebens ab. Er sah Dina vor sich, schöner denn je und er würde einen weiteren dieser Küsse bekommen. Gemeinsam würden sie wieder ihre mittlerweile beschränkten Optionen durchgehen und eine Möglichkeit finden Yuma zu verlassen. Das alles trieb ihn voran und erst als er Balta vor sich fassungslos stehen sah, zerplatzte dieses Luftschloss. Sie waren allein. Kein rettendes Schiff. Sie wurden im Stich gelassen. Es war unglaublich wie schnell der Motivationspegel ins Minus drehte und der Panikpegel die Skala nach oben durchschlug. Jetzt war die Frage nicht mehr ob sie sterben würden, sondern wie.
Sentry starrte auf den Platz vor ihm, wo vor kurzem noch das Schiff stand. Wie konnten sie ohne sie starten? Klick klack, klick klack. Das Geräusch hallte jetzt nicht mehr metallisch. Sie näherten sich schnell über den Asphalt. Die Klicks und Klacks überlagerten sich und wurden zu einem wüsten Durcheinander. Wie viele waren das? Zehn? Hundert? Balta riss ihn fort.
„Los da rüber.“ brüllte er ihn an. Sentry wurde in Richtung eines der Wracks geschoben, die zahlreich rechts und links des Hauptweges dahin rosteten. Er war jetzt wieder voll da. Ersticken wäre immer noch die bessere Variante, als von diesen Biestern zerfleischt zu werden. Rücklings kroch er unter ihre Zuflucht und erblickte über sich den rettenden Zugang ins Innere. Mit dem Anzug war es nicht ganz einfach hindurch zu kommen. Trotz der drohenden Gefahr mahnte er sich zur Ruhe und erreichte sein Ziel relativ zügig. Er fand sich im Inneren eines gepanzerten Fahrzeuges wieder. Es gab keinerlei Sicht nach außen, so dass er nicht wusste, was da draußen vor sich ging. Mühsam half er Balta ins Innere. Neben der Luke im Boden, gab es noch zwei weitere Luken über die man nach oben hinaus kam. Beide waren so verrostet, dass sie sich nicht öffnen ließen. Das war auch nicht ihr Ziel. Sie wollten ihren Sarg verriegeln. Das geringere Übel in Sachen Tod wählen. Gemeinsam versuchten sie die Klappe anzuheben, um ihren letzten Zugang zu schließen. Da passierte es. Das Klick, klack hätte sie eigentlich vorwarnen müssen, aber sie unterschätzten die Zeit, die sie benötigten, um die schwere Klappe anzuheben. Baltas linker Arm war das Ziel. Der Angriff klappte nicht optimal, zu eng war es dort unten, als dass die Spinne ihr volles Angriffspotential entfalten konnte. Sie erwischte nur einen Teil des Schutzanzuges, aber als Sentry das Blut fließen sah, wusste er, dass dieses Mistvieh wenigstens teilweise Erfolg hatte. Balta ließ trotz der Verletzung nicht los und gemeinsam schafften sie es die Luke zu schließen, bevor ein zweiter Angriff gestartet werden konnte.
„Verdammt. Wir müssen den Anzug versiegeln.“ fluchte Balta.
„Was ist mit der Wunde?“ fragte Sentry besorgt.
„Muss ich dir das wirklich erklären. Das größere Problem wird das Gift.“ Balta wirkte an Hand dieser Erkenntnis noch relativ gelassen.
„Die Dinger sind giftig?“ Sentry konzentrierte sich mit dem Reparaturgel nicht in die offene Wunde zu kommen.
„Unglücklicherweise und ich weiß nicht, ob die Technik in mir damit klar kommt. Selbst wenn, wird der Energiebedarf enorm sein.“ Er schaute in Sentrys besorgtes Gesicht.
„Offenbar will Gevatter Tod auf Nummer sicher gehen. Neben Ersticken gibt’s nun auch Vergiften oder Verhungern.“ Er flüchtete sich in Galgenhumor.
„Bevor ich das große Zittern starte, muss ich dir noch was sagen, für den Fall das wenigstens du hier lebend raus kommst. Die Galaxie dort draußen wirkt chaotisch, das ist sie aber nicht. In Wirklichkeit gibt es Mächte, die im Hintergrund die Fäden ziehen. Es geht nicht um Ressourcen oder um Technologie. Es geht um das Überleben der Menschheit. Ich vermute mal, dass du in die Maschinerie dieser Machtspielchen rein geraten bist. Ich habe keinen Schimmer, was sie mit dir vorhaben, aber offenbar halten sie dich für wichtig genug, dich nicht zu töten. Wenn du das hier überlebst, wirst du irgendwann eine Entscheidung fällen müssen. Cree oder die Science? Ich …“ Balta zuckte zusammen.
„Es geht los.“ presste er unter Schmerzen hervor. Sentry fühlte sich hilflos. Es gab nichts was er für ihn tun konnte. Balta wand sich noch ein paar Minuten vor Schmerzen, dann wurde er ohnmächtig. Den Kampf gegen das Gift musste er alleine führen.
Es war unheimlich still. Nur ein gelegentliches klick klack, als Bestätigung dafür, dass die Spinnen gewillt waren die Sache auszusitzen. Vierzig Minuten zeigte der Sauerstofftank an, dann ist auch er Geschichte. Was immer auch diese ominösen Mächte mit ihm vorhaben mögen, die Umsetzung ihrer Pläne würde mit ihm sterben. Er hatte Zweifel, dass ihm die Femtos diesmal helfen würden. Dem Spielball der Mächtigen würde buchstäblich die Luft ausgehen. Aber da waren ja noch mehr. Sechzehn weitere, die in ihren Särgen schlummerten und irgendwann ähnliche Ereignisse, wie seine erleben würden. Hoffentlich mit besserem Ausgang. Sind sie alle bloß Zeitvertreib für eine gelangweilte Elite die Wetten abschlossen, wie lange jeder Einzelne in dieser Welt überleben würde? Diese Art von Daseinsberechtigung wäre der absolute Supergau. Da musste einfach mehr dahinter stecken. Die paar Häppchen an Informationen, die er von Zaja und jetzt auch von Balta vorgeworfen bekam, ergaben kein klares Bild. Die Wichtigkeit seiner Person war ihm auf Grund der Technologie, die in seinen Adern schwamm, schon vorher klar gewesen. Kein Tempel oder Inc. Das alles schien eine Spur größer zu sein. Welten übergreifend. Aber zu welchem Zweck?
Dem drohenden Ende nahe, blieb Sentry relativ ruhig. Er zwang sich nicht auf die Sauerstoffanzeige des Anzuges zu schauen. Die Situation würde sich da durch nur zu seinen Ungunsten ändern. Seine letzten Minuten wollte er nicht in Panik verbringen. Er lenkte sich ab, indem er den Inhalt der geborgenen Tasche inspizierte. Plündergut. Er erkannte eins der Teile als genau das, was sie suchten. Sollte es einen Gott geben, hat dieser einen ungewöhnlichen Sinn für Humor. Er blickte rüber zu Balta. Obwohl er keine Möglichkeit hatte seinen Gesundheitszustand zu überprüfen, war er sicher, dass dieser noch am Leben war. Sie würden wohl das gleiche Schicksal des Erstickens teilen. Kurz überlegte er, ob es vielleicht doch besser wäre schreiend in den Spinnenhaufen zu rennen, aber das Bild der aufgespießten Spinne ließ ihn diese Option schnell wieder verwerfen. Sein Anzug piepte. Ein untrügliches Zeichen, dass die letzten Minuten angebrochen waren. Nun ergriff ihn doch Panik. Klaustrophobische Panik. Er hatte den Drang den Anzug auszuziehen und tief Luft zu holen. Vielleicht war das sogar die bessere Alternative. Ein einziger giftiger Atemzug und alles wäre vorbei.
Draußen kam auf einmal Leben in die Spinnen. Das gelegentliche klick klack ging in undefinierbares Gewusel über. Irgendetwas hatte sie aufgeschreckt. Es dauerte noch einen Moment, dann hörte es Sentry. Das waren eindeutig Landedüsen. Dort landete ein Schiff. Sie waren zurück. Er schaute auf seine Anzeige. Sechs Minuten. Das dämpfte die einsetzende Euphorie. Das würde verdammt knapp werden. Selbst wenn Dina sofort bemerken würde, wo sie sich verkrochen haben, müsste sie sich erst durch die Spinnen kämpfen. Wham. Krachend setzte das Schiff auf. Fünf Minuten. Konnte er was tun? Er hämmerte gegen die metallische Außenwand. Keine Chance. Er hörte wieder diesen schrillen Ton, mit dem die Spinnen ihre Angriffe starteten. Vier Minuten. Wie lange kann man ohne Luft überleben? Ein bis zwei Minuten? Der Tonfall des Kreischens änderte sich. Es war jetzt eindeutig mehr Panik unter den Spinnen. Ihnen ging es wohl an den Kragen. Gut so. Drei Minuten. Sollte er raus? Dina entgegen gehen und sich eine frische Portion Sauerstoff abholen? Er hörte ein Rauschen durch das wilde Gekreische hindurch. Flammenwerfer. Die Biester wurden gegrillt. Zwei Minuten. Es würde nicht reichen. Die Zeit war zu knapp. Wie genau messen die Dinger eigentlich? Die Panik kroch jetzt in die letzten Winkel seines Körpers. Er hämmerte wieder an die Außenwand.
„Hier drinnen.“ brüllte er. Eine Minute. Das Gekreische wurde weniger. Die Spinnen verlieren. Nicht mehr lange und er würde Dina gegenüber stehen und gemeinsam würden sie in den Sonnenuntergang reiten. Die drohende Ohnmacht vernebelte seinen Geist. Unter Anstrengungen kratzte er sein letztes bisschen Verstand zusammen. Der Sauerstoffmangel macht sich bereits bemerkbar und gaukelte ihm die Sonnenuntergangsfantasie vor. Er kroch rüber zu Balta. Acht Minuten standen auf seiner Anzeige. Hah. Vier weitere Minuten für ihn. Das könnte was werden. Zittrig schloss er sich an den Sauerstofftank an und nahm einen tiefen Zug. Von den Spinnen war nichts mehr zu hören. Er lauschte in die Stille. Noch einmal schlug er gegen die Außenwand. Er hörte Stampfen. Da draußen war jemand, der einen ähnlich schweren Anzug trug wie er. Einen kurzen Moment später hörte er, wie sich dieser jemand an eine der oberen Luken zu schaffen machte. Das war der falsche Eingang.
„Ihr müsst durch die untere Luke.“ krächzte er. Hoffentlich wurde das gehört. Die Geräusche verstummten und das Stampfen entfernte sich wieder. Er musste Dina entgegen, aber sein Handlungsspielraum war begrenzt. Gebunden an Baltas Sauerstoff, musste er diesen mit sich ziehen. Die Verzögerung rettete ihm paradoxerweise das Leben. Er zog Balta rüber zum Ausgang, öffnete die Luke und in diesem Moment sah er den Feuerstrahl unter sich. Einen Augenblick eher und er wäre unweigerlich gegrillt worden.
Sich versichernd nicht endgültig als Toast zu enden, wartete er kurz und riskierte einen Blick in die Tiefe. Selbst in dem fahlen Licht konnte er erkennen, dass jemand auf dem Weg zu ihnen war. Da kroch jemand auf sie zu. Er entspannte sich und selbst der Dauerton an Baltas Anzug, welcher hartnäckig die Leere ihres Tankes verkündete, schockierte ihn nicht. Gleich würde es Nachschub geben. Jede Menge belebender Sauerstoff.
Das nächste, an was er sich erinnerte, war diese unglaublich belebende Luft. Eine Selbstverständlichkeit wie atmen, lernte man mehr zu schätzen, wenn es einem einmal genommen wurde. In Zukunft würde er jeden einzelnen Atemzug genießen, als wäre es sein letzter. Er grinste in sich hinein. Wieder war er dem Tod von der Schippe gesprungen. Er ließ seiner Arroganz freien Lauf, immerhin fühlte er sich, als wäre er unsterblich. Was hat er schon alles durchgemacht? Yuma Prime mit der vergifteten Atmosphäre und seinen noch giftigeren Spinnen konnte ihm genauso wenig etwas anhaben, wie Kain & Co. Er drehte sich zu seinem Retter und überlegte sich schon die passende Dankesrede, als er merkte, dass sich auf keinen Fall Dina dort drüben um Balta kümmerte. Wer immer dort auch war, es war niemand weibliches. Er bezweifelte das Eric allein den Weg hier runter nehmen würde und Odin würde keinen seiner Männer mit einer Rettungsmission beauftragen. Also wer zum Teufel hatte ihn gerettet?
„Hey.“ krächzte er in den Rücken des Unbekannten. Dieser drehte sich um und nun erkannte Sentry das Gesicht. Er hatte es zu letzt auf der „verruchten Braut“ gesehen. Es war Igor.
„Gut du lebst noch. Erspart mir eine Menge Ärger.“ Er wandte sich wieder Balta zu. Sentrys Arroganz war wie weggeblasen. Die Spinnenhölle, die er gerade überlebt hatte, würde nahtlos übergehen in die ihm bekannte Red-Hölle.
„Igor, sag an. Was ist los da unten?“ kam es aus dem Kommunikator. Obwohl die Stimme verzerrt war, konnte Sentry eindeutig ihren Besitzer zuordnen. Red. Wie zum Teufel hatte er ihn gefunden?
„Also unser Goldesel ist wohl auf. Er ist aber nicht allein hier unten.“ antwortete Igor.
„Ist die blonde Schlampe bei ihm?“ fragte Red.
„Kein blond. Nicht mal eine Schlampe.“
„Schade. Wäre lustig geworden. Lass ihn liegen. Wir brauchen nur den Superhelden.“ besiegelte Red Baltas Todesurteil.
„Alles klar.“ beendete Igor das Gespräch.
„Los komm. Diese Spinnenviecher werden sicher irgendwann zurückkommen.“ Igor packte Sentry am Anzug und wollte ihn Richtung Ausgang schleifen.
„Wir können ihn nicht zurücklassen.“ protestierte Sentry.
„Können wir.“ erwiderte Igor eiskalt und zog ihn weiter zur Luke. Sentry musste sich schnell was einfallen lassen. Da kam ihm die zündende Idee.
„Könnt ihr nicht. Ihr wollt mich zur Science bringen nicht wahr. Er ist ein Vertrauter der Science. Wie würden die wohl reagieren, wenn sie erfahren, dass ihr ihn einfach zurückgelassen habt.“ Sentry war siegessicher, doch Igor reagierte nicht auf seine Drohung.
„Wer sollte es ihnen wohl erzählen.“ gab dieser gelangweilt zurück.
„Vielleicht rutscht es mir ja aus Versehen raus.“ Sentry war trotzig. Igor ließ ihn los und kramte den Kommunikator hervor. Er erklärte Red die Situation.
„Verdammt. Dann bring ihn mit. Wir entscheiden an Bord über ihn.“ antworte Red genervt.
„Na gut. Ich werde ihn nicht da raus schleppen.“ wandte sich Igor an Sentry. Dieser zog Balta Richtung Ausgang. Es war verwunderlich, wie leicht der Körper mittlerweile war. Ein Zeichen dafür, dass wahnsinnig viel Energie verbrannt wurde. Lebte er überhaupt noch? Wenn ja war sein Überleben abhängig von der nächsten Zufuhr an Kalorien. Er musste sich beeilen.
Sentry kroch voraus. Als er unter dem Panzerwagen hervor kam, sah er eine Unzahl an gegrillten Spinnen. Mindestens zwei Dutzend lagen im gespenstischen Rot des Sonnenlichtes. Balta und er wären nichts weiter als Appetitanreger gewesen. Wie können die Biester auf einem toten Planeten wie diesem überleben? Er sah eine Bewegung etwa zwanzig Meter neben ihm. Eine Überlebende. Panisch sah er sich nach dem Flammenwerfer um. Erst jetzt merkte er, dass sich die Spinne an einen der Kadaver zu schaffen machte. So überleben sie also, indem sie sich selber fressen. Das Grillgut würde weitere Spinnen anlocken. Igor hatte Recht. Sie mussten sich beeilen.
Die Spinne nicht aus den Augen lassend, zog er Balta unter dem Fahrzeug hervor und schulterte ihn. Kurz darauf erschien Igor, schnappte sich den Flammenwerfer und fabrizierte einen weiteren Spinnentoast.
„Los darüber.“ blaffte er Sentry an. Erst jetzt fiel diesem die schmale Luke am Rumpf auf. Das Schiff war viel kleiner, als er sich es in seiner Fantasie ausgemalt hatte. Wochenlang war der Blechhaufen vor ihm sein Gefängnis gewesen. Als er den erbärmlichen Zustand begutachtete, verlor es seinen Schrecken. Ein Quader auf vier Stelzen, dessen oberer Teil abgerundet war. Zahlreiche Beulen in der Außenwand deuteten entweder auf Konflikte hin oder der Pilot hatte seine Probleme beim Landen in engen Parklücken. Teile die eindeutig nicht zum Original Schiffstyp gehörten, kaschierten Risse in der Hülle. Die Vorstellung diesen Seelenverkäufer sein Zuhause zu nennen, ließ ein wenig Mitleid mit Red und den Seinen aufkommen.
Sie passierten die Luke und befanden sich in einem Raum, nicht größer als ein Kleiderschrank. Igor verriegelte alles hinter ihnen und begann mit der Dekontamination. Zehn Minuten lang wurden sie mit Pulvern und Strahlen beschossen, bis eine mechanische Stimme ihnen versicherte, dass nun keine Gefahr mehr bestand. Balta brauchte dringend Energie.
„Wir brauchen unbedingt Kalorien.“ Sentry verzichtete auf jegliche Begrüßungsfloskeln, als er Red erblickte, der im Inneren des Schiffes bereits auf sie wartete.
„Dir auch ein schönen guten Tag.“ antwortete Red gut gelaunt und hielt ihm wie selbstverständlich eine Flasche mit orangenem Inhalt hin. Sentry wusste, dass würde nicht reichen.
„Ich brauche mehr. Das rote Zeug.“ forderte er. Red ließ einen leisen Pfiff durch seine Zahnreste gleiten.
„Noch ein Superheld. Ihr zieht euch wohl magisch an.“ schlussfolgerte er aus dem erhöhten Kalorienverbrauch. Er wies Olof an weiteren Nachschub zu bringen.
„Ein Vertrauter der Science und das mit Femtos. Interessant.“ Red nahm Balta den Helm ab und begutachtete ihn. Das abgemagerte Gesicht verriet den Kampf zwischen Leben und Tod.
„Bring ihn in den Untersuchungstraum. Ich will wissen, wie viel Technologie in ihm steckt. Aber vorher verschwinden wir hier.“ wies er Igor an. Er grinste Sentry an.
„Und wir beide haben uns so Einiges zu erzählen.“ Sie gingen den Gang entlang, der als einer seiner ersten bewussten Erinnerungen abgespeichert wurde. Wie lange war es her, als Igor und Olof ihn zu dem Raum am Ende des Flurs geschleift hatten? Wochen? Monate? Das Fehlen von regelmäßigen Tag- und Nachtrhythmen machte es schwer ein genaues Zeitgefühl zu bekommen.
Reds Privatraum hatte sich nicht verändert. Die Einrichtung und der Plunder schienen wie fest geklebt auf ihren Plätzen. Anhand des hygienischen Zustandes des ganzen Schiffes war das Kleben wohl wörtlich zu nehmen. Den Eindruck, den er vom Äußeren des Schiffes bekommen hatte, ließ sich ohne weiteres auf die Inneneinrichtung übertragen. Alles wirkte schäbig und wenig gepflegt. Damals hatte er andere Sorgen, aber mit seinem gesteigerten Selbstbewusstsein blieb ihm mehr Zeit für Details. Ein Selbstbewusstsein, was er bereit war zu zeigen.
„Willkommen zurück.“ wieder hielt ihm Red die Hand hin und wieder ignorierte Sentry sie.
„Hey, ein bisschen mehr Höflichkeit wäre angebracht. Immerhin habe ich dir erneut den Arsch gerettet.“ begann Red das unausweichliche Gespräch.
„Welch selbstlose Tat.“ konterte Sentry sofort.
„Der Schisser hat mir deutlich besser gefallen, aber Menschen ändern sich mit der Zeit. Kommen wir zur Sache. Es wird Zeit, dass du dich revanchierst.“ Red wartete einen Moment ehe er fortfuhr.
„Ich kann dich wieder in die Zelle stecken und mit Gewalt zur Science schleppen, aber das wäre für beide äußerst umständlich. Also. Warum tust du mir nicht den Gefallen und kommst freiwillig mit zur Science. Wir holen die Technologie aus dir raus, ich sag dir wo du deine Amigos findest und jeder geht wieder seiner Wege.“
„Was ist mit Balta?“ fragte Sentry.
„Von mir aus ist er Teil des Geschäfts. Wir peppeln ihn wieder hoch und anschließend könnt ihr in die Flitterwochen. Also was sagst du?“ Blitzschnell ging Sentry seine Optionen durch. Die Science war ein mögliches Ziel gewesen und hier hatte er die Möglichkeit kostengünstig hin zu gelangen. Er würde vermutlich alles über die verbliebenen Femtos erfahren. Mehr noch, sie könnten ihm helfen die Dinger los zu werden, wenn er das möchte. Außerdem hatte er Balta dabei und alles was dieser bisher erzählt hatte, schien die Science ein verlässlicher Handelspartner zu sein. Allerdings hatte Zaja ihn gewarnt und wenn die Science sich auf Leute wie Red einlässt, scheint Baltas Optimismus vielleicht sogar etwas übertrieben. Red ist nicht zu trauen. Außerdem könnte er Dina nie wieder unter die Augen treten. Sich mit dem Erzfeind einzulassen, könnte bei ihr bis in den Tod führen. Er würde sie verraten, aber würde sie für ihre Rache nicht dasselbe tun? Vermutlich. Er hatte sich entschieden und es fiel ihm nicht leicht, aber es ging nicht anders.
„Ich …“ Er wurde unterbrochen von einem grellen Alarmton.
„Was zur Hölle ist los?“ Red war ungehalten, denn die Unterbrechung kam im denkbar schlechtesten Augenblick.
„Wir werden verfolgt. Das Bergungsschiff ist wieder da.“ hörte er Igor aus dem Bordfunk. Sentry grinste. Die Karten wurden gerade neu gemischt.
XV
„Jeder Mensch macht Fehler. Das Kunststück liegt darin, sie zu machen, wenn keiner zuschaut.“
Sir Peter Ustinov
„Komm mit, das könnte interessant werden.“ forderte Red ihn auf zu folgen. Gemeinsam betraten sie die Kommandobrücke, die sich zu Sentrys Überraschung nicht viel von der auf Odins Schiff unterschied. Red lümmelte sich mit einem siegesgewissen Lächeln in seinen Sitz. Olof saß in einer der Ecken an einer der Konsolen und schaute zu Sentry rüber. Er wirkte abgemagert und sein Blick hatte überhaupt nichts Arrogantes oder Aggressives mehr. Nach Lisas Tod war er mit Sicherheit ein Opfer von Reds sadistischer Veranlagung geworden und die hatte nachhaltige Spuren bei ihm hinterlassen. Wie ein verängstigter Kampfhund, dem der Wille zum Töten genommen wurde, kauerte er in seinem Sitz. Maximal zwei Sekunden, dann wich er Sentrys Blick aus.
„Lass mal hören, was er will.“ forderte Red Igor auf eine Verbindung herzustellen. Es knackte kurz und dann hörten sie trotz der metallischen Verzehrung, dass jemand weibliches am anderen Ende zu sprechen begann.
„Red du verdammter Schweinehund. Hör auf vor mir davon zu rennen und stell dich.“ identifizierte Sentry Dinas Stimme.
„Hasst du das auch, wenn eine Ex dich einfach nicht in Ruhe lassen will.“ Red grinste Sentry an.
„Schätzchen, ich weiß wir hatten viel Spaß, aber irgendwann musst du lernen ohne mich klar zu kommen.“ sprach er vergnügt in den Kommunikator. Sentry widerte dieser Typ nur an. Wie konnte er nur einen Moment in Erwägung ziehen auf Reds Angebot einzugehen?
„Ich arbeite daran. Am besten klappt das, indem ich dir eine Kugel zwischen die Augen jage.“ kam es im typischen Stil zurück.
„Bezaubernd wie eh und je. Hör zu. Du hast nichts, was mich irgendwie interessieren würde, also würde ich vorschlagen, dass du einfach abziehst.“ Damit hielt Red das Gespräch für beendet.
„Keine Chance.“ ließ sich Dina das letzte Wort nicht nehmen und beendete ihrerseits die Kommunikation.
„Habe ich auch nicht erwartet.“ grummelte Red vor sich hin.
„Das Schiff hat Kurs auf uns genommen. Die wollen uns rammen.“ Olof klang panisch.
„Dann bring uns weg hier du Idiot.“ Olofs panischer Ton gefiel ihm nicht.
„Keine Chance, die sind schneller.“
„Die Rostlaube?“ Red schüttelte ungläubig den Kopf. Sentry, der das Privileg hatte beide Schiffe von außen zu begutachten, verstand Reds Vertrauen in sein Schiff nicht. Odins Schiff machte den weitaus besseren Eindruck.
„Dann mach eine der Violent 1 klar. Für dich mein Schatz ist mir doch nix zu teuer.“ Igor schaute ihn ungläubig an.
„Mit geschicktem Manöver könnten wir dem locker ausweichen.“ wagte er seine Zweifel gegenüber Reds Anweisung zu äußern.
„Und wie lange willst du das Spielchen spielen? Bis einem der Sprit oder die Lust ausgeht? Außerdem will ich die mir ein für alle Mal vom Hals schaffen. Wenn das mit unserem Goldesel klappt, können wir uns tausend neue Violent besorgen. Die ganz großen.“ Reds Augen leuchteten im Ausblick auf den bevorstehenden Reichtum.
„Alles klar. Rakete ist scharf.“ kam es von Igor.
„Na dann los. Und schalte die Kamera ein. Will mir das nicht entgehen lassen.“ Red starrte gespannt auf den Monitor.
Erst jetzt begriff Sentry, was mit Violent 1 gemeint war. Sie hatten vor seine Freunde in die Luft zu sprengen. Er musste das verhindern.
„Halt. Nicht. Ich tue alles was du willst, aber feuere diese Rakete nicht ab.“ Sentry klang flehendlicher, als ihm lieb war.
„Schön, dass du doch noch mitspielst, aber es ist zu spät. Das Ding ist unterwegs.“ Er wandte sich wieder dem Monitor zu. Nun starrte Sentry ebenfalls drauf. Die Bildschirmauflösung war schlecht. Zuerst erkannte er nichts, aber dann machte er ein Objekt aus, was linkseitig von der Sonne angestrahlt wurde. Der rechte Teil des Schiffes lag im Dunkeln. Von der Rakete war nichts zu sehen.
„Da kommt sie.“ Red wirkte wie ein Kleinkind, welches in seinem Versteck darauf wartete, dass der Nachbar auf die brennende Tüte treten würde. Sentry erkannte nichts. Erst nachdem Red den Bildausschnitt vergrößerte, konnte er ein bewegtes Objekt ausmachen.
„Drei, zwei, eins…. Kawhumm.“ frohlockte Red. Auf dem Bildschirm passierte nichts. Die Rakete war verschwunden.
„Ging daneben.“ korrigierte Igor ihn. Sentry war erleichtert. Er hoffte, dass sie keine zweite Rakete verschwenden würden, um einen erneuten Angriff zu starten.
„Oh. Na ja. Sie können ihr nicht ewig ausweichen.“ Red wirkte alles andere als verärgert. Die Rakete war immer noch scharf und nahm erneut Kurs auf Odins Schiff.
„Apropos ausweichen. Die kommen immer näher.“ warf Olof ein. Red starrte auf den Navigationscomputer.
„Gut. Zwei Grad Backbord. Das sollte fürs erste reichen.“ Er wandte sich wieder dem spannenderem Geschehen zu. Die Rakete näherte sich jetzt von hinten. Diesmal traf sie.
„Bye bye meine Süße.“ Er winkte dem Monitor zu. Nein, das durfte nicht sein. Sentry hatte das Gefühl sich übergeben zu müssen. Dina, Eva selbst Eric. Die Stützpfeiler seiner fragilen Existenz. Mit einem Schlag ausradiert. Ihm blieb keine Zeit das Erlebte zu verdauen.
„Scheiße. Ausweichen, sofort ausweichen.“ brüllte Igor. Zu spät. Der Aufschlag war ohrenbetäubend. Irgendetwas hatte das Schiff getroffen und schleuderte alle Anwesenden quer durch die Kommandobrücke. Sentry schlug hart gegen die Wand. Er bekam noch mit, wie Blut in sein linkes Auge lief, dann wurde er ohnmächtig.
Vermutlich war er nicht lange weg. Erneut verrichteten die Femtos ihre programmierte Arbeit und wie nach seinem ersten Erwachen auf diesem Schiff, fühlte er sich orientierungslos. Keine verwirrenden Drogen diesmal, nur Schwerelosigkeit, die ihn an der Decke der Kommandobrücke schweben ließ. Was immer auch passiert war, die künstliche Schwerkraft existierte nicht mehr. Ein schwaches gelbes Licht untermalte die Notsituation. Also lief die Energieversorgung auf Notbetrieb. Soviel konnte er sich zusammenreimen. Das würde im Umkehrschluss bedeuten, dass der Technikraum keine Energie mehr lieferte, weder für die Schwerkraft, noch für die Beleuchtung.
Nicht bewegen. Er wusste nicht viel über Nullschwerkraft, aber eins war klar, eine falsche Bewegung und er würde wie ein Gummiball durch die Gegend springen. Vorsichtig schaute er sich um. Olof war so clever und hatte sich festgeschnallt. Ohne Regung saß er in seinem Sitz. Igor schwebte diagonal gegenüber. Die Blessuren in seinem Gesicht deuteten darauf hin, dass er schon mit einigen Ecken im Raum auf Tuchfühlung war. Zu allem Überfluss hatte er sich auf Grund mangelnder Orientierung übergeben. Auf einmal war unten genauso wie oben. Das überforderte sein Verdauungssystem. Die Kotzeteilchen schwirrten wie kleine Planeten um ihn rum. Angewidert schaute Sentry zu Red rüber. Dieser schwebte einfach im Nirgendwo, unfähig sich an irgendetwas abzustoßen. Wie hatte er denn das hinbekommen? In der Luft zappelnd, brüllte er Igor an.
„Igor. Komm hier rüber. Du musst mir helfen.“ Der kämpfte immer noch mit seinem Magen.
„Los mach schon. Stoß mich an.“ wiederholte Red seine Forderung. Igor stieß sich ab, verfehlte aber sein Ziel um Einiges. Zu seinem Unglück steckte er viel zu viel Energie in die Aktion, so dass er krachend neben Sentry mit dem Kopf voran gegen die Wand donnerte. Das kostete ihm sein Bewusstsein.
„Verdammter Idiot.“ fluchte Red. Er wandte sich an Sentry.
„Wärest du so lieb und gibt’s mir einen Stoß?“ fragte er ihn ohne falsche Scheu.
Sentry ignorierte ihn und lotete seine eigenen Möglichkeiten aus. Mit ein bisschen Geschick könnte er sich bis zur Ausgangstür hangeln. Was dann? Er musste unbedingt zu Balta. Sein Magen knurrte. Ein Zeichen dafür, dass seine Femtos ordentlich hatten arbeiten müssen. Viele Blessuren konnte er sich nicht mehr leisten.
Er entschied sich für den direkten Weg. Unmöglich war es an der glatten Wand bis zur Ausgangstür zu kommen. Zu groß die Gefahr, dass er wie Red irgendwo im Nichts hängen blieb. Also einmal abstoßen und hoffen, dass die Richtung passte. Er schaute rüber zu Igor. Der hatte nicht nur die Absprungkraft unterschätzt, sondern auch die Rotation seines eigenen Körpers. Das Ergebnis dieser Fehleinschätzung schwebte nun blutend vor ihm.
Er wollte gerade loslegen, als er von dem Kommunikator unterbrochen wurde.
„Hier spricht die Yuma-Polizei. Sie haben widerrechtlich Kampfhandlungen in dem System durchgeführt. Damit haben Sie gegen geltende Gesetzte verstoßen. Sie sind hiermit vorläufig festgenommen.“
„Dann kommt und holt uns ihr Scheißkerle.“ brüllte Red in Richtung des Kommunikators. Ohne aber die entsprechende Freisprechtaste zu drücken, blieb sein Wunsch innerhalb dieses Raumes.
Sentry drückte sich ab. Die Kraft, mit der er das tat stimmte, allerdings erging es ihm wie Igor und er erreichte nicht mal annähernd die Richtung in die er wollte. Glücklicherweise landete er mit den Füßen voraus an der Wand und stieß sich erneut ab. Wie eine über Bande gespielte Billardkugel, schwebte er genau auf die Ausgangstür zu. Die Klinke diente als Stopper und bescherte ihm eine schmerzhafte Rippenprellung.
Er hangelte sich raus auf den Flur. Ihm wurde leicht übel, da er mit dem Kopf nach unten praktisch an der Decke klebte. Schon komisch, wie sein Gehirn die neue Situation verarbeitete. Er überlegte, ob er sich den Luxus gönnte alles wieder in die richtige Perspektive zu bringen, aber es war leichter an den Deckenbeleuchtungen voran zu kommen, als auf dem normalen Weg, der weniger Möglichkeiten zum abstoßen hatte.
Es dauerte nicht lange und er kam besser mit den neuen Bedingungen klar. Nur nicht übertreiben. Für einen normalen Fußweg von dreißig Sekunden brauchte er ungefähr fünf Minuten in der Schwerelosigkeit. Es war unheimlich anstrengend jede noch so kleine Bewegung mit einer zusätzlichen Gegenbewegung auszugleichen. Hinter ihm hörte er Red fluchen und schreien.
Endlich angekommen vor der Tür, hinter der er Balta vermutete, war er froh, dass sie von außen ohne Schlüssel oder Zugangscode zu öffnen war. Seine Türöffner hätten vermutlich kein Problem damit, aber er wollte Red keinen Hinweis auf seine Qualitäten geben.
Er hangelte sich rein und sah Balta auf einer Liege angeschnallt an der Decke. Verdammte Nullschwerkraft. Nicht Balta war oben sondern er. Er hielt sich an der Deckenbeleuchtung fest und drehte die Beine Richtung Balta. Bewegung, Gegenbewegung, Bewegung, Gegenbewegung. Als ob man ein Pendel ausrichten würde, was ständig überschlug. Als er es passend hatte, stieß er sich vorsichtig ab und landete mit den Füßen zu erst neben der Liege.
Balta sah schon deutlich besser aus. Ob er immer noch mit dem Gift kämpfte war schwer zu beurteilen. Sentry schaute sich um und sah einige Kaloriendrinks in Schwebereichweite. Ein Kinderspiel dort ranzukommen und wieder zurück zur Liege zu gelangen, aber unmöglich in Baltas Zustand ihm die hilfreiche Energie einzuflößen.
„Balta, ich brauche deine Hilfe. Wach auf.“ Sentry schüttelte ihn und musste aufpassen nicht abzurutschen und durch die Bewegung weg zu schweben. Zehn Minuten später hatte er ihn soweit, dass er fähig war die Flüssigkeit aufzunehmen. Er öffnete eine Flasche und versuchte sie an Baltas Mund zu führen. Wie eine Blase entwich ein Teil der Flüssigkeit und landete in Baltas Nase. Sentry fluchte.
„Komm schon. Ich brauch mehr Zusammenarbeit.“ Sentry hob Baltas Kopf und hielt ihm die Flasche erneut an den Mund.
„Saugen, wie an der Mutterbrust. Komm schon.“ Balta wurde zwar immer munterer, aber dafür reichte es noch nicht.
Sentry lauschte in die Stille. Weder Maschinen noch Reds Gezetere waren zu hören. Kein gutes Zeichen. Einzig und allein das Brummen des Notfallgenerators war vernehmbar. Wie lange würde die Luft reichen. War der CO2-Umwandler an die Notstromversorgung angeschlossen? Sie mussten runter vom Schiff, hin zur Polizei, die da draußen wartete, um sie zu verhaften. Aber wie?
Baltas Bewusstseinszustand besserte sich zunehmend. Es hatte den Anschein als wüsste er, dass es für eine Ohnmacht kein geeigneter Zeitpunkt war. Gemeinsam versuchten sie erneut ihm Kalorien einzuflößen. Unter Husten leerte er diesmal die halbe Flasche.
„Wir müssen dringend runter vom Schiff.“ sprach ihn Sentry an.
„Müssen wir wohl. Danke dass du mir hilfst. Du weißt ich müsste jetzt eigentlich eine Woche lang durchschlafen.“ Entgegnete er müde. Sentry erinnerte sich an Prem, als er verschüttet wurde und sein Körper diese wahnsinnige Energieleistung vollbrachte. Seine Knochen wieder in die richtige Form zu bringen, kostete ihn gute fünf Kilo Gewicht. Das Schlimmste war hinterher die Müdigkeit, als direkte Folge dieses Wunders.
„Dafür haben wir leider keine Zeit. Wie kommen wir am besten weg hier?“ fragte er.
„Rettungskapseln. Irgendeiner wird uns da draußen schon aufgabeln. Wie kommen wir eigentlich hier her und wo sind die Anderen?“ Erst jetzt wurde sich Balta bewusst, dass dort ein riesiges Loch war, wo eigentlich irgendwelche Erinnerungen seien sollten. Er brauchte noch weitere zehn Minuten, um wieder halbwegs fit zu werden.
„Hilf mir hoch und bring mich auf den aktuellen Stand. Was zur Hölle ist passiert?“ Balta war immer noch angeschnallt.
„Wichtigste Neuigkeit. Keine Schwerkraft.“ fing Sentry an.
„Oh. Dann haben wir wirklich ein Problem. Mach mich los.“ Sentry öffnete die Gurte. Balta drehte sich sofort auf den Bauch und hielt sich an der Liege fest. Er machte dabei einen so geschmeidigen Eindruck, dass sofort klar war, dass er schon einige Nullschwerkraft-Erfahrungen hinter sich hatte.
„Cool.“ kommentierte Sentry das Manöver.
„Spezialtraining. Wenn du weißt wie du sie nutzen kannst, ist die Nullschwerkraft dein Freund.“ Zielsicher steuerte er auf den Ausgang zu. Sentry hatte Mühe zu folgen. Er schnappte sich noch die Tasche, die sie auf Yuma gefunden hatten. Igor hatte sie achtlos in die Ecke gestellt. Noch ein paar Kaloriengetränke dazu und schon war auch er unterwegs.
„Mach das, was ich mache und erzähl mir dabei was passiert ist.“ Sie befanden sich mittlerweile auf dem Flur. Unsicher sondierten sie die Lage. Balta schaute nach links, dann nach rechts.
„Ich kenne diesen Schiffstyp nicht.“ Er zögerte kurz.
„Da entlang.“ kam es selbstsicher, als wüsste er genau, dass dort die Rettungskapseln sind. Sie schwebten in die linke Richtung und Sentry hielt sich kurz in seinen Erläuterungen zur Lage. Nur bei dem Angriff auf Odins Schiff wurde er präziser. Den Tod von Dina, Eva und Eric konnte er trotzdem nicht so richtig beschreiben. Noch ließ es die Situation nicht zu, sich ausführlicher damit zu beschäftigen. Die Zeit zum Trauern würde kommen, vorerst galt es wiedermal dem scheinbar sicheren Tod zu entkommen. Als er fertig war, hielt Balta kurz inne.
„Vermutlich hat ein Wrackteil das Schiff getroffen. Dann verdanke ich dir mehrfach mein Leben. Das werde ich dir nie vergessen.“ Er schwebte weiter, wollte sich keine zu große Schwäche gönnen.
Wie immer hatte er Recht mit der Richtungswahl, obwohl sie auch diesmal willkürlich erschien. Ursprünglich waren bei diesem Schiffstyp Platz für drei Rettungskapseln. Nur noch eine war vorhanden. Vermutlich hatte Red die anderen beiden gegen Ersatzteile eingetauscht. Balta inspizierte die Kapsel.
„Da passen mehr als wir beide rein. Wie viele sind noch an Bord?“ fragte Balta.
„Red und zwei seiner…“ Sentry wurde unterbrochen.
„Nur wir drei. Das muss reichen.“ Red schwebte hinter ihnen in dem Gang, aus dem sie gerade gekommen waren. Mit der linken Hand hielt er sich am Türrahmen fest, mit der rechten richtete er eine Pistole auf die beiden. Projektile mit chemischer Treibladung konnte Sentry ausmachen. In seiner jetzigen Position war das für Red genauso gefährlich, wie für sie.
„Du bist also dieser ominöse Red.“ sagte Balta.
„Mein Ruf eilt mir wohl voraus.“ erwiderte er lax.
„Zwei solcher Bastarde. Ich muss irgendwann mal was Gutes getan haben, dass ich soviel Glück habe.“
„Glück? Dein Schiff ist Schrott, draußen wartet die Polizei auf dich und wir sind auch gleich weg.“ Balta zeigte keinerlei Anzeichen von Angst oder Panik.
„So. Das würde ich mir aber noch einmal überlegen.“ Red hielt die Pistole höher. Offenbar war ihm nicht bewusst, was ein Schuss mit ihm innerhalb der Schwerelosigkeit anrichten würde. Sentry überlegte gerade die Konsequenzen, als er angestoßen wurde. Er driftete unkontrolliert nach rechts, während Balta weitaus kontrollierter nach links wegschwebte.
Ein Bluff, mehr war es nicht von Red. Blitzschnell steckte er die Pistole weg und zog sein Messer. Da kam Balta bereits in Supermannpose auf ihn zu geflogen. Er hatte sich abgestoßen von der Seitenwand und bevor das Messer irgendwelchen Schaden anrichten konnte, flog Red durch einen gezielten Faustschlag in die Gegenrichtung. Den Aufschlag nutzte Balta geschickt, um seine Geschwindigkeit zu reduzieren und an der Tür ohne große Probleme zu stoppen. Red driftete, sich um seine eigene Achse drehend, den Gang zurück und blieb an einer offenen Tür schmerzhaft hängen.
Balta hatte dieses Manöver viel Kraft gekostet. Die eh schon minimalen Reserven wurden damit weiter aufgebraucht. Er wirkte erschöpft und dem Zusammenbruch nahe. Auch Sentry zollte seinen kleinen Blessuren Tribut, die er auf dem Weg hier runter immer wieder einstecken musste. Zu dem hatte er unter den Nachwirkungen von Baltas Abwehrmanöver zu leiden, als er mit dem rechten Arm gegen die Seitenwand knallte. Zum Glück schaffte er es, sich mit der linken Hand an einer der Zwischenstreben fest zu halten, so dass er nicht wie eine unkontrollierte Billardkugel hin und her prallte. Sie brauchten unbedingt Energie und Ruhe. Leider lag die Ausbeute der mitgenommenen Kaloriengetränke innerhalb der Nullschwerkraft bei gerade mal 50%. Der Rest verteilte sich in Blasenform im Schiff und verklebte Wände und Armaturen.
„Los komm. Lass uns hier verschwinden.“ sagte Balta und stieß sich Richtung Rettungskapsel ab. Sentry schmerzte immer noch der rechte Arm, so dass das Abstoßen ordentlich daneben ging. Zum Glück fing ihn Balta auf, bevor er wieder irgendwo schmerzhaft gegen stieß. Vier Sessel, die um eine Konsole ausgerichtet waren. Aus mehr bestand die Kapsel nicht. Sie schnallten sich an und Balta leitete den Start ein.
„Was wird uns da draußen erwarten?“ fragte Sentry nachdem er die Beschleunigung spürte.
„Die Polizei wird uns aufgabeln und festnehmen. Keine Angst, da wir nicht Besitzer dieses Schiffes sind, kommen wir gegen ein kleines Bestechungsgeld frei. Für deinen Freund Red wird es schwieriger. Entweder er meldet sich bei der Polizei, dann droht ihm eine ordentliche Strafe oder er tut es nicht, dann wird sein Schiff irgendwann zum Bergungsgut und zieht allerlei Gesindel an.“
„Er ist nicht mein Freund. Ich hoffe ihm geht die Luft aus.“
„Durchaus möglich. Was immer ihr für ein Problem mit Red habt, du und Dina. Du verdankst ihm mehrmals das Leben. Auch wenn er das nicht eigennützig getan hat, stehst du in dem Punkt in seiner Schuld.“ Sentry überlegte Baltas Worte. Als Red ihm das erzählte, hatte es keinen Wert. Die traurige Wahrheit aus dem Mund eines Anderen zu hören tat weh und verkomplizierte seine eigentlich uneingeschränkte Haltung gegenüber Red.
„Gut. Wir sagen der Polizei Bescheid, die wird sich um ihn kümmern. Übrigens hat er auch dein Leben gerettet.“ konnte sich Sentry als Antwort nicht verkneifen.
Während die Kapsel sich vom Schiff entfernte, hatte er Probleme die Augen in den bequemen Sesseln offen zu halten. Immer mal nickte er kurz weg. In der Phase zwischen Halbschlaf und tiefer Regeneration kamen ihm immer wieder die Bilder von Dina und Eva ins Bewusstsein und verhinderten den Übergang in tiefen entspannenden Schlaf. Der Verlust der beiden Frauen tat ihm unheimlich weh. Sie hatten ihn auf Prem gerettet und gemeinsam hatten sie sich durch den Slum von Lassik geschlagen. Er erinnerte sich an Eva, wie sie nach der versuchten Vergewaltigung in seinen Armen weinte. Oder an Dina, die es ihm übel nahm, dass er ihr nicht traute. Momente die sein bisheriges Leben aufwerteten. Er wollte noch mehr von diesen einzigartigen Gefühlen, aber so wie er die Lage einschätzte, würde das in naher Zukunft nicht mehr passieren. Ihre Gruppe war was Besonderes gewesen und wie auch immer sein weiteres Schicksal aussehen würde, es war vorbei damit. Er wollte nicht weinen, also lenkte er sich damit ab Balta wach zu halten.
„Mächte, die im Hintergrund die Strippen ziehen.“ setzte er das Gespräch dort fort, wo es durch die Giftattacke abgebrochen wurde.
„Nicht jetzt, wir müssen beide ausruhen.“ versuchte Balta dem Unausweichlichen zu entkommen.
„Ich lass nicht locker.“ blieb Sentry hartnäckig.
„Das dachte ich mir schon.“ Balta überlegte, wie er am besten anfangen sollte.
„Da gibt es die Science und da gibt es die Anderen.“ fing er an.
„Die Anderen?“
„Ja. Ich kenne sie nicht und hatte auch nie irgendwelchen Kontakt zu ihnen. Du trafst eine von ihnen auf „der verruchten Braut“. Alles, was ich von ihnen weiß, hab ich von der Science. Ich habe versucht aus den spärlichen Informationen mir eine eigene Geschichte zu kombinieren, aber das ist alles eher Mutmaßung als Tatsache. Nur eins scheint relativ sicher. Sie versuchen die Menschheit zu vernichten.“
„Aber wieso? Sie sind selber Menschen.“
„Über die Motive hab ich mir auch schon Gedanken gemacht. Meine bevorzugte These ist, dass sie versuchen eine neue elitäre Gesellschaftsform zu errichten, indem sie alles andere vernichten. Ob sie religiöse Spinner sind oder einfach nur größenwahnsinnig kann ich nicht beurteilen. Was mir wirklich Sorgen macht ist die Tatsache, dass sie technologisch weiter sind als die Science.“
„Woher weißt du dass?“
„Schau in den Spiegel. Die Technologie in dir ist teilweise Vorfahrentechnologie.“
„Teilweise?“
„Ja. Die Science kennt natürlich die Nanotechnologie. Sie weiß um ihre Funktionen aus Archiven der Vorfahren. Besser gesagt um die drei Funktionen. Du hast sieben in dir. Also muss jemand das Ganze weiterentwickelt haben. Während die Science versucht die Dinge der Vorfahren zu ergründen und zu verstehen, um sie nach zu bauen, forscht ihre Gegenpartei offensichtlich an wirklichen Neuentwicklungen. Wenn sie das erfahren, kriegen sie mit Sicherheit Panik. Die Anzeichen verdichten sich, dass diese unbekannte Macht sich vorbereitet ihre Ziele umzusetzen und du scheinst mir ein wichtiger Baustein des Ganzen zu sein.“ Sentry versuchte die neuen Informationen zu sortieren. Drei bekannte Funktionen, er kannte nur zwei. War er Mitglied dieser unbekannten Macht und waren sie vielleicht verantwortlich für die große Katastrophe? War er ein Abtrünniger? Dann hätten sie ihn schon getötet. Aber warum wurde sein Gedächtnis blockiert? Zaja hoffte, dass er einer von Ihnen war, dass er die richtige Entscheidung treffen würde. Wie sollte das gehen ohne Vergangenheit?
„War diese Macht verantwortlich für die große Katastrophe?“ fragte er zuerst.
„Ich weiß es nicht, aber die Wahrscheinlichkeit ist ziemlich hoch.“ Balta erwartete die nächste Frage. Die, der Sentry bisher auswich.
„Also. Was ist die dritte Fähigkeit?“ fragte er zitternd.
„Die Türöffner und die Selbstheiler sind Erfindungen der Vorfahren. Die Gedächtnisblockierung ist eine Weiterentwicklung.“ Balta zögerte.
„Sag schon. Was gab es noch von den Vorfahren?“ Er wollte es nicht wissen, aber er musste es wissen. Wie eine Spritze, die ihn vor unangenehmen Krankheiten schütze, würde es wehtun, aber es war notwendig.
„Es wird dir nicht gefallen.“
„Eine Drohung? Das kann nur Red sein.“ Würde sich Dina nicht schon im Angriffsmodus befinden, so wäre jetzt der richtige Zeitpunkt gewesen. Sofort blendete sie ihre Umgebung wieder aus. Nachdem der Pilot zu Yuma-Prime umgekehrt war, hatte er versucht die Sinnlosigkeit der Rettungsaktion zu untermauern. So devot seine Einstellung auch war, er hatte gute Argumente. Erstens gab es da die Spinnen, zweitens fehlte am Ende die Luft und als drittes Argument führte er den Schiffskommandanten an, der eine Rakete just in dem Augenblick auf ihr Schiff richtete, als Eva sich im Laderaum verkroch. Unbewaffnet blieb Odin nur die Herausgabe der Koordinaten, an denen Balta und Sentry zurückgelassen wurden. Seiner Ansicht waren die beiden bereits Spinnenfutter und so hielt es Odin für ratsamer die gewünschten Informationen zu liefern, auch wenn es gleich bedeutend war, dass er sich einem anderen Alphatier unterordnete und damit Ansehen bei seiner Crew verlor.
Natürlich ließ sich Dina nicht umstimmen ihre Rettungsmission abzubrechen. Schon gar nicht, wenn Red ins Spiel kam. Der hatte sie vermutlich von der Station hier her verfolgt und einen günstigen Zeitpunkt abgewartet, um zu zuschlagen. Das Objekt seiner Begierde war nicht mehr an Bord, so dass sie annahm, dass er zum Planeten zurückgekehrt war, um dort den Verbleib von Sentry zu erkunden. Verdammt, wieder war sie nicht in seiner Nähe als Red auftauchte, aber vielleicht hatten sie Glück und er befand sich genauso wie Sentry auf einem Spaziergang über den Planeten. Dann bräuchte sie bloß noch warten, bis er zurückkam, ihm die Pistole an die Schläfe halten und endlich ihre Rache vollenden. Leider sah die Realität anders aus. Der Pilot bemerkte als erstes das startende Schiff.
„Verfolgen.“ befahl Dina.
„Was ist mit den beiden auf dem Planeten?“ fragte Eric.
„Entweder sind sie an Bord oder tot. Vermutlich beides. Er würde nie ohne Sentry den Planeten verlassen.“ Sie wirkte eiskalt. Wieder galt nur ihre Rache.
„Und nun? Wir haben keine Waffen. Wie willst du sie aufhalten?“ fragte Eric.
„Kollisionskurs.“ schnauzte sie den Piloten an. Der reagierte bereitwillig, was Dina überraschte.
„Was ist denn das für eine bescheuerte Taktik? Falls dir das nicht klar sein sollte, da gehen wir alle drauf.“ Zum ersten Mal zeigte Eric keinerlei Furcht gegenüber Dina.
„Keine Angst, wir sind zwar schneller als er, dafür ist sein Schiff manövrierfähiger. Wir erwischen die nie.“ Dina funkelte den Piloten für diese Bemerkung an, was ihn dazu brachte wieder angestrengter auf seine Anzeigen zu starren.
„Ich will mit ihm reden.“ forderte sie den Piloten auf eine Kommunikation herzustellen. Das Reden erwies sich als üblicher Schlagabtausch, bei dem eine noch zornigere Dina das letzte Wort hatte.
Eine rote Lampe blinkte auf.
„Oh oh.“ entfuhr es dem Piloten.
„Sagen Sie doch nicht oh oh, wenn eine rote Lampe blinkt. Das kann nie was Gutes bedeuten.“ Eric beschlich eine böse Vorahnung.
„Da ist eine Rakete auf dem Weg zu uns.“ sagte der Pilot.
„Hat ihm wohl nicht gefallen, dass ich das letzte Wort hatte.“ sagte Dina zynisch.
„Eine Violent 1 rast auf uns zu.“ bestätigte der Pilot die ankommende Rakete.
„Ich habe darüber gelesen. Die Vorfahren haben sie ausgemustert, weil ihr leicht auszuweichen war. Sie war zu träge. Sie haben sie tonnenweise in Munitionsbunkern gelagert, weil sie für den modernen Krieg unbrauchbar wurde. Deswegen gibt’s die auch noch so massig heutzutage.“ Eric plapperte.
„Und nützt uns dieses Wissen irgendwie weiter?“ fragte Dina.
„Allerdings. Wenn wir den richtigen Zeitpunkt erwischen, kann selbst ein träger Klotz wie dieser dem Ding ausweichen.“ Der Pilot reagierte blitzschnell und fing an mit seinen Berechnungen.
„Der richtige Zeitpunkt ist jetzt.“ Er zündete die Backbordtriebwerke und die Trägheitsdämpfer hatten Mühe die plötzliche Wendung auszugleichen. Die Rakete zischte vorbei.
„Ha.“ frohlockte Eric. Seine Euphorie wurde gedämpft von einem weiteren roten blinkenden Licht.
„Schon wieder oh oh?“ fragte er ängstlich.
„Doppelt oh oh. Da ist was kaputt gegangen. Die Rakete wendet und kommt wieder auf uns zu.“ sagte der Pilot.
„Was kaputt gegangen? Geht’s vielleicht ein wenig präziser?“ Eric hatte sichtlich Angst und die brauchte ein Ventil.
„Ich bin kein Mechaniker. Jedenfalls kann ich das Schiff nicht mehr richtig steuern.“ Das klang, als hätte er aufgegeben.
„Das hintere Frachtmodul lösen. Sofort das Frachtmodul lösen.“ schrie Eric. Der Pilot zögerte kurz und drückte dann die entsprechenden Tasten. Es war deutlich zu hören, wie sich die Klammern öffneten.
Die Entscheidung das Frachtmodul abzuwerfen hatte ihnen das Leben gerettet. Sie hörten zwar die Explosion nicht, aber die Wrackteile, die gegen die Außenwand schepperten, waren deutlich zu vernehmen. Ein größerer Brocken krachte in das Steuerbordtriebwerk und brachte das komplette Schiff ins Trudeln. Dina und Eric zog es sofort die Beine weg. Während sie so geistesgegenwärtig war sich an der Konsole festzuhalten, stürzte er regelrecht Richtung Seitenwand. Mit schmerverzerrtem Gesicht rappelte sich Eric mühsam hoch, aber die Rotation verhinderte ein normales Stehen. Auf Knien hockend, versuchte er sein Gleichgewicht zu stabilisieren.
Scheinbar wahllos tippte der Pilot auf der Konsole herum und es war schwer den Sinn in seinem Tun zu erkennen. Es dauerte etwa eine Minute, bis er das Trudeln durch die Zündung des Backbordtriebwerkes ausgeglichen hatte.
„Cleveres Mädchen.“ kommentierte Eric mit schmerzverzerrtem Gesicht Evas Platz auf dem Kommandosessel. Sie hatte es geschafft sich vor dem Aufprall auf Odins Thron anzuschnallen.
„Das rechte Triebwerk ist komplett weg. Wir sind manövrierunfähig. Jetzt können sie uns den Rest geben.“ Wieder diese Resignation durch den Piloten.
„Die haben ihre eigenen Probleme. Schaut mal darüber.“ Dina zeigte durch eine der Luken. Reds Schiff taumelte durchs Weltall, aufgespießt von den Resten des Frachtmoduls, dass schon ihr Triebwerk auf dem Gewissen hatte. Wie ein Zahnstocher, der im Rumpf des Schiffes steckte, drehte sich die neue Konstruktion um ihre eigene Achse.
„Verdammt.“ fügte sie bedauernd hinzu. Eva konnte es sich nicht verkneifen ihre Neugier zu befriedigen.
„Um wen tut es dir Leid? Um Red? Das du ihm nicht persönlich die Kehle durchschneiden konntest oder um Balta.“ Sie hatte eine Option vergessen.
„Vielleicht ist es ja auch Sentry.“ ergänzte sie. Ein unmerkliches Zucken ging über Dinas Gesicht.
„So oder so. Es ist vermutlich vorbei.“ Sie wirkte ihrer Antriebsenergie beraubt. Jetzt, wo mit hoher Wahrscheinlichkeit ihre Rache kein Thema mehr war, wirkte sie ein wenig entmutigt.
„Die Polizei wird uns zur Yuma-Station schleppen.“ unterbrach der Pilot ihre Gedanken.
„Was werden die mit uns machen? Immerhin haben wir das Schiff gekapert?“ fragte Eric.
„Ich rede mit dem Kapitän. Werde ihn schon überzeugen.“ Dina klang drohend und verschwand in der Tür. Eva folgte ihr vorsichtshalber.
Odin und seine gefesselte Mannschaft hatte es übel erwischt. Während Thor mit gebrochenem Genick tot in einer Ecke lag, hatte Colt das zweifelhafte Glück zweier gebrochener Beine. Jammernd, in einem Zustand zwischen Bewusstlosigkeit und Schmerz, lag er hilflos fast mittig im Raum. Auch Odin war übel dran. Schwere Kopfverletzungen zierten sein Gesicht, zudem waren beide Handgelenke auf Grund der Fesseln gebrochen. Trotz all der Schmerzen fluchte er über die Überreste seines Schiffes, über Dina und natürlich den Verlust seines Kommandos. In Eva lief der Automatismus der Hilfestellung an. Sie brauchte eine Weile, ehe sie den Erste-Hilfe-Kasten in einer der Schränke gefunden hatte. Mühsam versuchte sie die Blutung einer Platzwunde an Odins Kopf zu stillen. Obwohl er ihr in der Vergangenheit nicht wohl gesonnen war und sie jetzt auch noch mit verschiedenen Verwünschungen belegte, konnte Eva die Hilflosigkeit nicht ignorieren. Ihr medizinisches Wissen beschränkte sich auf Kleinigkeiten, die sie im Tempel erlernt hatte. Nichts, was ihr hier bei der Schwere der Verletzungen weiterhelfen würde. Trotzdem gab sie ihr Bestes.
Dina befreite sie von den Fesseln, nicht ohne den beiden Überlebenden eine Drohung mitzugeben, dass in der Ecke von Thor noch Platz für weitere Leichen wäre. Eva versorgte die kleinen Wunden notdürftig. Als sie Dina darauf hinweisen wollte, dass ärztliche Hilfe unabdingbar wäre, sah sie diese im Medizinschrank nach Medikamenten suchen.
„Kennst du dich damit aus?“ fragte Eva.
„Ich suche ein Narkotikum. Die Polizei wird uns jeden Moment abschleppen und sobald wir auf der Station sind, wird Odin nicht zögern uns ans Messer zu liefern.“
„Temazepam. Das ist ein Schlafmittel soweit ich weiß, aber ich weiß nicht, welche Wirkung es in Zusammenhang mit Verletzungen hat. Wir sollten das lieber nicht tun.“ warnte Eva.
„Welche Dosierung?“ ignorierte Dina ihre Einwände. Sie gab Odin eine Kapsel und die Wirkung ließ nicht lange auf sich warten.
Das Schleppen dauerte etwa eine Stunde. In der Zeit schüchterte Dina den Piloten soweit ein, dass er vermutlich für alle Ewigkeit kein Wort mehr gesagt hätte. Ihr Plan war es, so kurz wie möglich auf der Yuma-Station zu verweilen. Sie würden ein paar Fragen der Polizisten beantworten, in der Hoffnung, diese davon zu überzeugen, dass sie lediglich als harmlose Passagiere in einen Konflikt zweier rivalisierender Schiffe geraten waren. So schnell wie möglich wollten sie auf eines der Exson, um dort unterzutauchen. Was danach kam, wusste keiner. Ihr Schicksal war unbestimmt, aber das, was sie auf Yuma gesehen hatten, war genug Antrieb für eine beschleunigte Weiterreise. Für ihr Vorhaben brauchten sie Ersatzteile, die sie gegen Jetons wechseln konnten. So ging Einiges aus Odins Schiff in ihren Besitz über und das schlechte Gewissen über die Plünderungen beruhigten sie mit der Annahme, dass dieser Untersatz keinen Meter mehr selbstständig fliegen würde. Sogar ein Teil auf Gerdas Liste fanden sie und steckten es ein.
Die Polizei interessierte sich weniger für sie, als sie befürchtet hatten. Ihr Interesse lag bei dem Angreifer, da dort mit Strafen etwas zu holen war. Da sie Odin und seinen Leuten medizinische Versorgung zu kommen lassen mussten, befürchtete die Verwaltung von Yuma weitere Wohltaten für Dina, Eva und Eric. Daher waren sie froh, als diese so schnell wie möglich weiter wollten. Vor der eigentlichen Abreise wurden sie von dem leitenden Polizisten zurückgehalten.
„Da wäre noch eine Sache.“ kam er ohne Umschweife zum Punkt. Eric geriet in Panik, so dass Eva sich gezwungen sah ihren Körper zwischen ihm und den Beamten zu bringen, damit kein Verdacht auf schlechtes Gewissen entstand.
„Was denn noch? Wir müssen unsere Fähre erwischen.“ Dina wirkte gelassen.
„Sie können in einer halben Stunde die nächste nehmen. Wir müssen protokollieren, ob sie die Toten kennen. Reine Formsache, denn ich glaube nicht, dass sie wissen, wer sie angegriffen hat.“
„Reicht es, wenn einer von uns mitkommt?“ Dina hatte schnell begriffen, dass der Anblick von Sentrys und Baltas Leiche ungewünschte Reaktionen bei den Anderen hervorrufen würden.
„Ja. Ich denke das geht klar.“ erwiderte der Beamte in der Annahme, dass der Anblick von Leichen nicht jedermanns Sache war. Dina folgte ihm und Eva bestand darauf sie zu begleiten. Sie wollte sich von Sentry verabschieden. In den vergangenen Wochen war er ein Teil ihres neuen Lebens geworden und sie wollte die Möglichkeit nicht ausschlagen einen allerletzten Blick auf ihn zu werfen. Eric verblieb in der Bar und wartete auf ihre Rückkehr.
Sie wurden in einen Teil der Station geführt, der ausschließlich für administrative Angelegenheiten bestimmt war. Vorbei an Büros von Buchhaltung und Einkauf, der für die lebenswichtigen Ressourcen der Station zuständig war, zu den eher klein wirkenden Räumen der hiesigen Polizei. Ihnen wurde auf den Weg dorthin erklärt, dass nicht viele Verbrechen die Station heimsuchten und dass die Hauptaufgabe darin bestand gelegentliche Zwistigkeiten der verschiedenen Bergungsschiffe zu entschärfen, die auch schon mal, wie in dem vorliegenden Fall, in Waffeneinsatz enden.
„Wir haben vier Leichen, wovon aber nur eine bei uns registriert ist. Der Abgleich mit den Daten von den Exsons läuft noch, obwohl gerade nur zwei hier in Yuma sind. Selbst wenn wir dort Informationen bekommen, sind die vermutlich mehr als spärlich. Sie kennen die Registrierung, die ist ein Witz. Auch über das Schiff ist uns nur soviel bekannt, dass es mit dem Exson von Lassik rüber kam.“ Er schaute die beiden Mädels an, als würde ihm gerade ein Zusammenhang auffallen.
„Ihr Freund hat ein ziemlich breites Kreuz. Stammt er von Lassik?“ Dina blieb cool.
„Ja tut er. Wir sind vermutlich mit demselben Transport gekommen.“ sagte sie so beiläufig wie möglich.
„Na so ein Zufall.“ Er musterte sie kurz, schnappte sich ein paar Dokumente und forderte sie auf in den Kühlraum zu folgen.
„Also drei Leichen. Den Anblick des Bekannten will ich Ihnen ersparen. Fangen wir mit dem armen Tropf an. Irgendjemand hat ihn kastriert. Wir haben ihn angeschnallt in seinem Sitz gefunden, trotzdem hat es ihm das Genick gebrochen, weil seine Kopflehne falsch eingestellt war.“ Dina erkannte ihn sofort. Es war Olof. Als Strafe für das Verlangen nach Lisa hatte ihm Red seiner Männlichkeit beraubt. Eine extreme Vorsichtsmaßnahme für weitere weibliche „Gäste“ auf dem Schiff. Dina versicherte glaubhaft den Mann noch nie vorher gesehen zu haben.
Die anderen beiden Leichen waren Dina wirklich unbekannt. Sie wusste nicht, wer die Männer waren. Zur Bestätigung, dass nicht doch Sentry oder Balta unter dem vierten Leinen lagen, ließ sie sich auch noch das letzte Opfer zeigen. Sie hatte gehofft das Red da tot vor ihr lag, aber als sie in das für sie unbekannte Gesicht schaute, war sie froh, dass er es nicht war. Damit bekam ihre Rache neues Futter.
„Ein bekannter Pirat und Plünderer. Ist schon mehrfach bei uns in Erscheinung getreten. Wir dachten eigentlich er verrottet auf irgendeinem Planeten. Das war es nun endgültig.“ Dina reimte sich die Geschichte zusammen, als der Beamte das Leinen wieder über die Leiche zog. Reds Wrack hatte sicherlich Plünderer angezogen und sollte er überlebt haben, hat er vermutlich mit ihnen gerechnet und ihnen eine Falle gestellt. Das Ergebnis lag vor ihr. Drei tote Plünderer, die ihr Schiff unfreiwillig an Red abgetreten haben. Aber wo waren Sentry und Balta? Vermutlich mit auf dem neuen Schiff.
„Gab es Überlebende?“ fragte Eva, bevor Dina ihre Gedanken zu Ende brachte.
„Ja. Das Schiff hatte Passagiere. Wir prüfen gerade ihre Daten.“ Die Mädels konnten ihre Freude nicht verbergen, zu groß war die Tatsache, dass die beiden noch leben.
„Was passiert mit ihnen?“ Dina hatte sich zuerst wieder unter Kontrolle und fragte so beiläufig wie möglich.
„Sobald wir festgestellt haben, dass gegen sie nichts vorliegt, werden sie gegen Zahlung einer Geldstrafe wieder entlassen.“
„Können wir sie sehen? Wir sind mit zwei Männern gemeinsam hier angekommen. Unsere Wege trennten sich dann aber.“
„Ich erinnere mich an ihre Gruppe. Den meisten sind nur Sie beide in Erinnerung geblieben, aber ich weiß, dass sie zu fünft waren. Es sind ihre Bekannten, die wir hier haben. Leider kann ich Sie nicht zu ihnen lassen. Die Vorschriften wissen Sie.“ Eva konnte ihre Freude kaum zurückhalten. Eine Mischung aus Erleichterung, dass die beiden noch leben und der Tatsache, dass Sentrys Selbstfindung weitergeht und damit auch ihre derzeitige Mission eine Fortführung erfährt.
„Können wir ihnen wenigstens eine Nachricht zukommen lassen?“ Dina wartete die Antwort gar nicht erst ab, sondern kritzelte etwas auf Gerdas Zettel und gab es zusammen mit einem Jeton dem Beamten. Ein Satz stand auf dem Zettel. Ich schulde dir ein Bier.
„Geben Sie es dem Weißen.“ Damit verabschiedete sie sich und gemeinsam mit Eva machten sie sich auf Richtung Abflughangar. Eric erwartete sie schon ungeduldig und unter den Blicken sämtlicher neidischer Männer, verließ er mit ihnen die Station.
Die Polizisten nahmen die beiden nicht besonders freundlich in Empfang. Als sich die Tür der Rettungskapsel öffnete, standen zwei Beamte mit gezogenen Waffen vor ihnen. Mit erhobenen Händen und so unschuldig wie möglich dreinschauend, fügten sich Balta und Sentry in ihr Schicksal. Beide waren so müde, dass sie zu keinerlei Gegenwehr im Stande wären. Sie wurden abgeführt und in eine der Gefängniszellen gebracht. Nach einer Stunde wenig erholsamen Schlafes, gab es dann die erste Vernehmung. Drei Tatsachen unterstützten die Überzeugung, dass sie nur harmlose Passagiere waren. Einerseits Baltas eloquentes Geschick den Behörden klar zu machen, dass sie für diesen Transport bezahlt hätten und nur durch dumme Umstände in den Konflikt hinein geraten wären. Da sie registrierte Besucher auf Yuma waren, wurde ihre Geschichte einen privaten Transfer gebucht zu haben, glaubhaft angenommen. Zum anderen gab es den Fakt, dass die eigentlichen Besitzer mit einem Plünderungsschiff entkommen waren. Wesentlich beigetragen zu ihrer Unschuld hatte aber die Tasche, die Sentry auf dem Planeten fand. Ihr Inhalt enthielt eine Mischung aus Strafe und Bestechungsgeld und förderte weiter ihre Freiheit. Trotzdem mussten sie weitere zehn Stunden im Gefängnis verbringen, was ihnen gut passte, da sie hier ihre Batterien wieder aufladen konnten.
Sentry hatte was Neues über sich erfahren und das raubte ihm vorerst den erholsamen Schlaf. Eine weitere seiner ungeliebten Fähigkeiten wurde ihm offenbart. Er konnte sie nicht testen, da er nicht in der Lage war sie zu aktivieren. Nachdem er hörte, um was es dabei ging, fehlte ihm jegliche Motivation dahingehend. Wie er schon vermutet hatte, handelte es sich um Technologien, die für Supersoldaten entwickelt wurden. Nach und nach wollten die Vorfahren die Nanotechnologie einsetzen, um bestimmte Körperfunktionen zu verstärken oder zu beschleunigen. Die Selbstheiler waren die ersten, die sie erfolgreich umsetzen konnten. Ein halbes Jahrhundert Forschungsarbeit war notwendig gewesen, um sie zu dem zu machen, was er heute in sich hatte. Unzählige Versuchsopfer wurden durch Misserfolge in Krüppel verwandelt oder im besten Falle ereilte sie ein schneller Tod. Unglaublich wie skrupellos die Vorfahren damals Menschenversuche tolerierten. Irgendwann hatten sie es und die Basis war gelegt für weitere Funktionen. Von da an war es deutlich einfacher die Nanotechnologie auf weitere Fähigkeiten auszuweiten. Ganze zwei Jahre waren noch notwendig für die Entwicklung der Türöffner. Gegen wen diese Art von Soldaten eingesetzt werden sollten, war unklar, aber die Vermutung, dass sie ein Mittel gegen diese unbekannte Macht sein könnten, verstärkte sich, als die große Katastrophe über die Menschheit herein brach. Kurz nachdem eine dritte Fähigkeit entwickelt wurde, die auf den ersten Blick total sinnlos erscheint.
Offiziell war es eine Kommunikationstechnologie. Lautlos sollten die einzelnen Soldaten untereinander Signale austauschen. Dies sollte über die Reizung von einzelnen Nervenimpulsen erfolgen. Ein Jucken im linken kleinen Zeh bedeutete vielleicht Angriff, während der rechte Zeigefinger mit dem Signal Rückzug verbunden war. Auf die Art und Weise sollten Operationen koordiniert werden. Jeder einzelne Nervenimpuls konnte mit einem zugehörigen Signal in Verbindung stehen und da alle Nerven gereizt werden konnten, ging die Signalübertragung gegen unendlich.
Baltas Theorie ging in eine andere Richtung. Den Vorfahren waren ihre eigenen Waffen nicht mehr geheuer. Da sie planten weitaus gefährlichere Funktionen zu entwickeln, suchten sie nach einem Abschaltknopf, falls die Nanotechnologie gegen sie zum Einsatz kommen würde. Für sie war es unabdingbar die Kontrolle über die Soldaten zu behalten. In Sentry hatte sich das Bild einer Fernbedienung eingebrannt, die ihm unendlich viele Schmerzen zufügen konnte oder ihn bestenfalls wie eine Maschine komplett lahm legte. Keine Ahnung wie die Reichweite solcher Nervenreizung war, aber allein das es sie gab und vermutlich immer noch einsetzbar war, versetzte ihn in eine Art Grundangst. Der Besitzer solch einer Technologie würde ihn unter Kontrolle haben. Vielleicht hatte er auch Glück und sie waren nicht Bestandteil seiner Femtos, aber er musste sich selber eingestehen, dass er sich damit etwas vormachte. Die Wahrscheinlichkeit war ziemlich hoch, dass sie durch seine Blutbahn kreisten, darauf wartend, ihre unheilvolle Funktion auszuführen.
Mit diesen Gedanken gepeinigt, dauerte es ganze zwei Stunden, bevor die Regeneration in Form von Schlaf einsetzen konnte. Nach dem Wecken hatte er das Gefühl nicht länger als zehn Minuten geschlafen zu haben. Erst die Uhr gegenüber seiner Gefängniszelle belehrte ihn eines Besseren. Zum Glück ließ man ihm die Zeit, um vollends in die Realität zurückzukehren und das Urteil vollständig zu erfassen. Die Anklage lautete „Beteiligung an verbotenen Kampfhandlungen“ und obwohl weder Richter oder Anwalt anwesend waren, wurden sie schuldig gesprochen. Die Strafe betrug genau den Gegenwert der Habseligkeiten, die sie bei sich hatten, so dass ihr mühsam erkämpftes Ersatzteil für Gerda dahin war. Mit sofortiger Wirkung wurden sie ausgewiesen und in der Richtung hatten sie Glück. Von den zwei Exsons die gerade im System waren, traf ihre Verbannung genau jenes, welches in Richtung Cayuse unterwegs war. Mit genau soviel Taschengeld ausgerüstet, dass sie dort sicher ankommen würden, verließen sie die Station.
Freundlich drohend, so empfand es Sentry, als er von dem Beamten an der Transportfähre verabschiedet wurde. In jedem Wort schwang der warnende Unterton mit, hier nicht mehr aufzukreuzen. Obwohl alle Beteiligten wussten, dass keinerlei Schuld durch Balta oder Sentry vorlag, nutzten die Behörden die Anklage, um günstig an Ersatzteile zu kommen und sich unerwünschter Personen zu entledigen. Ein Gefängnisaufenthalt würde nur unnötige Ressourcen verschwenden und eine Hinrichtung wegen Kriegstreiberei würde all jene abschrecken, die es zwar verdient hätten, aber notwendig für die Versorgung in Krisenzeiten geworden waren. Die traurige Wahrheit war, man musste sich arrangieren mit Schmugglern und Piraten, denn der nächste Mangel kam bestimmt.
Sentry war schon fast auf der Fähre, als ihm einer der Beamten einen Zettel zu steckte. Das Gefühl unglaublicher Glückseligkeit durchflutete ihn, als er den einzigen Satz las. Nach der Versicherung, dass auch Eva und Eric wohlauf waren und die Station vor ein paar Stunden sicher verlassen hatten, hätte ihm kein Meißel der Welt das Grinsen aus dem Gesicht hämmern können. Die Vorfreude auf die drei war riesig. Das sein Abenteuer weiter gehen würde war klar, nur hatte er mit erschwerten Bedingungen gerechnet. Jetzt war alles wieder beim Alten und der zeitweise Verlust zeigte ihm erst auf, was er an der Gruppe hatte.
Die Überfahrt konnte ihm nicht schnell genug gehen und als das Exson im Sichtbereich auftauchte, steigerte sich seine Ungeduld. Das Ei wurde größer und die Ringe deutlich erkennbar. Diesmal würden sie nicht an der „verruchten Braut“ andocken. „Der heilige Gral“ ließ Spielraum für alle möglichen Interpretationen, aber im Endeffekt drückte es nur die konservative Lebensweise ihrer Bewohner aus. Kein lockerer Lebensstil sondern Effizienz und Glaube an die Optimierung der vorhandenen Gegebenheiten. Die Vorfahren wären stolz auf die Bemühungen, wenn auch alles in viel kleineren Bahnen ablief.
Er erkannte das blond sofort. Es hatte weniger Rotstich als bei Dina, aber trotzdem fiel es in der Menge der Wartenden auf, so dass er nach der Ankunft nicht lange nach dem Begrüßungskomitee suchen musste. Sie hatten abwechselnd die Fähren empfangen und es war an Eva, die das Glück hatte, bei ihrer Ankunft auf die beiden zu stoßen. Sentry konnte nicht anders, er musste sie umarmen. Auch wenn sie kühl und reserviert wirkte, hatte er nicht das Gefühl, dass es ihr unangenehm war. Sie zeigte die Freude auf ihre Weise, auch wenn er meinte, dass Balta eine größere Portion Zuneigung von ihr bekam. Ein wenig Neid schwang mit, denn auch Dina würde vermutlich sich über Baltas Auferstehung mehr freuen, als über seine. Verdammter Frauenliebling.
Eva klärte sie über die Umstände auf. Sie hatten mit der Plünderung von Odins Schiff einen guten Schnitt gemacht. Leider hatten sie nur eins der geforderten Ersatzteile dabei, umso ärgerlicher fand es Sentry, dass sie ihr Beutestück bei den Behörden von Yuma lassen mussten. Immerhin hatten sie sich gegen Radioaktivität, Riesenspinnen und Red durchsetzen müssen. Zwei Quartiere auf Habitatring 2 waren für die nächsten fünfzig Stunden gebucht, denn soviel Zeit war noch bis zum Sprung nach Cayuse. Von da an würden sie es rechtzeitig bis zum vereinbarten Treffpunkt schaffen. Sollte Gerda mit dem einen Ersatzteil nicht zufrieden sein, gäbe es eine gute Chance andere Schiffe zu chartern, die sie vielleicht nach Cree oder zur Science bringen würden. Sentry hatte sich immer noch nicht entschieden und versuchte auch gar nicht mehr die Für und Wieder gegeneinander abzuwägen. Es würde eine Bauchentscheidung werden oder das Schicksal würde ihn in eine Richtung drängen, die keine andere Alternative mehr zuließ.
Sie trafen den Rest der Gruppe in einer der wenigen Bars auf dem Exson. In guter alter Tradition stritten sich Dina und Eric über belanglose Dinge. Sentry hatte den Eindruck, dass Eric seine Zurückhaltung gegenüber ihr immer mehr aufgab und öfter mit teils blöden Argumenten zurück schoss. Immerhin überließ er ihr nicht mehr kampflos das Schlachtfeld, obwohl er ihr immer noch heillos unterlegen war.
Sentry wäre jede Wette eingegangen, dass die Freude Balta am Leben zu sehen größere Priorität bei Dina hatte, als seine eigene Unversehrtheit. Umso größer war seine Verwunderung, als sie auf ihn zugestürzt kam, ihn umarmte und mit einem ehrlichen Lachen begrüßte. So hatte er sie noch nicht erlebt. Jetzt wurde ihm so richtig bewusst, dass Dina sich in seiner Gegenwart verändert hatte. Nicht ohne Stolz einen guten Einfluss auf sie ausgeübt zu haben, erinnerte er sich an die Worte Baltas, die er damals nicht glauben wollte. Sie war nicht mehr die Einzelkämpferin, sie brauchte die Gruppe genauso wie er und das hatte nicht nur mit ihrer Rache zu tun. Mittlerweile waren sie keine reine Zweckgemeinschaft mehr. Sie hatten einen tiefen sozialen Zusammenhalt entwickelt.
Ihre finanzielle Situation war gut, sie hatten wenigstens eins der Ersatzteile in ihrem Besitz und sie waren auf dem Weg nach Cayuse. Trotzdem war der Beinahe-Tod aller Anwesenden das vorwiegende Gesprächsthema und drückte auf die Stimmung.
„Wir hatten alle verdammt viel Glück gehabt.“ brachte es Sentry auf den Punkt.
„Wenn wir keine Risiken eingehen, kommen wir nie ans Ziel. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass einer von uns irgendwann auf der Strecke bleibt.“ Balta trug damit nicht zur Aufheiterung bei.
„Vielleicht ist ja das Risiko zu hoch. Schon mal nachgedacht, dich auf einen der Planeten niederzulassen, gelegentlich deine Fähigkeiten zu nutzen und ein einfaches Leben zu führen?“ beteiligte sich Eva erstmals aktiv an Diskussionen.
„Das würde nicht funktionieren. In einer Welt in der Technik die Nahrung der Gierigen ist, bin ich sozusagen der Sonntagsbraten. Außerdem gibt es da jemanden, den ich finden muss.“ erwiderte Sentry niedergeschlagen. Er hatte diese Option wirklich noch nicht in Betracht gezogen. Sie klang verlockend. Mit einer Frau und ein paar Kindern einer geregelten Arbeit nachgehen und den ganzen Mist ignorieren. Sie würden ihn nicht in Ruhe lassen. Nie und nimmer. Dieser Teil würde ihm versagt bleiben, wenigstens solange er diese Biester in sich hatte. Selbst wenn er sie loswerden würde, war nicht sicher, dass er seine Ruhe hätte.
„Balta hat Recht. Ich habe keine Wahl, aber alle Anderen können ihrer Wege gehen. Die Ereignisse haben gezeigt, wie hoch das Risiko ist, dass jemand stirbt. Ich sollte das alleine machen.“ Sentry blickte so neutral wie möglich in die Runde. Insgeheim hoffte er, dass keiner ihn verlassen würde, aber der mögliche Tod einer seiner Gefährten weckte zwiespältige Gefühle in ihm.
„Ich weiß nicht, was ich sonst machen soll.“ Überraschenderweise war es Eva, die zuerst ihren Kommentar abgab.
„Ich habe bisher soviel verkehrt gemacht. Das erste Mal habe ich das Gefühl wirklich auf dem richtigen Weg zu sein. Obwohl ich nicht weiß, wo er hinführt.“ So viel Offenheit waren sie von ihr nicht gewohnt.
„Und ich komm immer noch am besten über dich an Red ran.“ Auch Dina würde bei ihm bleiben. Sentry schaute sie an, als erwarte er noch mehr.
„Irgendwann musst du uns mal erzählen, was zwischen euch beiden genau vorgefallen ist.“ sprach Balta die Worte aus, die sich Sentry nicht traute zu sagen.
„Wenn dieser Scheißkerl nicht mehr unter uns weilt.“ antwortete Dina in Gedanken an längst vergangene Geschichten versunken. Sentry erinnerte sich an die Nachwirkungen des „yellow nightmare“. Die Vergewaltigung, an Ned und an die Tochter. Er ahnte, was sich da abgespielt haben könnte. Eines Tages wäre sie bereit für ihre Leidensgeschichte.
„Ich habe auch keine große Wahl. Bleibst nur noch du.“ Balta wandte sich an Eric.
„Also. Ähh…“ Er war ein wenig überrascht, dass das Thema so schnell auf ihn kam.
„Deinen Laden könntest du sicherlich auch auf einer anderen Welt wieder eröffnen.“ schlug ihm Balta vor. Eric schaute rüber zu Eva.
„Noch will ich nicht zurück in mein altes Leben.“ Damit war klar, dass ihr Weg gemeinsam weitergehen würde.
XVI
„Der Optimist hat nicht weniger oft unrecht als der Pessimist, aber er lebt froher.“
José Andreo Rivel
Sie war von einer Aufbruchsstimmung getragen, die sie zuletzt im Tempel erfahren hatte. Das Misstrauen gegenüber ihren eigenen Gefühlen hatte diesmal keine Chance ihren Enthusiasmus zu dämpfen. Eva hatte es offen ausgesprochen, sie war auf einem guten Weg und da sie es allen verkündet hatte, schien ihr Vertrauen in die eigenen Entscheidungen zurückzukehren. Der Nachweis, dass sie ein wesentlicher Bestandteil der Gruppe ist, war mit dem Kapern von Odins Schiff erbracht worden. Sie war über ihre Grenzen gegangen und es fühlte sich richtig an. Mehr noch. Sie konnte den Verrat am Tempel nun richtig einordnen. Kein Verrat, eine Notwendigkeit. Zum ersten Mal in ihrem Leben schaute sie auf eine vergangene Entscheidung zurück und war sich sicher keinen Mist gebaut zu haben. Ein gutes Gefühl. Etwas, an das sie sich gewöhnen konnte und mittlerweile hatte sie jenes Gemeinschaftsgefühl, was ihr der Führer damals mit seinen Tricks vorzugaukeln versuchte. Keine Zweifel, keine Angst vor irgendjemanden. Diese Gruppe gab ihr das, was sie seit Jahren verzweifelt vermisst hatte. Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten.
Trotzdem nagte etwas an ihr, das jetzt, nach diesem gewaltigen Schub Selbstvertrauen, an die Oberfläche drängte und um Klärung bettelte. Ignorieren konnte sie es nie und der verzweifelte Versuch es in die hintersten Windungen ihres Gedächtnisses zu verdrängen, scheiterte spätestens in jenem Augenblick, indem sie Odin ihre Waffe vorhielt. Die Exekution von Dirk würde immer Bestandteil ihres Lebens bleiben und noch wusste sie nicht, wie sie damit umgehen sollte. Nachdem sie zugegeben hatte, dass sie keine andere Alternative sah, als Sentry weiterhin zu begleiten, war es als fiele eine Last von ihr. Sie merkte, dass er erleichtert war über den gemeinsamen weiteren Weg. Den selben Effekt erhoffte sie sich bei einer Aussprache über ihre größte Pein, die sie einen Leben lang quälen würde. Es dauerte eine Weile, bis sie ihn allein erwischte. Sie nahm ihren Mut zusammen und sprach ihn an.
„Ich würde gern mit dir reden.“ Es war ihr unmöglich diese Worte ohne große Bedeutung auszusprechen. Er lächelte sie an und egal was sie jetzt sagen würde und auch egal was er antworten würde, das Gespräch wird auf Augenhöhe stattfinden. Auch das war eine Premiere. Bei keinem Mann war sie sich bisher so sicher der Dinge, die sie tun oder sagen würde.
Sentry war froh, das sie sich öffnete. Die vergangenen Ereignisse gingen auch an ihr nicht spurlos vorüber. Auch sie hatte sich zum positiven entwickelt, gegenüber Dina aber ohne sein Zutun. Irgendwas in der Vergangenheit musste sie ziemlich gebrochen haben, aber sie war stark genug die Geschehnisse um ihren Vater, Führer und Schwester zu verarbeiten. Sie brauchte nur Zeit. Sie hatte einen grundlegend guten Charakter. Eine Eigenschaft, die ihn vor dem sicheren Tod im Tempel bewahrte. Von seiner Seite aus hatte sich nichts geändert. Er würde ihr ewig dankbar sein und er hoffte, dass er sich eines Tages revanchieren könnte, für die Errettung seines Lebens. Sie war ein wesentlicher Grund dafür, dass er überhaupt noch im Spiel war.
Eva zögerte. Der Einstieg wollte ihr nicht so Recht gelingen. Ihre Gedanken überschlugen sich.
„Ich bin mir unsicher, über meine eigene Selbstkontrolle.“ Die Worte kamen ihr wahllos aus einem Meer von tausend Gedanken über die Lippen.
„Ich habe gegen meine Natur gehandelt. Ich habe …“ sie brach ab, als würde das Aussprechen der Wahrheit ihr Wehtun. Das tut es vermutlich auch, aber deswegen war sie hier. In ihrem Inneren wusste sie, dass sie diesen Schmerz ertragen musste, um sich auf Dauer besser zu fühlen.
„Ich habe getötet.“ Die Bilder von Dirks Gesicht kamen wie auf Stichwort in ihr hoch. Als hätte jemand die Wiederholungstaste in ihrem inneren Aufzeichnungsgerät gedrückt. Jedes noch so kleine Detail drückte auf ihre mentale Stabilität. Wie sie da stand, mit ihrem Leben abschloss, weil sie unfähig war abzudrücken. Was dann passierte, verstand sie bis heute nicht. Es war der Augenblick, indem sie sich vom rational denkenden Menschen in ein primitives, ums Überleben fürchtendes Wesen wandelte. Sie war nicht sie selbst oder war es genau das was sie ausmachte. Wenn Instinkte das Handeln übernehmen, zeigt sich dann der wahre Charakter?
„Du hast das Richtige getan.“ versuchte Sentry sie zu ermuntern.
„Du verstehst es nicht. Natürlich war es das Richtige, aber ich wollte es nicht. Ich stand da und war bereit für meinen Tod. Etwas in mir, etwas Primitives zwang mich dazu weiter zu leben. Seitdem habe ich Angst vor diesem Dämon. Angst, dass er Dinge tut, die ich nicht will.“ Sentry verstand sie nur zu gut, aber er sah sich außer Stande ihr das klar zu machen. Auch er hatte diese schizophrene Persönlichkeit, die für ihn die Femtos steuerte, wenn er zu zögerlich agierte. Aber ihr Kampf war nicht aussichtslos und er wusste, wie er ihr helfen konnte.
„Wir alle haben diesen Dämon in uns. Er ist Teil unserer Persönlichkeit. Die meisten von uns bekommen ihn nie zu Gesicht. Er agiert im Hintergrund und beeinflusst uns eher unbewusst in unserem Handeln. Aber er ist da und gelegentlich ist er ganz nützlich für uns. Wir brauchen ihn, um stark zu sein, sollten ihm aber nie zu sehr Leine geben. Du hast das Richtige getan, in dem du die Leine einfach los gelassen hast. Das hat uns allen das Leben gerettet. Dadurch, dass du so brutal mit deiner bösen Seite konfrontiert wurdest, hast du etwas über dich selber gelernt. Odin hat überlebt, weil du dein instinktives Ich nun besser unter Kontrolle hast. Die Angst vor deinem Dämon kann ich dir nicht nehmen, aber ich bin mir sicher, dass deine Kontrolle über ihn, nun da du weißt zu was er im Stande ist, stärker geworden ist. Du bist ein anständiges Mädel und genau aus dem Grund, weil du dir Sorgen machst es könnte dich negativ verändern, hast du nichts von diesem Anstand verloren. Ganz im Gegenteil. Wie du schon sagst. Diesmal bist du auf dem richtigen Weg.“
An ihrer Reaktion konnte er ablesen, dass er sie wenigstens zum überlegen gebracht hatte. Eine willkommene Pause, um seine eigenen Erfahrungen einzuflechten. Er erzählte ihr von der Sicherheitskontrolle auf Lassik. Mit ähnlichen Worten erklärte er die Übernahme durch seine andere Hälfte der schizophrenen Persönlichkeit, die in ihm steckte. Die Angst, die er dabei spürte und die Hoffnung, dass er von diesem Teil nicht irgendwann ausgelöscht wurde. Mit diesen Gemeinsamkeiten schaffte er es das zaghafte Band zwischen ihnen weiter zu festigen. Er spürte sogar ernsthaftes Vertrauen. Mittlerweile funkten sie auf derselben Wellenlänge und diese Momente, die er sich erhofft hatte nachdem er erfuhr, dass sie noch am Leben war, sie bündelten sich zu diesem ernsthaften Gespräch.
Eva erkannte sich selbst nicht wieder. Sie redete einfach drauf los. Nicht das es Geplapper wäre, nein sie spürte aufrichtiges Interesse an ihrer Lebensgeschichte. Gelegentlich hakte er nach und streute Erfahrungen aus seinem kurzen Leben mit ein, die genau zu dem passten, was sie gerade anbrachte. Wie zwei Bausteine, die perfekt zu einander passten. Diese Qualität in Gesprächen war ungewohnt für sie. Sie redete über ihre Kindheit, ihre Mutter und die Katastrophen, die nach ihrem Tod eintraten. Verrückt, wie locker ihr die Worte über die Lippen kamen. Drei Stunden, ohne peinliches Schweigen oder größere Pausen. Ein Thema ging ins Andere über und am Ende musste sie sich selber eingestehen, dass sie sich ein wenig verguckt hatte in ihn. Sie musterte sein Gesicht, bemerkte sein unbändiges Haar, was nach einem Friseurbesuch schrie und nahm bestimmte Gesten war, die ihr vorher nicht auffielen. Gefühle in die Richtung konnte sie sich nicht leisten. Es war weder der Zeitpunkt, noch war es eine gute Idee. Das alles würde nur Komplikationen bringen, also gab sie der rationalen Eva wieder die Oberhand und schob diesen Anflug von Schwärmerei in die hinterste Ecke. Nicht ohne ein bisschen Wehmut.
Sentry fühlte sich gut. Das gerade Erlebte war genau eines dieser Leuchtfeuer, die ihm in der Dunkelheit seiner Existenz zum weiter machen motivierte. Er hätte mit ihr noch ewig reden können, aber die Ankunft Erics mit seiner offensichtlichen Eifersucht, brachte ihn zurück in die graue Realität. Er wollte etwas von ihm und da sie sich im Quartier der Männer befanden, verließ Eva den Raum, was beiden Hinterbliebenen die Stimmung vermieste. Kein guter Einstieg für die nächste Unterhaltung.
„Ich brauche dich.“ sagte Eric trocken und legte zwei Datenspeicherkarten auf den einzigen Tisch des Raumes. Wertloser Plunder, den Balta auf Yuma-Prime eingesteckt hatte und den selbst die Polizei nicht konfisziert hatte. Wie ein kleines Kind, was quengelte, hatte ihm Balta eine Ablenkung gegeben.
„Ich will wissen, was da drauf ist, aber die Daten sind genetisch verriegelt.“ Immer noch kein Bitte oder wenigstens der Anflug von Höflichkeit. Dafür Eiseskälte. Sentry war verärgert, aber er hatte sich unter Kontrolle. Schweigend nahm er die Karten und ging zum Rechner rüber, der als Standardeinrichtung in ihren Quartieren vorhanden war. Er steckte die erste Karte in den dafür vorgesehenen Slot und folgte der Aufforderung seinen Daumen auf den Scanner zu legen. Der Bildschirm leuchtete kurz grün, dann erschien eine Eingabemaske.
„Da kann ich dir auch nicht weiterhelfen. Nutzername und Passwort wird verlangt.“ Dasselbe Problem bei der zweiten Karte.
„Verdammt, was sind denn da für Daten drauf, dass man sie doppelt und dreifach sichern muss.“ Eric fluchte. Jetzt hatte er auch Sentrys Interesse geweckt. Tatsächlich war es ungewöhnlich. Navigationsdaten oder Logbücher mussten doch nicht dermaßen abgesichert werden.
„Ich komme schon noch dahinter. Ich schwöre es.“ Eric versteifte sich auf den Rechner und tippte los.
„Ha.“ frohlockte er. Das Eingabefeld war verschwunden.
„Das Eingabefeld haben wir schon mal überwunden.“ Sentry schaute ihm über die Schulter.
„Hackertrick“ tat Eric wichtigtuerisch. Eigentlich hatte er nur Glück gehabt. Die Sicherheitsmaßnahmen waren schlampig, so dass er mit seinen beschränkten Möglichkeiten das Eingabefeld umgehen konnte.
„Hier ist die Liste der User. Und das müssen die Passwörter seien.“ Er war jetzt wieder in seinem Element. Sentry starrte auf den Bildschirm.
telot:662327dfa031788a1a0156b622a0ff43c1b132235a.
Sechs weitere Zeilen mit einem anderen Kauderwelsch.
„32bit Hash. Mal schauen, ob sie weiterhin so schlampig waren.“
„Kennst du dich damit aus?“ fragte Sentry.
„Ich habe mal was drüber gelesen. Also telot ist der Nutzername und der Wirrwarr dahinter ist der Hash für das Passwort.“ Wie immer, wenn er was erklärte, lag ein gewisser Stolz in seinen Worten.
„Ein Hash entsteht, wenn Zeichen durch einen bestimmten Algorithmus verändert werden. Je mehr Zeichen, umso größer die Varianten, die ein Hash haben kann. Es wird bei einer Eingabe nicht das Passwort verglichen, sondern der Hash. Hoffen wir mal, dass telot oder einer der Anderen faul war und kein langes Passwort verwendet hat.“ Eric grübelte weiter. Plötzlich sprang er auf.
„Gehen wir einkaufen. Ich bin sicher, dass wir in einem der Technikläden ein rainbow-table kaufen können.“ Er sagte dies so selbstverständlich, als würden sie Brot, Milch und Eier besorgen gehen.
„Was ist das denn?“ fragte Sentry sichtlich irritiert. Eric bedachte ihn mit einem Lächeln. Genauso gut hätte er auch sagen können „so dumm kann man gar nicht sein“.
„Für Laien ausgedrückt, sind in diesen rainbow-tables die Hashs schon berechnet. Wir vergleichen nur noch und schauen, ob es den hash schon gibt. Wie gesagt. Das geht nur für einfache Passwörter und nur dann, wenn sie nicht weitere Sicherheitsmaßnahmen geschaffen haben, was ich aber nicht glaube, so einfach wie ich das Eingabefeld umgehen konnte.“
Der herablassende Tonfall gefiel Sentry nicht, so dass er Eric alleine einkaufen ließ.
Es dauerte zwei Stunden, bis dieser wieder auftauchte. Voller Tatendrang setzte er sich an den Rechner und fing an einen vergleichenden Algorithmus zu programmieren.
„Ok. Klär mich auf was du tust.“ Sentry erwartete eine herablassende nichts sagende Erklärung, aber Eric war so euphorisch, dass er bereitwillig Auskunft gab.
„Es war schwierig eine bestimmte Qualität aufzutreiben. Überall nur Schrott mit dem man höchstens Passwörter aller „1234“ herausbekommt. Aber damit sollte es klappen.“ Sentry verkniff sich zu fragen, wie viel er dafür bezahlt hatte und ob es wirklich das Geld wert wäre ein paar Logbucheinträge aus den letzten tausend Jahren zu entschlüsseln, aber immerhin war es ihm zu verdanken, dass sie überhaupt materiellen Wohlstand besaßen. Eric war so geistesgegenwärtig gewesen Odins Schiff zu plündern, also gönnte er ihm seine Neugierde.
„Jetzt müssen wir nur noch warten, bis wir einen Treffer haben.“ Eric lehnte sich zurück mit einer Zufriedenheit eines Mannes, der sein Tagewerk als vollbracht ansieht. Er wollte gerade eine gönnerische Bemerkung Richtung Sentry von sich geben, als der Rechner vor ihm ein Signal abgab.
„Wow, das ging aber schnell.“ Er näherte sich ungläubig dem Bildschirm. Das Passwort des Users Grell war deutlich zu erkennen.
„1234“ las Sentry vor, nicht ohne einen gewissen Spott in der Stimme. Erics Groll währte nicht lange. Nachdem er Zugriff auf die Daten hatte, siegte erneut seine Neugierde. Unmengen von Dateien, für die vermutlich ein Leben zu kurz wäre sie alle durch zu schauen. Trotzdem eine willkommene Abwechslung, um die nächsten Tage auf dem „heiligen Gral“ zu überbrücken und so entschied sich Sentry ein wenig in der Vergangenheit zu schmökern.
Verglichen mit den letzten Wochen waren die Tage auf dem Exson wie Urlaub. Sentrys Tagesrhythmus bestand in schlafen, frühstücken, sich wahlweise mit Dina, Balta oder Eva unterhalten, dem abendlichen Essen mit der gesamten Gruppe und dem Lesen in der Datenbank des Schiffes, welches auf Yuma-Prime vor sich hin rostete und als Brutstätte für die Wolkov-Spinnen diente. Der Sprung verzögerte sich um weitere drei Tage, so dass der Termin mit Gerda bei weiteren Verzögerungen nicht haltbar wäre. Genug Zeit, um den Aufenthalt in Alltag zu verwandeln und Sentry genoss die wiederkehrenden Rituale. Er fühlte sich so normal. Keine Gedanken an Femtos, Verfolger oder sonstige Gefahren. Auch die notwendige Entscheidung Science oder Cree kam ihm nie in den Sinn. Obwohl der „heilige Gral“ hinsichtlich der Vergnügungen eher langweilig daher kam, war er ihm weitaus lieber als sein Gegenstück die „verruchte Braut“. Er bekam seine Gedanken frei und tankte den mentalen Treibstoff, den er für die anstehenden Ereignisse brauchte.
Das Schiff hieß „Viajera“ und soweit seine Sprachkenntnisse ihn nicht täuschten, war es damit weiblich und auf reisen. Ein Versorgungsschiff ohne eigenen Sprungantrieb. Es gehörte einem größeren Konvoi an und wenn er die Daten richtig interpretiert hatte, war es zu Reparaturzwecken auf Yuma-Prime gewesen, während der Rest weiter seine Geschäfte in der Galaxie tätigte. Er las verschiedene Berichte über vergangene Handelsmissionen, aber die Kontinuität, mit der der Handel damals betrieben wurde, ließ das Ganze schnell langweilig werden. Das Leben eines Händlers schien vor tausend Jahren nicht besonders aufregend. Selbst die Ware variierte kaum. Meist waren es Landmaschinen oder Werkzeuge, was die „Viajera“ übermäßig oft nach Lassik brachte. Informationen, wie das Leben vor tausend Jahren auf dem einzigen Planeten den er kannte war, gab es so gut wie keine in den Berichten. Enttäuscht über die nüchternden Einträge änderte er seine Strategie und stieß irgendwann auf die privaten Einträge des Kommandanten. Die Neugierde siegte über die Scham in fremden und privaten Gedanken zu stöbern, aber auch hier zeigte sich bald, dass die Hoffnung auf intime Einblicke sich nicht erfüllen würde. In ähnlich gehaltenem Wortlaut wurden Personal, Schiff und Missionen bewertet. Sentry wollte schon auf Lesestoff aus der hiesigen Bibliothek umsteigen, als zwei Worte seine erloschene Neugier erneut anfachten. Mission Antibiotika.
Wie in einem Buch was langweilig war, aber man trotzdem wissen wollte, wer denn am Ende der Mörder ist, hatte Sentry den letzten privaten Eintrag aufgerufen. Warum war die „Viajera“ auf Yuma-Prime gestrandet? Nachdem er sich durch den Status der Reparaturarbeiten durchgearbeitet hatte, stieß er auf Kommentare zu Antibiotika. Was zuerst nach einer medizinischen Versorgungsaktion klang, war eine reine Waffenlieferung. Soweit er die Kommentare richtig deutete, sollte es die erste für die „Viajera“ werden. Die Zweifel des Kommandanten schwangen in jedem seiner Worte mit. Jetzt war er aufgeregt. Bewaffnete Konflikte waren der Beginn der großen Katastrophe. Die Aufzeichnungen fielen offensichtlich in die Zeit. Hastig verschlang er die Worte der Aufzeichnung, immer in der Hoffnung endlich Näheres über den Entwicklungsknick der Menschheit zu erfahren. Nichts Erhellendes, bis auf ein Wort, was ihn ordentlich verunsicherte. Cree.
Offensichtlich das Ziel der geplanten Lieferung. Weiter verschlang er die Worte und langsam nervte ihn die persönliche Meinung des Kommandanten zur Waffenlieferung. Es verhinderte den Blick auf das Wesentliche. Wie Rosinen auf einem Kuchen, musste er sich mühsam das wirklich Wissenswerte heraus picken. Nachdem er alles dreimal durchgelesen hatte und sicher war, dass er nichts übersehen hatte, baute er sich die Informationen zu einer Geschichte zusammen. Er würde es später mit Baltas Kombinationsgabe abgleichen müssen, aber das, was er hier herausgefunden hatte, war ohne Zweifel Dynamit.
Die „Viajera“ war mit ihrem Konvoi auf Yuma-Prime angekommen, aber ein technischer Defekt zwang sie zu einem längeren Aufenthalt auf dem Planeten. Damals ahnte der Kommandant nicht, dass der Wartungshangar die letzte Station in seinem Leben werden sollte. Drei Wochen waren geplant für die Reparaturen, aber wie dann der Konvoi wieder erreicht werden sollte, ging nicht aus den Aufzeichnungen hervor. Dieser zog vorerst ohne das Schiff weiter, damals schon mit Hilfe der Exsons. In den Logbüchern wurden sie schlicht mit Nummern bezeichnet. IR-2212-13 war die Bezeichnung für das geplante Transferschiff. Das Ziel war nicht wie zuerst angenommen Cree, sondern der freie Raum nahe des Planeten und da lag das erste Mysterium. Offenbar wollte man sich der Öffentlichkeit entziehen und wenn er die Worte des Kommandanten richtig deutete, spekulierte dieser mit einer Invasion auf Cree. Mehr als einmal nutzte er das Wort Angriff. Der Versuch einen Zeitabgleich zu machen schlug fehl. Es war unmöglich eine Referenz zu finden, um die Geschehnisse passend einzuordnen. Auch wenn viele Informationen verloren gegangen waren, Cree war nie Ziel einer militärischen Invasion gewesen. Dieser Umstand konnte als gesichert angesehen werden. Ganz im Gegenteil. Man hatte zwar im Zuge der großen Katastrophe den größten Teil seiner Bevölkerung verloren, aber selbst in den Kriegswirren danach, gab es keine nennenswerten Angriffe. Zu wenig entwickelt war die neuste Kolonie der Menschen. Durch seinen natürlichen Ursprung diente der ganze Planet eher als Erholungsparadies. Also warum zum Teufel sollte gerade da eine Invasion stattfinden und einen Bürgerkrieg auslösen?
Er war sich also sicher, dass die Invasion nie stattfand. Schlimmer noch. Der Kontakt zum Versorgungskonvoi brach eines Tages ab. Zwölf Schiffe und ein Exson verschwunden in den Weiten des Alls. Die Reparaturen auf der „Viajera“ waren längst abgeschlossen, aber dem Kommandanten fehlte die Möglichkeit zum Weitertransport. Er konnte nicht einfach ein anderes Transferschiff nehmen bei der Ware und so fiel dann der ungeplante verlängerte Aufenthalt den örtlichen Behörden auf. Mit einer Ladung voller Waffen wurde die Besatzung dann irgendwann mit der Justiz konfrontiert und da offiziell landwirtschaftliche Werkzeuge transportiert wurden, ging die Sache für ihn und seine Mannschaft vermutlich nicht gut aus. Von da an gab es keine Aufzeichnungen mehr, weder von ihm noch von potentiellen Nachfolgern.
Zwei Dinge machten Sentry an dieser Geschichte neugierig. Zum einen natürlich die Raumkoordinaten mitten im Nichts und zum anderen die Bezeichnung IR-2212-13. Letzteres gab bei der Recherche nicht viel her. Ursprünglich gab es 15 dieser riesigen Transferschiffe. Sieben davon werden jetzt durch die Exson genutzt, drei weitere dienen als Ersatzteillager und sind an einem geheimen Ort, um sie vor Plünderern zu schützen. Von drei Transferschiffen weiß man, dass sie bei kriegerischen Konflikten in der Vergangenheit zerstört wurden, während zwei weitere als vermisst gelten. Es dauerte ein wenig, um die Seriennummern der von Exson in Besitz genommenen Schiffe heraus zu bekommen, aber nachdem er sie hatte, merkte er erleichtert, dass IR-2212-13 nicht dazu gehört. Damit war die Wahrscheinlichkeit, dass sie eines der vermissten Transferschiffe ist, relativ hoch und in Kombination mit den Raumkoordinaten überschlugen sich Sentrys Fantasien über den Standort von IR-2213-13. Er musste seine Geschichte unbedingt mit Balta abgleichen, auch wenn dass bedeuten sollte Fehler in seinen Überlegungen zu haben und damit großer Enttäuschung entgegen zu sehen.
Er war aufgeregt, als er der Gruppe seine Erkenntnisse kundtat. Balta lächelte an einigen Stellen, so als wollte er ihn loben für die richtig geschlussfolgerten Erkenntnisse und Sentry seinerseits merkte, dass er die Anerkennung genoss. Zum Glück hatte er sich eine Art Rettungsanker zugelegt, den er jedes Mal auswarf, sobald er zu viel Vertrauen in Baltas Richtung schickte. Er musste auf der Hut sein, denn die Gefahr manipuliert zu werden bestand jederzeit. Ein gesundes Maß an Misstrauen hielt er immer vorrätig, denn trotz der vergangenen Ereignisse, wusste er Balta immer noch nicht richtig einzuschätzen.
„Du hast Recht. Eine gewisse Wahrscheinlichkeit besteht, dass eins der vermissten Exsons genau dort ist. Allerdings bin ich nicht ganz so euphorisch wie du. Zu viele Unbekannte. Die Koordinaten könnten wir allerdings als Ersatz für das fehlende Ersatzteil anbieten. Wir müssen es nur richtig verkaufen.“ Balta klang wohlwollend, was Sentry die folgenden Worte umso schwerer machte. Bevor er die richtige Formulierung finden konnte, kam ihm Balta zuvor.
„Du hast deine Entscheidung getroffen. Du willst nach Cree.“ Es lag keinerlei Enttäuschung in seiner Stimme.
„Die rationalen Argumente sind immer noch dürftig, aber irgendwie schreit alles in mir danach dahin zu gehen. Ich kann es schwer erklären.“
„Vielleicht bist das nicht du, der da hin will.“ antwortete Balta und bestätigte damit Sentrys Misstrauen. Die Worte verfehlten trotzdem nicht ihre Wirkung. Das wusste er wirklich nicht und vielleicht fand die Manipulation in seinem Inneren statt, durch die unbekannte Persönlichkeit, die in ihm ruhte. Perfide drückte es die Knöpfe, um ihn nach Cree zu bringen. Nein unmöglich, das war er. Sentry, geboren auf Reds Schiff. Eigenständige Persönlichkeit, mit eigenen Entscheidungen und persönlichen Erfahrungen. Er hatte keine andere Wahl, als sich selbst zu vertrauen und wenn sich am Ende herausstellen sollte, dass er nur eine Majornette war, an dessen Fäden gezogen wurde, um irgendwelche fremden Ziele zu erreichen, war er sowieso verloren. Selbstzweifel sind immer hinderlich, also stand er auf, wischte Baltas Bemerkung mit einer Handgeste förmlich weg und bestätigte selbstbewusst seinen Entschluss.
„Ja, wir …, nein ich gehe nach Cree. Es wäre bedauerlich, wenn du uns verlassen würdest, aber ich würde es verstehen. Sollte Cree sich als Hirngespinst erweisen, ist die Science mein nächstes Ziel.“ Es waren keine höflichen Floskeln, die er Richtung Balta schickte. Tatsächlich gab er der Gruppe mit seinen Erfahrungen eine gewisse Sicherheit. Sentry war sich unsicher, ob sie mittlerweile allein zu Recht kamen. Mit seiner Führung wäre es auf alle Fälle einfacher und so war er froh über die folgenden Worte.
„Ich kann dich nicht zwingen zur Science zu gehen, selbst wenn ich es wollte. Meine einzige Hoffnung ist immer noch, dass du es irgendwann freiwillig tust. Die vielen Jahre haben mich geduldig gemacht. Gehen wir nach Cree und überzeugen uns von deinen Intuitionen.“ Wieder willigte Balta ohne große Gegenargumente ein und fütterte damit weiter Sentrys Misstrauen. Trotzdem überwog die Erleichterung.
Die Uhren zeigten 25 Minuten bis zum Sprung. Jetzt, wo das Ziel bekannt war, galt es einen Plan auszuarbeiten. Sie hatten nur die Hälfte der geforderten Entlohnung für den Transfer, aber ihr Joker war Cree selbst. Da die Exsons den Planeten ignorierten, konnten Händler mit Überlichtantrieben ein gutes Geschäft machen. Selbst wenn Gerda sich weigern würde sie dort hin zu bringen, waren mögliche Alternativen vorhanden. Sie würden dann vermutlich eine Menge Zeit verlieren und die Gefahr war groß an einen zweiten Odin zu geraten, daher war Gerda schon die bevorzugte Variante. Diese hatte sich als knallharte Geschäftspartnerin herausgestellt und die einzige erkennbare Schwäche war Eva. Warum auch immer, jedenfalls sah es Balta als die beste Verhandlungsstrategie an, ihr das Reden zu überlassen.
Eva war erfahren im durchsetzen ihrer Interessen. Eigentlich waren es die Interessen des Tempels und meist hatte sie es mit eher einfachen männlichen Gemütern aller Eric zu tun. Trotzdem freute sie sich auf die Herausforderung. Damals schuf sie sich immer ein Gebilde aus Lügen und Ausflüchten. Alles sehr fragil, aber die beschränkte Intelligenz ihrer Opfer und ihre weiblichen Reize bescherten ihr leichtes Spiel. Unterbewusst genoss sie es, denn der perfekte Betrug gelang nur, indem sie die Regeln des Tempels ignorierte. Eine legale Zuflucht aus den Ketten ihres Dogmas. Mehr als einmal erwischte sie sich dabei, die Grenzen freiwillig und unnötig zu übertreten. Ihr Unterbewusstsein suggerierte ihr die Rechtmäßigkeit ihres Handelns und belohnte sie mit ungewohnten Glücksendorphinen. Jetzt war dieser Selbstbetrug unnötig. Sie war klug genug zu wissen, dass bei der bevorstehenden Aufgabe Ehrlichkeit der Schlüssel zum Erfolg sein würde, also brauchte sie erst gar nicht versuchen eine Geschichte zu konstruieren. Eine weiterer Schritt hin ihre Talente an die neuen Gegebenheiten anzupassen, denn obwohl ihre zwischenmenschlichen Fähigkeiten immer noch tief im roten Bereich waren, hatte sie ein Händchen dafür, Leute von ihrem Vorhaben zu überzeugen.
Sie war aufgeregt, als sie die Fähre nach Cayuse betrat. Eine Mischung aus Vorfreude auf ihre Aufgabe und neuen Erlebnissen auf einer fremden Welt. Sie kannte nur Lassik mit seinem verschlafenen Landleben. Alles, was sie aus der Datenbank des Exsons hatte, wies auf eine viel größere Bevölkerung hin. Nahrungsmittel waren hier nicht das natürliche Hemmmittel, um die Einwohnerzahl auf einem überschaubaren Level zu halten. In den letzten Jahren hatte das Wachstum sprunghaft zugenommen und dementsprechend gab es ein Überangebot an ungelernten Arbeitskräften. Diese machten bestimmte Dienstleistungen zu einem wahren Schnäppchen. Es fand sich meist immer jemand, der zum Beispiel einen Transport von A nach B günstiger anbot als sein Kollege von nebenan. Die Nachteile dieses Überangebotes sollte sie später halb zur Verzweiflung treiben, aber derzeit war sie noch voller Vorfreude auf Cayuse.
Die Einreisebestimmungen waren lax. Offenbar machten sich die Behörden nicht viel Sorgen über ungebetene Gäste. Jeder schien willkommen und die Freundlichkeit der Einheimischen unterstrich den naiven Eindruck, den Eva von Cayuse als wesentliches Merkmal wahrnahm. Übermäßig viel wurde sie angelächelt und hatte sie es zuerst auf ihr gutes Aussehen geschoben, merkte sie bald, dass auch alle Anderen diese Herzlichkeit bekamen. Auf den Weg zum Ausgang des Raumhafens musterte sie die Einheimischen ohne Scheu und diese quittierten ihre Neugier mit einem aufrichtigen Lächeln. Unweigerlich kam ihr der Vergleich zu Lassik in den Sinn, deren Bewohner geplagt durch die Sorgen ihres Lebens und der erhöhten Schwerkraft gebeugt vor Gram keinen Moment an Fremde verschwendeten. Sicherlich gab es auch hier Probleme, die vergleichbar waren, aber schlechte Laune schien hier nicht aufzukommen. Ein entscheidender Vorteil war sicherlich die permanente Sonne und gleich bleibende Temperaturen um die 30 Grad. Die dunkle Haut und das pechschwarze Haar, waren neben dem sonnigen Gemüt, die Erkennungsmerkmale der lokalen Bevölkerung und Eva mit ihrer Blässe und den blonden Haaren stach heraus, wie eine leuchtende Blume auf einer Wiese voller Grashalme. Keine Zweifel an ihrer Auswärtigkeit und damit einhergehend an ihrem scheinbaren Wohlstand.
„Hört zu. Die Leute hier sind furchtbar arm und wir werden in erster Linie als wandelnde Jetons angesehen. Es gibt hier Taschendiebe ohne Ende. Solltet ihr etwas kaufen oder bezahlen, müsst ihr immer handeln und selbst dann werdet ihr noch drauf zahlen.“ Balta trat als erstes durch die Ausgangstür ins Freie. Sofort war er umringt von einem halben Dutzend Männer. Eva versuchte aus dem Gewirr von Stimmen heraus zu hören, was die Männer wollten. Einen Transport in die Innenstadt bot jeder an. Sie hörte auch die Wörter Unterkunft und Restaurant raus. Als letztes bot sogar jemand eine Frau an, was Balta als Einziges mit einem „später vielleicht“ abwimmelte. Alles Andere wurde von ihm konsequent ignoriert. Nachdem die Männer merkten, dass sie bei ihm auf Granit bissen, konzentrierten sie ihre Energie auf neue Opfer. Bevorzugt wurden dabei die Frauen, wobei Dina ihnen schnell klar machte, dass all zu penetrantes ignorieren ihres Neins, ihnen unangenehme Nachwirkungen bescheren könnte. Nun war es also an Eva mit der Traube von aufdringlichen Anbietern klar zu kommen. Da sie keine konsequente Ablehnung auf eines der Angebote hinbekam, sahen sich ihre Angreifer ermutigt ihre Intensitäten zu verstärken. Mit einem Mal wurden sie regelrecht zudringlich und versuchten sie an einem Arm in die gewünschte Richtung zu ziehen. Eric beendete für sie das unsägliche Gezerre mit ein paar derben Worten und zum ersten Mal war sie froh, dass er so war, wie er war.
Balta steuerte zielstrebig auf einen der Personentransporter zu und wies die Anderen an mit einzusteigen. Kurzes Feilschen mit dem Fahrer, wobei die Gruppe drauf und dran war wieder auszusteigen, aber man konnte sich auf einen für alle Beteiligten zufrieden stellenden Preis einigen. Natürlich versuchte der Fahrer unterwegs ihnen besonders billige Angebote an Unterkünften, Nahrung oder sonstigen Plunder zu vermitteln und Balta musste mehrmals darauf hinweisen, dass er nur an dem Transfer in die bei Raumfahrern beliebte Bar interessiert war. Zwanzig Minuten dauerte es, bis sie diese erreichten, wobei durch den zähflüssigen Verkehr allein zehn Minuten durch reine Standzeit verloren gingen. Cayuse war ein Gewimmel aus abenteuerlich zusammen geschusterten Vehikeln. Zwei Räder, einen Elektroantrieb und ein Lenker. Aus mehr bestanden die meisten Gefährte nicht und die Beschränkungen, gerade mal eine Person damit transportieren zu können, wurden kreativ ignoriert, indem man mit waghalsigen Konstruktionen alles Mögliche, von Kisten, über Säcke, Hühnerkäfige bis hin zu der fünfköpfigen Familie darauf balancierte. Eva fand es unglaublich wie viel Leben in den Straßen steckte und der permanente Grundlärm, kombiniert mit dem Geruch von Urin und Müll, überforderte sie anfangs gewaltig. So etwas war sie nicht gewohnt und sie musste sich eingestehen, dass ihr das beschauliche Leben auf Lassik auf ein Mal wie das Paradies vorkam. Sie schaute rüber zu Eric, der wild kommentierend sich über einzelne Einwohner lustig machte. Sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er damit seine eigene Unsicherheit überspielte. Auch er war diesem Trubel nicht gewachsen.
Der Fahrer setzte sie hundert Meter vor dem eigentlichen Ziel ab. Zu eng war die Gasse, in der sich die Bar befand, als das er sie direkt davor hätte abladen können. Als Eva den Transporter verlies, schwante ihr nichts Gutes. Die letzten Meter bis zum Ziel waren gesäumt von einer Anzahl unzähliger Verkaufsstände und so wie sie die Bewohner bisher kennen gelernt hatte, würde das ganze zu einem Spießrutenlauf verkommen. Härte und Ignoranz waren die geeigneten Gegenmittel für das Bevorstehende. Eigentlich genau die Eigenschaften, die sie versuchte abzulegen. Sie hatte vom Raumhafen gelernt. Schwäche würde sie anfällig machen für besonders penetrante Verkäufer, also atmete sie tief durch und schnitt sich eine Schneise durch die sie bedrängenden Menge. Es war unglaublich was ihr alles angeboten wurde. Exotische Nahrungsmittel, Kleider, Potenzmittel (für den versagenden Liebhaber), gefälschte Id’s, Waffen, Massagen und natürlich Unmengen von Schmuck. Alles wirkte unfassbar billig gemacht und der Eindruck, dass der ganze Plunder nicht bis zum nächsten Sonnenaufgang halten würde, machte es ihr leicht das Ganze zu ignorieren. Bis auf Eric, schafften es auch die Anderen sich den vermeintlichen Schnäppchen zu entziehen. Seine Sirenen verführten ihn mit Technik. Zum Glück schaffte es Balta ihn aus den kunstvoll aufgebauten Illusionen der Verkäufer zu befreien, bevor er unnötig Jetons für wertlosen Schrott verschwendete.
Sie betraten die Bar ohne auch nur einen Jeton weniger. Eine Leistung, die die Wenigsten auswärtigen Gäste hinbekamen. Eva hoffte auf Ruhe in den Wänden des Etablissements, aber die Lautstärke ging nahtlos über in eine Unzahl von angetrunkenen Gästen. Die Hintergrundmusik verlor sich in dem Gewirr von Stimmen und die Luft war von Tabakqualm erfüllt. Dick und schwer hingen die Schwaden in der Luft und erschwerten das Atmen. Ein paar Türsteher musterten sie kurz, fanden aber keinen wirklichen Grund ihnen den Zutritt zu verwehren. Einen freien Tisch zu bekommen war unmöglich, also tranken sie ihr erworbenes Bier im Stehen.
„Was machen wir jetzt?“ fragte Eric ungeduldig.
„Wir warten. Heute ist der Stichtag, also müsste Gerda irgendwann auftauchen.“ Balta schaute sich suchend um, konnte aber niemand Bekanntes erkennen.
Eva bevorzugte ein alkoholfreies Getränk und zog sich damit den Unmut des Wirtes zu. Sie wollte klaren Kopf behalten und so was wie Alkohol war sie nicht gewohnt. Die Bar war schlicht gehalten und ihr auffälligster Punkt war der O-förmige Tresen in der Mitte, in einer ansonsten spärlich eingerichteten Halle. An der Decke hingen ein paar Lüfter, die gegen die Hitze und den Tabakqualm einen aussichtslosen Kampf führten. Ein paar von Sesseln gesäumte Tische standen an den Außenwänden und ansonsten gab es nur Stehtische, denen man nicht nur die jahrelange Nutzung als Getränkehalter ansah, sondern auch den Siff verschütterter Spirituosen. Die Befürchtung, dass den Gläsern hier ähnlich wenig Hygiene zukam, ließ Eva nur an ihrem Getränk nippen. Sie beobachte die wenigen Bedienungen, die zwischen den Gästen hin und her flitzten. Es war unmöglich ihr Alter zu schätzen, aber die jahrelange Zigarettenqualm vergiftete Atmosphäre aus Stress, ließ sie vermutlich schnell altern. Jedenfalls hatte Eva den Eindruck junge Mädchen in Körpern alter Frauen vor sich zu haben. Die Kundschaft war eine Mischung aus verschiedensten Welten dieser Galaxie. Sie glaubte sogar Leute aus Lassik zu erkennen, die unverkennbar das breite Kreuz besaßen. Angetrunken standen sie in der Ecke, die Biergläser in der Hand und versuchten den allgemeinen Lärmpegel in ihren Unterhaltungen zu übertönen. Sie gliederten sich so passend in das Gesamtbild ein, als würde neben den Tischen hier weiteres Inventar Tag für Tag der Abnutzung ausgesetzt. Ihr Zustand war jedenfalls ähnlich erbärmlich, wie das Mobiliar. Ein paar Männer in zerschlissenen Hosen und mit furchtbar schlechten Zähnen versuchten mit ihr zu flirten, aber sie erwiderte ihre Blicke nicht und so hielt sie sich nah an Balta, um mit ihrer Körpersprache eventuellen Werbungsversuchen zu entgehen. Ob nun verbrauchtes Personal oder alkoholabhängige Kundschaft, der gesamte Ort verbreitete den Charme gescheiterter Ambitionen und der Trubel konnte die vorherrschende Depression nicht annähernd kaschieren. Jeder hier in dieser Bar machte sich was vor. Ein Schaulaufen der Eitelkeiten. Man wollte besser sein als die Anderen und das zeigte man in dem übermäßigen Konsum von Alkohol und tarnte das Ganze als Feier in der Hoffnung ein gutes Geschäft zu machen. Am Ende ging es bei jedem hier um die Existenz und das machte die Leute in dieser Bar austauschbar.
Sie fühlte sich nicht wohl an diesem Ort. Die vorherrschende drückende Grundstimmung stand im Gegensatz zu ihrer gerade erblühenden Selbstsicherheit. Je länger sie auf Gerda warten mussten, umso schwieriger würde das Unterfangen werden. Als würde sie sich mit jeder vergeudeten Minute mehr an die Umgebung anpassen und so war sie froh endlich das bekannte Gesicht an der Bar auszumachen. Balta gab noch letzte Anweisungen und Sentry bot sich an sie zu begleiten, was sie dankend annahm. Auch wenn alles an ihr hing, gab er ihr den nötigen Halt. Sie gingen zu zweit rüber und schon aus der Ferne trafen sich ihre Blicke. Mit einem Kopfnicken deutete Gerda auf einen Tisch, der wie von Geisterhand plötzlich frei war und dort setzten sie sich, um in die Verhandlungen einzusteigen.
„Hallo Gerda. Mein Name ist Eva.“ sagte sie selbstsicher. Ein weiterer Baustein, die Verhandlungen persönlicher zu gestalten.
„Clevere Strategie dich vorzuschicken.“ durchschaute Gerda sofort Baltas Plan. Eva verunsicherte das nur kurz. Sie hatte damit gerechnet, dass es zu offensichtlich sein würde. Sentry stellte sich kurz vor und das gab ihr die nötige Zeit, um ihre weiteren Schritte zu überdenken.
„Soweit zu den Höflichkeiten.“ Gegen Gerdas enorme selbstsichere Ausstrahlung war es schwer zu bestehen. Alles schien perfekt zusammen zu passen. Ihr Auftreten, ihr Aussehen, selbst ihre Stimme zeugten von unendlichem Selbstbewusstsein. Sie schaute Eva tief in die Augen, so als wollte sie sie auffordern endlich zur Sache zu kommen.
„Wir haben nur eines der Teile, die auf der Liste standen.“ fing Eva an und war froh, dass Gerda sie nicht sofort sitzen ließ.
„Gut, aber ihr kennt meinen Preis.“ erwiderte Gerda und überließ ihr damit weiterhin die Verhandlungsposition.
„Jetons. Wir haben genug, um den Wert einiger Teile in Jetons aufzuwiegen.“ Eva klang immer noch selbstsicher.
„Und wer hat den Wert der Teile festgelegt? Du? Was habt ihr noch?“ Kein Anzeichen dafür, dass Gerda interessiert war.
„Das Ziel selbst. Cree ist von den Exsons abgeschnitten. Ein cleverer Händler kann da sicherlich gute Geschäfte machen.“ Das war Evas vorletzter Trumpf. Dann blieb nur das verschollene Exson. Immer noch hatte Gerda dieses Pokerface aufgesetzt. Wenn sie den Preis weiter in die Höhe treiben wollte, ging das nur über die Jetons. Eva berechnete bereits wie viele sie noch entbehren konnten, als sie den prüfenden Blick Gerdas auf sich spürte.
„Warum?“ fragte diese nur geheimnisvoll. Der verwirrte Blick Evas zwang sie zu näheren Erklärungen.
„Es ist nicht nur eine Frage des Preises. Ich würde gern wissen, warum du nach Cree willst?“
„Wir erhoffen dort Antworten auf meine Vergangenheit.“ hakte Sentry ein.
„Damit wissen wir, was du da willst. Aber was ist mit ihr?“ Da war es wieder, dass uneingeschränkte Interesse an Eva.
„Ich helfe ihm dabei.“ Eva legte das letzte bisschen Selbstsicherheit in diese Worte.
„Blödsinn. Ich werde euch nach Cree bringen. Du musst mir nur sagen, wovor du davon läufst.“
„Da gibt es nichts.“ Zum ersten Mal klangen die Worte sehr dünn.
„Ich bin sicher ihr findet hier jemand Anderes, der euch nach Cree bringt.“ Gerda stand auf und war im Begriff zu gehen.
„Warte.“ Erst jetzt merkte Eva, dass sie einen wunden Punkt getroffen hatte. Gerda setzte sich wieder und ein paar Minuten saßen sie nur schweigend da. Sie war auf der Flucht, aber nicht vor dem Tempel oder Dart. Nein sie floh vor ihrem alten Ich. Ein Ich, welches ihre Schwester im Stich gelassen hatte, ihren Vater, ihre Familie. All die Ausreden, Sentry zu begleiten, weil sie keine Alternative sah und als Staatsfeind nicht zurück in ihre Heimat konnte, verschleierten nur geschickt ihr wahres Dilemma. Diese Frau hatte ihr mit einem Schlag die Augen geöffnet. Wenn sie jemals Frieden finden wollte, musste sie zurück nach Lassik. Diese Erkenntnis spiegelte sich in ihrem Gesicht wieder und rang Gerda ein wissendes Lächeln ab.
„In zehn Stunden am Hangar 22. Seid pünktlich, ich werde nicht warten.“ Damit verzichtete Gerda auf die verbale Antwort und ließ die beiden sitzen.
„Interessante Frau.“ Sentry schaute verwirrt drein. Sie waren nun allein. Ein Zustand, der nicht lange anhalten würde, also nutzte Eva die Zweisamkeit zur Bestandsaufnahme.
„Sie hat Recht. Die Lösung meiner Probleme liegt auf Lassik. Mein Vater. Meine ….“ Sie zögerte die traurige Wahrheit auszusprechen.
„Das hat sie vermutlich. Irgendwann wirst du zurück müssen.“ Das Schlüsselwort war irgendwann. Wann war der richtige Zeitpunkt? Mit Sicherheit nicht jetzt. Sie stand erst am Anfang ihrer persönlichen Selbstfindung. Unabhängig von Vater oder dem Tempel musste die neue Eva gedeihen. Zu zerbrechlich war sie noch, um die alten Einflüsse erfolgreich abwehren zu können. Das unbekannte Schicksal ihrer Schwester machte sie unruhig, aber sie zwang sich die Gewissheit über das Unausweichliche in die ferne Zukunft zu verschieben. Die Endstation ihrer Reise war dort, wo alles begann. Nun war es an ihr, wie breit sie den Bogen spannte um dorthin zurück zu gelangen.
„Wie ist es gelaufen?“ fragte Eric und stand damit stellvertretend für alle Anderen, die ebenfalls wissen wollten, ob sie nun einen Transport nach Cree haben.
„Sie macht es.“ antworte Eva geistesabwesend.
„Du bist die Beste.“ kam es von Eric überschwänglich, aber Eva war noch in Gedanken versunken, um die offensichtliche Speichelleckerei zu registrieren.
„Da machen wohl einem die Hormone zu schaffen.“ kommentierte Dina in üblicher Manier Erics Verhalten. Dieser hatte sich angewöhnt auf Konfrontation zu gehen.
„Ich glaube nicht, dass du es hinbekommen hättest. Dafür fehlt dir das Feingefühl.“ Das Kontern von Dinas Bemerkungen war immer noch in der Entwicklungsphase, aber immerhin wurde er schon selbstbewusster.
„In Sachen Feingefühl lass ich mich bestimmt nicht von dir belehren.“ Der Sieg lag damit endgültig auf Dinas Seite.
„Alles klar?“ wandte sie sich nun an Eva und die riss sich endgültig aus der Grübelei.
„Ja. Alles bestens. Wir haben zehn Stunden. Also lass uns ein wenig die Stadt erkunden.“
„Nur wir Mädels. Sollen die Kerle sich hier betrinken. Wir gehen einkaufen.“ Sie hakte sich bei Eva unter und zog sie Richtung Ausgang. Zurück blieb peinliches Schweigen, dass erst durch Baltas Ankündigung, die erste Runde ginge auf ihn, durchbrochen wurde.
Das erste Bier tranken sie ohne ein Wort zu sagen, erst mit der zweiten Runde lockerten sich die Zungen.
„Eva gefällt dir?“ sprach Balta das Offensichtliche an. Eric schaute verlegen zu Boden.
„Ist doch in Ordnung. Sie ist wirklich ein hübsches Mädel und einen guten Charakter hat sie auch. Wenn die Gehirnwäsche aufhört zu wirken, wird sie ein richtiges Juwel.“
„Meinst du ich hätte Chancen bei ihr?“ fragte Eric nach einer kurzen Pause.
„Derzeit bist du nicht die Nummer eins. Aber nichts ist endgültig. Glaub mir. Chancenlos bist du nicht.“ Beide Blicke fielen auf Sentry.
„Oh nein. Ich komme zwar mit ihr mittlerweile ganz gut klar, aber mehr ist da nicht.“ Tatsächlich hatte er Eva höchstens als gute Freundin gesehen.
„Dir vernebelt jemand Anderes den Blick.“ spielte Balta damit auf Sentrys weibliche Vorliebe an. Dina bündelte sein komplettes Interesse an der holden Weiblichkeit. Hatte er damit Signale von Eva übersehen?
„Damit kommst du ins Spiel. Der Sommernachtstraum ist dagegen Laienschauspiel.“ Auch wenn Eric den letzten Satz nicht zuordnen konnte, wusste er worauf Sentry anspielte.
„Wie kann man sich um diese Frau streiten. Die ist furchtbar.“ Eric schüttelte ungläubig den Kopf.
„Nein ist sie nicht. Ganz im Gegenteil. Man hat sie verletzt und sie weigert sich das Heilmittel einzunehmen. Es wäre für sie Verrat die Vergangenheit ruhen zu lassen. Es treibt sie an. Nur eine reizvolle Alternative holt sie aus diesem Teufelskreis heraus. Ich kann sie ihr nicht bieten, aber vielleicht hast du mehr Glück.“ Balta wandte sich an Sentry.
„Du hast einen guten Einfluss auf sie. Sie würde sich das nie eingestehen, aber irgendwann wird es auch ihr bewusst werden, dass ihre Rache nicht der einzige Grund ist dir zu folgen.“
„Es ist so schon alles kompliziert genug. Gefühle sind eine zusätzliche Bürde.“ erwiderte Sentry.
„Da irrst du dich. Sie machen uns erst richtig lebendig.“ beendete Balta die Frauenanalyse, trank sein Bier aus und verabschiedete sich ebenfalls in den Trubel der Stadt. Nun war Sentry mit Eric allein, was für beide unangenehm war. Außer ein paar höflichen Floskeln kam kein vernünftiges Gespräch zu Stande, was ihn veranlasste, ebenfalls die Bar zu verlassen. Ziellos irrte er durch die Stadt, immer mit dem guten Gewissen jederzeit mit Hilfe der Einwohner zurück zu kommen. Er kam sich einsam vor in der für ihn fremden Umgebung. Die Zeit zog sich wie Kaugummi und die letzten Tage mit ihren gewohnten Abläufen schien schon eine Ewigkeit her. Vielleicht war es ganz gut ein wenig Abstand von der Gruppe zu bekommen, denn die Reise nach Cree würde vier Wochen dauern. Kein Sprungantrieb, der sie innerhalb weniger Sekunden Lichtjahre weit weg transportieren würde. Eine langsame zähe Reise lag vor ihnen. Der Überlichtantrieb schien unter diesen Gesichtspunkten wie eine veraltete Technologie, hatte aber den entscheidenden Vorteil unabhängig von irgendwelchen Exsons überall hinreisen zu können. Die Navigation war bei dieser Art der Fortbewegung die Herausforderung. Enorme Rechentechnik war notwendig, um alle Eventualitäten zu berücksichtigen. Das Herstellerdatum dieser Technik lag weit in der Vergangenheit und machte jede Reise zum Glücksspiel. Die Gefahren wurden ihm auf dem Exson bewusst. Geschichten über gestrandete Schiffe, die weit vom Kurs abkamen und durch Treibstoffmangel in den weiten des Alls verschollen waren, gab es Zuhauf in der Bibliothek. Es brauchte schon eine Menge Erfahrung durch die Mannschaft, um das Ziel sicher zu erreichen. Dahin gehend hatte er Vertrauen in Gerda. Eine Frau die faszinierend auf ihn wirkte, nicht auf die Art und Weise wie Dina, aber trotzdem interessant und er hoffte in der gemeinsamen Zeit mehr über sie zu erfahren.
Er schlenderte weiter durch die Gassen und plauderte mit ein paar Einheimischen, die in der Aussicht was verkaufen zu können, bereitwillig Zeit opferten. So erfuhr er Einiges über Cayuse. Die Schere zwischen Arm und Reich war enorm, wobei die Letzteren deutlich in der Unterzahl waren. Unzählige Manufakturen stellten Kleidung her, die dann über den Handel auf anderen Welten verkauft wurde. Der Lohn der Arbeiter reichte gerade für Essen und Unterkunft. Die Hälfte der Bevölkerung lebte mehr oder weniger direkt von der Textilindustrie, wobei sie sich die eigenen Produkte kaum leisten konnten. Ausschussware war daher sehr begehrt und obwohl hohe Strafen auf die Produktion von minderer Qualität lagen, schien die ganze Bevölkerung mit solcher Kleidung rum zu laufen. Man konnte sie praktisch an jeder Ecke kaufen. Wenige Läden boten die erste Wahl an, denn Kundschaft mit dickeren Geldbeuteln fanden sie fast ausschließlich nur bei Fremden. So dauerte es auch eine Weile bis Sentry vernünftige Kleidung erblickte und in der Aussicht seine zerschlissenen Sachen endlich entsorgen zu können, leistete er sich ein komplettes neues Äußeres.
Die neue Kleidung auf der Haut gab ihm ein gutes Gefühl und als er sich eine Stunde vor dem Abflug wieder in der Bar einfand, war er wenig überrascht, dass die Mädels ebenfalls mit neuen Sachen auftauchten. Er begutachtete Dina zuerst und war begeistert von ihrem Äußeren. Obwohl sie ihr Augenmerk auf einfache und praktische Kleidung gelegt hatte, passte die Zusammenstellung ideal. Ihre körperlichen Vorzüge wurden gezielt betont und sollte es so was wie Nachteile an ihr geben, wurden sie perfekt kaschiert. Passend mit der neuen Frisur, sie hatte die Haare etwas kürzer, fand er nur ein Wort, was ihr neues Aussehen annähernd beschrieb. Umwerfend.
Es war schwer sich der anziehenden Wirkung von Dina zu entziehen und selbst einfach nur den Blick abzuwenden schien, ihm fast unmöglich. Als es schließlich doch gelang, erwischte er Eva, wie sie ihn gerade begutachtete. Rasch wich sie seinem Blick aus und Sentry wurde bewusst, dass Balta Recht hatte. Er genoss es, aber diese Spannungen waren nicht gut für das Gruppengefüge. Um den Kopf frei zu kriegen und sich abzulenken, übernahm er kurzfristig Baltas Führungsrolle und besorgte ihnen einen Transport zum Raumhafen. Jetzt, wo die Verhältnisse klar angesprochen wurden, Sentry war sich sicher dass auch die Mädels kein anderes Thema bei ihrer Einkaufstour hatten, war die Stimmung verkrampft. Er musste das klären und vier Wochen auf Gerdas Schiff waren eine viel zu lange Zeit, um die unterschwelligen Gefühle erfolgreich zu ignorieren.
Das Schiff wurde gerade beladen, als die Gruppe eintraf. Es hieß „Perinola“. Diesmal musste Sentry lange suchen für eine passende Übersetzung, aber alles deutete auf etwas Schnelles hin. Im Vergleich zu den Schiffen, die er bisher gesehen hatte, war das ein relativ Großes. Das Frachtmodul nahm fast komplett den ganzen Raum ein und so wie er später erfuhr, war Hangar 22 für größtmögliche Frachtschiffe vorgesehen. Der Teil des Schiffes, welches den Antrieb und die Unterkünfte der Mannschaft beinhaltete, wirkte winzig und verloren. Wie eine Stecknadel, dessen Kopf aus einem riesigen rechteckigen Ziegelstein herausragte. Sentry zweifelte, dass dieses Gebilde in der Form sich jemals Richtung Weltall aufmachen konnte.
Gerda begrüßte sie in der für sie typischen unterkühlten Art. Keine großen Worte. Neben dem Ersatzteil wurden ihnen fast sämtliche Jetons für den Transport berechnet, so dass die Gruppe praktisch mittellos das Schiff betrat. Das würde ein Problem werden bei der Ankunft auf Cree, aber vier Wochen waren lang und keiner zerbrach sich unnötig den Kopf darüber. Notfalls würden sie ihre einzige verbliebene Waffe verkaufen.
Sie mussten sich das Quartier zu fünft teilen. Reisen im interstellaren Raum war wohl immer eine Qual, ob nun mit der Illusion von Freiheit wie hier oder in einer Gefängniszelle auf Reds Schiff. Wie auf den anderen Schiffen auch, gab es als einzige Zuflucht vor dem drohenden Lagerkoller einen Aufenthaltsraum, in dem gleichzeitig die Mahlzeiten eingenommen wurden. Wenigstens waren Fitnessgeräte vorhanden, denn die Muskulatur, die Sentry auf Lassik so mühsam aufgebaut hatte, war mittlerweile fast komplett verschwunden. Wie Dina schon befürchtet hatte, waren Eva und Eric als Ureinwohner von Lassik dem geringeren Kalorienverbrauch nicht gewachsen. Besonders Eric sah man die Schwierigkeiten in Zunahme seines Fettgewebes deutlich an. Er hatte immer gut zu essen gehabt und in dieser Tradition haute er immer noch kräftig rein, sobald sich die Gelegenheit ergab. Vier Wochen war es her, dass er seine Heimat verließ und in Aussicht auf weitere vier Wochen voller eingeschränkten Bewegungsmöglichkeiten, schien Dinas Wette aufzugehen.
Die Stimmung war bedrückend. Jeder wusste, dass die bevorstehende Zeit auf diesem engen Raum für alle eine Herausforderung werden würde. Schweigend richtete sich die Gruppe in ihrem Quartier ein. Kurz vor dem Abflug berief Gerda alle in den Mannschaftsraum und diktierte die Regeln für den bevorstehenden Flug. Die Aufmerksamkeitsspanne war gering. Nur als sie auf das Thema Essen kam und so beiläufig erwähnte, dass die Verpflegung entweder aus Kaloriengetränken oder vollkommen vegetarischer Kost bestand, kam kurzer Missmut bei Eric auf.
Danach stellte sie die Mannschaft vor. Neben ihr als Kommandant, gab es da noch Sven den Navigator, Roland den Mechaniker und Nancy das Mädchen für Alles, die für die organisatorischen Dinge zuständig war. Letztere war auch für die Verpflegung verantwortlich und so abgemagert wie sie aussah, war klar, wer die Idee der Schonkost hatte.
Ein kurzes „hallo“, für mehr war vorerst keine Zeit. Alle Konzentration lag auf dem Start. Was Sentry schon vermutet hatte, bestätigte sich mit der Ankunft des Schleppers. Für die „Perinola“ war es unmöglich dieses gigantische Frachtmodul der Schwerkraft von Cayuse zu entreißen. Mit riesigen Klammern hob der Schlepper das Schiff in die Luft und ließ es erst wieder im Orbit los. Drei Stunden waren notwendig für einen Sicherheitsabstand zum Planeten. Der Überlichtantrieb änderte das Raumzeitgefüge um das Schiff und bewegt es innerhalb einer Blase voran. Alle Störeinflüsse würden diese platzen lassen, was wiederum nicht sehr vorteilhaft für sämtliche Dinge innerhalb der Blase wäre.
Nachdem sie weit genug entfernt waren, beschleunigte Gerda das Schiff. Der einzige Hinweis, dass sie überhaupt die Geschwindigkeit erhöhten, war das verstärkte Surren der Trägheitsdämpfer. Sentry befand sich mit den Anderen immer noch im Mannschaftsraum und der winzige Ausblick auf das riesige Weltall zeigte keinerlei Veränderung. Die Sterne änderten ihre Position nicht und gerade als er glaubte einem gut gemachten Schwindel auferlegen zu sein, durchbrachen sie die Lichtmauer.
„Wow.“ kommentierte Eric das Lichtermeer, das nun zu sehen war. Blitze aus dem kompletten Farbspektrum zuckten abwechselnd wie ein Gewitter durch die Schwärze des Weltalls. Was mit violett begann, änderte sich schnell über blau und gelb hin zu rot. Dann endete das freudige Farbenspiel und es blieb nur noch das Schwarz des Nichts übrig. Offenbar filterte die Blase bestimmte Wellenlängen. Das Licht prallte ab, wie Wasser an einer Tauchglocke und das Fehlen von den vertrauten Leuchtpunkten erstickte die gerade entstandene Euphorie. Für eine lange Zeit wird dunkles schwarz den Ausblick zieren. Sentry vermisste die Sterne jetzt schon.
XVII
„Nur durch Dunkelheit ist Licht hell; nur durch Trauer ist Freude schön.“
Sabine Lilienthal
Die Langeweile wurde unerträglich für Eva. Sie waren erst vier Tage unterwegs und schon hatten alle Probleme mit den engen Verhältnissen. Sentry und Balta gingen sich so gut es ging aus dem Weg. Sie persönlich hatte Probleme mit Dina und diese kabbelte sich zusätzlich noch mit Eric. Sie vertrieb sich die Zeit mit Büchern aus der umfangreichen Bibliothek, aber es war ihr trotzdem unmöglich die wachen Stunden sinnvoll zu verbringen. Umso dankbarer war sie, als Sven ihr anbot einen Einblick in die Welt der Navigation zu geben. Sie verstand nicht mal annähernd, was er ihr da erklärte, aber allein seine Anwesenheit tat ihr gut. Sein eher naives und gutmütiges Wesen war das komplette Gegenteil dessen, was sie bisher als menschlichen Charakterdurchschnitt betrachtete. Keine Spur von Egoismus. Seine sehr offene manchmal einfältige Art machte ihn anfällig für die Raubtiermentalität der meisten Kommandanten, die diese Galaxie durchstreiften. Zu schutzbedürftig wirkte sein Auftreten. Sie dachte an den Tempel und wie er das ideale Opfer für die Ideologie des Führers wäre. Er muss mächtiges Glück gehabt haben, bei Gerda untergekommen zu sein, denn jedes andere Schiff hätte ihn vermutlich längst verschlissen. Er war ein Rückzugsort, von dem garantiert keine Gefahr ausging und sein Auftreten wirkte wie ein Eric ohne Arroganz. Naiv, aber sympathisch.
Ohne das sie die Details verstand, zeigte er seine Algorithmen zur Berechnung eines Kurses und Eva wurde bewusst, wie komplex die ganze Sache war. Ein Geflecht an Programmen und Unterprogrammen erlaubte ihm eine Berechnungszeit unter zwanzig Minuten, was laut seiner Aussage nur die wenigsten Schiffe vorweisen konnten. Keine Frage hier saß ein Programmiergenie vor ihr und sie versuchte zu ergründen, warum Eric ihn mied. Sven war eine verbesserte technische Variante von ihm und weil er nicht den Weg der gesellschaftlichen Isolierung gewählt hatte, den nun mal so eine geistige Überlegenheit mit sich brachte, war es Eric wahrscheinlich unangenehm seinem besseren Ich gegenüber zu treten. Sven ist es weitaus besser gelungen mit seinem Handicap fertig zu werden, als ihm. Der Neid hielt letzteren davon ab sich zu nähern und das obwohl keiner ihn besser verstehen würde als Sven.
Er erklärte ihr gerade, welchen Einfluss eine beginnende Supernova etwa 40 Lichtjahre entfernt auf den jetzigen Kurs hatte, als Gerda sie in ihre Privatkabine bat. Diese hatte die Passagiere bisher komplett gemieden und umso überraschender war die Einladung.
„Möchtest du was trinken?“ fragte sie ungewohnt höflich. Eva nahm ein süßes Brausegetränk. Das Privatquartier war stilvoll eingerichtet. Es war nicht schwer zu erraten, dass hier eine Frau wohnte. Die warmen Farben standen im Kontrast zu den glatten metallischen Wänden des eher monotonen Designs des Schiffes. Alles hier spiegelte Gerdas Charakter wieder. Es war der persönlichste Raum, den Eva je gesehen hatte und sie konnte sich bildlich vorstellen, wie sehr dieser Raum mit seiner Liebe zum Detail als Zufluchtsort aus einer stressgeplagten Umgebung diente. Ein bisschen entspannte Musik dazu und dann würde selbst ein cholerischer Eric hier problemlos runterkommen.
„Du willst sicherlich wissen, was ich von dir will. Wir sind nun schon zwei Wochen unterwegs und ich hatte Gelegenheit euch ein bisschen besser kennen zu lernen und mir sind einige Sachen aufgefallen, die ich gerne klären würde.“
„Kennen lernen ist gut. Wir haben doch keine drei Worte miteinander geredet.“ antworte Eva.
„Also. Wie ich das sehe, ist Sentry euer Hauptgrund, warum ihr nach Cree wollt. So wie ihr euch verhaltet, seid ihr alle auf der Flucht, aber er scheint mir irgendwie ungewöhnlich. Ich habe eine gute Menschenkenntnis, aber ihn kann ich in keine Rubrik einordnen.“ Eva stockte der Atem. Ziel dieser Unterhaltung war es offensichtlich mehr über die Gruppe zu erfahren und sie, als vermeintlich schwächstes Glied, war dafür auserkoren worden. Zu viele Geheimnisse trugen sie mit sich herum. Sie musste aufpassen, nicht allzu redselig zu werden.
„Wenn du was über ihn wissen willst, kannst du ihn selber fragen.“ Eva versuchte nicht trotzig zu klingen, was ihr nicht ganz gelang.
„Nun gut. Soll er mir das selber erklären. Ich will nur wissen, was mich auf Cree erwartet. Wie gesagt ich habe eine gute Menschenkenntnis und die sagt mir, dass etwas in eurer Gruppe nicht stimmt. Dieser Balta ist mir zu verschlagen, als dass man ihm uneingeschränkt trauen könnte.“
„Ohne ihn wären wir schon längst verloren. Er führt uns durch die Wirren dieser Galaxie.“ antwortete Eva.
„Traust du ihm?“ fragte Gerda direkt.
„Bisher gab es keinen Grund an ihm zu zweifeln.“
„Lass dich nicht von seinem guten Äußeren täuschen. Ich wette die Liste der enttäuschten Frauen ist lang.“
„Mit Vertrauen habe ich allgemein ein Problem.“ Sie bereute die Aussage sofort, zu persönlich kamen ihr die Worte vor.
„Ein gesundes Misstrauen ist in Ordnung, aber bei dir scheint die Urteilskraft gelitten zu haben.“ Gerda gab ihr damit eine Vorlage für weitere Erklärungen, die Eva aber schweigend ausschlug.
„Wir alle haben unsere Geschichten.“ Gerda kramte ein Pad hervor und hielt es Eva unter die Nase. Ein junges blondes Mädchen war darauf zu sehen, nicht älter als achtzehn Jahre.
„Sie ähnelt dir nicht nur optisch. Sie hatte dasselbe unsichere Auftreten wie du. Sie war clever, aber auch introvertiert. Was ihr fehlte war ein wenig Führung.“
„Deine Tochter?“
„Sie war es.“ Gerdas Stimme klang regungslos. Ein Zeichen dafür, dass sie den Verlust bereits verarbeitet hatte.
„Woran ist sie gestorben?“ Zu spät merkte Eva die fehlende Beileidsbeteuerung.
„Wir wissen es nicht genau. Eine heimtückische Krankheit. Hier draußen ist es weit zum nächsten Arzt. Du hast auch jemanden verloren?“ Eva zögerte mit der Antwort.
„Meine Schwester.“ Sie konnte die Tränen kaum unterdrücken. Bisher hatte sie die Schuld verdrängt, was leicht war bei den chaotischen Ereignissen nach ihrer Flucht von Lassik. Erst hier auf dem Schiff, mit der Ruhe und der Langeweile, konnte sie Freyas Tod nicht mehr so leicht ignorieren. Nachdem Gerda die Saat auf Cayuse gesetzt hatte, wuchsen ihre Zweifel an der Richtigkeit ihres Handelns. Das Selbstvertrauen, was sie nach dem Gespräch mit Sentry durchflutete, die Gewissheit endlich ihr eigenes Leben und die getroffenen Entscheidungen aus der richtigen Perspektive zu sehen, hatte einen ordentlichen Dämpfer bekommen. Sie fühlte sich wieder orientierungslos. Einen Zustand, den sie glaubte überwunden zu haben. In der Entscheidung, ob Flucht oder Freya hatte damals die rationale Eva gewonnen. Nun sah die emotionale Eva ihre Gelegenheit, den vermeintlichen Betrug erneut zur Sprache zu bringen.
„Ich hätte ihr helfen müssen. Stattdessen habe ich sie im Stich gelassen.“ Es gab keine Anklage, trotzdem klangen ihre Worte wie ein Geständnis.
„Das kann ich nicht beurteilen. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass man sich selber nicht trauen kann in solch aufgewühlter Stimmung. Du hast den entscheidenden Vorteil, dass du nicht allein diesen Schmerz kennst.“ Gerda meinte Dina. Diese hatte ebenfalls jemanden verloren und obwohl sie nie darüber redete, tat sie sich ebenfalls schwer mit der Verarbeitung ihres Verlustes. Offenbar kannte Gerda die Gruppe nicht so gut wie sie dachte, denn eine eventuelle Gruppentherapie mit Dina war so aberwitzig, wie ein Kurs über gutes Benehmen von Eric.
„Ich mag dich. Vielleicht auch nur weil du Sarah so ähnlich bist. Welche Altlasten du da immer auch mit dir trägst, du wirst damit leben müssen. Ob Schuld oder nicht ist irrelevant. Deinen Lebenslauf kannst du im nach hinein nicht ändern. Es ist nun an dir nach vorne zu schauen und die richtigen Lehren daraus zu ziehen.“
Da war sie wieder, die schroffe, zynisch wirkende Gerda. Auch wenn Eva sich vielleicht ein paar angenehmere Worte erhofft hatte, war sie froh nicht den Puderzucker bekommen zu haben. Was nützten ihr die schönen Worte, die die Wahrheit verschleierten. Gerda hatte Recht und gab ihr damit die verloren geglaubte Orientierung zurück.
„Ich habe da noch etwas, was vielleicht etwas Vertrauen in unsere Gruppe zurück bringt.“ Eva gab ein Pad an Gerda weiter. Eine willkommene Ablenkung von ihren Fragen. Es war die Geschichte der „Viajera“, auf die Sentry gestoßen war. Balta hatte sie ermutigt damit bei passender Gelegenheit rauszurücken. Sollte sich die ganze Sache bewahrheiten, war es durchaus möglich ein vollkommen intaktes Exson an den Koordinaten vorzufinden.
„Interessante Geschichte, aber ich glaube das ist gut gemachtes Seemannsgarn.“ kommentierte Gerda das Gelesene.
„Ich habe bereits mit Sven darüber gesprochen. Eine Kursänderung würde uns gerade mal dreizehn Stunden Umweg kosten und der zusätzliche Treibstoffverbrauch ist verschwindend gering.“
„Soso. Überreize nicht meine fehlgeleiteten Mutterinstinkte. Ohne die würdet ihr vermutlich gerade irgendwo auf Yuma versauern.“ Gerda war wenig begeistert über eine Kursänderung.
„Ich will nicht eine der weiteren Geschichten sein, die enden mit „und dann hat man nie wieder was gehört von der Perinola“. Jede Kursänderung ist ein Risiko sich im Weltall zu verirren. Gerade wenn das Ziel im freien Raum liegt.“ Ihre Entscheidung schien endgültig.
„Nicht, wenn man den besten Navigator in der Galaxis hat. Wie oft hat sich Sven verirrt? Ich glaube da steht immer noch die null.“ Eva brachte ein nicht zu unterschätzendes Argument an.
„Na gut. Aber das Bergungsrecht bleibt bei uns. Wenn da wirklich etwas seien sollte, haben wir den Vorzug.“
„Alles klar.“ Ein gewisser Stolz über die Umstimmung war nicht zu überhören.
Sie fühlte sich besser. Das Gespräch mit Gerda hatte sie kurzzeitig aus der Lethargie geholt, die durch das viele Nichtstun leichtes Spiel hatte. Das Vorhaben in den Kommandoraum zu gehen und sich das Prozedere einer Kursänderung erklären zu lassen, scheiterte an dem Zusammentreffen mit Sentry. Seit betreten des Schiffes hatte sie eine Veränderung an ihm festgestellt. Es herrschte eine gewisse Unsicherheit, wenn sie unter sich waren und ein vernünftiges Gespräch unter vier Augen schien unmöglich geworden zu sein. Das Wort verkrampft traf es wohl am besten. Irgendwas schwebte zwischen ihnen, etwas was dringend einer Klärung bedarf.
„Hast du einen Moment?“ fragte er zaghaft. Eva überlegte kurz, welche wichtige Aufgabe sie als Ausrede vorschieben konnte, aber alles was ihr in der Kürze der Zeit einfiel wirkte fadenscheinig.
„Ja.“ Sie war sichtlich verunsichert. Ein paar Sekunden Schweigen folgten. Auch Sentry schien das Ganze unangenehm.
„Ich frage mich, wo wir stehen. Wir beide.“ fing er an.
„Was meinst du?“ Eva ahnte worauf es hinauslief. Wieder ein paar Sekunden Schweigen.
„Verdammt. Ich bin nicht gut in solchen Sachen.“ Diesmal sprach er zu sich selbst.
„Ich merke doch, wie du mich ansiehst.“ Sein Blick ging nach unten. Die ganze Unterhaltung war ihm sichtlich peinlich.
„Oh.“ war das Einzige, was Eva raus bekam. In Sachen Unerfahrenheit mit dem anderen Geschlecht stand sie ihm in nichts nach. Sentry holte tief Luft, um wieder anzusetzen.
„Tut mir Leid, aber ich brauche da Aufklärung.“ Verdammt das klang mehr als albern.
„Also nicht im sexuellen Sinne, sondern im ….“ Zu spät. Jedes weitere Wort würde unwiederbringlich lächerlich klingen. Das ganze nahm an Peinlichkeit zu.
„Was ich sagen will ist, wir sollten Gefühle außen vor lassen.“ Ihm schienen die Worte wieder zu hart. Er hatte wirklich keine Ahnung von Frauen.
„Sehe ich genauso.“ erwiderte Eva und ihre Körpersprache deutete darauf hin, dass sie lieber überall woanders wäre, als hier bei ihm.
„Gut, dass wir das geklärt haben.“ Eine offensichtliche Selbsttäuschung, denn die Verkrampftheit hatte eher noch zugenommen. Sie standen sich gegenüber, die Blicke gesengt, als würde derjenige im Peinlichkeitspoker verlieren, der den anderen zuerst anschaut.
„Ich muss dann mal.“ beendete Eva das elendige Schweigen, was nach den letzten Worten scheinbar das ganze Universum erfasst hatte.
Das ging ordentlich daneben. Sentry war sich nicht mehr sicher, ob sie wirklich Gefühle für ihn hatte. Sollte er sich geirrt haben, war sein Vorstoß mehr als lächerlich. Jedenfalls hatte sie nicht widersprochen. Klärung war das Ziel. Was er erreicht hatte, war noch mehr Unsicherheit. Es gab keine weitere Möglichkeit für eine Aussprache, ohne sich endgültig zu blamieren. Verdammt. Er hatte gehofft, dass alles so wie vor dem Wissen ihrer Zuneigung würde. Die Situation zwischen ihnen hatte sich definitiv verändert und nun mussten sie damit klar kommen.
Sie hatten den Kurs geändert und Sentry musste sich eingestehen, dass seine Neugierde wuchs. Jetzt wo er wusste, dass es an die Überprüfung seiner Theorie ging, konnte er keine Minute mehr ruhig bleiben. Die Tage vergingen in Zeitlupe. Hatte er den langweiligen Alltag auf dem „heiligen Gral“ schätzen gelernt, sehnte er sich hier regelrecht nach Abenteuer. In seiner Fantasie durchstreifte er schon die Habitatringe nach wertvoller Elektronik. Sie würden auf tausend Jahre alte Technik treffen, aber auch auf Hinweise einer längst vergangenen Zeit. Entdecker, auf der Suche nach einem verschollenen Schatz. Das Schlafen fiel ihm jetzt nicht mehr ausschließlich durch die Unterbelastung schwer. Seine Gedanken kreisten nur noch um IR-2212-13. Sichtlich übermüdet, sehnte er den Tag der Ankunft herbei und acht Stunden vor Erreichen der Koordinaten fiel er dann doch in seeligen erholsamen Schlaf. Geweckt wurde er ganze drei Minuten vor der Auflösung seines Dilemmas, was ihn unausgeschlafen wie er war, in schlechte Laune versetzte. Sie befanden sich bereits im Bremsvorgang und die Dunkelheit die an den Fenstern vorbei zog, hatte sich bereits wieder in ein wildes Farbenspiel verwandelt.
„Gleich werden wir wissen, was deine Theorie wert ist.“ empfing ihn Dina im Kommandoraum. Mittlerweile hatten sich alle Passagiere und die komplette Mannschaft versammelt. Richtig gelassen war keiner der Anwesenden. Jeder hoffte auf eine positive Überraschung.
„Geschwindigkeit ist Null. Schauen wir mal, was es da draußen gibt.“ Sven war sichtlich nervös.
„Da ist definitiv was.“ kam es freudig nach ein paar Sekunden Schweigen. Er tippte auf der Konsole herum und wenige Augenblicke später zeigte der Monitor die Umrisse eines Exsons.
„Yeah. Volltreffer.“ brüllte Eric.
„Da stimmt was nicht.“ Die Freude war aus Svens Stimme komplett verschwunden. Gerda beugte sich über die Anzeige.
„Das Ding leuchtet wie ein Weihnachtsbaum.“
„Es wird noch besser. Sie rufen uns.“ Jetzt war Sven besorgt.
„Verdammt. Berechne uns einen Kurs nach Cree und versuche deinen eigenen Geschwindigkeitsrekord zu brechen. Vielleicht können wir sie so lange hinhalten.“ Gerda war jetzt im Stressmodus. Obwohl sie unter enormer Anspannung stand, funktionierte ihr Verstand wie ein Uhrwerk.
„Was ist denn los?“ Eric verstand wieder gar nichts.
„Wir haben das gefunden, was wir suchten. Leider ist es nicht so verlassen, wie wir uns das vorgestellt haben. Sieht alles nach einer …“ Gerda unterbrach ihre Erklärungen und starrte auf den Lauf einer Waffe.
„… Falle aus.“ beendete sie doch noch den Satz. Jetzt ruhten alle Blicke auf Balta.
„Tut mir Leid. Wir müssen euch hier verlassen. Wenn ihr ruhig bleibt, passiert euch nichts.“ Keinerlei Form von Rechtfertigung in seiner Stimme.
„Wer ist wir?“ fragte Eric. Jetzt begriff Sentry die Zusammenhänge. Von Balta hatte er die Datenspeicher und so wie die Sache stand, war die ganze Geschichte konstruiert. Unmöglich. Dafür war sie zu komplex. Egal wie, sein Ziel ihn hierher zu bringen, hatte geklappt.
„Ihr solltet da ran gehen.“ befahl Balta. Gerda nickte zustimmend.
„Bereiten Sie sich auf die Übernahme Ihres Schiffes vor. Leisten Sie keinen Widerstand.“ tönte der Lautsprecher.
„Wer immer das auch ist. Sie nähern sich achtern mit einem Militärtransporter.“ bestätigte Sven die Drohung.
„Es ist die Science und ich würde raten ihre Empfehlung einzuhalten.“ erklärte Balta.
„Du lausige Ratte.“ Dina war drauf und dran ihn anzugehen.
„Willst du mich erschießen?“ fragte sie provozierend und näherte sich langsam seiner Position.
„Ich werde dich nicht töten, aber ich werde dir wehtun. Du kennst mich am Besten. Du weißt, wenn ich was ernst meine.“ Sein Blick ließ keine Zweifel an seinen Worten aufkommen. Dina stoppte.
„Sentry und ich werden das Schiff verlassen. Danach könnt ihr eurer Wege gehen. Niemanden wird etwas passieren.“ fuhr er fort.
„Falsch. Zwanzig Minuten bis zur Ankunft der Soldaten. Siebzehn Minuten bis wir den Kurs haben.“ Sven war sichtlich stolz auf die schnellste Berechnung, die er je hinbekommen hatte.
„Sieht so aus, als hättet ihr uns unterschätzt.“ Gerda ging zum Kommunikator.
„Leck mich.“ sagte sie trocken und beendete die Verbindung.
„Oh Mist.“ fluchte Sven.
„Ein schlechter Zeitpunkt, um sich zu irren.“ Gerda war das erste Mal wirklich beunruhigt.
„Sie haben uns einen Virus eingeschleust. Über die Kommunikation. Verdammt wie geht das denn?“ Verwirrung und Bewunderung waren aus seiner Stimme zu vernehmen.
„Ausgleich.“ frohlockte Balta.
„Zum Glück habe ich eine gute Firewall. Ja. Ja. Mist.“ fluchte Sven aufgeregt nach ein paar Minuten scheinbar sinnlosem Klavierspiel auf der Computerkonsole.
„Was ist?“ schrie ihn Gerda an.
„Der Antrieb ist lahm gelegt. Verdammt.“ Jetzt war es an Roland zu fluchen.
„Ich habe den Virus isoliert. Leider war ich nicht schnell genug. Der Antrieb ist überhitzt. Das Kühlsystem ist angelaufen, aber die Zeit wird nicht reichen.“ erklärte Sven.
„Ich wiederhole. Nur Sentry und ich werden gehen. Dem Rest passiert nichts.“ beteuerte Balta.
„War die ganze Geschichte nur eine Lüge?“ Sentry wusste nicht so Recht, worüber er mehr enttäuscht war. Der Verrat wog schwer, aber die Demütigung, einem gut gemachten Bluff auf den Leim gegangen zu sein, war ein ganz anderes Kaliber.
„Die „Viajera“ gab es wirklich. Die Science stieß auf sie vor langer Zeit und zog dieselben Schlüsse wie du. Sie fanden IR-2212-13 genau hier und wie du siehst, haben sie sie wieder hinbekommen. Das Einzige, was ich anpassen musste an der Geschichte, war Yuma-Prime. Eine Sache von fünf Minuten.“ Balta war nicht stolz darauf. Eine kurze Erschütterung durchfuhr das Schiff.
„Sie haben gerade angedockt. Wärst du dann soweit?“ fragte Balta. Sentry versicherte sich nochmals, dass den Anderen nichts passierte und bestand auf eine Verabschiedung. Er nahm einen tiefen Atemzug von Dinas unwiderstehlichem Geruch, als er sie umarmte, bedankte sich bei Eric für seine Hilfe mit einem kurzen Kopfnicken und Eva gab er folgende Worte mit.
„Ich weiß wir haben eine „keine Gefühle“ Vereinbarung und glaube mir, ich wünschte ich könnte dagegen verstoßen. Ich bedaure es zutiefst nur dein Freund zu sein. Aber das ist jetzt genau das, was ich jetzt brauche. Jemanden, dem ich uneingeschränkt vertraue.“ Er näherte sich ihrem Ohr und flüsterte die letzten Worte.
„Wir sehen uns wieder.“ Unauffällig drückte er ihr das Amulett in die Hand. Jener blaue Stein, der als Grabbeilage in seinem Sarg lag. In dem Moment öffnete sich die Tür des Kommandoraums und sechs bewaffnete Soldaten stürmten schwer bewaffnet den Raum. Vorboten eines blutigen Dramas.
„Alles unter Kontrolle.“ beruhigte Balta die Soldaten.
„Sie sind Balta?“ fragte der Anführer. Ein Mann mit kahl geschorenem Schädel und einem Kreuz, in dem mindestens tausend Jahre Fitnesstraining steckten. Ein paar Narben in seinem Gesicht verrieten, das Töten sein Geschäft war und da er breitbeinig und selbstbewusst vor ihnen stand, war er offensichtlich gut darin.
„Ja und das ist die Ware.“ Balta zeigte auf Sentry.
„Gut. Folgen Sie dem Soldaten zurück auf den Transporter. Ich kümmere mich hier um den Rest.“ Sein Kommandoton ließ keinen Widerspruch zu. Umso überraschter war er, als Balta keine Anstalten machte sich zu bewegen.
„Ich habe hier das Sagen.“ brüllte Balta ihn an.
„Ich habe meine Befehle direkt von Soltar und die lauten keine Überlebenden. Sie glauben doch nicht wirklich, dass so ein Wicht wie Sie über Soltar steht.“ Die Geringschätzung in seiner Stimme war unüberhörbar.
„Niemand wird getötet.“ Balta versuchte die Kontrolle wieder zu erlangen.
„So. Glauben Sie?“ Er richtete das Gewehr auf Dina. Das Plop der Waffe durchschnitt die Anspannung. Dina riss es augenblicklich nach hinten, als das Projektil sie traf. Grinsend drehte sich der Schütze zu Balta um und schaute in den Lauf seiner Pistole.
„Und jetzt? Kopfschuss? Sie riskieren nicht die Vereinbarung mit der Science wegen ein paar Zivilisten.“ Sein Grinsen wurde breiter.
„So. Glauben Sie?“ Zum zweiten Mal in wenigen Sekunden vernahmen alle das todbringende Plop einer abgefeuerten Waffe. Die Situation war drauf und dran zu eskalieren.
Die Geschehnisse überschlugen sich und Sentry hatte Mühe alles in der passenden Geschwindigkeit zu verarbeiten. Er hatte sich damit abgefunden Balta zur Science zu folgen. Ein unwürdiges, aber unblutiges Schauspiel. Er war wieder zur Ware verkommen und die unangenehmen Folgen dieses Zustandes waren noch nicht so lange her, als das er diese schon hätte vergessen können. Trotzdem willigte er ein, nach dem Versprechen, dass seine Freunde keinen Schaden nehmen würden. Nun hatte der kahl rasierte Kleiderschrank die Sache unnötig kompliziert gemacht und dafür die passende Quittung bekommen. Der Reflex Dina zur Hilfe zu eilen, wurde durch den am nächsten stehenden Soldaten sofort verhindert. Bevor er auch nur einen Schritt in ihre Richtung hinbekam, drückte ihn sein Bewacher zu Boden. Der Rest der bewaffneten Söldner war für einen Moment verwirrt und tatenlos. Ihr Anführer wurde regelrecht hingerichtet und da das nicht von einem der Gegner geschah, sondern von jemanden ihrer vermeintlich eigenen Leute, wirkten sie genau die Zeitspanne überfordert, um Balta die Gelegenheit zu geben die Waffe niederzulegen und ihnen damit die Option seines möglichen Weiterlebens zu ermöglichen.
„Keine weiteren Toten mehr.“ sagte Balta bestimmt und signalisierte mit seiner unterwürfigen Körperhaltung, dass er selber gewillt war diesen Leitsatz umzusetzen.
„Raus hier.“ raunte der zum Anführer aufgestiegene Soldat. Man sah ihm förmlich an, ein Verfechter von klaren Anweisungen zu sein. Die für ihn einfachste Möglichkeit seine Befehle zu befolgen, war sie wortgetreu umzusetzen. Klipp und Klar hieß es, die Ware nach IR-2212-13 zu bringen. Alles Andere waren Anweisungen an ihren gefallenen Anführer und diese lagen nun mit ihm auf dem Boden des Kommandoraumes danieder. Sollte die Science ein Interesse am Ableben der restlichen Mannschaft haben, genügte eine Rakete und sie wären aller Sorgen los. Eine Schießerei könnte die Ware beschädigen und damit den reibungslosen Ablauf ihrer Mission. Ein kurzes Kopfzucken in Richtung des Soldaten, der Sentry in Schach hielt und so wurde dieser gewaltsam Richtung Luftschleuse gebracht. Nach und nach folgte der Rest der Einheit, die ihren toten Anführer mitnahm. Als letzter verließ Balta das Schiff, nicht ohne einen sorgenvollen Blick Richtung Dina. Eine wirkliche aufrichtige Entschuldigung über das Geschehene waren seine letzten Worte, dann verschwand auch er und die Gruppe erwachte aus ihrer Starre.
Es war Gerda, die zuerst in Bewegung kam. Niemand hatte gewagt sich zu rühren nach der Schießerei. Zu groß war die Gefahr in dieser angespannten Lage eine Kugel einzufangen, nur weil man sich zuerst bewegte. Besorgt stellte sie fest, dass die Abkühlung des Antriebes zu langsam voranging.
„Wir müssen hier schnellstens weg. Du hast sie gehört. Sie wollen keine Zeugen.“ wandte sie sich an Sven. Geschäftiges Treiben beherrschte jetzt den Raum. Während die Mannschaft sich bemühte das Schiff wieder flugfähig zu bekommen, kümmerte sich Eva um Dina. Der Schuss, den sie abkommen hatte, ging in die linke Hälfte ihres Bauchraumes. Sie war noch am Leben, aber nach dem Blutfluss, der aus der Wunde quoll, schien dies nicht mehr von langer Dauer.
Eva fühlte sich überfordert. Der unbedingte Drang zu helfen, stand ihren begrenzten medizinischen Fähigkeiten gegenüber. Alles, was sie an erster Hilfe gelernt hatte, war sinnlos in dieser aussichtslosen Situation. In dem Moment, als die Panik die Oberhand zu gewinnen drohte, kam Nancy mit einem Handtuch in der Hand zu ihr.
„Drück das auf die Wunde. Wir müssen unbedingt die Blutung stoppen.“ Die Tatsache endlich hilfreich zu sein, verhinderte die Panikattacke. Nancy verschwand für ein paar Sekunden, um die Sanitätstasche zu holen. Endlos, wie es Eva schien. Mehrmals murmelte sie gebetsartig Richtung Dina nicht zu sterben. Noch spürte sie leben in ihr, aber selbst als medizinische Niete wusste sie, dass ihr Zustand sich rapide verschlechterte.
„Damals, nach dem Tod eines unserer Mannschaftsmitglieder, haben wir massiv medizinisch aufgerüstet. Nicht nur materiell. Ich habe so ziemlich jeden Lehrgang mitgemacht der ging. Ich muss sagen, die Praxis sieht weitaus komplizierter aus.“ Nancys Handgriffe wirkten routiniert. Sollte sie Zweifel an ihrem Handeln haben, konnte ihr Eva das nicht ansehen.
„Du machst das gut.“ baute sie sie trotzdem auf.
„Der Druckverband hat die Blutung gestoppt. Wir müssen irgendwann die Kugel rausholen, aber bei dem vielen Blut, was sie verloren hat, traue ich mir das nicht zu.“ Nancy klang besorgt.
Die Eindrücke überrollten Eva. Die letzten Wochen hatte sie ihren Geist aus Mangel an Beschäftigung auf ein Minimum an Aktivitäten zurückgefahren. Nun ist unfreiwillig der Turbo gezündet worden und die Aufnahme von vielen neuen Informationen verhinderte einen klaren Gedankengang. Sie probierte es trotzdem. Sentry wurde entführt und das von jemanden, dem sie vertraute. Allein diese Tatsache wirkte nicht real. Dann wurde Dina angeschossen und lag im Sterben. Spätestens hier drohte der mentale KO. Aber da war noch die Steigerung des Ganzen. Sobald die Entführer in sicherer Entfernung waren, würden sie sie töten. Eine einzige Rakete würde vermutlich reichen, denn ihr Antrieb glühte wie ein Hochofen vor sich hin und alles, was sie hatte an physikalischem Grundwissen war genug, um zu realisieren, dass zu viel Hitze in den Weiten des Raumes nicht so ohne weiteres abgebaut werden konnte. Der Fluch des Vakuums.
Ihre Lage zu verstehen war nicht ganz einfach, aber wenn sie die panischen Gespräche richtig deutete, hatten sie nicht nur ein Problem. Der eingeschleuste Virus hatte die Temperatur des Antriebes soweit erhöht, dass eine Flucht unmöglich wurde. Schon im regulären Betrieb musste die entstehende Wärme abgeführt werden, was mit Hilfe einer Kühlflüssigkeit geschah, die die Wärme aufnahm und dann direkt im Weltall entsorgt wurde. Normalerweise war der Kühlflüssigkeitstank voll, aber die Überhitzung durch den Virus hatte die Reserven auf ein Minimum schrumpfen lassen. Wenn sie Sven richtig verstanden hatte, war es zwar möglich den Antrieb wieder auf Normaltemperatur zu bringen, aber für den Weiterflug nach Cree standen die Chancen auf Grund des Mangels schlecht. Ein Problem, dem sie sich wahrscheinlich nicht stellen müssen, denn die vorherrschende Gefahr drohte immer noch durch den Abschuss einer Rakete. Den notwendigen Sicherheitsabstand würden sie in wenigen Minuten erreichen.
„Es ist soweit.“ bestätigte Roland die Gefahr und zog unwillkürlich den Kopf ein, als würde er jeden Moment mit einem Angriff rechnen.
„Nichts. Warum greifen die nicht an?“ Sven klang verwirrt.
„Stopp die Kühlung.“ Gerda klang wie jemand, der einen guten Plan hatte. Obwohl Sven für einen Moment an ihrem Gesundheitszustand zweifelte, führte er ihren Befehl aus. Zu gut kannte er sie, als dass er ihre Anweisungen in Frage stellen würde.
„Wir brauchen jeden Tropfen für den Weg nach Cree. Die geben uns die Möglichkeit dazu.“ Der Militärtransporter der Science war nun zu einer unbestimmten Bedrohung geworden. Aus welchen Gründen auch immer. Noch hatte niemand da drüben den Knopf für den Abschuss gedrückt. Es gab kaum Hoffnung, dass dieser Zustand unverändert blieb.
„Wir leiten die Wärme in die Hülle.“ enthüllte Gerda ihren Plan.
„Dann wird es hier ungemütlich. Bringt uns aber ein paar Minuten den Antrieb schneller wieder auf Normal zu bringen.“ Wirklich begeistert war Sven nicht, aber es schien ihre einzige Chance, immer unter der Vorrausetzung, da drüben kamen sie nicht doch noch auf die Idee sie zu vernichten.
„52 Grad Celsius. Das ist das, was wir dann aushalten müssen und das 27 Stunden bis wir in Cree ankommen.“ Sven schaute auf den leblosen Körper Dinas. Die Gewissheit damit ihr Todesurteil zu besiegeln, ließ ihn kurz zögern.
„Los.“ befahl ihm Gerda.
„Sechs Minuten. Dann können wir hier weg.“ Was immer auch die Science davon abhielt sie zu töten. Hoffentlich hatte es für die nächsten sechs Minuten Bestand.
Sie eilten durch die „Perinola“ zur Andockschleuse und als sie den Militärtransporter betraten, legten sie ihm ein paar Handfesseln an. Elektronische Bauart. Ein leichtes Spiel für seine Femtos. Egal. Eine Flucht war unmöglich. Ob nun gefesselt oder nicht, sein Schicksal war vorbestimmt. Ausserdem verhinderte die Sorge um Dina klare Gedanken über ausgereifte Fluchtpläne. Sentry versuchte sich abzulenken und den Verrat und seine Schmach in den Vordergrund seines Denkens zu schieben, aber so leicht ließ sich sein Geist nicht manipulieren. Die Ungewissheit über den Zustand von Dina verursachte ein Chaos in seinem Kopf. Die letzten Minuten hatten ihn ordentlich überfordert und das, was vor ihm lag, würde vermutlich die ganze Misere in seinem Kopf noch steigern, denn bisher war er nur unbeteiligter Zuschauer, aber jetzt stand sein Auftritt unmittelbar bevor. Er war die Hauptfigur in dem Spiel. Der eigentliche Grund, warum Balta ihn verriet oder Dina auf der „Perinola“ verblutete. Das Schlimme war, er hatte keine Ahnung, was ihn erwartete, aber alles, was er bisher von der Science kennen gelernt hatte, unterschied sich nicht von den Methoden eines Kain, Dart oder Red. Eine weitere Gruppe, die auf den Schatz in seiner Blutbahn scharf war. Nein. Da war mehr. Die Science war eine der Supermächte in dieser Galaxie und das Gefühl, eher Teil ihres größten Gegenspielers zu sein, ließ nichts Gutes für Sentry erwarten und brachte ihm ein vertrautes Gefühl zurück. Angst.
Der Militärtransporter war schlicht gehalten. Einzig und allein dafür da Leute zu transportieren. Niemand hielt sich hier länger als ein paar Stunden auf und so war ein großer Raum direkt an der Luftschleuse das Einzige, was im Inneren vorzufinden war. Rechts und links befanden sich Bänke, auf denen die Söldner saßen. Am gegenüberliegenden Ende war die Steuerkonsole für den Piloten. Die Bewaffnung bestand aus zwei Raketen und genau das war der Punkt, der Sentry Sorgen machte. Ein Befehl genügte und schon waren die unliebsamen Zeugen auf der „Perinola“ beseitigt.
Es war Balta, der ihn auf der Bank platzierte. Genau gegenüber eines Computerterminals, dass mittig im Raum an der Wand angebracht war. Auf einen Schlag war Sentrys Geist klar. Er konnte nicht viel tun für sich selbst, aber die Möglichkeit seine Freunde zu retten war da. Es war kein Zufall, dass er genau hier saß und genauso wenig war es Zufall, dass Balta ihm gegenüber saß. Sie sahen sich an und ein kurzes Kopfzucken in Richtung des Terminals bestätigte seine Vermutung.
Auf Lassik hatte er den Identifizierungscomputer lahm gelegt. Falsch. Nicht er war es. Etwas in seinem Inneren hatte ihnen geholfen. Etwas, was er nicht verstand und was ihm Angst machte, hatte den Virus eingeschleust. Damals war es notwendig für das eigene Überleben. Hier ging es um so etwas Selbstloses, wie das Leben von ein paar Unbeteiligten. Nichts was den Geist aus der mentalen Flasche locken würde. Wollte er seine Hand auf diesen Computer legen und damit den Abschuss der Rakete verhindern, musste jener Sentry, der derzeit die geistige Gewalt in diesem Körper besaß, das ohne Hilfe irgendwelcher schizophrenen Mitbewohner hinbekommen. Genau da lag die Unbekannte in diesem Unterfangen. Er war sich nicht sicher, ob er den Virus erfolgreich einschleusen konnte.
Irgendwas stimmte nicht. Während er da saß und auf die passende Gelegenheit für die Sabotage des Transporters wartete, hatte er das Gefühl irgendetwas übersehen zu haben. Ein Randdetail, etwas was im Chaos der letzten Ereignisse untergegangen war. Das Durcheinander in seinem Kopf verhinderte logisches Denken. Mit geschlossenen Augen konzentrierte er sich. Er lauschte den Stimmen, er spürte die Handfesseln und dann merkte er es. Schmerz. Ganz leicht an seinem rechten Handgelenk. Er musste sich verletzt haben, als sie ihn durch die Perinola trieben. Ein leichter Schnitt nur, nichts Beunruhigendes. Jedenfalls für jeden Anderen als ihn. Doch bei ihm war das anders. Die maximale Haltbarkeit einer Verletzung betrug nicht mehr als fünf Minuten. Wann hatte er sie das erste Mal unbewusst registriert? Schritt für Schritt ging er die Geschehnisse durch und blendete Panik und Angst aus seinen Erinnerungen aus. Da war es. In der Luftschleuse wurde er voran geschoben und blieb an einer der Rahmen hängen. Das war fünfzehn Minuten her. Zum Teufel was war los mit seinen kleinen Helfern?
Sentry starrte weiter auf seine Verletzung, als versuche er mit reiner Gedankenkraft die Heilung herbeizuführen. Nichts. Vielleicht war die Wunde zu klein, als dass es ein Eingreifen der Femtos erforderte. Da log er sich selber was vor und tief in seinem Inneren wusste er, dass was nicht stimmte. Sein Blick ging zur Computerkonsole und eine böse Vorahnung überkam ihn. Ihm blieb keine Zeit die Zweifel weiter zu nähren. Balta erhob sich und signalisierte mit einer kurzen fast unauffälligen Geste, dass der Zeitpunkt gekommen war für ihr Vorhaben. Eine kurze Ablenkung von seitens Balta und schon war Sentry den Moment unbeobachtet, den er brauchte, um die wenigen Schritte zur Konsole zu machen und mit Hilfe seiner gefesselten Hände den Virus einzuschleusen.
Tausend Kilo. Das war die gefühlte Masse, die es zu überwinden galt, um sich von seinem Sitz zu erheben. Vor was hatte er nicht alles Angst? Das ihm einer der Soldaten einen Kopfschuss verpassen würde, war sein geringstes Problem, trotz des Streikes seiner Selbstheiler. Da wog die Sorge, dass seine Codeknacker nicht funktionieren würden schon größer. Selbst wenn sie ihren Dienst täten, hatte er es noch nie bewusst geschafft den Virus einzuschleusen. Schritt eins. Baltas Ablenkungsmanöver war perfekt. Niemand hatte bemerkt wie er aufstand. Sein Selbstbewusstsein stieg. Das war es, was er jetzt brauchte. Zuversicht. Immerhin lagen gleich mehrere Menschenleben in seiner Hand. Ein weiterer Schritt. Unweigerlich kam er jetzt in das Sichtfeld eines der Soldaten, was ihn antrieb schneller zu gehen. Die Adrenalinmenge in seinem Blut hatte jetzt den richtigen Pegel. Leichte Euphorie ergriff ihn, war doch das spüren von Adrenalin unweigerlich mit der Funktion seiner Femtos verbunden. Er schaute nieder auf die Wunde an seiner Hand. Keine Veränderung. Die Sorge bekam wieder die Oberhand. Noch zwei Schritte, dann war es geschafft. Das „Hey“ eines Soldaten nahm er nur als Teil des Hintergrundrauschens wahr, zu sehr war er konzentriert auf die Konsole. Er sprang ihr regelrecht entgegen. Für einen Augenblick waren beide Füße in der Luft und er hatte Angst seine Beine könnten sein Gewicht bei der Landung nicht tragen. Noch rechtzeitig begriff er die Macht der Suggestion und verkehrte den Pudding in seiner Muskulatur in knallharten Stahl. Sicher stand er davor und nichts und niemand konnte ihn abbringen seine gefesselten Hände auf die Konsole zu legen.
Das blinkende Rot bohrte sich regelrecht in seinen Sehnerv. Auf Lassik hatte er unzählige Male seine Hand auf Gerätschaften gelegt und das grüne Licht, welches zuverlässig immer wieder als Antwort ihm entgegen leuchtete, wurde zu einer Naturkonstante. Unmöglich, dass irgendwann mal etwas anderes passieren würde. Ungläubig stand er davor und konnte nicht glauben, dass es Technik in diesem Universum gab, welche er nicht beeinflussen konnte. Gewaltsam wurde er zurückgezogen und die Worte, die klangen wie „was zum Teufel machst du da“ verhallten in der Ungläubigkeit seines Geistes. Er hatte versagt. Genau in dem Augenblick, wo er seine Dämonen am dringendsten gebraucht hätte, versagten sie ihm seine teuflischen Fähigkeiten.
Er schaute rüber zu Balta und das Entsetzen in seinem Gesicht spiegelte seinen eigenen Gemütszustand wieder. Der Transporter hatte den Punkt erreicht, an dem er gefahrlos seine Raketen Richtung „Perinola“ abfeuern konnte und die angeregten Diskussionen, die den Raum erfüllten, ließen darauf schließen, dass dieser Plan in Kürze ausgeführt werden würde. Erneut stieg Panik in Sentry auf und verhinderte einen eventuellen Plan B. Den gab es sowieso nicht und selbst wenn, wäre die Umsetzung äußerst schwierig gewesen, denn mittlerweile hatte er die volle Aufmerksamkeit sämtlicher Soldaten. Diese waren führungslos und den Umstand versuchte sich Balta zu nutzen zu machen.
„Hören Sie Soldat. Sie sind jetzt der Anführer und wie jeder gute Anführer müssen Sie sich ihre Befehle bestätigen lassen.“ wandte sich Balta an den ranghöchsten Soldaten. Dieser schien sichtlich überfordert.
„Das haben wir Ihnen zu verdanken. Setzen Sie sich hin und halten Sie die Klappe.“ brüllte er Balta an. Unschlüssig schaute er zu dem Piloten rüber. Dieser versicherte ihm, dass durch die Überhitzung des Antriebes keine Fluchtgefahr bestand. Der Stresspegel des unfreiwilligen Kommandanten sank dadurch und veranlasste ihn Baltas Rat zu folgen.
„Hier ist Soltar.“ drang eine Stimme aus dem Lautsprecher. Die Ruhe und Gelassenheit passte sogar nicht zu der vorherrschenden hektischen Atmosphäre im Transporter.
„Soldat Enrie hier.“
„Was ist mit dem Major?“
„Ich habe ihn getötet.“ antworte Balta unaufgefordert. Enrie hinderte ihn nicht daran zu antworten. Ganz im Gegenteil. Er war froh die schlechte Nachricht nicht persönlich überbringen zu müssen. Ein paar Sekunden Schweigen am anderen Ende.
„Balta. Ich bin nicht einmal sonderlich überrascht. Erzählen Sie mir auch den Grund dafür.“ keinerlei Ärger war zu vernehmen.
„Ihr habt euch nicht an die Vereinbarung gehalten. Niemand soll getötet werden.“
„Das heißt die Zeugen leben noch?“ zum ersten Mal war so etwas wie Zorn zu vernehmen, was Enrie dazu veranlasste das Gespräch zu übernehmen.
„Ihr Schiff ist ohne Antrieb. Eine einzige Rakete und die Sache ist erledigt.“ versicherte er.
„Dann tun Sie es.“ kam es wieder sichtlich ruhiger aus dem Lautsprecher.
„Nein.“ brüllte Balta und Sentry musste zugeben ihn noch nie in dieser Aufgewühltheit gesehen zu haben. Selbst in den stressigsten Situationen in der Vergangenheit, hatte Balta einen kühlen Kopf behalten.
„Wollen Sie, dass die Sache eskaliert. Offenbar haben sie hier ein Dämpfungsfeld, was die Ware anfällig für Verletzungen macht. An Ihrer Stelle würde ich mich zurückhalten mit unüberlegten Aktionen.“ Die Aussichtslosigkeit in seiner Stimme war deutlich zu vernehmen.
„Sie wollen mir drohen? Was glauben Sie, wer Sie sind? Soldat Enrie, Sie haben mein Vertrauen, dass Sie die Anweisungen zur vollsten Zufriedenheit ausführen.“ Damit war die Verbindung beendet.
Die Unsicherheit über das weitere Vorgehen war plötzlich wie weggeblasen. Mit klaren Anweisungen war Enrie der perfekte Befehlsempfänger. Selbstsicher ging er rüber zum Waffenschrank, holte einen Elektroschocker aus einer der Schubladen und ehe Balta sich auch nur eine halbwegs geplante Aktion überlegen konnte, war er außer Gefecht gesetzt. Die Soldaten schleppten ihn auf seinen Sitz. Nun war Sentry dran. Enrie zögerte kurz, immerhin war er die Ware, die eigentlich unversehrt bleiben sollte, aber die Aktion mit dem Computerterminal ließ ihn wenig vertrauenswürdig erscheinen. Sicherheitshalber stellte er den Schocker eine Stufe tiefer. Die Angst kroch hoch in Sentry. Die Bilder, wie Red ihn folterte, kamen unweigerlich wieder in ihm hoch. Damals hatte er funktionierende Femtos. Er hatte keine Ahnung, ob sie sein Leid minderten. Wenn ja, war dass was ihm bevorstand um einiges schmerzvoller. Wie in Zeitlupe sah er Enries Arm mit der unheilvollen Waffe auf ihn zu kommen. Dankbar kurz war der Schmerz und die Erinnerung an die Stromtierchen, die seine Eingeweide lahm legen würden, war höchstens ein Bruchteil einer Sekunde. Schnell kam die Ohnmacht und mit ihr der lange Filmriss.
Da war es wieder, dieses verdammte Eichhörnchen. Kein Tanzen diesmal, auch kein verächtliches Grinsen. Es saß einfach nur da und starrte ihn an. Als warte es auf irgendeine Reaktion von ihm. Sentry wollte nach ihm greifen, doch wieder hatte er keine Arme. Seine Befehle verpufften im Nichts. Er konnte nicht mal seinen Blick abwenden. Kein rechts oder links vorbeischauen, da war auch nichts Anderes, worauf er sich hätte fokussieren können. Dieser verdammte Nager saß in der Mitte eines riesigen weißen Universums. Er schloss die Augen. Wenigstens das klappte. Für einen Moment war diese rote Ratte nicht der Mittelpunkt der Welt. Eine unbekannte Kraft ließ seine Augenlider nach oben schnellen und wieder blickte er in die Knopfaugen, die ihn penetrant anstarrten. Panik ergriff ihn, als er merkte, dass die Distanz sich verringert hatte. Lautlos war das Mistvieh näher gekommen. Er konnte nichts tun, außer wieder seine Augen zu schließen. Wieder zwang ihn die unbekannte Macht sich seinem Übel zu stellen. Bedrohlich nahe saß es nun vor ihm. Augen schließen und nie wieder öffnen. Der einzige Wunsch, den er noch hatte. Noch einmal schaffte er es in die Dunkelheit abzutauchen, bevor er wiederum gezwungen wurde dem Nager gegenüberzutreten. Wie nah war er jetzt. Zehn Zentimeter? Zehn Meter? Er hatte kein Gefühl für Distanz mehr. Das Einzige was er jetzt sah, war die Pfote, die auf ihn zu flog.
War das ein Schrei? Sentry war sich nicht sicher. Zu verwirrt war er, als er in die Realität zurückkehrte. Die Umgebung war unbekannt und steigerte seine Verwirrung zusätzlich. Er konzentrierte sich auf das Offensichtliche. Eine Lichtquelle an der Decke. Diese offenbarte ihm die Trostlosigkeit seiner Umgebung. Kalte metallische Wände. Er war wieder in einer Zelle. Zu viele Gefängnisse hatte er schon von innen gesehen, als dass Zweifel an seiner Unterkunft aufkommen könnten. Langsam kehrte die Erinnerung zurück. Er war jetzt Gefangener der Science. Jene Organisation, die unbedingt seine Femtos wollte. Diese Dinger, die nicht mehr funktionierten. Seine Hand kam ihm wieder in den Sinn und als er die Wunden an seinen Handgelenken sah, war ihm klar, dass sich ihr Zustand nicht verbessert hatte. Was hatte er die Biester verflucht und jetzt wo sie weg waren, trauerte er ihnen nach. Er legte sich auf die Pritsche. Der einzige Gegenstand in dem Raum. Zusammengerollt wie ein Fötus lag er da und fror. Er wollte nicht wieder einschlafen. Zu groß war noch die Angst vor dem Eichhörnchen. Auf der Seite liegend, starrte er auf die Wand gegenüber und versuchte die Nachwirkungen der Betäubung aus seinem Geist zu bekommen. Er musste dringend klaren Kopf bekommen.
Zu seiner Überraschung ließ man ihm die Zeit. Zwei oder drei Stunden bewegte er sich kaum. Seine mentale Stabilität kam Stück für Stück zurück. Er registrierte die Ausweglosigkeit seiner Situation und die hohe Wahrscheinlichkeit als Laborratte sein zukünftiges Dasein zu fristen. Er erinnerte sich an die ungewissen Schicksale seiner Freunde und fand sich damit ab sie nie wieder zu sehen. Wehmut überkam ihn, als er die vergangenen Wochen im Geiste noch mal durchging. Die Erinnerung an Dinas Geruch, die guten Gespräche mit Eva und selbst die nervige Eifersucht von Eric kamen ihm vor, wie heile Bilder aus einer imaginären Kindheit. Hatten sie es geschafft zu entkommen? Vermutlich nicht. Er hatte alles verloren. Seine Freiheit, seine Freunde, seine Femtos. Der Kreis schloss sich. Er war wieder allein und er war wieder in Gefangenschaft. Sein Schicksal schien vorherbestimmt. Egal wie sehr er sich dagegen wehrte.
Er suhlte sich in Selbstmitleid. Ein Kokon für die bevorstehenden Konfrontationen. Die Angst blieb vorerst draußen und die Fokussierung auf die Elendigkeit seines Daseins ließ ihn unempfindlich werden für seine Umgebung. Er wusste, dass es eine Art Flucht aus der Realität ist. Eigentlich nichts, was ihm in seiner Situation weiter helfen würde. Seine Zukunft bestand in jeder möglichen Variante ausschließlich aus Angst und Schmerz. So schien ihm der Trübsal als kleinstes Übel. Ein Selbstbetrug. Die Erkenntnis kam irgendwann mit unerbittlicher Härte über ihn und das, was er gerade noch als Oase in einer unendlich scheinbaren Wüste empfand, wurde zu einer widerlichen verseuchten Kloake. Er wollte nicht schwach sein. Wenn sein Ende bevorstand, würde er nicht kniend den Gnadenschuss empfangen. Nein. Er war bereit, standhaft seinem unausweichlichen Schicksal entgegenzutreten.
Er stand auf mit der Energie eines zwölf Stunden Schlafes. Zwei Minuten stand er in der Mitte des Raumes und ließ das neu gewonnene Selbstvertrauen wirken. Dann ging er zur Tür. Zu seiner Überraschung war diese nicht verschlossen. Ohne Zögern ging er hindurch und stand einem Mann in einer hellblauen Uniform gegenüber. Unbewaffnet war das Ergebnis einer flüchtigen Kontrolle.
„Wo bin ich?“ Verdammt er wollte mehr Selbstvertrauen in seine Worte legen, stattdessen klang er wie ein devoter Sklave. Die Antwort blieb ihm sein Gegenüber schuldig. Eine kurze Kopfbewegung, die ihm signalisierte er möge den langen Gang entlang gehen, war das Einzige, was ihm der Soldat zugestand. Alles wirkte so unreal. Wie in einem Traum. Absolute Stille. Die Luft war vollkommen geruchsfrei und der etwa ein Meter breite Gang ließ ihn zweifeln an seinem wachen Zustand. Allein die Kälte sprach für die Realität. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen und die Vibrationen, die er dabei spürte, verrieten ihm, dass er sich auf einem Schiff befand.
Die Tür am Ende des Ganges stand zur Hälfte offen, aber die Dunkelheit dahinter verhinderte einen ersten Eindruck. Aus Mangel an Alternativen ging er weiter auf sie zu. Vorsichtig schob er die Tür vollends auf.
Eine Arena? Damit hatte er gar nicht gerechnet. Was auch immer er erwartet hatte, dass stand nicht mal auf der Liste der ganz absurden Dinge. Die Fläche vor ihm war spärlich beleuchtet und er konnte Rechts und Links ein paar Sitzreihen ausmachen. Im Halbdunkel lagen die Ränge etwa fünf Meter darüber. Er war tatsächlich in so etwas wie einem Theater. Unmöglich, dass er nicht träumte und für kurze Zeit manifestierte sich die Vorstellung eines gigantischen Eichhörnchens, welches ihn durch die Arena jagte und ihm in einem blutigen Finale den Kopf abriss.
Langsam näherte er sich dem Mittelpunkt der Fläche und schaute sich um. Da waren mindestens fünf Ausgänge und Treppenstufen führten zu den Rängen hoch. Unschlüssig, was er tun sollte, bemerkte er den Soldaten, der jetzt vor der Tür stand, durch die er gekommen war. Starr und regungslos viel sein Blick ins Leere, so als würde er als Statue zum Inventar gehören.
Die Unwirklichkeit dieser Szenerie ließ ihn erstmals lächeln. Was ging hier vor? Er überlegte seine Optionen. Würde der Soldat ihn daran hindern die Türen zu öffnen? Noch traute er sich das Wagnis nicht zu. Was gab es noch? Seine Überlegungen wurden unterbrochen durch Schritte, die auf ihn zukamen. Von einem der Ränge, soviel konnte er ausmachen, aber die Richtung war unbekannt.
Zuerst sah er nur die Umrisse. Ein Mann, der die Treppen mit wenig Anmut herabstieg. Die seitliche Silhouette verriet seinen wohlgenährten Zustand. Wieder etwas, was seine Traumtheorie bestätigen würde. Niemals hatte er einen so fetten Menschen gesehen. Von einer Welt, in der Nahrung als Mangelware galt, war dieser Mann offensichtlich nicht. Behäbig kam er auf ihn zu und die Anstrengung, die ihm die Treppen abverlangten, war ihm deutlich anzusehen.
„Herzlich Willkommen. Entschuldigen Sie den buchstäblich theatralischen Auftritt, aber derzeit herrscht ein wenig Uneinigkeit, wie wir mit Ihnen weiter verfahren sollen.“ keuchte er Sentry entgegen. Dieser war unschlüssig, wie er auf die Begrüßung reagieren sollte. Das verunsicherte seinen Gegenüber.
„Äh…“ offenbar war er geistig genauso fit wie beim Treppen steigen.
„Ähm.. Ich stelle mich erstmal vor. Ich bin Koppar.“ wieder erwartete er eine Reaktion, aber Sentry war immer noch nicht in der Lage was zu erwidern.
„Sie befinden sich auf einem Gefängnisschiff, allerdings sind Sie kein Gefangener. Jedenfalls noch nicht. Der Rat hat noch nicht entschieden und da wir keine Zelle mehr frei haben, sind Sie erstmal hier im Gefängnistheater untergekommen.“ Jetzt schaute er schon fast flehentlich in Richtung Sentry, um eine Reaktion zu bekommen.
„Na gut. Der Rat wird jede Minute hier eintreffen und dann werden sie entscheiden, wie es mit Ihnen weiter geht.“ Koppar wollte sich schon wieder abwenden und mit gequälten Augen sah er der steilen Treppe entgegen, als Sentry endlich etwas erwiderte.
„Der Rat?“ fragte er.
„Ja.“ kam es froh zurück, wobei nicht eindeutig erkennbar war, ob er glücklich war über die Antwort oder über die Tatsache nicht auf die Stufen zu müssen.
„Der Kopf der Science, wenn Sie so wollen. Fünf Mitglieder, die die Geschicke leiten. Sie sind die ….“ Er wurde unterbrochen von Geräuschen auf den Rängen.
„Da sind sie.“ Der Respekt, mit dem er die Worte aussprach, hatte was sichtlich Unterwürfiges. Sentry schaute nach oben und konnte eine Handvoll Gestalten ausmachen, die nicht den Anschein erweckten, als würden sie zu ihm runter kommen wollen.
„Tut mir Leid. Ich habe nur dieses Theater für ihn. Wie sie wissen sind wir schon seit Wochen überbelegt und zu den gemeinen Kriminellen wollte ich ihn nicht…“
„Schon gut.“ wurde Koppar in seinen Entschuldigungen von einer weiblichen Stimme unterbrochen.
Es folgten zwei Minuten angeregte Unterhaltung auf den Rängen, wobei nicht zu vernehmen war, worum es im Speziellen ging.
„Wie ist dein Name?“ wurde er urplötzlich von einer strengen männlichen Stimme gefragt.
„Sentry. Und ihr seid?“ fragte er mit einer ordentlichen Dosis Selbstvertrauen. Koppar neben ihm zog hörbar die Luft ein und ging einen Schritt zur Seite.
„Welcher ist dein Heimatplanet?“ ignorierte die Stimme die Gegenfrage.
„Ich bin heimatlos.“ Gemurmel auf den Rängen.
„Kommen Sie runter, dann können wir von Angesicht zu Angesicht miteinander reden.“ Sentry überraschte sich selbst mit seinem forschen Auftreten. Das Gemurmel verstummte. Jemand stieg die Stufen herab. Eindeutig weiblich. Mit einer Grazie, die seine Fantasie zum überschäumen brachte. Er spürte ein Kribbeln in seinen Händen und als er auf sich herabschaute, sah er gerade noch, wie die letzte Schramme an seinem Handgelenk verschwand. Die Femtos. Sie waren zurück und mit ihnen die Unsicherheit von Freude oder Bedauern über ihre Rückkehr. Er schaute auf und sah die Eleganz in der Bewegung ihrer Schritte, die selbstsicher auf ihn zukamen. Das Gesicht, die braunen Augen, die gelockten Haare. Jedes einzelne vertraute Detail ihres Gesichtes. Er war am Ziel seiner Bemühungen. Sie stand vor ihm und die ganze Bandbreite der Gefühle, die ihn damals überfluteten, als er ihr Foto das erste Mal erblickte, ergossen sich aufs Neue über ihn. Trauer, Wut und Verlustangst gingen über in ein Meer aus Schmerz. Ja, die Femtos waren zurück und mit ihnen spürte er erstmals ihre Kontrollfunktion. Die Kopfschmerzen drohten in Wahnsinn überzugehen. Schmerzverzerrt schaute er in ihr Gesicht, unfähig ein Schrei oder ein Wort hervorzubringen. Seine Gefühle passten nicht zu ihrer Reaktion, aber es war kein Raum für Verwirrung in seinem Kopf. Der Schmerz war zu dominant und er war sich sicher, erst am unteren Ende der Skala zu sein. Sie könnte ihn töten, mit nur einem einzigen Knopfdruck und sie war dazu bereit, dass war deutlich erkennbar. Was immer auch ihn dazu veranlasste ihr diese Gefühle entgegenzubringen. Er ist wieder mal betrogen worden. Diese Erkenntnis brach seinen Lebenswillen. Nicht die Femtos würden ihn umbringen. Nein. Er wählte das süße Gift der Resignation.
Teil 2
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Tag der Veröffentlichung: 07.09.2014
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