Die Geschichte der Ewigkeit
Es war die letzte Nacht des Jahres, welches die große Kälte über die Menschen gebracht hatte. Mit jedem Monat wurden zu jener Zeit die Tage kürzer, aber nicht so wie es die Menschen kannten von den Jahreszeiten her. Sie wurden kürzer mit jedem Tag, von Januar an. So geschah es, dass in den letzten Wochen des Dezembers die Sonne kaum mehr auftauchte und die Nacht den Tag zum Ende hin vollkommen einnahm.
Niemand ahnte den Grund, der den Menschen dies Leid brachte.
Es war die 21. Stunde am letzten Tag des Jahres, das die Menschen als das 2000. Jahr nach der neuen Zeitrechnung ansahen.
Eine alte, gebückte und keuchende Gestalt, gestützt auf einen geschnitzten Weidenstock, wanderte den langen Weg zur Küste hinab, sein Blick immer zum Boden gerichtet. Er war ein sehr alter Mann und er ging, als müsste er die gesamte Last der Welt auf seinem Rücken tragen. Er war der Hüter der Zeit. Sein Alter war so groß wie die Unendlichkeit selber, denn er verkörperte das Nebeneinander von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Klein waren seine Schritte, die sich schleifend ihren Weg hinab zur alten verlassenen Holzhütte suchten.
Als er an der Hütte endlich angekommen war, blieb er kurz vor der Tür stehen und hob sein Haupt. Die Tür war halb geöffnet und er konnte somit etwas in das Haus hineinschauen. Er vernahm das schwache Flackern einer Kerze und sah wie sich in der Mitte des Raumes die Konturen eines Tisches deutlich abgezeichneten.
Er zögerte einen Moment und zog mit seiner linken freien Hand seinen Mantel zurecht, den er über seinem dunklen Anzug trug.
Er atmete noch einmal tief ein, ehe er sich entschloss durch die Tür ins Haus einzutreten.
Er schloss die Tür vorsichtig hinter sich und drehte sich in den Raum. Er vernahm daraufhin eine Gestalt, die sich aus der hinteren linken Ecke des Raumes dem Tisch näherte. Die Gestalt kam lautlos auf ihn zu. Ihre Schritte machten keinerlei Geräusche. Je näher sie in dem Schein der Kerze kam, die in der Mitte des Tisches stand, um so deutlicher vernahm er ihre Konturen.
„Trotz deines hohen Alters und deiner langsamen Schritte bist du pünktlich!“, sprach die dunkle Gestalt mit sehr tiefer Stimme, deren Gesicht er jetzt im Schein der Kerze erblicken konnte.
Es war der Tod. In der Gestalt eines jungen Mannes stand er nun vor dem Hüter der Zeit. Er wirkte gut gepflegt, zeigte eine gute Statur und war auch sehr gut gekleidet.
„Wieso wirkst du so jung, Tod? Auch dein Ursprung ist die Ewigkeit!“, konterte der alte Mann.
„Du weißt doch, ich bin nur für die Seelen der Menschen zuständig. Ihre Körper braucht doch niemand mehr, da bediene ich mich einfach, nachdem ich sie zu ihren Bestimmungsorten gebracht habe“, sprach der Tod mit witzelndem Unterton.
„Dein Sarkasmus ist schlimmer als das Chaos der Urzeit“, entgegnete ihm der Hüter der Zeit.
Der alte Mann ging etwas um den Tisch herum und setzte sich am Kopfende auf einen alten Stuhl. Dieser knarrte bedrohlich unter ihm, als er sich niedersetzte. Er legte seinen Stock auf den Tisch, hielt ihn umklammert mit seinen beiden Händen und schaute den Tod an, der immer noch grinsend ihm jetzt genau gegenüber stand.
„Setz dich, du Seelenkutscher. Sage mir, was gibt es für einen Anlass, dass du mich hierher bestellst? Und direkt zur Sache! Vergiss nicht, die Zeit steht still, solange ich nicht weiterschreibe!“, sprach der alte Mann ruhig, aber doch mit energischer Stimme.
Der Tod setzte sich ihm Gegenüber an den Tisch und blickte ihm ernst in die Augen. Daraufhin wendete er seinen Blick ab und blickte durch das Fenster, das sich seitlich hinter dem alten Mann befand.
„Wie gut, dass wir über den Dingen stehen, sonst wäre ich jetzt auch zum Stillstand gelangt. Hast du eigentlich gemerkt, dass mit jedem Tag in diesem Jahr die Nächte immer länger wurden und heute der erste Tag ist, an dem noch gar keine Sonne schien?“, sprach der Tod fragend in den Raum.
„Gewiss!“, sprach der alte Mann und schaute ihm weiterhin direkt in seine Augen, „Und lass mich raten, dahinter steckst du, oder?“
„Du hast es erraten, alter Mann. Glaube mir, es hat mich viel Mühe gekostet, dies zu vollbringen“ , entgegnete der Tod.
Der Hüter der Zeit beobachtete starr seine Augen. Er wusste, irgendwas hatte er vor, sonst hätte er ihn nicht zu diesem Treffen bestellt.
Innerlich versuchte er sich einen Reim darauf zu machen, was seine Absichten sein könnten. Er hat ihn in der Ewigkeit der Zeit immer geduldet, aber vertraut hatte er ihm nie.
Nach einer kurzen Zeit des Schweigens sprach er zum Tod: „Was willst du damit bewirken, dass du gegen den Lauf der Dinge handelst und das Jahr zunehmend verdunkelst? Du hast etwas vor, aber da dies nicht deine Augen sind, kann ich deine Absichten darin nicht erkennen!“
Der Tod musste lachen, und sein Lachen war schaurig. Selbst der Hüter der Zeit zuckte leicht zusammen, als er den grässlichen Unterton in dem Klang seines Lachens hörte.
„Ich will das Ende allen Seins erreichen, den Tod als das Endgültige und Einzige schaffen. Ich will, dass das Reich der Dunkelheit als das Einzige für alle Ewigkeit erschaffen wird. Ich habe die Engel sterben lassen. Die Menschen haben keine Hoffnung mehr, das ist der Tod der Engel. Der Sinn ihres Lebens ist fort, und sie sehnen sich nach dem Ende, denn die Dunkelheit ist gekommen und raubt ihnen das Letzte was sie haben, das Leben“, sprach er plötzlich mit hartem Ton und fuhr fort, „das Einzige, was ich jetzt noch brauche, ist, dass du das Buch der Zeit schließt, in dem du den Lauf der Dinge niederschreibst. Es ist das Letzte, was das hiesige Dasein und Leben für alle Ewigkeit erhält! Tue es, und ich mache dich zu meiner rechten Hand, und die Ewigkeit wird unser sein!“
Der Hüter der Zeit sprang auf und schrie ihn an: „Niemals! Ich wusste, dass ich dir nicht trauen kann und es auch niemals sollte. Du hast kein Recht dazu, was du da machst! Ich wusste, ich hätte nicht herkommen sollen!“
„Es nützt nichts, alter Mann. Du wirst mich nicht aufhalten können, zu weit sind die Ereignisse schon fortgeschritten. Die Sache nimmt ihren Lauf. Schon seit Monaten sind keine Kinder mehr geboren worden, und durch die Angst und die Dunkelheit werden auch keine neuen jemals mehr geboren werden. Sieh doch, die Menschheit wird sich selber auslöschen. Die Liebe geht unter!“, sprach der Tod mit einem teuflischen Grinsen im Gesicht und fuhr fort, „du kannst die Dinge beschleunigen und all dem ein Ende setzen, oder es wird sich von selbst regeln, nur wird es dann viel länger dauern. Aber was ist schon ein Menschenleben im Vergleich zu unserem Alter!“
Der Hüter der Zeit nahm seinen Stock und brach ihn in der Mitte durch. „Unterschätze mich nicht, Tod. Selbst deinen Lauf und dein Tun bestimme ich im Buch der Zeit. Kein Menschenleben erlischt, ohne dass ich es niederschreibe. Dein Tun liegt in meiner Hand!“, fauchte ihn der Hüter der Zeit an.
Lachend sprach der Tod: „Du Narr. Du hast nichts gemerkt, und mein gesamtes Tun sogar noch nieder geschrieben. Denn ich war dein Stift! Ich habe deine Hand gelenkt und die Geschichte der Zeit geschrieben. Du hast nicht gemerkt, dass der Stift, mit dem du alles niederschreibst, von meiner Hand gelenkt wurde. Ich habe mich der Kraft der Engel bedient, die ich habe sterben lassen.“
„Aber ich habe niemals meinen Stift abgelegt, wie konntest du nur?“, fragte er ihn entsetzt.
„Du irrst. Immer wenn du ein neues Buch nach 1000 Jahren begonnen hast, musstest du vorher den Stift beiseite legen, und so konnte ich diesen ohne dass du es merktest austauschen. Vergiss nicht, der Tod ist immer und überall, da stehen mir alle Türen offen!“, sprach der Tod mit deutlicher und ernster Stimme.
„Du Hund!“, schrie ihn der Hüter der Zeit an, „Wenn es sein muss, schreibe ich die letzten 1000 Jahre neu. Abhalten davon kannst du mich nicht....du nicht!“
„Versuch es ruhig!“, sprach der Tod, „aber du wirst sehen, die Dinge nehmen ihren Lauf, und du wirst es nicht verhindern.“
Daraufhin schob der alte Hüter der Zeit seinen Stuhl beiseite und verließ die Hütte ohne sich noch einmal dem Tod zuzuwenden.
Er war voller Wut über die Absichten des Todes. Er schimpfte laut auf seinem Weg in sein Reich, hatte ihn der Tod doch die letzten 1000 Jahre überlistet, ohne dass er davon etwas gemerkt hatte.
Er schritt den Weg zurück und verschwand nach einigen Augenblicken wieder im Lauf der Zeit.
Auch der Tod ging seines Weges, fest der Überzeugung als Sieger aus diesem Rennen hervorzugehen.
Im Reich der Zeit angekommen, zögerte der Hüter der Zeit erst einmal, denn er wusste, solange er das Buch nicht fortsetzen würde, solange könnte der Tod sein Vorhaben auch nicht fortsetzen, denn alles stand still.
Er stellte sich an sein Schreibpult und fing an zu überlegen, wie er den Tod wohl aufhalten könne.
„Ich muss das Buch der letzten 1000 Jahre neu schreiben, damit der Tod kein Erfolg haben wird“, sprach er vor sich hin, „aber wie schaffe ich es, dass die Menschen wieder Hoffnung finden, damit die Engel leben werden?“
Er suchte das Buch der letzten tausend Jahre heraus und verbrannte es. Er nahm seinen Stift und brach ihn entzwei.
Der Tod erschrak. Hatte der Hüter der Zeit ernst gemacht und die letzten 1000 Jahre vernichtet? Er fand sich wieder in einer Zeit, als Chaos und Unordnung die Welt beherrschten.
All seine Arbeit war fort, und er musste neu anfangen.
„Dieser alte Mann, hat er doch mein Werk zerstört!“, schimpfte der Tod, „aber was soll’s. Die Zeit ist unendlich. Ich werde mich erneut auf den Weg machen um ihn erneut zu überlisten!“
Und so zog er los um sein Werk erneut zu beginnen und zu Ende zu führen.
Plötzlich war das Rad der Zeit wieder in Bewegung. Die Vergangenheit wich von ihm, die Gegenwart nahm ihren Platz ein und die Zukunft deutete sich bereits an. Das Leben nahm seinen Lauf. Der Tod merkte, der Hüter der Zeit hatte damit begonnen, die Zeit neu zu schreiben.
Er schlich in das Reich der Zeit und sah den alten Hüter der Zeit, in einem großen Sessel sitzend, hinabschauend auf die Erde.
Aber weit und breit war kein Buch zu sehen. So gab er sich zu erkennen.
„Ich habe mit dir gerechnet, Tod. Aber du kommst vergebens. Es gibt kein neues Buch - und das Alte ist vernichtet, sowie auch dein Stift!“, sprach der Hüter der Zeit und schaute dem Tod lachend in die Augen.
„Aber wieso,....wieso geht dann die Geschichte fort?“, sprach der Tod mit verwirrter Stimme.
„Du hattest mich einmal überlistet, aber diesmal überliste ich dich. Meine Zeit ist ewig, wie ich auch. Wozu brauche ich dann ein Buch? Ich schaffe die Geschichte neu....in meinem Kopf! Die Geschichte lebt in und mit mir. So kann ich den Lauf der Dinge direkt erkennen und brauche nichts mehr nieder zu schreiben. Was wird - ist in mir, was gewesen ist - auch. Ich setze die Geschichte mit meinen Gedanken fort, und die Gedanken sind in mir ewig! Nie wieder wirst du die Möglichkeit haben, deine Finger in den Lauf der Zeit zu bekommen. Jetzt habe ich dich unter Kontrolle, und du tust nur noch das, was der Lauf der Zeit in meinen Gedanken ergibt. Das Leben, die Hoffnung und die Liebe ist das, woraus meine Geschichte ist. Und du räumst nur noch auf, zu mehr taugst du nicht!“, sprach der Hüter der Zeit und verstummte dann, denn zu sehr war er fortan mit Fortgang der Zeit beschäftigt.
Voller Zorn und Wut zog sich der Tod in sein Reich zurück. Denn fortan musste er sich dem Lauf der Zeit fügen, hatte ihn doch der Hüter der Zeit überlistet und in seine Schranken gewiesen. Nie wieder sollte er die Möglichkeit haben, den Fluss der Zeit zu beeinflussen.
Und die Hoffnung und Liebe der Menschen wurde fortan größer und gewaltiger denn je geschrieben, und die Engel waren mächtiger denn je. Denn der Hüter der Zeit liebte sie alle, es war seine Geschichte. Eine unendliche Geschichte sollte es werden.
Tag der Veröffentlichung: 18.11.2010
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