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Im Gedanken versunken saß der kleine Spatz auf seinem Ast, hoch oben in den Ästen einer alten Eiche. Er war tief in seinen Gedanken versunken.
Schon oft hat er hier gesessen, aber noch nie waren seine Gedanken so stark wie jetzt. Kehrte er doch immer am Ende eines Tages an diesen Platz zurück, um den Untergang der jetzt am Horizont tief rot scheinenden Sonne zu beobachten. Er war hin und weg von der Pracht, mit welcher letzten Kraft sich die Sonne von jedem Tag verabschiedet.


Tief in sich, wusste er, morgen war der Tag gekommen, an dem er endlich wissen wollte, wer das Feuer der Sonne am Leben hält.
Der Spatz wandte sich kurz ab von der Sonne und sprach zur alten Eiche: „Alte Eiche, du lebst schon so lange, aber sage mir, weißt du, wer das Feuer der Sonne am Leben hält?“
Die Äste der Eiche bewegten sich plötzlich, und der kleine Spatz musste ausfassen, dass er nicht das Gleichgewicht verlor. Es schien so, als habe er mit seiner Frage die Eiche geweckt, die sich nun zu strecken schien, wie nach einem langen Schlaf.


Die Eiche sprach: „Warum willst du das wissen? Ich lebe nun so lange hier und stehe immer noch fest an meinem Platz, aber noch nie hat mir jemand so eine Frage gestellt. Was nützt dir das? So lange ich lebe, sehe ich der Sonne schon zu, wie sie auf- und untergeht. Ich bin froh, dass sie überhaupt scheint, da interessiert mich nicht, wer in ihr das Feuer am Leben hält.“
Grummelnd schloss die alte Eiche ihre Augen und döste wieder ein. Der kleine Spatz wandte sich zurück zur Sonne, noch größer mit dem Wunsch, endlich den Feuermeister der Sonne kennenzulernen.


Ein große schwarze Amsel kam daher geflogen und setzte sich neben dem kleinen Spatz auf den Ast. Sie schaute ihn kurz an und fing dann an ihr Gefieder zu putzen.
„Amsel,“ sagte der kleine Spatz, „du bist jetzt schon so groß, und auch du bist immer im Lichte der Sonne geflogen. Weißt du, wer in der Sonne das Feuer am Leben hält?“
Überrascht wandte sich die Amsel zum kleinen Spatzen.
„Wie kommst du denn auf diese verrückte Idee? So lange ich schon lebe und umher fliege, solange kenne ich schon die Sonne, aber diese Frage habe ich mir noch nie gestellt. Was soll sie auch, die Sonne ist ewig, zumindest für mein Leben. Was soll mich da interessieren, wer das Feuer in ihr pflegt? Spatz, du bist noch klein und dumm, frage dich lieber, was du aus deinem Leben noch machen willst!“, sprach die Amsel und machte sich grinsend über ihn lustig.


Ja, auch die Amsel konnte ihn von seinem Vorhaben nicht abbringen. Nein, je mehr er überlegte und so negativ und herablassend auch die Stimmen der anderen Tiere waren, um so mehr sah er sich darin bestärkt, als erster herauszufinden, wer das Feuer der Sonne am Leben hielt.


Die Sonne war schon kaum mehr zu sehen, als ein Dachs des Weges kam, ums sich in sich seinem Bau unter der alten Eiche zum Schlafen zurückzuziehen.
Schon leicht benommen vor Müdigkeit trottete der Dachs in Richtung Bau, als er die Stimme des kleinen Spatzen hörte.
„Dachs, sage mir, auch du kennst dein ganzes Leben lang schon die Sonne, aber hast du dich jemals gefragt, wer das Feuer der Sonne am Leben hält?“
Die alte Eiche, die trotz des Schlafes alles mitbekam, grinste nur, die Amsel lachte den kleinen Spatzen aus, und trotzdem fuhr der kleine Spatz fort: “Jeden Abend verschwindest du in deinem Bau, aber wie kannst du dir nur so sicher sein, das dass Feuer der Sonne am nächsten Tag wieder brennt?“
Der Dachs grollte ein wenig, setzte sich dann aber auf seine Hinterläufe, schaute zum kleinen Spatzen hoch und sprach: “Kleiner Spatz, ich lebe hier im Wald schon so viele Jahre. Die Sonne ist immer da und brennt auch schon immer, zumindest so lange ich lebe. Und außerdem müsstest du das besser wissen als ich, den du fliegst dort oben durch die Lüfte und müsstest eigentlich von dort aus einen viel besseren Blick auf die Sonne haben als ich. Finde es heraus, aber mir ist es egal."
Der Dachs setzte sich wieder auf seine vier Läufe und verschwand im Bau.


Der kleine Spatz ignorierte den abfälligen Ton, mit dem der Dachs zu ihm sprach. Die Sonne war schon nicht mehr zu sehen, und der Abendhimmel hüllte sich in ein allmächtiges Dunkel. Der kleine Spatz bemerkte noch das Blinken der Sterne, ehe er müde einschlief, nicht ohne vorher noch mal vor sich hin zu sagen: „Morgen werde ich es herausfinden ... Morgen...!“


Das erste Licht der Sonne strahlte bereits hell über den Horizont, als der kleine Spatz seine Augen öffnete und sich voller Tatendrang streckte. Er merke, er hatte genug Kräfte in sich gesammelt, um den langen Weg zur Sonne anzutreten, um endlich das Wesen kennenzulernen, das das Feuer der Sonne am Leben hielt.
Mit einem kleinen Sprung vom Ast begann er seine Reise zur Sonne. Seine Flügel schlugen voller Tatendrang, und das Glücksgefühl in ihm steigerte sich ins Unermessliche. Als die alte Eiche schon weit weg war, schaute er
sich noch einmal um und blickte zur alten Eiche, zur großen Amsel und zum Eingang des Dachsbaus. Alle schliefen sie noch, aber wenn er zurückkäme, dann würde er es den anderen schon zeigen, dachte er sich.
So flog er von dannen, immer auf die Sonne zu, mit dem Ziel, den Herrn der Sonne zu erreichen.


Einige Zeit später erwachten die Tiere und auch die alte Eiche. Jeder von ihnen bemerkte, das der kleine Spatz nicht mehr da war, und gingen mit einem kleinen Grinsen an ihr Tageswerk.
Als sie später unter den roten Abendstrahlen der Sonne zu ihrem Platz an der alten Eiche zurückkehrten, bemerkte die Amsel plötzlich, als sie gerade damit beginnen wollt die Federn zu putzen, den kleinen Spatzen. Er lag wenige Meter vor ihr im Gras und war tot. Seine Federn waren angesengt, sein Kopf seitlich geneigt und eines seiner Beinchen gebrochen.


„Seht her, ... dort drüben im Gras!“, rief die Amsel und flog hinunter ins Gras zu dem kleinen toten Spatzen.
Der Dachs, der gerade aus dem Wald zu seinem Bau kam, hörte dies und eilte zu der Stelle, an der der kleine Spatz tot im Gras lag.
Die alte Eiche öffnete aus ihrem dösigen Schlaf die Augen und sah hinab.
„Oh je“, sprach der Dachs, „er hat ernst gemacht. Der arme Kleine, sein ganzes Leben hatte er noch vor sich, und nun...???“
Der Dachs schüttelte den Kopf und ging mit gesenktem Haupt in seinen Bau.
Die alte Eiche sprach: “Das hat er nun davon, er hätte es wissen können..!“, und schloss daraufhin ihre Augen und schlief wieder ein.
Die Amsel hingegen blickte noch lange traurig den kleinen Spatzen an und strich ihn mit ihrem Flügel über sein Haupt. Mit Tränen in den Augen sprach sie leise zu ihm: „Aber du weißt es jetzt, kleiner Spatz. Sei stolz darauf, ich sehe es am glücklichen Ausdruck deines Gesichtes, du bist der Erste, der es geschafft hat von uns allen, den Wächter der Sonne kennenzulernen. Lebe wohl!“
Dann erhob sie sich und setzte sich auf ihren Ast auf der alten Eiche. Ein letzter Blick warf sie zu dem toten kleinen Spatzen, ehe sie ihren Kopf in ihre Flügel steckte, um mit dem Schlaf das Ende dieses Tages zu besiegeln.

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Texte: Copyright by Christoph Steffens
Tag der Veröffentlichung: 13.02.2009

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