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Fahrt ins Verderben


Als Madeline den Türgriff ihres Hauses runter drückte, um dieses zu verlassen, wusste sie, dass das wohl die letzte Erinnerung an ihre Vergangenheit sein wird. All die Geburtstage, Weihnachtsfeste und Gartenpartys. Jedes Barbie-spiel-Treffen mit ihren Freundinnen, jeder gemütliche Sonntagabend. Alles gehörte nun der Vergangenheit an. Sie würde nie wieder ihre dreckigen Gummistiefel von den Füßen in die Ecke schleudern oder die halbe Nacht in ihrem Baumhaus in der Hoffnung, Elfen zu sehen verbringen. Sie folgte den Marmorweg vor ihrer Haustür so langsam wie möglich, um auch ja nichts zu verpassen, obwohl ihr klar war, dass in diesen Sekunden nichts großartiges mehr passieren kann. Das Haus ist leer, der Transporter gefüllt. Jetzt heißt es wohl „auf Wiedersehen“
„Na los, jetzt komm!“, kam es aus dem BMW, der hinter dem Transporter stand. „Wir kommen noch zu spät!“
Das ist mir egal!, hätte Madeline am liebsten geschrien, aber sie wusste, dass das ebenso sinnlos war, wie ihr Zeitlupen-Gang auf dem Marmor-Weg. Egal was sie jetzt noch tat, sie kann die Zukunft nicht beeinflussen. In wenigen Sekunden würde sie zu ihrer Cousine ins Auto steigen und ihre Heimat gegen ein dämliches Internat in London eintauschen.
„Madeline!“, kam es wieder. Sie wollte ihrer Cousine nicht den Gefallen tun, darauf zu antworten und warf augenrollend ihre Tasche auf den Rücksitz. Als sie selbst einstieg, blickte sie noch ein letztes Mal hoch auf die Glasfassade, die den weißen Backstein einhüllten. Sie blickte vorbei an den großen Fenstern und dem Gartentor, das wie die Tür zu einem großen Geheimnis wirkte. Sie war aus weißem Holz und die Ränder waren mit Engelsmustern verziert. Die großen goldenen Griffe waren beide wie ein großes „G“ gebogen und griffen schon förmlich nach jedem, der die Tür öffnen wollte. Hinter diesem Tor lag eine wunderschöne Landschaft, die sie als Garten bezeichneten. Man blickte über ein riesiges Land, dessen Gras saftig grün und ebenmäßig war. Es war, als ob sich tausende von Gärtnern täglich dort hinknien würden und mit kleinen Scheren dafür sorgen würden, dass das Gras auch ja ordentlich wuchs. Doch so war es nicht. Obwohl ihre Eltern sehr vermögend waren, waren bloß zwei Personen beschäftigt worden. Einmal Betty, ihre Putzfrau und Bert der Gärtner. Dieser kümmerte sich jedoch ausschließlich um die Bewässerung und den Überfluss an Blättern im Herbst. Für die Beete und Obstbäume war ihre Mutter zuständig. Sie verbrachte oft Stunden in diesem Garten und pflegte ihn wie ein Neugeborenes. Oft strich sie sanft mit der Hand über die feuchte Erde, um zu überprüfen, ob sie den auch gut gedüngt war oder sie hüpfte um den Baum und sammelte die Äpfel ein, die vor ein paar Sekunden gefallen waren, damit Platz für neue war. Es gab selbstverständlich auch Kirsch-, Pflaumen- und Orangenbäume, und zwar brav in einer Reihe ausgestellt. Diese Reihe ging bis zum Ende des Gartens und war wie ein Wegweiser. Die Früchte waren immer reif und es gab keinen geschrumpelten Apfel und keine trockene Orange. Der Garten tat genau das, was Mum von ihm wollte. Als Madeline noch in den Windeln war, ging ihre Mum mit ihr oft im Garten spazieren und zeigte ihr die Blumen. Damals war sie von der Pracht einfach nur fasziniert. Mum erzählte ihr, immer wenn sie ihr die Blumen zeigte, weiteten sich ihre kleinen Augen und sie lächelte breit. Sie wuchs praktisch mit dem Garten auf.
Madeline hatte es noch nie bis zum Ende des Gartens geschafft. Als kleines Kind bildete sie sich ein, der Garten wäre endlos und man könne das Ende gar nicht erreichen. Wenn sie ihren Dad oder Bert sah, wie sie mit dem Rasenmäher-Wagen-Dingsbums über das Feld fuhren, hatte sie immer Angst, sie würden versuchen das Ende zu erreichen und nie wieder zurückkommen, deswegen zogen sie es vor, wegen Madeline den ferngesteuerten Automatikwagen fahren zu lassen.
Diese Angst verflog aber als Madeline älter wurde und sie traute sich, mit Bert und dem Rasenmäher zu fahren und den Obstbäumen zu folgen, aber sie berührte jeden einzelnen mit der Hand, wenn sie vorbeiging. Sie liebte den Garten so wie ihre Mutter ihn liebte, doch ihre Lieblingsstelle war immer noch ihr eigenes kleiner Spielplatz. Ihre Eltern hatten ihn für sie angelegt, als sie zwei Jahre alt wurde und sie hatte ihn noch so gern, wie am ersten Tag, als sie kichernd versuchte, die Rutsche hochzuklettern. Ihr kleines Paradies verfügte über einen Sandkasten in Herzform, einer sich wild schlängelnden Rutsche, einer Doppelschaukel und einem Baumhaus, so groß wie ihr eigenes Zimmer. Es war wie ein kleines Schloss aufgebaut-die Fassade war rosa und er elegante Türrahmen war golden. Das Dach war flach, aber die Ränder waren wie die einer Ritterburg-natürlich in rosa. Man kam durch eine Strickleiter hoch und betrat ein kleines Eigenheim. Es gab Regale, eine Sitzecke, Puppen und ein riesiges Fenster. Oft saß sie dort auf der Fensterbank und las ein Buch oder sonnte sich. Das Baumhaus war ihr ganzer Stolz.
Die Jahre vergingen und es gab nun Wichtigeres als eine Puppensammlung oder ein Prinzessinnenschloss. Nun benutzte Madeline den Garten, um sich auf einer Liege zu bräunen oder an den Obstbäumen entlang zu joggen, da das Ende des Gartens längst kein Mysterium mehr war. Sie feierte Gartenpartys oder schwamm ein paar Bahnen im Pool. Die kleine behütete Welt, in der sie aufwuchs gab es nun nicht mehr.
Als Kind war sie davon überzeugt, dass ihre Eltern alles wussten und sagte in den High Heels ihrer Mutter „Ich will mal genauso werden wie du!“.
Heute war der längste Dialog, den die beiden führten „Mach deine Hausaufgaben.“ und „Nerv nicht, Mum.“. Man könnte diese Verhalten mit der Pubertät rechtfertigen oder damit, dass Madeline einfach keinen Draht mehr zu ihren Eltern hatte. Das konnte man ihr auch nicht übel nehmen, denn ihre Eltern waren als Geschäftsleute immer häufiger unterwegs. Ob es an sonnigen Ferientagen oder an stimmungsschwankungsreichen Wochenenden war, sie waren die meiste Zeit nicht an Madelines Seite. Sie selbst machten sich in dieser Hinsicht vermutlich mehr Vorwürfe, als ihre Tochter ihnen machte, doch sie hatten sich für dieses Leben entschieden und mit Geschenken aus aller Welt hatte sich die Sache mit dem lange Wegbleiben auch erledigt. Dachten sie jedenfalls.
Madeline wurde mehr und mehr zu einem Wesen, das ungern Kontakt mit der Außenwelt aufnahm. Meistens saß sie in ihrem verdunkelten Zimmer und hörte Gothic-Musik und Ville Vago oder sie vertiefte sich zum zehnten Mal in „Herr der Ringe“. Sie distanzierte sich immer mehr von ihren Mitschülern und hatte auch kein Interesse an Liebe oder Romantik. Natürlich bemerkte das niemand. Natürlich.
Trotz alldem war es ihr zu Hause gewesen. Mit Tränen in den Augen wendete sie sich von ihrer Vergangenheit ab und stieg wortlos ins Auto.
„Wird auch mal Zeit!“, knurrte die gestresste Fanny neben ihr und bemerkte die hochgestiegene Trauer ihrer Cousine nicht.
Es wurde eine lange schweigsame Fahrt.

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Tag der Veröffentlichung: 04.08.2012

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