1. KAPITEL
Joanne
oder
"Als die Vergangenheit verschwand"
"Es ist da! Sieh nur, Natalie, es ist endlich angekommen!"
Die Angesprochene wandte sich von der Spüle ab, in der sie bis eben versucht hatte, den meterhohen, schmutzigen Geschirrberg mit Scheuermilch und Schwamm zu bekämpfen, der sich in der letzten Woche angesammelt hatte.
Anita Schmidt, mit der sich Natalie seit gut sechs Monaten die Wohnung teilte, schwenkte voll überschäumender Begeisterung ein Paket, das der Postbote gerade abgegeben hatte.
"Was macht dich so sicher?"
Natalie's Begeisterung hielt sich in Grenzen. Zu oft schon hatte sie sich Hoffnungen gemacht und war doch wieder enttäuscht worden.
"Das muß es sein!", ließ sich Anita nicht von ihrer guten Laune abbringen, "Es ist schwer!"
"Hast du nicht irgendwas beim Bücherclub bestellt?", gab Natalie trocken von sich, aber Anita ließ das Paket mit einem lauten Krachen auf den Eßtisch fallen und piekste ihre Freundin mit dem Zeigefinger in den Bauch, "Quatsch nich', Wolle, sondern mach schon auf!"
Natalie grinste sie gespielt verlegen an und sagte mit einem süßen Augenaufschlag: "Wenn du mich so lieb bittest, Hase."
Das waren die jüngsten Spitznamen, die sie sich gegenseitig verpaßt hatten, in Anlehnung an Natalie's fan-atische Hingabe zur Musik und Fernsehserie der Monkees, mit der sie inzwischen auch Anita angesteckt hatte.
Der Wohnraum der 2-Zimmer-Wohnung war mit Postern und Bildern regelrecht tapeziert. Anita hatte sich praktisch nicht wehren können, was Natalie auch wahnsinnig leid tat, wie sie jedesmal mit einem unschuldigen Grinsen zugab, wenn Anita sich wieder mal darüber aufregte, wie sie sich nur hatte darin hineinsteigern können. Während sie allerdings der Meinung war, daß Micky mit seiner spritzigen Überdrehtheit der tollste der Gruppe war, schwärmte Natalie noch immer in heimlicher Liebe von dem ernst wirkenden und zurückhaltenden Mike; vielleicht sogar noch stärker seit ihren seltsamen Erlebnissen im vergangenen Jahr, als sie nach einem Selbstmordversuch in ihre Traum-Welt geraten war. Insgeheim wünschte sie sich zurück an jenen geheimnisvollen Ort, wo die Vergangenheit so himmlisch wirkte, so perfekt - sie würde es nur nie zugeben, nicht einmal vor sich selbst.
Anita wußte von dem mißglückten Selbstmordversuch ihrer Freundin und ihren darauffolgenden Bemühungen, ihr Leben vollkommen umzukrempeln, um einen Sinn darin zu finden. So gut es ging half sie ihr dabei. Anita war es auch, die Natalie dazu ermutigt hatte, ihre Geschichte, die sie damals nach ihrem "Paradis"-Erlebnis aufgeschrieben hatte, an einen Verlag zu schicken. Als dieser ablehnte und Natalie am Boden zerstört gewesen war, war ihre Freundin dagewesen, um sie weiter zu ermutigen. Sie half ihr noch durch drei weitere Ablehnungen, aber als der fünfte Verlag endlich Interesse zeigte, war Anita's Freude fast noch größer, als die Natalie's, die immer noch nicht an etwas Positives in ihrem Leben glauben wollte.
"Reich mir ein Messer!"
"Was?!", war Anita's entgeisterte Reaktion, als Natalie's feste Stimme sie aus ihren Gedanken holte, doch die lachte nur.
"Um das Paket zu öffnen, natürlich, oder was dachtest du?"
Sofort beruhigte sich Anita wieder und lief in die Küche, um besagtes Messer zu holen.
Mit einem Schnitt löste Natalie das Paketband, und mit der Präzision einer Chirurgin führte sie das Messer entlang des Klebestreifens, der beide Pappdeckel miteinander verband.
Erwartungsvoll schauten beide Mädchen erst auf das Paket, dann sich gegenseitig an. Ihre Augen leuchteten spannungserfüllt.
"Los jetzt, öffne es!"
"Okay."
Mit Fingerspitzengefühl, als ginge es darum, einen Frosch zu sizieren, schlug Natalie beide Pappdeckel auf einmal auseinander.
Ein Stapel Taschenbücher kam darunter zum Vorschein, jedes gerade mal 12 x 18 cm groß.
Natalie nahm eines heraus und blätterte mit dem Daumen durch die 120 Seiten, dann sah sie lange auf das Titelbild, das ein großes Auge zeigte, in dessen Pupille sich eine weißgekleidete Frau befand. Die Pupille fungierte als Spiegel und dahinter war dieselbe Frau abgebildet, die allerdings im Schatten zusammengesunken am Boden lag und so ihr Gesicht verdeckte.
über dem Auge stand in großen geschwungenen Buchstaben der Titel: "Dream World" von Joanne Ennui.
Es war totenstill im Raum, doch in Natalie selbst jubelte es wie ein ganzer Engelschor. Das Gefühl, wie ihr Daumen durch die Seiten fuhr war atemberaubend.
"Das bin ich.", sagte sie leise und deutete auf den Buchdeckel, "Das ist meins. Ich fasse es nicht, das ist meins. MEINS! Mein erstes Meins!"
Sie strahlte über das gesamte Gesicht, und Anita ging es ähnlich,
"Ich habe dir doch gesagt, daß du's schaffst, hab ich das nicht?", sie nahm ihre Freundin in die Arme, "Du hast es geschafft!"
Dann hielten beide die Stille nicht mehr aus und kreischten laut vor Freude. Noch immer mit dem Buch in der Hand rannte Natalie quer durch das Zimmer, sprang auf die Couch vor dem Fernseher und ließ einen Tarzanschrei los, daß die Scheiben klirrten.
Erschöpft lagen Anita und Natalie fünf Minuten später auf dem Boden inmitten der ersten Exemplare von Dream World, und blätterten verträumt darin herum - Natalie hatte die Beine auf die Couch gelegt -, als es plötzlich Sturm klingelte.
"Hmmmm...", nörgelte Anita, "Mach du auf!"
"Dazu muß ich ja aufstehen.", motzte Natalie zurück.
"Mach's für mich, Wolle."
"Hach, da kann ich ja nicht nein sagen, Hase."
Unter übertrieben großem Stöhnen stand Natalie vom Boden auf und schleppte sich zur Wohnungstür. Als sie öffnete, stand ihr ihre Vermieterin Frau Niedenhof gegenüber. Das Gesicht der älteren Frau war von einer leichten Röte durchzogen. Natalie bemerkte es nicht.
"Oh, hallo! Wir..."
"Was fällt Ihnen eigentlich ein?!", wurde sie von der erzürnten Frau unterbrochen. Ohne eine Antwort abzuwartenn, stampfte sie an der verdutzten Natalie vorbei in die Wohnung und fuchtelte mit beiden Händen in der Luft herum.
Anita setzte sich blitzartig auf.
"Daß es bei Ihnen in der Wohnung wie ein Saustall aussieht, das geht mich ja nichts an.", bemerkte Frau Niedenhof mit dem Zischen einer Klapperschlange, "Aber diesen unerhörten Lärm während der Mittagszeit verbitte ich mir! Anständige Leute wollen ihre Ruhe haben! Wenn Sie noch einmal einen solch unverschämten Lärm veranstalten, dann fliegen Sie aus der Wohnung raus!"
"Ja, Frau Niedenhof.", bestätigten beide Mädchen im Chor, die gute Frau war aber noch nicht fertig. Mehr zu sich selbst regte sie sich weiter auf.
"Schreien hier herum, als würden sie umgebracht werden. Wo gibt's denn sowas? Nicht in meinem Haus! Nein, hier nicht! Die Leute beschweren sich, und ich bin schuld, das gibt's doch nicht."
"Ja, Frau Niedenhof.", wiederholten Natalie und Anita gehorsam, was die Vermieterin nur noch aufgebrachter machte.
"Das ist kein Witz! Es ist mein voller Ernst. Das war Ihre letzte Verwarnung!"
"Ja, Frau Niedenhof."
Natalie biß sich auf die Lippen und bemühte sich krampfhaft, das Grinsen aus ihrem Gesicht zu verdrängen. Sie hob eines der Bücher vom Boden auf und hielt es ihrer Vermieterin entgegen.
"Wir machen bestimmt keinen Lärm mehr. Es tut uns leid, wenn Sie durch uns Schwierigkeiten bekommen sollten. Möchten Sie dieses Buch als Entschädigung annehmen?"
"Ich habe keine Zeit, zum Lesen!", keifte Frau Niedenhof, stapfte zur Tür und schloß sie lautstark von außen, daß die Mädchen kurz zusammenzuckten.
"Ph!", machte Natalie beleidigt, "Was will die denn? Ist ja nicht so, daß ich meine Werwolf-Imitation vom Stapel gelassen hätte."
Anita stand auf und hob die Schultern. "Nimm's nicht so tragisch. Wenn du erst richtig berühmt bist, wird es ihr noch leid tun, daß sie dein Angebot abgelehnt hat. Dann wird sie uns die Füße küssen, damit wir in diesem Loch hier wohnen bleiben."
Natalie prustete los. "Na klar, träum weiter, Hase!"
"Oh nein! Sag nicht, du liest es schon wider?!", stöhnte Natalie ihre Freundin zwei Monate später an. Anita schaute unschuldig von ihrem bereits zerfledderten Exemplar auf.
"Wieso nicht? Es gefällt mir eben. Ich finde es einfach Wahnsinn, wie du so etwas schreiben kannst. Man hat richtig das Gefühl, beim Lesen in die Geschichte hineingesogen zu werden. Als stecke man mitten drin. Wie schaffst du das nur?"
Natalie schüttelte ihren Lockenkopf. "Das frage ich mich inzwischen auch. Ich habe keine Ahnung! Es war einfach da."
"Ich finde, du hättest es wirklich unter deinem richtigen Namen veröffentlichen sollen. Joanne Ennui klingt so abgehoben..."
"Das sollte es auch!", widersetzte Natalie trotzig, "Ich wollte Abstand gewinnen, als ich es schrieb. Das, was da steht, ist Vergangenheit. Damit habe ich abgeschlossen. So habe ich damals gefühlt, aber jetzt nicht mehr. Wenn ich weiter so gedacht und gelebt hätte wie damals, wäre ich wieder in diese Phantasie-Welt geflüchtet - und womöglich nicht mehr herausgekommen.", fügte sie mit belegter Stimme hinzu. Anita überhörte es und lächelte stattdessen verschmitzt.
"Gib's ruhig zu; du hast etwas übrig für diesen Mike."
Für den Bruchteil einer Sekunde drängelte sich Natalie's Bewußtsein ein träumerisches Bild auf: Sie und der junge Mike Nesmith Hand in Hand am Strand. Das Meer rauschte, und sie trug wieder ihr bodenlanges weißes Kleid. Dann blieben sie stehen, Mike zog ihr Gesicht ganz nah an ihres heran und seine Lippen berührten sanft...
Nein!
Natalie würgte dieses Bild ab, bevor wilde Gefühle sie überschwemmen konnten.
"Blödsinn!", fuhr sie die noch immer lächelnde Anita an, "Mike - dieser Mike im Buch - ist eine Phantasiegestalt, die nie Wirklichkeit werden kann. Noch dazu eine von mir erdachte Phantasiegestalt! Was habe ich davon, wenn ich weiter diesen nutzlosen Schwärmereien nachhänge? Der echte Mike ist inzwischen über 50 und weiß nichts von meiner Spinnerei - was auch gut ist! Es sähe albern aus. Außerdem war er damals bereits verheiratet."
"Jaja", sagte Anita in einem leicht singenden Tonfall, "Und wenn du noch weiter nachforscht, findest du bestimmt noch 30 weitere Gründe, Valleri. Gegen eine kleine harmlose Schwärmerei ist doch nichts einzuwenden."
Sie widmete sich wieder ihrer Lektüre. Ihre vollkommmene innerliche Gelassenheit machte Natalie rasend. Sie stapfte auf die Couch zu, entriß ihrer Freundin das Buch, was diese mit einem entrüsteten "Hey!" kommentierte, und sagte fest: "Ich bin nicht Valleri, merk dir das! Valleri ist - war - lediglich ein Teil von mir, genauso wie Mike ein Teil von mir war, oder von mir aus auch die anderen drei. Es ist gar nicht mal so schwer verschlüsselt. Davy ist meine Schwärmerei und meine Vorliebe für Mysteriöses, Peter ist meine Naivität, Micky steht für meine eigene Abgedrehtheit und Mike repräsentiert die Vernunft und das Mißtrauen, daß ich anderen entgegen bringe. Siehst du, ganz simpel, nichts Hochtrabendes. Deutschunterricht auf Sekundarstufenniveau!"
"Schon gut, schon gut, reg dich ab!" Anita hob beschwichtigend beide Hände. "Kann ich jetzt mein Buch wiederhaben? Es ist schließlich eine wertvolle, vom Künstler signierte Ausgabe."
"Ach, du kannst mich mal!"
Sie warf Anita ihr Buch zu, die es geschickt auffing.
"Danke!", sagte sie fröhlich, und Natalie schüttelte den Kopf. Aber als sie es tat, schob sich bereits wieder ein Lächeln auf ihre Lippen.
Diese Anita war ihr manchmal einfach zu positiv. Sie sah das Leben oft wie eine große Party, gutgelaunt, fröhlich und übersprudelnd wie eine Colaflasche. Aber blitzartig und unerwartet konnte sich dieses himmelhochjauchzende Benehmen in tiefschürfende Traurigkeit verwandeln. Dann fing sie an zu schniefen und weinte, ohne daß Natalie je den Grund dafür erfuhr. Denn genausoschnell wie sie auftauchte, verschwand die Traurigkeit auch wieder. Und hinterher sträubte sich Anita dann immer, darüber zu sprechen.
Natalie nahm es hin. Schließlich war ihre "Hase" immer da, wenn sie sie brauchte, und umgekehrt war es genauso.
"Hey, sieh dir das an!", rief Anita am Morgen des nächsten Tages beim Frühstück aus und platzierte die Morgenzeitung über den Eßtisch, daß die Milch überschwappte.
"Paß doch auf!", reagierte Natalie ungehalten, doch Anita fuhr unbekümmert fort: "Auf der Liste der zehn beliebtesten Taschenbücher steht deines auf Platz drei! Ist das genial oder ist das genial?"
"Ja, sehr genial. Paß mit den Cornflakes auf!"
Natalie war heute schlecht gelaunt. Sie hatte die letzte Nacht kaum Schlaf abbekommen, und in dem bißchen war sie von wirren Träumen verfolgt worden, an die sie sich nicht mehr erinnern konnte. Da kam ihr Anita mit ihrer übersprudelnden Fröhlichkeit sehr ungelegen.
"Hör mal, da steht auch was über dich."
Sie räusperte sich übertrieben und las vor: "Die junge Newcomer-Autorin Joanne Ennui zeigt in ihrem..."
"Ich will es nicht hören!", fauchte Natalie und biß in ihr Marmeladenbrötchen.
"...ungewöhnlich mitreißendem Schreibstil, wie sich trockene Sichtweise der Welt mit dem überschäumenden Gefühl der Phantasie vereinen läßt.", brachte Anita unbekümmert zu ende. Natalie horchte auf.
"Welcher Lexikon-Hengst hat denn diesen Mist verzapft?"
"Hier steht noch mehr: Realistisch und einfühlsam wird der Leser in eine nicht existierende Welt geführt, die nach und nach in sich zusammenfällt."
"Mir wird schlecht.", dann wurde sie aber doch von einem Kichern übermannt, "Oh Mann, je mehr ich darüber höre, desto weniger habe ich das Gefühl, daß es sich dabei um mich handelt. Gestern Nachmittag lief ich an einem Buchhandel vorbei. Das Schaufenster war vollgestellt mit Exemplaren meines Buches und ein Plakat kündigte mich großkotzig als Bestseller-Autorin des 21. Jahrhunderts an. Im Bus habe ich Leute sich darüber unterhalten gehört, und ich stand nur daneben und konnte lediglich blöd nicken. Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr entferne ich mich von mir selbst. Ich weiß nicht..."
Zum Glück klingelte gerade das Telefon und lenkte Natalie von ihren Gedanken ab. Sie nahm den Hörer ab, und Anita machte lange Ohren. Doch alles, was sie zu hören bekam, war ein leises Quäken vom anderen Ende der Leitung und Natalie's gelegentlichen, mäßig enthusiastischen Kommentare.
"Ja? ...Ja ...Mhm ...Wirklich? ...Oh, ja aber... aha...ja, gut...wiederhören."
"Und?"
Anita war gespannt wie ein Flitzbogen, als Natalie den Hörer auflegte. Doch die Freundin schien mit ihren Gedanken weit entfernt zu sein.
"Was ist?"
Keine Reaktion.
"Wolle!"
"Hm?" Endlich kehrte Leben in Natalie zurück.
"Was ist los? Was war das für ein Anruf?"
"Mein Verleger. Er sagt, mein Buch verkauft sich so gut, daß eine Fortsetzung verlangt wird."
"Das ist ja spitze!", freute sich Anita, sah dann aber Natalie's verschlossenes Gesicht und verbesserte sich rasch, "Das ist doch spitze, oder nicht?"
Natalie schüttelte langsam den Kopf.
"Wie stellen die sich das vor? Eine Fortsetzung?! Valleri's Geschichte ist zuende. Sie hat ihr Leben wieder im Griff, was soll denn da noch kommen?"
Anita hob die Schultern. Sie sah darin kein großes Problem, "Und wenn schon? Dann denkst du dir eben etwas aus. Kein Mensch weiß, daß du Valleri bist."
"Ich bin nicht Valleri!!", schnauzte sie Anita an, "Ich war es mal zum Teil. Denk dir einfach was aus, das geht nicht! Das, was ich damals geschrieben habe, geschah aus einem Impuls heraus. Dieser Funke sprang direkt aus meinem Kopf auf das Papier. Das läßt sich nicht x-beliebig wiederholen!"
"Nun reg dich doch nicht so auf!", versuchte Anita sie zu besänftigen. Allmählich ging es auch ihr auf die Nerven, daß Natalie darum so einen großen Wirbel machte. "Du siehst das alles viel zu eng. Du kannst doch schreiben, das hast du schon bewiesen. Nimm das nicht persönlich, aber auch ich finde, daß Dream World kein richtiges Ende hat. Jedenfalls kein Happy End."
"Wieso muß immer alles glücklich enden?", schrie Natalie aufgebracht. "Meinst du, irgendwer hätte die Geschichte gelesen, geschweige denn sie veröffentlicht, wenn Valleri in ihrer Traumwelt Friede-Freude-Eierkuchen gefeiert hätte? So ein Schwachsinn!"
Mit diesen Worten stapfte sie in ihr Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu.
Anita stand allein in der Mitte des Wohnzimmers und zuckte bei dem Knall kurz zusammen. Sie hatte keine Ahnung, warum ihre Freundin so dermaßen außer sich geraten war. Jemand mit einem solchen Maß an Phantasie dürfte doch keine Probleme haben, sich eine Fortsetzungsgeschichte auszudenken. Sie war jetzt immerhin schon bekannt, und die Leute würden es kaufen. Da war es doch egal, ob die Geschichte genauso gut war wie die erste oder nicht.
Aber Natalie war es nicht egal. Es war verdammt wichtig. Sie mußte sich selbst damit etwas beweisen, nämlich, daß Dream World keine einmalige Sache gewesen war. Es war das Beste, das sie je geschrieben hatte, und das ihr auch selbst gefiel.
Von einer Fortsetzung erwartete man immer, daß sie das Original zumindest erreichen würde. Vom übertreffen ganz zu schweigen. Aber wie sollte sie dieses Gefühl, das ihr damals beim Schreiben den Antrieb gab und das sie völlig durchflutet hatte, künstlich wieder hervorrufen? Sie hatte inzwischen die Vergangenheit so weit zurück gedrängt, daß es ihr im Rückblick tatsächlich so vorkam, als sei es eine völlig andere Person gewesen, die das alles erlebt hatte.
Lustlos setzte sie sich an ihren Schreibtisch, schmiß den Computer an und hackte einige Sätze auf die leere Seite:
Ein Jahr war inzwischen vergangen, und Valleri, die eigentlich Natalie hieß, hatte mit der Vergangenheit abgeschlossen. Zwar war sie noch immer ein Fan der Musik der 60er Jahre, aber sonst hatte sich viel verändert. Nachdem sie ihr Studium abgebrochen hatte, hatte sie eine Weile in Kneipen gekellnert, wo sie einen netten Mann kennengelernt hatte. Seit zwei Monaten waren sie glücklich miteinander verheiratet.
ENDE
Resigniert ließ sie den Kopf auf die Tastatur fallen, wie Don Schnulze aus der Sesamstraße. So fühlte sie sich auch.
"Ich werde das nie schaffen!", murmelte sie gequält und schaltete den Computer wieder aus, ohne ihren kläglichen Schreibversuch zu speichern.
Zwei Minuten später betrat Anita vorsichtig das Zimmer und fand ihre Freundin noch immer in dieser Haltung vor.
"Komm schon, Wolle, mach dich nicht fertig."
"Laß mich."
"Kommst du heute mit?"
"Wohin?"
"Na, in die Gruppe."
"Weiß nicht. Keine Lust."
"Ach, dir ist nicht zu helfen!"
Schnaubend schloß Anita die Tür wieder von außen.
Die Jugendgruppe der St.Joseph-Gemeinde traf sich jeden Dienstag um viertel nach fünf, und Anita und Natalie waren seit fünf Jahren dabei. Meist tat die Gruppe nichts anderes als quatschen, klöhnen, quasseln und sich unterhalten, aber ab und zu fertigte sie auch mal etwas Kreatives an.
Zur Zeit allerdings steckte die Gruppe zwar im tiefsten Sommerloch, aber Anita und Natalie waren trotzdem gern gekommen, um nach dem stressigen Arbeitstag richtig abzuschalten. Denn einen verrückteren Haufen bunt zusammengewürfelter Individuen fand man so leicht kein zweites Mal.
Aber mit Natalie war heute nichts anzufangen.
Gerade band sich Anita die Schuhe zu, um loszugehen, da durchschnitt das Bimmeln des Telefons die Stille. Ungehalten nahm Anita den Hörer ab.
"Wer stört?"
"Sehr freundlich.", ertönte eine tiefe Männerstimme aus der Leitung, bei der man merkte, daß sie den Stimmbruch noch nicht lange hinter sich hatte. Sofort entspannte sich Anita.
"Hallo Simon, was gibt's?"
Simon war Natalie's drei Jahre jüngerer Bruder, der auch seit einem Jahr regelmäßig zur Dienstagsgruppe erschien.
Er hatte sich "sympathisch aufgezwungen", wie Natalie es bezeichnet hatte. Der wahre Grund für sein Kommen war allerdings ein blonder, ein-Meter-sechzig großer, vollbusiger mit Namen Linda, die er jedesmal mit der Hartnäckigkeit eines Aufziehspielzeugs zu einem Date bringen wollte und doch nur Körbe erntete.
"Ist Natalie da?", fragte er jetzt Anita.
"Ja, willst du sie sprechen?", fragte sie überflüssigerweise zurück. Dementsprechend antwortete Simon auch.
"äh - nö. Aber gib sie mir trotzdem."
"Puh", machte Anita, "Ich weiß nicht, ob sie ansprechbar ist, aber ich versuch's."
"Wieso, was ist denn?"
"Frag sie das am besten selbst. Natalie!" Anita klopfte an die Tür. "Natalie, Telefon für dich!"
"Wer stört?", kam es dumpf aus dem Zimmer.
"Es ist nicht zu fassen!", meckerte Simon gekünstelt, "Wenn ich so unerwünscht bin, kann ich auch auflegen."
"Geschwister!", stöhnte Anita, "Natalie, es ist dein Herr Bruder. Er möchte dich sprechen."
"Wir sehen uns doch eh gleich."
"Ich dachte, du kommst nicht mit?"
"Ach, gib schon her!"
Die Tür wurde aufgerissen, und Natalie entriß ihrer verdutzten Freundin das Telefon. Dann schloß sich die Tür wieder vor Anita's Nase.
"Hi, Simon, was gibt's so Wichtiges?", begrüßte sie ihren Bruder.
"Klingst ja nicht sehr interessiert."
"Nun rück schon raus mit der Sprache, du rufst doch sonst kaum an."
Natalie wurde ungeduldig. Ihr Bruder liebte es, sie zappeln zu lassen, und heute konnte sie das nicht ertragen.
"Also gut.", gab Simon nach, "Wenn du mich so nett bittest. Du weißt doch, daß ich gestern auf dem Kirchenrat meinen Antrag gestellt habe."
"Wegen deiner Nachhilfe-Gruppe?"
"Genau. Ich wollte wissen ob ein Raum frei ist, wo ich meine Schützlinge alle zur selben Zeit unterbringen kann. Aber das ist extrem ungünstig. Die Kirche hat zuwenig Räume. Die einzige Möglichkeit wäre der Keller."
Natalie riß die Augen auf. "Im Keller? Na, Prost Mahlzeit!"
"Du, das ist gar nicht so abwegig. Vor 30 Jahren war da schon mal ein Jugendraum. Nur später hat den niemand mehr gebraucht, und er wurde vergessen. Du, wir waren gestern mal unten, um uns alles anzuschauen. Da läßt sich echt was draus machen! Und rate mal, was ich da unten noch gefunden habe?"
"Eine tote Ratte.", meinte Natalie trocken.
"Nein!", entrüstete sich Simon über soviel Gleichgültigkeit, "Nein, der Keller hängt voll mit alten Postern aus der Hippie-Ära. Na, klingelt's bei dir?
"Ich steh auf der Leitung.", gab seine Schwester zu.
Simon kommentierte dieses Eingeständnis mit einem resignierten Seufzer.
"Mit dir ist heute wirklich nichts anzufangen. Also noch mal von vorne und ganz langsam für Gehirnamputierte. Der Keller steht seit 30 Jahren unbenutzt und leer. Dort unten hängen Poster aus der Zeit. Heute haben wir das Jahr 1998. 98 minus 30 macht 68..."
"Blablabla!", Natalie schnaubte ungeduldig, "Da sind also Poster von 1968, und?"
Sie verlor allmählich die Geduld. Simon lachte leise durch die Leitung und sagte dann unschuldig: "Erwähnte ich etwa nicht, daß es sich bei einem dieser Poster um eins von den Monkees handelt?"
Natalie verschluckte sich fast. Auf einmal rasten tausende Bilder, Gefühle und Gedanken gleichzeitig in ihren Kopf und überschwemmten ihr klares Denken für einen kurzen Augenblick. Schließlich keuchte sie: "Nein, das hattest du nicht erwähnt."
"Oh!"
Sie konnte förmlich Simon's Grinsen durch den Telefonhörer spüren. Natalie hätte ihn gleichzeitig umarmen und erwürgen können. Aber nicht nur, daß er so unschuldig tat und sie so lange hatte zappeln lassen. Jetzt fragte er auch noch scheinheilig: "Und? Kommst du nun heute in die Kirche?"
Seine Schwester hatte sich inzwischen wieder gefangen.
"Worauf du einen lassen kannst!"
Sie knallte den Hörer auf die Gabel, schlüpfte in ihre Turnschuhe und raste durch die Wohnung an Anita vorbei, die glaubte, ein geölter Blitz hätte sie gestreift.
2. KAPITEL
The Poster
oder
"Als der Blitz einschlug"
Es war als hätte jemand ein Loch durch eine dünne Papierwand gebohrt, die jahrelang eine Ecke des Zimmers verdeckt hatte.
Sie war da, aber niemand war auf die Idee gekommen, sie zu öffnen, um zu sehen, was sich dahinter verbarg. Bis heute.
Natalie stand im Halbdunkel des Kellergewölbes, atmete tief die muffig riechende Luft ein, die sie seltsamerweise sofort als heimisch empfand, und sog das Bild in sich ein, das sich vor ihr eröffnete.
30 Jahre.
Sie mußte das Wort immer wieder schmecken, um es zu begreifen.
30 Jahre, die sich vor ihr erschlossen. Und auch die Erinnerungen an ihre damalige "Begegnung" kehrten nun mit einem Schlag zurück. So intensiv, daß es ihr im ersten Moment den Atem verschlug.
"Hör auf, zu träumen!", schalt sie sich selbst und knipste die Deckenbeleuchtung an. Den Schlüssel, den ihr Pfarrer Johannes Hinze nur deshalb ausgehändigt hatte, weil er sie seit Jahren kannte und die Konfirmations-Gruppe nicht ohne Aufsicht lassen konnte, hängte Natalie an einen vorstehenden Nagel in der Steinwand und betrat ehrfurchtsvollen Gemütes den hintersten Raum des Kellers.
Es war ihr bei jedem Schritt, als kämpften zwei Menschen in ihrem Inneren. Der eine war der Träumer - der Teil, der von Valleri übrig geblieben war und der nun auf einmal wieder zum Leben erwachte -, der alles um sich herum aufsog, wie das größte Abenteuer seines Lebens und glaubte, durch ein Zeittor getreten zu sein, um ein heiliges Relikt zu bestaunen.
Bei dem anderen - vernünftigem, rationalen - Teil kam es ihr vor, als ohrfeigte er die ganze Zeit den Träumer, um ihn wieder auf den Boden der Tatsachen zu holen. In ihrem Kopf, wo der vernünftige Teil überwog, erklangen feste Worte, wie eine Platte mit Sprung: Es ist doch nur ein Poster ... ein altes Poster ... kein Schrein oder Heiligtum ... nur ein Poster ..."
Aber wo war es denn nun? Natalie stand bereits in der Mitte des schwach erleuchteten Raumes, konnte es jedoch nicht ausmachen.
Man sah noch heute, daß es einmal ein gemütlicher Jugendtreff gewesen sein mußte. Der Raum war sparsam eingerichtet, groß, quadratisch und geräumig. An den Wänden standen, wahllos zusammengewürfelte Sitzmöbel aller erdenklichen Farben und Formen. Ein großes Bild von Jimi Hendrix zierte die hintere Wand. Die Aschenbecher auf den zerkratzten, mit Brandflecken übersäten Holztischen waren noch randvoll, und der schwache aber unverkennbare Geruch von Marihuana hing noch in der Luft, so als sei hier erst vor kurzem noch jemand gewesen.
Nur war jetzt alles mit einer dicken Staubschicht bedeckt. Natalie war fast so, als könnte sie noch das Lachen von Jugendlichen hören, die selbstgebaute Tüten zu ohrenbetäubender Musik von den "Doors" rauchten.
Links neben dem Eingang erhob sich eine einzelne Stufe und trennte den Gemeinschaftsraum von einer seperaten Ebene, die wohl die Küche gewesen sein mußte, doch nur ein alter, über und über mit Blumenmotiven beklebter Kühlschrank erinnerte noch daran.
Natalie sah sich suchend um. Poster von den Byrds, Jim Morrison, Lovin' Spoonful, The Mamas and the Papas - sogar eins von den Beatles entdeckte sie, aber das der Monkees nicht.
"Toll, Simon!", meckerte sie ihren nicht vorhandenen Bruder an, um das Gefühlt der Enttäuschung zu überspielen, "Schön verarscht hast du mich. Danke auch!"
Im Geiste sah sie sich wutentbrannt die Treppe zum ersten Stock hinaufstapfen, im Jugendzimmer ankommen und ein gequältes Grinsen aufsetzen, um vor ihrem Bruder nicht die Nerven zu verlieren und ihn in den Genuß eines Triumphes zu bringen, sich langsam setzen und zu sagen: "Ha ha, Simon, der Punkt ging an dich.", um sich die fortlaufenden Minuten damit zu vertreiben, kuriosen Small Talk … la Karo zu betreiben, Sandra's endlose Lobpreisungen der moslemischen Religion und dem Vorteil ein Einzelkind zu sein zu lauschen oder Simon's hartnäckige Bemühungen, Linda's Aufmerksamkeit zu erregen zu beobachten.
Natalie grinste; eigentlich war es doch urkomisch. Sie dachte an seine letzte Abfuhr zurück. Siegessicher hatte Simon seinen Arm um Linda's Schulter gelegt und gebrummt: "Na, mein Schatz, gehen wir danach noch zu dir?", woraufhin Linda mit einem trockenen "Verpiß dich, du Ekelpaket!" konterte.
Eine große, dünne Spinne krabbelte über Natalie's Fuß und ließ sie kurz aufquieken. Das brachte sie in die Gegenwart zurück. Mit einem Ruck drehte sie sich auf dem Absatz um und wollte gerade den Keller verlassen, als ihr Blick auf ein hohes, holzfarbenes Bücherbord fiel, das in einer dunkleren Ecke des Raumes stand. Es war nicht ganz an die Wand gestellt worden, weil die Couch, die daneben stand, ein Stück zu lang war.
Zwischen ihr und dem Bücherregal war eine kleine Ecke frei, und dort wollte Natalie noch nachsehen. Aber im Grunde wußte sie schon, daß das Poster da sein würde, ohne daß sie es bereits sah.
Sie ging schneller, wie von einem unsichtbaren Gummiband angezogen, kletterte über die ehemals blaue Couch, wobei sie eine dicke Staubwolke aufwirbelte und stand endlich davor.
Das Poster.
Sie wagte kaum, sich zu rühren, geschweige denn zu atmen. Ihr Blick klebte wie magnetisiert an dem Bild, das vor ihr an der Wand hing.
Es zeigte die vier Monkees so, wie Natalie sie aus der zweiten Staffel der Serie her kannte. Die Wände des Raumes, in dem sie sich befanden, war unterteilt in lauter gleichgroße blaue, gelbe, rote und grüne Farbstreifen, die senkrecht bis zum Fußboden und der Decke führten, wo sie sich trafen. So wirkte das Zimmer irgendwie abgerundet, wie ein Zirkuszelt.
In der Mitte stand ein schwarzes Klavier, an dem, in gebeugter Haltung, Peter saß. Er trug ein naturfarbenes Hemd, das an den Rändern mit indianisch anmutenden Stickereien versehen war. Um seinen Hals baumelten mehrere bunte Ketten aus Holzperlen.
Hinter ihm, ganz links im Bild war Davy in einer Bewegung erstarrt, die man wohl als Tanzen bezeichnen konnte. Davy hatte die Augen geschlossen, den Mund weit geöffnet und gab wohl gerade sein schmachtendes Daydream Believer zum besten. Sein knallrotes Hemd und die schwarze Schlaghose hoben markant sich vom gelb-blauen Hintergrund ab.
Am rechten Ende des Klaviers stützte Micky seine Arme ab, damit er nicht unter der zentnerschweren Last des Tamburins zusammenbrach. Er grinste auf seine typische Weise, und Natalie fand, daß seine wirren Locken ganz gut zu seiner Ausgeflipptheit paßten. Micky trug zu seiner engen Hose und dem gestreiftem Rollkragenpulli eine "Tischdecke" um den Hals, wie er selbst einmal in einem Interview erklärt hatte.
Und schließlich, in der Mitte des Bildes, hinter dem Klavier, stand Mike. Natalie holte zitternd vor Anspannung Atem. Mike trug ein weißes Hemd mit einem blaugemusterten Schlips, der über seine Gitarre fiel, die er auf dem Oberschenkel des linken Beines plaziert hatte, das wiederum auf das Klavier gestützt war. Seine Beine steckten in hautengen roten Jeans, und weiße Cowboystiefel rundeten sein alles in allem konservativ wirkendes Erscheinungsbild ab.
Er schien sich am meisten verändert zu haben, und das hing vor allem damit zusammen, daß etwas ganz entscheidenes fehlte. Seine Mütze!
Das grüne Requisit, das ihn ausgezeichnet hatte, war durch eine große rosa Brille ersetzt worden, die auf seiner Nase thronte und so gar nicht zu seinem übrigen Outfit zu passen schien. Außerdem säumten breite Koteletten seine Wangen, was ihn ein wenig älter aussehen ließ, als er eigentlich war.
Noch einmal atmete Natalie tief durch. Ihre Fäuste verkrampften sich unmerklich ineinander. Ihre Fingernägel hinterließen rote Striemen in ihrer Haut. Blitzartig stürmten die alten Bilder und überschäumenden Gefühle wieder in ihr auf. Mike im Strandhaus auf der Hängematte. Sie mit Mike am Strand. Seine Hand auf ihrer Schulter...
"Oh, verdammt!"
Sie schlug sich selbst ins Gesicht. "Kannst du nicht einmal zu träumen aufhören?! Es war nur ein Traum! Nicht wirklich! Nur deine überschäumende Phantasie! Begreif das doch endlich!"
Endgültig stieß sie die aufgestaute Luft aus. "So, und nun nimm das Poster und verschwinde wieder. Es wird langsam kalt hier unten."
Vorsichtig, mit Fingerspitzengefühl um das dünne Papier nicht zu beschädigen, löste sie das Klebeband an einer Ecke von der Wand. Es ging ganz gut, und sie machte sich daran, genauso mit den anderen drei Ecken zu verfahren. Mit einem mal stutzte sie. Spielten ihr ihre übermüdeten Augen in dem Halbdunkel wieder einmal einen Streich? Für einen kurzen Moment war ihr so, als hätte sich etwas vor ihr an der Wand - oder auf dem Poster - bewegt.
"Blödsinn.", murmelte sie verwirrt und hatte für ein paar Sekunden sogar Angst, wieder auf das Bild zu sehen. Natalie zwinkerte ein paar mal und zwang sich, erneut hinzusehen. Doch es war (hatte sie etwa was anderes erwartet?) alles normal und unbewegt.
"Du bist krank, Natti!", sagte sie im Tonfall einer genervten Mutter zu sich selbst und verwendete dabei die ihr selbst so verhaßte Verniedlichung ihres Namens, wie sie es immer tat, wenn sie sich selbst nicht für voll nahm. Dann fuhr sie sich mit dem Handrücken der rechten Hand über die Augen und streckte sich, um an die obere Ecke des Posters heranzukommen. Leise summte sie eine kleine Melodie, von der ihr nicht bewußt war, um welche es sich überhaupt handelte.
Schwärmerisch glitt ihr Blick wieder über das Bild, für das sie sich schon in Gedanken einen Platz in ihrem Zimmer ausgesucht hatte. Direkt neben ihr Bett, wo sie es jeden Abend vor dem Einschlafen betrachten konnte.
Im selben Moment drehte Mike seinen Kopf von links nach rechts und sah ihr direkt in die Augen.
Natalie schrie laut auf, stolperte zwei Schritte rückwärts und stieß gegen die Couch. Dabei verlor sie das Gleichgewicht und ruderte vergeblich mit den Armen in der Luft, bevor sie rücklings über die Lehne fiel. Staub wirbelte auf, sie prallte unsanft mit dem Hinterkopf auf den Boden und sah für einen Augenblick Sterne. Im selben Moment blitzte es grell auf, ein Knall war zu hören, daß die Erde bebte, und kurz darauf war das Zimmer in völlige Dunkelheit gehüllt.
Einige Sekunden lang blieb Natalie noch benommen auf dem kalten Kellerboden liegen und wagte sich nicht, zu rühren. Sie lauschte auf jedes Geräusch, doch bis auf ihren eigenen keuchenden Atem war alles ruhig.
"Scheiße!", war das erste, das sie sich wieder getraute, zu sagen - allerdings nur im Flüsterton.
"Oh, Scheiße!"
Sie wagte sich wieder, zu bewegen und setzte sich langsam auf, sorgfältig prüfend, ob noch alles an ihr heil war. "Oh, Mann, verdammte Scheiße..." Ihre Stimme zitterte. "Das kann doch nicht wahr sein! Das muß ich mir eingebildet haben. Nein, das ist unmöglich..."
So vor sich hinplappernd kroch sie in der Dunkelheit tastend vorwärts zum Ausgang. Die Tür stand noch halb offen, und der fahle Lichtschein drang durch den Spalt. Erst als sie die ™ffnung erreicht hatte, stand sie auf und flüchtete in die Helligkeit. Dort blieb sie, den Türknauf umklammernd, stehen und überlegte krampfhaft, was zu tun sei - oder was geschehen war.
"Okay.", sagte sie in einem leicht singenden Tonfall, "Okay, okay, keine Panik. Alles ganz ruhig." Sie drückte ein paarmal probeweise auf den Lichtschalter, aber es blieb nach wie vor dunkel.
"Na toll, die Glühlampe ist durchgeknallt.", stellte sie fest, "Ist ja auch logisch. 30 Jahre alte Birne!"
"Na, du?", erklang plötzlich eine Stimme hinter Natalie. Erschrocken fuhr sie zusammen. Durch diese unerwartete Reaktion ihrer Freundin, erschrak auch Anita.
"Mann, warum tust du'n das?", beschwerte sie sich, als ihr Herz einen Tick langsamer schlug, "Da kriegt man ja 'nen Herzschlag! Ich wußte gar nicht, daß du so schreckhaft bist, Wolle. Sag mal...", Anita schaute sie von oben bis unten an, "...hast du dich geprügelt?"
Natalie blickte an sich herunter. Wie erwartet war, nach ihrer Kriecherei auf dem Kellerboden, der halbe Dreck, der sich bis heute dort angesammelt hatte, jetzt auf den Knien und Unterschenkeln ihrer Flickenjeans verteilt.
"So in etwa.", antwortete sie wortkarg. Der Schreck saß ihr noch tief in den Gliedern, "Was führt dich eigentlich hier runter?"
"Ich wollte nur mal nachsehen, was du hier so die ganze Zeit treibst."
"Ich bin doch erst seit ein paar Minuten weg."
"Oh, wirklich?", Anita grinste, "Du fehlst mir eben, Wolle. Jede Sekunde ohne dich ist wie eine Ewigkeit."
"Ach, Hase, das hast du schön gesagt.", seufzte Natalie.
"Nee, jetzt mal ehrlich.", lenkte Anita ein, "Mir ist es dort oben eindeutig zu laut. Das Liebesgesülze deines Bruders geht mir heute ganz schön gegen den Strich. Doris und Carla führen wieder einmal eine ihrer hochtrabend intellektuellen Diskussionen über Heavy Metall, und Karo..."
"...telefoniert.", beendete Natalie.
Für sie war die Sache klar. Anita reagierte nur so gestreßt auf jede Kleinigkeit, wenn sie ´rger mit ihrem Freund hatte, was bedeutete, daß dieser nie Zeit für Anita hatte.
"Du sagst es."
Erst dachte Natalie, Anita hätte ihre Gedanken erraten, dann fiel ihr aber ein, daß es sich auf ihr voriges Gespräch bezog.
"Wieso ist es hier eigentlich so duster?", fuhr Anita fort.
"Die Birne ist durchgeknallt.", antwortete Natalie.
"Da habt ihr ja was gemeinsam."
"Haha. Los, hilf mir lieber mit dem Poster, anstatt hier dumme Sprüche zu klopfen." "Du hast es immer noch nicht abgenommen? Was, um Himmels willen hast du bis jetzt gemacht?"
Als Natalie nicht antwortete, hob sie nachgebend die Schultern, "Okay, was soll ich tun?"
Natalie drückte Anita die Taschenlampe, die bis eben in einer Tüte neben der Tür gehangen hatte, in die Hand.
"Die hältst du, damit ich das Poster entkleistern kann."
Anita folgte Natalie in den ehemaligen Jugendkeller.
"Hm, sieht ja echt unheimlich aus.", bemerkte sie rauh, als der Lichtkegel der Taschenlampe über die Möbel des Zimmers hüpfte und die Schatten tanzen ließ.
"Was war das?!", hauchte sie erschrocken, der Lichtkegel erzitterte.
"Was war was?", fragte Natalie zurück.
"Ich hab was gehört! Ein Rascheln oder Knistern, oder so."
"Ich hab nichts gehört.", entgegnete Natalie ungerührt.
"Da war es wieder!", piepste Anita aufgeregt und schwenkte die Lampe wild umher. "Mensch, halt doch still!", motzte Natalie, "Wie soll ich sonst etwas sehen?"
Aber sie tat nur so überlegen. In Wirklichkeit war sie froh, daß Anita bei ihr war, denn allein hätte sie sich nicht in diesen dunklen Keller zurück gewagt. Und was Anita nicht wissen sollte: Auch sie hatte ein Geräusch gehört, doch für Natalie hatte es sich nicht nach Rascheln angehört. Auch nicht nach einem Knistern.
Es war eher so, als würde sie jemanden - oder etwas! - unterdrückt atmen hören.
"Wo ist denn nun dein dummes Poster?! Mach's ab, und dann nix wie raus hier!" "Gleich hier hinter dem Regal. Aber wir passen nicht beide hinter die Couch. Ich steig rüber, und du bleibst wo du bist und hältst die Lampe schön so, daß ich etwas sehen kann.", dirigierte Natalie und kletterte über das Sitzmöbel,
"Im übrigen ist dieses angebliche Geräusch ganz simpel zu erklären.", fügte sie in ihrem sachlichsten Tonfall hinzu, während sie begann, mit den Fingernägeln an den Klebestreifen herumzupuhlen.
"So?", fragte Anita, sich vorsichtig umschauend, "Was ist es?"
"Bestimmt nur eine Ratte."
"Ich hau ab!"
"He! Bleib hier!"
Natalie bemühte sich, den Anflug Panik in ihrer Stimme zu unterdrücken. Anita hatte sich auf dem Absatz umgedreht und nahm das Licht mit.
"Ich bin doch gleich soweit. Die Ratte wird dich schon nicht fressen."
Anita kam wieder zurück, "Na schön. Aber beeil dich. Vielleicht mag sie Hasen."
Anita hielt die Lampe mit beiden Händen fest umklammert und drehte alle paar Sekunden den Kopf nach links und rechts, in der Befürchtung, die vermeintliche Ratte irgendwo zu entdecken, während Natalie sich wieder dem Poster zuwandte.
Doch als der Schein der Taschenlampe dieses Mal darauf fiel und sie das Bild ansah, stockte ihr abermals der Atem.
Ihr wurde schwindlig. Diesmal war ihr nicht so, als würde sich etwas oder jemand auf dem Bild bewegen oder sie ansehen.
Nein, der Platz, an dem sich Mike befunden hatte, war... LEER.
Mike war fort. Nicht mehr auf dem Poster!
Natalie's Kehle entrang sich ein heiseres, pfeifendes Krächzen, wie bei einem Asthma-Kranken während eines Anfalls.
Doch die Starrheit wich sofort. Mit einem Satz war sie wieder bei Anita und zerrte die verdatterte Freundin am T-Shirt nach draußen.
"Los, weg hier. Hau'n wir ab!"
"A-aber...", begann sie zu stammeln, "...was? ...wieso? Ich denke, das Poster..."
"Vergiß das Poster, das hängt morgen auch noch dort." "Aber was ist denn auf einmal?" Natalie überlegte schnell nach einer plausiblen Ausrede.
"Ich... ich hab die Ratte gesehen!"
3. KAPITEL
Propinquity
oder
"Als die Vergangenheit sie einholte"
"Morgen!", strahlte Anita ihre Mitbewohnerin am nächsten Tag um sieben Uhr an.
Natalie erwiderte den Gruß mit einem mürrischen Brummen, wobei sie sich an ihrer zehnten Tasse Kaffee festhielt.
Sie saß schon seit fünf Uhr morgens am Küchentisch, weil sie nicht schlafen konnte, und wenn sie kurz eingenickt war, wirres Zeug geträumt hatte; vom Gemeindekeller und dem Poster und Ratten, die aus ihm hervorgekrochen waren.
Natalie erschauderte noch bei dem Gedanken daran.
"Konntest du nicht schlafen?", fragte Anita überflüssigerweise und erntete dafür auch nur einen scharfen Blick von der Seite aus Natalie's geröteten, herunterhängenden Augen.
"Hast du wenigstens Frühstück gemacht?"
"Kannst Kaffee trinken."
Natalie schob ihr eine Tasse hin, woraufhin sie nur die Miene verzog.
"Ach nee, dann frühstücke ich lieber in der Kantine.", und mit einem Blick auf ihre übermüdete Freundin fügte sie hinzu: "Und du solltest auch auf etwas koffeinfreies umsteigen. Mußt du heute nicht arbeiten?"
Natalie schüttelte den Kopf, "Heute zum Glück nicht."
Sie goß sich den letzten Rest Kaffee aus der Kanne ein, aber nur eine zähflüssige schwarze Masse platschte in die Tasse.
"Dabei fällt mir ein, wir müssen Kaffeefilter kaufen.", bemerkte sie trocken.
"Das kannst du dann machen, wenn du sowieso zu Hause bist.", schlug Anita beim Schuhezubinden vor.
"Eigentlich..." Natalie schnupperte kurz an dem Kaffeesatz, verzog angeekelt das Gesicht und entsorgte Tasse und Inhalt in den Ausguß des Waschbeckens, "...wollte ich heute noch mal in die Kirche. Vielleicht haben sie schon eine neue Birne im Keller reingeschraubt."
Sie wollte sich unbedingt die Sache noch mal bei Tageslicht besehen. Sie glaubte einfach nicht an Spukgeschichten - vielmehr wollte sie nicht daran glauben. Doch Anita, die ihre Gedanken nicht mitbekam, schnaubte nur ungerührt: "Was hält dich davon ab, auf dem Rückweg einkaufen zu gehen?"
"Nichts, du hast recht. Aber ich muß einfach noch mal da runter und das Poster..."
"Ach, Natti!", Anita schüttelte den Kopf, "¨bertreibst du nicht ein bißchen? Das wird ja richtig zwanghaft bei dir."
"Nenn mich nicht Natti!", fauchte sie gereizt, "Du nimmst mich nicht ernst! Aber...", und ihre Stimme nahm wieder einen ruhigeren Ton an, der sogar ein wenig verträumt klang, "...es klingt vielleicht bescheuert, aber dort unten, gestern, hatte ich wieder dieses elektrisierende Gefühl - ähnlich wie damals bevor ich... Dream World schrieb. Das Poster inspiriert mich."
"Dann solltest du vielleicht dort unten deine Fortsetzung schreiben.", schlug Anita vor, während sie in ihrer Handtasche nach dem Hausschlüssel kramte. ¨ber Natalie's Gesicht breitete sich ein zufriedenes Lächeln aus.
"He, keine schlechte Idee!"
"Schön, ich muß los. In fünf Minuten kommt mein Bus."
Anita hängte sich ihre Tasche über die Schulter und rannte zur Haustür, "Grüß die Ratte von mir!"
"Haha.", machte Natalie leise. Ihr lief ein Schauder über den Rücken.
Das Licht im Gemeindekeller funktionierte wieder einwandfrei. Pfarrer Hinze, den Natalie am Tag zuvor gleich auf die durchgebrannte Glühlampe hingewiesen hatte, hatte allerdings nichts feststellen können.
Als Natalie ihn vorhin darauf angesprochen hatte, sagte er, alles sei in Ordnung. Das Licht ging einfach wieder.
Natalie war das sehr peinlich gewesen, und obwohl sie hundertprozentig sicher war, daß die Birne gestern nicht funktioniert hatte, redete sie sich ein, daß sie sich das alles gestern wohl nur eingebildet haben mußte.
Jetzt einen Tag später und im Schein der Deckenbeleuchtung sah alles ganz harmlos aus. Natalie hätte den gestrigen Vorfall als Traumrückbleibsel abgetan, wenn nicht der aufgewühlte Staub auf der Couch und die Schleifspuren auf dem Fußboden noch sichtbar gewesen wären.
Aber was zum Teufel hatte ihr gestern solch einen Schrecken eingejagt? Um das herauszufinden, mußte sie einen erneuten - nüchternen - Blick auf das Poster werfen.
Vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend ging sie zur Couch, stieg darüber, wobei sie einen direkten Blick auf das Poster vorerst vermied.
Erst wenn sie direkt davor stand wollte sie die Augen darauf richten, sehen daß alles normal war und herzlich über ihre blühende Phantasie lachen.
Vor der Wand stellte sie sich mit geschlossenen Augen breitbeinig hin, atmete tief ein und aus und zählte leise: "3 - 2 - 1 - los!"
Sie riß die Augen auf. Das Poster hing noch da - und der Platz, an dem Mike gestanden hatte, war noch immer leer.
"Scheiße, das gibt's doch nicht...", murmelte sie, besah sich das Bild noch einmal genau von allen Seiten, berührte es sogar, so als könnte Mike von dem Poster irgendwo heruntergefallen sein, aber sie fand keine Erklärung.
"Ich bin mir ganz sicher, daß er vorher dabei war. Ich kenne das Bild doch von einer Schallplatte!", machte sie sich selber klar, "Ich begreife das nicht."
"Ich auch nicht.", sagte plötzlich eine leise Stimme hinter ihr. Natalie drehte sich zur Seite und sah direkt in das ernste und ruhige Gesicht von Mike Nesmith, der neben der Couch in der Ecke kauerte.
Er sah ganz genauso wie auf dem Poster aus; rote Hose, weißes Hemd, blauer Schlips, rosa Brille und weiße Stiefel - nur daß er höchst lebendig war!
Mit offenem Mund starrte sie ihn an, bis Mike vorsichtig die Hand hob und zaghaft "Hi!", sagte.
Natalie schrie wie sie noch nie in ihrem Leben geschrien hatte.
"Sei ruhig!" Mike sah sich ängstlich nach möglichen Menschen um, die Natalie's Kreischen fehldeuten könnten. "Bitte, sei still! Hör auf zu schreien, bitte! Scht!"
Endlich brach ihr Schrei ab, aber ihre abwehrende Haltung blieb. Furchtsam drückte sie sich mit dem Rücken an die Wand, tastete sich vorwärts und stieg über die Couch, wobei sie unaufhörlich zu sich selber redete.
"Du bist nicht real! Du kannst gar nicht hier sein. Das ist nur wieder ein irrer Tagtraum von mir - oder vielleicht schlafe ich ja auch noch. Ja, genau! Ich liege in meinem Bett und schlafe. Und jetzt werde ich wieder nach Hause gehen, mich in mein Bett legen, damit ich gleich aufwachen und hier hergehen kann. Ja, so ist das. Und du bist nur eine Ausgeburt meiner Phantasie..."
Sie steuerte rückwärts auf die Kellertür, wobei ihre Augen immer noch weit aufgerissen an ihm hafteten. Mike erhob sich langsam und wollte ihr folgen.
"Das ist kein Traum.", sagte er ruhig, nach Worten ringend, "Ich bin wirklich hier. Ich weiß..."
"Bleib, wo du bist!", unterbrach sie ihn schrill, "Verschwinde! Laß mich in Ruhe!!"
Er öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch sie preßte beide Hände auf die Ohren, kniff die Augen zusammen und sang: "Ich höre dich nicht! Du bist nicht hier. Lalalala..."
Allmählich wich doch die Anspannung aus ihr, und sie sank erschöpft auf den Kellerboden, die Beine an den Körper gezogen. Auch ihr Kindergesang wurde leiser. Tränen liefen langsam über ihr Gesicht.
Dann spürte sie eine warme Hand auf ihrem Arm. Als sie die Augen vorsichtig öffnete, hatte sich Mike neben sie gekniet und sprach sie sanft an.
"Bitte, hör mir zu. Ich bin dir doch nicht aus reiner Bosheit erschienen. Für mich ist das was passiert ist genauso unerklärlich wie für dich. Das letzte woran ich mich erinnerte war, wie du dich in dem Strandhaus aufgelöst hast. Dann blitzt es auf einmal grell, und ich befand mich in diesem dunklen Raum. Ich hab die ganze Nacht gebraucht, um irgendwie zu begreifen, was mit mir passiert sein könnte. Kannst du mir es nicht erklären?"
Langsam ließ Natalie die Arme sinken. Erst jetzt sah sie ihn sich richtig an. Er wirkte verängstigt und unsicher, was so ganz und gar nicht typisch für ihn war. Und erst jetzt verstand sie, daß es für ihn ein noch größerer Schock gewesen sein mußte, was mit ihm passiert war. Das Was und Wieso war jetzt nebensächlich.
Ihr Mike - ihre Phantasiefigur - war zum Leben erwacht, und er brauchte sie - vielleicht so wie sie ihn das letzte Mal gebraucht hatte, und ihre Angst verflog.
Sanft tastete sie zuerst über seine Hand, die noch immer auf ihrem Arm ruhte; sie zitterte leicht. Dann berührten ihre Fingerkuppen sein Gesicht, das sich warm und lebendig anfühlte, und fuhr ihm leicht durch die Haare. Schließlich faßte sie seine rosafarbene Brille an beiden Bügeln und nahm sie ihm ab. Seine braunen Augen sahen sie bedrückt und fragend an.
"Du bist es wirklich.", sie lächelte, "Ich weiß zwar nicht wie, aber du bist wirklich hier. Nur...", sie entriß sich Mike's durchdringendem Blick, stand auf und fing an, ein paar Schritte im Raum auf und ab zu laufen, "...nur was machen ich jetzt?"
"Bitte, laß mich hier nicht zurück!"
Ein Zittern schwang in seiner Stimme mit.
"Noch eine Nacht allein in diesem Staub und Mief, und ich drehe durch!"
"Und was soll ich Anita sagen, wenn wir zu Hause sind? Sieh mal, wer mir bis hierher nachgelaufen ist ? Können wir ihn behalten? Das ist doch alles vollkommen irre!"
"Wer ist Anita?", fragte Mike verwirrt.
"Meine Mitbewohnerin. Sie..."
Ihr Blick fiel auf den verstört dreinblickenden Mike, der noch immer am Boden kauerte und einen verlorenen Eindruck machte. Sie beendete ihr Auf- und Abgehen und entspannte sich.
"Oh Mann, nun komm. Das hat ja alles noch Zeit. Ich nehme dich erstmal mit in meine Wohnung, und dann sehen wir weiter. Auf dem Weg erzähle ich dir alles, was sich inzwischen zugetragen hat. Anita kommt erst heute Abend von der Arbeit, und bis dahin fällt mir schon was ein."
Sie reichte ihm die Hand, und er ergriff sie dankbar.
Auf der Straße zuckte Mike bei jedem Autohupen kurz zusammen. Solchen Lärm war er nicht gewöhnt, schließlich hatte er in "Valleri's" Traumwelt immer nur am Strand gelebt.
Natalie betrachtete ihn immer wieder heimlich von der Seite. Sie konnte einfach nicht glauben, daß er wirklich real war. Sie war davon überzeugt, daß er entweder jeden Augenblick wieder verschwinden würde oder daß er nur in ihrer Einbildung existierte, aber die Leute, denen sie auf der Straße begegneten, sahen sich nach ihm um, bemerkten ihn, wenn er sie beim Vorübergehen streifte.
"Okay, wir nehmen den Bus.", beschloß Natalie.
"Der, der dort hinten kommt?", erkundigte sich Mike und deutete zum Ende der Straße, wo ein großes gelbes Fahrzeug in die Haltestelle einbog.
"Ja, das ist unserer, aber..."
Doch da war Mike schon vorgelaufen, um den Bus einzuholen. Natalie sah ihm verdattert hinterher. Dann setzte auch sie sich in Bewegung.
"Hey, warte! Du kannst doch gar nicht..."
Mike hörte sie nicht. Er war schon auf die Plattform des Busses gesprungen, damit er nicht ohne sie wegfahren konnte. Doch da begannen die ersten Probleme in der "neuen" Welt erst. Denn Mike war der Situation alles andere als gewachsen.
"Einmal, bitte.", sagte er erleichtert.
"Einmal was?", schnauzte ihn der übermüdete Busfahrer an.
"´h...ein Erwachsenenticket?"
"Daß Sie über 14 sind, sehe ich auch, Sie Schlaumeier! Was für ein Tarif darf's denn sein? A, B oder C?"
"Tja, ich...", stotterte Mike.
"Dauert's noch lange?", wurde er hinter sich von einer älteren Frau angepöbelt, "Hier wollen auch noch ein paar Leute mit!"
Zum Glück kam ihm Natalie zur Hilfe, die nun auch den Bus erreicht und sich vorsichtig durch die Warteschlange gekämpft hatte.
"Einmal AB Normaltarif für ihn, ich habe eine Monatskarte."
Endlich druckte die Maschine das Ticket aus, was Mike fasziniert beobachtete. Dann wurde er von Natalie am Hemdsärmel in den oberen Teil des Doppeldeckers geschleift, wo sie ihn in einen Fensterplatz drückte und sich selbst daneben fallenließ.
"Puh, das nächste Mal wartest du auf mich und rennst nicht einfach los! Der nächste Bus wäre 10 Minuten später gekommen."
"Ich hatte ja keine Ahnung, daß das hier so kompliziert ist.", gab er kleinlaut zu.
"Nein, wie solltest du auch? Deshalb warte das nächste Mal auf mich. Benimm dich ein wenig unauffälliger."
Gleich darauf schüttelte sie den Kopf und kicherte leise, "Ich fasse es nicht. Ich rede mit einer Phantasiegestalt aus meinem Roman und gebe ihr Anweisungen, wie man sich normal verhält!", woraufhin Mike nur verstohlen grinste und seinen Fahrschein inspizierte.
"3 Mark 90 - wieviel ist das?"
"Zu viel.", erwiderte Natalie trocken.
Die restliche Fahrt über blickte Mike aus dem Fenster und beobachtete, wie die Landschaft an ihm vorbei zog.
Das letzte Stück von der Haltestelle zu Natalie's Wohnung liefen sie im Spaziertempo, damit Mike Zeit hatte, die fremde Welt in sich aufzunehmen, was er auch wißbegierig tat.
Er wirkte wie ein Kind, das zum ersten Mal frisch gefallenen Schnee sieht. Besonders lange blieb er vor der kleinen Buchhandlung stehen, in deren Schaufenster Natalie's Buch ausgestellt war.
"Dream World - ein schöner Titel für dein Buch."
"Danke, aber wie bist du darauf gekommen? Ich habe ein Pseudonym..."
Sie brach ab, weil ihr im selben Moment wieder der Grund einfiel. Mike entsprang ihrer Phantasie, also wußte er auch über so etwas bescheid.
"Du hast dir also meinen Rat zu Herzen genommen.", fuhr er fort, "Hast du Erfolg damit?"
"Hm, das Buch war jedenfalls einer.", wich sie aus.
Zwei Mädchen im besten Teenager-Alter gingen an den beiden vorbei, drehten sich immer wieder nach Mike um und kicherten. Natalie schnappte einige Satzfetzen auf.
"Sieh dir den mal an ... die riesigen Koteletten ... was für ein Freak! ... aber irgendwie süß ..."
Sie spürte einen Anflug von Eifersucht und zog Mike eiligst weiter.
In der Wohnung bot sie Mike erst mal an, in der Küche auf einem Stuhl Platz zu nehmen, während sie etwas zu essen suchte.
"Ach, Mist!", entfuhr es ihr beim Durchforsten der Schränke, "Ich sollte doch einkaufen gehen! Das hatte ich in der Aufregung völlig vergessen."
"Ich habe sowieso keinen Hunger.", meinte Mike. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, sich die Wohnung anzusehen.
Natalie musterte ihn abschätzend, "Ja, das glaube ich dir sogar, aber Anita flippt aus, wenn sie von der Arbeit kommt und der Kühlschrank ist leer."
Sie stand unschlüssig im Zimmer und beobachtete Mike, wie er interessiert den Wasserkocher auf dem Küchentisch inspizierte.
"Kann ich dich für zehn Minuten allein lassen?"
"Geh nur.", Mike sah kaum auf.
"Wirklich?" Natalie sah sich auf dem Weg zur Haustür immer wieder um, doch er war völlig in sich versunken, "Okay, ich beeil mich. Faß nichts an!"
Dann fiel die Haustür ins Schloß.
Im Supermarkt drei Straßen weiter trat Natalie von einen Fuß auf den anderen. Die Schlange vor der Kasse schien kein Ende zu nehmen. Der Einkaufswagen vor ihr war randvoll mit Lebensmitteln, aber sie befürchtete, daß bereits das Haltbarkeitsdatum überschritten sein würde, wenn sie endlich an der Reihe war. Gerade als noch zwei Menschen vor ihr standen, fiel ihr siedendheiß etwas ein, das sie in der Aufregung vergessen hatte.
"Ach du Schreck! Die Kaffeefilter!"
Schnell drängelte sie sich aus der Reihe, um sie zu holen. Den Wagen ließ sie in der Reihe stehen. So langsam wie sich die Schlange bewegte, würde sie für die Filter nicht brauchen. Aber als Natalie zurückkam, hatte irgendein Witzbold ihren Wagen aus der Reihe gekarrt.
"Sehr freundlich. Danke auch!", grummelte sie verärgert, während sie sich wieder an das hintere Ende der Schlange stellte.
Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, daß sie bereits eine halbe Stunde sinnlos verplempert hatte.
Ihre Gedanken wanderten wieder zu Mike in ihrer Küche. Was war da bloß geschehen? Sie konnte es noch immer nicht recht fassen. Ob er noch immer da sein würde, wenn sie wiederkam? War er wirklich da - oder wieder nur Einbildung? Ihre Phantasie war ihr manchmal selbst unheimlich - zu realistisch.
Eine innere Stimme, irgendwo ganz tief in ihr versuchte ihr einzureden, daß wenn sie nach Hause kam, Mike einfach wieder verschwunden sein würde, als sei er nie dagewesen - was er vermutlich auch nie gewesen war.
Mike war noch da. Er war höchst lebendig, obwohl er selbst keinen Schimmer hatte wie und warum. Es wunderte ihn selbst. Auf einmal hatte er ein Bewußtsein, das sich irgendwie aus Erinnerungen über den echten irgendwo existierenden Mike Nesmith aus Natalie's Phantasie und seinen eigenen sich gerade entwickelnden Gedanken zusammensetzte. Er begann gerade, ein eigenständiger Mensch zu werden, und er genoß diesen Vorgang mit kindlichem Erstaunen.
In der Zeit als Natalie sich gerade auf die Kaffeefilter stürzte, kroch Mike auf allen Vieren durch die Wohnung und besah sich alle Möbel, Poster, Bücher, Schubfächer, Regale, jeden Winkel und jeden einzelnen Krümel auf dem Fußboden.
Jetzt hockte er in Natalie's Zimmer vor der Stereoanlage und dem Regal für CD's und versuchte herauszufinden, wie das Gerät funktionierte. Instinktiv drückte er auf das mit "Open/Close" gekennzeichnete Feld, und die Lade fuhr heraus. Zufrieden grinsend schaute er sich nun die große Auswahl an CD's an, die im Regal standen. Wahllos griff er hinein und beförderte etwas hervor, das in seinen Ohren interessant klang.
"Madonna - Ray of Light", las er und besah sie sich von allen Seiten, in der Hoffnung, sie könnte ihm sagen, was er nun tun sollte. Hartnäckig riß er an beiden Seiten der Plastikhülle, bis diese plötzlich nachgab und die CD in hohem Bogen herausflog.
"Ups!", gab er erschrocken von sich und hechtete nach der Miniplatte, um sie im Flug zu fangen. Endlich hielt er sie unbeschadet in den Händen.
"Puh!", machte er und legte sie vorsichtig ein. Doch als er sie einschalten wollte, war nichts zu hören.
"Hm, vielleicht der falsche Knopf?", mutmaßte er und betätigte einen anderen. Eine Sekunde später dröhnte ein ohrenbetäubender Krach aus dem Lautsprecher, und ein Diskjockey vom Radio brüllte die neuesten Nachrichten aus der Pop-Welt durch das Mikro, daß Mike vor Schreck hintenüber fiel.
Um möglichst schnell den tosenden Lärm auszuschalten, drückte er wahllos auf alle weiteren Knöpfe, die sich ihm boten, bis endlich der Krach verstummte.
Mike atmete erleichtert durch und überprüfte zuerst den Lautstärkeregler, bevor er sich an den nächsten Versuch machte. Dann tippte er auf das Feld, das "CD" signalisierte, anschließend auf "Play", und zu seinem Erstaunen spuckte das Gerät tatsächlich Musik aus.
Seltsame Klänge. Ungewohnt, aber nicht unbedingt schlecht.
Schrille Sythesizer-Klänge paarten sich mit elektronisch verstärkten Bässen, die das Ganze abgehackt klingen ließen. Die Harmonie wurde fast ausschließlich durch die penetrante weibliche Stimme erhalten, die extrem tief, bald kreischend hoch sang. Insofern unterschied sich die Musik nicht sehr von der der 60er Jahre.
"Psychedelic!", wie Mike fand.
Lange schaffte er es dennoch nicht, still zu sitzen. Der Inhalt der zahlreichen Schubfächer zog sein Interesse an. Als erstes zog er die unter dem Schreibtisch auf. Dutzende Bündel Briefe waren darin verstaut, die alle denselben Absender hatten. Der Name auf den Briefen sagte Mike nichts, also beschloß er, einen von ihnen zu öffnen und zu lesen, obwohl es ihm zuerst nicht wohl bei der Sache war, fremde Post zu lesen. Aber Natalie mußte es ja nicht erfahren.
Es stellte sich heraus, daß es sich bei dem Briefeschreiber um Natalie's Mutter handelte, die seit einiger Zeit im Ausland lebte. Seit der Trennung von ihrem Mann und seit ihre Tochter ausgezogen war, hatte sie es vorgezogen, zurück in ihre Heimat Italien zu ziehen, wo sie ein Haus besaß.
Natalie's Bruder Simon war auf eigenem Wunsch bei seinem finanziell stärkeren Vater eingezogen, zu dem Natalie allerdings jeglichen Kontakt abgebrochen hatte.
Mike verschlang den Brief förmlich mit den Augen. Obwohl er mit zahlreichen Rechtschreibfehlern gespickt war, hatte er doch sowas Liebevolles an sich, daß ihn mitriß. Als er sich allerdings an seine eigene Mutter zu erinnern versuchte, fiel ihm schmerzlich auf, daß er gar keine haben konnte, da er bis vor 20 Stunden gar nicht existiert hatte und folglich auch nicht geboren worden war.
Ihm wurde ganz schwindlig bei dem Gedanken, und er wollte sich schnell ablenken. Er schob die Schublade wieder zu und zog die nächste auf.
Eine große Kiste, die in einem früheren Leben einmal ein Schuhkarton gewesen sein mußte, kam zum Vorschein. Diese war liebevoll mit unzähligen kleinen Bildchen beklebt, auf denen immer die Monkees im ganzen als Gruppe oder einzeln abgebildet waren. Auf dem Deckel deutete ein bunter Schriftzug auf den Inhalt der Kiste an.
"Typischer Monkee-Quatsch" stand darauf.
Neugierig hob Mike den Deckel ab. Ein wahres Sammelsurium bot sich ihm darin.
Nacheinander nahm er jeden einzelnen Gegenstand heraus und legte ihn auf das Bett.
Da war als erstes eine winzige grüne gestrickte Mütze, die er sich grinsend symbolisch aufsetzte.
Als nächstes war dort ein Schnellhefter, der sich bei genauerem Hinsehen als "Fan-Hefter" entpuppte. In ihm hatte Natalie alles abgeheftet, was sie im Laufe der Zeit über die Monkees aufgetrieben hatte. Von Zeitungsausschnitten über selbstgeschriebene Songtexte und Notizen, bis hin zu kopierten Lexikonartikeln. Mike überflog den ersten, der ihm unter die Augen geriet.
"...Robert Michael Nesmith wuchs als Sohn einer Sekretärin in einem kleinen Ort in der Nähe von Dallas, Texas auf..."
"Aha.", machte er und legte den Hefter uninteressiert beiseite. Sein Blick hatte ein neues Ziel: Ungefähr 60 beidseitig beschriebene, in Handschrift abgefertigte Seiten mit dem Titel Dream World, das Original-Manuskript, schon ziemlich abgegriffen.
Mike blätterte versunken darin herum, und las sich am Ende fest.
Die Lebendigkeit, mit der alles geschildert war, fesselte ihn und ließen ihn zum ersten Mal davon kosten, was es hieß - zu leben. Dessen wurde er sich erst jetzt gewahr: Er lebte.
Er war nicht länger die Phantasie im Kopf eines anderen Menschen, die sofort verblaßte, sobald die Person aufhörte, über ihn nachzudenken, oder ein Traum, der nur für einige Sekunden im Gedächtnis mit einer solchen Klarheit existiert, daß sie scheint, als sei sie real.
Nein. Er, Mike, lebte wirklich. Er konnte fühlen, riechen, schmecken, empfinden... denken.
"...Dir ist ein Leben geschenkt worden, dafür solltest du dich freuen, denn nicht jeder hat dieses Glück. Ich habe dieses Privileg nicht...", las er sein eigenes Zitat mit Melancholie.
Irgendjemand hatte ihm diesen heimlichen Wunsch gewährt.
Zwar war ihm ein Rätsel, wer und warum, aber Mike wollte dafür dankbar sein und es sinnvoll nutzen.
Nachdem er die Sachen zurück in die Kiste gelegt und selbige verstaut hatte, stand er auf und wollte das Zimmer verlassen, aber etwas zwang ihn zurück. Irgendetwas zog ihn magisch an.
Seine Hand griff in das Regal und beförderte eine weitere CD heraus. Mike betrachtete das Bild auf der Vorderseite.
Die vier älteren Herren kamen ihm merkwürdig bekannt vor. Er betrachtete sie eingehend. Vor allem einer von ihm zog seine Augen in Bann: Es war ein grauhaariger, untersetzter Typ mit einem graumeliertem Vollbart und fliehendem Haaransatz.
Mike verschlug es fast den Atem als ihm blitzartig klar wurde, daß er es war!
Nein, nicht er selbst - der reale Mike.
Sollte er selbst in dreißig Jahren auch so aussehen? Er konnte es sich nicht vorstellen. Der Prozeß des Alterns war ihm noch nicht in den Sinn gekommen. Er ließ sich auf Natalie's Bett fallen.
Der Haustürschlüssel drehte sich im Schloß und riß Mike aus den Gedanken. Doch nicht Natalie sondern eine ihm fremde weibliche Stimme rief durch die Wohnung: "Hallo, Wolle! Ich bin wieder da! Ich hab heute früher Schluß gemacht, weil ich mit einer anderen die Schicht getauscht habe! Wolle, bist du da?"
Schritte näherten sich dem Zimmer. Mike wurde stocksteif und setzte ein gequältes Lächeln auf.
Zum Verstecken war es schon zu spät, da wurde die Tür aufgerissen, und eine junge Frau mit schulterlangen, nußbraunen Haaren stand im Rahmen.
"Oh!", gab sie verdutzt von sich, "Du bist ja gar nicht Natalie."
"Richtig. Bin ich nicht. Ich bin Mike.", sagte Mike.
"Oh!", wiederholte sie, "Tag, Mike."
Sie wollte schon wieder das Zimmer verlassen, als sie noch mal den Zeigefinger erhob und mit zusammengekniffenen Augen meinte: "Irgendwie kommst du mir bekannt vor. Kenne ich dich?"
Mike hob die Schultern, "Schon möglich."
Mit dem selben verwirrten Gesichtsausdruck verließ Anita das Zimmer. Mike wandte sich gedankenverloren wieder dem Zimmer zu, da hörte er vom Flur her ein dumpfes Poltern, wie einen Aufschlag.
Mit einem Satz war er auf den Beinen und stürmte auf den Flur. Dort bestätigte sich seine Vermutung. Anita lag ohnmächtig mitten zwischen den Hausschuhen.
"Oh, Mann!"
Mike pustete sich genervt die Haartolle aus der Stirn und beugte sich über die Bewußtlose, um ihr Luft zuzufächeln.
4. KAPITEL
Silver Moon
oder
"Als sie sich fallen ließ"
"Anita? - Ich glaube, sie kommt zu sich."
Natalie's Stimme drang dumpf durch den Nebel der Benommenheit. In ihrer Nase brannte der beißende Geruch von japanischer Minze, und überrascht schlug sie die Augen auf. Sie blickte direkt in Natalie's grinsendes Gesicht.
"Halleluja, die Welt hat dich wieder!"
"Natalie?"
"Herzlich willkommen."
"Natalie, ich hatte einen eigenartigen Traum. Das war der schärfste Trip, auf dem ich je war!"
"Und er ist noch nicht vorbei, Hase."
"Was?", verwirrt drehte Anita den Kopf zur Seite, wo auf einem Sessel im Wohnzimmer ein geknickter Mike saß.
"Hi!", er hob eine Hand und lächelte sie schuldbewußt an.
In Anita's Augen erschien ein gehetzter Ausdruck, sie war aber noch zu matt für einen hysterischen Anfall und beschränkte sich deshalb nur auf ein entgeistertes: "Mein Gott, Natalie, was war in dem Kaffee von heute morgen?!"
"Du hast doch gar keinen getrunken", gab Natalie trocken zurück, was ihre Freundin nur noch mehr verwirrte.
"Ach so, ja, natürlich..."
"Jetzt mal ganz langsam", beschloß Natalie und drückte Anita in die Lehne ihres Sessels, "Ich werde dir Schritt für Schritt berichten, was sich seit gestern Abend alles zugetragen hat. Ob du's glaubst oder nicht, sei dir überlassen - aber vergiß nicht", fügte sie mit einem schrägen Blick auf Mike hinzu, der schüchtern winkte, "der Beweis für diese unglaubliche Story sitzt dir gegenüber in unserem Wohnzimmer!"
"Ja, Wohnzimmer.", war der emotionslose Kommentar Anita's, bevor Natalie von ihrem absurden Erlebnis berichtete, das eigentlich urkomisch hätte sein können - wenn es nicht wahr gewesen wäre.
"Und? Was sagst du?", schloß sie ihren Bericht. Anita schüttelte nur machtlos den Kopf.
"Ich glaub, ich mach mir einen heißen Tee und geh ins Bett."
Ohne weiteres abzuwarten, stand sie auf und torkelte - ohne sich den Tee zu machen - in ihr Zimmer.
Mike sah Natalie bedrückt an, "Ich habe sie sehr erschreckt, nicht?"
"Ach, laß mal", sie winkte ab, "Anita fängt sich schon wieder. Spätestens morgen sieht sie die Sache so locker wie ich, und morgen Abend wird es so sein, als seist du schon immer dagewesen. Wirst schon sehen."
Mike stieß einen Stoßseufzer aus, "Hoffentlich hast du recht."
Er fühlte sich immer unwohler in seiner neuen Haut.
In der Nacht warf sich Mike unruhig auf der Wohnzimmercouch von einer Seite auf die andere.
Er träumte, und das zum ersten Mal. Es war ein seltsames Gefühl, und bis jetzt war er sich noch nicht sicher, ob es gut oder schlecht war.
Aber vielleicht war der Traum selber auch nur zu verworren. Eine richtige Handlung hatte er eigentlich nicht, nur tausende Bilder stürmten sein Unterbewußtsein, die alle ineinander flossen und wieder auseinander rissen, um sich gleich darauf wieder neu zu paaren.
Gesichter, Erinnerungen - teils ¨berbleibsel aus dem Gedächtnis seiner Schöpferin, teils neue, eigene Gedanken - flogen herum, prallten aufeinander und stießen sich ab wie Gegenpole zweier Magneten.
Farben und Formen explodierten vor seinem inneren Auge, daß er jedesmal schmerzlich zusammenzuckte und gleichzeitig die Vielfältigkeit der Eindrücke genoß.
Zuletzt sah er Noten, die immer größer wurden und näherkamen, solange anschwollen, bis sie Mike schließlich zu erdrücken drohten. Mike wich im Traum immer weiter zurück, immer weiter und weiter - bis er schließlich von der Couch fiel und unsanft aus dem Schlaf gerissen wurde.
Vom Schlaf noch benebelt und orientierungslos versuchte er einen Ausweg aus seiner Bettdecke zu finden, in die er sich heillos verheddert hatte. Endlich hatte er den Widersacher abgestrampelt und wußte auch wieder, wo er sich befand. Doch er war zu aufgebracht, um gleich wieder ans Schlafen zu denken.
Torkelnd machte er sich auf den Weg ins Badezimmer. Er knipste das Licht an und kniff geblendet die Augen zusammen. Nach einer Minute öffnete er sie wieder vorsichtig, um sie langsam an die Helligkeit zu gewöhnen.
Das Bad war klein, gerade mal groß genug für ein Waschbecken, eine Dusche und Toilette, und mit weißen Kacheln ausgelegt, die in dem hellen Licht eine unangenehme Kälte und Sterilität ausstrahlten.
Mike erzitterte, und das lag nicht nur daran, daß er nur mit einer Shorts bekleidet war und seine nackten Füße auf kaltem Boden standen.
Sein Blick fiel auf den großen Badezimmerspiegel, der über dem Waschbecken angebracht war, doch sein eigener Anblick schien ihm mit einem Mal so suspekt, und ihm wurde erneut schlagartig bewußt, daß er eine völlig eigenständige Persönlichkeit war. Aber sein Gesicht erschien ihm wie die schlechte Kopie eines anderen.
Er trat ganz nah an das Becken heran, führte den Zeigefinger der rechten Hand zum Spiegel und berührte sein Spiegelbild.
"Wer bist du?", fragte er leise. Das Bild im Spiegel antwortete nicht.
Er nahm die Hand von dem reflektierenden Glas und berührte sein eigenes Gesicht, fuhr langsam über Stirn, Nase, Mund und Hals, als sei es das erste Mal.
"Wer bin ich?" Seine Lippen formten es tonlos.
Der Kloß in seinem Hals wurde größer und größer, bis Mike glaubte, nicht mehr atmen zu können. Er zwang sich, den Blick vom Spiegel reißen, und erschöpft stützte er beide Hände auf den Beckenrand. Sein Atem ging schleppend.
Dann drehte er den Kaltwasserhahn auf, nahm mehrere handvoll und benäßte sein erhitztes Gesicht.
Anschließend nahm er noch einen tiefen Schluck und fühlte sich danach ein wenig beruhigt.
Er verließ das Bad, vermied aber einen weiteren Blick auf den Spiegel, und ging zurück in sein Bett, um noch ein wenig Schlaf abzubekommen. Obwohl ihm im Moment nichts unwichtiger erschien.
Vielmehr drängte es ihn auf einmal, so schnell wie möglich den nächsten Morgen zu erleben, um das Leben zu genießen, das sich ihm bot. Irgendwo tief in ihm drin erwachte allmählich das Gefühl, daß es womöglich nicht lange währen könnte. Ein Gefühl, das schon bald zur Gewißheit werden sollte...
Am nächsten Morgen fand Mike Natalie schreibend in der Küche vor. Ihr Haar war flüchtig hochgesteckt, und einige zersauste Strähnen lösten sich bereits. Sie trug einen schwarzen Morgenmantel, und es sah aus, als hätte sie die ganze Nacht schreibend verbracht - was vermutlich auch stimmte, wie Mike stirnrunzelnd an der halbausgetrunkenen Kaffeetasse auf dem Tisch feststellte.
"Guten Morgen!", grüßte er halb vorwurfsvoll. Sie schreckte vom Blatt auf und erwiderte mit verwirrtem Blick zur Küchenuhr: "Morgen? Oh, ja, Morgen..."
"Was schreibst du denn da so?"
Mike setzte sich an den Tisch und schielte neugierig auf die vielen handgeschriebenen Blätter, die aussahen als seien sie flüchtig aus einem Schreibheft gerissen worden. Sofort legte Natalie schützend einen Arm auf das Geschreibsel.
"Nichts!", blaffte sie erst, besann sich dann aber und fügte ausweichend hinzu: "Es ist das erste Kapitel eines Romans, den ich schreiben muß. Mein Verlag verlangt es schon morgen."
Das schien Mike als Antwort zu reichen, jedenfalls lehnte er sich in seinem Stuhl zurück, "Ist ja nicht gerade erbaulich, so unter Zeitdruck zu arbeiten."
"Ich arbeite so am besten." Natalie unterstrich ihre Behauptung mit einem herzhaften Gähnen.
"Und worum geht es in dem Roman? Oder darfst du das nicht sagen?" Mike setzte ein stilles Grinsen auf und zog ein Bein an.
Wieder erschien der argwöhnische Blick in Natalie's Augen. Wie sie ihn aus den Augenwinkeln beobachtete - als arbeitete sie an einer glaubhaften Lüge. Dann antwortete sie mit leiser Stimme: "Ich... ich verrate nie, worum es in meinen Geschichten geht, bevor sie fertig sind. Und selbst dann selten. Ich lasse sie lesen, damit der Leser sich selbst ein Bild machen kann.", und nach einer Weile fügte sie mit einem in sich gekehrten Blick hinzu: "Jeder liest eine Geschichte mit anderen Augen. Für niemanden bedeutet sie dasselbe."
Während Mike noch über das nachdachte, was sie meinte, stand sie abrupt auf und räumte zusammen, was den Tisch füllte.
"Ich bereite lieber das Frühstück vor. Anita bekommt Zustände, wenn nicht Punkt acht Uhr das Frühstück auf dem Tisch steht."
Das war zweifellos gelogen, und beide wußten es. Mike glaubte inzwischen eine Lüge sehen zu können, noch bevor sie ausgesprochen war, aber er beließ es dabei. Natalie wollte ihm nichts über ihre Geschichte sagen, das nahm er hin. Früher oder später würde sie ihm davon erzählen, wenn sie es für richtig hielt. Aber im Grunde genommen ahnte Mike schon, worum es ging.
Ihre Augen, wie sie ihn immer wieder betrachteten; ihre Brauen, wie sie sich zusammenzogen und ihre Stirn leicht zum Kräuseln brachten; ihre Lippen, wie sie fast unmerklich zuckten - ihr Mienenspiel war ein offenes Buch für ihn.
Er betrachtete sie ebenfalls. Er betrachtete sie mit der naiven Neugierde eines Androiden, der zum ersten Mal die Menschen sieht, die ihm Leben eingehaucht hatten. Aber es kam noch etwas neues hinzu: Er betrachtete sie gerne.
Wie gerne, das fiel ihm erst jetzt auf.
Sie hatte sich zum Spülbecken umgedreht und begann, einzelnes Geschirr aus dem Schrank darüber herauszunehmen. Ihr Körper zeichnete sich durch den samtigen schwarzen Stoff ab, der bei jeder ihrer Bewegungen sanft aufwallte, sich an ihren Rundungen wölbte und immer in Bewegung war, wie ein im leichten Nachtwind wehendes Bett-Tuch.
Mike seufzte tonlos. Es war sinnlos, sich über so etwas den Kopf zu zerbrechen. Er stand auf und steuerte auf das Bad zu, das sich direkt neben der Küche befand. Im selben Moment als er aus dem Türbogen trat, kam Anita noch im Nachthemd von der anderen Seite den Flur entlang. Beide bemerkten sich erst, als sie vor dem Bad fast zusammenstießen und schreckten voreinander in selber Weise zurück. Anita stieß einen kurzen Schrei aus, Mike faßte sich ans Herz.
"Warum tust du das?!", hechelte er entgeistert.
"Tu das nie wieder!!", fuhr sie ihn fast gleichzeitig mit schriller Stimme an. Verlegen strich sich Mike den Pony aus der Stirn. Anita hatte ihn unbewußt an jemand aus der Vergangenheit erinnert. Einer nicht existierenden Vergangenheit, die jetzt weit und verschwommen hinter ihm lag, wie ein Traum aus einem früheren Leben.
Anita's schrille, fast kieksende Stimme, die zusammengekniffenen Augen - nur die schokobraunen, wirren Locken fehlten.
"Was ist jetzt?", holte ihn Anita's Bissigkeit in die Realität zurück. Sie hatte sich offenbar schnell von ihrem Schrecken erholt, "Gehst du nun? Oder hast du Wurzeln geschlagen?"
Mike deutete eine leichte Verbeugung an und schwenkte einladend die Hand, "Bitte, Ladies first."
"Jaja, und Alter vor Schönheit!", fügte sie sarkastisch hinzu, aber als sie an ihm vorbei ins Bad stapfte, drängelte sich schon wieder ein Lächeln durch die zusammengepreßten Lippen. Bevor sie die Tür schloß, lugte sie noch einmal aus dem Spalt, sagte frech: "In Natura sieht deine Nase noch viel größer aus!" und zwinkerte ihm zu.
Unwillkürlich blinzelte Mike zurück, und als er die Augen wieder öffnete, stand er vor der verschlossenen Badezimmertür. Inzwischen hatte er auch wieder vergessen, was er eigentlich im Bad gewollt hatte. Ein merkwürdiges Gefühl von Déjà-vu überkam ihn, so heftig, daß ihm für einen Moment schwindlig wurde.
Der Grund war ihm unbekannt. Das Schwindelgefühl legte sich zwar nach einigen Sekunden, aber das seltsame Gefühl, das etwas nicht stimmte, verließ ihn den ganzen Tag nicht. Immer wieder mußte er sich umdrehen, weil er glaubte, jemand oder etwas würde ihn verfolgen oder müßte hinter ihm stehen wie ein Schatten.
Ein Schatten aus der Vergangenheit...
Natalie drückte ENTER und leitete somit den Speicherprozeß in ihren Computer ein, den sie zärtlich "Compi" nannte, wenn er seinen Dienst zufriedenstellend erledigte - oder wenn er die Dinge, die sie speicherte nicht wieder ausspucken wollte als "Scheißding" beschimpfte.
Heute war Compi gnädig. Er gab ein braves "Piep-Piep" von sich, und auf dem Bildschirm erschien unter der Angabe "Seiten: 21" die Mitteilung: "14197 Wörter gezählt!"
Natalie lehnte sich zufrieden zurück und atmete durch. In ihrem Rücken knackte es verdächtig als sich die eingerosteten Wirbel wieder einrenkten. Dann drückte sie die Tastenfolge ESCAPE-DRUCKER-ENTER, und ihr alter Tintenstrahldrucker setzte sich mit einem müden Rattern in Bewegung.
Die Nadel sauste über das leere Blatt, während es weiter in das Innere des Geräts gesaugt wurde.
Während Natalie Seite um Seite ausdrucken ließ und automatisch die Blanko-Blätter mit der rechten Hand nachschob, griff sie mit der linken nach der ersten Seite, um sie flüchtig nach möglichen Druckfehlern durchzusehen.
CIRCLE SKY
stand fett gedruckt in großen Druckbuchstaben am oberen Rand, darunter etwas abgesetzt und kleiner gedruckt:
1. Kapitel: "Als der Blitz einschlug"
Natalie war zufrieden - mehr als zufrieden mit dem Anfang ihres Werks. Es beschrieb in allen Einzelheiten die seltsamen Begebenheiten, die seit drei Tagen in ihrem Leben vor sich gingen. Sie hatte zwar noch kein Ende, aber egal wie es sein würde - ob sie in nochmal drei Tagen aufwachen würde und sah, daß alles nur ein Traum gewesen war, oder ob sie bereits wach war und ihre Phantasie ihr wieder einmal eine fiktive, zeitweise Parallelrealität vorgaukelte - es war in jedem Fall eine wahnsinnsgute Story!
Ihrem Verleger würden die Augen aufgehen, wenn er sie las; davon war Natalie fest überzeugt, und so merkte sie auch nicht, daß jemand in ihr Zimmer getreten war und sie schon seit geraumer Zeit im Halbdunkel des herannahenden Abends betrachtete. So eingehend und sanft betrachtete, daß er fast mit ihr verschmolz.
Der Jemand fand nun, daß er lange genug die Heimlichkeit genossen hatte und beschloß, leise auf sich aufmerksam zu machen.
Natalie strich sich langsam das Haar aus dem Nacken, und er blies ihr warme Luft auf die Haut. Sie fuhr herum.
"Mike! Wie lange stehst du schon hier? Ich habe dich gar nicht gehört!"
Das Rattern des Druckers war verstummt, die frischen Seiten lagen auf einem Haufen, und sie schaltete den Bildschirm des Computers aus. Gegen Natalie's überempfindliche und ertappt klingende Stimme wirkte Mike's wie ein Fels in der Brandung.
"Du brauchst es nicht vor mir verstecken, Valleri. Ich weiß, daß du über mich schreibst."
"Wieso...", sie brach ab. Er sah sie so ernst an, daß es ihr die Sprache verschlug.
"Ich kenne dich.", fuhr er unbeirrt und ruhig fort, "Erinnerst du dich nicht mehr? Ich bin ein Teil von dir, so wie du jetzt ein Teil von mir bist. Die Romanfigur ist lebendig geworden, also benutz mich nicht mehr wie eine, Valleri!"
"Nenn mich nicht so!", fuhr sie ihn an. Sie hatte die Sprache wiedergefunden und funkelte ihn böse an, "Valleri bin ich schon lange nicht mehr. Valleri ist Vergangenheit!"
"Oh nein, da täuschst du dich gewaltig!", er erhob seine Stimme nicht, sie blieb genauso nüchtern wie zuvor, "Du kannst die Vergangenheit nicht zuklappen wie ein ausgelesenes Buch. Sie ist und bleibt immer ein Teil von uns. Das macht uns aus! Wenn du die Vergangenheit vergißt - VALLERI - bist du dazu verdammt, sie noch einmal erleben zu müssen."
Natalie schnaufte verächtlich, raffte die 21 Computerseiten zusammen und verließ das Zimmer, ohne Mike eines weiteren Blickes zu würdigen.
Der stand noch ungefähr eine Minute so steif da wie ein Schatten im Nebel, bevor er in sich zusammenfiel. Er ließ die Schultern hängen, senkte den Kopf und schluckte mühsam.
Das Pochen in seiner Brust war während des Gesprächs zu einem Hämmern angeschwollen, daß er geglaubt hatte, sein Herz würde jede Sekunde aus seinem Hemd heraushüpfen. Auch jetzt klopfte es noch heftig, allerdings schon merklich weniger stark als zuvor. Dafür gesellte sich jetzt ein flatternes, elektrisierendes Kribbeln dazu, das seinen ganzen Körper durchfloß, so als hätte er die Finger in eine Steckdose gesteckt.
"Oh Gott...", flüsterte er atemlos, "Oh Welt... Was geschieht hier nur?"
Und dann wurde ihm mit einem Mal klar, was es war, daß ihn so mitnahm. Ihm wurde bewußt, was der Grund für sein plötzliches und zugleich doch unmögliches Erscheinen in dieser Welt sein mußte. Wie jeder Mensch war er auf der Suche nach dem Sinn des Lebens. Der Sinn seines Lebens war Natalie. Sie allein hatte es möglich gemacht, daß er hier war. Weil etwas in ihr heimlich nach ihm gerufen hatte. Und noch etwas wußte er jetzt... und zwar, daß er sie liebte.
"Anita! Mein Gott, was ist passiert?!"
Natalie war gerade vom Briefkasten zurückgekehrt, wo sie den Umschlag mit ihrem ersten Kapitel an ihren Verlag eingeworfen hatte, als sie ihre Freundin auf dem Wohnzimmersofa in Tränen aufgelöst und inmitten von halb gebrauchten Taschentüchern vorfand.
Mit einem Satz war sie bei ihr, doch Anita schniefte nur ein ersticktes "Nichts. Laß mich." in ihr neues Taschentuch.
Aber an noch feuchten Fingerabdrücken auf dem Telefon auf ihrem Schoß schloß Natalie schon, daß es mal wieder um Anita's selbstbesessenen Freund Martin ging. Wahrscheinlich hatte er versprochen, heute anzurufen und es dann schlichtweg vergessen, und Anita hatte den ganzen Tag hoffend vor dem Telefon gehockt.
Natalie seufzte. Es war immer dasselbe.
"Warum schiebst du Martin nicht endlich ab?", fragte sie verständnislos, "Der Typ ist nicht eine deiner Tränen wert!"
"Das kannst du so leicht sagen..."
"Wieso auch nicht?"
"Klar", schmollte Anita, "Dein Traummann steht ja direkt vor dir, und du schnallst es nicht."
"Wie bitte?", Natalie verstand gar nichts mehr. Anita half ihr auf die Sprünge.
"Na, Mike!"
"Was hat Mike mit Martin zu tun?"
Anita schnaubte noch einmal kräftig ins Taschentuch und legte es dann bestimmt zur Seite.
"Ich kapier dich nicht, Natalie. Etwas Unglaubliches ist geschehen. Der Mann deiner heimlichen Träume steht plötzlich vor deiner Tür - und du spielst auf einmal die Eiskalte. Was ist los?"
Natalie mußte aufstehen, um ihrer Antwort Glaubwürdigkeit zu geben, "Ich kann mich nicht wieder solchen Phantastereien hingeben!"
"Verdammt, wovor hast du denn Angst?", regte sich Anita auf, "Mike liebt dich, was willst du mehr?"
Natalie lachte kurz auf, "Mike existiert doch gar nicht richtig!"
"Also, für mich ist er lebendig genug.", widersprach Anita nüchtern, "Warum sträubst du dich auf einmal gegen simple Gefühle? Ist doch egal, wie kurz das Glück währt. Nutze den kurzen Moment wie eine Ewigkeit!"
"Ach, Blödsinn!", blockte Natalie ab, doch Anita gab nicht auf, sie erkannte ihre Freundin nicht wieder.
"Wo ist nur die Träumerin in dir geblieben, die den Augenblick genießt, auch wenn er noch so kurz ist?"
Natalie sah ihr einen Augenblick direkt in die Augen, dann sagte sie ruhig und endgültig: "Die ist letztes Jahr in der Uni-Toillette gestorben."
Mit den Worten stand sie auf und ging in ihr Zimmer. Traurig blickte Anita ihr nach. Bedauern lag auf ihrem Gesicht.
Die Liebe ist schon ein seltsames Gefühl. Es ist das erste aller Gefühle, die der Mensch empfindet, und sie ist manchmal so stark, daß man Angst vor ihr bekommen kann. Außer Kontrolle.
Aber wie immer man es auch drehte und wendete, nüchtern betrachtete, es analysierte oder abstritt - es war und blieb Liebe.
Wenn man es zum ersten Mal bewußt erlebt, stürmt es auf einen ein wie ein Blitzlichtgewitter. Ein Gefühl von "WOW!!!" - dann die Ernüchterung "Ach, schon wieder bloß so 'ne sinnlose Schwärmerei."; aber jedesmal wenn man den bestimmten Menschen sieht, auf Fotos oder in natura, durchfließt einen wieder diese warme, kribbelnde Elektrizität. Wenn man nur die Stimme hört, schießt einem die Röte ins Gesicht und am ganzen Körper prickelt es. Und dann weiß man ganz genau: Egal was einem die anderen oder die eigene Vernunft einzureden versuchen - es ist Liebe. Ein Feuer, das alles verschlingt.
Mike ging in der Nacht spazieren, weil er nicht schlafen konnte. Schlaf schien im Moment das Unwichtigste auf der Welt zu sein. Lieber wollte er die ihm noch verbleibende Zeit nutzen, auch wenn er nicht wußte, wie lange diese sein würde.
Die Nacht war genauso warm, wie der Tag zuvor, doch ein frischer Wind verschaffte angenehme Abkühlung. Mike lief die leeren Straßen hinauf und hinunter, schlenderte durch Gassen und Höfe, als sei er auf einer rastlosen Suche mit unbestimmtem Ziel. Tief in Gedanken versunken, oder die Natur um sich herum aufsaugend.
Natalie saß in sich versunken auf einem Stein in der Hofeinfahrt ihres Wohnkomplexes. Der Vollmond warf seinen silbernen Schein auf das Grün der Büsche und Bäume und tauchte sie in ein geheimnisvolles Licht.
Doch Natalie hatte keinen Blick für die Schönheiten der Natur. Weder für die unzähligen Sterne, die hell durch die samtschwarze Decke des Himmels glitzerten, oder für die leisen Geräusche, die entfernt aus den einzelnen Wohnungen drangen - Kinderlachen, die blecherne Stimme eines Nachrichtensprechers im Fernsehen, Explosionen von Action-Filmen, ein Ehekrach - noch für das Zirpen der Grillen, die die Stille der Sommernacht durchbrachen.
In ihren Händen hielt sie einen braunen Din-A-4-Umschlag, den sie heute mit der Post erhalten hatte; besser gesagt: zurückerhalten hatte. Der Verlag hatte ihr Manuskript zurückgeschickt, zusammen mit einem kurzen Brief. Natalie hatte ihn dreimal lesen müssen, um den Inhalt zu begreifen.
Grob gesagt: Der Verlag fand ihren Manuskriptvorschlag als Fortsetzung ihres Erstlings ungenügend. Es sei "zu weit hergeholt", es "weiche zu sehr von dem Grundkonzept ab" - wenn die wüßten!
Natalie war den Tränen nahe. Sie war sich so sicher gewesen! So zufrieden. So fest in dem Glauben, daß Circle Sky gut war. Aber diese Schreibtischhengste kapierten das einfach nicht! Sie begriffen nicht, daß sie sich das keineswegs aus den Fingern sog, sondern von Tatsachen berichtete. Wie konnte es dann nicht ausreichend sein?!
Wann geschah es denn schon mal, daß sich eine Phantasie - eine Romangestalt! - aus ihrem Buch oder dem Kopf des Erfinders löste und BUMMS! in der Wirklichkeit stand?
BUMMS!
Mike stand vor ihr und verdeckte den Silbermond.
"Wo kommst du jetzt her?", fragte Natalie ohne Interesse. Ihre Stimme glich der einer Schlafwandlerin, und Mike überging die Frage.
"Du hast geweint, Val.", stellte er fest und setzte sich neben sie auf einen weiteren Stein. Als sie nicht antwortete und stattdessen den Blick auf den Umschlag senkte, setzte er leise fort: "Sie mögen deine Geschichte nicht."
Wieder eine Feststellung, die Natalie rasend machte.
"Warum?", sie stand hastig auf und lief im Hof umher, "Warum, verdammt noch mal?! Sie ist gut! Sie ist gut! Die Sätze sind fließend, die Wörter passend und richtig, also was stimmt nicht?"
"Du.", sagte Mike schlicht, "Du bist anders. Deine Geschichte ist gut, ja, formell gesehen. Aber ihr fehlt etwas ganz entscheidenes."
"Woher willst du das wissen?", rief sie aufbrausend, "Du hast meine Geschichte nicht mal gelesen!"
Mike atmete hörbar aus, seine braunen Augen lagen fest auf ihr. "Ich bin deine Geschichte."
Diese absolute Ruhe und Sanftmütigkeit in seiner Stimme ließen mit einem Mal die Mauer, die sie in den letzten Tagen aufgebaut hatte, zusammenstürzen. Ihre Schultern fielen nach vorne, sie kämpfte mit der Fassung. Als sie sich wieder etwas gefangen hatte, fragte sie leise: "Was fehlt ihr?"
Mike sah sie lange prüfend an. Ihr Blick verriet etwas Naives in ihr. Sie wußte es tatsächlich nicht.
Er stand auf, beugte sich zu ihr, ergriff ihre Hand und legte sie auf die linke Seite ihrer Brust. Erwartend beobachtete sie sein Handeln. Zuerst verstand sie nicht, was er meinte.
"Was...?", fragend schaute sie hoch, und ihre Blicke trafen sich. Dann plötzlich begriff sie.
"Mein Herz?", hauchte sie überrascht.
Mike nickte, "Herz, Valleri. Das ist ganz wichtig. Es war der Kernpunkt deiner letzten Geschichte. Du hast nicht auf Kommaregeln oder Satzformen geachtet - du hast mit dem Herzen geschrieben. Das ist es, was die Leute beim Lesen in den Bann zieht. Warum sträubst du dich in letzter Zeit mit aller Gewalt gegen das, was dich am meisten ausmacht, Valleri?"
"Warum nennst du mich immer so?", fuhr sie ihn bissig an und entriß sich seinem Griff, "Mein Name ist Natalie!"
Mike zog die Schultern hoch, "Valleri, Natalie oder Joanne - wo ist da der Unterschied? Namen sind austauschbar. Die Bedeutung, die man ihnen beimißt, was man mit ihnen verbindet, das allein zählt."
"Aber nicht in dieser Realität!"
Natalie verschloß sich zusehens, doch er zeigte Geduld, "Ich bin nicht aus dieser Realität."
"Jetzt schon."
Im fahlen Mondlicht erweckte er fast den Eindruck, als stünde er nicht wirklich vor Natalie. Er wirkte beinahe wie ein Aufflackern eines Bildes im Kerzenschein. Vielleicht wollte sie sich das aber auch nur einreden.
Sein anfängliches Lächeln erstarb.
"Weil du mich dazu gemacht hast, Val.", sagte er rauh.
"Was stellst du diesmal dar?", fragte sie mißtrauisch, "Welchen Teil von mir repräsentierst du diesmal? Meine Vernunft? Meine Phantasie? ...oder mein schlechtes Gewissen?"
"Ist das nicht egal?", er klang müde, "Hör auf, alles zu hinterfragen, oder hast du nichts von dem verstanden, was ich in den letzten Minuten gesagt habe?"
Sie schwieg.
"Du glaubst immer noch nicht, daß ich Wirklichkeit bin, oder?", fügte er resigniert hinzu, "Du hältst mich noch immer für ein Hirngespinst oder einen Tagtraum, den du nach belieben umformen und benutzen kannst."
"Ich benutze dich nicht!", ehrliches Entsetzen schwang in ihrer Stimme mit. Und es stimmte. Sie wollte etwas ganz anderes, aber sobald ihr geistiges Auge dieses Bild heraufbeschwor und noch ehe sie sich in ihrem heimlichen Wunschtraum verlieren konnte, würgte ihr "vernünftiger Teil" den Träumer ab.
Langsam schritt Mike auf sie zu und legte zärtlich seine Hände auf ihre Schultern. "Dann tu es."
"Was?" Ihre Augen funkelten im Licht der Sterne, ihre Brauen waren verwirrt hochgezogen, so daß sie sich fast berührten.
"Tu es endlich, anstatt nur davon zu träumen. Tu das, was du dir schon so lange heimlich wünschst."
"Ich... ich kann nicht.", sie wandte sich unter seinem leichten Griff, doch es war schon halbherziger als zuvor. Sie hatte das Gesicht abgewendet. Mike führte seine rechte Hand an ihr Gesicht und drehte es sanft zu sich.
"Du hast noch immer Angst."
Natalie schlug die Augen nieder, "Ja, ich habe Angst. Schreckliche Angst sogar."
"Wovor?"
Seine weiche Stimme trieb ihr die Tränen in die Augen.
"Davor, daß du - sobald ich dich akzeptiert habe, sobald ich mich fallengelassen habe - in Luft auflöst und einfach wieder verschwindest, als hättest du nie existiert. Davor, daß ich dann einsehen muß, daß doch alles nur ein Traum und Wunschdenken war! Das könnte ich nicht ertragen! Nicht noch einmal..."
Ihre Stimme brach bei den letzten Worten. Sie versuchte mit aller Gewalt, den Strom Tränen zurück zu drängen, der sich in ihren Augen aufstaute.
Mike zog sie sanft zu sich heran - sie ließ es geschehen, wehrte sich nicht mehr - fuhr ihr mit der Hand durch die halblangen braunen Locken und streichelte ihr zärtlich über die Wange. Ein angenehmer Schauer lief ihr über den Rücken als er sich zu ihr herunter beugte, bis sich sein und ihr Gesicht fast berührten.
Sie fühlte seinen warmen Atem, als er ihr ins Ohr hauchte:
"Laß dich fallen, Val. Ich fang dich auf."
Ihre Lippen berührten sich, verschmolzen zu einem langen heißen und innigen Kuß. Er schien Ewigkeiten zu dauern und eine Zentelsekunde.
Das Universum teilte sich.
Natalie ließ sich fallen...
5. KAPITEL
Only Bound
oder
"Als die Welt zusammenbrach"
Glücklich lächelnd und noch im Halbschlaf drehte sich Natalie in ihrem Bett auf die andere Seite. Ihre Hand tastete suchend über das zweite Kopfkissen, suchte nach dem warmen Körper, mit dem sie die Nacht verbracht hatte.
Das Bettzeug war kalt - und leer.
Sofort war Natalie hellwach. Mit aufgerissenen Augen durchwühlte sie ihr Bett, ein Gedanke hämmerte unaufhörlich wie eine Wiederholspur in der Endlosschleife.
Nein, nein, nein, nicht nur ein Traum, sag, daß es kein Traum war, sag, daß er nicht weg ist und ich alles nur geträumt habe, sag, daß...
"AUTSCH - verdammt!!"
Der Fluch hallte gedämpft durch die verschlossene Badezimmertür. Mit einem Satz war Natalie aus dem Bett. Die Stimme war eindeutig tiefer als die von Anita.
Ein Hoffnungsschimmer am Horizont.
Natalie rannte aus dem Zimmer und drückte die Klinke der Badezimmertür herunter. Sie war unverschlossen, und eine Sekunde später stand Natalie im Bad, wo sie einen kläglich dreinblickenden - und eindeutig immer noch realen - Mike vorfand, der sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Wange mit der Hand hielt.
Mit der anderen Hand stützte er sich am Waschbecken ab, in dem eine Einweg-Rasierklinge lag, an der noch Restspuren von Blut zu erkennen waren.
"Was machst du denn?!", entfuhr es ihr halb erschrocken - aber gleichzeitig schwang auch ein Teil Erleichterung mit.
Mike antwortete zerknirscht: "Ich habe mich beim Rasieren geschnitten.", er verbesserte sich, "Bei dem Versuch, mich zu rasieren."
Er zog schmerzvoll die Luft zwischen den zusammengebissenen Zähnen ein. Natalie verspürte großes Mitleid mit ihm.
"Laß mich mal sehen."
Sie kam auf ihn zu, ergriff seine Hand und zog sie behutsam von seinem Gesicht weg. Er wehrte sich nicht. Seine Hand und die verletzte Wange waren voll von warmen dunkelrotem Blut. Es löste bei Natalie eine kurze aber intensive Faszination aus.
Obwohl die Wunde nicht tief war und das Blut am Rand schon geronnen war, floß aus dem Inneren der kleine Strom noch weiter.
"Ist es schlimm?"
"Schhh...", machte sie, um ihn zu beruhigen, drehte den Wasserhahn auf und wusch seine Hand.
Mike ließ es wie ein Kind über sich ergehen, aber seine Augen lösten sich keine Sekunde von ihrem Gesicht.
Mit der Geübtheit einer Krankenschwester riß Natalie ein paar Taschentücher aus der Standbox, befeuchtete sie mit Wasser und tupfte ihm vorsichtig das Blut von der Wange. Doch sobald sie das Taschentuch von der Wunde nahm, füllte sie sich erneut mit frischem Blut.
"Es hört gar nicht mehr auf!", sie versuchte die aufsteigende Panik zu unterdrücken. Sie überlegte kurz, dann griff sie ins Schränkchen, das sich an der rechten Wand befand und beförderte ein kleines braunes Fläschchen zutage. Anschließend schraubte sie es auf, woraufhin sich ein schwacher Geruch von Kamille und Alkohol ausbreitete, tröpfelte einige Spritzer auf ein neues Papiertuch und setzte es in der Luft an.
"Das wird jetzt ein wenig brennen.", warnte sie leise. Mike nickte und biß die Zähne zusammen. Es brannte teuflisch, doch er zuckte keinmal zusammen.
"Es ist gleich vorbei."
Es blutete zwar noch immer, aber nicht mehr so stark wie zuvor. Sie tränkte ein weiteres Tuch mit der Tinktur und sagte: "Preß das auf die Wunde, bis es zu bluten aufhört." Gehorsam befolgte er es.
Nachdem der Schrecken überstanden war lächelten beide erleichtert; Mike noch mit einem Beigeschmack von Verwirrtheit, so als begreife er immer noch nicht, was und wieso es eigentlich passiert war. Sein Blick schweifte immer wieder, beinahe argwöhnisch zum Spiegel, als sei der Schuld an seinem kleinen Unfall.
Und irgendwie stimmte das auch in gewisser Weise, aber das wußte Natalie nicht. Sie war damit beschäftigt, das Badezimmer von Blutspuren zu reinigen, wischte das Waschbecken und warf zerknüllte, rotgetränkte Papiertücher in den Abfalleimer.
Sie betrachtete eines davon sehr lange, schien sich fast darin zu verlieren.
"Blut...", murmelte sie selbstvergessen, "...so viel Blut..."
Mike nahm kurz das Tuch von seiner Wange, betrachtete es ebenfalls, und er konnte nicht verhindern, daß seine Erwiderung eine Spur von Sarkasmus beinhaltete.
"Phantasiegebilde bluten nicht, Val."
Sie sah vom Waschbecken auf, drehte sich um und sah ihm in die Augen, "Nein, das tun sie nicht."
Dann drückte sie sich ganz nah an ihn, spürte das gleichmäßige Heben und Senken seines Brustkorbes, atmete tief den ihm eigenen Geruch ein - der Geruch des Lebens - und küßte ihn sanft auf die gesunde Wange, wobei sie sich bei seiner Größe auf die Zehenspitzen stellen mußte.
"Komm.", sagte sie und zog ihn zur Tür, "Oder willst du dich weiter rasieren?"
Er überhörte den Scherz und antwortete erschrocken: "Nein! Bestimmt nicht. Für heute habe ich genug!"
Seine Lippen umspielte ein unsicheres Grinsen, aber sein Blick blieb solange am Spiegel kleben, bis die Tür hinter ihnen ins Schloß fiel. Natalie bemerkte es nicht - oder wollte es nicht bemerken, und Mike war ihr dankbar dafür.
Denn wie hätte er ihr erklären können, was sich da drinnen abgespielt hatte? Es war alles so schnell gegangen, daß er sich nicht einmal sicher war, ob es wirklich geschehen war, oder ihm seine Augen einen Streich gespielt hatten.
Aber für einen kurzen vagen Augenblick hatte er im Spiegel in das Gesicht eines fremden und zugleich merkwürdig bekannten Mannes geblickt.
Ein alter Mann mit fliehendem Haar, grauem Bart und fast weißer Haut. Er hatte krank ausgesehen, alt und krank und wie kurz vor seinem Ableben, aber seine Augen waren hellwach gewesen. Augen, die so ernst und durchdringend blickten, daß es Mike fast so schien, als berührten sie seine Seele.
Ernste Augen - nicht bedrohlich, aber ernst - und wissend.
Für den Bruchteil einer Sekunde hatte es so ausgesehen, als wollte der Mann in dem Spiegel ihm etwas sagen, ihm etwas mitteilen, aber Mike hatte sich so erschrocken, daß er sich mit der Rasierklinge geschnitten hatte. Und als er danach wieder in den Spiegel gesehen hatte, waren da nur seine eigenen schreckenserweiterten Augen und das viele Blut gewesen, das ihm aus dem Gesicht tropfte.
Als Mike jetzt am Frühstückstisch saß, das Papiertuch auf die Wange drückte, vor sich ein Marmeladenbrötchen, auf das er keinen Appetit hatte und zurückdachte an das seltsame Erlebnis im Bad, wurde ihm schlagartig klar, was der Mann ihm hatte sagen wollen, als er tonlos die Lippen bewegte.
Drei simple Wörter, die auf einmal alles veränderten:
"Du mußt zurück"
Und der alte Mann im Spiegel war er selbst gewesen.
"Sag mal", Anita sah Mike schräg von der Seite an, "Ist dein Haltbarkeitsdatum schon vorbei? Du schimmelst schon."
"Hm?", er fuhr aus seinen Gedanken hoch.
"Ehrlich", grinste Anita ihn an, "Da ziehen sich bereits kleine weiße Fäden durch dein schwarzes Haupthaar, und...", ihr Grinsen erstarb, als sie ihn sich genauer ansah, "Hey, was ist los? Bist du krank? Du bist blaß wie ein Leichentuch!"
"Es ist nichts.", erwiderte er matt. Seine Gedanken kreisten einzig und allein darum, wie er Natalie besonders schonend davon unterrichten sollte, daß er sie doch verlassen mußte, nachdem er ihr das Gegenteil versprochen hatte.
"Nichts?!", regte sich Anita auf, "Hast du in letzter Zeit mal in den Spiegel gesehen?"
"Glaub mir, das habe ich.", gab er müde lächelnd zurück.
Aber Anita ließ nicht locker, "Ich bin doch nicht blind! Kein Mensch altert über Mittag! Ich werde sofort Natalie..."
"Du wirst gar nichts, hast du verstanden!", fuhr er sie mit einer ungewohnten Schärfe an, daß sie zusammenzuckte, "Das ist meine Sache! Du hast damit rein gar nichts zu tun!"
Anita erholte sich erstaunlich schnell von ihrem ersten Schrecken und blaffte sofort zurück: "Ist mir doch völlig wurscht, was los ist, du Elvis-Imitation von Spargeltarzan! Ich hau ab, wenn du mich nicht brauchst! Ph!", damit drehte sie sich auf dem Absatz um, lief in ihr Zimmer und knallte so heftig die Tür zu, daß die Fenster verdächtig klirrten.
Mike stand ebenfalls auf und begab sich in Natalie's Zimmer, wo sie schon seit Stunden unaufhörlich die Tastatur ihres Computers bearbeitete. Sie war glücklich und die Ideen flossen nur so aus ihrem Kopf in ihre Finger. Es beflügelte sie sosehr, daß sie sein Eintreten kaum bemerkte, und auch seine äußerlichen Veränderungen fielen ihr in dem Halbdunkel des Zimmers nicht auf.
Eine Weile stand Mike hinter ihr, las über ihre Schulter hinweg die Wörter, die den schwach leuchtenden Computerbildschirm füllten und fühlte, daß mit jedem Satz zwei Empfindungen in ihm wuchsen - und kämpften.
Er war diese Geschichte, die sie schrieb. Alles was sie schrieb war eingetreten oder würde noch eintreten, einerseits wurde er immer mehr Mensch. Seine Vergangenheit und Gegenwart entstand auf jenem Bildschirm. Andererseits entfremdete es sich immer mehr von dem, was er eigentlich war und sein sollte: Eine Figur aus einem Poster - und das zerstörte ihn.
Er mußte wieder zurück. Er mußte wieder er selbst werden, aber allein schaffte er es nicht. Er brauchte die Hilfe von Natalie. Sie mußte ihn wieder in das Poster schreiben, doch würde sie das tun? Könnte sie ein so großes Opfer bringen und ihn verlieren, nachdem er ihr geschworen hatte: Sie könne sich fallenlassen, er würde sie auffangen?
Mike seufzte still und küßte sie zärtlich auf die Stelle zwischen Hals und Schulter. Seine Barthaare kitzelten, und sie zuckte lächelnd zusammen. Dann schaltete sie den Computer aus und atmete zufrieden aus.
"Hast du dein Herz wiedergefunden?", fragte er leise. Sie drehte sich auf ihrem Stuhl herum und nickte, "Es steht direkt vor mir."
"Bist du jetzt fertig mit deiner Arbeit?"
Natalie setzte ein gespielt lehrerhaftes Gesicht auf, das sie von einer Sekunde zur anderen um zehn Jahre altern ließ, verdrehte gekünstelt die Augen und sagte: "Mike, mein lieber Junge... eine Schriftstellerin", sie betonte das Wort mit Nachdruck, "Eine echte Schriftstellerin ist immer bei der Arbeit, auch wenn sie nicht schreibt!"
Da mußte Mike herzlich lachen, "Heißt das, ich bin auch nur ein Teil deiner Arbeit?"
Natalie grinste verschmitzt und zog ihn an seiner Krawatte zu sich heran, "Der Liebste!"
Genüßlich schloß sie die Augen und empfing seinen Kuß, der wie warmer Sommerwind auf ihre Lippen wehte. Als sie die Augen wieder öffnete, stand Mike noch immer über sie gebeugt, einen Arm am Tisch abgestützt, den anderen auf ihre Stuhllehne gelegt. Doch in seinen Augen lag ein beängstigend ernster Ausdruck.
"Was...?", begann sie, brach dann aber ab. Sein plötzlicher Stimmungswechsel bereitete ihr Unbehagen. Und jetzt fiel ihr auch seine äußere Veränderung auf, "Mike, was ist los?"
Ein Anflug von Panik schwang in ihrer Stimme mit. Mit einer Hand strich sie ihm vorsichtig über den ehemals vollen Seitenpony. Was davon übrig war, war erschreckend. Das Haar war dünn und grau geworden. Natalie zog die Hand zurück.
"Ich muß mit dir reden.", sagte er schlicht. Verwirrt schüttelte Natalie den Kopf, "Wann ist das passiert?"
"Es geschieht schon die ganze Zeit.", erklärte er.
"Kann man es nicht verhindern? Oder rückgängig machen? Irgendetwas tun?" Ihre Stimme überschlug sich, und es war herauszuhören, daß es keine Erklärungen bedurfte. Sie wußte, was der Grund dafür war, wollte es aber nicht wahrhaben.
Mike's Stimme hingegen war die Ruhe selbst, als er wie nebensächlich fragte: "Wann ist deine Geschichte fertig?"
Zuerst verstand Natalie ihn nicht, "Ich weiß nicht! Was soll das jetzt?"
"Ich möchte nur wissen, ob du vorhast noch viel zu schreiben, oder schon fast am Ende bist. Also, wieviel noch ungefähr?"
Sie überlegte kurz, "Nicht mehr viel, denke ich. Vielleicht noch ein, höchstens zwei Kapitel, aber wieso..." doch plötzlich begriff sie, "Nein! Nein, das werde ich nicht tun!"
"Natalie, ich brauche deine Hilfe!", jetzt flammte auch in Mike Verzweiflung auf, "Du mußt mich zurückschreiben, sonst..."
"Ich kann das nicht!", Tränen füllten ihre Augen, und er wandte sich enttäuscht ab.
"Wer außer dir sonst? Du bist die Einzige, die es kann."
Sie stand auf, trat hinter ihn und legte ihre Hand auf seinen Arm, "Ich möchte dich nicht verlieren!"
Er drehte seinen Kopf zu ihr, sah sie über die Schulter hinweg an. Seine Augen wirkten stumpf in dem eingefallenem Gesicht, "Das tust du schon."
Damit drehte er sich wieder um und verließ vornübergebeugt das Zimmer.
Zwei weitere Tage vergingen. Mike war nur noch ein Schatten seiner selbst und ließ sich kaum blicken.
Natalie blieb trotzig. Sie wollte ihn mit aller Gewalt bei sich haben, doch damit tat sie sich beiden keinen Gefallen. Verbissen versuchte sie ihre Geschichte zuendezuschreiben, doch auf einmal wollten ihr nicht einmal die einfachsten Sätze gelingen.
Alles hörte sich gekünstelt und unecht an. Der Fluß war versiegt. In ihrem Kopf war alles so klar. Wie ein Film lief alles immer wieder vor ihrem geistigen Auge ab, doch sie konnte es nicht zu Papier bringen.
Auch Anita fiel die Gespanntheit auf, die wie ein unsichtbarer Nebel über der Wohnung lag, doch sie hatte sich geschworen, sich nicht mehr einzumischen. Aber als sie am Abend des zweiten Tages von der Arbeit nach Hause kam und wieder mal die beiden sich gegenseitig anschweigend vorfand - Natalie in der Küche, Mike im Wohnzimmer -, platzte ihr der Kragen.
"Verdammt Natalie! Egal was du auch tun mußt, überwinde endlich deinen inneren Schweinehund und tu es!!"
Ihre Freundin sah sie eisig an, "Du verstehst das nicht."
"Ha!", machte Anita, daß Natalie kurz zusammenfuhr, "Meine Güte, sieh dir Mike doch nur mal an! Ich dachte, du liebst ihn, und dabei quälst du ihn!"
"Ich...", wollte Natalie aufbrausen, aber es fiel ihr nichts ein. Deshalb wies sie alle Schuld von sich, "Er hat mich doch erst dazu gebracht, mich meinen Gefühlen hinzugeben!"
"Hat es dir geschadet?", fragte Anita herausfordernd, Natalie verschränkte die Arme vor der Brust.
"Nein, aber..."
"Kein Aber."
Beide Mädchen sahen auf, als Mike sich in das Gespräch einmischte und es somit beendete. Mühsam erhob er sich. Seine ganze Gestalt wirkte wie ausgewechselt. Er schien müde und alt und krank.
"Natalie hat recht.", fuhr er fort, "Es ist einzig und allein meine Schuld, daß es so gekommen ist. Ich sollte dir nur helfen, deine Geschichte schreiben zu können, aber ich hätte niemals eine Liebesaffäre provozieren sollen. Das war ein Fehler. Aber ich versuche, ihn wieder gut zu machen. Ich werde gehen. Sofort."
Natalie brachte kein Wort heraus, und Anita ging es ähnlich. Allerdings aus einem anderen Grund. Sie war fassungslos, daß ihre Freundin es einfach geschehen ließ.
Mike lief aus dem Wohnzimmer und wollte den Flur hinunter zur Haustür, als er plötzlich innehielt. Er war an dem Poster aus dem Gemeindekeller vorbeigegangen, das seit einigen Tagen dort hing. Was dann geschah, geschah so schnell, daß die Mädchen es kaum begriffen.
Ein heftiges Aufflackern, wie bei einem Kurzschluß, ging durch seinen Körper. Mike keuchte und wirbelte wie von einer Ohrfeige getroffen herum. Für einen Moment trafen sich sein und Natalie's Blick, die erschrocken den Atem anhielt, dann brach er zusammen, so als sei auf einen Schlag alle Luft aus ihm herausgepumpt worden.
"Mike!"
Natalie sprang auf. In zwei Schritten war sie bei ihm, ließ sich auf die Knie fallen und beugte sich über ihn. Anita folgte ihr.
"Ist er...?"
Natalie schüttelte stumm den Kopf, eine Hand vor den Mund gepreßt. Sie kämpfte mit den Tränen. Mike war nichts weiter als ein graues Bündel. Jegliche Farbe war aus ihm gewichen, sein Atem ging flach und in unregelmäßigen Abständen kam dieses schreckliche Flackern wieder, daß sie jedesmal befürchten mußte, er würde ganz verschwinden. Natalie rang mit der Fassung, als sie vorsichtig eine Hand unter seinen leblosen Kopf schob und ihn ein wenig anhob.
"Bitte... Mike, komm wieder zu dir..."
"Du tötest ihn!" Es war nicht mehr als ein Flüstern Anita's, aber es traf. Natalie drehte sich zu ihr um.
"Ich weiß. Ich wußte, daß es so kommen mußte, ich hätte mich nie darauf einlassen sollen. Jetzt habe ich alles vernichtet! Gott, ich habe ihn vernichtet!"
Anita fühlte Mitleid mit ihr, "Noch ist es nicht zu spät."
"Meinst du?", Natalie beugte sich erneut zu Mike herunter, berührte sanft sein Gesicht. Entschlossen stand Anita auf.
"Ja, aber du mußt dich beeilen! Du darfst keine Zeit mehr verlieren!"
Sie lief in Natalie's Zimmer und kam Sekunden später mit Papier und Bleistift wieder. "Reicht das erstmal?"
"Ich denke schon.", apathisch nahm Natalie die Dinge entgegen. Mike's Kopf hatte sie auf ihren Schoß gebettet. Unschlüssig sah sie abwechselnd von den Schreibgeräten zu ihm und umgekehrt. Dann merkte sie am Rande, daß Anita sich auf die Haustür zubewegte.
"Wohin gehst du?"
"Unwichtig. Ich bin weg.", war ihre knappe Antwort, "Es ist besser, wenn du allein bist."
Und schon fiel die Tür ins Schloß.
Natalie war allein. Nur schwer ließ sich die matte Schwere aus ihrem Körper abschütteln, der Nebel vertreiben, der sich in ihrem Kopf angesammelt hatte. Dann nahm sie den Stift und setzte ihn auf das Papier. Aber ihr Kopf war leer. Mühsam fummelte sie den ersten Satz zusammen, in dem sie einfach schrieb, was vor zwei Tagen vorgefallen war.
6. KAPITEL
Two Different Roads
oder
"Als sie die Kontrolle verlor"
Erst ging es nur sehr langsam, doch dann flossen die Wörter nur so heraus, reihten sich nebeneinander, füllten die Seiten.
Irgendwann hatte sie tatsächlich das Gefühl, der Stift würde von allein schreiben, und wenn sie stockte, hielt auch der Stift inne. Sobald sie weiter wußte, schrieb er weiter.
Irgendwann machte sie den Versuch, den Stift mitten im Fluß loszulassen, mußte aber feststellen, daß sie das nicht mehr konnte. Es war, als wären sie miteinander verwachsen - und irgendwie stimmte das auch.
Die Geschichte entwickelte sich weiter. Jetzt war sie an der schwierigsten Stelle, nämlich wie Mike vor dem Poster zusammenbrach. Aber als sie beschrieb, wie sie zu schreiben anfing, um ihn zu retten, begannen seine Augenlider tatsächlich zu flackern, und sie spürte die leichte Bewegung seines Kopfes auf ihrem Schoß. Das beflügelte sie weiterzumachen. Sie begann halblaut mitzulesen:
"...nun schlug er endlich wieder die Augen auf, sah sie zwar noch erschöpft an, aber das Leben floß allmählich in seinen Körper zurück..."
Je weiter sie schrieb und mitlas, umso mehr kehrte auch die Farbe in Mike zurück. Sein Haar wurde wieder kräftig und schwarz, seine Augen bekamen wieder den lebendigen Glanz, Haut ebenso wie Kleidung waren binnen weniger Augenblicke wieder so wie vorher, und auch
Mike selbst erholte sich zusehens. Er erhob sich sitzend und sah sie still und dankbar an.
Natalie vermied den direkten Augenkontakt absichtlich. Sie versuchte sich voll und ganz auf's Schreiben zu konzentrieren, ohne jegliche Emotion. Doch lange hielt sie es nicht aus.
Als der Stift die Wörter zu formen begann: "...und sie mußte nun schweren Herzens einsehen, daß...", und sie genau wußte, was nun geschehen würde, versuchte sie aufzuhören, den Stift wegzulegen und etwas anderes zu tun, aber es funktionierte nicht.
Sie konnte nicht aufhören, der Stift schrieb weiter.
"Ich will das nicht!", schrie sie auf, "Bitte, laß mich das nicht tun! Es muß doch eine andere Möglichkeit geben! Bitte..."
Ihre Augen suchten den Kontakt, doch ihr Mike begann sich bereits vor ihren Augen aufzulösen. Nur war es diesmal alles andere als qualvoll für ihn.
Die Farben verstärkten sich um ihn herum noch um ein vielfaches, hüllten ihn ein wie eine leuchtende Membran, verschmolzen mit ihm.
Er lächelte sanft, "Es ist das Richtige, Val."
Die Membran wurde nun zu einem Kometenschweif, der länger und länger wurde, bis er direkt in das Poster führte, von dem er nun langsam aber stetig angezogen wurde.
"Nein!", rief sie und riß sich mit aller Kraft los von diesem grausamen Zauberstift, der noch weiterhin in der Luft hing und Wörter zu Papier brachte, die sich irgendwo tief in Natalie's Phantasie vergraben hatten, aber nicht mit ihrer Seele übereinstimmten.
Als sie sich losriß war ein leises Zischen zu hören, das unheilvoll in der Luft hing, aber sie achtete nicht darauf, sondern sprang auf, wirbelte ihren Lockenkopf herum, "Ich werde das nicht zulassen! Nicht noch einmal!", sie sah sich wild im Raum um, "Wer auch immer dafür verantwortlich ist und dieses Spielchen mit mir treibt - hörst du mich? - ICH LASSE ES NICHT ZU !"
Mit beiden Händen umschlang sie den immer unwirklicher werdenden Mike. Ihre Hände drangen durch das Licht der Membran, deren grelle Farben ihr in den Augen brannten, versuchten ihn zu greifen und zu halten. Mike konnte ihre Wärme spüren, wie sie versuchte ihn in ihrer Welt zu behalten, fühlte ihre Tränen, wie sie auf ihn tropften - und hindurch.
Doch es war zu spät, er konnte sich nicht länger in dieser Realität halten. Sie entglitt ihm langsam wie eine schmelzende Eisscholle auf offenem Meer.
Seine letzten Worte waren kaum lauter als ein Wispern, doch sie brannten sich tief in ihre Seele.
"Wir werden uns wiedersehen..."
Ein letztes Aufleuchten. Sein Körper verschwand aus dieser Welt und Natalie's Arme umklammerten nur noch Luft, bevor sie in sich zusammenfielen.
Mike hatte wieder seinen angestammten Platz in dem Poster eingenommen, in seiner alten Pose, die Gitarre auf dem Knie - unbeweglich und starr.
"Nein...", flüsterte Natalie ungläubig, dann lauter, "Nein!", die Panik kehrte wieder.
"Nein!!"
Sie stürzte gegen die Wand. Ihre Hände flogen tastend, suchend, fühlend über Stein, Tapete und das Papier des Posters, fanden nichts.
"Nein!!!"
Ein Tränenschleier nahm ihr die Sicht. Alles flirrte, ihr Kopf drehte sich. Alles vorbei. Aus und vorbei. Für immer.
"NEIN!", schrie sie das leere Zimmer an, ihre Stimme überschlug sich, brach. Blind lief sie herum, um der drückenden schwarzen Leere zu entkommen, die sich in ihrem Inneren ausbreitete. Sie drehte sich im Kreis und fand sich wieder vor der Posterwand, an die sie sich in letzter Verzweiflung klammerte, anschmiegte, flehte ein letztes Mal: "Bitte, nein! Bitte, bitte nein! bitte..."
Ein warmer Hauch von Sommerwind wehte durch das offene Fenster, strich zart über ihre Haut - wie ein letzter Abschied.
Dann gaben ihre Knie nach. Alle Kraft war aus ihr gewichen. Nur noch Tränen. Leere. Und schwarze Dunkelheit.
"Natalie?"
Eine fremde und zugleich bekannte Stimme, die nur ganz und gar nicht hierherzupassen schien, drang durch die Dunkelheit, "Natalie!"
Eine kalte Hand griff nach ihrem Arm. Eine andere, verschreckt klingende Stimme gesellte sich zu der ersten, "Ist sie... Ist sie verletzt?"
Natalie versuchte den Kopf zu drehen. Es tat höllisch weh, und sie ließ es bleiben. Die Dunkelheit wich langsam, aber noch konnte sie nicht viel mehr als Schatten erkennen, die um sie herumstanden.
"Soll ich den Pfarrer holen?", fragte eine dritte Stimme, und kurz darauf entfernten sich eilige Schritte.
Bin ich tot? schoß es Natalie durch den Kopf, doch der Nebel war noch undurchdringlich, so daß ihr die Frage gleich darauf unwichtig und lächerlich vorkam. Das ist doch völlig egal, fand sie und schloß wieder die Augen - falls sie sie je geöffnet hatte.
Sie atmete tief ein. Muffiger Staubgeruch drang ihr in die Nase, wie in lange nicht durchgelüfteten Räumen - oder in Kellern...
Denken fiel ihr schwer. Oh, diese Kopfschmerzen!
Eine Sekunde - oder Stunde? - später kehrten die Schritte zurück, begleitet von zweiten, schwereren. Unter Anstrengung öffnete Natalie wieder die Augen. Jemand beugte sich zu ihr herunter. Im fahlen Lichtschimmer, der durch die Tür aus den anderen Räumen hereinfiel, erkannte Natalie das runde freundliche Gesicht des jungen Pfarrers Hinze, der die Jugendgruppe der 10-15jährigen führte. Seine schwarzen Augen blickten heute nicht so freundlich, eher ernst.
Daß es mit Natalie selbst zu tun haben könnte, kam ihr nicht in den Sinn.
"Wir haben seit einer halben Stunde versucht, sie wachzubekommen.", erklärte die erste Stimme. Jetzt erkannte Natalie auch, daß es die ihrer Freundin Karo sein mußte. Ihr kräftiger Baß wankte nur ein wenig heute.
Jetzt wurde ihr Kopf etwas angehoben, und die Stimme des Pfarrers sagte leicht gereizt: "Hat denn keiner von euch einen Erste-Hilfe-Kurs gemacht?"
Betretenes Schweigen, dann Karos leise Entschuldigung: "Erst nächste Woche."
Die erschreckt flüsternde Stimme - es war unverkennbar Linda's - rief aus: "Blut! Seht ihr das viele Blut?!"
"Sie hat eine Platzwunde am Hinterkopf.", gab der Pfarrer sachkundig bekannt, "Nicht lebensgefährlich, aber sie braucht einen Arzt. Vielleicht hat sie auch eine Gehirnerschütterung!"
Danach verschwamm wieder die Realität, und Natalie tauchte wieder in die Dunkelheit, die sie einhüllte wie ein warmer, weicher Wattebausch.
Zwei Tage später war Natalie wieder völlig wach. Auch wenn sie sich dagegen sträubte, daß die Wirklichkeit sie wieder hatte. Sie befand sich in einem Krankenzimmer (immer wieder Krankenhäuser; das schien ein sich ständig wiederholendes Ritual zu sein) und trug einen Kopfverband.
Tatsächlich hatte sie eine Gehirnerschütterung, allerdings nur eine leichte, weshalb sie noch ein, zwei Tage zur Beobachtung im Krankenhaus bleiben sollte, und eine nicht ganz unerhebliche Platzwunde am Kopf, die mit 15 Stichen genäht werden mußte.
Anita, die sie heute mit Simon besucht hatte, redete die ganze Zeit - plapperte - während Natalie's Bruder nur seltsam still lächelnd auf einem der Besucherstühle saß, Anita's flatterhaftes Verhalten beobachtete und gelegentlich einen prüfenden Blick auf seine Schwester warf. Fast so, als vergewisserte er sich, daß sie noch da war.
Rein körperlich war sie es. Aber ihr Geist schwebte woanders. Sie war zutiefst verschlossen, saß nur mit angezogenen Knien unter der Bettdecke da und nickte ab und zu, wenn Anita's Geplapper das zuließ.
"Mann, hab ich mir Sorgen gemacht, du!", gab sie schon zum fünften Mal an diesem Nachmittag preis, "Ich meine, ich dachte mir schon, daß du da unten nicht verloren gehen kannst, aber schließlich ist der Keller uralt und die elektrischen Leitungen wahrscheinlich noch älter! Mein Gott, ein freiliegendes Kabel und - WUMM!"
Sie schlug theatralisch die linke Faust in die rechte Handfläche. Simon schüttelte den Kopf. Natalie zuckte nicht mal zusammen. Doch das ließ Anita nicht von ihrer Rede abbringen.
"Und Karo wollte mir nicht glauben. 'Niti', sagte sie zu mir - du weißt, wie sehr ich es hasse, wenn sie mich so nennt. Nit ist schon schlimm genug, aber Niti?! Egal, sie sagte: 'Niti, du benimmst dich schlimmer als deine eigene Mutter!' Kannst du dir das vorstellen? Aber als du nach zwei Stunden immer noch nicht wieder auftauchtest, ist auch sie nervös geworden. Und als wir runter in den Keller gegangen sind und dich dort liegen sahen - oh, hilfe! Ich dachte, mir rutsch gleich das Herz in die Hose. Obwohl ich gar keine anhatte. Als wir dich nicht wachgekriegt haben, sind wir in ehrlich Panik geraten. Und das viele Blut... Was um Himmels Willen hast du dort unten nur angestellt?!"
Anita stand mitten im Zimmer und hob die Arme, Handflächen nach oben, aber sie bekam keine Antwort, obwohl diese ganz einfach gewesen wäre.
Natalie war, nachdem sie einer Sinnestäuschung erlegen war, rücklings über die alte Couch gestolpert und hatte sich den Kopf aufgeschlagen. Woraufhin ihre Phantasie ihr einen ihrer grausamen Streiche gespielt hatte und ihr eine wunderbare Welt mit ihrem Traumprinzen vorgegaukelte.
Hm, so einfach war das. Alles nur ein Traum. Beinahe noch realistischer als der erste. Sie hatte ihn spüren, fühlen, berühren können. Sie hatte sich im Traum die Frage gestellt, ob es ein Traum war, und im Traum war sie zu der Erkenntnis gekommen, daß es keiner war - keiner sein konnte! Logisch, auf eine merkwürdig entrückte Weise zwar, aber trotzdem logisch.
Die vernünftige, bodenständige, rationale Natalie war binnen Sekunden wieder zu der leicht verletzlichen, naiven, träumerischen Valleri geworden. Hatte sich "einseifen" lassen von den nutzlosen Schwärmereien der Phantasie.
Darüber kam sie nicht hinweg.
Es war anders als beim letzten Mal gewesen. Das letzte Mal hatte sie gemerkt, wie die mühsam erstellte Traumwelt zu bröckeln anfing und hatte versucht, sich dagegen zu wehren. Diesmal hatte sie von Anfang an Zweifel gehabt, die sich erst allmählich zu lösen schienen. Bis zuletzt hatte sie keine Ahnung gehabt - aber war das in Träumen nicht immer so?
Also war es einer gewesen, ausgelöst durch die Gehirnerschütterung. Aber das war noch nicht alles. Wenn es nur das gewesen wäre, hätte sie sich damit abgefunden. Sie hätte alles abgeschüttelt, Anita bei ihren urkomischen Erzählungen zugehört, wäre am nächsten Tag nach Hause gegangen und hätte diesen dummen - wenngleich auch realistischen - Traum einfach vergessen.
Aber Träume hinterließen keine Spuren.
Wenn es ein Traum gewesen wäre, wie kam es dann, daß sie, als sie im Keller wieder zu sich gekommen war, einen Stapel mit rund 80 Seiten schon leicht zerknitterten, handgeschriebenen Papierseiten in der Hand gehalten hatte?
Wie waren die dorthin gekommen, verdammt?!
Das war die winzige Kleinigkeit, bei der ihr Verstand nicht mitmachte. Und da sie es sich nicht erklären konnte, hatte sie ihn einfach ausgeschaltet. Vielleicht war auch nur eine Sicherung durchgebrannt, wer weiß.
Vielleicht war sie, Natalie Kuling alias Joanne Ennui alias Valleri-Weiß-der-Geier, auch seit einem Jahr in einer Spezialklinik für geistig Umnachtete, und dieser ganze Schwachsinn spielte sich nur in ihrem mit Valium abgetöteten Gehirn ab. Anders war es kaum zu erklären.
Vielleicht war auch nur sie selbst eine Hauptfigur in dem Kopf einer kranken Schriftstellerin, die ihre Minderwertigkeitskomplexe damit kompensierte, Geschichten über sie zu erfinden, nur weil in ihrem Tageshoroskop der Rat stand: "Schreiben Sie ein modernes Märchen über die Frau, die Sie gerne wären."
Oh, diese verfluchten Kopfschmerzen!
Natalie wollte nicht mehr darüber nachdenken, aber ihre Gedanken flogen immer wieder zu dem Thema zurück wie ein Bumerang, wurden angezogen von dem Magneten, kreisten darum wie Planeten um die Sonne.
Sie zog die Beine noch näher an den Körper, schlang die Arme darum und wiegte sich leicht hin und her. Verkroch sich ganz tief in sich selbst.
7. KAPITEL
Beyond the Blue Horizon
oder
"Als sich alles in Wohlgefallen auflöste"
"So geht das nicht weiter!", beschloß Anita eines Tages.
Zwei Wochen waren seit Natalie's Entlassung aus dem Krankenhaus vergangen, aber an ihrem lethargischen Zustand hatte sich nichts verändert.
Den ganzen Tag verbrachte sie im Bett. Wenn sie nicht schlief, dann weinte sie, wenn sie nicht weinte, dann grübelte sie. Wenn sie nicht grübelte, weinte sie.
Die inzwischen fast zerknüllten Seiten ihres Romans, hielt sie dabei immer mit beiden Händen wie ein Stofftier an ihre Brust gepreßt.
Anita hielt es nicht mehr aus, ihre Freundin so zu sehen. Natalie aß nur, wenn sie ihr das Essen förmlich in den Rachen stopfte - es war gräßlich!
Anita sah nur eine Möglichkeit - die kam ihr beim Geschirrspülen, jene ihr so verhaßte Hausarbeit, die bis jetzt immer die pingelig saubere Natalie übernommen hatte - nur ein Blitzgedanke: Natalie's Mutter!
Ihre Mutter, die jetzt im Ausland, ihrem Geburtsland, lebte.
Natalie hatte früher immer mit Begeisterung von dem kleinen, abgeschiedenen Dörfchen zu erzählen gewußt. Dort, wo sie früher immer einmal im Jahr für drei Wochen den Familienurlaub verbracht hatten. Wie hatte es Natalie einmal formuliert?
"Die Zeit scheint dort stillzustehen. Und die Ruhe ist sagenhaft! Nirgendwo kann man besser ausspannen, und nirgendwo bin ich kreativer. Die Gedanken und Worte fliegen mir nur so zu!"
Das ist es, dachte Anita und stellte den eben abgespülten Teller so heftig auf die Ablage, daß es gefährlich schepperte.
Noch am selben Tag rief sie Natalie's Mutter an, die zum Glück endlich ihren eigenen Telefonanschluß hatte, denn Anita's Kenntnisse der italienischen Sprache waren mehr als bescheiden, und informierte sie in knappen Sätzen über alles.
Natalie's Mutter war sofort einverstanden, ihre Tochter für unbestimmte Zeit aufzunehmen, bis es ihr hoffentlich wieder besser ging.
Anita versprach, nochmal anzurufen, sobald sie den Abflugtermin wußte, verabschiedete sich und knallte stürmisch den Hörer auf die Gabel, um ihn gleich darauf wieder abzunehmen. Sie zog den Buchstaben A aus dem Telefonregister und wählte die Nummer der Fluggesellschaft.
Es kostete Anita einige Mühe und Geduld, Natalie davon zu überzeugen, daß dies eine gute Idee war, aber noch mehr Schweiß, sie überhaupt erst aus dem Bett zu zerren.
Es gelang ihr unfreiwillig, als sie ihr in einem Anfall von Wut die Papierseiten aus der Hand riß.
Da war Natalie - wenigstens vorübergehend - wieder die alte.
Sie schrie und schimpfte, sprang aus dem Bett, um ihren heiligen Gral aufzusammeln, der sich über den Fußboden verteilt hatte. Dabei belegte sie Anita mit Flüchen, die sie normalerweise dazu veranlaßt hätten, beleidigt das Haus zu verlassen und mindestens 48 Stunden kein Wort mit Natalie zu wechseln, aber heute entlockten sie Anita nur ein zufriedenes Grinsen.
Der erste Schritt war getan. Und Natalie mußte schließlich einwilligen, da das Ticket schon bezahlt und persönlich von Anita abgeholt worden war.
Gleichzeitig reifte in Natalie allmählich ein Gedanke - oder vielmehr eine Idee. Verrückt zwar, aber das spielte schon lange keine Rolle mehr. Es kam auf ein Experiment an.
Im Moment war es nur eine winzige Idee, die in ihrem Hinterkopf hauste, so weit von ihrem klaren Denken entfernt, daß Natalie sie zuerst nicht mal selbst wahrnahm. Noch nicht.
Die Welt unter Natalie wurde kleiner und kleiner, während die Schubkraft der 737 sie in den Sitz preßte.
Normalerweise hatte sie höllische Angst vorm Fliegen, besonders allein, aber diesmal nicht. Ihre Hände gruben sich in den Packen Schreibpapier auf ihrem Schoß, den sie während der ganzen Zeit nicht einmal aus den Händen gelassen hatte.
Sie hatte nicht viel mitgenommen, nur eine kleine Reisetasche als Handgepäck mit dem nötigsten wie Zahnbürste und Kleidung zum Wechseln. Aber selbst das bezweifelte sie, ob sie es wirklich brauchte. Das kam darauf an, wie ihr Experiment verlief.
Das Flugzeug hatte seine Durchschnittsflughöhe erreicht und die Motoren gaben ein zufriedenes Rauschen von sich.
"Tee? Kaffee?"
Eine blondgefärbte Stewardess beugte sich mit einem wächsernen Grinsen zu Natalie herunter. Sie hob die Hand, "Nichts, danke."
Die Stewardess zog wieder ab, und Natalie genoß die Aussicht an ihrem Fensterplatz. Weiße Wattewolken zogen in dichten Ballen unter ihr vorbei, der Himmel war durchzogen mit einem weichen Rosaton, der den frühen Abend andeutete.
Natalie summte leise eine Melodie, dann begann ihr Experiment.
Sie zog, immer noch summend, einen Stift aus der Tasche, schlug die letzte noch freie Seite vor sich auf und fing an zu schreiben.
Zuerst alles, was seit ihrem Erwachen im Gemeindekeller vorgefallen war, und das Blatt war schnell zuende.
Hastig suchte sie in ihrer Reisetasche nach mehr, wurde fündig und schrieb weiter. All das, ohne mit dem Summen aufzuhören. Sie schrieb von Anita's Plan, ihre Mutter anzurufen, von der Warterei an Flughafen, weil der Flieger wie immer anderthalb Stunden Verspätung hatte. Sie schrieb über das Einchecken und über die blonde Stewardess. Sie schrieb, daß sie schrieb, und sie schrieb, daß sie schrieb, daß sie schrieb.
Dann begann es. Das Finale.
Das Flugzeug begann erst nur leicht zu ruckeln, kein Grund zur Aufregung. Leichte Turbulenzen. Dann sackte es immer öfter ab, fing sich aber wieder.
"Mami, was ist das?", quengelte ein kleines Mädchen mit roten Zöpfen hinter Natalie.
"Scht.", sagte die Mutter, "Das sind nur Luftlöcher.", aber ihre Stimme war unsicher.
Das Fasten Seat Belts-Zeichen leichtete auf, kurz darauf auch das Don't Smoke-Zeichen.
Eifriges Fummeln um Natalie herum.
Jeder war aufgeregt, tat aber gleichzeitig so, als sei er die Ruhe selbst. Der Mann neben Natalie grinste sie blöd an.
"WUMM!", machte er leise, indem er die linke Faust auf die rechte Handfläche platschen ließ. Natalie beachtete ihn kaum, sondern schrieb weiter.
"Guten Tag, meine Damen und Herren, hier spricht ihr Pilot..."
Alles horchte nervös auf.
"...Wir durchfliegen zur Zeit eine Schlecht-Wetter-Front, was zu leichten Turbulenzen führt. Es besteht kein Grund zur Aufregung..."
Schlecht-Wetter-Front? Natalie blickte aus dem Fenster. Ihr bot sich der schönste und klarste Sonnenuntergang, den sie je gesehen hatte. Alle Farben des Farbspektrums erstrahlten um die untergehende Sonne, hüllten sie ein.
Goldgelb - Purpurrot - Samtorange...
Sie konnte sich kaum satt sehen vor Staunen.
Dann sackte mit einem Mal die Nase des Flugzeugs um 45ø nach unter ab. Frauen und Kinder begannen zu schreien, Handgepäck flog durch das Kabinendach. Die verzweifelten Versuche der Stewardess, um Ruhe zu bitten, wurden von panikerfüllten Menschen überschrien.
"Bitte bleiben Sie angeschnallt auf ihren Sitzen!", ertönte die körperlose Stimme des Flugkapitäns durch den Lautsprecher.
Entfernt erinnerte sie Natalie an jemanden, doch auch in ihr schwang die Angst mit.
Er hat die Kontrolle verloren, dachte sie mit einer Nüchternheit, die sie selbst überraschte. Er hat die Kontrolle über die Maschine verloren und begreift selbst nicht, wieso.
"Bitte befolgen Sie die Sicherheitsanweisungen der Stewardessen, wie..."
Die Maschine machte einen Luftsprung nach unten, und der Rest ging in hysterischem Kreischen unter. Keiner scherte sich um die Sicherheitsanweisungen, jeder schrie, flehte oder bettelte um sein Leben. Irgendwo mitten drin weinte ein Baby seine langgezogene Klage. Alles um Natalie herum geriet in Panik, rannte oder fiel im Flugzeug umher oder drückte sich ängstlich in seinen Sitz.
Nur Natalie nicht.
Es schien, als sei sie gar nicht richtig anwesend in diesem Szenario des Schreckens. Sie brauchte sich nicht zu fürchten, denn sie wußte, wohin sie kommen würde. Sie kannte den Ort, an dem Zeit und Raum sich trafen, verschmolzen und aufhörten zu existieren.
Und während die 737 mit brennenden Motoren in ihrem steilen unaufhaltsamen Flug Richtung Erde bretterte und das Kreischen der sterbenden Menschen immer leiser und unwirklicher wurde, schrieb Natalie in zitternder Schrift die letzten Worte auf den unteren Rand ihres Blattes.
Die Sonne sandte ihre letzten Strahlen durch das Seitenfenster und wärmte Natalie's Gesicht.
Die Membran aus Farben schloß sich um sie. Natalie schloß glücklich die Augen. Eine einzelne Träne rollte aus ihrem linken Auge, als sie ein liebendes Gesicht vor ihr inneres Auge heraufbeschwor. Bald würden sie für immer vereint sein.
Nur noch Sekunden bis zur Ewigkeit.
Sie lächelte.
Beyond the blue horizon waits a beautiful day
Goodbye to things that bore me
Joy is waiting for me
I see a new horizon, my life has only begun
Beyond the blue horizon lies a rising sun
(Aus: Magnetic South 1970)
Tag der Veröffentlichung: 24.03.2010
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Der schönen Erinnerung wegen...