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1. KAPITEL
I Wanna Be Free
oder
"Wie die Depression gewann"




Professor Braun schwang wieder einmal eine seiner verstaubten endlosen Reden über Friedrich Schiller.
Er hörte sich nur zu gerne reden, dafür war er in der ganzen Universität bekannt.
Gelangweilt rutschte das unscheinbare Mädchen mit der grünen Wollmütze auf ihrem Stuhl in der letzten Reihe umher, um ihre eingeschlafene Pobacke zu entlasten, wobei sie krampfhaft ein Gähnen unterdrückte.
Sie konnte nicht begreifen wie die Mehrzahl der Studenten in dem Seminar wie gebannt an den Lippen des Professors hingen und jedes seiner Worte aufsogen, als seien sie der letzte Atemzug ihrer Leben.

Warum, um Himmels willen, behandeln alle Schiller wie einen Gott?, dachte sie. Wieso wird jedes seiner geschriebenen Worte so lange interpretiert, bis es ausgequetscht wie eine Zitrone auf dem Papier liegt? Wo bleibt da noch der Spaß am Lesen? Schiller hat gewiß nicht bei jedem Satz, den er geschrieben hat, überlegt, wie er in 300 Jahren interpretiert werden könnte!

Ich kann es nicht mehr hören! dachte sie verzweifelt, Wieso bin ich hier? Wie komme ich her? Was mache ich hier, und wieso sehe ich keinen Sinn in dem, was ich tue? waren Fragen, die sie sich schon seit Stunden stellte.
Es ist doch ein Privileg, studieren zu dürfen und zu können. Warum bin ich also nicht glücklich?

Es war diese Depression, diese unerträgliche Melancholie, die sie seit letzten Sommer quälte, als sie im Krankenhaus gelegen hatte. Eine Routine-Operation, aber es wäre fast zu spät gewesen.
Seitdem verfiel sie immer wieder, wenn sie allein war, in Gedanken und Grübeleien. Und sie war oft allein.

In der Universität war alles so unpersönlich, kalt und fremd. Niemand nahm Notiz von ihr, und da sie kein Mensch war, der mit Pauken und Trompeten auf sich aufmerksam machte, blieb das auch bis heute so.
Sie fand sich auch nicht besonders hübsch oder intelligent - die üblichen Minderwertigkeitskomplexe in einer Welt, in der man nur akzeptiert wird mit einer Figur wie ein Model, dem Selbstbewußtsein einer Rakete und dem Verstand von drei Gelehrten.

Gedankenverloren kratzte sie sich an der Nase, und prompt waren ihre Finger voll Blut.

"Scheiße!", murmelte sie und suchte hastig nach einem Taschentuch in ihrer Manteltasche, inständig hoffend, daß gerade jetzt niemand einen Blick auf sie warf.
Fast zwei Minuten lang preßte sie das Papiertuch gegen die blutende Stelle, bis sie völlig sicher sein konnte, daß es nicht mehr quoll.

Merkwürdig fasziniert und entzückt starrte sie auf den kirschroten Fleck, den das Blut auf dem Papier hinterlassen hatte. Es sah irgendwie gut aus...

Schnell packte sie das Tuch zurück in die Manteltasche.
Gerade kündigte Professor Braun an, daß das Seminar nächste Woche ausfallen würde. Sie wollte schon erfreut grinsen, da setzte er hinzu: "...deshalb wird die Sitzung am Samstag darauf nachgeholt."

Ihr klappte die Kinnlade herunter. Samstag? Der spinnt doch!

Die übrigen Studenten blätterten eifrig in ihren Terminkalendern und kritzelten den neuen Termin hinein, als gäbe es nichts herrlicheres, als am Samstagabend zwei zusätzliche Stunden in der Uni zu verbringen.

Gleich läuft ihnen der Sabber aus dem Mund, dachte sie verächtlich,
Der Samstag ist mir heilig! Ich lerne für mein Leben, aber ich lebe doch nicht, nur um zu lernen! Ich habe noch anderes zu tun, außer hier herumzusitzen und die rissige Wand, den vergilbten Vorhang am Fenster und den aufgescheuerten Teppich anzustarren!
Ich hasse die Uni! Ich bin todunglücklich hier, aber ich weiß nicht, was ich sonst tun soll!

So schimpfte sie in Gedanken mit sich selbst und mit Professor Braun, der das alles nie mitbekommen sollte.

Niemand interessierte sich je für sie, sie war seit jeher ein Außenseiter. Das typische Beispiel für die Naive, leicht Ausnutzbare, diejenige, über die immer alle "coolen" Jungs und Mädchen in der Schule Witze gerissen und gelacht hatten, die man für dumm hielt.

Sie hatte dann immer so getan, als ginge sie das gar nichts an, hatte versucht, ihre Schwächen zu akzeptieren und ihre Stärken herauszuarbeiten.
So war sie vor allem in den letzten beiden Jahren auf dem Gymnasium besonders aktiv geworden. Sie war im Volleyball-Kurs, obwohl sie auf einem Auge blind war und den Ball fast nie kommen sah. In der Theatergruppe hatte sie sich eingesetzt, mitorganisiert, hatte alles getan, um das Stück zum Laufen zu bringen, doch wieder war nur ihre Gutmütigkeit und Leichtgläubigkeit ausgenutzt worden. Das Stück soff ab, noch bevor es richtig zustande kam. Zwei Wochen vor der Premiere war in einer kurzfristig angesetzten Versammlung abgestimmt worden - ohne sie.

Ihre Unfähigkeit im Ballsport war nur wieder ein neuer Grund, über sie zu lachen. Und ihr größter Stolz - in jeder Ausgabe der Schülerzeitung war eine Kurzgeschichte von ihr abgedruckt - war nur immer Anreiz, sie auf den Arm zu nehmen und herunter zu machen. Auf der Abiturverleihung wurde sie mit keinem Wort erwähnt - aber diejenigen, die ihre Arbeit zerstört hatten, wurden gehuldigt für ihre Verdienste, die sie an der Schule geleistet hatten.

Das hatte sie damals wahnsinnig geschmerzt, und wahrscheinlich war das auch der Auslöser für ihren Krankenhausaufenthalt gewesen.
Nun hatte sie geglaubt, nachdem die Schule beendet war und sie endlich befreit von dem war, was sie schmerzte, konnte sie auf der Uni ganz neu und von vorne anfangen. Hier kannte sie noch niemand; mit einem neuen Image, neuer Kleidung und neuer Frisur wollte sie ein neuer Mensch werden - aber das war es nicht. Es war schlimmer, denn hier kannte auch sie niemanden. Riesige Hörsäle mit hunderten von namenlosen Gesichtern, die mit dem Schlußwort des Dozenten wieder entschwanden. Sie war allein.

Und damit wurde sie nicht fertig.
Sie flüchtete in eine Phantasiewelt. Eine Welt, die sie selbst bestimmen und gestalten konnte. Eine Welt, in der sie akzeptiert wurde. Seit September war in dieser Welt ein neues Land hinzugekommen, als im Fernsehen eine alte Serie wiederholt wurde.

Sie war völlig aus dem Häuschen gewesen, vor Begeisterung. Das letzte mal als sie diese Comedyserie - über eine amerikanische Beatgruppe der Endsechziger - gesehen hatte, war sie noch ein Kind gewesen. Und wie ein Kind fühlte sie sich jeden Tag für eine halbe Stunde, wenn die Sendung lief. Natürlich zeichnete sie jede Folge auf, und manchmal sah sie sich jede Folge gleich zweimal hintereinander an und am Wochenende noch einmal, nur um dieses Gefühl der Geborgenheit zu spüren, diesen Frohsinn, den die Schauspieler vermittelten, denn sie wußte ganz genau: da gehörte sie hin.
Das war ihre Welt. Die 60er Jahre, die Musik, das Feeling.

Als sie auf die Uhr sah, war sie einem Nervenzusammenbruch nahe. Es waren erst zehn Minuten vergangen, seit sie das letzte Mal nachgesehen hatte - und das Seminar dauerte noch über 40 Minuten.

Ich halte das nicht mehr aus! Es erdrückt mich! Ich bekomme keine Luft mehr!

Fluchtartig verließ sie den Raum, stolperte auf die Tür zu, wobei sie beinahe einen Komilitonen mit sich riß.
Draußen auf dem Flur war alles gespenstig ruhig, dunkel und leer.
Es war erst viertel nach eins, aber der November breitete seine grauen Nebel wie einen Mantel über den Himmel, daß man den Eindruck gewann, es sei bereits später Nachmittag. Hastig sah sie sich auf dem leeren Gang um, bis ihre Augen ein Ziel erfaßten. Erst dann wurde sie ruhig, doch das fast schlagartig. Und bereits während sie zu der Tür lief, die nur durch ein abgebrochenes "D" signalisierte, daß sich hinter ihr nicht ein anderer Vorlesungsraum befand, war ihr, als verließe sie ihren Körper, und - so schien es ihr viel später - das war bereits der Augenblick, in dem sie ihren Entschluß faßte.

Ein Entschluß, der ihr als der einzige Ausweg erschien, obwohl sie ihn niemals vorher in Betracht gezogen hätte.
Aber es war die einzige Möglichkeit, diesem Wahnsinn zu entkommen. Nicht zu wissen, wer man sei in dieser Welt und Gefangener seiner Gefühle und Gedanken zu sein, die einen immer wieder einkreisen und erdrücken wollen.

Warum?! Warum lebst du? WER BIST DU?

In der Toillettenkabine war es kalt. Die Heizung war ausgefallen. Nichts funktionierte in diesem Loch. Aber das war ihr jetzt egal.
Das Licht glimmte von einer einsamen Lampe an den Waschbecken und drang nicht ganz bis zu ihrer Kabine vor, aber es genügte.

Sie hockte sich auf den Boden, spürte die kühlen Kacheln selbst durch den dicken Stoff ihrer Hose und drehte das Schloß auf "besetzt".
Nur zwei Dinge hatte sie mitgenommen. Ihre Tasche und Jacke waren noch immer im Hörsaal, und da würden sie auch bleiben.
Nein, für das, was sie vorhatte, benötigte sie nur zwei simple Dinge, und das erste holte sie jetzt unter ihrem Wollpulli hervor. Es war ihr Walkman.
Erst heute morgen hatte sie noch neue Batterien eingelegt - wie in einer Vorahnung. Sie stülpte die Kopfhörer über ihre wollene Pudelmütze, die sie seit vier Wochen fast ununterbrochen trug - wie eine Huldigung an jemand ganz bestimmtes. Vor zwei Wochen hatte sie eigenhändig sechs Knöpfe in Zweierreihen vorne an die Mütze genäht, in der Hoffnung, dadurch Aufsehen und Interesse eines Mitstudenten zu erlangen. Ohne Erfolg. Es war offenbar nicht auffallend genug, um ein graues Mäuschen in helles Licht zu tauchen in diesem Sumpf der Gleichgültigkeit.

Sie drückte auf "play" und zehn Sekunden später begann das Titellied, aber sie achtete kaum darauf.
Dafür beförderte sie den zweiten Gegenstand aus der Hosentasche. Ein kleines, blankes Metall mit einer scharfen Unterseite kam zutage. Mit derselben Faszination wie zuvor das Blut auf ihrem Taschentuch betrachtete sie es von allen Seiten. Dann schritt sie zur Tat.

Mit der Behutsamkeit eines Chirurgen setzte sie das Metall an ihr Handgelenk, wo eine große Ader bläulich durch die Haut schien. Fast war ihr, als könne sie sie pulsieren sehen.
Dann schnitt die Rasierklinge tief in die Haut ein.

Es ging leichter, als sie gedacht hatte - als würde man Butter schneiden. Ein heißer Schmerz durchzuckte sie, scheußlich brennend aber unheimlich befreiend und in gewisser Weise schön.

Wie im Traum beobachtete sie, wie das Blut wie ein Fluß ihren Arm hinunter rann, auf ihre Kleidung und den Boden tropfte. Ihr Arm wurde schwer, wie in Zeitlupe spielte sich alles ab. Sie ließ den Arm sinken, und er glitt auf den Boden, während das Blut weiter unaufhörlich hinaus drang und eine kleine Lache auf den grauen Kacheln hinterließ.
Ihre Augenlider wurden schwer, die Welt um sie herum verschwamm. Gleichzeitig fühlte sie, wie sie leichter wurde. Es war ihr, als würde sie schweben.

Ihre Gesichtszüge glätteten sich, sie fühlte sich unendlich geborgen. Aus den Kopfhörern drang leise Musik, der dritte Song begleitete sie sanft in die Dunkelheit. Sie lauschte der Melodie

"I wanna be free..."

und ein friedliches Lächeln ruhte auf ihrem Gesicht, als sie starb...


2. KAPITEL
Valleri
oder
"Wie am Strand ein neues Leben begann"




Irgendetwas war anders, als sie erwachte. Sie wußte nicht, was es war, aber daß etwas anders war, spürte sie sofort, noch ehe sie die Augen öffnete.
Es war warm und weich um sie herum. Die Sonne schien auf ihren Körper und hüllte sie in ihre freundlichen Strahlen.
Mit einer Hand tastete sie nach dem Untergrund, auf dem sie lag und griff in etwas Weiches, das durch ihre Finger rieselte.

Sand...?

Jetzt schlug sie die Augen auf, und sie mußte sich zwingen, nicht im selben Moment laut aufzuschreien vor Überraschung.
Dabei war nicht unbedingt was sie sah so überwältigend, sondern vielmehr wie sie es sah.
Denn egal welches Auge sie auch zukniff, sie konnte immer gleich gut sehen.

Nichts war verschwommen, alles strahlte in einer gestochenen Klarheit auf sie ein. Die Farben, in der die Welt auf einmal eingetaucht war, übertrafen ihre kühnsten Vorstellungen, als sie noch halb blind versucht hatte, sich vorzustellen, wie es wohl sei, dreidimensional sehen zu können.

Sie hatte immer angenommen, daß sie doch nicht so schlecht sah, wie man ihr immer hatte andichten wollen - doch jetzt, wo sie mit zwei vollkommen gesunden Augen beschenkt worden war, nahm sie den krassen Unterschied wahr und sog ihre Umgebung mit Wißbegierde auf.

Sie lag tatsächlich an einem Strand, der ihr auf unbestimmte Weise bekannt vorkam.
Das Meer rauschte, eine Welle überrollte den Strand und kitzelte kurz ihre Zehen, bevor sie sich wieder zurückzog. Ein warmer Wind umspielte ihr langes, dunkelblondes Haar...

Auf einmal wurde sie stutzig.

Nur ungern nahm sie den Blick von der neuen Welt, die sie umgab und blickte an sich selbst herunter. Sie erschrak furchtbar, als sie sah, daß auch ihr Körper sich verändert hatte. Er war makellos. Kein Gramm Fett zuviel, keine Schramme, keine Narbe - nicht einmal Leberflecke waren da - und sie bekam es mit der Angst zu tun.

Das ist nicht mein Körper! Das bin nicht ich! Was ist mit mir geschehen? Früher war ich doch...

Sie überlegte krampfhaft, was früher gewesen war, bevor sie die Augen an diesem seltsamen Strand geöffnet hatte, doch je mehr sie versuchte sich zu erinnern, desto weiter drifteten die wenigen Überbleibsel an Erinnerungen in eine tiefe Dunkelheit ab, zu der sie keinen Zugang hatte.
Wie ein Traum, an den man sich kurz nach dem Aufwachen noch erinnert, aber je mehr man über ihn nachdenkt, desto mehr verschwimmt er.

Merkwürdig in sich gekehrt beobachtete sie, wie der feine, weiße Stoff ihres knöchellangen Kleides, mitgenommen vom Sommerwind ihre perfekten Rundungen umspielte.
Sie nahm eine Strähne ihres Haars und ließ es durch ihre Finger gleiten.
Kein Spliß, auch die Farbe war gesund und glänzend. Wie bei einem genmanipulierten Menschen.

Und je mehr sie darüber nachdachte, desto mehr wurde ihr bewußt, daß es genau das war, was sie sich unbewußt schon immer gewünscht hatte - was sich jeder Mensch irgendwann einmal wünschte. Noch begriff sie den Sinn nicht, und wußte auch nicht, ob sie über ihren Zustand lachen oder weinen sollte.
Es war noch zu früh, sie war noch zu neu.

Plötzlich fiel ein Schatten über sie, und eine fast kindlich anmutende Stimme sprach sie an.
"Hallo!"

Sie war so in Gedanken gewesen, daß sie die Gestalt, die von hinten an sie herangetreten war, gar nicht bemerkt hatte, und sie zuckte zusammen.
Vorsichtig blinzelte sie nach oben in die Richtung, aus der die Stimme kam und erblickte ein jungenhaftes, vertraut wirkendes Gesicht.

Der junge Mann hatte sich neben das Mädchen in den Sand gehockt und sah sie aus wachen Augen an. Sein wohlgeformter Mund lächelte freundlich. Sie schätzte ihn etwa in ihrem Alter - Zwanzig, höchstens 21 Jahre alt.

Sie mußte wohl sehr verschreckt ausgesehen haben, denn jetzt lächelten auch seine Augen, und seine Stimme bekam einen behutsamen Unterton.

"Keine Angst, ich tue dir bestimmt nichts. Aber woher kommst du? Ich habe dich noch nie hier gesehen."

Erst jetzt entspannte sie sich und ließ zu, daß auch auf ihrem Gesicht ein Lächeln erschien.
Sie war in einer vertrauten Welt. Zwar konnte sie nicht fassen, daß es so war, aber sie faßte langsam Vertrauen.

"Entschuldige", ergriff ihr Gegenüber erneut das Wort, "Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Ich heiße David Jones, meine Freunde nennen mich..."
"...Davy.", beendete das Mädchen. Es war ihr erstes Wort in der neuen Welt - und es fühlte sich fremd an.
Fremd, aber gut.
Auch ihre Stimme hatte sich verändert. Sie war klarer, reiner geworden, aber sonst wie früher.
Sie lachte erleichtert auf, froh und frei. Ein Lachen, das aus ihrem Mund perlte, als würden Glöckchen zu Weihnachten klingen.
Auch Davy lachte, von ihr angesteckt.

"Stimmt, woher weißt du das? Kenne ich dich irgendwoher?"
"Nein, aber ich kenne dich.", erwiderte sie. Langsam taute sie auf und wurde selbstsicherer. Zu Davy hatte sie Vertrauen.

"Willst du mir deinen Namen nicht sagen, jetzt wo du meinen kennst?"
Diese simple und freundliche Frage ließ ihre Züge in Sekunden verfinstern. Sie verfiel wieder in Verschlossenheit, als sinke sie in ihr innerstes Selbst hinab. Auch Davy bemerkte diese Wandlung sofort.

"Was hast du?"
Besorgt legte er ihr die Hand auf die Schulter. Das brachte sie in die Realität zurück. Mit großen Augen und einer Sorgenfalte auf der Stirn sah sie ihn hilfesuchend an.

"Ich weiß nicht..."
"Was?"
"Gar nichts. Ich weiß überhaupt nichts über mich. Nicht richtig. Es... es verschwimmt alles."

Sie kämpfte um die richtigen Worte, "...du würdest es nicht glauben, wenn ich es dir erzähle. Ich glaube es ja selbst kaum."
"Hey, ist ja gut", beruhigte Davy das mit sich kämpfende Mädchen, "Komm erst einmal mit, dann sehen wir weiter. Vielleicht fällt dir dann alles wieder ein, ja?"

Er nahm ihr Gesicht in beide Hände und strich ihr sanft über die Wange, bis das Lächeln wieder über ihr Gesicht huschte.
"Okay."

Für einen Moment berührten sich ihre beiden Blicke, und für den Bruchteil einer Sekunde glaubte das Mädchen, Davy erstarren zu sehen, doch genauso schnell war er wieder so herzlich wie vorher, so daß sie dachte, sie hätte es sich nur eingebildet.

Er stand auf und half ihr hoch. Dann legte er seinen Arm um sie, und sie gingen eine Weile schweigend nebeneinander den Strand entlang, bis auf einem kleinen Hügel rechts von ihnen ein Strandhaus auftauchte. Eine Treppe führte nach oben zu einem Hintereingang.

"Dort wohne ich", erkl?rte Davy, "mit meinen Freunden. Du wirst sie gleich kennenlernen."
Sie nickte erwartungsvoll, obwohl sie im Unterbewußtsein schon wußte, oder zumindest ahnte, wem sie begegnen würde. Doch sie genoß die Spannung und die Vorfreude und stieg hinter Davy die steinernen Stufen hinauf zur Hintertür, die immer offen stand.

Davy ging voraus, sie hielt sich noch im Hintergrund. Ihre alte Schüchternheit überkam sie kurzfristig wieder, aber ein wenig neugierig spähte sie von der Tür aus in die Wohnung.

Sie erblickte einen wild eingerichteten Wohnraum, der mit allem denkbaren - und undenkbarem - Krempel vollgestopft war. Dieser Raum bildete sowohl Küche, als auch Eßplatz und Wohnraum in einem.
In der einen Nische standen ein Fernseher und eine Couch, auf der sich einer der Mitbewohner Davy's räkelte.
Alles, was sie von ihm zu Gesicht bekommen konnte, waren seine blonden, glatten Haare, die ihm fast bis auf die Schultern hingen.

In einer anderen Ecke befanden sich Spüle und Küchengeräte und ein Tisch mit vier Stühlen. In der Mitte des Zimmers führte eine Wendeltreppe in das Obergeschoß, aus dem gedämpfte Musik drang.

Ein weiterer Mitbewohner saß auf den untersten Stufen der Treppe und beschäftigte sich mit seiner Akustikgitarre, auf der er eine kleine Melodie spielte.
Seine schlanken Finger flogen über die Saiten und wechselten so gekonnt die Akkorde, daß das Mädchen kaum die Augen davon wenden konnte.

Aber das, was sie noch mehr faszinierte war die Pudelmütze, die auf dem Hinterkopf des Mannes ruhte und kaum die dicken schwarzen Haare verdecken konnte, die unter der grünen Wolle hervorquollen.

Als Davy das Zimmer betrat, sahen beide Mitbewohner kurz auf, begrüßten ihn flüchtig und wollten sich wieder ihren Beschäftigungen widmen, doch Davy ging schnurgerade durch das Zimmer, schaltete den Fernseher aus, was sein Freund mit einem beleidigten "Hey!" kommentierte, und rief zum Obergeschoß herauf: "Micky! Komm runter!"

Der Gitarrist legte sein Instrument aus der Hand und fragte mit der Ruhe selbst in der Stimme: "Was soll das, Davy? Was brüllst du hier herum? Brennt's irgendwo?"
Es war herauszuhören, daß er es gewohnt war, von allem unterrichtet zu werden. Er war wohl so etwas wie das heimliche Oberhaupt der Truppe.

"Es ist wichtig, daß ihr alle da seid, wenn ich's erkläre." war das einzige, das Davy ihm zugedachte, bevor er wieder nach oben brüllte: "Micky! Komm endlich!"

Endlich verstummte die Musik, die Tür öffnete sich und das vierte Mitglied der Wohngemeinschaft rutschte das Treppengeländer herunter.
Er war groß und schlank - fast schlaksig - und sein Haar stand etwas wirr vom Kopf ab, so als könne es sich nicht entscheiden, ob es glatt oder kraus sein wollte.

"Gut, daß wir endlich vollzählig sind.", begann Davy, wurde aber augenblicklich von dem Pudelmützigen unterbrochen.
"Würdest du uns nun endlich verraten, was eigentlich los ist?!"
"Ja, hoffentlich ist es wichtig.", pflichtete ihm der zuletzt dazugekommene bei.

Davy hob die Arme. "Beruhigt euch. Ich habe jemanden mitgebracht und wollte euer Einverständnis. Komm rein!", rief er den letzten Satz in Richtung Hintertür, und vorsichtig trat sie ein, schüchtern lächelnd.

"Ich habe sie am Strand aufgelesen. Sie weiß nicht, wo sie hin soll, da habe ich sie mitgenommen.", begann Davy seine Erläuterungen.
"Darf ich vorstellen: das ist...ist...?h", er stockte, suchte nach einem Namen, "...Valleri, ja genau! Valleri."

Den anderen fielen beinahe die Kinnladen herunter. Als erstes faßte sich der bemützte Anführer der Gruppe.
"Du schleppst ein Mädchen vom Strand an und erwartest, daß wir es hier wohnen lassen? Wie kommst du dazu?!"
"Sie ist nicht irgendein Mädchen", beschwichtigte Davy, "Sie war völlig verwirrt, als ich sie fand. Sie tat mir leid, und da sie keine Bleibe hat, habe ich ihr unsere Bude angeboten."

"Wenn das unser Vermieter herausfindet, bekommen wir mächtig Ärger.", bemerkte Micky, "Dann fliegen wir endgültig raus!"
"Dann darf er es eben nicht merken."
"Also, ich finde, sie sieht doch ganz nett aus.", warf der Blonde ein, und sein Gesicht verzog sich zu einem naiven Lächeln, daß seine Grübchen sichtbar wurden. Er war Valleri von Anfang an sympathisch.

"Ich mache bestimmt keinen Ärger.", versprach sie mit einem bittenden Blick auf den Anführer. Auch auf Micky's Gesicht wich die Skepsis.
"Ich hätte auch nichts dagegen. Was meinst du, Mike? Für ein paar Tage kann's doch nicht schaden."

Grummelnd kratzte sich Mike an der Mütze. Es paßte ihm nicht, das sah man ihm an, aber er beugte sich der Mehrheit, "Na schön, von mir aus."
Dann schnappte er sich seine Gitarre und verzog sich auf die Couch, wo er die anderen keines Blickes mehr würdigte. Aber Davy strahlte übers ganze Gesicht.
"Danke, Mike!", und an Valleri gewandt: "Komm, ich stelle dir meine Freunde vor."

Sie trat ein paar vorsichtige Schritte vor, aber mit jedem Schritt wurde sie selbstbewußter. Es war, als sei durch den Namen, den Davy ihr gegeben hatte, ihre Identität ein kleines Stück weiter erwacht. Ihre neue Identität, die eine bessere war, als die alte.
Als hätte man die alte durch einen Kaffeefilter gesiebt.

Davy war in seinem Element. Er wirkte wie ein Kind, das zum ersten Mal allein zu Hause war.
"Also, das hier ist, wie du vielleicht schon mitbekommen hast, Micky. Er ist unser Schlagzeuger und Sänger - wobei er letzteres besser beherrscht."

Der Zusatz brachte Davy einen Seitenhieb seines Freundes ein, was ihn aber nicht davon abbrachte, noch einen draufzusetzen: "Er flippt schnell aus und muß immer eine Show abziehen."
Dem nächsten freundschaftlichen Hieb wich Davy geschickt aus, indem er einfach den Kopf einzog.

"Hallo.", Valleri streckte Micky die Hand hin.
"Hi. Hör nicht auf Davy. Er kompensiert seinen Kleinwuchs durch seine große Klappe."
"Haha.", machte Davy beleidigt.

Dann ergriff der Blonde Valleri's Hand.
"Ich bin Peter, hi."
"Peter, sonst nichts?", fragte sie.
"Das reicht doch.", meldete sich Micky.
"Piano und Baßgitarre.", fügte Peter mit einem stolzen Grinsen hinzu.

"Und der dort...", fuhr Davy mit einem Seitenblick zur Couch fort, "...ist Mike. Er spielt sich gern als Anführer auf, aber das gibt sich mit der Zeit. Laß ihn einfach in Ruhe, bis er sich gefangen hat."
"Danke, daß ich hier bleiben darf, bis...", fing sie an, wurde aber sofort von Davy unterbrochen, "Ist doch selbstverständlich."
"Klar!", bestätigten die anderen beiden.

Sie fröstelte. Hier im Haus war es doch merklich kühler als am Strand, und ihre nackten Fußsohlen standen auf blankem Parkett.
"Hey, du frierst ja. Hast du nichts weiter dabei?"

Sie schüttelte den Kopf, und sofort nahm Micky sie am Arm und führte sie mit sich.
"Komm erst mal mit nach oben, dort kannst du dich umziehen. Ich suche dir ein paar Klamotten von Davy heraus, die müßten dir passen. Und dann kannst du dich ausruhen, wenn du magst."
"Danke."

Jetzt wo er sie darauf angesprochen hatte, merkte sie, daß sie recht müde und erschöpft war. So viel war in der letzten - ihrer ersten - Stunde hier geschehen. Sie wollte nur etwas ausruhen, ihre Gedanken sammeln und dann entscheiden, was zu tun sei.

Im Obergeschoß befand sich nur der Schlafraum. Vier Betten, von denen eins in jeder Zimmerecke stand, und auf dem Boden in der Mitte war ein Tonbandgerät aufgestellt. Verschiedene Bänder lagen verstreut herum. Hastig begann Micky, diese aufzuräumen.

"Sorry, ich hoffe, dich stört das Chaos nicht. Ich gehe jetzt die Sachen holen."
Dann war er wieder verschwunden. Als er keine zwei Minuten später wieder erschien, mit einer Hose und einem frischen Hemd von Davy, hatte sich das fremde Mädchen bereits unter die Decke eines der Betten gekuschelt und atmete gleichmäßig und tief.
Leise legte er die Sachen auf das Fußende des Bettes und verließ das Zimmer.

Auf seine übliche Weise rutschte Micky in den unteren Bereich der Strandwohnung hinunter, wo die anderen drei bereits in ein eifriges Gespräch verwickelt waren.
Das hieß, eigentlich redete sich Davy um Kopf und Kragen, während Mike genervt die Augen verdrehte und Peter mit halboffenem Mund den seltsamen Worten des Redners lauschte.

Micky bekam gerade noch mit, wie Mike sich kopfschüttelnd abwandte. "Du spinnst ja völlig!"
"Ich weiß, daß es unglaublich klingt, aber es ist wahr! Ich habe es gesehen - in ihren Augen!"

Mike hatte sich umgedreht und wollte das Zimmer verlassen, aber Davy war ihm nachgelaufen und versperrte den Ausgang. "Mike, hör doch zu..."
"David, mir steht es bis hier, daß du dich jedesmal vergißt, wenn ein Mädchen im Spiel ist, und diese Geschichte geht echt zu weit. Laß mich mit diesem Schwachsinn zufrieden!"
Damit schob er den viel kleineren Freund beiseite und verließ mit seiner Gitarre die Wohnung.

"Worum geht's denn?", fragte Micky, der es nun wieder wagte, sich einzumischen. Peter antwortete sofort, und er versuchte nicht erst zu verbergen, daß er sowohl Unglaube als auch Ehrfurcht verspürte.
"Das Mädchen - diese Valleri - Davy behauptet, sie sei aus einer anderen Zeit!"

Für fünf Sekunden war Micky sprachlos - ein neuer Rekord.
"Hä?!"

Der perplexe Blick galt Davy, doch der antwortete nicht sofort. Er wirkte in sich gekehrt und müde. Es hatte ihn mitgenommen, daß Mike ihn für einen Spinner hielt.
Mike glaubte, daß Davy verknallt war und darüber alles um ihn herum vergessen hatte, und daß er sich diese wahnwitzige Story ausgedacht hatte, um Mike zu beeindrucken. Das verletzte Davy.

Zwar stimmte es, daß er oft nur wegen eines Mädchens alles stehen und liegengelassen hatte, aber das war Vergangenheit. Bei dem Mädchen vom Strand war es anders.
Davy fand sie interessant und faszinierend, aber auf eine andere Weise. Da war noch mehr...

Er hatte geglaubt, daß Mike es verstand, wenn er ihm davon erzählte, aber Mike hatte sich auf keine Diskussion eingelassen.

Grübelnd ließ sich Davy auf die Couch fallen und bearbeitete gedankenverloren seine Unterlippe.
Micky stand mit ausgebreiteten Armen in der Mitte des Zimmers und sah aus, als versuche er zu fliegen.
"Könnte ich eventuell erfahren, was hier los ist?"

Peter deutete nur stumm auf Davy und widmete sich wieder dem Fernsehprogramm.
Stumm rollte Micky mit den Augen, dann sprang er mit einem Satz leichtfüßig über die Couchlehne und ließ sich neben Davy fallen, der noch immer grübelte.

"Davy-Baby, was hast du für ein Problem?", witzelte Micky zuckersüß und zog eine seiner Grimassen.
Es sah so komisch aus, wie er verheißungsvoll mit den Wimpern klimperte, daß Davy schließlich doch grinsen mußte.

"Hör bloß auf damit! Soll mir schlecht werden?"
Er knuffte ihn in die Seite.
"Komm, ich erzähl's dir draußen.", forderte Davy auf und sprang auf.

Auf dem Weg zur Hintertür bemerkte Micky nachdenklich: "Das muß ja eine unglaubliche Geschichte sein, wenn Mike so ausgeflippt ist. Der ist doch sonst kaum aus der Fassung zu bringen."
"Wart's ab", murmelte Davy, "Wenn du's gehört hast, hältst du mich wahrscheinlich auch für komplett durchgeknallt."
"Noch durchgeknallter als ich? Glaub ich nicht.", grinste sein Freund zurück.

Auf der Treppe zum Strand setzte sich Micky gleich auf die erste Stufe, zog die Beine an und wartete, bis Davy zu reden anfing.
Dieser stand lieber und suchte nach einem geeigneten Anfang.

Er mußte die Worte mit Bedacht wählen, sonst stand Micky gleich wieder auf und ging, ohne ihm weiter zuzuhören, so wie es Mike getan hatte.

Davy atmete tief durch.
"Dieses Mädchen..."
"Valleri?"
"Ja... ehrlich gesagt, sie heißt nicht Valleri. Ich habe keine Ahnung, wie sie heißt und wer sie ist... und sie weiß es auch nicht. Jedenfalls nicht richtig."

"Aha", machte Micky, "aber wer weiß das schon?"
"Laß mich ausreden. Es ist ohnehin schwer, die richtigen Worte zu finden. Als ich sie am Strand gesehen habe... es war seltsam."

Davy sprach langsam, jedes Wort einzeln betonend, sein Blick schweifte in die Ferne, als rufe er sich das Bild noch einmal vor sein inneres Auge.
"Erst schien sie gar nicht da gewesen zu sein. Ich habe gezwinkert - und auf einmal war sie da. Ich dachte zuerst, sie sei eine Sinnestäuschung. Aber als ich näherkam, war sie noch da. Aber irgendwie... Ich mußte sie berühren, um zu glauben, daß sie real war. Und sie sah mich aus diesen seltsamen Augen an, so tiefgründig, so... mysteriös."

Er sah Micky fest an, der an seinen Lippen hing, "Du kannst versinken in diesen Augen. Und wenn du ganz tief hineinschaust ist es, als siehst du in einen tiefen Brunnen, auf dessen Grund du die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft gleichzeitig siehst. Verstehst du... ich habe ihr Leben gesehen. Ich meine das andere, das sie vorher gehabt hatte, bevor sie am Strand auftauchte. Erst habe ich es nicht verstanden - sie weiß es auch selbst nicht, glaube ich. Aber ich habe in die Zukunft - und ihre Vergangenheit - gesehen. Ich habe ein anderes Mädchen gesehen. Es hatte Ähnlichkeit mit Valleri, aber es war anders - natürlicher... und es war tot."

Eine Pause entstand.
Micky versuchte den Kloß in seinem Hals herunter zu schlucken, doch der Versuch scheiterte kläglich.

"Tot?", krächzte er tonlos.

"Ich weiß, es klingt irre, aber es ist wahr! Ich schwöre es! Sie ist in ihrer Zeit gestorben und ist hier aufgetaucht."
"Aber wieso?? Warum gerade hier?"
"Ich weiß es nicht, Micky, aber es muß eine Bedeutung haben. Vielleicht ist es eine Prüfung, oder eine letzte Chance, etwas zu erledigen, bevor..."
"Du meinst, wie das Fegefeuer, oder so?"
Davy konnte nur machtlos mit den Schultern zucken.

"Glaubst du an die Bibel?"
"Klar! ...irgendwie.", überlegte Micky.

Nach einer weiteren Pause, in der beide Männer ihren Gedanken nachhingen, setzte er hinzu: "Meinst du, ob es in dieser Prüfung um sie geht... oder um uns?"
Wieder hob Davy nur die Schultern, hielt aber in der Bewegung inne.
"Vielleicht beides. Aber es muß damit zusammenhängen, daß sie von sich selbst und ihrem früheren Leben so wenig weiß."
"Sollen wir ihr helfen?"
"In gewisser Weise, sonst wäre sie bestimmt nicht bei uns gelandet, sondern wäre auf sich allein gestellt, oder?"
"Klingt akzeptabel."

Micky stieß einen tiefen Atemzug aus und ließ den Kopf auf die Knie sinken, "Die Geschichte ist so irre, daß sie wahr sein könnte."
"Also glaubst du mir?"

Micky hob den Kopf und sah Davy fest in die Augen. Aber das genügte Davy als Antwort.
Es bedeutete soviel wie: Solange du mir nicht etwas Gegenteiliges beweist, ist das die Möglichkeit, die am wahrscheinlichsten klingt. Wenigstens bemühte Micky sich, ihm zu glauben.

"Was sollen wir also jetzt tun?", fragte er schließlich.
"So weitermachen, wie bisher. Ganz normal."
"Wenn das geht. Was ist mit Mike?"

Micky stand von der Treppe auf und hakte seinen Freund unter.
"Der wird sich schon beruhigen. Aber sei so gut und halte ihm gegenüber für den Rest des Tages die Klappe. Morgen sieht's dann schon anders aus. Nur, über das gewisse Thema solltest du erst einmal nicht mehr sprechen. Entweder fängt er selber davon an, oder das Mädchen. Abwarten heißt die Devise, okay?"
"Geht klar."

Endlich lachte Davy wieder sein sonniges Lachen, für das er bekannt war, und im Gleichschritt gingen beide zurück ins Haus.


3. KAPITEL
Early Morning Blues and Greens
oder
"Wie Mike in den Spiegel blickte"




Es war noch finster, als sie die Augen an diesem Morgen öffnete. Im ersten Moment war sie desorientiert, aber nachdem sie ein paarmal blinzelte, wurde alles klarer.
Sie fühlte die Bettwäsche um sich herum und sah, wie sich die ersten Sonnenstrahlen vorsichtig durch das Fenster tasteten.
Das Mädchen, das in dieser Welt den Namen Valleri erhalten hatte, gähnte ausgiebig und dachte bei sich, daß es noch sehr früh sein mußte. Aus den drei anderen Betten vernahm sie gleichmäßiges, ruhiges Atmen.

Leise und auf Zehenspitzen verließ sie das Zimmer. Um die anderen nicht zu wecken, verzichtete sie darauf, sich umzuziehen. Außerdem fühlte sie sich wohl in dem langen weichen Stoff, aus dem ihr Kleid gearbeitet war.

Schon von der Treppe aus konnte sie einen Blick in das untere Zimmer und auf die dort zwischen Türpfosten und Wand aufgezogene Hängematte werfen, in der Mike lag und leise auf seiner Gitarre zupfte.

Er war schon vollständig angezogen, und auch seine Mütze ruhte wieder auf seinem Hinterkopf. Man hätte meinen können, daß er sie nicht einmal zum Schlafen abgenommen hätte, wenn es nicht dieses Mal eine blaue gewesen wäre.

"Morgen!", grüßte Val freundlich, "Du bist schon wach?"
Mike blickte kaum auf.
"Sieht wohl so aus, oder?", brummte er lediglich, aber sie überhörte die Unfreundlichkeit in seiner Stimme.

"Du hättest nicht in der Hängematte übernachten müssen. Wenn du mich geweckt hättest, wäre ich nach unten gegangen und..."
"Jaja, sicher.", schnitt er ihr das Wort ab. Dann endlich hob er den Kopf und musterte sie von oben bis unten.

"Wundert mich aber, daß du nicht schon längst umgezogen bist.", bemerkte er trocken, "Man sollte meinen, ein Mädchen wie du reißt sich darum, Kleidung von Davy Jones am Leib tragen zu dürfen."

"Wieso sagst du sowas?", fragte sie mit leisem Bedauern, "Warum versuchst du, mich zu verletzen? Ich will euch Davy doch nicht wegnehmen! Ich wünsche mir doch selbst, mehr über mich und den Zweck meines Hierseins erfahren zu können"
"Jaja", winkte Mike ab, "Die Story kenne ich bereits. Kein weiterer Bedarf."

Er wandte sich wieder ab, und Valleri stand einige Sekunden allein mit sich im Raum und kämpfte mit den Tränen. Wie sollte sie auch etwas erklären, daß sie selber nicht richtig verstand, aber das irgendwie passiert war? Sie wußte soviel über die anderen, mehr als über sich selbst. Klar, daß Mike ihr das nicht abnahm.
Aber sie fing sich schnell wieder. Weinen hatte keinen Sinn, sie mußte versuchen, auf andere Weise Mike's Vertrauen zu gewinnen. Fest schritt sie auf die Hängematte zu.

"Ich möchte dir ein Angebot machen, Mike."
Die Forschheit in ihrer Stimme ließ ihn aufhorchen, und er legte sogar eine Weile die Gitarre aus der Hand.

"Ich höre."
"Ich weiß ja, daß ihr ein großes Risiko eingeht, mich hier für unbestimmte Zeit wohnen zu lassen, deshalb möchte ich auch dafür bezahlen. Da ich leider kein Geld besitze, biete ich dir an, alle Hausarbeiten zu übernehmen, und ich koche für euch. Ist das in Ordnung? Und ich schlafe ab sofort auf der Couch."

Mike ließ sich die Sache durch den Kopf gehen, und endlich deutete sich in seinen Mundwinkeln ein leichtes Zucken an.
"Gut, einverstanden."
"Dann mache ich jetzt Frühstück."

Entschlossen und zielstrebig ging sie in die Zimmerecke, in der die Spüle und der Herd standen. Als sie sich umdrehte, hatte Mike sich in der Hängematte aufgesetzt und sich wieder seinem Gitarrenspiel hingegeben. Er spielte eine leise Melodie, die ihr einen angenehmen Schauer über den Rücken laufen ließ. Sie kannte dieses Lied von früher - das erkannte sie mit einem Mal, und auch ein Teil ihrer Erinnerung kehrte wieder. Nur ein Bruchteil, aber er reichte aus, um einen Teil der Anspannung zu lösen, die sich durch das krampfhafte Gespräch um ihre Vergangenheit aufgestaut hatte.
Während sie das Geschirr aus dem Schrank nahm, um es auf dem Eßtisch zu verteilen, sang sie leise die Melodie mit.


"They told me what you do
If I'd ever stay with you
They told me that you'd laugh
While I cry..."
Ihre Singstimme war hell und klar, nicht so krächzend und unausgereift wie früher. Es machte ihr Spaß, sich selbst zuzuhören.
Sie war so fasziniert von dem neuen Klang ihrer Stimme, daß sie gar nicht merkte, daß Mike aufgehört hatte zu spielen.

"Woher kennst du dieses Lied?", fragte er durchdringend und mit einem Anflug von Unsicherheit.
"Du hast es die ganze Zeit gespielt.", gab sie überrascht zurück, "Die Melodie fand ich so schön, daß ich sie mir gemerkt habe."
"Nein.", Mike schüttelte den Kopf, "Ich meine den Text. Woher kennst du den Text?"
"Was?", Valleri verstand nicht sofort.
"Du hast den Text mitgesungen, aber ich habe bis jetzt noch niemandem den Text gezeigt, weil er bis heute noch nicht fertig war. Also, wie kommst du dazu?"

Val konnte nur die Schultern heben - sie wußte die Antwort nicht, und selbst wenn, hätte Mike ihr nicht geglaubt. Sie versuchte das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken.

"Es ist so traurig."
"Was?", fragte er.
"Das Lied. Du schreibst manchmal so... schwermütige Songs."
"So fühle ich nun mal."
Mike war wieder kurz davor, sich zu verschließen, also versuchte sie etwas anderes.

"Mike, kann ich dich etwas fragen?"
Ein gleichgültiges Schulterzucken war die Antwort.
"Warum trägst du eigentlich die Pudelmütze? Was für eine Bedeutung hat sie?"
Doch jetzt verschloß sich Mike vollends, "Keine Ahnung. Warum fragst du?"
"Nun, weil ich... irgendwie erinnere ich mich daran, daß ich auch eine getragen habe, bevor ich am Strand..."

"Hör auf damit!", fuhr sie Mike so unvermittelt an, daß sie zusammenfuhr, "Fang jetzt nicht schon wieder mit diesem Blödsinn an! Warum versuchst du mit aller Gewalt an dieser dummen Geschichte festzuhalten? Hältst du mich für so bescheuert?!"
"Nein!" Val war den Tränen nahe, "Ich will dich nicht hochnehmen. Ich würde es doch nicht erzählen, wenn es nicht wahr wäre! Alles was ich will ist, daß wir Freunde werden, und daß du mir vertraust, so wie ich dir vertraue! Ich habe mir nichts sehnlicher gewünscht, als einmal hier zu sein, bei euch, aber du gibst mir nicht einmal eine Chance! Meinst du, es ist leicht für mich zu wissen, daß meine Vergangenheit, eure Zukunft ist, und daß ich eigentlich gar nicht hierhergehöre?!"

"Ach, Blödsinn! Davy nimmt dir vielleicht diesen Quatsch ab, weil er verknallt in dich ist, Micky findet sowieso jede Story gut, die genauso abgedreht ist wie er, und Peter ist naiv genug, alles zu glauben, was man ihm auftischt, aber ich stehe auf dem Boden der Tatsachen!!"

"Kaum zu glauben, daß das aus deinem Munde kommt.", preßte sie leise hervor, "Kaum zu glauben, daß du derselbe Mensch bist, der diesen wundervollen Text geschrieben hat. Dieses Lied mochte ich immer besonders gerne, weil es in wenigen Worten genau das aussagt, was mich mein Leben lang gequält hat. Ich dachte, wenigstens du verstehst mich. Da habe ich mich wohl getäuscht."

Sie schlug die Hand vor die Augen. Sie wollte nicht, daß er sie weinen sah.
"Was meinst du damit?", fragte Mike. Er war ruhiger geworden, und es tat ihm leid, daß er das Mädchen so angefahren hatte. Es schien ziemliche Probleme zu haben, die sie nicht allein bewältigen konnte. Wahrscheinlich hatte es sich deswegen in diese Geschichten geflüchtet. Aber Mike wollte ihr helfen. Er legte behutsam die Hand auf den Arm des Mädchens und redete sanft auf sie ein.

"Was quält dich? Erzähl es mir, ich höre diesmal zu."
Doch Valleri stieß ihn von sich weg und lief in entgegengesetzter Richtung zur Hintertür.
"Vergiß es, du glaubst mir ja doch nicht!"

Zum Strand! war ihr einziger Gedanke. Weg, nur weg von hier! Einfach laufen und Abstand gewinnen.

Aber als sie den großen Spiegel in der Diele passierte und zufällig einen Blick hineinwarf, erstarrte sie vor Schrecken. Ein schriller Schrei entfuhr ihrer Kehle, und die Knie wurden ihr weich.

Von dem Schrei überrascht steckte Mike den Kopf zur Diele heraus.
"Was...?", doch die Frage erstarb im Ansatz. Sein Blick fiel auf Valleri, wie sie zusammengekauert auf dem Boden hockte, das Gesicht in den verschränkten Armen und seltsam weinend und wimmernd.
Diese Situation machte selbst ihm Angst, und mit drei Schritten war er bei ihr, um sie zu beruhigen.

"Hey... was ist denn? Was ist los? Beruhige dich doch."
Aber sie schien ihn nicht wahrzunehmen. Manchmal war Mike so, als verstünde er einzelne Satzfetzen, aber sie ergaben keinen Sinn.

"Gott - nein - das bin... bin ich! Nein! Nein! Nein! Geht nicht ...das... kann nicht sein..."

Mike sah keine andere Möglichkeit, sie zur Besinnung zu bringen, als sie zu schütteln. Solange, bis sie den Kopf hob und starr und angsterfüllt an ihm vorbei starrte.

"Ich hab's nicht so böse gemeint vorhin", versuchte er es noch einmal mit beruhigenden Worten, "Was..."
Doch urplötzlich stand sie auf und stolperte fluchtartig davon, zum Strand hinunter. Das alles ging so wahnsinnig schnell, daß Mike erst begriff, was geschehen war, als Valleri schon längst weg war.

Verwirrt stand er auf, kratzte sich am Kopf und sah stumm in Richtung Tür, die noch offen stand. Er wußte nicht, was er von diesem Anfall halten sollte. Sollte er ihr nachlaufen, oder sie in Ruhe lassen, bis sie sich von selber beruhigt hatte?

Kopfschüttelnd schloß er die Tür und wollte zurück zur Küche gehen, als er sich umdrehte und sein Blick auf den Spiegel fiel.

Es war, als hätte ihm jemand einen nassen Lappen ins Gesicht geschlagen. Er erstarrte in der Bewegung.
"Jesus...", stammelte er.
Das, was er im Spiegel sah, war so unglaublich wie erschreckend zugleich, denn es war genau das Bild, das Davy ihm am Vortag versucht hatte zu beschreiben - das Bild, das er in Valleri's Augen gesehen hatte. Und wenn man zulange hineinsehen würde, würde man darin versinken und sich verlieren, so real wirkte es.

Man blickte von schräg oben in einen engen, kabinenähnlichen Raum, der ehemals weiß gewesen sein mußte, aber die drei sichtbaren Wände waren mit Schriftzügen aller erdenklichen Arten und Farben versehen, die so tiefsinnige Botschaften wie "Jesus war hier" oder "Nicht alles, was zwei Backen hat, ist ein Gesicht" beinhalteten.
In der Ecke unten links gähnte einem der Schlund eines Wasserklosetts entgegen, bei dem die Sitzbrille gänzlich fehlte und der Spülkasten eingedrückt war, so daß ständig Wasser durchlief, das sich nicht abstellen ließ. In dem engen Freiraum zwischen Tür und Klo lag in sich zusammengesunken eine Gestalt - ein Mädchen, das Valleri auf seltsame Weise ähnelte. Nur sie wirkte irgendwie realer, aber gleichzeitig gewöhnlicher. Mike glaubte nicht, daß sie ihm aufgefallen wäre, wenn er ihr auf der Straße begegnet wäre. Ihr rundliches Gesicht wirkte wie schlafend, die olivgrüne Pudelmütze war verrutscht, aber ein Detail machte Mike sofort klar, daß das Mädchen nicht schlief.

Aus dem Handgelenk ihres rechten Armes, der erschlafft über ihrem Körper hing, tropfte frisches Blut dunkelrot auf ihre hellbeige Jeanshose und hinterließ dort eine dunkle Lache, die sich bis auf den Kachelboden ausbreitete.
Mike wurde blitzartig klar, daß dieses Mädchen Valleri - oder wie immer sie auch in ihrer Welt und Zeit heißen mochte - sein mußte. Und daß sie deshalb so geschockt war, als sie sich selbst im Spiegel sah.
Zwar hatte sie es irgendwie im Unterbewußtsein geahnt, aber das Ausmaß ihres jetzigen Schicksals war ihr erst in dieser Sekunde bewußt geworden.

Und Mike verstand auch, warum sie sich vorhin nicht hatte beruhigen können. Ihm selbst stockte noch der Atem von dem Anblick, und wenn er sich vorstellte, er würde sich selbst irgendwie verändert und tot auf der anderen Seite des Spiegels sehen - da wurde ihm ganz anders. Ihm schwirrte jetzt schon der Kopf, und er zwang sich, den Blick vom Spiegel zu nehmen.
Erst jetzt merkte er, daß er die ganze Zeit über den Atem angehalten hatte, und er holte hechelnd Luft.

"Was ist denn hier los? Kann man denn nicht mal am Wochenende ausschlafen? So ein Radau!"
Auf der Treppe erschien Peters müdes Gesicht, die Augen noch halb geschlossen. Aus seiner Halbtrance gerissen wirbelte Mike zu ihm herum, fummelte nach Worten.

"Da... Da war...", fahrig deutete er auf den Spiegel, doch als er jetzt hineinsah, war nur sein eigenes verschrecktes Gesicht darin zu sehen und seine zittrige Hand, die auf sich selbst zeigte.
"Was war, Mike?", gähnte Peter ohne Interesse, und Mike räusperte sich leise, wobei er sich mit der Hand durch das Haar fuhr.
"Nichts... Da war nichts, Peter. Schon gut, geh wieder schlafen, ich werde keinen Lärm mehr machen."
"Schlafen? Du bist gut...", murmelte Peter zurück, doch Mike nahm ihn schon gar nicht mehr wahr.

Er war bereits auf dem halben Weg nach draußen.
Zum Strand.
Er wollte - mußte - Valleri zurückholen, oder zumindest finden, um ihr zu sagen, was er gesehen hatte.

Er mußte gar nicht lange suchen, sie lag zusammengekauert am oberen Abschnitt des Strandes neben einem vertrockneten Strauch. Es schien, als schlafe sie, und im ersten Moment erschrak Mike, da es fast so aussah, wie das Bild im Spiegel. Aber als er nähertrat sah er, daß ihre Augen geöffnet waren, aber sie wirkte, als wäre sie gedanklich an einem weit entfernten Ort.

"Ach, hier bist du...", begann er linkisch, und dementsprechend antwortete sie auch: "Ja, bin ich wohl."

"Hm...", machte Mike verlegen und setzte sich zu ihr in den Sand. Er räusperte sich. Viele Gedanken schwirrten ihm durch den Kopf. Viele Was', Wies, Wers und Warums, aber schließlich sagte er nur leise: "Erzähl mir von dem anderen Leben."
Sie schnaubte verächtlich, "Ach, auf einmal! Hältst du mich für verrückt, nur weil ich vorhin so ausgeflippt bin? Willst du mich veralbern? Das kannst du ja so gut... Leute veralbern."
"Nein, bestimmt nicht!", warf er beinahe entrüstet ein, "Val, ich...ich habe es auch gesehen! Das Bild im Spiegel. Das...das warst du, oder?"

Erstaunt setzte sie sich auf und sah ihn schüchtern an, "Du hast es auch gesehen? Wirklich?"
"Ja, wirklich. Ich wollte dich nicht verletzen, aber es ist doch irre! Wer würde so eine Geschichte schon glauben?"
Sie nickte, "Ich hab's ja selbst kaum geglaubt... bis eben...", sie fing wieder an zu schluchzen, "..ich begreife das nicht. Wie?! Was mache ich hier? Ich bin doch tot, oder? Ist dies der Tod?"

Tränen liefen ihr über die Wangen, und Mike ließ sie ihren Kopf an seine Brust legen und hielt sie einfach nur fest.
"Es ist alles so verwirrend. Ich bin mir gar nicht mehr sicher, wer ich eigentlich bin!", begann sie leise, als sie sich einigermaßen wieder gefaßt hatte. Mike ließ sie einfach nur reden, er spürte, daß sie erst einmal das Geschehene irgendwie verarbeiten mußte. Er konnte ihr im Moment sowieso nicht helfen, aber er konnte zuhören.

"Ich meine, ich weiß doch genau, daß ich ich bin, aber dieses Ich im Spiegel... es ist so anders, und trotzdem ist es ich - war ich.", sie holte Atem, "Im Inneren... es ist plötzlich, als sei mein Innerstes plötzlich nach außen gekrempelt. Was soll ich nur tun?"
"Ich weiß es nicht.", entgegnete Mike sinnend, "Aber es muß einen Grund geben, wieso du hier bist. Jetzt hast du einen Teil deiner Erinnerung an dein früheres Leben wieder, vielleicht..."

Doch sie schüttelte heftig den Kopf und unterbrach ihn auf diese Weise.
"Nein. Ich will mich nicht mit dem befassen, was ich zurückgelassen habe. Das geht mich nichts mehr an. Es gab mehrere Gründe, weshalb ich mein letztes Leben beendet habe, und ich will auf keinen Fall zurück. Niemals!"

"Aber...", Mike war erschüttert, "...wieso denn nicht? Du warst - bist - doch noch dieselbe, das hast du selbst gesagt; nur daß du ein wenig anders aussiehst. Was hindert dich also...?"
"Ich will darüber nicht reden. Ich will nicht einmal darüber nachdenken. Mein anderes Leben ist beendet, und das ist gut so. Ich fühle mich hier und jetzt viel wohler."

"Das verstehe ich nicht", er schüttelte den Kopf, daß seine Haartolle flog, "Du darfst dich nicht vergessen, sonst bist du als Mensch verloren."
"Was weißt du schon über mich?!", fuhr sie Mike an, "Es gab nichts Sinnvolles in meinem Leben - ich haßte es! Ich haßte mich! Ich war ein Versager, ein Tagträumer - ein Spinner! Ich glaubte, die Welt allein durch Gedankenkraft verändern zu können. Und als ich merkte, das es nicht funktionierte, hat mich das innerlich so zerfressen und einsam gemacht, daß ich es nicht mehr aushielt! Von keinem verstanden zu werden, von niemandem wahrgenommen zu werden... das kennst du gar nicht."

"Meinst du?", erwiderte er ruhig und sah ihr fest in die Augen, "Bevor ich zu Micky, Davy und Peter kam, kannte auch mich niemand. Ich habe zwar Musik gemacht, doch kaum jemand wollte sie hören. Auch ich galt seit meiner Schulzeit als Versager."

Valleri schlug die Augen nieder, während Mike weiter sprach. "Du hast mich vorhin gefragt, wieso ich die Mütze trage. Nun, ich habe sie getragen, um aufzufallen... um den Leuten irgendwie im Gedächtnis zu bleiben.", er atmete aus, "Du bist nicht der einzige Mensch auf der Welt, der zweifelt."

Während ihres Ausbruchs war Valleri angespannt gewesen. Sie hatte versucht, sich an ihren Worten festzuhalten. Ihre Gesichtszüge waren hart und wie ein Funkeln gewesen. Jetzt sank sie wieder in sich zusammen.
"Ich war ein unbedeutender Niemand, immer nur Mittelmaß. Jahrelang habe ich mir einzureden versucht, daß gerade meine Schwächen mich einzigartig machen. Aber die Welt akzeptiert einen nicht, wenn man anders ist. Und ich wollte doch nur akzeptiert werden!
So, wie du mich jetzt siehst, wollte ich immer sein. So sah ich mich in meinen Träumen. Das will ich nicht wieder hergeben. Jetzt erst sehe ich die Welt in ihrer ganzen Herrlichkeit - und ich bin selbst Teil davon! Es ist perfekt, ich kann alles tun, was ich will: Singen, Tanzen, Zeichnen, Schreiben - ich muß es nur wollen! Und ich kann ausgelassen sein, ohne mir ständig den Kopf darüber zu zerbrechen, was die anderen über mich denken. Und sie benutzen nicht meine Schwächen gegen mich."

Mike hatte die ganze Zeit resigniert geschwiegen, nun ergriff er die entstandene Pause, "Haben sie das getan? Deine Schwächen gegen dich benutzt?"
"Ja. Immer wenn ich gerade zu einem Menschen so viel Vertrauen gefaßt hatte, daß er mich dazu brachte, ihm meine geheimen ngste anzuvertrauen, hat er sich in der nächsten Sekunde umgedreht, und es gegen mich benutzt."

Mike war empört, "Das ist unglaublich!"
Valleri nickte fast unmerklich, "Und auch wenn sich das alles wie die ganz alltäglichen kleinen Problemchen von fast jedem anhört, hat es mich so fertig gemacht - innerlich so zerrissen - daß ich es nur zu gern gegen das hier eintausche. Hier will ich leben. Das ist mein Traum. Meine Lieblingszeit, die 60er. Mit ihrer Musik, ihrem Gefühl, ihrer Lebenseinstellung, aber an erster Stelle eben die Musik. Das ist das Wahre - das einzig Wahre für mich."

Mike wollte ihr noch vieles entgegnen, ihr anderes klarmachen, sie versuchen umzustimmen, doch er ließ es bleiben - vorerst. Er spürte, daß es noch zu früh war. Sie mußte erst eine Weile ihren Traum erleben, bevor sie aufnahmefähig für anderes wurde - und diesen Traum wollte er ihr gewähren, denn er kannte dieses Gefühl nur zu gut.
Jeder Mensch hatte ein Anrecht auf seinen Traum, ob er nun wahr würde oder nicht. Im Moment wollte er nur, daß sie glücklich war, und es schmeichelte ihm, daß er ein Teil ihres Traums war.

Fast eine Viertelstunde saßen beide noch am Strand, fühlten die warmen Sonnenstrahlen und ließen den Sand durch ihre Finger rieseln, während sie ihren Gedanken nachhingen, bis Mike schließlich aufstand.
"Komm, laß uns wieder reingehen. Ich habe Lust auf Frühstück."

Er kniff die Augen zusammen, um nicht in die Sonne zu blicken und verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen. Wie sie ihn so leicht gequält dastehen sah, mußte Valleri lachen. Es war ein befreites Lachen.
"Okay, bevor du mir vom Fleisch fällst."
"Seh ich denn so aus?", fragte er entrüstet zurück und half ihr auf.
"Kein Kommentar.", sie lächelte spitzbübisch, als sie ihn von der Seite musterte.

Auf dem Weg zurück zum Strandhaus, fiel Mike noch etwas ein, daß er halb scherzhaft sagte, um Valleri nicht wieder zu betrüben.
"Eine Frage habe ich noch. Wenn du so wild auf die Musik der 60er bist, warum bist du dann zu uns gekommen und nicht zu den Beatles?"

Sie dachte einige Sekunden darüber nach und sagte dann mit einer seltsamen Melancholie in der Stimme: "Ich glaube, dort bin ich schon gewesen."


In der Küche des Strandhauses bot sich ihnen ein komischer Anblick.
Wie zwei Schluck Wasser hingen Peter und Davy am Küchentisch. Peter gähnte herzzerreißend als Mike und Val hereintraten, und Davy's Kopf hing zwischen seinen aufgestützten Armen. Die Augen von beiden waren noch halb geschlossen - Micky war noch gar nicht unten aufgetaucht.

Es war ein Bild des Jammers, aber so köstlich komisch, daß Val laut loslachen mußte, und sie steckte damit auch Mike an, der es allerdings vorzog, zurückhaltend zu lächeln.
"Was geht denn hier ab? 'Ne Pyjama-Party?"

Als Antwort ließ Peter den Kopf in den Nacken fallen und schnarchte lauthals.
"Danke, für's Gespräch", lachte Val, "Ich sehe schon, ihr braucht 'nen Koffein-Schub."

Während sie das Wasser für den Kaffee aufsetzte, bereitete Mike das Frühstück vor. Von Peter und Davy war erstmal noch keine Hilfe zu erwarten, sie kämpften noch gegen den Schlaf.

"War wohl 'ne lange Nacht gestern?", fragte Val beiläufig, während sie den dampfenden Kaffee vom Herd nahm, woraufhin nur ein dumpfer Aufschlag zu hören war. Verwundert drehten sich Val, Mike und Peter um. Davy's Kopf war stirnvoraus auf den Tisch gesunken.

"Autsch.", war der emotionslose Kommentar, den er dazu abgab. Dann deutete er mit dem Finger auf die vor ihm stehende Kaffeetasse, "Volltanken."
Damit war das Eis gebrochen. In ausgelassener Stimmung begannen sie zu frühstücken. Mike warf jedem ein Brötchen zu, das derjenige mehr oder weniger geschickt auffing.

"Was ist mit Micky?", fragte Val besorgt, als sie sah, daß nur noch zwei Brötchen übrig waren und Davy nach dem vorletzten griff.
"Was soll mit ihm sein?", fragte er kauend zurück.
"Sollten wir ihn nicht wecken?"
"Na, dann versuch's mal", grinste Peter, "bin gespannt, ob du's schaffst."

Val verzog fragend die Augenbrauen, stand aber trotzdem auf, um zur Treppe zu gehen. Oben klopfte sie zaghaft an die Tür, als aber keine Antwort kam, klopfte sie kräftiger.
"Micky?" Nichts.
"Micky, bist du wach?" Nur ein dumpfes Brummen drang durch die Tür.
"Steh auf, wenn du Frühstück willst. Es ist fast nichts mehr da!"

Er murmelte irgendetwas Unverständliches, und das Rascheln seines Bettzeugs war zu hören, als wenn er sich auf die andere Seite umgedreht hätte.
"Dann nicht."

Schulterzuckend hüpfte sie die Treppe herunter und setzte sich zurück an den Tisch. Aber als Micky nach weiteren fünfzehn Minuten immer noch keine Anstalten machte, aufzustehen, rief sie lauthals: "Micky! Steh endlich auf, es ist schon fast Mittag!!"

Erwartungsvoll starrten nun alle vier nach oben, doch das Einzige, was den Weg nach unten fand, war ein Kopfkissen, das vom oberen Stockwerk auf den Fußboden platschte.

"Sehr witzig.", meinte Mike trocken und räumte den Tisch ab. Die anderen schlossen sich ihm an.
"Hey, was soll das? Wo ist mein Frühstück?", erklang plötzlich hinter ihnen eine Stimme. Micky hatte sich nun endlich dazu bequemt, das Bett zu verlassen. Er war bereits fertig angezogen und sah auch sonst recht munter aus.

"Gibt's nicht. Ein Rudel Wölfe war schneller.", bemerkte Peter wenig sensibel.
"Aber Kaffee ist noch da.", bot Val an.
"War er so schlecht?", stichelte Micky, setzte sich aber doch an den Tisch. Val goß ihm eine Tasse ein, "Trink das."

"Ist das eine Drohung?" gespielt ängstlich wanderte Micky's Blick immer wieder von der Tasse zu Valleri und wieder zurück. Trotzdem setzte er die Tasse an die Lippen und nahm einen tiefen Schluck. Erst blieb sein Gesicht völlig ausdruckslos.

"Ich ahne, was jetzt kommt.", stöhnte Mike. Dann ging es auch schon los. Micky verdrehte die Augen in alle möglichen und unmöglichen Richtungen, und verkrampfte sein Gesicht zu immer neuen Grimassen, wobei er seltsam grunzende Laute von sich gab.

"Seine Werwolfnummer?", fragte Davy mäßig interessiert
"Seine Werwolfnummer.", bestätigte Peter.

Valleri beobachtete das Ganze zwar distanziert, aber interessiert. Micky holte alles aus sich heraus. Er schüttelte sich, fuhr sich mit den Händen durchs wirre Haar und über das Gesicht, stand vom Tisch auf und krümmte sich. Es sah aus, wie ein wilder Regentanz. Dazu heulte er wie ein getretener Hund bei Vollmond, kläffte und winselte.
Die anderen blieben ungerührt - sie kannten das schon. Micky zog die Nummer immer wieder gern ab, bevorzugt dann, wenn er jemanden beeindrucken wollte. Er heulte noch einmal langgezogen und steinerweichend, dann brach er urplötzlich ab.
Als sei nichts gewesen, setzte er sich zurück an den Tisch und grinste schelmisch.

"Danke", gab Valleri verdattert von sich, "das war das beste Kompliment, das ich je für meinen Kaffee bekommen habe."
Davy prustete los.

Die ausgelassene Stimmung wurde jäh durch die Türklingel unterbrochen. Mike erstarrte, "Verdammt! Wenn das nun..."
Peter war bereits an der Tür und spähte durch den Spion. "Es ist Mr. Babbit."
"Der Hauswirt?", fragte Valleri.
"Ja, wenn er dich hier sieht..."
Valleri nickte und beruhigte Mike mit einem Lächeln, "Ich gehe solange nach oben."

Erst als sie oben hinter der Schlafzimmertür verschwunden war, kam Peter dem Sturmklingeln nach und öffnete die Tür.
Alle vier setzten gleichzeitig ein in Beton gegossenes Lächeln auf und ergaben sich dem tadelnden Wortschwall ihres Hauswirts.

Oben legte Val lauschend die gespitzten Ohren an die Tür, Satzfetzen wie "...sage ich euch zum letzten Mal... keine Haustiere erlaubt... sonst fliegt ihr raus!" flogen herum, während eine Stimme, die Val als Davy's erkannte, erklärend auf den anderen einzureden versuchte.

Valleri öffnete die Tür einen kleinen Spalt breit, um besser hören zu können. Jetzt ergriff Mike das Wort.
"Ich versichere Ihnen, Sir, wir haben kein Haustier hier versteckt, wir hatten nie eins und werden auch keines bekommen. Das war nur Micky, der..."
Aber er wurde augenblicklich von dem bellenden Mr. Babbit unterbrochen: "Diese Geschichte könnt ihr jemand anders erzählen! Ich weiß, was ich gehört habe, und wenn der Köter nicht bis heute Abend verschwunden ist, könnt ihr euch eine andere Bleibe suchen! Endgültig!!"

Dann knallte die Haustür zu, so daß Valleri oben zusammenzuckte.
Während Davy und Peter zu kichern anfingen, bemühte Mike vollen Ernstes, Micky eine Standpauke zu halten.
"Wann hörst du endlich mit diesem Werwolf-Quatsch auf? Wenn du so weitermachst, fliegen wir wirklich noch mal auf die Straße!"

Aber dann konnte auch er nicht mehr ernst bleiben und lachte leise.
"Kein Kaffee mehr für dich!"


4. KAPITEL
The Crippled Lion
oder
"Wie das Kartenhaus zusammenbrach"




"Sag mal, was hast du eigentlich mit deinen Haaren angestellt?"
Val tippte gespielt angeekelt auf die an den Kopf geklatschte Haarpracht Micky's. Es sah aus, als hätte er versucht, sie mit Schmierseife möglichst glattzustriegeln.
"Wieso? Gefällt's dir nicht?"
"Nicht besonders. Was hast du gemacht?"
"Ach, es ist zu blöd."
Auf einmal war Micky sehr verlegen, aber nachdem Valleri ihn bittend ansah, rückte er heraus mit der Sprache.

"Gestern Abend waren wir noch auf einer Party..."
"Deshalb ward ihr heute morgen so munter.", bemerkte Val. Micky nickte und fuhr fort: "Und irgendwie kam ich auf die irre Idee...also..."

Er fingerte auf eine für ihn so untypische Weise nach Worten und fuhr sich dann kurzerhand ein paar mal mit beiden Händen durch die Haare. Dabei sah Val, daß sie keineswegs klebten, sondern nur fest angebürstet gewesen waren. Jetzt wurden Locken sichtbar, die wild von seinem Kopf abstanden.
Er sah aus wie ein mißglückter James-Brown- Verschnitt.

"Nett."
Das Grinsen in ihrem Gesicht wirkte wie eingewachsen. Micky sah sie gequält an, "Ist es so schlimm?"
"Hm", sie räusperte sich, "Wie besoffen warst du?"
"Haha!", machte er genervt, überlegte kurz und setzte dann trotzig hinzu: "Mir gefällt's."
"Ja, es hat etwas.", gab auch Val schließlich zu, "Es paßt zu dir, und...", sie machte eine Kunstpause, "...und du mußt dich ab sofort für deine Werwolf-Imitation nicht einmal verkleiden!"

Geschickt wich sie seiner Faust aus und rannte zur gegenüber liegenden Zimmerecke.
Plötzlich hielt sie inne und keuchte. Erstaunt sah Micky sich zu ihr um. Er dachte, sie machte Scherze, indem sie seine Werwolfnummer imitierte, doch als er sie sah, war sie erblaßt und ihre Augen blickten starr. Sie hielt ihren Hals umklammert und war auf die Knie gesunken.

"Hey, was ist los...?"
Mit einem Satz war er bei ihr, versuchte sie zu stützen wußte aber nicht so recht, was er tun sollte. Val rang nach Luft und schien zu ersticken.

"Was soll ich tun... MIKE!!", schrie Micky laut.
Aber als Mike vom oberen Stockwerk hinuntereilte, war schon wieder Farbe in Valleri's Gesicht zurückgekehrt.
Unter heftigem Husten bemühte sie sich, Micky klarzumachen, daß alles in Ordnung sei und sie keine Hilfe brauchte.

"Meine Güte, was ist denn? Micky, warum hast du so geschrien?"
Mit Mike waren auch Davy und Peter die Treppe herunter- gekommen. Micky hatte es die Sprache verschlagen, er konnte nur hilflos die Schultern heben.

Val winkte mit einer Hand ab und stand auf. Sie war noch etwas wacklig auf den Beinen, tat aber so, als sei es nicht von Bedeutung.
"Es ist nichts", ihre Stimme klang etwas belegt, "Alles okay, ich...ich habe mich nur...verschluckt."
"Ist wirklich alles in Ordnung?", hakte Mike nach, und Val nickte. Aber sie sah ihm nicht in die Augen dabei.

Während Mike und Peter zurück nach oben gingen und Val sich in die Küche zurückzog, in der sie einen Kuchen backen wollte, nahm Micky Davy beiseite.
"Von wegen, alles in Ordnung!", flüsterte er aufgebracht.
"Was meinst du?"
"Pst!", schalt Micky seinen Freund, leiser zu sprechen, "Du wirst es nicht glauben. Auf einmal bricht sie zusammen, und als ich bei ihr war, da...", er stockte und fing noch einmal an, "Davy, es hat ausgesehen, als sei sie durchsichtig! Sie hat sich vor meinen Augen fast aufgelöst!"

"Du machst Scherze!" Davy riß die Augen auf.
"Sehe ich aus, als würde ich darüber Scherze machen?", zischte Micky ihn an, "Ich bin doch nicht blind! Würde ich sonst so schreien?"

Davy sah ihn schief an, und Micky verbesserte sich, "Okay, schlechtes Beispiel, aber es stimmt! Ich habe dir auch geglaubt, als du mir diese verrückte Sache erzählt hast. Jetzt mußt du mir glauben! Ich konnte durch sie hindurch die Couch sehen!!"
"Ja, ist ja gut. Beruhige dich.", Davy legte ihm die Hand auf die Schulter, "Aber was willst du jetzt tun?"
"Tun? Keine Ahnung, was tut man in einem solchen Fall?"
"Sagen wir's Mike?"
"Nein!", fauchte Micky sofort, "Nein, wir warten erst mal ab. Vielleicht war's ja ein Einzelfall."
"Und wenn nicht?"
Auf diese Frage konnte Micky ihm keine Antwort geben, selbst wenn er gewollt hätte.

Eine Stunde später rief Valleri allen zu, daß der Kuchen fertig sei.
"Warm schmeckt er am besten.", behauptete sie und biß sofort in das erste Stück. Doch das war nicht so ratsam gewesen.
"Ha-ha-haisch!", machte sie verzweifelt, während sie sich erfolglos kalte Luft in den Mund fächelte.
"Heiß?", fragte Peter schmunzelnd. Inzwischen hatte Val das Stück mit einem Becher kaltem Wasser herunter gespült und atmete erleichtert durch.

"Geringfügig. Okay, es kann gegessen werden.", beschloß sie und tat jedem ein Stück Kuchen auf, "Davy bekommt zwei, er muß schließlich noch wachsen."
"Haha!", machte Davy gereizt, nahm es ihr aber nicht übel. Jeder machte Scherze über seine Größe.
"Mach keine Witze über ihn!", fiel Peter ein, "Er war mal Jockey!"
"Was ist passiert? Ist ein Pferd auf dich gefallen?", trieb Micky den Scherz auf die Spitze.

"Was ist das für ein Kuchen?", lenkte Mike das Thema ab.
Val zuckte mit den Schultern, "Keine Ahnung, eine eigene Kreation."
"Iiieh!", zahlte Davy es ihr zurück, "Ich esse nichts, was nicht aus der Dose kommt."
"Moment, ich hole eine."

Aber anstatt die angekündigte Dose zu holen, rannte sie in die Küche und nahm etwas aus dem Kühlschrank, das sie vorerst in ihrer Rocktasche versteckte. Dann schlich sie sich von hinten an Micky heran. Verschwörerisch legte sie den Finger an die Lippen, und die anderen taten, als sehen sie nichts. Gerade als Micky in seinen Kuchen beißen wollte, griff sie mit beiden Händen in seinen Lockenkopf und wuschelte kräftig darin herum.

"Hey!", empörte sich der Angegriffene und haschte nach der Übeltäterin. Val lachte und quietschte vor Vergnügen, als er sie am Flüchten hinderte und sie zu sich zog, bis sie halb auf seinem Schoß hing.

"Was ist so komisch?", Micky bemühte sich, ernst zu klingen, was ihm nur mühsam gelang. Schließlich schaffte Valleri es, zwischen den Lachsalven hervorzupressen: "Ein Ei! Ich habe ein Ei gefunden!"

Dabei hielt sie triumphierend das Ei, das sie kurz vorher aus dem Kühlschrank geholt hatte, in die Luft. Jetzt fielen auch Davy und Peter in das Lachen mit ein. Mike zog es vor, verstohlen grinsend an seinem Kuchen zu knabbern. Und Micky, der hin- und her gerissen war zwischen beleidigt sein und sich köstlich amüsieren begann Valleri - aus Rache - von oben bis unten abzukitzeln.
Aber obwohl sie Mühe hatte, dazwischen überhaupt noch Luft zu bekommen, schaffte sie es dennoch immer wieder "Ein Ei! Ein Ei im Nest!" zu rufen.

"Jetzt ist gut, Micky.", meinte Mike, "Laß sie los, sie ist ja schon ganz rot im Gesicht."
"Danke!", japste Val, immer noch kichernd, "Das war Rettung in letzter Sekunde, Mike."
"Stets zu Diensten.", er deutete eine schiefe Verbeugung an.
"Zur Belohnung darfst du mir abwaschen helfen."
"Oh danke, welche Ehre!"
Voller Enthusiasmus griff Valleri nach den Tellern, "Na los, Männer, keine Müdigkeit vorsch..."

Unvermittelt stockte sie. Mit einem Schlag war die ganze Fröhlichkeit aus ihr gewichen, und sie hatte wieder diesen seltsamen Ausdruck einen verschreckten Kaninchens in den Augen.

"Was ist? Was hast du?", fragte Mike sofort.
"N-nichts... es...geht...schon wieder..."
Aber es ging nicht. Nachdem sie keine zwei Schritte gegangen war, brach sie zusammen. Sie riß den Stapel Teller mit sich, die laut auf dem Boden zerschepperten, doch keinen kümmerte es. Fast gleichzeitig sprangen alle vier auf, um zu ihr zu eilen.

"Was ist mit ihr?", fragte Peter tonlos.
"Wie ist das passiert?", fügte Davy überflüssigerweise hinzu.
"Ich habe keine Ahnung!", Micky flehte es beinahe, "Sie ist einfach umgefallen, wie vorhin..."
"Was sagst du da?", brauste Mike auf, "Das ist schon mal passiert, und du sagst es erst jetzt?! Was ist, wenn es jetzt schon zu spät ist?"
"Brüll ihn nicht so an, Mike, dadurch wird es auch nicht besser. Wir müssen ihr helfen!"
"Sonst bekommt er den Mund nicht zu, aber wenn's drauf ankommt... Oh mein Gott, seht ihr das auch?", er keuchte geschockt, und Davy antwortete für ihn.

"Sie wird blasser... nein - sie löst sich auf! Was ist das?!"
Es klang, als glaubte er es selbst nicht, obwohl er es sagte.

"Wir müssen etwas tun!", schrie Micky dazwischen.
"Was denn?!", brüllte Peter zurück.
"Auf die Couch!", befahl Mike, "Legen wir sie erstmal auf die Couch."

Davy griff dem bewußtlosem Mädchen behutsam unter die Arme, fast so als befürchte er, durch sie hindurch zu fassen, wenn er nicht aufpaßte. Mike hob sie an den Beinen hoch, und gemeinsam trugen sie sie in die Fernsehnische.

"Peter, hol Decken und ein Kissen von oben.", wandte sich Mike an ihn, während er und Davy Valleri auf die Couch betteten, und Peter zischte los.
Micky schlich wie eine gefangene Raubkatze hin und her und nagte an seinen Fingernägeln.
Peter kam mit den Decken und dem Kissen wieder, und sorgfältig wurde Val eingepackt.

"Sie ist so heiß", sorgte sich Davy, "Ob es gut ist, wenn sie so zugedeckt ist?"
"Ich weiß es nicht...", gab Mike müde zu, "...aber ich weiß nicht, was wir sonst tun sollen."
"Sollten wir nicht einen Arzt holen?", ließ sich vorsichtig Micky vernehmen, doch Mike fuhr ihm über den Mund: "Und was soll der tun? Ich glaube, es gibt keine Therapie gegen Durchsichtigwerden, oder was immer hier mit ihr passiert!"
"Hör endlich auf, Micky fertigzumachen!", Davy fuhr sich mit beiden Händen durch das Haar, "Ich halte das nicht mehr aus. Ich muß hier raus!", und bevor jemand noch etwas sagen konnte, war er auch schon zur Tür raus.

Peter saß stumm auf der untersten Treppenstufe, Micky stand neben ihm, verängstigt dreinblickend. Mike war am Ende. Er konnte nicht mehr so tun, als sei er Herr der Lage. Das Einzige, was er tun konnte war, neben Valleri's Krankenlager zu sitzen, für sie da zu sein und zu hoffen, daß sie irgendwann zu sich kommen möge, um eventuell Licht ins Dunkel zu bringen. Sanft fuhr er ihr mit der Hand über die Stirn und zog sie sofort zurück.

"Sie glüht richtig. Sie fiebert..."
"Eis"
"Was?"
"Eis", wiederholte Micky zaghaft, "Wir brauchen Eis, um das Fieber runterzubekommen."
"Das ist eine Idee.", stimmte Mike zu, froh, endlich etwas in der Hand zu haben, "Eine gute Idee, aber woher bekommen wir jetzt auf die Schnelle Eis her?"
"Laß mich nur machen."

In Micky waren wieder alle Lebensgeister erwacht, und Sekunden später war er aus dem Haus.
Unschlüssig stand Peter auf. Da er keine Ahnung hatte, wie er helfen konnte, stand er einfach nur neben Mike an der Couch und blickte gedankenverloren auf das blasse Gesicht, das aus den Decken hervorlugte.

"Ich kann durch sie hindurch das Kissen sehen.", wisperte er beinahe ehrfurchtsvoll.
"Ich weiß.", Mike sah Peter an, wie er ihn noch nie zuvor angesehen hatte, "Ich habe Angst."


Zwei Stunden später kehrte Micky zurück. Er hatte einen Beutel Eis und Davy mitgebracht.
"Wo warst du solange?", fragte Mike, aber im Grunde wollte er es gar nicht wissen, "Wo hast du das Eis her?"
"Micky schafft alles.", behauptete er.

"Wie geht es Valleri?", erkundigte sich Davy besorgt, "Hat sich ihr Zustand etwas gebessert?"
Peter schüttelte den Kopf, "Unverändert."
"Hoffen wir, daß das Eis hilft."

Mike nahm Micky den bereits tropfenden Beutel ab, schüttete die wenigen noch festen Eiswürfel in ein Handtuch und legte die Eiskompresse auf Valleri's Stirn.

"Gut, Peter, ich übernehme die nächste Wache."
"Nein, Mike", widersprach Davy, "Du kannst ja kaum noch die Augen offenhalten! Leg dich für ein oder zwei Stunden hin, ruh dich aus. Ich bleibe bei ihr."
"Ich kann doch jetzt nicht schlafen.", wollte Mike entgegnen, wurde aber von einem Gähnen überwältigt, "Ist vielleicht doch keine so schlechte Idee."

Kurz darauf war Davy mit der noch immer bewußtlosen Valleri allein. Inzwischen war es schon nach Mitternacht, aber Davy spürte keine Müdigkeit. Er hockte neben der Couch auf dem Bretterboden und griff ihre leblose, glühend heiße Hand als hoffe er, sie allein durch die Berührung zurückholen zu können.
Dieses Mädchen war ihm in der kurzen Zeit so ans Herz gewachsen, fast hatte er vergessen, wie es zu der ungewöhnlichen Begegnung kam. Und jetzt schwirrte ihm der Kopf von Fragen, die unbeantwortet bleiben würden, sollte Valleri nicht noch einmal erwachen oder gesund werden.
Er atmete tief durch, seine Augen wanderten scheinbar ziellos umher, blieben aber auf dem immer blasser und durchsichtiger werdenden Gesicht Valleri's hängen.

"Val...", seine Stimme versagte ihm den Dienst. Er mußte sich räuspern und von vorn beginnen, "Valleri, was auch immer der Grund für dein Erscheinen am Strand gewesen war - du kannst jetzt nicht einfach wieder verschwinden, ohne es uns zu sagen. Das klingt egoistisch, aber du weißt, was ich meine. Bitte, das kannst du nicht tun! Auf einmal warst du da - voller Rätsel - und plötzlich verschwindest du wieder ...ich meine, versteh doch, wir stecken genauso in der Sache mit drin wie du. Aber wir können dir nicht helfen, wenn wir es nicht verstehen. Wir können es nicht einmal versuchen, wenn du uns keine Möglichkeit gibst.
Vielleicht sind wir nur ein Traum für dich, oder vielleicht kommst du auch aus einem Traum - wer weiß das schon, und inzwischen halte ich alles für möglich. Aber ein Traum, dessen Sinn wir nicht verstehen, wird sofort verblassen und für immer verschwinden. Aber ich will nicht vergessen! Ich möchte begreifen. Also, bitte komm heraus aus deiner Traum- Welt, oder wo immer du dich gerade befindest, und... Valleri?"

Auf einmal ging ein Beben durch ihren Körper. Davy spürte es zuerst nur durch die warme Hand, die er die ganze Zeit umklammert hatte. Hoffnungsvoll blickte er auf, und tatsächlich bewegte sich das Mädchen. Es sah aus, als versuchte sie sich selbst aus einem tiefen Schlaf aufzuwecken, aber sie war noch zu schwach. Sie stöhnte leise, und Davy redete freudig erwartend weiter, hoffend, ihr so zu helfen.

"Ja, wach auf! Ich weiß, daß du es schaffen kannst! Ich bin bei dir, Val, Komm schon!"
"Davy...?"

Es war nur ein Wispern, wie unter großer Anstrengung, aber Davy hätte dafür vor Freude in die Luft springen können.
Er strahlte, "Ja, Val, ich bin's. Die Erde hat dich wieder!"
"Es ist so kalt..."
"Warte, ich hole die anderen!"

Davy war voller Eifer. Er rannte in drei Schritten die Treppe hinauf, riß die Schlafzimmertür auf und rief in das Dunkel: "Sie ist wach! Sie ist wieder wach, und ihr ist kalt!!" als sei es das Wundervollste auf der ganzen Welt.

Fast gleichzeitig erschienen die anderen drei an der Zimmertür, zwar noch in Schlafanzügen, aber keineswegs verschlafen. Selbst Micky war hellwach. Ihre Gesichts- ausdrücke schwankten zwischen Ungläubigkeit, Erstaunen und heller Freude.

Mike bahnte sich als erster einen Weg an Davy vorbei nach unten. Aber bei Valleri angekommen wußte er nicht, was er zuerst tun sollte. Tausend Dinge lagen ihm auf der Zunge, aber keines schaffte den Weg nach draußen. Deshalb begann er einfach die Decken zurechtzurücken.
Vorsichtig hob er ihren Kopf ein Stück hoch, um das Kissen aufzuschütteln. Er war noch immer erschreckend warm, aber längst nicht mehr so wie am Anfang ihres Zusammenbruchs.

"Mike?", fragte sie vorsichtig. Ihre Stimme klang leise und brüchig, als habe sie Angst, "Mike, bist du's wirklich?"
"Natürlich, wieso sollte ich es nicht sein?", er war verwirrt über ihre fast panisch wirkende Frage.
Ihre Augen blickten ihn ängstlich an, aber da war noch etwas anderes an ihnen, das Mike beunruhigte. Sie waren zwar nur halb geöffnet, doch ihr Blick wirkte seltsam leer und stumpf.
Probeweise wedelte er ein paar Mal mit der Hand vor ihren Augen, aber die erhoffte Reaktion blieb aus.

"Valleri, bist du blind?", entfuhr es ihm erschrocken.
"Ich weiß nicht... irgendwie schon."
"Was heißt irgendwie?"
Sie rang nach Worten, "Ich sehe nicht das, was ich höre."

Mike setzte sich zu ihr, strich ihr sanft über die Wange, "Was siehst du?"
"Die andere Seite des Spiegels."

Für einige Sekunden war es totenstill im Haus, kein Mensch wagte zu atmen.
"Mike?", riß der Ausruf Valleri's ihn aus der Trance.
"Ja, ich bin noch hier, keine Angst. Was meinst du mit... Erklär es mir."
"Ich weiß nicht, ob ich das kann."
"Versuche es bitte."

Sie atmete schwer als sie antwortete, "Irgendwie... bin ich nicht ganz hier und auch nicht dort. Irgendwo dazwischen. Ich sehe ein Krankenzimmer. Menschen stehen um mich herum. Sie reden, aber ich höre sie nicht. Eine Frau weint. Sie kommt mir so bekannt vor... Ich glaube, ich bin nicht tot. Ich war es auch nie. Sie haben mich gerettet."

"Wer sie?", wollte Mike einwerfen, lenkte dann aber seine Worte auf etwas anderes, das ihm wichtiger schien, "Aber das viele Blut? Wie konntest du solange..."
"Ich glaube, die Zeit vergeht hier anders als drüben. Sie vergeht hier so, wie ich es möchte... denn diese Welt existiert gar nicht."

Mike fühlte sich wie vor den Kopf gestoßen.
"Wie kannst du das sagen! Ich lebe doch in ihr, und für mich existiert sie!"
Valleri's Stimme war inzwischen so schwach, daß er sich anstrengen mußte, um jedes Wort zu verstehen.

"Es ist nur ein Traum. Ein Wunsch-Traum von mir. Das ist mir jetzt klar. Und du gehörst dazu. Solange ich daran glaube und mich erinnere, solange wird sie weiter existieren, aber sie ist nicht echt. Es ist nicht die Wirklichkeit."

Sie sagte das mit einer solchen Trauer in der Stimme, daß Mike erneut schlucken mußte.
Beinahe trotzig erwiderte er: "Was ist Wirklichkeit schon?"
Er dachte eine Weile über das von ihr Gesagte nach. In ihm sträubte sich alles dagegen. Einerseits. Aber andererseits... Da war ein winziger Funke in ihm, der das alles glauben wollte. Aber noch wehrte er sich.

"Heißt das, Micky, Peter, Davy und ich und das alles hier", seine Hand führte eine alles umfassende Geste in der Luft aus, "gibt es nicht und hat es nie gegeben? Aber ich erinnere mich doch!"
"Nicht direkt.", räumte Valleri ein, "Nicht so, wie du es vielleicht in Erinnerung hast. In Wirklichkeit - meiner Wirklichkeit - seid ihr nur Schauspieler, die sich selbst in einer Fernsehserie spielen. Gespielt haben, denn das ist bereits dreißig Jahre her. So, wie ihr hier seid... das entspringt nur meiner blühenden Phantasie."

"Das kann ich nicht glauben!"
Er stand auf und wollte nervös im Zimmer herumlaufen, aber als er auf die Stelle blickte, wo er seine drei Freunde vermutet hatte, war von ihnen keine Spur.

"Wo...?", begann er, aber auf einmal fiel ihm nicht mehr ein, was er vermißte. Es war, als habe ihm jemand oder etwas eine bestimmte Stelle in seinem Gedächtnis ausradiert. Verwirrt setzte er sich wieder, und wiederholte nur leise: "Ich will das nicht glauben."

"Ich will es doch auch nicht glauben! Und für eine Weile habe ich es auch tatsächlich vergessen. Deshalb bin ich auch ohne Erinnerung an mein wirkliches Leben zu euch gekommen. Ich habe die Wirklichkeit verdrängt, um in meiner eigens geschaffenen Traumwelt zu leben. Aber es hat nicht lange funktioniert. Die Wirklichkeit hat mich eingeholt, und mein Traum zerfällt...", sie atmete schwer wie unter großen Schmerzen, "Aber ich will nicht fort von hier! Es war gerade so wundervoll. Endlich war ich mal wieder richtig glücklich, und ich habe mich in meiner Haut wohl gefühlt. Ich will nicht..."

Ein Hustenanfall durchschüttelte sie.
"Aber, Val, siehst du nicht, was du dir selber antust?!", warf Mike aufgebracht dazwischen, "Du machst dich doch selber völlig kaputt damit! Wenn du dich mit aller Gewalt gegen die Realität sträubst, wirst du nie erleben, wie schön die Welt sein kann! Das klingt jetzt schnulzig, glaubst du, aber denk mal darüber nach. Dir ist ein Leben geschenkt worden, dafür solltest du dich freuen, denn nicht jeder hat dieses Glück. Und dir ist es sogar ein zweites Mal gegeben worden! Du gehörst dazu, du bist ein Teil davon, verstehst du nicht, wie fantastisch das ist?"

"Mir gefällt die Vergangenheit besser. Sie ist nicht so kompliziert. Hier ist alles so leicht gewesen."
"Aber es ist kein Leben, Mädchen. Jeder wünscht sich manchmal, die Zeit anzuhalten, um ewig jung zu bleiben oder den Augenblick festzuhalten, in dem man glücklich ist oder in eine andere Zeit zu reisen, weil man diese für besser als seine eigene hält. Aber jede Zeit - egal wie schön sie geschildert ist - hat ihre Schattenseiten. Die 60er sind nicht nur rosig gewesen, nur weil sie wundervolle Musik hervorgebracht hat. Es ist auch eine Zeit der Diskriminierung und der Kämpfe - nimm nur mal den Vietnam- Krieg! Und die Demonstrationen sind auch nicht nur eitel Sonnenschein. John F. Kennedy ist erschossen worden. Was ich damit sagen will ist, auch wenn du manchmal glaubst, du gehörst nicht in die 90er, weil du unglücklich bist, weil vielleicht nicht alles so läuft, wie du es gern möchtest, heißt das noch lange nicht, daß die 90er gar nichts Gutes hervorbringen. Jede Zeit ist für sich einmalig, und du hast solch ein Glück, gerade diese zu erleben - überhaupt zu leben! Ich habe dieses Privileg nicht.
Du sagst, ich existiere in dieser Weise, wie ich hier bin nicht. Aber da gibt es den anderen - wirklichen - Mike Nesmith. Ich weiß zwar nicht inwiefern er mir ähnelt, aber eines ist sicher: Er muß 30 Jahre warten, bis er die 90er erlebt, während du mitten drin steckst, und trotzdem wird er sie nicht so erleben, wie du, denn jeder Mensch ist individuell verschieden und sieht dieselben Dinge auf unterschiedliche Weise. Alles, was er erlebt und noch erleben wird, ist für dich Vergangenheit. Aber du kannst es nachlesen und durch die Musik nacherleben. Wenn du durch deine Phantasie solch eine Welt erschaffen konntest, in der ich hier bin, dann beneide ich dich darum. Du kannst allein durch deine Vorstellungskraft Welten erschaffen, die für andere unzugänglich sind. Wenn du sie aufschreibst, dann bist das du. Das gehört dir ganz allein, und niemand kann dir das wegnehmen!"

Mike hatte sich ganz heiß geredet. Auf einmal verstand er auch alles. Es ergab für ihn einen Sinn, auch wenn er nur Mittel zum Zweck war, in dem Augenblick wo er zu reden angefangen hatte, begriff er den Sinn seiner - wenn auch kurzen und nicht realen - Existenz. Jetzt mußte er nur das Mädchen davon überzeugen, doch das durfte nicht allzu schwierig sein. Mike war irgendwie ein Teil von ihrem Bewußtsein, das mit sich selber kämpfte. Zwar sträubte sich Valleri noch gegen die Vernunft - wenn man sie als solche bezeichnen möchte - aber es fehlte nicht mehr viel. Im Inneren wußte sie, was richtig war, aber im Moment wollte sie noch nicht vernünftig sein.

"Ich werde nie so wundervolle Musik machen können. Ich kann nicht einmal besonders gut singen! Obwohl ich Musik über alles liebe, werde ich sie niemals wirklich besitzen."
Sie spielte damit auf eine Rede an, die der wirkliche Mike Nesmith einmal gehalten hatte, und in dieser Beziehung war ihr Mike mit dem anderen identisch.

"Vielleicht glaubst du das, weil du dich für unmusikalisch hältst, weil du keinen Ton halten kannst, oder kein Instrument beherrscht, aber du sagst selber, daß du Musik liebst, und das ist das wichtigste! Du wirst vielleicht niemals einen Song schreiben können, aber dafür werde ich niemals solche Geschichten aufschreiben können wie du. Dazu fehlt mir die Phantasie. Niemand wird so schreiben können wie du. Vielleicht sagst du jetzt, daß das, was du schreibst, nichts besonderes ist, aber es ist etwas Besonderes, weil es von dir kommt. Das war ein Leben lang in dir drin, von Anfang an. Es ist nicht perfekt, aber es kommt vom Herzen - allein das ist wichtig."

"Du sagst das so einfach, aber wenn man immer nur ausgelacht oder allenfalls mitleidig belächelt wird oder mißverstanden wird..."
"Wer sagt denn, daß das Leben einfach ist?", unterbrach Mike Valleri.
Er hatte nicht wütend klingen wollen, aber es brachte ihn allmählich aus der Fassung, daß Valleri sich so uneinsichtig gab. Denn Mike wußte, daß sie verstand, was er ihr sagte. Er stand auf und lief im Zimmer auf und ab.
"Wenn es so wäre, was hätte es dann noch für einen Sinn, zu leben? Du mußt dich durchsetzen! Und wenn du es nicht öffentlich schaffst, dann wenigstens für dich selbst. Das tust du ja schon, indem du zu dem stehst, was du fühlst und es aufschreibst. Und wenn du mit dem zufrieden bist, was du geschafft hast, dann hast du den wichtigsten Teil schon geschafft. Du mußt mit dem, was du tust übereinstimmen, sonst hat es keinen Sinn, und du wirst immer unglücklich sein. Die Selbstbestätigung. Finde zu dir selbst!"

Valleri weinte.
Sie gab keinen Ton von sich, aber die Tränen liefen ihr über die Wangen. Mike setzte sich wieder zu ihr auf die Couchlehne und nahm ihre Hand, bis sie sich beruhigt hatte.

Mit gefestigter Stimme sagte sie: "Es ist meine Mutter... Ich erkenne sie wieder. Die Frau an meinem Bett im Krankenzimmer ist meine Mutter. Und die andere Person im Zimmer ist mein Bruder."
"Sie sorgen sich um dich.", flüsterte Mike einfühlsam, "Sie lieben dich. Du gehörst zu ihnen."
"Ich möchte zu ihnen."

"Dann geh", sagte plötzlich eine andere Stimme. Mike drehte sich um und sah hinter sich wieder Micky, Peter und Davy stehen, "Aber vergiß uns nicht völlig."
"Ich werde immer an euch denken, wenn ich mir die Fernsehserie ansehe und die Musik höre", versprach das Mädchen, "aber ihr werdet dann für mich unerreichbar sein. Und an mich werdet ihr euch auch nicht erinnern, denn ich habe für euch nie existiert."
"Dafür hat man doch Träume.", lächelte Davy, "Ohne sie wäre das Leben doch weniger geheimnisvoll."

Das war das letzte, was sie aus der Traumwelt hörte.
Ihre Monkees sahen nur noch, wie das Mädchen immer blasser wurde, bis sie völlig verschwand, als hätte sie nie existiert.

Dann fror auch die Welt der Monkees ein. Sie merkten es nicht einmal. Sie wurden zu einem Bild im Kopf eines Mädchens, das gerade ihr wiedergeschenktes Leben begrüßte und von ihrer aufgelösten aber überglücklichen Mutter in dem Zimmer eines unbedeutende Krankenhauses in die Arme geschlossen wurde...


5. KAPITEL
I'll Be Back Upon My Feet
oder
"Wie die Depression verlor"




Es war ihr erster Tag wieder zu Hause. Morgens war sie aus dem Krankenhaus entlassen worden.
Ihre Handgelenke waren zwar noch dick bandagiert, aber eigentlich hatte sie das was passiert war schon vergessen.

Sie sah sich in ihrem Zimmer um, als sähe sie es zum ersten Mal - und irgendwie stimmte das ja auch. Es war geschmückt mit frischen Blumen, und auf dem Schreibtisch lag ein Willkommens-Geschenk.

Sie riß das Papier von den flachen Gegenstand, und eine CD kam zum Vorschein. Sie mußte lächeln.

Es war das neueste Album der Monkees. Das erste Album seit fast dreißig Jahren, bei dem auch Mike dabei war. Gleich das erste Lied war von ihm geschrieben und gesungen. Zwar war es "nur" eine Neuauflage eines '68er Hits mit neuem Text, aber das machte ihr nichts.

Während sie der Musik lauschte, betrachtete sie verträumt die Bilder auf den CD-Innenseiten.

Wie sie sich doch verändert hatten!
Micky war kräftiger und breiter geworden, sein Haar war gewichen, aber sein verschmitztes Grinsen war unverkennbar.
Davy's einst so makelloses Sonnyboy-Gesicht wies tiefe Falten auf. Sie hätte ihn nicht wiedererkannt, wenn der Name nicht unter dem Bild gestanden hätte.
Peter hatte sich im Gegensatz zu den anderen weniger stark verändert. Selbst die Frisur ähnelte der von damals, und die Grübchen, die sichtbar wurden, wenn er lächelte, ließen keinen Zweifel aufkommen.
Von Mike war sie allerdings ein wenig geschockt. Von seiner einstmals so superschlanken Statur war nichts übriggeblieben. Sein Gesicht bedeckte ein angegrauter Vollbart und seine feste, schwarze Haartolle war seiner Stirn gewichen. Erst glaubte sie, er sei es gar nicht wirklich, aber ein Blick in seine Augen verwarf allen Zweifel wieder.
Es waren Mike's Augen, mit diesem tiefen Blick, den sie so faszinierend fand.

Oh, Mike, die Jahre sind nicht gerade freundlich mit dir umgegangen... dachte sie verträumt und erinnerte sich an seine warmen Worte und seine enthusiastische, engagierte Rede, die er ihr über das Leben gehalten hatte.

Obwohl ihr bewußt war, daß es nur ihre eigenen Gedanken in einer ihrer Phantasiegeschichten gewesen waren, war sie sich gleichzeitig sicher, daß er es genauso gesagt hätte, wenn das alles wahr gewesen wäre.
Mit dieser Gewißheit erschien ihr das Erlebte wirklich wie real geschehen. Dieses Bild war so fest in ihrem Kopf verankert, daß sie fast danach greifen konnte.

Und um dieses Bild nicht zu verlieren, wie einen Traum, der beim Erwachen verblaßt, begann sie es aufzuschreiben. Alles.

Und während sie das tat, lebten die Bilder wie ein Film wieder vor ihrem geistigen Auge auf. Sie war wieder dabei, mittendrin.
Aber sie akzeptierte jetzt, daß es nur ein Wunschtraum war, den es sich zwar lohnte zu träumen, aber leben konnte sie ihn nicht.
Sie hatte bereits ein Leben, und das verlangte ihre volle Anteilnahme. Doch sie war keineswegs traurig oder frustriert, sondern vielmehr befreit.
Dieses befreiende Gefühl setzte ein, während sie Seite um Seite schrieb. Und als sie auf der letzten Seite angekommen war, lächelte sie still über ihre eigene Phantasie, die ihr das alles ermöglicht hat.

Das war ein wundervolles Gefühl.
Mike hatte Recht gehabt: Das gehörte ihr, und das konnte ihr keiner nehmen. Nur sie allein konnte ihr Leben bestimmen und verändern.
Jetzt hatte sie endlich einen Sinn in dem gefunden, was sie tat.
Und sie beschloß, noch morgen ihr staubiges und stumpfsinniges Studium zu beenden, um das zu tun, was wirklich ihre Aufgabe war:
Kreativ sein.

Und sie schloß ihre Geschichte mit den Worten:

It's my life and I'm takin' over now
It's my life and it's time that I learned how
No excuses for the truth is
It's my life now


(aus: "Justus" The Monkees 1996)



Impressum

Tag der Veröffentlichung: 24.03.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
"...Our good time starts and ends Without dollar one to spend But how much baby do I really need..." It's not the way it seems to be...

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