Prolog
William Carlisle saß auf den kalten Fliesen des im Obergeschoss gelegenen Badezimmers und starrte mit ausdruckslosem Gesicht in die Mündung der .45er, die er damals – es war erst weniger als vier Jahre her, doch es erschien ihm wie eine Ewigkeit – im Keller gefunden hatte. Damals war Danny noch dabei gewesen.
Von draußen hämmerte und trat jemand. vielleicht waren es auch mehrere – gegen die verschlossene Tür, doch er nahm es genauso wenig wahr wie Michelles Schreie. Jetzt zählte nur noch das Eine: Sein Finger am Abzug und die Gewissheit, danach endlich Ruhe zu haben. Das schwarze Auge der Mündung kam näher und näher. Jetzt spürte er die angenehme Kühle des Metalls an seiner Stirn, der Finger spannte sich noch ein wenig fester um den Hahn. Diesmal würde Michelle ihn nicht davon abhalten können. Er brauchte ihn nur noch durchzudrücken, dann – ein kurzer Moment des Zweifels, und eine helle, sich überschlagene Stimme drang gedämpft durch die Badezimmertür an sein Ohr:
„Billy! Mach die Tür auf! Oh, Gott, was tust du? Billy, bitte mach auf! BILLY ...“
Abschalten! Alles Egal. Jetzt oder nie. Danny, verzeih mir ...
Teil 1
Das Raubtier erwacht
„Ferien! Endlich!“
„Bye, Danny“ Billy, verreist ihr?“
„Nö, muss arbeiten.“
„Dann sehen wir uns ja bestimmt noch?“
„Klar, ruf mal an! Bye, Johnny!“
Es war ein warmer Frühlingstag Anfang April als es geschah. Der letzte Schultag war vorbei, und in ausgelassener Stimmung stürmten die Schüler der Benjamin-Franklin-High-School den Frühlingsferien entgegen. Unter ihnen befanden sich auch die Zwillingsbrüder William und Daniel Carlisle, kurz Billy und Danny genannt, beide gerade 15 Jahre alt geworden, die auf den Schulhof hinausliefen.
„Ach, Billy, wart mal!“
Unvermittelt blieb Danny auf der Treppe zum Haupteingang des Schulgebäudes stehen und rannte die paar Stufen wieder hinauf. Sein Bruder verdrehte missmutig die Augen.
„Was denn? Komm schon, Danny, ich will nach Hause.“
Anstatt eine Antwort zu geben, verschwand Danny in der Menge ins Freie drängelnder Schüler. Billy seufzte genervt und bahnte sich ebenfalls einen Weg durch die ihm Entgegenkommenden, was die Mehrzahl ihm nicht dankte. Wie ein Fisch, der entgegen den Strom zu schwimmen versucht, kam er sich vor.
„Hey! Pass doch auf, du Idiot!“
„Sorry ...“, murmelte Billy zurück und sah erst dann, wem er gerade aus Versehen seine Schulter in die Brust gerammt hatte. Der große grobschlächtige Junge mit den senffarbenen Igelstoppeln war Pete Tanner, der Tyrann der Unterstufe. Obwohl er zwei Jahre älter war als Billy, war er noch immer in der neunten Jahrgangsstufe. Nur weil sein Vater gute Beziehungen zum Direktor der Franklin-High hatte, war Pete nicht schon längst von der Schule geflogen. Er war wie immer in Begleitung seiner Schlägerkumpane Ben Barringer, George Janningham und Rob Walter und fixierte ihn aus seinen zusammengekniffenen Schweinsaugen, die aus seinem rötlichem Gesicht funkelten.
„Ist schon lange her, seit ich dich dir vorgeknöpft habe. Wird wohl mal wieder Zeit, dir Manieren beizubringen.“
Pete baute sich vor Billy auf, der sich aber nicht provozieren ließ.
„Versuch’s doch. Wir werden ja sehen, wer von uns wem die Manieren beibringt!“
Mit einem Grinsen, das schon nicht mehr so selbstsicher war, wie zu Anfang, deutete Pete seinen Freunden an, sich zu verziehen. Billy atmete auf. Es gab nur wenige, die sich trauten, sich gegen Pete zu behaupten – und die meisten bereuten es bitterlich. Gegen seine Schlägertruppe war fast niemand gewachsen. Aber Billy gehörte zu den wenigen, vor denen selbst Pete zurückwich. Als die Zwillinge am Anfang des Jahres in die erste Klasse der High-School gekommen waren, hatte Pete natürlich versucht, auch sie beide zu unterdrücken. Er hatte sich den Schwächeren von den beiden herausgepickt – Pete hatte ein geübtes Auge für solche, die ihm unterlegen waren. Eines Tages auf dem Weg nach Hause war Pete den Zwillingen gefolgt und hatte gewartet, bis Billy seinen Bruder für kurze Zeit alleine ließ. Als Billy kurz in ein Geschäft ging, um Schokolade für sich und Danny zu kaufen, war Pete über Danny hergefallen, hatte ihn bedroht und wollte sein ganzen Taschengeld haben. Aber er hatte nicht mit Billys Löwenmut gerechnet. Als er an der Kasse gestanden hatte, hatte er zufällig einen Blick nach draußen geworfen und Danny in Petes Schraubstockgriff gesehen. Ohne auf die empöhrenden Ausrufe der Kassiererin zu achten hatte er die Schokoriegel auf das Fließband geworfen und war vor den Laden gerannt. Mit einem Kampfschrei hatte er sich auf den viel größeren Jungen geworfen. Das Verhältnis zwischen Billy und Danny war immer gut gewesen, jeder hatte seine über Jahre bewährte Rolle. Billy sah sich selbst gern als „großen“ Bruder, der die Aufgabe hatte, seinen „kleinen“ Bruder zu schützen. Er hatte nur eine kleine Schwäche. Billy steigerte sich in seine Wut immer zu sehr hinein, dass ihm oft die Sicherung heraussprang. Er dachte dann nicht mehr an die möglichen Folgen, sondern sah nur noch seinen Gegner vor sich, den es zu vernichten galt. Als Kind war es noch schwieriger gewesen, diesen Jähzorn unter Kontrolle zu halten. Es brach schon bei Kleinigkeiten aus ihm heraus, und Danny hatte schon oft Bekanntschaft mit einer von Billys Fäusten gemacht. Billy hatte dann immer wie wild um sich geschlagen, getobt und geschrieen, ohne dass man ihn beruhigen konnte. Hinterher hatte es ihm immer wahnsinnig leid getan, und Danny hatte ihm alles verziehen. Er kannte seinen Bruder schließlich so gut wie kein anderer. Und es war auch nur eine Frage der Zeit gewesen, bis Billy sich Gedanken über seine Wutausbrüche gemacht hatte und sie wirklich unter Kontrolle bringen konnte. Inzwischen rastete er schon lange nicht mehr so leicht aus, nur in besonderen Fällen, wie z. B. wenn jemand sich an ihm oder an seinem Bruder vergreifen wollte. Da kannte er kein Erbarmen. Wenn es um seinen Bruder Danny ging, entwickelte Billy unglaubliche Kräfte, und Pete musste es schon bald bereuen, mit ihm eine Prügelei angefangen zu haben. Ohne seine Schlägerfreunde war Pete nur halb so stark, und keine zehn Minuten später verließ er humpelnd und mit einem blauen Auge den Kampfplatz. Ja, vor Billy hatte er jetzt einigermaßen Respekt, selbst mit seinen drei Kampfhunden, wie Billy Rob, Ben und George zu nennen pflegte. Zwar plusterte er sich oft vor ihm auf, um ihn zu provozieren, doch besonders ernst meinte er es damit nicht, und Billy hatte schon lange keine Angst mehr vor ihm. Noch wusste er ja nicht, dass Pete keineswegs den Schwanz eingekniffen und das Feld geräumt hatte. Seit seiner Niederlage damals sann er auf Rache, aber davon sollte Billy erst viel später erfahren ...
Als er sich endlich in den jetzt leeren Schulflur durchgekämpft hatte, fehlte von Danny jede Spur. Auf der Suche, bei der Billy in jeden Klassenraum sah, begegnete er an der offenen Tür zum Lehrerzimmer seinem Klassenlehrer Mr. Willston, der gerade seine Aktentasche zuschnappen ließ.
„Nanu, Billy? Du bist noch hier? Ich dachte, du konntest es nicht erwarten, endlich in die heißersehnten Ferien zu verschwinden.“
„Stimmt ja auch, Sir“, antwortete Billy besorgt, „Aber ich suche Danny. Er ist noch mal zurückgelaufen, weil er wohl etwas vergessen hatte, aber als ich hinter ihm her wollte, habe ich ihn aus den Augen verloren.“
„Danny?“, der Lehrer war überrascht, „Den habe ich doch gerade mit Monica zusammen hinausgehen sehen. Zum anderen Ausgang.“ Er deutete zu einem der zwei anderen kleineren Ausgänge neben den Jungentoiletten.
„Mit Monica ...“, Billys Miene verfinsterte sich, „Dann ist mir einiges klar. Danke, Mr. Willston und schöne Ferien!“
„Dir auch, Billy!“
Aber Billy war schon weg. In ihm tobte es. Monica! Er mochte sie nicht. Und noch weniger gefiel es ihm, dass Danny sich von ihr so einnehmen ließ. Das war die größte Sache, die Billy von Danny unterschied. Billy besaß Menschenkenntnis, Danny war zu gutgläubig. Aber auch äußerlich bestanden Unterschiede zwischen den beiden. Während Billy für sein Alter ziemlich groß und kräftig aussah, war Danny eher schmächtig. Er reichte seinem „großen“ Bruder gerade bis zur Nasenspitze. Während Billy zu jeder Gelegenheit einen frechen Spruch auf den Lippen hatte, war Danny zurückgezogen und in sich gekehrt. Beide hatten die haselnussbraunen Haare ihrer Mutter geerbt, doch hingen Billys glatt bis über die Ohren, während sie sich bei Danny zu eng anliegenden Locken kräuselten.
Er drückte die schwere Eingangstür auf und musste erstmal die kobaltblauen Augen zusammenkneifen, um nicht von der Sonne geblendet zu werden. Dann sah er auf dem inzwischen leergefegten Schulhof seinen Bruder in reger Unterhaltung mit seiner Freundin Monica vertieft. Sie sah wirklich gut aus – mit ihren dunkelblonden, schulterlangen Haaren, die ihr puppenhaftes Gesicht umrahmten, ihren grünen Augen mit den langen Wimpern und ihrer schlanken Figur – wenn man auf so etwas stand, und das tat der größte Teil der Jungen aus Billys Jahrgang. Monica war wirklich der typische kalifornische Girlie-Teen. Trotzdem lief ihm ein kalter Schauder über den Rücken, jedesmal wenn er sie sah. Sie war keineswegs der Engel, für den man sie im allgemeinen hielt, und sie konnte gut schauspielern. Billy hatte ihr wahres Gesicht gesehen, warum nur konnte das Danny nicht auch einsehen? Aber für ihn war Monica die größte, und dass sie sich unter allen gutaussehenden Jungen, die auf der Franklin-High herumliefen, ausgerechnet Danny, der sich selbst für unscheinbar und wenig begehrenswert hielt, zum festen Freund ausgesucht hatte, machte ihn blind für die Realität. Danny und Monica waren wohl gerade in ein intimes Gespräch verwickelt gewesen, denn als Billy an die beiden herantrat, taten sie so, als sei nichts gewesen. Doch Billy spürte die Heimlichkeiten unter ihnen. Er sah gerade noch, wie Danny seine Hand von ihrer löste und eilig etwas in seine hintere Hosentasche stopfte. Monica warf unschuldig den Kopf in den Nacken und schüttelte ihre Locken. Dabei lachte sie Billy mit ihrem – für Billys Begriffe einen Tick zu hellen – Kinderlachen an.
„Na, störe ich?“, spielte er den Dummen und drängte sich zwischen die beiden.
„Eigentlich ...“, begann Monica, doch Billy beachtete sie nicht.
„Was hast du da?“, wandte er sich spielerisch an seinen Bruder und tat so, als wolle er ihm in die Hosentasche langen.
„Nichts!“, gab Danny ein wenig scharf zurück und wich Billy aus. Schützend legte er die Hand über die Tasche.
„Muss ja ein wichtiges Nichts sein, wenn du so geheimnisvoll tust.“, fuhr Billy fort, seinen Bruder scherzhaft über den Schulhof zu jagen. Doch der fand das gar nicht komisch. „Lass mich, Billy, das geht dich nichts an!“
Es wäre für ihn ein leichtes gewesen, Danny einzuholen und mit Gewalt an den Inhalt seiner Tasche zu kommen, aber Billy spürte keine Lust, sich den sonnigen Tag durch einen Streit zu vermiesen.
„Na schön“, gab er nach und wandte sich zum Gehen, „Wie lange willst du noch deine Ferien auf dem Schulhof verbringen? Lass uns nach Hause gehen.“
Augenblicklich wurde Danny lockerer. Grinsend lief er seinem Bruder nach, „Sehe ich aus, wie ein Streber?!“
Ausgelassen verließen sie das Schulgelände und schlenderten die Straße hinunter, bis zu der Ecke, an der sich die Wege der Zwillinge und Monica für gewöhnlich trennten.
„Schöne Ferien, Monica.“, frohlockte Billy, „Gehen wir noch ein Eis essen, Danny?“
„Ich werde dir wohl noch eine Weile erhalten bleiben.“, warf sie ein. Billy verstand nicht.
„Hä?“
„Monica wird heute mit zu mir kommen.“, erklärte Danny. Es hörte sich eher wie eine Frage an, als sei er nicht sicher, ob Billy damit einverstanden war. Das war er auch ganz und gar nicht, aber er verbarg seine Enttäuschung so gut er konnte.
„Was dagegen?“, fragte Monica gespielt unschuldig.
„Ja!“, gab er im selben Ton zurück. „Ich dachte, wir wollten heute schwimmen gehen?“
Danny trat verlegen von einem Fuß auf den anderen, „Das mit Monica war ein spontaner Entschluss, weil sie doch morgen wegfährt. Wir wollten ein bisschen Musik hören, und so ...“
Billy schnaubte verächtlich.
„Toll! Bei dem Wetter!“
„Mensch, Billy, wir können doch noch die ganzen Ferien schwimmen gehen und Eis essen!“
„Jaja.“, maulte Billy, Monica lächelte zuckersüß und überlegen. Ein kurzer Blick in ihre Augen verriet Billy, dass sie es genau darauf angelegt hatte. Sie hatte ihn vor Danny zum Kampf aufgefordert – und er hatte verloren. In Billy brodelte es, er fügte sich aber. Während Monica mit Danny kichernd und in sich vertieft den Weg zum Bus antraten, schlich Billy finster hinter ihnen her. Auf einmal hatte er keinen Blick mehr für den schönen Tag und die warme Frühjahrssonne. Er hatte so viel vorgehabt heute. Der letzte Schultag vor den Ferien war immer etwas ganz besonders für die Zwillinge gewesen. Sie begannen die bevorstehende Freiheit – und sei es auch nur für drei Tage zu Pfingsten oder Ostern – mit einem Riesen-Spezial-Eisbecher in ihrem Stamm-Café, wobei sie dann meistens den Rest des Tages mit gemeinsamen Aktivitäten verplanten. Entweder gingen sie ins Kino zu einer Grusel-Matinee, wobei sie sich den größten Popcorn-Eimer genehmigten und soviel Popcorn aßen, bis ihnen schlecht wurde. Oder sie gingen schwimmen. Vor kurzem hatte in ihrem Ort eine neues Wellenbad eröffnet, das sie heute ausprobieren wollten. Für Billy war dieses Ferien-Ritual heilig, denn während der Ferien sahen sie sich kaum, da ihre Freundschaftskreise ziemlich unterschiedlich waren und beide einen Ferien-Job angenommen hatten. Und jetzt wollte Danny lieber mit Monica herumhängen ... Billy war sauer.
„Wann kommt der Bus?“, fragte Monica mit ihrer Barbie-Stimme und riss Billy so aus seinem Trübsinn. Danny verglich die Uhrzeiten an der Aushänge-Tafel mit seiner Armbanduhr. Dann verzog er das Gesicht.
„Mist! Der ist gerade weg.“
Die Zwillinge wohnten mit ihren Eltern Patricia und Jason Calisle in einem ruhigen, dorfähnlichen Vorstädtchen der Stadt Little Paris, die wiederum so klein war, dass sie nur auf wenigen Landkarten verzeichnet war. Aber es war nur eine Stunde mit dem Auto bis nach Los Angeles. Das war das einzig Positive, wie die Jugendlichen aus Little Paris und Umgebung fanden. Wer ein eigenes Auto besaß, war hoch im Kurs bei den anderen. An Wochenenden schlossen sich dann immer Fahrgemeinschaften zusammen, die gemeinsam in die Großstadt fuhren, um am Sunset Strip rumzuhängen oder auf den angesagten Feten mitzumischen. Ansonsten fanden die meisten Kids ihre Provinznester reichlich öde. Jeder kannte jeden, Neuigkeiten verbreiteten sich wie Buschfeuer, wer sich die Haare rot färbte galt bei den prüden Erwachsenen schon als Aussteiger und Versager, der es sowieso zu nichts bringen und wahrscheinlich schon mit 23 Jahren sterben würde.
Zur Schule mussten Billy und Danny immer mit dem Bus in den nächstgrößeren Ort, und in ihrem Fall war das Little Paris. Allerdings für der Bus nur jede halbe Stunde, so dass die Zwillinge – zumindest im Sommer – de halbstündigen Fußmarsch vorzogen. Die einzige Attraktion – wenn auch keine positive – war die erst kürzlich eingeweihte Schnellstraße, die Billys und Dannys Provinznest Minora mit Little Paris verband und mit ihrem grauen Beton brutal durch die landschaftliche Idylle schnitt.
Für Billy war die Information über den verpassten Bus kein Weltuntergang.
„Dann laufen wir eben.“
„Laufen?!“, war Monicas entgeisterte Reaktion. Billy sah sie von oben bis unten an und musste sich zwingen, sein Grinsen zu unterdrücken. Monica trug zu ihrem superkurzen Mini-Wickelrock und dem bauchfreien T-Shirt extra hohe Plateauschuhe, die dem Stil der 70er Jahre nachempfunden waren und gerade das Modernste war, das man tragen konnte – nur zum Laufen längerer Strecken waren sie mehr als ungeeignet. „Wieso nicht?“, stellte er sich dumm, „Hast du ein Problem damit?“
Sie ignorierte Billys Gehässigkeit und wandte sich mit einem gequält jammernden Blick an ihren Schatz.
„Danny ...!“
Aber von ihm hatte sie auch keine Hilfe zu erwarten.
„Monica, der nächste Bus kommt erst in zwanzig Minuten. Bis dahin sind wir auf halbem Weg zu Hause. Also, ich warte nicht!“
Jetzt grinste Billy breit, und er setzte noch einen drauf: „Kannst ja barfuß laufen.“ Sie sah ihn säuerlich an, wollte sich aber nicht geschlagen geben. Plötzlich lag wieder das unschuldige Lächeln auf ihrem Gesicht.
„Genau das werde ich auch tun!“
Und zu Billys Überraschung streifte sie kurzerhand ihre Schuhe ab, stopfte sie in ihre große Umhängetasche, die ihr auch als Schulranzen diente, und setzte ihren Weg geradlinig fort. Nach ungefähr drei Metern drehte sie sich keck um und rief: „Was ist los, Männer? Kommt ihr heute noch in die Gänge?“
Alles was der ebenfalls verdatterte Danny sagen konnte, war ein begeistertes „Wahnsinn!“, dann trabte er seiner Freundin hinterher. Billy knirschte mit den Zähnen. Das Einzige, was diese Aktion gebracht hatte, war Monica weiter in Dannys Gunst steigen zu lassen. Murrend setzte auch er sich in Bewegung, sehr darauf bedacht, dass er die beiden nicht einholte.
Sie liefen die sogenannte Main-Street entlang der Buslinie. Zu dieser Zeit herrschte besonders reger Verkehr. Die Schule war aus, die meisten Eltern hatten sich die Ferien genommen, um mit ihren Kindern im Auto wegzufahren. Die Strecke durch Little Paris und Umgebung galt als besonders verkehrsgünstig, um möglichst schnell auf die Autobahn und ans Ziel zu gelangen. Man hatte das Gefühl, die Straße erschütterte wie bei einem Erdbeben wenn große Lastwagen vorbeirasten.
Billy starrte beim Gehen stur auf seine Schuhspitzen und würdigte das kichernde und scheinbar unbeschwerte Liebespaar keines Blickes. Danny und Monica schienen vor ihm einen merkwürdigen Tanz aufzuführen. Mal hüpfte sie leichtfüßig vor ihm herum, forderte ihn so auf, sie zu haschen und wenn Danny auf das Spiel einstieg, quietschte sie vor Vergnügen wie ein Ferkel – stellte Billy verächtlich fest.
Muss Liebe schön sein!, spöttelte er weiter in Gedanken, als Danny von Monica am Ohr genommen wurde und sie ihm irgendwelchen Schmalz ins Ohr säuselte.
Das hält ja kein Mensch aus!, beschloss Billy die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Er wollte seinen Bruder ein wenig necken, so wie in früheren – mädchenfreien – Zeiten. Ein Grinsen huschte über Billys Gesicht. Er konnte sich schon denken, was Monica ihm auf dem Schulhof so heimlich in die Hand gedrückt hatte, und warum es Danny so peinlich gewesen war. Vielleicht wollten die beiden heute außer Musik hören auch noch etwas anderes tun ...? Monica, dieser Schlampe, traute Billy alles zu, und es war kein Geheimnis, dass Danny nicht der erste war, den sie für ein leichtes Abenteuer um ihren Finger gewickelt hatte. Ihr Ruf auf der Schule sprach für sich, und Geheimnisse kannte man nicht in Little Paris.
Billy wollte seinem Bruder das verpackte Kondom aus der Tasche stibitzen und ein wenig herumblödeln, wie es seine Art war. Billy wollte Spaß, um sich von seinem Missmut abzulenken.
Leise schlich er sich von hinten an Danny heran, und mit der Fingerfertigkeit eines geübten Langfingers griff er ihm blitzschnell in die hintere Tasche seiner übergroßen Hose. Danny bemerkte den Griff erst, als Billy das Päckchen bereites in den Händen hielt – doch da war es bereits zu spät.
„Hey, was ...?“ Billy, gib mir das wieder!“
„Wieso denn?“, blödelte Billy grinsend, „Brauchst du ...“ Er brach abrupt ab. Das Päckchen, das er in der Hand hielt fühlte sich anders an, als er erwartet hatte. Unter dem Plastik der Miniaturtüte knirschte es leise, wenn er die Finger dagegen drückte. Es fühlte sich an wie Sand oder ... Zum ersten Mal betrachtete Billy das Tütchen genauer. Die Tüte, die er in der Hand hielt war gefüllt mir einem weißen Pulver, das verdächtig nach Puderzucker aussah, aber Billy wurde blitzartig klar, dass es das auf keinen Fall war. Wie vom Donner gerührt starrte Billy weiter auf das Päckchen, brachte kein Wort heraus, befühlte es immer wieder von allen Seiten, doch so sehr er es auch drehte und wendete – es war und blieb
„Kokain ...“, flüsterte er fassungslos, und wie zu sich selbst. Billy war so verdattert über das für ihn Unfassbare, dass er nicht bemerkt hatte, wie Danny schnell an ihn herangetreten war, um ihm das Päckchen wieder zu entreißen. „Gib’s mir wieder, Billy!“, Danny hechtete danach, griff aber ins Leere. Billy hatte sich wieder gefangen und hatte überhaupt nicht vor, dem Befehl seines Bruders nachzukommen. In ihm tobte es. Mit wütend funkelnden Augen wandte er sich an Monica.
„Das warst du!“, schrie er sie an, „Du warst es, du alte Hexe, du Schlampe“ Ich hab’s gesehen, vorhin auf dem Schulhof, da hast du ihm das Zeug gegeben!!“ Monica stand da, die Gelassenheit selbst, lediglich ein hinterhältiges Lächeln umspielte ihren Erdbeermund, „Du bist ja ein Blitzmerker, Billy.“
Das machte Billy nur noch rasender. Er spürte seine alte Wut wieder brodeln und gefährlich in ihm aufsteigen. Sie war kurz davor, überzukochen, aber noch beherrschte er sich einigermaßen. Stattdessen brüllte er sie weiter an,
„Tu nicht so scheinheilig, du Junkie-Hure!“
„Halt die Klappe, Billy!“, fuhr Danny dazwischen, „Das ist meine Sache, das geht dich überhaupt nichts an!“
„Es geht mich nichts an?!“, wetterte Billy weiter. Er war bereits ganz rot angelaufen., „Es geht mich nichts, wenn mein Bruder von dieser Nutte hier mit Drogen versorgt wird? Verdammt, Danny, merkst du denn nicht, was hier abgeht? Merkst du nicht, was sie ...“
„Lass Monica aus dem Spiel! Es war meine Entscheidung. Ich wollte es! Ich bin nicht dein kleiner Bruder, dem du alles vorschreiben kannst! Und jetzt gib mir das Päckchen wieder!!“
„Nein!“ Billy machte Anstalten, das Kokain auszuschütten, als Danny sich unvermittelt auf ihn stürzte. So angriffslustig hatte Billy seinen Bruder noch nie erlebt. Es gelang Danny, Billy das Päckchen aus der Hand zu reißen. Doch damit gab sich Billy nicht geschlagen.
„Verdammt, Danny, du Arsch! Du bist total abhängig!“
„Das ist, verdammt noch mal, meine Sache. Lass mich in Ruhe!!“
„Ich lass dich nicht! Jetzt schon gar nicht! Gib das her!!“ Monica beobachtete das Gerangel der Brüder mit zufriedener Gelassenheit. Sie merkte genauso wenig wie die beiden selbst, dass sie ihrem Streit gefährlich nah an die stark befahrene Straße kamen. Danny war besessen von dem Gedanken, das Kokain zurückzubekommen, und Billy war genauso davon besessen, es ihm nicht zu geben, unter gar keinen Umständen. Er steigerte sich so hinein, dass er alles um sich herum vergaß und nur noch auf das Päckchen fixiert war. Danny hatte gegen seinen stärkeren Bruder so gut wie keine Chance, aber er wehrte sich mit aller Kraft. Er wandt sich in dem festen Schraubstockgriff seines Bruder so lange, bis es ihm gelang, sich für eine Sekunde zu lösen. Auf einmal knallte es laut – Danny hatte Billy eine schallende Ohrfeige verpasst. Da brannte bei Billy die Sicherung durch. Er brüllte, tobte und schlug mit beiden Fäusten um sich. So hatte Danny seinen Bruder seit Jahren nicht mehr erlebt, und er wich ängstlich zurück. Doch Billy ließ nicht von ihm ab.
„Also gut, du Idiot! Wenn du unbedingt abkratzen willst ... Ist mir doch egal!“
Dabei schubste er Danny immer wieder ein Stück von sich. Danny konnte nicht ausweichen, nur rückwärts laufen. Er duckte sich, um der Hand seines Bruders auszuweichen. Billys Augen sprühten Funken.
„Wenn du dein Leben unbedingt wegwerfen willst – von mir aus!!“
Und mit diesen Worten stieß er Danny mit all seiner Kraft auf die Fahrbahn. Danny stolperte von der Wucht des Stoßes, dann stürzte er. Benommen blieb er einen Moment liegen. Von links näherte sich bedrohlich schnell ein Wagen. Im selben Moment schien Billy wieder zu sich zu kommen und wurde sich erst jetzt der Ausmaße seines kopflosen Handelns bewusst. Seine Stimme überschlug sich als er in heller Panik schrie: „Danny, komm von der Straße runter! Da kommt ein Auto! Verdammt, Daaannyyyyy!!!“
Danny versuchte aufzustehen, sah das Auto auf ihn zukommen, der Fahrer schien ihn nicht zu sehen – und selbst wenn, würde er es nicht schaffen, bei dem Tempo rechtzeitig zu bremsen. In Dannys Kopf war alles so klar, wenn er jetzt nicht von der Fahrbahn herunterkam, würde der Wagen frontal auf ihn prallen, aber Dannys Körper bewegte sich in Zeitlupe. Mit aller Kraft wollte er aufstehen und davon rennen, doch es war genauso sinnlos, wie durch Wasser zu rennen. Als Danny aufsah, blickte er direkt in die blanken Augen der rechten Scheinwerfer. Danny schrie auf, warf instinktiv die Arme schützend vor das Gesicht und spürte im selben Augenblick, wie der Wagen in erfasste – dann wurde im schwarz vor Augen...
*
Monicas langgezogener, hysterischer Schrei wurde vom Quietschen der Bremsen verschluckt, als der Wagen Dannys Körper erfasste und durch die Luft schleuderte.
*
Harold Tripper, der Fahrer des Wagens, war auf dem Weg nach Minora, als der Unfall geschah. Seine Tochter hatte Ferien, und er hatte sich den lang ersehnten Urlaub genommen, den er sonst immer wieder hatte verschieben müssen. Die Familie Tripper hatte sich vor einem Jahr ein kleines Strandhaus in der Nähe von Santa Barbara gekauft, in dem sie zu dritt zwei Wochen Urlaub machen wollten. Harold konnte es kaum abwarten, endlich nach Hause und in die wohlverdienten Ferien zu kommen, und gab noch mehr Gas. Auf der Main Street drosselte er wieder ein wenig und hing seinen Gedanken nach. Er bemerkte die Kinder auf der rechten Straßenseite kaum. Ein langgezogener Schrei riss ihn plötzlich aus seinen Gedanken, dann erst bemerkte er den Jungen vor sich auf der Straße. Erschrocken trat er auf die Bremse, doch es war schon zu spät. Noch während das Quietschen der Reifen auf dem Asphalt wie ein nicht enden wollender Alarm durch sein Trommelfell schnitt, spürte Harold, wie der Körper des Jungen von dem – seinem – Auto erfasst und durch die Luft geschleudert wurde. Erst vierzig Meter weiter blieb der Wagen endgültig stehen. Benommen blieb Harold Tripper noch für einige Sekunden in seinem Fahrzeug sitzen. Tausend Gedanken schwirrten ihm durch den Kopf. In zwei Stunden hatte er mit seiner Familie am Strand sein wollen, und dann ... Warum war ihm das ausgerechnet jetzt passiert?
Er war sonst ein so guter und gewissenhafter Fahrer ...
Oh Gott, der Junge...
Er versuchte, einen klaren Kopf zu behalten.
<fiont;_italic>... hoffentlich ist er ...
Er raffte sich auf,
... ist er nicht ...
fuhr das kurze Stück zurück und stieg aus.
*
Ungläubig, mit vor Schreck aufgerissenen Augen starrte Billy auf die Stelle, wo Danny leblos lag. Er war mindestens zehn Meter weit durch die Luft geschleudert worden, bis in eines der Gebüsche, die am Straßenrand standen und die seinen Sturz abgefangen hatten. Erst als Harold Tripper aus seinem Fahrzeug stieg und auf ihn zukam, nahm Billy wahr, dass Monica immer noch hysterisch schrie. Wie in Trance drehte er sich zu ihr um – die ganze Welt erschien ihm wie in Watte gepackt. Das musste ein Traum sein. Ein schrecklicher Alptraum. So etwas geschah doch nicht in Wirklichkeit. Er rang nach Worten.
„Monica ...“, seine Stimme klang brüchig, doch sie ließ ihn nicht weitersprechen.
„Fass mich nicht an!!“, fuhr sie ihn an, „Bist du nun zufrieden, mit dem was du angerichtet hast? Bist du nun endlich zufrieden?!“
„Monica, du musst ...“
„Nein, ich muss gar nichts!“, unterbrach sie Billy wieder, der kurz davor war, innerlich zusammenzubrechen, „Du bist schuld, wenn er stirbt, Billy, du allein!!“
Dabei sah sie ihn aus böse funkelnden Augen an, als wollte sie Billy auf der Stelle umbringen.
Der Fahrer des Unfallwagens war inzwischen bei ihnen angekommen. Auch er wirkte geschockt und zerstreut.
„Der Junge .. was ... wo...?“
Billy achtete nicht auf ihn, sondern rannte einfach über die Straße zu der Stelle, an der Danny noch immer regungslos lag. Autos hupten, und es war ein Wunder, dass Billy nicht auch überfahren wurde, aber das war ihm jetzt egal. Wichtig war für ihn jetzt nur, zu Danny zu kommen, irgendetwas zu tun.
Dort lag Danny. Nur seine rechte Hand ragte aus dem Gebüsch. Billy wurden die Knie weich, und er ließ sich neben seinen Bruder ins Gras fallen. Mit beiden Händen riss er die Sträucher auseinander. Der Anblick, der sich ihm bot, trieb ihm die Tränen in die Augen. Danny lag auf dem Bauch, das bleiche Gesicht seltsam verrenkt. Doch trotz allem wirkte sein Gesicht seltsam ruhig.
Was habe ich getan? Oh Gott, was habe ich getan?!
Er war total fertig mit den Nerven, mit sich selbst.
„Danny?“, seine Stimme zitterte, er tastete mit den Händen nach ihm, „Danny, bitte sag doch etwas!“
(Und wenn Danny nun ...)
Nein, das durfte nicht passieren!
(... und wenn doch ...)
Nein! Nein! Nein! Er wird nicht – er darf nicht sterben!
(... und wenn er doch schon ...
dann war er – Billy – ein Mörder. Ein MÖRDER! Ein Brudermörder! Dann hätte er seinen eigenen Bruder – ZWILLINGSbruder - ... Ihm wurde schlecht.
„Geh weg von ihm!“
Monica, die ihn inzwischen eingeholt hatte, stieß Billy von dem Gebüsch weg.
Und noch bevor Billy darauf reagieren konnte, packte sie ihn am Kragen und zischte:
"Das eine sage ich dir, wenn Danny stirbt, wirst du keine ruhige Sekunde mehr haben! Ich werde dir das Leben zur Hölle machen, das kannst du glauben! Und noch etwas. Sollte irgendjemand etwas von dem Kokain erfahren - dann bringe ich dich eigenhändig um, hast du verstanden!'!"
Billy kam nicht mehr dazu, etwas zu erwidern, denn nun kam auch Harold Tripper auf sie beide zu.
"Geht zur Seite, Kinder, lasst mich nach ihm sehen. Wir müssen erste Hilfe leisten."
Billy ließ sich widerstandslos bei Seite schieben. Tripper beugte sich über Dannys schmächtig wirkenden Körper und tastete am Handgelenk nach dem Puls. Er war selbst unsicher. Diese Situation war für ihn völlig ungewohnt Und es war Jahre her, seit er den Erste-Hilfe-Kurs gemacht hatte. Als sein Daumen das Gelenk des Jungen befummelte war ein schwaches Pochen zu spüren. Harold atmete auf. Der Puls war da. Zwar nur schwach, aber immerhin. Er drehte sich zu den anderen beiden Jugendlichen um. Ungelenk versuchte er sich zu entschuldigen:
"Es...es tut mir leid. Ich hab ihn nicht gesehen...", doch wie zuvor Billy, unterbrach Monica ihn wirsch,
"Nein, Sie sind nicht schuld. Er...", sie zeigte mit dem Finger
auf Bil1y, der ziemlich erbärmlich aussah, "Er war es! Er hat Danny auf die Straße gestoßen!"
Sie ist hysterisch, dachte Tripper, lass dir bloß nicht anmerken, wie panisch du selber bist.
"Mädchen, ich glaube nicht, dass es etwas bringt, herauszufinden, wer Schuld hat Euer Freund braucht dringend Hilfe. Jemand muss laufen und den Notarzt rufen!"
"Ja, das mache ich.", bot Monica - auf einmal die Ruhe selbst an. Und mit einem Seitenblick auf Billy fügte sie noch leise hinzu: "Du hast schon genug getan, nicht?"
Billy nickte unmerklich. Er war völlig in sich abgetaucht Alles. was um ihn herum geschah, bemerkte er kaum. Alles zog wie ein zu schnell gedrehter Buster-Keaton-Film an ihm vorbei, während er selbst in einer Zeitlupenschleife gefangen zu sein schien.
Tränen der Verzweiflung stiegen in ihm hoch. Er versuchte zu schlucken, doch der Kloß in seinem Hals wurde immer größer. Es tat weh, seinen kleinen Bruder so zu sehen. Es war doch völlig unwichtig, was der Grund dafür gewesen war, weshalb er so ausgeflippt war - es hätte nicht so weit kommen dürfen! Er hätte seine Wut unter Kontrolle halten müssen. Er hätte auf Danny aufpassen müssen - stattdessen hatte er ihn fallen lassen...
Die Sirene des Krankenwagens und der Polizeistreife wurden lauter und lauter, bis sie am Unfallort antrafen. Billy hörte sie nicht Die Straße wurde abgesperrt Die Sanitäter untersuchten und verarzteten Danny notdürftig, schnallten ihn auf die Trage und ließen ihn im Krankenwagen verschwinden. Die Polizisten vernahmen Harold Tripper über die Geschehnisse. Billy nahm das alles nur am Rande wahr. Im Geiste rief er sich immer wieder die Situation kurz vor dem Unfall vor Augen.
Ich hätte es verhindern können! Ich hätte es nicht so weit kommen lassen dürfen! Warum nur habe ich mich nicht zusammengerissen?! Dann würde Danny nicht...
"He, Junge", Harold Tripper stieß ihn leicht an.
"Hmm?"
Billy begriff nicht Er sah einen der Polizisten mit besorgter
Miene vor ihm stehen.
"Du hast alles gesehen? Wie es zu dem Unfall kam?"
"Ja.", seine Zunge fühlte sich wie Blei an, "Zusammen mit Monica - einer Freundin."
"Wo ist sie jetzt? Wir brauchen auch ihre Aussage.", fuhr der Polizist fort.
"Wo?", Billy war wie in Trance, "Ist sie nicht hier?"
Jetzt mischte sich Harold Tripper wieder ein, der wohl merkte. dass Billy unter Schock stand,
"Sie ist losgelaufen, um den Krankenwagen zu verständigen, ist aber nicht wieder zurückgekommen."
"Wir brauchen ihre Anschrift, um ihre Aussage zu protokollieren." Der Polizist ließ sich nicht beirren, "Und jetzt. kannst du uns sagen, wie sich der Unfall zugetragen hat?", er zückte Notizblock und Bleistift. Billys Gesicht blieb ausdruckslos,
"Ich... wo ist Danny?", er sah sich schwach um. Der Krankenwagen war schon weg.
"Sie bringen deinen Freund schon ins städtische Krankenhaus.", erklärte Mr. Tripper.
"Bruder.", flüsterte Billy.
"Was?"
"Er ist mein Bruder.", wiederholte Billy, und konnte nun nicht mehr verhindern, dass Tränen in seine Augen schossen. Schlagartig änderte sich das starre Verhalten des Polizisten.
Er steckte den Notizblock und den Bleistift ein und legte Billy die Hand auf die Schulter.
"Komm. Das Protokoll kann warten. Ich fahr dich ins Krankenhaus.", er wandte sich noch kurz an Harold Tripper. "Danke, Sir, Ihre Aussage haben wir jetzt Hinterlassen Sie bitte meinem Kollegen Ihre Adresse und Telefonnummer, unter der Sie zu erreichen sind."
Sanft führte er den apathisch wirkenden Jungen zum Streifenwagen und fuhr los. Bäume, Häuser und Landschaften schossen an Billys Auge vorbei, aber er sah sie nicht. Er konnte nur an eines denken: Dannys angsterfüllt bittende Augen kurz bevor er ihn auf die Straße gestoßen hatte...
**
"Herzlichen Glückwunsch, ihr zwei!", Patricia Carlisle umarmte ihre beiden Geburtstagskinder. Auf dem Tisch im Wohnzimmer standen, umringt von vielen kleinen und großen Päckchen, zwei Geburtstagstorten mit je fünf Kerzen. Billy und Danny saßen auf dem Boden inmitten von Geschenkpapier.
"Oh, Billy, schau mal!" Dannys Stimme überschlug sich fast vor Freude, als er den großen Karton öffnete und sein neues Fahrrad sah, "Es ist rot mit einer gelben Fahne, und es hat sogar Spielkarten an den Speichen! Genauso wie ich es mir gewünscht habe!"
"Weiß ich. Ich hab's ja auch Mommy gezeigt" Billy sprühte vor Stolz.
"Wirklich? Zeigst du mir nachher, wie man fährt?"
"Klar!"
Billy fühlte sich ganz als großer Bruder und wanderte stolzgeschwellter Brust von einem Geschenkpaket zum nächsten.
"Na, wo sind meine beiden großen Jungs?"', kam es plötzlich von der Tür her. Jason Carlisle, seines Zeichens Familienvater und Firmenleiter, schien sich extra beeilt zu haben, noch rechtzeitig an diesem wichtigen Tag von der Arbeit nach Hause zu kommen. Er sah recht verschwitzt aus, und lächelte breit über sein leicht gerötetes Gesicht Schnell zog er sich die gelöste Krawatte zurecht und warf einen raschen Blick auf seiner Frau, die ihn genauso lächelnd erwiderte.
"Daddy!!", wurde er sofort von allen Seiten bestürmt. Billy und Danny rannten auf ihren Vater zu und umklammerten seine Beine.
"Kinder, lasst mich am Leben!", lachte Jason, "So, nun stellt euch mal neben eure Geburtstagstische, euer Vater will ein Foto machen."
Das Wort "Foto" löste bei den Kindern helle Begeisterungsstürme aus. Danny hockte sich sofort vor den Gabentisch mit den Torten und setzte seine Mütze - ein Geschenk von Billy auf. Billy rutschte neben ihn und zog ihm mit einem spitzbübischen Grinsen die Mütze vom Kopf.
"Hey!", schrie Danny entrüstet. Im selben Moment zuckte der Blitz des Fotoapparates auf. Gleich darauf rief Jason enttäuscht: "Das war das letzte Foto! Haben wir keinen Film mehr?"
"Nein", entgegnete seine Frau, die er liebevoll Trish nannte. "der ist heute Morgen zu Ende gegangen."
"Na schön.", gab Jason sich geschlagen, "Aber geht nicht mit dem Fahrrad raus, bevor ich einen neuen Film gekauft habe!"
Er schnappte sich im Laufen die Autoschlüssel vom Brett an der Tür, bevor er verschwand, um zum nächsten Fotogeschäft zu fahren.
**
"Kaffee?"
Billy schreckte aus seinen Gedanken hoch. Im ersten Moment war er völlig desorientiert. Seine Augen tasteten suchend alle Richtungen ab. Er fand sich auf einer der unbequemen Kunststoffbänke wieder, die in der spärlich erleuchteten Wartehalle der Ersten Hilfe des Grey Medical Centers angebracht waren. Das Krankenhaus wirkte um diese Tageszeit wie ausgestorben, nur hin und wieder lief in ruhiger Eile eine Schwester oder ein Arzt vorbei, um in einer der mit "Zutritt verboten" ausgeschilderten Türen zu verschwinden.
Der Polizist, der Billy hergefahren hatte und dessen Namensschild auf der knapp sitzenden Uniform ihn als "Detective Hopper" kennzeichnete, stand mit einem gezwungen lockerem Lächeln vor ihm und hielt ihm einen Plastikbecher mit einer dampfenden Flüssigkeit entgegen.
"Ich mag keinen Kaffee.", gab Billy müde zurück. Detective Hopper verharrte weiter in seiner Haltung.
"Etwas anderes gab's nicht an dem Automaten." und als würde es etwas grundlegend verändern, setzte er noch hinzu: "Er ist noch heiß."
Billy war nicht in der Lage, sich mit dem Detective über Kaffee zu streiten, also nahm er ihm den Becher aus der Hand. Zögernd setzte er das heiße Getränk an die Lippen und nippte vorsichtig. Der Kaffe schmeckte scheußlich. Er war weder gezuckert noch mit Milch. Billy verzog angeekelt das Gesicht. Aber in seinem Magen verbreitete sich eine wohltuende Wärme, als der erste Schluck getan war. Wenigstens lenkte ihn das Trinken ein wenig ab. Mit beiden Händen umklammerte er den warmen Becher und nippte weiter.
Detective Hopper ließ sich, ebenfalls mit einem dampfenden Kaffeebecher bewaffnet, neben ihm auf die Bank fallen. Eine Weile saßen beide schweigend nebeneinander, dann fing der Polizist leise an zu sprechen. Billy registrierte die Worte kaum.
"...dein Bruder, ja? ...Arzte können noch nichts genaues... wird schon wieder... haben deine Eltern verständigt..."
BiIly trank weiter dieses scheußliche Gebräu und nickte gelegentlich. Seine Gedanken waren bei Danny.
*
Als Patricia Carlisle die Nachricht erreichte, dass ihr Sohn im Krankenhaus war, war sie gerade auf der Terrasse beim Sonnenbaden gewesen.
Als ihr Mann Jason die Nachricht erreichte, dass sein Sohn im Krankenhaus war, war er gerade auf seiner Sekretärin Angela Miller gewesen.
Überstunden - wie er es seiner Frau gegenüber bezeichnete.
Diese Überstunden waren in den zehn Jahren, die er die Werbefirma jetzt leitete, immer häufiger geworden. Jason schätzte diese Art der Überstunden. Angela Miller war eine attraktive, junge Frau mit unglaublichen Qualitäten. Sie war zwar eine miserable Sekretärin, die nicht einmal das Wort "Werbeagentur" richtig schreiben konnte, aber ihre Ficks waren großartig. Jason schätzte einen guten Fick. Das entspannte ihn von der stressigen Arbeit, die er den ganzen Tag über hatte. So konnte er am Abend frisch und erholt zu seiner Familie zurückkehren und ganz der führsorgende Ehemann und verständnisvolle Vater sein, den seine Familie brauchte.
Angela war auch nicht die erste, die Jason für seine Überstunden einspannte. Er behielt seine Sekretärinnen meist nur ein, höchstens zwei Jahre, bevor er irgendeinen Grund fand, sie zu entlassen. Bei Angela würde es nicht schwer sein, sie Ende des Monats auf die Straße zu setzen. Mit ihrer
Unfähigkeit hatte sie der Firma mehr Ärger eingebracht als ein lästiger Pickel auf der Stirn eines Teenagers. Es war schon alles arrangiert Ende des Monats - in zehn Tagen - würde auf Angelas Schreibtisch der Umschlag mit den Entlassungspapieren liegen, zusammen mit einer hübschen
Abfindung und einem mehr als anständigem Schweigegeld. Wenn Angela nicht ganz so blöd war, wie sie aussah, würde sie sich damit auf die Bahamas verziehen und für den Rest ihres Lebens die Klappe halten. Aber erst mal konnte sie noch das zuende führen, bei dem sie richtig gut und begabt war: Jason vögeln.
Sie trieben es gerade wild auf dem Schreibtisch in Jasons Privatbüro. Angela grunzte und schwitzte wie eine Sau auf der Treibjagd. Ihre langen, pinkfarbenen Fingernägel gruben sich in Jasons Rückenfleisch ein, während sein Unterkörper sich rhythmisch gegen ihren presste.
"Oh ja, gib's mir!", stöhnte sie hörig.
Jason konnte sie nicht hören. Er hatte sein Gesicht zwischen ihre Silikonbrüste gegraben und konzentrierte sich ganz auf seine Überstunden. Auf einmal durchschnitt das nervenzerberstende Klingeln des Telefons die traute Zweisamkeit.
"Jason?"
Keine Reaktion. Sie versuchte es nochmals.
"Jason?"
"Was!", kam es ungeduldig aus ihrer Brust.
"Jason, das Telefon..."
"Lass doch das blöde Telefon!"
"Und wenn es wichtig ist? Es könnte ein Kunde sein, oder..."
"Trish!", fuhr es Jason wie ein Blitz durch die Gehirngrütze, und er setzte sich auf. Ein hastiger Blick auf seine Armbanduhr verriet ihm, dass es schon weit nach drei Uhr war. Um drei hatte er zuhause sein wollen. Bestimmt rief Trish an, um zu fragen, ob es noch später werden würde. Schnell fuhr sich Jason mit der Hand über die verschwitzen Haare, als könne Trish ihn durch die Telefonmuschel sehen, schob
Angela beiseite, die sich anfing, wieder anzukleiden, und rückte seine Krawatte zurecht, bevor er endgültig den Hörer abnahm und sich mit seriöser Geschäftsmann-Stimme meldete.
"Jas...", er räusperte sich, "Jason Carlisle, C & N Werbeagentur?"
"Jason Carlisle?", fragte eine unbekannte Männerstimme zurück, "Haben Sie einen Sohn namens Daniel?"
"J-ja...", kam es unsicher von seinen Lippen. Da stimmte doch etwas nicht War das die Schule? Hatte Danny etwas angestellt? Aber nein, Jason verwarf diesen Gedanken sofort wieder. Danny war kein Junge, der sich auf diese Weise in Schwierigkeiten brachte. Billy war derjenige, der schon öfter wegen Prügeleien Verweise erhalten hatte und auf den die Schulleitung ein Auge geworfen hatte. Schon oft war es vorgekommen, dass die Carlisles einen persönlichen Anruf vom Direktor erhalten hatten, dass Billy mal wieder in seinem Büro mit einem blauen Auge saß und abgeholt werden müsse.
Dann hatten sie sich die Moralpredigt des Oberstudienrats anhören müssen, dass "...wenn ihr Sohn William nicht bald zur Ordnung gerufen würde, er sehr bald in noch größere Schwierigkeiten kommen würde - und ein Schulabschluss unter diesen Umständen so gut wie unmöglich wäre..."
Nein, Jason wurde fast blitzartig klar, dass etwas anderes mit Danny sein musste. Er hatte so ein unheilschwangeres Gefühl in der Magengegend. Nervös rutschte er auf seinem Bürostuhl hin und her.
"Was ist denn?", fragte Angela vom anderen Ende. Des Raumes mit ihrer penetrant wirkenden piepsigen Stimme. Jason winkte unwirsch ab. Der Anrufer, dessen Namen Jason nicht verstanden oder schon wieder vergessen hatte, begann ihm die Situation so schonend wie möglich beizubringen.
"Mr. Carlisle, ihr Sohn Daniel hatte heute Vormittag einen Unfall..."
Jason fiel in ein tiefes Loch.
"Wie...", er schluckte, "... wie schwer, ich meine... ist es sehr schlimm?"
Anstatt einer Antwort, sagte die Stimme am anderen Ende nur: "Kommen Sie bitte so schnell es geht ins Krankenhaus. Grey Medical Center, Park-Avenue Nr..."
Jason knallte den Hörer auf die Gabel. Sein Gesicht hatte sich inzwischen von einem gesunden, leicht gebräunten Teint zu einer fast gräulichen Blässe verfärbt. Er stand auf, schaute sich fahrig in seinem Büro um, als sähe er es zum ersten Mal, und begann dann hastig, seine Jacke anzuziehen.
"Jason?", fragte Angela vorsichtig.
"Jason, wer war es? Deine Frau? Weiß sie es?"
Er antwortete nicht, schien sie gar nicht wahrzunehmen. "Jason!"
"Mein Sohn...", er sprach wie unter Hypnose, "Danny hatte einen Unfall... muss sofort ins Krankenhaus..."
Und schon war er aus dem Gebäude gerannt Angela sah ihm erst eine Weile verwirrt hinterher, dann zuckte sie mit den Achseln und begann das Büro von den Spuren ihres letzten Liebesakts zu säubern. Damit war für sie die Sache erledigt.
Jason spürte die Stufen kaum unter seinen Füßen, als er die Treppe nach unten rannte, die seine Büroräume von den anderen trennte. Seine Firma befand sich in einem Gemeinschaftshaus, das noch aus dem vorigen Jahrhundert stammte. Als Jason damals seine Firma mit seinem Partner zusammen hier eingerichtet hatte, waren sie besonders angetan gewesen von dem rustikalen und gleichzeitig verschnörkelten Baustil des Hauses. Doch jetzt hatte Jason kein Auge für das große hallenähnliche Treppenhaus, in dem selbst im heißesten Sommer angenehme Kühle herrschte. Sein Kopf war dumpf und wie eingeschlossen in einem luftleeren Raum. Sein Blick hatte sich nach innen gewandt, nur unbewusst nahm er seine Umgebung wahr. Gleichzeitig verwirrten sich seine Gedanken.
Unwillkürlich musste er an seinen eigenen Bruder denken, der vor dreißig Jahren an Krebs gestorben war. Danny war nach ihm, Billy nach Patricias Vater benannt worden. Das war das Einzige gewesen, das Jason noch mit seinem verstorbenen Bruder verbunden hatte. Er hatte versucht, alle Erinnerungen an ihn auszulöschen, und hatte bis heute geglaubt, es tatsächlich geschafft zu haben. Jason hatte Daniel vergöttert, und seinen unfassbarer Tod lange Zeit nicht verwinden können. Seit er eine eigene Familie hatte, war er zum ersten Mal von den schmerzlichen Erinnerungen an seinen Bruder losgekommen, und er hatte wirklich geglaubt, ihn vergessen zu haben, nach all den Jahren. Doch nach dem Anruf vom Krankenhaus kam alles flutartig wieder.
Kinder vergessen nicht, sie verdrängen nur...
Auf der Straße blieb Jason erst einmal stehen. Er wusste nicht mehr, wo er sein Auto geparkt hatte, dann zwang er sich, klar zu denken. Am Morgen hatte er hier keinen Parkplatz gefunden. Sein alter Honda parkte in der nächsten Seitenstraße.
"Wo, verdammt noch mal, sind denn jetzt diese beschissene Autoschlüssel?!", schimpfte er. Jeder normale Amerikaner ließ seinen Wagen unverschlossen stehen. Nur er - Jason Charles Carlisle - musste natürlich, wider aller Normalität, seinen verfluchten alten Honda abschließen, den sowieso niemand stehlen würde!
Ruhig, Junge, denk nach!
Nachdem er sämtliche Hosentaschen vergeblich abgeklopft hatte, entdeckte er die Schlüssel in der Innentasche seines Jacketts. Seine Hand zitterte als er versuchte, die Wagentür aufzuschließen. Erst beim vierten Anlauf ließ sie sich öffnen. Jason stieg ein, versuchte krampfhaft locker zu bleiben und sich auf den Stop-and-go- Verkehr zu konzentrieren. Die Main Street, die Little Paris mit den Kleinstädten verband, war wieder passierbar. Nichts deutete noch auf einen möglichen Unfall hin, und so wusste Jason auch nicht, dass er geradewegs über die Stelle fuhr, an der noch vor ein paar Stunden sein Sohn von einem Auto durch die Luft geschleudert worden war.
Als sich der Verkehr gegen Ende der Hauptstraße aufzulösen begann und Jason sich langsam den Landstraßen seines Wohnortes Minora näherte, begann er wieder in Gedanken zu versinken. Im Geiste hörte er noch immer die Stimme am anderen Ende der Telefonleitung nachhallen.
Ihr Sohn Daniel hatte einen Unfall. Bitte bleiben Sie ruhig...
Wie, ruhig!?! Das ließ sich leicht sagen! Jason brachte so leicht nichts aus der Fassung - außer wenn eines seiner Kinder verunglückt war!
Warum Danny? Warum ausgerechnet Danny?!
Was heißt hier, "ausgerechnet Danny"? Wenn es Billy oder auch Trish getroffen hätte, wäre es genauso schlimm. Es hat nun einmal Danny getroffen!
Aber warum ausgerechnet mein Kind?
Er hatte bereits ein Stop-Schild und zwei rote Ampeln überfahren, und es war ein Wunder, dass die Polizei ihn nicht schon längst angehalten hatte, so schnell wie er fuhr. Er versuchte, sich zu bremsen, doch Jason hatte Angst. Große Angst. Plötzlich war er wieder der kleine Junge, der er vor 30 Jahren gewesen war. Er atmete den strengen Geruch von Krankenhäusern, die so steril waren, dass einem unheimlich wurde. Auf einmal kam Leben in das sonst so totenstille Gebäude. Schwestern, Pfleger und Ärzte rannten wie in einem übergroßen Bienenstock umher. Alle mit beängstigend aussehenden Geräten bewaffnet, und alle mit dem gleichen Ziel: Das Zimmer mit der Nummer 164, das Zimmer von Jasons fünf Jahre älteren Bruder Daniel. Jason hatte Angst Er wusste nicht, was geschehen war. Seine Eltern und er hatten Daniel besuchen wollen, wie jeden Tag, seit er im Krankenhaus bleiben musste. Dass sein Bruder sehr krank war, wusste Jason. Angefangen hatte alles vor zwei Jahren, als Daniel vor allem in der Schule durch häufige Unkonzentration und Schwächeanfälle aufgefallen war. Er fühlte sich oft krank und bekam immer häufiger Nasenbluten. Seine Mutter war sofort mit ihm zum Hausarzt gegangen, doch der konnte nichts finden und tat Daniels kränkeln als "Pubertieren" ab. Doch als es ihm immer schlechter ging, suchte seine Familie einen Spezialisten auf, und dieser stellte sie vor die nackten Tatsachen: Daniel hatte Krebs. Leukämie.
Von diesem Tag an verbrachte Daniel seine ganze Zeit in einer Spezialklinik, wo seine Arzte die neuesten Errungenschaften der Medo-Technik an ihm ausprobierten. Sie setzten alle Hoffnung in die neue Bestrahlungstherapie. Doch die war für Daniel äußerst schmerzhaft und kräftezehrend. Er wurde immer schwächer und verlor all seine Haare. Die Ärzte hatten ihn schon längst aufgegeben, doch Daniel gab die Hoffnung nicht auf, und dafür bewunderte Jason ihn. Für ihn bestand kein Zweifel, dass sein Bruder wieder gesund werden würde. Jedes Mal, wenn ihn jemand besuchte und ihn fragte, wie es ihm ginge, setzte Daniel ein schwaches, aber durch und durch überzeugtes Lächeln auf und antwortete: "Es muss gehen, ich habe noch etwas vor."
Daniel hatte Jason von seinem Vorhaben erzählt. Er arbeitete verbissen an seinem Abschluss, den er machen wollte, obwohl er nicht selbst zur Schule gehen konnte. Nach den Sommerferien würde er dann aufs College gehen wollen und er arbeitete für ein Stipendium. Natürlich wusste Daniel, dass seine Chancen auf Heilung gleich Null waren, aber es war wie eine Besessenheit. So, als könnte er nur dann beruhigt Abschied nehmen, wenn er wusste, dass er gut genug für dieses Stipendium war. Jason glaubte fest an ihn und bewunderte ihn für sein Bemühen. Vielleicht hatte er sich damals eingeredet, dass Daniel wieder gesund würde, wenn er dieses Stipendium bekam. Seine Eltern hatten ihn nicht davon abbringen können, zu arbeiten, auch wenn Daniel bald vor Erschöpfung zusammenbrach. Und vor zwei Wochen noch hatte Daniel gestrahlt und gesagt, er habe es geschafft, er sei nun fertig mit lernen. Jason hatte sich gefreut, denn Daniel hatte so gesund ausgesehen, trotz der fehlenden Haare und der Blässe. Er war so fröhlich gewesen und - ja, auf eine gewisse Weise erleichtert Jason erinnerte sich, wie seine Augen geleuchtet hatten.
Und jetzt - ja, jetzt war Daniel plötzlich tot.
Die Maschine, die seine Herztöne angezeigt hatte, gab nur noch einen langgezogenen, nicht enden wollenen, hohen Ton von sich. Im nächsten Moment wurde eine mit einem weißen Tuch abgedeckte Krankenhausbahre aus dem Zimmer gefahren. Unter dem Tuch wölbte sich der schmächtige Körper, der einmal Jasons Bruder gewesen war hervor. Jason wollte es nicht wahrhaben.
Nein, nein, nein, das ist nicht wahr, dass ist mein Bruder und er ist nicht tot. Er kann nicht tot sein, ich habe gestern noch mit ihm gesprochen. Man ging doch ins Krankenhaus, damit man wieder gesund würde!
Die Ärzte und Schwestern bemerkten den zehnjährigen Jungen gar nicht, der sich leise in das Zimmer 164 begab. Wie in Trance starrte Jason auf das weiße Metallbett, in dem noch vor zwei Minuten Daniel gelegen hatte, mit dem Tode ringend. Das Zimmer war tot, genauso wie Daniel jetzt tot war. Die Wände waren kahl, bis auf die Stelle direkt über dem Kopfende des Bettes. Dort hatte er ein übergroßes Poster aufgehängt, auf dem die BEATLES zu sehen waren. Daniel war ein großer Beatles-Fan gewesen und hatte alle Platten und Singles, die bis jetzt erschienen waren. Seine Eltern hatten ihm alles gekauft, was er wollte, das war nun einmal so bei Kranken.
Dieses war sein Lieblingsposter. Es zeigte Ringo rückwärts zur Kamera auf einem Stuhl sitzend. Er musste sich umdrehen, um nach vorne sehen zu können. Links von ihm, in leicht gebückter Haltung, saß Paul mit einer Zigarette in der Hand und frech in die Kamera lächelnd. George befand sich schräg rechts hinter Ringo und wirkte wie immer recht schüchtern und zurückhaltend. Am rechten unteren Bildrand hockte schließlich John, dessen entrücktes Grinsen irgendwie eingewachsen wirkte. Aus irgendeinem Grund trieb dieses fröhlich anmutende Bild Jason Tränen in die Augen. Es wirkte genauso falsch und gestellt wie die Hoffnung, die er sich gemacht hatte, dass Daniel wie durch ein Wunder gesund werden würde.
Er stieg auf das Bett und nahm vorsichtig das Poster ab, damit es nicht beschädigt würde, rollte es zusammen und wollte das Zimmer so schnell wie möglich verlassen, als sein Blick auf den Nachttisch neben dem Bett fiel. Er wusste nicht wieso, aber der Tisch schien ihn magisch anzuziehen. Und obwohl das Bedürfnis, den Raum schnellstmöglich zu verlassen immer größer wurde, konnte er nicht anders. Er musste den Tisch durchsuchen. Er öffnete die oberste Schublade - und da lag etwas. Oder vielmehr: zwei Dinge.
Zwei Umschläge. Der eine war an Daniel gerichtet und vom College. Jason riss ihn sofort auf. Darin stand, was Jason eigentlich schon wusste: Daniel hatte das Stipendium erhalten. Tränen stiegen ihm in die Augen, doch Jason wischte sie mit einer festen Handbewegung von den Wangen. Auf dem zweiten Brief war mit Daniels zittriger Handschrift Jasons Name geschrieben, und auch seine Hand zitterte, als er den Brief umdrehte, immer und immer wieder, als sei er nicht sicher, was er mit ihm anstellen sollte.
Sein Gesicht war ausdruckslos, die Tränen versiegt, als trauten sie sich gerade jetzt nicht zum Vorschein zu kommen; als würde Daniel ihn beobachten. Und Jason wollte nicht vor seinem Bruder weinen. Er presste beide Briefe fest an sich, schluckte ein paar Mal um ganz sicher zu sein, dass die Tränen nicht kamen, dann steckte er beide Briefe unter sein Hemd und verließ, das eingerollte Poster unter dem Arm, das Zimmer.
Das Letzte, an das sich Jason noch erinnerte, war der Tag von Daniels Beerdigung.
Viele schwarz gekleidete trauernde Menschen, ein brauner Holzsarg, der in ein tiefes Loch hinabgelassen wird, der Pfarrer hält eine Rede. Jason versteht kein Wort. Blumen, die auf Daniels Grab gelegt werden. Jason steht vor dem Grabstein, ein ein Meter hohes, marmornes, nichtssagendes Etwas, in das mit weißen Buchstaben die Worte geschrieben sind:
DANIEL JONATHAN CARLISLE
9.3.1947 -18.6.1964
Darauf folgten zwei Fotos. Eines, auf dem Daniel als Baby zu sehen war, das zweite zeigte ihn kurz vor Ausbruch der Krankheit vor zwei Jahren. Darunter standen die Worte RUHE SANFT, die gar nichts aussagten.
Jason schreckte aus seinen Gedanken auf und trat scharf auf die Bremse. Reifen quietschten, der Honda machte einen Satz und kam kurz vor einem etwa siebenjährigen Kind zum stehen, das blindlings seinem Ball nachgejagt und auf die Straße gelaufen war und das Jason beinahe überfahren hatte. Jason hatte sich so erschreckt, dass ihm nicht anderes einfiel, als das Fenster herunterzukurbeln und "Hey, Junge, kannst
du nicht aufpassen? Ich hätte dich fast überfahren!" zu brüllen. Dann gab er wieder Gas und fuhr an dem verdatterten Brian Hallek vorbei, dem es erst zu Hause einfiel zu heulen.
Nach einer halbstündigen Irrfahrt durch irgendwelche Seitenstraßen, die er noch nie zuvor gesehen hatte, kam er endlich in bedrückender und zugleich nervenaufreibender Erwartung zu Hause an. Ungeschickt und begleitet von lautem Geklimper fummelte er nachdem Haustürschlüssel. Als er gerade den richtigen gefunden hatte und im Türschloss herumdrehen wollte, öffnete seine Frau Patricia die Tür von innen. Sie hatte verweinte Augen und war leichenblass.
"Wo bist du solange gewesen?", fragte sie mit erstickter Stimme, "Danny ist im Krankenhaus, der Anruf kam vor einer Stunde, und du bist nirgends zu erreichen!"
Jason schüttelte den Kopf, "Jetzt bin ich ja da. Weißt du irgendwas genaues? Ist er schwer verletzt?"
"Ich weiß nicht", gab Trish matt zurück, "Es muss nach der Schule passiert sein. Am Telefon..."
"Los, fahren wir erst mal.", beschloss Jason, legte seiner Frau schützend den Arm um die Schultern und führte sie zum Auto, "Es wird schon nicht zu schlimm sein.", versuchte er Trish zu beruhigen, doch er zweifelte an seinen eigenen Worten.
**
Es schepperte laut, als das rote Metall des Kinderfahrrades auf den Asphalt schlug.
"Billy, ich lern das nie!"
Nachdem er bereits sechsmal von seinem neuen Fahrrad gefallen war, hatte Danny keine Lust mehr auf weitere Schrammen auf Knien, Ellenbogen und Händen. Außerdem wollte er, dass sein Fahrrad noch einige Jahre fahrtüchtig blieb. Anders Billy. Er war fest davon überzeugt, seinem Bruder das Fahren beibringen zu können.
"Setz dich, und halt dich gut fest", ordnete er an. Danny seufzte tief, tat wie ihm geheißen und hoffte inständig, dass er es diesmal schaffen würde, oder wenigstens nicht, gegen einen der Bäume am Straßenrand zu donnern.
"Bereit?", fragte Billy.
Danny presste die Lippen zusammen.
"Bereit!"
Billy begann zu schieben. Er war zwar kaum größer als Danny, aber er war kräftig genug, um ihn anzuschieben. Danny trat in die Pedale und hörte Billy hinter sich atmen. Das Rattern der Spielkarten in den Speichen wirkte beruhigend, je schneller er fuhr. Danny entspannte sich und konzentrierte sich nur auf das regelmäßige Treten. Dass Billy den Sattel losließ, weil er nicht mehr mitrennen konnte, merkte er nicht einmal.
Billy lief noch eine Weile hinter ihm her, falls Danny bemerken sollte, dass er alleine fuhr und vor Schreck vom Fahrrad fallen sollte. Auf einmal drehte Danny sich um, und das Rad begann zu schwanken.
"Billy... '?"
"Mensch, dreh dich nicht um, fahr weiter! Du kannst es! Fahr weiter!"
Und das Rattern der Spielkarten in den Speichen war noch meterweit zu hören.
**
Wenn Billy an solche Szenen von früher dachte, dann kam ihm alles so vollkommen, so perfekt vor, wie in einen rosa Wattebausch gehüllt oder durch eine milchige Glasscheibe betrachtet Als Kind sieht man die Welt wie ein großes Märchen, mit einem Wunder an jeder Straßenecke. Doch irgendwann wird man gezwungen, diese Welt zu verlassen und aufzuwachen aus diesem Traum. Dann wurde man mit der Realität konfrontiert mit all ihren Problemen, Verboten, Tabus. Du musst dich behaupten, um nicht unterzugehen; wie in einem Rudel Wölfe um das beste Stück Fleisch kämpfen, oder du vegetierst am untersten Ende der Nahrungskette herum, ohne Sinn und Verstand.
Billy hatte bis jetzt keinen Gedanken an so etwas verschwendet Mit seinen fünfzehn Jahren stand er noch am Anfang des Lebens, das für ihn bis jetzt eine große Party war. Er war im besten Alter, kein bevormundbares Kind mehr und noch nicht erwachsen. Er und Danny hätten ein unbeschwertes Teenagerdasein führen können, die beste Zeit des Lebens genießen können - hätten. Aber Billy hatte es zerstört In einen winzigen Augenblick voll Unbeherrschtheit hatte er Dannys und seine Zukunft zerstört. Billy fuhr sich verkrampft mit beiden Händen übers Gesicht, als versuche er die Gedanken abzustreifen, die in seinem Kopf tobten. Wenn doch nur endlich etwas passieren würde! Wenn doch nur endlich ein Arzt kommen würde, um zu sagen, wie es um Danny stand! Wenn doch nur endlich seine Eltern kommen würden! Obwohl er furchtbare Angst davor hatte, ihnen ins Gesicht zu sehen, war ihm das noch hundertmal lieber, als weiter hier nichtstuend auszuharren. Am Ende des Ganges waren plötzlich hastende Schritte über den blanken Boden klappern zu hören. Billy erkannte die Gangart seiner Mutter und sah auf. Ja, es waren seine Eltern Sie sahen sich hastig suchend um, registrierten Billy kurz und liefen auf ihn zu. Sein Vater begann als erster, einen Wortschwall über ihn zu ergießen.
"William! Was ist passiert? Was hast du schon wieder angestellt? Geht es dir gut? Wo ist Danny? Ist er schwer verletzt? War der Arzt schon hier?"
Billy schüttelte nur matt den Kopf, brachte kein Wort heraus. Seine flehenden Augen richteten sich an seine Mom.
"Jason, siehst du nicht, dass Billy genauso unter Schock steht, wie wir? Lass ihn in Ruhe, er weiß auch nicht mehr."
"Aber er war doch dabei, als es geschah!", regte sich Jason seiner Frau gegenüber auf, "Er muss doch etwas gesehen haben! Er war beim Unfall dabei!", jetzt wandte er sich wieder an Billy, "Wie ist es passiert? Hattet ihr Streit? Seit ihr in eine Schlägerei geraten? War dieser Junge dabei, dieser - wie hieß
er noch - John Moore? Ich habe doch immer gesagt, dass dieser John ein Schläger ist. Sein Vater ist ein Säufer und seine Mutter hat die Familie im Stich gelassen. Diesem Junge klebt das Unglück an den Fersen. Ich habe nie verstanden, dass du mit ihm befreundet bist. Er steckt immer in Schwierigkeiten. Würde mich nicht wundern, wenn..."
Billy sprang wütend auf, sein Gesicht war rot angelaufen und er ballte die Fäuste, "Hör auf damit! Johnny hatte gar nichts damit zu tun! Du machst es dir verdammt leicht, jemandem den du nicht kennst, die Schuld in die Schuhe zu schieben! Johnny war nicht mal dabei! Ich war es! Ich habe Danny auf die Straße gestoßen! Ich bin schuld, ich ganz allein!!"
Einen Augenblick war es still in dem Warteraum. Billys Eltern starrten ihn mit offenen Mündern schockiert an.
"Was?", Patricia war fassungslos. Billy setzte sich trotzig wieder auf die Bank und starrte auf seine Fußspitzen.
"Ja...", er verbarg, dass seine Stimme von Tränen erstickt klang, indem er flüsterte, "Wir bekamen Streit, Danny hat mich provoziert, da bin ich ausgerastet Es kam einfach so über mich. Ehe ich bemerkte, was ich getan hatte, war es zu spät. Ein Auto kam, und Danny...", er musste schlucken, sein Hals tat ihm weh, "...er hat es nicht mehr rechtzeitig geschafft, von der Fahrbahn herunterzukommen. Es tut mir leid."
"So, es tut dir leid?", für Jason war es unfassbar, was er hören musste, doch noch gelang es ihm, sich einigermaßen zu beherrschen. Er kannte Billy und wusste von seinem unkontrollierbaren Jähzorn, und so fragte er mühsam beherrscht: "Und was war der Auslöser für deinen Ausbruch? Was war so furchtbar, das Danny zu dir gesagt hat, dass du so ausrasten musstest?!"
Schon an seinem Tonfall erkannte Billy, dass es seinem Vater eigentlich egal war. Punkt war einzig und allein, dass Billy schuld an Dannys Unfall war, und etwas anderes wollte Jason gar nicht hören. Denn Billy war nun mal ein Schlägertyp, der sich mit anderen Schlägertypen herumtrieb, während Danny das unbescholtene, sensible und kreative Kind der Familie war. So sagte Billy lediglich kleinlaut: "Wir stritten uns... weil... weil Danny das bessere Zeugnis hatte... und... und... mich damit aufgezogen hatte." Er senkte seinen Blick sofort wieder auf den Boden.
"Zeugnis...?", Jason klappte zusammen, "Du hast Danny... wegen seines Zeugnisses...?! Du...", er holte mit der Hand aus, doch gleichzeitig öffnete sich die Tür zum OP und ein grün bekittelter Mann Anfang vierzig betrat die Wartehalle. Augenblicklich sahen Trish und Jason auf, und der Mann ging zielstrebig auf die beiden zu.
"Mr. und Mrs. Carlisle?"
Sie nickten nur.
"Ich bin Dr. Peckert. Folgen Sie mir bitte."
"Wie geht es unserem Sohn?", überfiel Jason den Doktor sofort, "Danny. Ist er..."
Der Arzt winkte ab, wich der Frage aus und faltete ernst die Hände, "Kommen Sie."
Billys Eltern folgten ihm in sein Sprechzimmer, und Billy blieb allein zurück. Seine Hand tastete in seiner Hosentasche nach dem kleinen Tütchen, das dort noch immer war. Es knisterte leise, als Billy mit den Fingern leicht dagegen drückte. Er würde sein Versprechen halten. Oder vielmehr die Abmachung, die Monica von ihm erzwungen hatte. Keiner sollte erfahren, dass Danny das Kokain gehörte. Nicht, weil Billy Angst vor Monica oder ihren Drohungen hatte. Nein, er wollte Danny schützen. Ihn und sein Bild, das jeder von ihm hatte. Es genügte schon, dass Danny diesen Unfall gehabt hatte. Wenn er dafür bestraft werden sollte, war der Unfall Strafe genug. Jetzt war es an Billy, seine Strafe zu erhalten und diese war größer als es Billy jetzt schon erahnen konnte.
*
"Setzen Sie sich, bitte."
Dr. Peckert bot Jason und seiner Frau zwei Stühle an. Jason war auf hundertachtzig. Da konnte doch etwas nicht stimmen! Der Mann tat so übertrieben gefasst und gelassen, dass es schon zwanghaft wirkte.
Da ist mehr geschehen, als er uns sagen will, dachte Jason und spürte, wie er wieder in Panik geriet Seine Frau musste dass gespürt haben, denn nun ergriff sie das Wort.
"Steht es schlecht um Danny, Doktor?"
Jason bewunderte sie für ihre Ruhe, die sie sich bewahrte.
"Darauf komme ich gleich zu sprechen.", sagte Dr. Peckert und begann - in Jasons Augen unendlich langsam - am gegenüberliegendem Ende des Tisches Platz zu nehmen und mit seinem Kugelschreiber herumzuspielen. Dieses klickende Geräusch - Jason stellten sich die Nackenhaare auf.
Kliek-klick, kliek-klick, kliek-klick, kliek-klick
Im Takt ballte Jason seine Hände.
Auf-zu, auf-zu, auf-zu, auf-zu...
Es mussten schon fünf Stunden so vergangen sein – in Wirklichkeit war es keine Minute gewesen - als Dr. Peckert nun endlich den Stift weglegte und tief Luft holte. Jason dankte Gott dafür, dass er Erbarmen mit seinen Nerven hatte.
Eine Sekunde länger und Jason hätte diesem Herrn Doktor ohne mit der Wimper zu zucken den Kugelschreiber in sein Ohr gerammt.
Mit gedämpfter Stimme begann der Arzt: "Mr. und Mrs. Carlisle. Das, was ich Ihnen jetzt sagen muss, ist auch für mich nicht einfach. Ihr Sohn Daniel hatte einen Autounfall. Das Auto ist frontal mit ihm zusammengestoßen..."
Trish Carlisle gab einen erstickten Schrei von sich, und der Arzt fuhr etwas lauter fort, "...Er lebt, Gott sei dank! Nicht alle Unfälle dieser Art laufen so glimpflich ab. Physisch gesehen geht es Daniel besser, als wir zu hoffen gewagt hatten. Die Büsche am Straßenrand haben seinen Stürz abgefangen. Er hat lediglich ein paar Prellungen und eine Knochenfraktur am linken Arm. Allerdings", Peckert sah von seinen gefalteten Händen auf, von denen er alles abzulesen schien. Jason verkrampfte. sich.
Jetzt kommt's Der Hammer. Das große Aber. Verdammt noch mal, mach's nicht so spannend, sonst dreh ich durch!
Peckert räusperte sich. Er hatte beschlossen, anders anzufangen.
"Bei dem Unfall erlitt Daniel eine Kopfverletzung, als der Wagen ihn anfuhr. Durch diese Kopfverletzung liegt Ihr Sohn derzeit in einem Koma."
Jason fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen. Er wusste nicht was er sagen sollte. Und wieder war es Trish, die bemerkenswerte Gefasstheit bewies.
"Wie... Ich meine, was bedeutet das?"
Dr. Peckert setzte eine gelehrte Miene auf und wirkte so noch ernster als vorher schon.
"Unter Koma verstehen wir Mediziner eine langanhaltende, tiefe Bewusstlosigkeit. Man kann nicht im Voraus bestimmen, wie lange solch ein komatöser Zustand andauern kann. Es kann sich um ein paar Tage handeln, aber in einigen Fällen zieht es sich über Jahre hin. Das heißt nicht, dass es bei Daniel der Fall ist, aber es liegt im Bereich des Möglichen. Das kann ich nicht sagen. "
"Was heißt das, Sie können das nicht sagen?", Jason sprang aufgebracht auf. Patricia nahm ihn am Arm,
"Jason, reg dich bitte nicht auf. Setz dich wieder."
"Ich soll mich setzen'?", seine Stimme überschlug sich, "Ich soll mich nicht aufregen? Dieser Mann sagt, mein Sohn liegt im Koma, und weiß nicht, wann oder ob er überhaupt wieder aufwacht, und du sagst, ich soll mich nicht aufregen?! Ja, wer zum Teufel weiß denn dann, wann so ein Koma endet? Ich denke, Sie sind Mediziner!", fuhr er den Doktor an, der solche Szenen vermutlich schon gewohnt war.
"Mr. Carlisle, wir - die Mediziner - haben alles getan, was in unserer Macht steht. Obwohl wir im Bereich der Medizin schon sehr weit sind, gibt es eben immer noch Grenzen. Und dazu gehört der Bereich der Psyche, auf die wir operativ keinen Einfluss haben. Und noch immer ist das menschliche Gehirn nicht durch und durch erforscht worden. Wir haben, wie gesagt alles medizinisch mögliches getan. Jetzt liegt es an Ihrem Sohn, was weiter geschieht."
"Danny?", entfuhr es Jason entgeistert, "Wieso er...?"
"Wenn er stark genug ist.", fuhr Peckert mitruhiger Stimme fort, "Wenn er einen starken Willen hat. Überlebenswillen, verstehen Sie?"
Er betonte jedes Wort.
Jason sah hilfesuchend auf seine Frau. Sie nickte sanft mit ihren Augen, und er setzte sich wieder. Dann wandte sich Trish an Dr. Peckert.
"Können wir nicht... ich meine, gibt es nicht irgendetwas, das wir trotzdem für Danny tun können?"
"Tja", der Arzt atmete tief aus, "Viele Arzte gehen davon aus, dass kein Außenstehender den Zustand eines Koma-Patienten beeinflussen kann, doch ich bin - wie inzwischen einige meiner Kollegen - der Meinung, dass es nicht verkehrt ist, wenn der Patient äußeren bekannten Reize ausgesetzt wird. Es sind Fälle bekannt, in denen Familienangehörige am Bett von Koma-Patienten saßen, mit ihnen geredet haben, ihnen bekannte Musik vorgespielt oder ihre Lieblingsbücher vorgelesen haben und diese Patienten kurze Zeit später aufgewacht sind. Es ist nicht bewiesen, dass beides im direkten Zusammenhang steht, doch die Angehörigen sind davon fest überzeugt."
Schweigend dachten die Carlisles über das eben Gehörte nach. Schließlich standen sie auf.
"Können wir jetzt zu ihm?", richtete Patricia das Wort zum Schluss an den Arzt. Dieser nickte.
"Aber nur kurz heute. Kommen Sie."
Als sie das Sprechzimmer verließen und Dr. Peckert durch die Wartehalle folgten, sah Billy ihnen erwartend nach. Jason würdigte ihn keines Blickes, und seine Mutter erwiderte seinen Blick nur gegenfragend.
"Dad?", rief Billy ihm nach.
"Sei still und warte hier!", kam die barsche Antwort, bevor Billys Eltern hinter der Tür des Aufzuges verschwanden.
Billy fiel in sich zusammen, hockte sich wieder auf die Plastikbank und kaute nervös an seinen Fingernägeln. Eine Viertelstunde später kamen seine Eltern zurück
"Dad, was ist mit Danny? Wie geht es ihm?", versuchte Billy einen erneuten Versuch, doch sein Vater sagte nur: "Komm." und ging schnurstracks zum Auto. Seine Frau schwieg ebenfalls, doch ihr war anzusehen, dass der Anblick ihres Sohnes ihr mehr zuschaffen machte, als sie zeigen wollte. Aber auch mit Billy wusste sie nichts anzufangen. Sie wollte wütend auf ihn sein, aber leid tat er ihr auch.
Bis zum Auto, das auf dem Besucherparkplatz stand, hatte sie sanft ihren mütterlichen Arm um Billy gelegt, allerdings so schwach, als hätte sie Angst, ihn ganz zu
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 26.02.2010
ISBN: 978-3-7309-0519-7
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Für alle Träumer