Cover




Humbug, der; s (ugs. abwertend): a) etwas, was sich als bedeutsam gibt, aber nur Unsinn ist; b) unsinige, törichte Äußerung oder Handlung


Marlene war tot, soviel war sicher. Und das, so dachte Thorben, war auch gut so. Er vermochte nicht zu sagen, wie lange er das alte Scheusal noch ertragen hätte. Stunden um Stunden hatte er bei Marlene gesessen, ihrem sinnlosen Gebrabbel zugehört - oder zumindest den Eindruck erweckt. Die deutsche Sprache, nicht eben sparsam mit Abscheu ausdrückenden Vokabeln, stieß bei seinen Gefühlen für seine verstorbene Stiefmutter an ihre Grenzen.

Indessen, der Lohn seiner Mühen rückte in greifbare Nähe. Dabei wäre er kurz vor Schluss um ein Haar noch gescheitert, hätte er nicht schnell und vielleicht auch ein wenig skrupellos Gegenmaßnahmen ergriffen. Das Papier zu vernichten war nicht elegant gewesen, hatte aber seinen Zweck erfüllt. Ulrike würde auch weiterhin nicht mehr als nötig erben. Thorbens schadenfrohes Lächeln verschwand - blitzartig schlug er der Länge nach auf den Gehsteig, rings um ihn herum die Buden des Münsteraner Weihnachtsmarkts. Beim Aufrappeln fiel sein Blick auf den hinter ihm stehenden Mann: Roter Mantel, Kapuze und wallender Bart. Der Weihnachtsmann streckte die Hand aus und half ihm auf die Beine. "Sorry, Sie sind über mein Bein gestolpert, alles klar bei Ihnen?" Er klopfte ihm auf den Rücken. "Schon in Ordnung, hab mir ja nichts getan!" schnauzte Thorben. Santa musterte ihn von Kopf bis Fuß, zuckte mit den Schultern und verabschiedete sich mit einem: "Na dann, Gott zum Gruße", um in der Menge zu verschwinden.

Weihnachtsmänner und Märkte - wie sehr Thorben sie verabscheute! Es war ihm unverständlich, warum man, z. B. von Essen nach Münster oder umgekehrt fuhr, nur um vor Buden zu stehen, die man im Heimatort auch hätte bewundern können. Überall das Gleiche: Pseudokunsthandwerk, Sauf- und Fressbuden. Und ständig die vor sich hin dudelnde Weihnachtsmusik, die man nur im Suff ertrug. Irgendwie kam er sich auch immer verfolgt vor, zwei Typen meinte er schon zum dritten Mal zu sehen. Weihnachten machte tatsächlich jeden debil. Unter all den Menschenansammlungen die er mied, waren ihm daher Weihnachtsmärkte am verhasstesten. Einzig seine Verabredung mit seiner Schwester im "Palmengarten" zwang ihn diesmal, seiner Abneigung zuwider zu handeln.

Das Kopfsteinpflaster war glatt, ausgerechnet vor dem Eingang zur Kneipe hatte man nicht gestreut. Es gelang Thorben gerade noch, den Türknauf zu packen und damit einen erneuten Sturz zu verhindern. Ulrike saß drinnen an der Theke. Folglich war sie bereits betrunken. Im Kostüm - rotweiße Mütze, rotweißes Kleid mit tiefen Einblicken. Um fünf. Wobei sie da zwischen den Weihnachtsmarktbesuchern nicht sonderlich auffallen würde. Wäre ihm auch alles sowas von egal gewesen, wenn er nicht hätte befürchten müssen, sie könnte sich verplappern. Sein Hintern spießte auf den Hörnern des Dilemmas: Eine betrunkene Ulrike löste in einem unbedachten Moment möglicherweise eine Katastrophe aus. Eine nüchterne Ulrike konnte dagegen auf die Idee verfallen, ihn zu erpressen. Momentan jedoch war die Alkoholvariante von Belang. Der Kellner mixte gerade einen weiteren White Russian für den einzigen Gast an seiner Theke. Hinten saßen noch weitere Gäste, drei Männer um die 60, und lachten über irgendetwas.

"Jeannette McDonald "Love me Tonight", ein 80 Jahre alter Song!", begrüßte ihn seine Schwester. Thorben nahm an, sie meinte das Gesäusel aus dem Radio. Ulrike hatte zwar kein einziges ernstzunehmendes Talent, aber eine Fülle von Interessensgebieten, mit dem niemand etwas anfangen konnte. Sie schien ihr Leben damit zu verbringen, ihren Kopf mit lauter Unfug vollzustopfen. Und, ganz nebenbei, er hatte richtig gelegen: Sie war betrunken.
"Nabend Schwester! Neuen Job? Steht Dir.", hievte er sich auf den Barhocker und fragte sich dabei ernsthaft, wer um Himmels Willen eine solche Weihnachtsfrau egangieren sollte. Von notgeilen Junggesellenabschieden mal abgesehen.Vermutlich war Ulrike auch von so etwas nicht mehr allzu weit entfernt.
"Nabend, Bruder! Da Du keine Anstalten machst, muss ich irgendwie sehen,wie ich die Miete und all das andere bezahlt kriege. Meine ganze Karriere ist eine Abfolge von Jobs,die das gerade so alles decken. Ah, gut...", kurz vorm tatsächlichen Lallen. Der White Russian wurde vor sie hingestellt. Kurz wollte Thorben Wasser bestellen, aber nichtalkoholische Getränke weckten bei Ulrike vielleicht den Verdacht, er wolle sie aushorchen. Also bestellte er eine Caipi und begann genau damit, sie auszuhorchen.

Selbst jetzt musste er noch vorsichtig sein. Oder um es mit den Worten von seinem verlotterten Mitbewohner Charlie zu sagen: So wie Du immer nur nach vorn schaust, wirst du eines Tages über irgendwas von der Seite stolpern. Wobei Charlie etwas war, was er möglichst bald genau dort liegen lassen wollte: Auf der Seite, und zwar links. Einstweilen war er vorsichtig mit Ulrike. Sie sprachen über die Beerdigung. Und als sie mit der Beerdigung fertig waren, gingen sie zum Erbe über. Thorben Reinhard war weder blöd genug, noch kannte er Ulrike so schlecht, als dass er gehofft hätte, es würde nicht hässlich werden. Es wurde sehr hässlich.
"Brauch wohl nicht zu fragen, ob Du Mutters Hütte jetzt verschacherst?", giftete sie ihn über einem weiteren White Russian an.
"Nein, brauchst Du nicht", erwiderte er kühl. Vorsicht war eins, sich beleidigen zu lassen, das andere. Erst recht von einer Person wie Ulrike.
"Wie geht es David?", jetzt lallte sie tatsächlich.
"Dav...?", aber da fiel ihm gerade noch rechtzeitig ein, so hatte der Kater geheißen. Ja ganz recht: Hatte.
"David ist verschwunden."
"Er ist bitte was?"
"Er ist weg."
Ulrike fing an zu weinen. Die Tür ging auf, ein Strom kalter Luft kam zusammen mit den beiden Weihnachtsmarkttypen von vorhin herein. Die Stadt war an diesen Tagen einfach zu klein. Er gab Ulrike ein Tempotaschentuch und versuchte zu trösten:
"Tut mir leid Ulrike, ich weiß, Du hast sehr an ihm gehangen".

Einen Dreck hatte sie, aber das konnte er ihr nicht auf die Nase binden. Ebensowenig die Fahrt zum Tierarzt heute morgen. Dabei wusste er selbst nicht so genau, weshalb er das Tier hatte einschläfern lassen. So unreflektiert war er nun auch wieder nicht, sich selbst einzureden, er hätte das Tier nur aus Bequemlichkeit eingeschläfert. `Vielleicht verabscheue ich Menschen, mag aber Katzen` überlegte er, verwarf den Gedanken aber unverzüglich. In wirklich jeder Hinsicht war David ein hinterhältiges Wesen gewesen, angefangen damit, nur eine bestimmte - selbstredend obszön teure - Katzenfuttermarke zu akzeptieren. Irgendwann, auch in der Weihnachtszeit, hatte Thorben sich mit Marlene auf eine Wette eingelassen:
"Marlene, ich wette, wenn wir das preiswertere Futter kaufen, merkt David es nie im Leben!"
"Thorben, David möchte dieses Futter da, und kein anderes."
"Hey!", und er hatte sich dabei geärgert, dass sie ihn nicht lobte, weil er mit elf schon auf preiswertes Einkaufen bedacht war, "Sag, um was wetten wir?!"

Sie hatten um fünf Mark gewettet, aber er hatte es riskiert, sicher, wie er sich seiner Sache gewesen war. Der Kater hatte sich beim ersten Versuch vor den Napf gesetzt, kurz geschnuppert und demonstrativ nichts gefressen. Dabei war es geblieben. Marlene hatte nicht auf dem Geld bestanden, aber sie hatte die leere Packung des Billigkatzenfutters ins Regal gestellt und bis zu ihrem Tod dort stehen lassen, als Mahnmal gegen den Hochmut ihres Stiefsohns.

Der Tierarzt hatte David auf Thorbens Wunsch eingeschläfert. Niemand wollte ihn nehmen, und ins Tierheim sollte er auch nicht. Hatte er Mitleid mit dem Viech gehabt? Wohl kaum. Vielleicht Respekt unter Bastarden. Er war jedenfalls dabei geblieben. Warum schonte er eigentlich gerade Ulrike? Konnte sich nicht erinnern, dass sie eine Katze gewesen wäre:
"Ach Bullshit, Ulli, ich hab ihn einschläfern lassen!"
"Du hast bitte was?", sie ließ ihren Drink sinken und starrte ihn an, als wäre sie wieder schlagartig nüchtern. Wie so oft trog der Schein.
"Ich bin zum Tierarzt gefahren. Keiner konnte ihn nehmen, und das Tierheim willst Du dem alten David ja wohl nicht antun", er musste sich bremsen, sonst hätte er gleich etwas von "jetzt sind die beiden wieder zusammen" geblubbert. Wie gesagt, die Weihnachtszeit machte alle irgendwie debil.

"Ich muss pissen!", erklärte seine Schwester und verschwand Richtung Damentoillette. Da saß er, allein. Im Augenwinkel nahm er die zwei Männer war. Der Große von den beiden hatte ein häßliches, zerschlagen wirkendes Gesicht. Vielleicht ein Ex-Boxer. Oder vermutlich eher ein Säufer, der sich oft prügelte. Der Kleine war dick, und auf seiner Stirn glänzte Schweiß:
"Entschuldigung, bitte..", jetzt sprach ihn Matschgesicht auch noch an - mit einem fremden Akzent.
"Ja, bitte...? Ich habe wenig Zeit.", gab sich Thorben keinerlei Mühe, seine gereizte Stimmung zu verbergen.
"Wir möchten gerne in Ruhe mit Ihnen reden, wir..."
"Es tut mir leid. Keine Zeit. viel Glück bei jemand anderen", Ulrike kam zurück, er war fast dankbar, und die beiden Gestalten zogen sich an ihren Tisch zurück. Jetzt missionierten sie schon in den Kneipen, unfassbar.
Ulrike war immer noch wütend: "Du hast mich nicht einmal gefragt, verdammt!". Giften konnte sie selbst volltrunken formidabel.
Ach, je, "verdammt" traf es gut, jetzt musste er sie irgendwie wieder beruhigen:
"Hör zu: Er hatte Tetanus. Ich wollte Dich nur nicht noch mehr deprimieren, ok? Frieden?"
"Tetanus, wo soll er sich das denn geholt haben? Können Katzen das überhaupt kriegen?"
"Klar, und bei den ganzen rostigen Sachen, denk an die Türnägel, wie oft hast Du Dir die Klamotten..."
"Halt die Goschen..., tu nicht so, als hättest Du Dir Gedanken gemacht. In Thorbens Herz ist wenig Platz, außer für Thorben. Fick Dich doch, Katzenkiller!"
"Ulrike", das war gerade dabei, gründlich schief zu laufen, "beruhig Dich, komm runter. Ich will nur mit Dir reden!"
"Du tust die ganze Zeit nichts anderes. Du kannst gar nichts anderes. Mama hat wenigstens vor 40 Jahren oder so mal den Mumm gehabt, eine Waffe in die Hand zu nehmen und..."
"Könntest Du einfach den Mund halten!", für gewöhnlich sprach er leise, aber er jetzt übertönte er sie absichtlich. Sie hielt die Klappe, schwer atmend. Schweiß glänzte auf ihrer Stirn und auf ihrem vermutlich geschminkten Dekolte. Es musste heiß sein in diesem Weihnachtskostüm. Und jetzt wollte sie diese alte Bankgeschichte wieder rauskramen, die nun wirklich irrelevant war. Und dazu noch frei erfunden, davon war er überzeugt. Marlene hatte vor 15 Jahren auf einer Feier wieder mal deutlich mehr getrunken, als gut für sie war. Und in einer widerlichen Viertelstunde des Selbstmitleids hatte sie die beiden Teenager in ihr großes dunkles Geheimnis eingeweiht: Einen 30 Jahre alten Bankraub in Manchester, an dem sie angeblich beteiligt war. Sie waren, so die Geschichte, nie erwischt worden. Seit diesem Tag glaubte Ulrike fest an eine irgendwo unter den Holzdielen oder sonstwo versteckte Geldkassette. Schwachsinn! Aber nicht die Sorte Schwachsinn, den er in der Öffentlichkeit breittrampeln wollte. Im Gegensatz zu Horny Santa hatte er nämlich einen Ruf zu verlieren.
Leiser werdend, fast flüsternd sagte Thorben: "Ja, Mumm hatte sie!"
Unbeeindruckt von seiner Bitte entgegnete Ulrike lächelnd und genau so laut wie vorher: "Toll, kaum geht´s um Geld, verehrst Du sie auf einmal!" Sie nutzte die in seinen Augen theatralische Pause, um ihre Stimmbänder mit einem großen Schluck aus ihrem Cocktailglas zu ölen.

Thorben war jetzt ehrlich sauer. Verdammt, er hatte es satt, sich Unverschämtheiten anzuhören, die reine Zeitverschwendung für ihn darstellten, vor allem, weil er alles schon tausendmal von ihr gehört hatte.
"Aber weißt Du was, Thorben, zum Henker mit Deiner ständigen Fixierung auf die Kohle. Im Gegensatz zu Dir brauch ich kein dickes Bankkonto, um mich gut zu fühlen. Du siehst auch nicht gerade aus, als ob es bei Dir viel helfen würde.Was nicht heißt, dass ich gerade kein Geld brauchen könnte. Könntest Du...?"

Er lehnte sich zurück. Pokerface. Er wusste jetzt, was er wissen musste. Marlene hatte ihrer Stieftochter nichts von ihrem geänderten Testament erzählt, noch weniger hatte Ulrike es tatsächlich gesehen. Mit der Aussicht auf den Batzen Geld hätte sie nicht in Tausend Jahren die Demütigung geschluckt, ausgerechnet ihn um Geld zu bitten. Und angesichts der Asche, als die das Testament jetzt in seinem Kamin lag, war wieder der beim Notar hinterlegte Wille gültig. Er lehnte sich nach vorne, und es kostete ihn Mühe, so zu tun, als wäre er gern großzügig gewesen, aber leider...
"Tut mir wirklich Leid, Schwester. Das Haus muss renoviert werden, und mein restliches Leben ist auch nicht billig. Immerhin kriegst Du den Pflichtteil. Mein Tipp: Such Dir einen Job, am besten einen, der länger als zwei Wochen dauert. Es ist nicht das ganze Jahr Weihnachten!"
Er hob seinen Deckel, der Sunnyboy hinter der Theke nickte und kam her. Thorbens Finger glitten in seine Manteltasche - und griffen ins Leere. Andere Hand, andere Manteltasche -Leere, abgesehen von seinem Schlüssel. Innentasche -natürlich auch leer. Das Adrenalin schoss in seine Adern. Der Sturz - der Weihnachtsmann - er hatte ihn gelinkt!

"Tja, ich hätte sie ja gern gewarnt, aber sie machten nicht wirklich den Eindruck, als ob sie mir zuhören wollten", plötzlich stand Matschgesicht neben ihm.
"Was wollen Sie schon wieder von mir! Hören sie auf...", keiffte er wütend zurück. Wenn er eins nicht leiden konnte, dann war es, ohne Geld zu sein!
Der fremde Mann hob beide Hände zur Beschwichtigung:
"Ist ja schon gut... Mann, wir wollten Ihnen nur helfen. Ich hab Sie zwischen den Glühweinständen gesehen, als Sie gefallen sind, und wie dieser - mäßig talentierte - Taschendieb ihnen aufgeholfen hat. Erstaunlich, dass jemand mit derart alten Tricks immer noch im Geschäft ist, was Mike?!"
Mit den letzten Worten schien er seinen kleinen dicken Freund zu meinen, der ebenfalls auf die Gruppe zu kam.
"Tja, wie wahr. Aber verbuch´s als Lehrgeld. Deine Stiefmutter hat auch welches bezahlt. Mit etwas mehr Humor, aber der kann ja noch kommen. Thorben, richtig? Ich bin Mike Beinert, und das ist Stan McAra, aber Marlene hat uns immer John und Jim genannt", er streckte seine Hand aus.
Thorben verstand nicht, und hatte auch nicht die Absicht, wildfremde Hände zu schütteln. Er blaffte den Besitzer der in der Luft hängenden Rechten an:
"Wer sind Sie. Und wieso duzen Sie mich?"
Der Mann schaute nur blöd. Er lief sogar ein wenig rot an:
"Du... Sie sind Thorben Reinhard? Sohn von der kürzlich verstorbenen Marlene Reinhard?"
"Stiefsohn, genau der - auch wenn es Sie nichts angeht."
Der Mann blickte hilfesuchend zu seinem Begleiter. Matschgesicht zuckte nur seinerseits die Schultern und meinte dann:
"Scheint, als hätten wir ein kleines - wie sagt man - Kommunikationsproblem. Entschuldigen Sie die Frage, Herr Reinhard, aber hat Ihre Stiefmutter Ihnen nicht ein Schreiben hinterlassen?"

Hitze stieg in Thorben auf, er fasste sein Glas, damit man seine zitternde Hand nicht sah. Jetzt bloß nicht anfangen zu schwitzen. Diese Schweinehunde wussten von dem Testament. Das konnte zwar nicht sein, aber es deutete alles darauf hin. Sie würden ihn erpressen und ausbluten lassen. Aber halt, nicht, wenn er schlau war. Es konnte zwar sein, dass sie vom Testament wussten, vielleicht, wenn auch sehr unwahrscheinlich, hatten sie es auch gesehen, aber sie konnten nicht wissen und nicht beweisen, dass er es vernichtet hatte. Wenn er alles ableugnete, saßen sie auf dem Trockenen:
"Nein sie hat mir nichts geschrieben - was Sie wieder nichts angeht. Außer dem Testament beim Notar. Wir standen uns vielleicht nicht sehr nahe. Und jetzt erklären Sie bitte, was Sie von mir wollen. Und dann stören Sie uns vielleicht nicht weiter."
"Wir sind Freunde Ihrer Stiefmutter!", warf der Kleine ein "alte Freunde."
"Freunde, von denen ich nie etwas gehört habe. Aber wie gesagt, wir standen uns nicht sehr nahe."
"Das scheint mir auch so", sagte jetzt Matschgesicht - Jim - wieder. Er klang traurig. Vermutlich versuchte er es mit der Mitleidsmasche.
"Aber egal. Ihre Stiefmutter hat uns gebeten, Ihnen ein Angebot zu unterbreiten. Sie wollte es Ihnen eigentlich selbst mitteilen, aber vielleicht...", fuhr Jim fort.
Überzeugt, sich in der Gesellschaft von Trickbetrügern zu befinden, schnitt Thorben ihm das Wort ab:
"Das ich für dieses oder jenes Projekt oder diesen Bedürftigen noch Geld geben soll? Für wie doof halten Sie mich?!"
"Naja, also eben auf dem Weihnachtsmarkt", meldete sich der Kleine zu Wort, aber Jim machte ihm ein Zeichen, und schon war Ruhe. Jims Ton war ruhig, beschwichtigend, vermutlich gehörte das zum Handwerkszeug, dachte Thorben.
"Hören Sie, wir wollen kein Geld. Wir wollen eine Art Reise mit Ihnen machen, wenn Sie es mich an einem ruhigen Ort erklären ließen..."
"Nein, jetzt ist es genug", Thorben sprach sehr viel lauter, um die Endgültigkeit der Abfuhr zu unterstreichen. Er wollte nach Haus. Er wusste, Ulrike hatte keine Ahnung. Er musste nur auf die Testamentseröffnung warten. Vorher musste er natürlich diese beiden Clowns los werden. Würde aber so schwer nicht werden.
"Bitte gehen Sie. Jetzt!"
Jim schaute John an, John schaute Jim an, beide schauten ihn an. Mit einem resignierten Schulterzucken warf Matschgesicht einen Zehner auf die Theke.
"Komm, John, wir gehen. Herr Reinhard, unser Beileid zum Tod Ihrer Stiefmutter."
Unter Jims Pranke öffnete sich die Tür, als ein "Bitte bleiben Sie doch noch einen Augenblick...", offenkundig aus dem Mund von Horny-Drunken-Santa Ulrike zu hören war.
Die beiden angesprochenen Männer drehten sich um und erweckten den Eindruck, als nähmen sie die Frau im Weihnachtskostüm zum ersten Mal am Abend wahr. Dennoch, sie kamen wieder herein. Verdammt.
Aber Ulrike musste natürlich weiter babbeln: "Ich bin die Tochter, naja, eigentlich Stieftochter von Marlene. Ich glaube, ich weiß, wer Sie sind. Und ich habe etwas, was Sie interessieren wird. Hören Sie mir einen Augenblick zu, vielleicht dort in der Nische, wo Sie vorhin gesessen haben?"
Die Männer nickten, und so zogen alle, einschließlich Thorbens, der beunruhigt war, wie nüchtern seine Schwester plötzlich wirkte, an den Tisch. Hier kramte Ulrike aus ihrer stilecht in rotweiß gehaltenen Handtasche einen Zettel, und begann, nach einem kurzen Seitenblick, zu reden:
"Ich fange mit einem Geständnis an. Ich habe geglaubt, Marlene hätte vor 40 Jahren eine Bank ausgeraubt und einen Teil der Beute wäre immer noch im Haus versteckt. Deshalb durchsuchte ich zwei Tage nach ihrer Beerdigung heimlich das Gebäude..."
Thorben atmete auf. Um diese Zeit war das Testament längst Asche gewesen. Nicht auszudenken, wenn sie früher gekommen wäre. Aber seine Schwester hörte nicht auf:
"Ich hab den Schatz gesucht, wie ein Kind. Nun, ich habe kein Geld gefunden..."
Jim und John nickten ganz leicht, als wüssten sie, wovon diese Irre da redete:
"Doch in der Dose mit dem Katzenfutter, dass der arme David nicht fressen wollte, damals, habe ich einen Brief gefunden. Von meiner Stiefmutter. Zerknittert, aber lesbar, wenn man sich ein bisschen Mühe macht. Das habe ich getan, und das habe ich gelesen:



"Lieber Thorben,
Tja, ist ein Klischee, ich weiß, aber wenn Du das hier liest, bin ich tot. Und nein, das ist kein Anlass zur Traurigkeit. Ohnehin hältst Du die Katzenfutterpackung als eines Deiner wenigen Erbstücke vermutlich ziemlich erbost in Händen. Dazu später.

Ich hatte ein wirklich aufregendes Leben. Aber bevor ich zu diesem Punkt komme, ein wenig über Dich: Ich weiß, Du glaubst, Du seist immer ein "vernünftiges" Kind gewesen. Warst Du nicht. Du warst ein neugieriges, dreistes, abenteuerlustiges, manchmal geradezu provozierend unvernünftiges Kind. Und dann hast Du Dich verändert. Keine Ahnung warum, ich habe es durchaus bemerkt, aber es war wie eine Meeresströmung, gegen die man nicht anrudern kann. Außerdem schienst Du auf diese Art - diese rational planende - glücklich zu sein. Aber das glaube ich jetzt nicht mehr.
Bei Deiner Schwester war es exakt umgekehrt: Ein ruhiges Kind, führt sie jetzt das, was Deine Großeltern ein unstetes Leben genannt hätten. Wäre auch gut, aber auch sie macht mir keinen glücklichen Eindruck.

Daher habe ich vor, das Privileg von Stief- und anderen Müttern, sich in das Leben ihrer Kinder zu mischen, auf etwas exzentrische Art in Anspruch zu nehmen. Und hier komme ich jetzt zu meinem Leben. Du kennst meine Geschichte mit dem Bankraub. Du hast sie nicht geglaubt. Nichtsdestoweniger war jedes damals gelallte Wort die Wahrheit und nichts als die Wahrheit:
Wir waren zu dritt: John war darunter und Jim war dabei, und dazwischen ich. Wir lebten in einer heruntergekommenen Wohnung in Soho, mitten in London, in den 60ern die erstaunlichste Stadt des Universums. Ständig blank, immer mit der Stromrechnung im Verzug - oft haben wir über einem Gaskocher eine Dose Ravioli gekocht und bei Kerzenlicht verputzt und danach... Nein, das kommt, wenn Du etwas weniger unschuldig bist. Wie es dahin kam, spielt keine Rolle: Wir knackten eine Bank in Manchester und kamen davon. Und was tat ich? Ließ meinen Komplizen das Geld zur Verwahrung da und kehrte zu meinen Eltern zurück. Es steckt in der Familie, dieses Hin und Her zwischen Risiko und Normalität. Ich lernte Viktor kennen, lieben und hatte so plötzlich Euch mit am Hals. Das habe ich nie bereut. Aber ich will Dir die andere Hälfte des Lebens nicht vorenthalten. Womit ich zu meinem Angebot (oder meinem Erpressungsversuch) komme.

Nach dem im Nachtschrank liegenden Testament - handschriftlich, ich kenne die Gesetze - erbst Du zunächst beinahe nichts, nichts von dem ohnehin wenigen, was ich offiziell vererben könnte. Aber ich habe Kontakt mit Jim und John aufgenommen. Sie sollen Dir die andere Hälfte von mir zeigen und vielleicht, so hoffe ich, auch Deine eigene. Sie haben noch immer das Geld, ich bin sicher, sie werden Dir meinen Anteil überlassen.
Deine Schwester braucht dagegen das, wovon du zuviel hast: Normalität, Bodenständigkeit. Daher bekommt Sie das Haus, das bisschen Geld und David.

Liebe Grüße, Marlene

P.S.: Solltest Du versuchen, mich zu linken, können John und Jim sehr gemein werden. Nicht zusammenzucken, gewöhn Dich schon mal an die Regeln von dieser Seite der Welt.




Schweigen. Böswillige Blicke. Jim und John wirken plötzlich viel größer und gefährlicher, obwohl sie doch mitten in der Stadt in einer offenen Kneipe sitzen. Thorben schwitzt. Ulrike lächelt:
"Tja. Schätze, es gab ein zweites Testament, in dem ich ein wenig mehr erbe. Wer könnte dieses Testament wohl veschwinden lassen. Ne Idee, Bruder? Doch weisst Du was? Ich hab vorhin nicht gelogen: Scheiss auf die Kohle. Du hattest ein viel besseres Angebot von Marlene, eins, nach dem ich mir die Finger lecke. Gut, davon wusstest Du nun wieder nichts. Schätze, Du hast nur das Testament vernichtet. Dumm für Dich, dass ich das jetzt beweisen kann. Obwohl, behalt die Hütte. Das bisschen Geld auch gerne. Ich nehm, wenn´s Recht ist, Marlenes Angebot - so wie es klingt, gibts da auch Geld. Seid ihr damit einverstanden?"
Sie schaut Jim und John an. Gerade in diesem Moment wird Thorben klar, wie weit die beiden Gangster einander vertrauen, sie leben fast schon in einer Art Symbiose: Sie sprechen nicht, ein kurzer Blick, wieder Blick zu Ulrike, ein fast synchrones Nicken.
"Willkommen im Team. Der Flug nach London geht Morgen um neun. Keine Sorge, die Reisekosten sind auf sehr lange Zeit gedeckt."
Johns Blick springt zu Thorben: "Manchmal, das war ein Spruch Ihrer Stiefmutter, greift man echt ins Klo. Unfassbar, dass Marlene mit Ihnen Zeit verschwendet hat. Wenngleich, Ihre Schwester reißt es wieder raus. Da Sie ohnehin entsetzt sein werden, wie wenig Geld Sie erben, verzichte ich darauf, Ihnen irgendwelche Knochen zu brechen. Allerdings, wenn Sie in den nächsten fünf Minuten nicht von hier verschwunden sind, dann... "
Thorben späht nach dem Kellner - selbst jetzt traut er sich nicht, die Zeche zu prellen... Er stöhnt auf: `Das gestohlene Portemonaie..`, ihm wird schlecht.
"Oh, Bruder, du kriegst Stresspusteln. Mach Dir wegen dem Deckel keine Sorgen. Geschwister sollten zusammenhalten. Ich zahl das. Verschwinde einfach..."
Hastig reißt er die Tür auf - wieder der kalte Wind - da ruft Jim: "Hey! Mann..."
Widerwillig dreht Thorben sich um:
"Was?"
Jim hebt sein Glas: "Fröhliche Weihnachten!"
Es klingt nicht einmal wie Spott.


.


Impressum

Tag der Veröffentlichung: 15.12.2011

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /