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Prolog



Wie die Götter der Antike genoss sie es, nackt zu gehen.
Für einen Augenblick sah sie ihr Bild im Spiegel. War sie das geworden, was sie sich gewünscht hatte? Und wenn ja, war sie mit dem Ergebnis glücklich? Alles in allem, so sagte sie sich in Momenten des Zweifelns, was war sie mehr als eine verführerische Puppenspielerin? Und doch: Feurrotes Haar über weißer Haut. Eine für Männer wie Frauen unwiderstehliche Circe.
Im Spiegelbild verschwand das Lächeln von ihrem Gesicht und wich einem nachdenklichen Ausdruck. Sie spürte den bevorstehenden Abend mit dem unvermeidlichen Schlagabtausch wie ein in der Luft liegendes Gewitter. Sich vom Spiegel abwendend, nahm sie das schwarze Kleid vom Bett. Es war nun ... gewagt. Aber dann schüttelte sie den Gedanken ab: Sie zog in den Krieg, sie brauchte was zu schießen.


Nico hätte, davon war Ralf überzeugt, auch vorm Thron des Allmächtigen anlässlich des Jüngsten Gerichts eine entspannte Figur gemacht. Vermutlich würde er nicht anders als jetzt da sitzen, lässig zurückgelehnt, in einen Comic lesend, und beim Aufruf seines Namens überrascht aufblicken und fragen: "Wer, ich?". In genau dem Tonfall, in dem er jetzt zum Türrahmen blickte, die Augenbrauen hochzog, ein "Nabend, Ralf" murmelte und wieder zur Lektüre seines Hentaicomics zurückkehrte. Ralf war hier oft genug, um nicht darauf zu warten, von Nico etwas angeboten zu bekommen. Stattdessen nahm er ein Rotweinglas aus dem Schrank und schenkte sich selbst ein.
"Wo ist Bert?"
"Roberta vergnügt sich im Schlafzimmer mit Jonathan. Guck nicht so schockiert, wir sind im 21. Jhd. - und wenn Du willst, nimm Dir Wein, möglich, dass Du dann auch da ankommst."
"Im Bett oder im Jahrhundert, wo ich den Wein bereits habe", hakte Ralf nach und setzte sich.
Jetzt blickte Nico doch von den drallen, von mehreren Tentakeln gleichzeitig gevögelten Mädels mit den Rehaugen auf:
"Ich meinte das Jahrhundert. Aber Du kannst Dein Glück gern versuchen, Mylady ist einem gelegentlichen Dreier nicht abgeneigt - wobei ich mir nicht sicher bin, ob Du da so direkt ihre Wahl bist. Cheers!", und mit diesen Worten prostete er ihm zu.
"Na, nicht krumm nehmen, aber Du und Jonathan und Roberta, das stelle ich mir auch nicht sexier vor als Tweedle Dum und Tweedle Dee mit einer erwachsenen Alice im Wunderland. Aber, andere menschliche Bedürfnisse betreffend: Was gibts zu essen?"
"Neidisch?", kicherte Nico, " aber um zu der für Dich spannenden Frage zurückzukommen, das Futter steht in der Küche. Lob es um Gottes Willen! Sie hat es selber gekocht und gebacken, statt sich ne fähige Köchin zu bestellen..."
Ralf stand auf und trat in die halb abgeteilte Küche.

"Was ist das denn für Gebäck hier?", fragte Ralf, während er - den Geräuschen nach zu urteilen - mit einer Flasche hantierte.
"Wie soll ich das durch die Wand sehen?", meinte Nico, "aber wenn es das ist, was ich glaube, dann ist es Baclava, ein türkisches Pistaziengebäck."
"Tja, nicht für mich. Gegen die Dinger bin ich sogar im Eis allergisch.", brummte Ralf zurück. Wenn sie nicht gerade aufeinander rumhackten, stellte sich eine schwer zu beschreibende From von Kameradschaft zwischen ihnen ein.
Nico klappte das Hentai zu, um Ralf in die Küche zu folgen.
"Du musst es nicht essen. Bert hats in erster Linie für Bayram und Iris gebacken, die beiden kommen nämlich um neun."
"Oh, das wusste ich nicht."
"Woher auch. Aber mit Dir hatten wir auch nicht gerechnet. Denke aber, Du kannst trotzdem bleiben. Wird ne witzige Party. Ehemann, zwei Geliebte, Gäste und zwischen drin eine Frau, die, wie sie selbst immer sagt, wie Circe alle Männer in Schweine verwandelt."
"Ich weiß nicht, vielleicht sollte ich doch lieber gehen. Miu ist allein, die Kinder übernachten bei ihren Schulfreundinnen."

"Oh, mein Bester, auf einen Wein musst Du schon bleiben. Vorher lasse ich Dich nicht weg. Und beklag Dich nicht, das, wovon ich dich früher nicht weggelassen habe, dauert bei Dir länger als ein Glas Wein. Was durchaus ein Kompliment ist", unbemerkt war Bert in seinem Rücken erschienen. Jonathan stand neben ihr. Ralf drehte sich um und betrachtete sie. Sie trug ein schwarzes Kleid, ein hochgeschlossenes. Für einen Augenblick schlug Ralf sich mit dem Gedanken herum, dass jeder der Männer im Raum schon wusste, was unter diesem Stoff lag. Aber dann wurde seine Aufmerksamkeit auf ihr Gesicht gezogen. Es war ihr kurz-vor-oder-kurz-nach-dem-Fick-Gesicht. Das rote hochgesteckte Haar, die grauen Augen, die gemeißelte Nase und der lüstern-grausame Zug um den Mund. Ein Zitat, dass sie ihm vor Jahren einmal vorgelesen hatte, schien mit einem Mal nur für sie geschrieben: "Von einer Schönheit, die die Welt nicht kennt, knechtet sie mit Nachlässigkeit". Hoffend, dass man ihm seine Gedanken nicht ansah, straffte er, das Glas hebend, den Rücken: "Cheers Bert, Cheers Jonathan".

Wenige Minuten später saßen sie alle am Tisch: Berts Studienfreund Bayram, und seine Frau Iris waren eingetroffen. Bayram entschuldigte sich gerade mit der Begründung, einer von ihnen beiden hätte entschieden zu viel Zeit auf Kosmetik verwendet. Bert hörte Bayrams Lästern über die Frauen der Welt lächelnd zu. Einen Augenblick fragte sich Ralf, wie er all ihre Schwächen hatte übersehen können, als er sie vor 9 Jahren geheiratet hatte. Oder hatte er die Schwächen als Stärken gesehen?
Und dennoch, sie war nicht nur eine launische und grausame Frau, und es kostete ihn Energie, das zu verdrängen. Die Momente schwarzer Verzweiflung, wenn sie nachts im Schlaf schrie - all das hatte er nicht vergessen. All das machte es ihm leider auch unmöglich, sie zu hassen.

Den Grundgesetzen einer jeden Party folgend, bildete sich in der Küche ein Grüppchen aus denen, die sich etwas zu Essen holten. Dort traf denn auch Ralf auf Iris.
Aus der angebrochenen Bordouxflasche schenkte sich Ralf noch ein großzügiges Glas voll ein, als Bayrams Frau durch die Türöffnung schaute.
"Ah, ein einsamer frustrierter Trinker", meinte sie, lachte aber dabei.
Kommentarlos nahm Ralf einen Schluck und deutete mit dem Kopf zur Flasche:
"Auch eins? Dann hätte sich das einsam erledigt."
Iris schüttelte nur den Kopf, in der Türöffnung lehnend wendete sie ihm den Rücken zu.
"Du trinkst nicht wegen ihm, oder?"
"Wegen Bayram?", fragte sie zurück, ohne sich umzublicken. Ihre Stimme hatte einen Klang zwischen amusiert und entgeistert.
"Der trinkt selbst Nico noch unter den Tisch...", aber dann wurde sie plötzlich still, "Was meinst Du, wer von den beiden wird das Rennen machen, Nico oder Jonathan?"
Er trank zunächst einen weiteren Schluck: "Du meinst bei Bert?".
Stummes Nicken als einzige Antwort. Einen Augenblick schien er nachzudenken:
"Derjenige, der ihr als erstes ein Kind macht, würde ich sagen. Frei nach Schiller
- in dieser hohlen Schlampe muss er kommen, kein andrer Weg, der führt zur Kohle hin."
"Du bist ein Arschloch, und ein betrunkenes Arschloch", konterte Iris, aber sie unterdrückte dabei ein Kichern.
"Bin ich mitnichten, ein Arsch, meine ich. Der Satz ist von Bert, sie hat es über..."
"Sie hat es über mich und Bayram gesagt, gibs zu!" fuhr sie ihm dazwischen, "glaubst Du, ich kriegte das Getuschel nicht mit? Aber ihr Männer könnt euch ja selbst nicht vorstellen, dass eine Frau einen Mann einfach will, weil er lieb und einfühlsam ist, und dass ihr dann sein Job und seine Bildung vielleicht völlig Schnuppe sind. Und Bert konnte das vielleicht genausowenig. Aber nur weil von euch nach Abzug Eurer akademischen Grade, eurer Autos und Reisen nicht mehr viel übrig bleibt, muss das noch lange nicht für meinen Mann gelten, Arschloch!", und mit dieser gezischten Beleidigung verließ sie die Küche.

Wenig später war die Runde am Tisch wieder vollzählig und stritt beim Prasseln des Kaminfeuers erheitert über Polyamorie und andere alternative Lebensmodelle.
"Nun, ich weiß nicht", murmelte Ralf, dem die ganze Diskussion unangenehm zu sein schien. Er rückte seinen Stuhl kurz vor, um Iris zur Toillette durchzulassen und stieß dabei die Bourdouxflasche um. Dickflüssig ergoß sich der Rest Wein über die Tischdecke.
"Wie klug von mir, mich für die dunkelblaue Tischdecke zu entscheiden", meinte Bert nach einem Auflachen, dann warf sie ihm einen dieser komplizenhaften Blicke wie von früher zu und fuhr fort, "Mach Dir keine Sorgen, der Rotwein war eh nicht so besonders. Ich hol uns was Neues!", und damit stand sie auf und steuerte auf die Kellertreppe zu.
"Wo geht sie hin?", fragte Ralf, "der Rotwein stand doch in der Küche?".
"Im Keller lagern noch andere Spezialitäten", antwortete Nico.
"Also, mir reicht eigentlich Wein", meinte Jonathan.
"Dann haben wir ja Glück, dass Du nicht bei Brei stehengeblieben bist. Hinterher müssten wir den jetzt dir zuliebe löffeln. Ich bin sehr dafür, was Neues zu probieren."
Bayram lächelte "Auch wenn man etwas Gutes gefunden hat?"
Es folgte eine längere Erklärung Nicos, wonach man gerade dann - zumindest als Künstler - noch etwas besseres suchen müsste: "Mit der Zeit, Bayruu, wird auch der beste Wein zu Essig!"
Bayram zuckte dazu schließlich - immer noch lächelnd - die Schultern.

Berta war wieder da. Ralf hatte sich schon gewundert, dass sie so lange fort war und jetzt, aufgeschreckt aus seinem Gespräch mit Bayram, konnte er auch nicht sagen, aus welchem Teil der Wohnung sie ins Zimmer zurückgekehrt war. Sie balancierte ein Tablett mit einer Flasche Absinth und Wassergläsern. "So, damit es etwas lustiger wird heute, können wir ja gleich einen kleinen Umtrunk machen. Ihr werdet schon sehen mein Muntermacher wird euch richtig aufmischen". Und mit diesen Worten platziete Berta das Tablett in die Mitte des Tisches, stellte die Gläser um das Tablett herum, so dass jeder ein Glas gereifen konnte und goss eifrig ein, bis die Flasche leer war. "Na, das verspricht ja heute ein denkwürdiger Abend zu werden" sagte Nico grinsend. "Denk nicht soviel sondern trink, da wo ich das geholt habe ist noch viel mehr davon."
Bayram hatte sich eigentlich nicht auf eine Saufparty eingestellt, aber da alle das Glas erhoben, um auf ihre großzügige Gastgeberin anzustoßen, wollte er nicht abseits stehen. Schon nach dem ersten Schluck bereute er das. Er hasste Lakritz, und genauso schmeckte der Absinth, nur um ein vielfaches stärker. Den Alkoholanteil wagte Bayram nicht zu schätzen, aber er war sich sicher, dass es für gehobene Stimmung und böses Erwachen sorgen würde.
Auch Ralf schaute nicht gerade begeistert und Bayram merkte, dass er nicht, wie Nico und Johnathan, das Glas exte.
"Brrrr, was für ein herrlich leckres scheußliches Zeug!" Nico schüttelte sich. Zum Glück gibt es bald was zu essen. Ich hatte schon vor dem Drink einen Bärenhunger aber jetzt wächst er ins Unermessliche."
"Ja, gute Idee!", erwiderte Johnathan, der ebenfalls das Glas geext hatte und nun sparsam aus der Wäsche blickte.
"Stimmt, ich bekomme auch Hunger! Wo bleibt Iris eigentlich?", Bert hob das Glas und alle tranken.
"Dass sich keiner von Euch gleich ein Ohr abschneidet", meinte Nico, der - Künstler oder nicht - keinen Alkohol vertrug.
Bayram setzte zu einer Frage an, aber Bert schnitt ihm das Wort ab:
"Nein, den Gefallen tust Du ihm jetzt bitte nicht, Bayram!"
"Welchen Gefallen?"
"Den Gefallen, seiner kryptischen Bemerkung auf den Leim zu gehen, nachzufragen und uns damit zu zwingen, seine angelesene Anektode mitanzuhören.", fauchte Bert.
"Lass Deine miese Laune doch nicht wieder an mir aus!", konterte Nico.
"Was heißt hier meine schlechte Laune?! Es ist doch Dein Stil, irgendetwas in die Runde zu werfen und dann die unvorsichtig nachfragenden Zuhörer mit minutenlangen Vorträgen zuzublubbern - ja, van Gogh hat sich angeblich nach einer flasche Absinth sein Ohr... ja, das Duell mit Gaugin - ich kanns nicht mehr hören..."
Nico lehnte sich zurück und sagte für einen Augenblick nichts. Dann nahm er ruhig einen Schluck aus seinem Glas:
"Sorry, ich konnte ja nicht wissen, dass Du und Jonathan Euch das Monopol auf die Klugscheißerei teilen wolltet."
Mit einem Mal wurde die Aufmerksamkeit der Streitenden auf Bayram gezogen, der stumm und wie in Krämpfen zuckend auf seinem Stuhl saß. Erst als sie ihn fragten, was los sei, wurde ihnen klar, dass er lachte. Er lachte still, aber die Tränen liefen ihm dabei übers Gesicht. Schließlich fasste er sich weit genug, um wieder sprechen zu können:
"Also, liebe Freunde", abermals schüttelte ihn ein kurzes Lachen, "von all dem verstehe ich nichts. Ich wollte bloß fragen, wo Iris steckt."
Was folgt in solchen Momenten anderes als eine peinliche Stille? Aber schließlich wurde sie durch das zunächst leise, dann lauter werdende Lachen Berts unterbrochen, und dann lachten wie auf ein Signal hin alle, und die Halle des alten Bauernhauses schallte von ihrem Gelächter.
Erst jetzt fiel Ralf auf, dass ein Glas unbenutzt auf dem Tisch stand - Iris Glas - und dass er sie seit geraumer Zeit nicht gesehen hatte. "Die ist bestimmt nach Hause gegangen", sagte Jonathan, "irgendwie wirkte sie ziemlich blass."
"Stimmt" fiel ihm Berta ins Wort "viel geredet hat sie auch nicht. Das entspricht so gar nicht ihrer Art."
"Aber ohne sich zu verabschieden oder mir bescheid zu sagen... das macht sie sonst immer", beharrte Bayram.
"Na, dann hoffen wir mal, dass es ihr nicht all zu schlecht geht und sie sich auf dem Weg der Besserung befindet", sagte Nico und schnappte sich das unberührte Glas.
Bayram schaute ihn verärgert an, "Nein, dass glaub ich nicht, ich geh sie suchen." Auch Ralf stand auf und schloss sich ihm an.

"Da bleibt nur noch der harte Kern", kommentierte Jonathan kopfschüttelnd das abrupte Verschwinden von Ralf und Bayram.
"Mein Gott, sie machen sich eben Sorgen. Immerhin ist Bayram ihr Mann", Nico konnte es nicht lassen, Jonathan ein Kontra zu geben.
"Und Ralf?", ließ sich letzterer das letzte Wort nicht nehmen.
Aber hier mischte sich Bert ein:
"Ralf ist wie er ist. Er hat seine Fehler, aber er ist liebenswürdig. Er tut nicht nur so, er macht sich ernsthaft Sorgen um seine Mitmenschen"
Aber auch jetzt gab sich Jonathan nicht geschlagen, verbissener als beim Schach, wo er selbst unausweichliche Niederlagen bis zum bitteren Ende durchspielte:
"Na, dann hoff mal, dass sein Interesse über reine Nächstenliebe nicht hinausgeht."
"Hä?" fragte Berta.
"Überleg doch mal, Ralf hat auch seine Interessen und glaub mir, Iris hat es faustdick hinter den Ohren", sagte Jonathan und zwinkerte verschwörerisch, "Da passt es nur ins Bild, wenn Bayram so besorgt ist. Er traut Iris nicht und als echter muselmanischer Patriach kann er es natürlich nicht hinnehmen, wenn andere Männer Iris poppen wollen oder schlimmer Iris die muslimische Idee der Vielehe auf ihre Art auslegt".
"Neidisch?" meinte Nico.
"Worauf?"
"Der einzige Mann in einem großen Bett zu sein?"
Süffisantes Lächeln auf Jonathans Seite: "Kann ich Dir erst sagen, wenn ich eine Frau mit einem Mann teilen muss. Bert, aus meiner Sicht bist Du bisexuell!"
"Jungs, und ich betone das Jungs ausdrücklich, ich finde es reicht jetzt", Berta schüttelte sich vor Lachen, " ihr habt bestimmt in der Sportdusche Eure Schwanzgröße verglichen. Aber dafür bin ich schon eine Spur zu alt, auch wenn ich das der Frau mit der Zahnbürste - der einzigen Frau übrigens, mit der ich jemals ins Bett gehe - morgens im Spiegel nie ansehe."
"Was hast Du eigentlich an Ralf gefunden?", Nico zog eine Schnute.
"Wieder so eine Frage. Ich wollte ihn einfach. Ende der Geschichte."
"Aber er ist so...."
"soo?"
"ich glaub, Nico meint, er passt nicht zu Deinem Leben", leistete Jonathan - untypisch für ihn - Nico Schützenhilfe.
Einen Augenblick kam das Gespräch ins Stocken und Bert saß da, als betrachtete sie über den Rand ihres Weinglases hinweg die Welt, die sie sich aufgebaut hatte.
"Er mag die Kinder. Ich glaube ihm schwebte einfach ein gemütliches Familienleben vor, mit Ausflügen, Geburtstagsfeiern. Solche Sachen. Ich glaube er freute sich schon bei unserem ersten Kind mit auf die Enkel".
"Oh, was die wohl sagen würden" stieß Nico mit einem maliziösen Grinsen hervor, " wir, die Nachfahren jenes ruhmreichen Mannes, der bei "Twilight" geheult hat."
Die Spitze saß, selbst Jonathan lachte, Bert hatte Mühe, den gerade genippten Wein nicht herauszuprusten. Doch dann, Nico lachte mittlerweile über seinen eigenen Witz, wurde ihr Gesicht ernst. Sie setzte das Glas ab, so hart dass Jonathan im ersten Moment befürchtete, es könnte zerbrechen.
"Wisst ihr was, ihr beiden? Manchmal finde ich Euren Zynismus zum Kotzen", und damit stand sie auf und ging durch die Tür zum Korridor.
Nico kannte solche Auftritte von Berta und ließ sich dadurch nicht in seiner Heiterkeit beirren, auch wenn diese nun nicht mehr so überschwenglich war wie zuvor. Jonathan guckte eher mitfühlend. Schon häufig hatte Nico ihn aufs Korn genommen und sein ätzender Spott hatte auch ihn häufig verletzt.

Etwa zehn Minuten später war Iris immer noch fort, aber ansonsten saßen alle am Tisch. Bert hatte sich weider beruhigt, ihr stürmisches Temperament hatte sich - wie schon so oft - gelegt. Das Kaminfeuer war jetzt derart heiß, dass der Raum stickig wurde. Ralf kamen die Zeilen eines Gedichtes aus seiner Schulzeit in den Sinn, über Kriemhild am Hof von Burgund. Oder so ähnlich, es war lange her. Aber der Raum, die einsame Lage des Hofs, der Sturm draußen - das verlieh dem Rotwein, den langen Schatten, die sie im Licht des Feuers warfen noch eine zweite Wirklichkeit. Ralf betrachtete Bayram. Offenkundig unglücklich und besorgt hatte er nach der ergebnislosen Suche wieder auf seinem Stuhl Platz genommen und brütete jetzt vor sich hin. Ralf empfand - auch wenn er sich der Absurdität durchaus bewusst war - Mitgefühl. Zwischen Bayram und Iris bestand etwas Wertvolles, das sah er, auch wenn er es selbst nicht mehr hatte oder vielleicht gerade deswegen. Aber dennoch würde er derjenige sein, der dieses Glück beendete. Und nicht einmal aufgrund von übergroßer Liebe oder übergroßem Hass, sondern einfach, weil diese Frau und ihr Mann zum falschen Zeitpunkt in seinem Leben aufgetaucht waren. Aber das war für später - zunächst wollte er genau dasselbe wie Bayram: Er wollte unbedingt wissen, wo Iris steckte.
"Wir könnten ihr Handy anrufen", meinte er, mehr um etwas zu sagen.
"Schon probiert, sie hat es abgeschaltet", warf Bert ein.
"Kann es sein, dass sie nach hause gelaufen ist?", auch Jonathans Frage klang nicht sehr überzeugend.
"Wenn käme sie zunächst bei Euch vorbei", meinte Bert und blickte dabei Ralf an, "und bei diesem Wetter macht sie da auch halt."
"Ich kann schnell rüberlaufen", bot der angesprochene Ralf an.
"Mach das, ersauf unterwegs im Matsch und ich und die Kinder erben Dein Haus", konterte Bert jetzt wieder etwas vergnügt, "alles Unfug, wir rufen bei Euch an."
"Auf die Idee bin ich auch schon gekommen," entgegnete Ralf. "Das bringt nur leider nichts, weil Mio in ihrem Schönheitsschlaf nicht gestört werden will und ihr Handy um diese Zeit immer abgeschaltet hat."
"Deine Mio weiß sich durchzusetzen, dass muss man ihr lassen" warf Nico ein, "Du kannst von der Teppichkante Fallschirm springen, so hoch wie du über selbigen läufst."
Ralf guckte betreten, sagte darauf aber nichts.
"Ich kann mir jedenfalls nicht denken, dass Iris sich bei dem Wetter ohne mich auf den Heimweg gemacht hat," insistierte Bayram. "Sie hasst Regen, ihre Jacke hängt noch am Haken."
"Diesen Eindruck hatte ich aber vorgestern nicht von Iris, als sie mit Bert spazieren war, ihr ward zippelnass und kreuzglücklich" sagte Nico.
"Was am Donnerstag aber da war sie doch in...." Bayram verstummte, wurde blass und unter leisem unverständlichem Gemurmel stand er auf, entschuldigte sich und ging zur Toilette.
Ralf warf einen langen, ruhigen Blick in Berts Gesicht mit dem gemeinen Zug um den Mund und war versucht, sie zu fragen, ob sie das wirklich getan hatte. Es war nicht die Frage, ob Bert mit einer Frau schlafen würde. Die Frage war, ob Bert Skrupel hatte, die Ehe zweier langjähriger Freunde aufs Spiel zu setzen. Ralf fürchtete allerdings, die Antwort würde ebenso mit Ja ausfallen wie die Frage nach einer möglichen Bisexualität.

"Und da warens nur noch vier", kommentierte Nico trocken und fügte - zu Bert gewandt - hinzu "es werden häufig weniger, wo Du das Szepter schwingst".
"Ich vertreibe niemanden", antwortete sie und öffnete unter Ralfs ruhigem Blick eine neue Weinflasche.
"Mag sein", mischte sich ihr Ex-Mann ein, "aber die Menschen in Deiner Umgebung verändern sich. Und vielleicht nicht immer zu ihrem Vorteil."
Das Kinn auf ihre Hand stützend lehnte sie sich, wie ein Apostel in da Vincis Abendmahl, zu ihm hin: "Willst Du andeuten, das sei meine Schuld?!"
"Oh, Du sagst doch selbst immer, Du verwandelst die Männer in Schweine!" fand Nico,
gefolgt von Jonathans "naja, wenn ich Euren kleinen Ausrutscher da eben richtig verstanden habe, hat sie es nicht bei Männern belassen".
"Danke", konterte sie giftig, "aber was das Verwandeln in Schweine angeht, bei Leuten wie Dir stoße ich da meine Grenzen. Man kann etwas wie Dich eben nicht bis in alle Ewigkeiten upgraden". Dann, nach einer kurzen Pause: "Aber was wollt ihr. Wir teilen aus, und wir stecken ein. Wir führen ein unruhiges Leben. Aber wir sind alle so, wie wir sein wollten!"
"Und wozu soll das gut sein?" - die Stimme war leise und ruhig, klang nicht im mindesten aufgeregt. Bayram stand kreidebleich in der Tür.
Bert fuhr aus ihrem Stuhl hoch: "Bayruu, hast Du Iris... Hast Du Iris gefunden?"
Er schüttelte nur den Kopf: "Aber nochmal, wozu ist das gut? Warum hast Du das getan Bert? Du hast Deine Familie zerstört, den Vater Deiner Kinder verlassen und lebst mit zwei Männern. Das muss mir nicht gefallen. Aber warum musstest Du Iris verderben, die Frau von mir, jemandem, der immer Dein Freund war? Warum musstest Du mit ihr ins Bett? War Dir langweilig? Oder konntest Du es nicht ertragen, dass etwas Schönes und Reines in Deiner Umgebung Bestand hatte?"
Bert blieb stehen. Sie hielt Bayrams Blick stand: "Wieso glaubt Du, dass ich im Bett mit ihr war?"
Bayram lachte, ein frustriertes Lachen: "Weil sie mich sonst niemals belogen hätte. Sie hat mir gesagt, sie wäre bei ihrer Mutter im Heim. Das verstehst Du natürlich nicht. Was bedeutet ein Lüge schon für Dich? Du lügst ohne zu blinzeln. Aber nicht Iris."
"Was ist Wahrheit, witzelte Pilatus, und wollte nicht auf eine Antwort warten!" entblödete sich ein in seinem Stuhl zurückgelehnter Nico.
"Nein, Iris nicht", antwortete Bert, Nicos Einwurf ignorierend, "aber bitte, wer die Wahrheit liebt, soll sie haben. Ja, ich war mit ihr im Bett, und ja, es war ein Vergnügen."
Bayram schwieg. Und Bert konnte nicht aufhören:
"Jetzt fragst Du gleich wieder warum. Aber was erwartest Du? Es gibt nur eine Begründung: Weil mein Leben so - und nur so - wunderbar ist!", und wie zur Illustration nahm sie die frisch geöffnete Weinflasche, setzte sie an den Mund und stürzte die funkelnde rote Flüssigkeit herunter.
Ralf starrte wie das Kaninchen auf seine Exfrau, und hätte er seine Gefühle beschreiben müssen, er hätte gesagt, ein Engel ginge durch den Saal.
Erschöpft setzte sie die Flasche ab und stützte sich, Augen und Lippen blitzend, mit einer Hand auf den Tisch.
Bayram löste sich vom Türrahmen und ging ohne ersichtliche Eile zu ihr. Er kam ihr sehr nahe, schaute erst sie an, dann seine Hände:
"Und, Bert, was denkst Du, was ich jetzt tun werde? Du erwartest immerzu, dass alle anderen feige sind. Schau Dich um! Ein gedemütigter Eheman, zwei Männer und eine Frau, meine Frau, die zu Deinen Füßen um Deine Gunst betteln. Aber ich will das nicht tun! Hörst Du!"
Fasziniert sah Ralf, wie sich die Hände Bayrams langsam zu Berts Hals hoben. Bert stand still, Ralf hätte schwören können, dass ihr Gesicht gespannte Erwartung ausdrückte. Aber dann ging der Augenblick vorbei. Die Hände sanken herunter.
"Nein, nicht so. Ich werde von Dir zurücknehmen, was mir gehört, und Du wirst hoffentlich alt mit der Demütigung werden, dein Lieblingsspiel verloren zu haben!", Bayram langte nach der Weinflasche, goss ein Glas voll und hob es: "Aufs Einstecken, und besonders aufs Austeilen!"
"Trink nicht!"
Alle verharrten dornröschengleich mitten in der Bewegung. Bert, mit ihren erregten geweiteten Augen, Nico lässig zurückgelehnt, Bayram mit erhobenem Glas und Ralf, jetzt stehend, mit ausgestrecktem Arm.
"Trink nicht!", Ralfs Stimme zitterte, als er es wiederholte.
"Trink nicht, oder Du trinkst zum letzten Mal."

Bayram setzte das Glas auf dem Tisch ab. Bert setzte sich. Nicht überhastet, ganz ruhig. Ihre Augen und ihre Lippen glänzten immer noch:
"Was Schatz, Gift? Irgendwie nicht Dein Stil!"
Ralf saß gleichfalls in seinem Stuhl:
"Du hast mir kaum eine andere Wahl gelassen."
"Gründlich wie Du bist, brauche ich mich mit dem Versuch mich zu übergeben wohl nicht aufzuhalten. Macht es Sinn, Jonathan zu bemühen?"
Ralf schwieg und senkte den Blick. Ein klickendes Geräusch zeriss das Schweigen und brachte ihn dazu, wieder aufzublicken. In die Mündung einer Waffe. Es war keine große Pistole, aber er zweifelte nicht daran, dass sie auf diese Distanz ihren Zweck erfüllen würde.
"Schatz, ich erkundigte mich gerade, ob es lohnt, den örtlichen Arzt zu bemühen?"
"Würde es einen Unterschied machen. Du drückst doch jetzt eh ab", murmelte er hoffnungslos, "aber wenn Du es wissen willst: Nein, bei der Dosis nicht."
Sie setzte sich gerader, hatte sie die ersten Krämpfe? Aber die Waffe sank nicht:
"Sag mir, wie Du es geplant hast - nein, nicht du, gib es zu, diese ganze Sache stammt von Deiner Freundin. War sie auf das Geld scharf? Los rede, wegen Dir wird meine Zeit knapp!"
"Wir wollten das Geld, ja, und die Kinder!", hörte sich Ralf antworten.
Ein säuerliches Lächeln umspielte ihre Züge: "Und wie wolltest Du davonkommen? Mit Nico und Jonathan als Zeugen? Und Bayram?"
"Mit Bayrams und Iris Besuch konnten wir nicht rechnen, als wir alles planten, auch nicht, als ich in der Küche den Wein vergiftete , kurz bevor Du mit Jonathan herkamst."
"Und Deine Miu hätte Dir ein Alibi gegeben. Wer hätte beweisen können, dass Du hier warst - wenn wir alle tot gewesen wären?", sie lachte, selbst jetzt konnte sie noch lachen, "Und Nico und Jonathan wären mit mir gestorben wie die Sklaven einer Pharaonin. Warst Du der Zeugen wegen so besorgt um Iris? Die Mühe hättest Du Dir schenken können, sie liegt tot im Stall. Weil ich im Gegensatz zu dir aber Mumm habe, wurde sie nicht vergiftet. Ich habe sie offen und ehrlich mit dem Spaten erschlagen, als sie sich von mir trennen wollte!".
Da war er, der erste Krampf, "also, wenn es Dir ein Trost ist Bayram, sie wollte zu Dir zurück, und sie war mutig - hat sich nicht einschüchtern lassen".
Jetzt spürt sie es, dachte Ralf. Bert wurde blass und krampfte die Finger um die Waffe. Schweiß glänzte auf ihrer Stirn. "Du Idiot, glaubst du wirklich, dass du Miu vertrauen kannst?" Er antwortete nicht.
"Ach, Du magst nicht reden? Dann will ich Dir mal etwas sagen: Selbst wenn Du das Geld und die Kinder gekriegt hättest - in spätestens zwei Jahren hätte Deine tolle Freundin die bewährte Technik an Dir ausprobiert. Du wärst schnell neben mir gelandet. Und das was jetzt kommt - das Gefängnis - für jemanden wie Dich...Aber fass Mut, ich erspare Dir das!", mit der zitternden Linken schob sie ihm Bayrams Glas herüber, bevor sie die Waffe wieder mit beiden Händen umklammerte.
"Nico, solange ich diese Waffe noch halte sind falsche Bewegungen keine gute Idee. Ralf - trink!"
Ralf trank - Bert schoss.


Epilog



"Hast Du schon mal eine solche Sauerei erlebt?", meinte van Aart, und zündete sich eine Zigarrette an, was bei dem Sturm gar nicht so einfach war.
"Einzeln schon, aber eine erschlagene Frau, ein von seiner Ehefrau erst vergifteter und angeschossener Mann und besagte Ehefrau als Giftleiche an einem Tatort - eher nicht. Musste jetzt auch nicht so unbedingt sein.", meinte Achterberg, der leitende Mann der Kripo. Zusammen standen sie unter dem Vordach des Bauernhauses und schauten zu, wie die zwei Leichen abtransportiert wurden. Der Ehemann befand sich bereits in der Klinik. Nach allem was sie gehört hatten, würde er durchkommen. Erfreulich, man hatte eine Reihe von interessanten Fragen an ihn.
"Was hast du denn aus den unter Schock stehenden Überlebenden so herausgekriegt?"
"Wenig, van Aart, wenig. Deswegen stehen sie ja unter Schock. Aber wenn ichs richtig verstanden habe, ein Geflecht aus Hass, Liebe und Geldgier."
"Hätten sich auch für eins entscheiden können."

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Tag der Veröffentlichung: 21.12.2011

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