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Der Boden unter Gottes Füßen
Eine Weihnachtsgeschichte von Quadrographium


Bevor ich die Geschichte erzähle, möchte ich aus dem „Zweiten Buch Mose“ zitieren:

Mose hütete die Schafe und der Engel des Herrn erschien ihm in einer feurigen Flamme aus dem Dornbusch. Und Mose sah, dass der Busch im Feuer brannte und doch nicht verzehrt wurde. Da sprach er: „Ich will hingehen und die wundersame Erscheinung sehen, warum der Busch nicht verbrennt.“ Als aber der Herr sah, dass er hinging, um zu sehen, rief Gott ihm aus dem Busch und sprach: „Mose, Mose!“ Er antwortete: „Hier bin ich.“ Gott sprach: „Tritt nicht hinzu, zieh deine Schuhe von den Füßen, denn der Ort darauf du stehst, ist heiliges Land!“



Ich möchte, dass wir dieses Bibelwort, dieses Bild kurz vor den Augen behalten: Moses steht auf heiligem Land, denn seine und Gottes Füße stehen auf dem selben Stückchen Erde.


Es ist der Morgen des 25. Dezember 2003. Ich habe mir gerade eine kurze Shorts und ein ärmelloses T-Shirt angezogen und schiebe die Terrassentür zur Seite. Angenehm warme Luft schlägt mir entgegen. Vorsichtig blinzele ich durch die Wedel der Palme, die im Vorgarten unseres Bungalows steht. Im Osten entdecke ich ein paar weiße Wölkchen, doch der Rest ist blau. Stahlblauer Himmel über mir, tiefblaues Wasser zu meinen Füßen.

Ich befinde mich in Sharm El Sheikh, auf der Südspitze der Sinai-Halbinsel, dort wo sich das Rote Meer in den Golf von Akabar und den Golf von Suez teilt.



Ich drehe meinen Kopf zur Seite. Hinter mir, im Norden, nur wenige Kilometer von mir entfernt, türmt sich das gewaltige Gebirgsmassiv des Sinai auf. In einem unbeschreiblichen hellem rot leuchtet es in der Morgensonne.

Mitten darin, zwischen diesen roten Bergen, befindet sich der „Dschebel Musa“, uns Christen besser bekannt als „Berg Horeb“ oder schlicht und einfach „Mosesberg“. Dort hat Mose vor 4.000 Jahren die Tafeln mit den 10 Geboten von Gott höchst persönlich überreicht bekommen.

Heute ist ein ganz besonderer Tag. Natürlich, es ist der Erste Weihnachtsfeiertag, das allein einem Christen schon Grund zur Freude. Doch ich werde den nächsten Sonnenaufgang dort oben erleben. Dort oben auf dem Gipfel des „Dschebel Musa“. Meine Füße werden dort stehen, wo Gottes Füße standen.

Der Zweite Weihnachtsfeiertag wird für mich auf dem Mosesberg beginnen. Ein erhabenes Gefühl durchströmt mich.

Die Reise dorthin ist nicht ganz ungefährlich. 250km Wüste müssen durchquert werden. Dies ist in der heutigen Zeit zwar kein Problem mehr, ich muss die Strecke ja nicht auf dem Rücken eines Kameles zurück legen. Doch dann, vier Stunden Aufstieg zum Gipfel. Auf einem schmalen Pfad, am Rande des Abgrundes bis auf 2.285m Höhe.

Ach, was mache ich mir Sorgen? Ich bin doch auf dem Weg zu Gott. Was soll da passieren? Na ja, ich bin auf dem Weg zu einem Ort an dem Gott schon einmal war. Aber das ist ja fast das selbe, oder?

Außerdem bin ich nicht allein. Annika, meine Tochter wird mich begleiten und die Reisegruppe ist etwa 40 Mann stark und wird fachkundig von einem erfahrenen Beduinen geführt. Um meine Tochter brauche ich mir keine Sorgen machen. Ihre Kondition ist besser als die meine.

Susanne, meine Frau, wird unterdes mit Matthias, unserem Jüngsten, zurück bleiben, weil ihm die strapaziöse Tour nicht zuzumuten ist.

Auf dem Weg zum Frühstück treffen wir die Dame von der Reiseleitung. „Gutem Morgen“, begrüßt sie uns, „wir haben die Wettervorhersage für heute Nacht erhalten. Wir erwarten Temperaturen von 10° bis 12° unter Null. Aber das ist ja kein Problem, Sie haben bestimmt ihre warmen Winterjacken aus Deutschland im Reisegepäck.“ „Nein, haben wir nicht“, antworte ich, „die liegen im Kofferraum unseres Autos und das parkt genau gegenüber des Eingangs zum Flughafen. Die paar Schritte zur Abfertigungshalle sind wir so, im kurzen Hemd, gegangen.“

Ich spüre die Sonne auf meiner Haut brennen. Ich kann ihr nicht glauben. „Sagten Sie gerade unter Null?“ „Ja“, entgegnet mir die Dame und lächelt freundlich, „minus 10° / minus 15° sind keine Seltenheit. Es gibt auch öfters einen Schneesturm um diese Jahreszeit.“

„Es sind fast 30°“, gebe ich zu bedenken, „45° Temperaturunterschied auf nur 250km Entfernung?“ „Und 2.200m Höhenunterschied“, kontert sie. „Falls Sie die Tour deshalb stornieren möchten ist das kein Problem. Sie erhalten ihr Geld zurück.“

Stornieren? Eine Reise zu Gott storniert man doch nicht. Irgendetwas zu unserer Rettung wird uns schon einfallen.

Die Rettung naht in Form einer freundlichen Familie aus Österreich, die ein paar Bungalows weiter wohnt. Sie haben ihre dicken Ski-Jacken dabei, die sie uns gern ausleihen. So gewappnet und mit doppelter Lage Unterwäsche, dicken Socken und geschlossenen Schuhen ausgerüstet beschließen wir um 19 Uhr uns hin zu legen. Nicht um zu schlafen. Aber etwas ruhen, denn um 22 Uhr werden wir abgeholt.

Das Klingeln des Telefons schreckt mich aus einer Art Halbschlaf. Es ist 21 Uhr. Ich nehme den Hörer ab. Am anderen Ende ist die Dame von der Reiseleitung. „Es tut mir schrecklich leid. Wir hatten soeben einen Anruf von der Polizei. In der Wüste herrschen extreme Witterungsverhältnisse. Dazu Sandsturm und Schneesturm auf dem Mosesberg. Die Polizei hat uns dringend empfohlen die Tour abzusagen. Dieser Empfehlung folgen wir selbstverständlich.“

Ein seltsames Gefühl überkommt mich. Eine Mischung aus Enttäuschung und Erleichterung. Erleichterung, weil mir zuletzt doch Zweifel kamen, ob ich mir mit dieser Tour nicht doch etwas zuviel zugemutet habe.

„Nun, bist du traurig?“, fragt Susanne. „Nein“, antworte ich, „irgendwie nicht. Gott macht das Wetter, und wenn er uns daran hindern möchte da rauf zu kommen, dann wird er seine Gründe haben.“

„Ich hätte mir ja gern das Kloster angesehen“, meint sie, „das Katharinenkloster am Fuße des Mosesberges. Aber vier Stunden Busfahrt durch die Gluthitze der Wüste können wir unserem Kleinen nicht zumuten.“

„Das Kloster“, denke ich. Es wurde um den brennenden Dornbusch herum aufgebaut. Der Busch befindet sich dort nach wie vor. Gepflegt seit über 4.000 Jahren. Auch auf diesem Boden stand Gott! Schließlich musste Mose dort deshalb sogar seine Schuhe ausziehen.

„Mit dem Bus vielleicht nicht“, entgegne ich, „aber wenn wir ein Taxi nehmen, was anhält, wenn es uns zu viel wird...“

Am anderen morgen spreche ich vor dem Hotel einige Taxifahrer an. Ein junger Mann, Abdul, tritt hervor. Ja, er würde die Tour machen. „In was für einem Auto?“ frage ich, denn üblicherweise verkehren im Land der Pharaonen 30 Jahre alte Peugeots als Taxen. „No, no“, er lacht, er habe ein gutes Auto, eine Limousine.

Er zeigt mir eine Rarität. Einen höchstens vier Jahr alten deutschen Mercedes. Ich frage nach der Klimaanlage. „Du brauchst keine Klimaanlage, du brauchst Jacken“, erklärt er mir. Schon wieder jemand der mir bei 30° Sonnenschein etwas von Jacken erzählt.

„Was kostet?“, will ich wissen und es beginnt eine dieser typisch arabischen Preisverhandlungen. Der Verkäufer fordert das Doppelte dessen, was er haben möchte und der Käufer bietet die Hälfte dessen, was er zu zahlen bereit ist. Und schließlich treffen sich beide genau dort, was sie haben bzw. ausgeben wollen.

In unserem Fall 80 Euro.

„80 Euro! Du Schurke!“, ereifere ich mich. „Der Boy, der unseren Bungalow jeden Tag reinigt, erhält keine 80 Euro im Monat!“ Auf der anderen Seite, was kann man mit 80 Euro in Deutschland machen? Einmal voll tanken!

Abgemacht. Am darauf folgenden Montag morgens um 7 Uhr geht es los. 250km endlose Piste durch die Wüste, überholen wir unterwegs eine Karawane, fahren vorbei an Beduinendörfern ohne Strom und fließendem Wasser und an lachenden Kindergesichtern. Eine Fahrt, die alleine schon einen Roman wert wäre.

Endlich erreichen wir das Kloster St. Katharine. Und nun staune ich doch, wie viele Menschen sich hier her in diese Einöde mitten in die Wüste verirren.



Ehrfürchtig blicke ich hinauf. Hinauf zum Gipfel des „Dschebel Musa“. Dort oben war es also. Dort oben hat Mose die 10 Gebote von Gott höchst persönlich überreicht bekommen.

Wir betreten das Kloster. Durch die Kapelle, vorbei am Altar und dem Sarkofark mit den Gebeinen der heiligen Katharina gehen wir einen Seiteneingang hinaus an einem großen grünen Busch vorbei.

Ja, schon eine Seltenheit so eine gewaltige Grünpflanze hier mitten in der Wüste.


Moment!


Ungläubig blicke ich zurück, auf diesen Busch. Durch eine 2,5m hohe Mauer gesichert, damit nicht jeder Tourist ein Blättchen als Souvenir abreist, rankt er ca. 4m an der Klostermauer empor.

Neben mir stockt ein weiterer Tourist. Ihm geht es wie mir. Verwirrt schaut er zurück. „This is the burning bush?”, spricht er mich an. “Ja, ja, das muss er sein“, stelle ich fest. Der brennende Dornbusch.

Wie kann das sein? Unbemerkt bin ich an ihm vorüber geschritten. Meine Füße sind nicht am Boden kleben geblieben. Der Englisch sprechende Herr neben mir ruft seine Frau und Kinder für das unvermeidliche Foto „Familie vor dem brennenden Dornbusch“ zusammen.

Auch ich rufe die meinen und knipse ein solches Bild. „Das hier, das ist der Busch aus dem Gott sprach“, mahne ich ehrfurchtsvoll. Einen Moment verharren wir, bis uns nachfolgende Touristen weiterschieben.

Bevor wir das Kloster wieder verlassen, sehen wir uns die Ikonensammlung an. Für Historiker oder Kunsthistoriker sicherlich sehr bedeutend, für uns eher ein Programmpunkt unter dem Motto „wenn man schon 'mal da ist“.

Danach schicken wir uns an zu gehen. Mir fällt ein Brauch ein, den meine Oma zusammen mit mir pflegte, als ich noch ein Kind war. In jeder Kirche, die wir betraten, zündeten wir eine Kerze zum Gedenken an einen lieben Verstorbenen an.

Für 2 ägyptische Pfund, das sind weniger als 10 Cent, erstehe ich von einem Mönch eine Kerze und zünde sie im Gedenken an meine verstorbene Mutter im Vorraum der Kapelle zur heiligen Katharina an.

Ich finde, das ist etwas Besonderes. Meiner Mutter eine Kerze keine 50m vom brennenden Dornbusch entfernt. Irgendwie fühle ich mich komisch. Ich stehe auf heiligem Boden aber ich spüre nichts. Der Boden fühlt sich nicht anders an als irgendwo sonst auf der Welt.

Und langsam reift in mir die Erkenntnis. Es braucht keiner Pilgerfahrten oder Bergbesteigungen, um zu Gott zu kommen. Gott ist überall. Und daher fühlt sich der Boden auch überall gleich an.

Egal wo du stehst, deine Füße teilen sich stets den Boden mit Gottes Füßen.

Auch hier, an diesem Ort in diesem Moment.

Fröhliche Weihnachten.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 08.11.2008

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