Der Drücker
eine Weihnachtsgeschichte von Quadrographium
Bevor diese Geschichte gelesen wird, bitte ich darum sich einen kurzen Moment in die Zeit vor 1989 zurück zu versetzen. In eine Zeit, als „die Mauer“ noch stand, uns der „kalte Krieg“ noch täglich bedrohte und eine Telefoneinheit 23 Pfennige kostete ...
Diese Geschichte ist gewidmet:
Gewidmet all den Menschen, die den heiligen Abend nicht im Kreis ihrer Familien und Lieben verbringen können; all den Polizisten, Feuerwehrmännern, Ärzten und Krankenschwestern; aber auch einer Hand voll Männern, die im Verborgenen arbeiten, deren Tätigkeit normalerweise nicht wahr genommen wird ...
24. Dezember 1988, 17:30 Uhr
Ich biege soeben von der Bundesstraße 213 ab und fahre durch Cloppenburg. Über Bethen führt mich mein Weg weiter nach Hoheging (der Ort der Handlung wurde aus Gründen der militärischen Geheimhaltung geändert) in ein fast menschenleeres Gebiet zwischen Oldenburg und Emstek. Nur ab- und zu passiere ich einen Bauernhof. Lichterpyramiden erleuchten die Fenster dieser Höfe, und wenn ich genau hinsehe, sehe ich in der einen oder anderen Stube den geschmückten Christbaum.
Außer den Bauernhöfen gibt es hier neben der Straße noch etwas anderes: Große Hinweistafeln, die vor dem Betreten des Gebietes warnen.
„Achtung! Betreten verboten! Minen! Gefahr! Keep Out ! Beware of the mines! No Trepassing!“ Kann man dort in großen, rot leuchtenden Buchstaben lesen.
Mindestens ein Dutzend dieser Schilder habe ich inzwischen passiert. „So ein Quatsch“, denke ich dabei, denn ich weiß es schließlich besser. Alles nur Tarnung. Hier gibt es keine einzige Mine! Diese Schilder sollen lediglich mich vor allzu neugierigen Leuten schützen, denn hier arbeite ich.
17:45 Uhr
Ich bin früh dran, offiziell ist um 18:00 Uhr Ablösung. Aber Kurt wird sich freuen, er hat Frau und Kinder zu hause, und er kann heute den heiligen Abend noch im Kreis der Familie feiern. Ich fahre an dem Sägewerk, selbst hier steht ein mit einer Lichterkette geschmückter Tannenbaum im Garten, und dem letzten Bauernhof vorbei, bevor ich in die 1,5 Kilometer lange Sackgasse abbiege, die mich zu meinem Ziel bringt. Auch hier stehen wieder Schilder: „Privatweg - Einfahrt verboten! Vorsicht, keine Wendemöglichkeit!“ Aber auch das ist wieder alles nur Tarnung. Am Ende ist ein Wendeplatz, so groß, dass man dort bequem einen Sattelschlepper drehen kann.
Ich parke vor dem Holzzaun meiner Station. Hier ist soweit wie möglich alles aus Holz errichtet. Holz, das muss sein. Zu große Metallansammlungen stören die empfindlichen Messapparaturen, die mich in den nächsten 13 Stunden bei meiner Arbeit unterstützen werden. Ja selbst meinen PKW werde ich gleich nach Dienstantritt mit 850 Kg Metallmasse auf „Parkplatz 2“ einmessen. Alles muss hier seine Richtigkeit haben, Fehler dürfen hier nicht passieren. Denn diese Station ist Teil der gigantischen NATO-Frühwarnkette.
Ich steige aus. Auf der anderen Seite des Zaunes erwartet mich bereits vor Freude mit dem Schwanz wedelnd Tchico, mein Wachhund. Gemäßigten Schrittes kommt einer der Mitarbeiter der Wach- und Schließgesellschaft ans Tor und öffnet mir. „Guten Abend Herr Oberfeldwebel.“ „Guten Abend und fröhliche Weihnachten“, erwidere ich. „Ach ja, fröhliche Weihnachten“, murmelt der Wachmann mir hinterher. Diese Wachmänner, sie reißen sich förmlich um die Feiertagsschichten; 275% Zulage - steuerfrei. Und welche Zulage bekomme ich? 1,25 DM pro Stunde - steuerpflichtig. Ist das Idealismus oder Dummheit?
Tchico begleitet mich bei Fuß. Unser Weg führt uns über das Antennenfeld in dessen Mitte die winzig kleine Holzhütte steht, in der ich den heiligen Abend verbringen werde.
„Heiliger Abend“, denke ich, „Friede auf Erden. Wenn es so wäre, wäre ich jetzt nicht hier.“ Kurt öffnet mir die Tür. „Hallo Klaus, du bist früh dran.“ „Hallo Kurt, sieh’ zu das du nach hause kommst.“ Hastig packt er seine Sachen und gibt mir dabei eine Zusammenfassung der Ereignisse der letzten Schicht. Keine besonderen Vorkommnisse, nur Routine. „Tschüss Kurt und fröhliche Weihnachten.“ „Ja, Klaus, dir auch.“
Die Tür fällt ins Schloss und das monotone Summen der unzähligen Lüftungsventilatoren der mich umgebenden High-Tech nimmt mich für einen Augenblick gefangen. Mein Blick fällt auf die griffbereit neben der Tür hängende Maschinenpistole. Sie ist fertig geladen mit 50 Stück Tod bringendem Blei. Routinemäßig greife ich zur Waffe, will sie auf ihre Funktionstüchtigkeit und den Ladezustand prüfen. „Nein, heute nicht“, denke ich und hänge meinen Parker über die Waffe.
17:55 Uhr
Ich setzte mich an meinen Arbeitsplatz. Vor mir steht das Mikrofon des Funkgerätes, davor befindet sich ein kleiner Drücker, den man betätigen muss, um Sprechen zu können. Einer der vielen Drücker, die im Ernstfall, im Verteidigungsfall, gedrückt werden müssten, um unseren Gegenschlag auszulösen.
Sollte ich gegnerische Raketen auf meinen Geräten erfassen, blieben uns noch ganze 7,5 Minuten, damit unsere eigenen Raketen es schaffen aus ihren Verstecken zu kommen. Unsere Raketen müssen starten, bevor die anderen hier einschlagen, denn nur so ist gewährleistet, dass ihre atomaren Gefechtsköpfe ihren Kampfauftrag über dem Gebiet des Gegners erfüllen. Diesen Erfolg würde ich schon nicht mehr erleben. Ich wäre dann bereits tot.
Ich drücke den Drücker: „Guten Abend König, 32 hat den Grünen übernommen.“ König, das ist einer der Knotenpunkte der Frühwarnkette. Der Grüne, das ist meine Dienststelle und dieser Name trifft wirklich zu, die Anlage liegt Mitten im Grünen; 1,5 Kilometer bis zur nächsten menschlichen Ansiedlung, um mich herum nur Wiesen und Felder. 32, das bin ich - eine Nummer, mehr nicht. „Guten Abend Klaus“, begrüßt mich der König, „fröhliche Weihnachten.“ „Guten Abend Ulli“, natürlich erkennen wir uns an den Stimmen, „hat’s dich auch getroffen? Trotzdem, fröhliche Weihnachten.“ Das war aber auch schon das Maximum an gestatteter privater Unterhaltung. „Ach Klaus“, tönt es aus dem Lautsprecher, „fast hätte ich es vergessen: Du hast heute Abend zwei Telefoneinheiten frei, auf Staatskosten.“ Ich bin gerührt und fassungslos zugleich. Die Bundesrepublik Deutschland schenkt ihrem treuen Diener 46 Pfennig. „Danke Ulli.“ Ich lasse den Drücker los.
18:05 Uhr
Das Telefon klingelt. Ich habe Weisung mich lediglich mit „Hallo, wer ist da?“, zu melden. „Hallo Klaus, hier ist 226, Dein Bereitschaftsmechaniker. Ich wollte dir nur sagen, dass du mich unter folgender Telefonnummer ...“ gewissenhaft wiederhole ich jede Ziffer, bevor ich sie notiere. „Aber sieh’ zu, dass du den Grünen nicht kaputt machst, ich hab’ ehrlich gesagt keine Lust dich heute Abend zu besuchen.“ „Ich werde mich bemühen“, verspreche ich, „fröhliche Weihnachten, Martin.“ Ich lege auf.
Es kratzt an der Tür. Ich höre ein Winseln. Ich öffne. „Komm’ rein Tchico, ich hab’ dir etwas mitgebracht.“ Erwartungsvoll sieht mich der Schäferhund an und dreht dabei den Kopf leicht schief. Ich war extra für ihn heute morgen noch im Zoogeschäft. Aus meiner Tasche hole ich einen Spielknochen. Während ich die Plastikverpackung entferne lese ich, "pflegt das Gebiss ihres vierbeinigen Freundes." Ich halte dem Hund den Knochen vor die Nase. „Tchico, weißt du das heut’ Weihnachten ist? Da, nimm’, aber las dich nicht von dem Trainer erwischen. Du weißt doch, das Spielen mit den Diensthunden ist verboten.“ Stolz trägt der Hund seinen Knochen davon. „Fröhliche Weihnachten Tchico“, rufe ich ihm hinterher und schließe wieder die Tür. „Das darf doch nicht wahr sein. Bin ich denn so einsam, dass ich mit einem Tier rede, als ob es mich verstehen würde?“
Einen der mich umgebenden Funkempfänger stelle ich auf eine Radiofrequenz ein. Leise Weihnachtsmusik erklingt. Ein paar Routineaufgaben lenken mich einen Augenblick ab.
18:45 Uhr
Tchico schlägt an. Ich sehe zum Fenster heraus. Am Horizont erkenne ich die Scheinwerfer eines Autos, dass sich mit relativ hoher Geschwindigkeit nähert. „Wer mag das sein, am heiligen Abend auf der Sackgasse ohne Wendemöglichkeit?“ Sollte mich der Wachhabende kontrollieren wollen? Ich rücke meine Uniform zurecht und ziehe den gelockerten Schlips ordentlich. Doch dann erkenne ich den Privatwagen meines Truppführers, meines unmittelbaren Vorgesetzten. Er steigt aus, in Zivil. Seine Frau ist auch dabei. Komisch, der Wachmann geht viel schneller zum Tor, als bei mir!
Ich öffne die Tür. „Guten Abend Herr Leutnant, guten Abend Frau ...“ fast hätte ich Frau Leutnant gesagt. „Guten Abend Herr Oberfeldwebel.“ Demonstrativ messe ich auf „Parkplatz 3“ 550 Kg - er fährt einen Kleinwagen - zusätzliche Metallmasse ein. Die Weihnachtsmusik habe ich schon vorher abgeschaltet. Nur keine Nachlässigkeit zeigen, auch nicht am heiligen Abend. Frau Leutnant hat inzwischen aus einem Körbchen drei Pikkolos und ein wenig Gebäck hervor geholt. „Wir wollten Sie heute ein bisschen aufmuntern“, erläutert mir mein Chef. „Alkohol im Dienst? Herr Leutnant“, ich versuche vorwurfsvoll zu klingen.
Die beiden bleiben nicht sehr lange. Nachdem die Pikkolos geleert sind verabschieden sie sich, nicht ohne mich darauf hinzuweisen, dass ich zwei Telefoneinheiten frei habe. „Flirten Sie etwas mit ihrer Freundin.“ „Das wird ein kurzer Flirt werden, Herr Leutnant, ist nämlich ein Ferngespräch.“ Ich kann es nicht fassen! Was für ein Aufstand um 46 Pfennig.
20:55 Uhr
Mit voll angespannten Sinnen sitze ich vor meinem Arbeitsplatz, auch das Radio habe ich wieder abgeschaltet. In fünf Minuten ist es 21:00 Uhr. 21:00 Uhr, das bedeutet 0:00 Uhr Moskauer Zeit, oder anders ausgedrückt: Die große Wachablösung des Warschauer Paktes. Die alte Schicht geht, die neue kommt. Wenn Iwan jemals einen Überraschungsangriff fährt, wird das um 0:00 Uhr Moskauer Zeit geschehen, wenn uns durch das bekanntermaßen entstehende Chaos auf der Gegenseite wertvolle Sekunden verloren gehen. Wertvolle Sekunden, die unsere 7,5 Minuten Vorwarnzeit verkürzen.
Es geht los! Flugzeuge starten, Fahrzeugverkehr, Funkverkehr, hektische Betriebsamkeit. Ich habe alle Hände voll zu tun. Die Jungs auf der Gegenseite begrüßen sich ähnlich, wie der König und ich. Daher kenne ich die meisten von ihnen inzwischen - nein nicht persönlich, das versteht sich. Aber ich registriere, dass heute Nacht, auf der anderen Seite des stählernen Vorhangs, Fjodr, Andreji und Dimitri Dienst schieben. Auch sie halten den Drücker in ihren Händen und sind bestimmt von der Richtigkeit und Notwendigkeit dessen, was sie tun, genauso überzeugt, wie ich von meiner Arbeit. Ich hege keinen persönlichen Groll gegen sie, es sei denn, sie verzapfen wieder einmal einen Mist, der mir eine Menge Mehrarbeit bereitet. Zum Glück kommt das nicht zu oft vor. Zu gern möchte ich sie wirklich einmal kennen lernen. Und für einen Moment kommt mir eine phantastische Vision: Ich sehe mich im Vorgarten eines Häuschens in einem kleinen russischen Dorf stehen. Draußen spielen die Kinder. Ich klopfe an eine Tür und eine Frau öffnet mir. „Ich möchte zu Deinem Mann, dem Fjodr oder Andreji. Weißt du, ich kenne ihn...“ Was für ein Traum, ob er jemals wahr wird?
Das wäre noch schöner als Weihnachten - Dann wäre Frieden auf Erden!
Ein Piepser meines Radargerätes holt mich auf den Boden der Realität zurück. Am Rande meines Erfassungsbereiches, hoch oben im Norden, wird mir durch einen leuchtenden Punkt ein unbekanntes Objekt angezeigt. Da es von oben eingedrungen ist, klassifiziert es mein Computer mit messerscharfer Genauigkeit als Rakete. Was sollte auch sonst von oben, aus dem Weltraum eindringen? Raketenalarm! Der Schock lähmt mich einige Sekundenbruchteile. „7,5 Minuten“ klingelt es in meinem Hirn. Während ich mit der Rechten dem Computer weitere Aufträge erteile, zum Glück brauche ich dazu nur Funktionstasten drücken, denn mir Zittern die Hände, drehe ich mit den Fingern der Linken hektisch am Peillineal und starte mit dem Ellenbogen meines linken Armes ein paar Aufzeichnungsgeräte. Der König ist am Rohr. Ich suche mit dem rechten Fuß die Fußtaste. Der Drücker in allen Lebenslagen bedienbar, notfalls mit dem Fuß! „Ja König!“ ... „Nein König, kein Systemfehler, ich habe das Objekt auch erfasst.“
Mein Computer hat sich inzwischen mit den Computern der Nachbarstationen kurzgeschlossen und liefert mir eine erste Hochrechnung über den voraussichtlichen Einschlagsort und den Zeitpunkt des Beginns des Weltuntergangs. Ich stutze, irgendwo zwischen Helgoland und der Doggerbank soll es in ca. zwei Stunden geschehen. Taste F2 - Kontrollberechnung. - Das dauert! - „Grüner, Lagebericht! Dein Ergebnis?“ „Moment König!“ Wieder vergehen einige Sekundenbruchteile. „Grüner, das dauert mir zu lange! Ich geb’ jetzt Alarm!“ Der Computer bestätigt mir seine Berechnung. „König - Stopp!“ Welche wahnsinnige Verantwortung ich in diesem Moment trage! „König mach’ dir nicht ins Hemd, das Ding ist viel zu langsam und zu klein für eine Rakete! Und guck’ dir ‘mal das Zielgebiet an, das ist doch völliger Schwachsinn!“ Der Computer liefert mir eine neue Klassifizierung: Wetterballon. Irgendwo aus der Stratosphäre ist er abgeschmiert und sinkt langsam in die Nordsee. Bestimmt war er für Heliumbefüllung vorgesehen und statt dessen mit dem preiswerteren Wasserstoff betankt. Kaum zu glauben, dass diese Dinger 50 und mehr Kilometer Höhe erreichen können! Einen Moment überlegen wir, ob wir Radio-Norddeich verständigen sollen, damit sie die Schifffahrt im betroffen Gebiet warnen. Aber das Ding stürzt so sanft ab, dass selbst wenn es ein Schiff treffen würde, kein ernsthafter Schaden entstehen könnte.
Ich hebe den Fuß wieder vom Drücker. Mein Herz klopft noch heftig. Mir kommt Nenas Song von den 99 Luftballons in den Sinn, die einen Krieg auslösen, der die Welt in Trümmer legt. Wie leicht könnte so etwas passieren, wenn Männer wie ich, oder Fjodr oder Andreji ihre Nerven verlören und überreagierten?
Einmal mehr denke ich über meinen Job nach. Wie lange werde ich diese unmenschliche Verantwortung und unerträgliche Anspannung ertragen, bis ich ein nervliches Frack bin?
21:30 Uhr
Inzwischen ist wieder Ruhe eingekehrt. Aus dem Radio erklingt wieder leise Musik. Während ich mir einen lauwarmen Kaffee aus meiner Thermoskanne einschenke und appetitlos mein Abendbrot herunter würge, überlege ich, was jetzt wohl Fjodr oder Andreji oder wer auch immer, von mir denken. Es wäre eine trügerische Illusion anzunehmen, dass nicht mein Funkverkehr genauso abgehört wird, wie ich sie abhöre. Sind sie froh, dass durch mein Zögern gerade das Hochfahren des NATO-Verteidigungsapparates verhindert wurde? Was hätten die Kameraden im Osten wohl Arbeit gehabt, wenn ich dem König empfohlen hätte, die Alarmierung auszulösen? Sie hätten sofort Gegenmaßnahmen ergreifen müssen, die 7,5 Minuten gelten schließlich auch für sie. „Fröhliche Weihnachten, Fjodr“, murmele ich, „fröhliche Weihnachten Andreji, lass’ uns keinen Scheiß machen!“
21:45 Uhr
Ich beschließe nun meine 46 Pfennig zu verprassen. Zunächst rufe ich meine Mutter an, die bedingt durch den Tod meines Vater auch völlig alleine zu hause sitzt. „Ob hier ‘was los ist? Nein, überhaupt nichts, alles total ruhig“, flunkere ich gelassen. Anschließend telefoniere ich mit Susanne, meiner Verlobten, die den heiligen Abend im Kreise ihrer Familie verbringt. Danach fühle ich mich noch einsamer, als zuvor.
22:10 Uhr
Mein holländischer Kollege ruft mich. „Was will der denn?“, wundere ich mich. Ich kenne seine Station. Die Holländer leben, verglichen mit mir, im totalem Luxus. Zwar befindet sich ihre Anlage vollständig -bis auf die Antennen versteht sich- unter der Erde, aber sie ist vollklimatisiert, verfügt über eine Küche und Ruheräume. Außerdem sind die Jungs zu dritt oder viert für 24 Stunden dort und können sich gegenseitig nach Bedarf ablösen, Essen und kurz Schlafen. „Goedenavond“, wir haben echte Verständigungsprobleme. Nach mehrmaligen Nachfragen verstehe ich, was los ist. Er hat einen Systemausfall und bittet mich einen Teil seiner Routineaufgaben zu übernehmen. Systemausfall in dieser hochmodernen Anlage, in der alle Systeme mindestens doppelt vorhanden sind? Das ich nicht lache! Das spitze Kichern seines Systemausfalls habe ich im Hintergrund sehr gut wahr genommen. Ich sage dennoch zu und schon übermittelt sein Computer meinem digitalen Partner die notwendigen Daten. „Wie lange wird Dein Systemausfall dauern?“ erkundige ich mich, nicht ohne mir der ironischen Fragestellung bewusst zu sein. „Nicht allzu lange, mein Mechaniker ist schon eingetroffen.“ Ich will ihn erst fragen, ob neuerdings Meisjes in der holländischen Armee Mechaniker sind, verkneife es mir aber, ich muss ja nicht unbedingt den König auf den Plan rufen, der das Kichern vielleicht überhört hat. Diese Holländer, haben die Mädels im Bunker!
„Tot-siens und viel Spaß“.
0:00 Uhr
Inzwischen hat mein holländischer Nachbar seinen Systemausfall behoben und sich bei mir für die freundliche Unterstützung bedankt. Auch ist der Wetterballon inzwischen sang und klanglos in die Nordsee gefallen. Hat er es doch geschafft die Welt für kurze Zeit in Atem zu halten. Und das wirklich interessante daran ist, dass die Welt es gar nicht bemerkt hat.
Nach spätestens sechs Stunden ist es in meiner engen Hütte unbedingt notwendig einen kompletten Austausch der Atemluft vorzunehmen. Die mich umgebende High-Tech verströmt trockene heiße Luft, das Holz stinkt nach Holzschutzmitteln. Ich öffne die Tür und das Fenster. Draußen ist es stockdunkel. Sternklarer Himmel. Ich gehe einen Schritt hinaus und blicke nach oben. Ich sinne über den Stern von Bethlehem und Wetterballons nach. Tchico stupst mich mit seiner kalten Nase ans Bein. Ich streichle seinen Kopf.
Am Horizont erkenne ich die Lichter der Stadt Oldenburg. Dort gehen die Menschen nun nach dem heiligen Abend beruhigt zu Bett. Und sie können beruhigt zu Bett gehen, solange Männer wie ich, aber auch Fjodr oder Andreji, ausgerüstet mit Mikrowellen verschleudernden Antennen und Lauschapparaturen sich gegenseitig in Schach halten. „Fröhliche Weihnachten, schlaf’ gut, Oldenburg, wirst du es mir je danken?“ denke ich. Nein, Dank werde ich nie erhalten. Woher auch? Die Öffentlichkeit verspottet Uniformträger. Die Uniformen sind aus der Mode gekommen, ebenso wie die Soldaten, die sie tragen. Eine Mischung aus Wut und Bitterkeit steigt in mir auf.
Trotzdem bin ich einen Augenblick lang wahnsinnig stolz auf meinen Job. Ich passe auf Millionen von Menschen auf!
Vor mir liegen noch sieben endlose Stunden Schicht.
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Tag der Veröffentlichung: 29.10.2008
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Gewidmet:
Jürgen Becker,
ehemaliger Pfarrer der evangelischen Gemeinde Essen/Oldb., der mir die Gelegenheit gab, diese Geschichte an einem Adventssonntag vorzutragen.