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Irrsinnsglück

 Dieses Buch enthält Szenen der Gewalt und sexuelle Darstellungen, die für Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren nicht geeignet sind!

Dieses Buch ist eine Satire!

 

 

Albert Mellander

 

 

DER WAHNTÖTER

 

Ein krimineller Kurzroman

 

Band IV: Irrsinnsglück

 

 

 

An der Uferpromenade trieb ein Leichenboot. Es war ganz aus Metall, sauber verschweißt und völlig verrostet. Und trug einen fest installierten Aufbau in Form eines Doppeldecker-Flugzeugs. In diesem saß eine junge Frau in einer signalroten Lederjacke mit dem Abzeichen der Rettungsfahrer. Sie war Mitte 20. Stark geschminkt. Und tot. In ihrem Hals steckte ein langer Pfeil. Auch in ihrem Oberarm.

Das Doppeldeckermodell war alles andere als ausgewachsen und kaum größer als das Flugzeug eines Kinderkarussells. Kurze Tragflächen überragten den rundlichen Rumpf, in dessen Pilotenkanzel die Leiche saß. Vorn ein Propeller aus Blech, hinten die Stummelflügel der Steuerung. Die gesamte Konstruktion war so stabil zusammengefügt, dass sie für die Ewigkeit erschaffen schien.

Auf beiden Seiten des Flusses beguckten hübsche Häuser die stumme Szene und ließen sich ihre Prunkgiebel von der aufgehenden Sonne anstrahlen.

 

Ein schwerer Geländewagen schob sich zwischen Polizei und Spurensicherer. Ungeachtet aller haltgebietenden Handzeichen drängte sich jener ausgemusterte Ambulanzwagen aus Armeebestand einfach durch. Und fuhr über die Promenade bis an das Leichenboot vor. Die Beifahrertür schwang auf – und ihm entstieg Egon Markwart, genannt der Wahntöter. Der Spezialist des Geheimen Sondereinsatzkommandos für Serienmord und Psychopathentat. In der stilvollen Chauffeursuniform eines bewaffneten Leichenwagenfahrers stand er für einen Moment einfach nur da. Die Hand auf seine Revolvertasche gestützt, ließ er sein Erscheinungsbild auf die Umgebung wirken, um der Welt sein ironisch überlegenes Gehabe zu demonstrieren. Doch seine Körperhaltung wirkte ein wenig abgekämpft. Müde schauten seine Augen unter der Schirmmütze ins Nichts.

Alle Blicke wandten sich ihm zu.

Bis Edina Sawall, seine attraktive Adjutantin, auf der Bildfläche erschien.

Sie war beliebt. Zudem von geistreicher Frische und in ihrer weiblichen Üppigkeit von außergewöhnlicher Schönheit. Nicht sehr groß war Edina, nicht blond und keinesfalls schlank. Und dennoch eine moderne Jagdgöttin! Rund und prall spannte ihr riesiger Busen den Uniformstoff ihres Kragenausschnitts.

Die Polizisten wandten sich ihr zu, grüßten mit lässiger Handbewegung.

Gleich einer Königin, die ihr Garderegiment an der Front besucht, schritt Edina zwischen sie. Und erwiderte ein paar Worte mit derselben aufrichtig gemeinten Freundlichkeit.

Ein Polizist reichte Edina einen Kaffee. Nein, nicht in einem Pappbecher, sondern in einer Porzellantasse auf Unterteller. Ein anderer Polizist hielt ein Tablett mit Zuckerdose und Milchkännchen.

Markwart bestarrte die Szene aus düsteren Augenringen.

Edina aber erwies den Polizisten ihr schönstes Lächeln.

 

Schon kam Vogt, der Einsatzleiter, auf seinen Wahntöter zugestürzt. Er, Vogt, war Markwarts direkter Vorgesetzter. Ein Pedant, der noch bei seiner Mutter lebte. Unbeweibt, vorschriftsliebend, unflexibel. Und auch sonst war seine Person wenig bemerkenswert. Einen Kaffee wie Edina bekam er übrigens auch nicht.

Vogt bebte vor Wut. Über seinen Wahntöter. Aber er beherrschte sich. Erst würde er Markwart dieses Leichenboot begutachten lassen, dann aber würde er ihn mitleidlos abkanzeln. Denn diese Ungeheuerlichkeit, diese Auswüchse an Überheblichkeit, welche Markwart am Vortag vor aller Welt, in aller Öffentlichkeit, zur Schau gestellt hatte, passte auf keine Leinwand. Und in eine Personalakte schon gar nicht… Denn sein Wahntöter kam in der Tat aus einem Schlachtengemälde. In seinem unterdrückten Zorn fand Vogt über jenen Leichenbootfund kaum drei zusammenhängende Worte.

Das nutzte Markwart natürlich aus. Demonstrativ hob er seine Hand und gebot Vogts Gestammel unmissverständlich Einhalt. Dann trat er an das Leichenboot heran, um sich selbst ein Bild zu machen. Eines, welches weniger kriminalistisch, dafür aber umso moribunder und wahntöterlicher koloriert war.

Im Hintergrund dieses Bildes zogen die letzten Nebelstreifen über den Fluss. Es war noch früh am Morgen. Im Sommer. Und an der Uferpromenade einer kulissenhaft schönen Stadt dümpelte ein Leichenboot. Es scheuerte mit seiner rostigen Bordwand an der gepflegten Mauer mit dem Ziergeländer. Die Promenade selbst war in regelmäßigen Abständen mit Sitzbänken und Bäumen bestückt. Sogar die kunstvoll gestalteten Abfalleimer schienen sich der landschaftlich reizvollen Gegend bewusst.

Aber da war dieses verrostete Leichenboot. Und schimpfierte die in allen Reiseprospekten so glanzvoll abgebildete Promenade.

 

Markwart fand jenes Leichenboot wunderschön. Mit einem verklärten Lächeln ließ er seine Blicke über das wunderliche Gefährt schweifen. Wie über einen die Seele berührenden Kunstgegenstand. Markwart wusste gleich, was er da vor sich hatte. Denn er hatte schon einmal davon gehört, so wie er auch so vieles schon vor seinem geistigem Auge voraussehend erschaut hatte…

Ein Totenboot war es! Geleitend seine Fahrende hinüber auf die andere Seite. Ins Jenseits. In diesem aus Rundeisen gefügten Leichenschrein in Form eines Flugzeugs. Ein hübscher kleiner Doppeldecker war das. Sogar mit einem blechernen Propeller. Ähnlich einem Karussellmodell. Um wie dieses in einem ewigen Kreislauf sich zu drehen. Denn jenes Bestattungsboot verfügte über kabelgesicherte Bojen, an denen das gesunkene Schiffchen zur weiteren Verwendung wieder und wieder gehoben werden konnte. Zuvor aber musste es mit seiner Leichenfracht im Fluss versinken. Brennend. Zu diesem Zweck saß die Leiche auf einem Schichthaufen aus Brennholz und Reisigbündeln.

Das Feuer dieses Scheiterhaufens verbrannte seinen Toten und brannte zudem die hölzernen Dichtungszapfen im Rumpf durch. Dann strömte Wasser hinein, brachte das Boot zum Sinken und übergab dem Fluss die verbrannten Überreste seines Toten. Anschließend wurde es an den Stahlsehnen seiner aufgestiegenen Sicherungsbojen von einem Kranboot gehoben, um erneut als Feuerbestattungsschiff dienen zu können. Wieder und wieder…

In diesem Fall aber hatte der Scheiterhaufen nicht richtig gezündet. Und aus irgendeinem Grund musste das von der Bestattungsmannschaft des Totenbootes unbemerkt geblieben sein…

Letzte Nacht hatte es schwere Unwetter gegeben. Mit Blitz und Donner, Sturm und Starkregen. Sicher hatten diese heftigen Niederschläge das Leichenfeuer des Totenbootes ausgelöscht. Noch immer stand das Regenwasser halbmeterhoch im Boot. Es war ganz klar und sauber. Im Gegensatz zum Wasser des Flusses, das in einem dreckigen Dunkel vorüberzog. Mit sich führend Blätter und kleine Äste, die Sturm und Sturzregen von den Bäumen geschlagen hatte.

 

Markwart betrachtete die Leiche. Eine Rettungsfahrerin. Zumindest dem ersten, äußeren Anschein nach. Unter ihrer dicken Schicht von Schminke schien die Tote übel zugerichtet. Zudem steckten zwei Pfeile in ihrem Körper.

„Die beiden Pfeile hier, die sind doch erst nach ihrem Tod – post mortem – in ihren Körper geschossen worden…“ zeigte Markwart auf die beiden Pfeile und bediente sich sogar eines Fachbegriffs.

Der Spurensicherer bestätigte seine Vermutung. Und zählte dann vorläufige Erkenntnisse auf: Der Todeszeitpunkt lag drei, vier Tage zurück. Länger, wenn die Leiche in einer Kühlkammer aufbewahrt worden war. Zudem ließen schwere Kopfverletzungen darauf schließen, dass die Tote gewaltsam ums Leben gekommen war.

Laut vor sich hin sprechend, überdachte Markwart die möglichen Todesursachen. Mord natürlich. Und Totschlag. Auch ein Unfall. Oder Selbstmord.

Zu jeder der Äußerungen gab der Spurensicherer ein bejahendes Brummen von sich.

Markwart schnaufte. Denn alles schien möglich.

Alles, nur eines nicht: dass diejenigen, welche solch ein Totenboot auf die Reise schickten, an der darin bestatteten Leiche ein Verbrechen begangen haben konnten. Denn dafür war die Leiche zu liebevoll hergerichtet. Dezent geschminkt, sorgfältig verbunden, würdevoll platziert und behutsam mit Mullbinden in ihrer aufrechten Sitzposition fixiert. Auch die beiden Feldblumengebinde, die zu beiden Seiten der Pilotenkanzel an den wohl eigens dafür vorgesehenen Haken welkten, waren prachtvoll gewesen.

 

Natürlich waren das alles Spekulationen. Doch Markwart hatte in seinem Dasein bereits genügend Leichen gesehen, auch solche, die von Psychopathen mit Akribie wie Kunstwerke hergerichtet waren. Die Rettungsfahrerin dieses Totenbootes aber sah nicht nach der Hand eines krankhaften Serienmörders aus. Ganz im Gegenteil: Sie wirkte wie eine liebevoll Verabschiedete auf dem Weg in eine andere Welt.

Was die beiden Pfeile in ihrem Körper betraf, so war ihr diese Gewalttat erst später zugefügt worden. Von ganz anderer Hand. Aus größerer Entfernung. Davon schien Markwart fest überzeugt. Ein dritter Pfeil stak im Gehölz des Scheiterhaufens. Den nahm Markwart an sich.

 

Lächelnd warf Markwart einen erneuten Blick auf die Tote. Wer immer sie auch war, was immer auch ihr Schicksal gewesen – im nächsten Leben würde sie, ganz wunschgemäß, eine Rettungsfahrerin sein. Markwart starrte vor sich hin und sah sie schon. Jagend einen Ambulanzwagen durch Straßenschluchten, Tunnelröhren, Todesbahnen. Zielsicher lenkend ein phantastisch Vollgasgefährt. Um zu retten, was es zu retten galt. Und niemals, nie, käme sie auch nur ein einziges Mal zu spät…

 

Edina gab ein unüberhörbares Räuspern von sich.

Markwart schnellte aus seinem Tagtraum und seufzte sich unbarmherzig in die reale Welt der Lebenden zurück.

Zwei Bestatter warteten neben ihrem Leichenwagen und rührten gelangweilt in ihren Mobiltelefonen herum. In ihren kurzärmeligen Hemden samt Schlips und Weste sahen sie wie die Kellner eines heruntergekommenen Ausflugslokals aus. Bald schon würden sie sich der Totenbootleiche bemächtigen.

Markwart stöhnte. Gern hätte er diese bestattungstechnische Plünderung des Totenbootes verhindert. Denn die tote Rettungsfahrerin war längst Teil des Jenseits und durfte nicht in die Welt der Lebenden zurückverbracht werden. Und von diesen zwei Bestattungslangweilern schon gar nicht! Dachte der Wahntöter. Und sah sich – in einem unbeobachteten Moment – den Scheiterhaufen samt der Leiche mit Benzin aus einem Reservekanister übergießen und entzünden. Sah sich das Totenboot mit langer Hakenstange in die Strömung des Flusses schieben. Damit es abfahre, verbrenne, sinke und die Rettungsfahrerin in die Totenwelt überführe.

Ein solches Ansinnen war natürlich vollkommen undurchführbar. So nahm denn der Wahntöter nur seine Schirmmütze ehrerbietig vor die Brust und sprach ihr die Totenformel.

 

Vogt, der Einsatzleiter, zitierte seinen Wahntöter an einen Kommandowagen. Darin ein Klapptisch zwischen Sitzbänken. Daran ein Polizist vor einem aufgeklappten Rechner. Großtuerisch wies Vogt auf den belebten Bildschirm. Darauf flimmerte das flammende Chaos eines Massenunfalls auf der Autobahn. Die Aufnahmen schienen ein Zusammenschnitt verschiedener Nachrichtensendungen. Und zeigten das gestrige Unfallgeschehen aus allen Perspektiven. Auch Luftaufnahmen waren zu sehen.

Markwart schnaufte nur und ahnte, was nun kam.

Schon fuchtelte Vogt mit dem Zeigefinger vor dem Monitor herum und krakeelte sich mehr und mehr in Wut. „Da! Da und da! Und dort schon wieder! Und nicht irgendwo am Rande, nein, mittendrin! Und natürlich wieder ganz groß in Pose! Aber habe ich davon eine Meldung? Einen Bericht? Oder wenigstens eine mündliche Mitteilung! Nein, nichts habe ich! Doch dafür diese Bilder! Millionenfach gesendet! Millionenfach! Verdammt, was hast du dir dabei eigentlich gedacht?! Du bist Teil eines geheimen Sondereinsatzkommandos – und kein Filmheld oder Schausteller mit Jahrmarktsbude!“

Vogt tobte. Und hatte nicht Unrecht.

Markwart ließ ihn schreien. Denn die ihm angelastete Verwicklung in jenem Massenunfall war nichts als Zufall. Alles Weitere war das Zusammenspiel besonderer Umstände in der Notwendigkeit wahntöterlichen Tuns. Oder so etwas Ähnliches.

 

In seinen Gedanken durchlebte Markwart noch einmal jenen gestrigen Tag: Und dröhnte in seiner Erinnerung nichtsahnend über die Autobahn. In seinem alten Ambulanzwagen. Mit Edina am Steuer. Für die Mittelspur war der schwere Wagen zu langsam; also zog er zwischen den Lastwagen auf der rechten Spur dahin. Vibrierend vom Rammschutz bis in die Rückleuchten. In den heruntergekurbelten Türscheiben wummerte der Fahrtwind. An den Horizonten verschwammen die Linien von Sonnenhimmel und Endlosfeldern in der Schwüle eines zu nassen Sommers.

Edina rauchte. Markwart döste. Und atmete zwischen Edinas Zigarettenqualm den Duft ihres parfümierten Busens, welcher ihrer halboffenen Bluse entströmte. Heiß knallte die Mittagssonne durch die Frontscheibe. Schweißnass klebte der weiße Blusenstoff auf Edinas Büstenhalter. Genießerisch träumte Markwart unter seiner tief ins Gesicht gezogenen Schirmmütze von den weiblichen Formen seiner geliebten Adjutantin. Von Abgasen und Kraftstoffdämpfen umnebelt.

Plötzlich aber schreckte Markwart aus seinen Phantasien hoch. Die Instinkte eines motorisierten Wilden empfindend, gab er Edina ein warnendes Handzeichen. Weit beugte er sich aus dem Türfenster. Vorausschauend. Unglück ahnend.

Im nächsten Augenblick geschah es. Weiter vorn. In einem Krachen und Bersten. In einem Bremsgequietsche und Warngehupe. Überall glühten Bremslichter und Warnblinker auf.

„Runter von der Autobahn! Sofort! Und rein in den Acker! In den Acker!!“ sah Markwart die sich ineinander schiebenden Kolonnen, schrie und winkte mit heftiger Bewegung.

Sofort scherte Edina aus der Spur über den Standstreifen und jagte den Geländewagen von der Autobahn direkt in den Acker. Hüfthoch stand der Weizen, goldgelb und bürstendicht.

„Weiterfahren! Fahr weiter! Immer weiter!“ wies Markwart mit befehlbrüllender Handkante nach vorn. Tiefer und tiefer in den Weizenacker.

Tief und tiefer aber sanken nur die Räder in den regendurchweichten Ackerboden, denn die erntereifen Felder konnten die abnormen Niederschlagsmengen kaum noch fassen.

Edina schlug den Allradhebel rein und würgte den Wagen durch das verschlammte Weizenfeld. Niederwalzend dichtes Getreidegehalm greilte sie den Wagen in Sicherheit.

„Anhalten! Motor aus. Und Absitzen. Ruf sofort ein Großaufgebot an Feuerwehren und Rettungswagen!“ hatte Markwart bereits seine Tür geöffnet und stolperte aus dem Wagen. Mitten ins Weizenmeer. Hinter ihm, vielleicht 100 Meter entfernt, zog sich in einem Bogen die Autobahn. Fahrzeug an Fahrzeug in dreispuriger Kolonne. Von Sonnengestrahl umgleißt. Von Hitzegeflimmer verzerrt.

Edina telefonierte mit der Rettungsleitstelle. Neben Markwart stehend, sah sie, wie das Chaos von Sekunde zu Sekunde weiter um sich griff…

Vorn an der Unfallstelle stand schon alles still. Wie festgerammt, aufeinander geschoben und ineinander verkeilt. Geborstene Scheiben und zerknittertes Blech auf verbogenem Stahl. Ein Wrackhaufen aus Personenwagen, Lastern, Lieferwagen… Winselnde Alarmanlagen, klagende Hupen im Dauerton. An einigen Stellen stieg Rauch aus dem Trümmergewirr. Zog in bedrohlichen Schwaden über die Autobahn. Nahm vielen die Sicht.

Hinter der Unglücksstelle schlug eine Serie unzähliger Auffahrunfälle durch die nachfolgenden Fahrzeugreihen. Rücklichtsplitternd und kofferraumberstend.

In der Mitte der Kolonnen versuchte das eine oder andere Fahrzeug, die Autobahn zu verlassen und – gleich dem Wahntöterwagen – ins freie Feld auszuweichen. Die einen scheiterten schon an der abschüssigen Böschung und rammten sich im Graben fest, die anderen fielen auf die Seite oder überschlugen sich. So auch ein Getränkelaster. Klirrend kippte er um und verstreute Flaschen und Bierkästen.

Ein paar wenige Wagen aber, auch Kleintransporter dabei, schafften es bis ins Weizenfeld. Fuhren sich aber sogleich im regennassen Boden fest.

Letztendlich gelang nur den Geländewagen der Ausbruch aus dem Chaos. Mit chromblitzenden Rammschutzgittern brachen sie sich durch die Autoreihen blechknirschend Bahn. Ohne Probleme nahmen sie die Böschung und kämpften sich dann durch den morastigen Weizenacker. Bald erreichten sie einen Feldweg und verschwanden.

Zwei Geländewagenfahrern, den wichtigsten Regeln des Fahrens im Gelände offensichtlich unkundig, gelang die Flucht nicht. Schon die leicht abschüssige Böschung, diagonal befahren, warf ihnen die Wagen um.

Edina schüttelte nur mitleidig den Kopf.

Markwart aber stieß seinen Säbel in den Weizenacker: „Hier wird die Truppe gesammelt! Lass eine weiße Fahne aufstellen! Und richte ein Feldlager her!“

„Zu Befehl, mein General!“ salutierte Edina mit unverhohlener Ironie und quittierte Markwarts Verrücktheiten mit einem erneuten Kopfgeschüttel.

 

Markwarts Blicke schweiften über die dicht aufgefahrenen Fahrzeugkolonnen. Bis auf den schweren Massenunfall hatte es in den nachfolgenden Reihen nur ein paar Auffahrunfälle mit Blechschaden gegeben. Doch Markwarts Blicke verdüsterten sich. Denn vor seinem geistigen Auge sah er, dass jenes Autobahnunglück den höchsten Grad seines katastrophalen Ausmaßes noch nicht erreicht zu haben schien…

Explosionen erschütterten die Sommerhitze! Das waren die hochgehenden Benzintanks einiger Unfallwagen. Dazwischen krachten Schüsse. Pistolenschüsse!

Auch Markwart schoss. Stand oben auf seinem Geländewagen und schoss mit seinen langläufigen Revolver in die Luft.

„Hierher! Alles hierher! Raus aus den Wagen! Runter von der Autobahn – und hierher!“ winkte er den Menschen mit seinem Revolverarm.

Flammen schlugen aus Motorräumen. Zwei Wracks brannten bereits lichterloh.

Hilflos umstanden die Menschen ihre Fahrzeuge und Blechschäden. Frauen, Männer, Kinder. Urlaubsfahrer, Transportmaschinisten, Geschäftsreisende. Zeternd die einen, unter Schock stehend die anderen.

 

Markwart schoss erneut und schrie umso befehlsgewaltiger.

Endlich setzten sich die Menschen in Bewegung. Unbeholfen stolperten sie die Böschung herunter. Gleich ungelenken Trockenschwimmern krauchten sie durch das Weizenmeer.

Nur einen Moment später raste ein Tanklastwagen in das Stauende. Randvoll mit hochentzündlichem Treibstoff. Wie Pappbecher schob er die zuvor verlassenen Personenwagen zusammen. Zerbarst. Explodierte. Und überschüttete die Fahrzeughaufen mit seinem Flüssigfeuer. Eine gewaltige Rauchwolke, fett und schwarz, wälzte sich zum Himmel empor und verdunkelte das unter ihr liegende Teilstück einer verunglückten Welt.

 

Die ersten Menschengruppen erreichten den Wahntöterwagen. Auf Decken hinter sich her zerrend, führten sie wenigsten vier Tote mit sich. Verstört schauten die Überlebenden zu dem kommandierenden Markwart hinauf, einem Mann in Leichenfahrermontur, fuchtelnd mit einem langläufigen Revolver.

„Zugehört! Und Ruhe bewahrt! Rettungskräfte sind informiert und bereits unterwegs. Bis Hilfe eintrifft, bleiben wir alle hier. Und helfen einander, so gut es geht. Die Toten auf diese Seite. Die Verletzten auf die andere. Um die kümmern wir uns zuerst. Ist hier jemand Arzt oder Krankenschwester? Gut, danke. Dort liegen Decken und ein Verbandskasten bereit…“

Längst hatte Edina den gestreiften Baldachin des Wahntöterwagens zwischen die beiden Zeltstangen gespannt. Unter dieses Vorzelt dirigierte sie nun die wenigen Schwerverletzten. Daneben stand die weiße Fahne. Träge flappte ihr Tuch in den vorüberwabernden Rauchschwaden.

Auf der anderen Seite des Geländewagens

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 26.11.2018
ISBN: 978-3-7438-8766-4

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