Stirb 1000 Tode
Ein Dutzend Kurzgeschichten
Freigegeben ab 16 Jahre
Warnung: Das nachfolgende Werk enthält Darstellungen brutaler Gewalt und sexueller Freizügigkeit!
Schon die Proben waren der Wahnsinn. Einige Choristen hatten die Maschine zu sein. Und so mussten sie auch funktionieren. Wie eine Maschine. Im Gleichtakt stießen sie ihre Stühle auf den Holzboden. Ein Rollstuhlfahrer kommandierte sie mit einem Schalltrichter. Vier Männer trugen ihn zwischen zwei Stangen umher. Wie in einer Sänfte.
„Stopp! Aus! Verdammte Bande von Idioten! Wir proben, bis ihr es könnt – oder mit Schaden zusammenbrecht. Maschine Achtung! Volle Kraft voraus!“ schepperte der Chormeister durch sein Blechmegaphon.
Mit einem Schlag donnerte die linke Hälfte der Stühle zu Boden. Dann die rechte Hälfte. Abwechselnd wurde wieder angehoben. Dröhnend zu Boden gesetzt. Angehoben. Aufgesetzt. Angehoben. Aufgesetzt. Die Maschine lief an…
„Eins-zwei. Eins-zwei. Langsam schneller werden. Ja, sehr schön, ihr gesangsschwachen Kanalratten! Weiter so. Ja, ihr seid die verdammte Marschtrommel. Schneller, Höllenpack. Ja-ho! Ja-ho! Ja-ho!“ hallte der Chormeister durch den Blechtrichter. Er traktierte wie der Kapitän eines Sklavendampfers.
Den vier Trägern seiner Rollstuhlsänfte erging es nicht besser. Nur selten ruhte das Gerät. Der Meister brauchte es in Bewegung. Um seine Taktschläger von allen Seiten beleidigen zu können. Die Träger bedachten jedes Schimpfwort mit einem breiten Grinsen. Die beiden Vorderen wurden mit Zügeln gelenkt.
„Maschine: Äußerste Kraft voraus! Schneller, schneller doch, ihr Zimperliesen!“ schrillte der Chormeister durch sein Blech.
Die Taktschläger gaben ihr Letztes. Das Tempo war nicht zu halten. Es gab erste Ausfälle.
„Maschinen Stopp! Zwanzig Minuten Pause…“ winkte der Chormeister ab.
Stille. Nur das Keuchen der Taktschläger. Sie rangen nach Luft. Wischten Schweiß. Ließen sich auf ihre Stühle fallen.
Im Hintergrund wurden zwei Schiebetüren geöffnet. Hell fiel das Licht des Schankraums in den Saal. Über dem Tresen strahlte eine Brauereireklame. Bravorufe. Die Stammgäste applaudierten. Eine Kellnerin schleppte Bier in den Tanzsaal, der jenem wahnwitzigen Chorprojekt als Probenraum diente. Unter der Decke hingen verblasste Girlanden. Auf der Bühne verstaubten die Kulissen des Kinderkarnevals.
Der Chormeister saß in seiner Rollstuhlsänfte. Zur Hälfte gelähmt, den Hals bis unter das Kinn in eine Stütze geschmiedet. Behutsam setzte er sein Bierglas an den Mund. Der Trinkspruch eines Taktschlägers ließ ihn in seiner Handbewegung innehalten.
„Trinken wir auf Knallfrosch! Er möge proben, siegen und explodieren!“
Gelächter. Gläser hoch.
Der Chorleiter schwenkte sein Glas und strahlte dankend. Er war der Knallfrosch. So hatte er sich einst in der Kneipe vorgestellt: Ich heiße Grünling; meine Bewunderer nennen mich Grünling, den Gnadenreichen – alle anderen schimpfen mich sehr treffend Knallfrosch.
Die meisten Chormitglieder hassten ihn, Grünling, den Knallfrosch. Seine Einzelproben waren die Hölle. Wie er es versprochen hatte. Schmähungen. Unzählige Wiederholungen… Von vorn, ihr Spülsteingewächse, das war kein Singen, sondern orales Gescheiße!
Aber der Knallfrosch hatte noch etwas anderes versprochen: Singt, singt wie ihr nie zuvor gesungen habt – und ich gewinne euch den Chorwettbewerb! Nur darum ging es. Um den Chorwettbewerb. Den zweijährlichen Sängerstreit der einzelnen Stadtteile. Niemals hatte Fahrenberg ihn gewonnen. Die letzten Jahre war man nicht einmal mehr angetreten. Aus Scham. Und aus Mangel an musikalischen Choristen. Dieser Mangel herrschte noch immer. Aber man hatte einen neuen Leiter. Und ein außergewöhnliches Chorwerk. Knallfrosch und ,Sturmfahrt’.
Ersteres die zynische Restsumme eines beziehungsgestörten Gesangslehrers mit Unfallschicksal und Alkoholproblem. Zweimal geschieden, beruflich erledigt und seit drei Jahren im Rollstuhl.
Letzteres ein chorisch inszeniertes Dampfschiff im Zweikampf mit der Höllengewalt des Meeres. Ein brachiales Werk. Dynamisch. Eingängig. Und – weit wichtiger – auch für unerfahrenen Chor zu singen.
Hinten in der Kneipe hing ein Plakat des Chorwettbewerbs. Als Zielscheibe. Für Wurfpfeile. Die Stammgäste durchlöcherten das Plakat wie ein Feindbild. Aus gekränkter Eitelkeit. Niemals hatte ihr Viertel den Chorpreis gewonnen. Weshalb? Eine Zeitungskritik hatte die Antwort geliefert: Weil Fahrenberg eine Randexistenz war. Ein Stadtviertel der Zwischenklasse, halb Bildungsbürger, halb Unterschichtler. Halb mittellos, halb Mittelmaß. Der einst so viel besungene Charme Fahrenbergs tönte bestenfalls noch aus den hundertjährigen Parkettböden und Stuckdecken seiner unsanierten Wohnungen. Aber die Gegenwart beschallte das Viertel nicht. Und schon gar nicht im Chorwettbewerb. Ganz Fahrenberg hatte über diesen Artikel vor Wut geglüht.
„Was euch Jammertüten fehlt, ist das passende Chorwerk. Und ein Musikchef, der euch Tontauben mit dem Holzhammer dirigiert…“ war alles, was Knallfrosch gesagt hatte. Beiläufig. Doch laut und herausfordernd genug.
„Aber klar doch, der Neue wieder… Und immer die ganz große Fresse. Du bist natürlich der passende Chorleiter. Und hast natürlich auch das passende Chorwerk für uns…“ hatte Untersetzer, ein Stammgast, von der Höhe seines Barhockers auf den Rollstuhlsitzer herabgewitzelt.
Ja, Knallfrosch war jener passende Chorleiter. Und hatte auch ein den Umständen entsprechendes Chorwerk. Eines, das – kompetent geleitet – selbst mit einer Horde Brüllaffen aufgeführt werden konnte…
Die Bedingungen des neuen Chorleiters waren einfach und unmissverständlich. Absoluter Gehorsam. Duldung der vulgärsten Beschimpfungen. Und dann war da noch die Sache mit der Sänfte...
„Ich bin Knallfrosch, euer neuer Chormeister. Schon nach der ersten Probe werdet ihr von dem Chorwerk und dem Ergebnis meiner Befehlsgewalt so beeindruckt sein, dass ihr mich – gleich dem Gnadenreichen – auf Händen tragen werdet.“
Die Chorsänger konnten kaum den Ton halten. Immer wieder ließ Knallfrosch abbrechen. Von vorn, ihr Höllenschweine. Doch am Ende war das ‚Umwehe mich, Seele!’ kein Geschrei mehr – sondern Gesang. Perfekt nicht, aber Gesang.
Wortlos band Untersetzer, des Chormeisters größter Widersacher, zwei Holzstangen an den Rollstuhl. Dann teilte er eine Trägermannschaft ab. Knallfrosch wollte abwiegeln. Wollte nicht auf Händen getragen werden. Stammelte etwas von einem Witz und –
„Knallfrosch, halt’s Maul. Und pass besser auf, was du sagst…“ schnauzte Untersetzer.
Ihre offene Feindschaft war nicht echt. Beide ahnten das. Denn Knallfrosch und Untersetzter waren einander ebenbürtig. Weil sie sich beide selbst nicht ertragen konnten.
Untersetzter, auch Deckel geschimpft, war ein Gelegenheitsdenker. In alkohol-philosophischen Abhandlungen. Er schrieb für die Schublade. Sogar Theaterstücke. Reserven für den großen Durchbruch. Daneben arbeitete er auf dem Großmarkt. Halbtags. Frühmorgens um drei stolperte er aus der Kneipe zum Gemüsemann gegenüber. Der fuhr dann mit ihm in die Markthallen. Halb Intelligenz, halb noch im Dusel, unterhielt Untersetzer die Marktarbeiter und Obsthändler mit dem Künstlerwitz seines verhinderten Genies. Dazwischen schob er Paletten mit Gemüse. Untersetzer hier, Untersetzter da. Untersetzer war beliebt. Untersetzer tat sehr beschäftigt. Untersetzer arbeitete wenig. Und brauchte noch weniger. Zimmermiete, Kneipengeld und ab und zu ein Fachbuch, das er dann doch nicht las. Natürlich wollte er weg. Weg aus seinem lächerlichen Leben. Aber wann? Wohin? Und vor allem: worin? Denn in dem Menschen, der er war, konnte er sich nirgends mit Erfolg niederlassen. Außer am Tresen einer in Bierlachen und Selbstmitleid schwimmenden Halbdenkerkneipe…
Der Gelegenheitsdenker war die rechte Hand des Chormeisters. Untersetzer kannte die Leute, konnte begeistern. Knallfrosch hatte das richtig erkannt. Nur in einem geistig wie baulich unsanierten Viertel wie Fahrenberg fand man Choristen, die das emotionale Zeug für die Sturmfahrt hatten. Und nur in einer gesellschaftlich unsanierten Kneipe wie der ’Ballkönigin’ fand man Wortführer, welche genügend Mitstreiter zusammentrommeln konnten. Täglich war Untersetzer unterwegs, um Choristen zu gewinnen. Er überzeugte die Müllfahrer des nahe gelegenen Fahrzeughofs, er verteilte Flugblätter, sprach in der Tangoschule vor…
Springer war die linke Hand des Chormeisters. Er war sein Pfleger. Einer von jenen Freiwilligen, die mit ihrem Leben nichts Besseres anzufangen wussten. Der Ulrich. Mitte zwanzig. Schüchtern, klaglos, gebeugt. Seine Gesichtshaut war so unrein, dass Knallfrosch ihn nur Pickelhaube nannte. Auch sonst wurde er von seinem Pflegebefohlenen nicht gerade gut behandelt. Aber statt ihn einfach aus dem Rollstuhl zu kippen, dachte Pickelhaube noch darüber nach, ob das Leben wirklich so war. So sinnlos und demütigend. Ja, das war es. Zumindest für den Menschentyp, in dem er feststeckte!
Das hätte auch Untersetzer ihm gesagt. Aber Untersetzer steckte selbst fest. Und war auch noch unvorteilhaft verliebt. In die best bewachte Frau Fahrenbergs. In Sabine. La belle Sabine. Ein ehemaliges Fotomodell. Nun wohl so um die Mitte dreißig. Schlank, blond. Standard. Ihr Puppengesicht bekam etwas Maskenhaftes. Das machte die permanente Anspannung, die sich in ersten Falten um Augen und Mundwinkel krallte. Denn die Eifersucht ihres Mannes wurde unerträglich. Täglich Szenen um nichts. Vorwürfe. Das Verlangen nach absoluter Kontrolle. Gewaltausbrüche. Nein, trennen, trennen konnte sie sich von ihm nicht. Nein, bleiben wollte sie. Aus Mangel an Entschlusskraft. Aus Gewohnheit. Ihren Ehemann hatte man anfangs als einen Glücksschmied mit Zukunft bezeichnet. Geschäftlicher Erfolg, eine begehrte Ehefrau – eben ein Selbstmachmann, der stets betonte, dass man es auch ohne viel Bildung zu etwas bringen kann. Kann man auch. Nur er konnte es nicht. Der Abstieg kam wie eine Schlagzeile – über Nacht. So blieb ihm nur noch sein Traum vom Auswandern. Als Holzarbeiter nach Kanada. Mit Sabine. Seine Vision war Kneipenthema. Eine Blockhütte am See. Lachsfischen. Elchjagd mit dem Repetiergewehr. Das ganze Viertel nannte ihn nur noch Nervtöter. Schon jetzt steckte er in kariertem Flanellhemd und trug ein breites Jagdmesser am Gürtel. Jeder wusste, dass er es nie nach Kanada schaffen würde. Jedenfalls nicht in dem Menschen, der er war. Denn dem fehlte es an Mut für etwas Neues.
Eines Abends gerieten Untersetzer und Nervtöter in der Kneipe aneinander. Der Streitpunkt war unbedeutend. Denn letztendlich ging es um Sabine. Das aber blieb unausgesprochen. Die beiden Männer provozierten sich wie zwei Blödhirsche in der Brunft. Der eine war an Körperkraft überlegen, der andere an Geist. Erst schlugen sie sich Beleidigungen um die Ohren, dann Fäuste. Die beiden Kämpfer wurden sofort getrennt. Jeder in einer anderen Ecke der Kneipe abgesetzt. Dort betranken sie sich dann. Jeder für sich. Der Gelegenheitsdenker kühlte sein angeschwollenes Gesicht; der Nervtöter blickte betreten zu Boden, weil ihn die paar wohl gezielten Bemerkungen bis ins Knochenmark blamiert hatten. Sabine hatte sich noch vor Beendigung jenes heldenhaften Zweikampfs davongemacht und ließ nur etwas ausrichten: Erstens, dass sie bei einer Freundin übernachte; und zweitens, dass sie beide Männer für Vollidioten halte. Daraufhin bekamen die beiden einen doppelten Wacholderschnaps. Auf Kosten des Hauses. Den Ratschlag der Wirtin gab es umsonst dazu: „Wenn zwei Idioten ein Bein nachschleppen, kann dies durchaus einem Dritten gehören…“ Ja, Tante Majanne kannte das Leben.
Knallfrosch kommandierte aus seiner Sänfte.
„Die Herren Müllfahrer im Bass! Nicht nur aus dem Maul stinken, sondern auch singen, verdammt. Erstens: lauter. Zweitens: sauber, zackig, drohend. Von vorn, verdammt! Schönheit, ich darf bitten…“ winkte Knallfrosch in Richtung Klavier. Daran saß ein alt gewordenes Mädchen, das er Schönheit nannte. Gesicht, Haare, Kleidung, Gerede, alles grau in grau. Sofort griffen ihre Fingerknochen in die Tasten. Natürlich war das Kneipenklavier erledigt. Halb totgeschlagen von besoffenen Dilettanten und sadistischen Karnevalspianisten. Aber Schönheit entlockte ihm dennoch Brauchbares an Musik. Halb schmeichelte sie es ihm ab, halb prügelte sie es aus dem Klimperkasten heraus. Ja, sie ritt die Saiten wie die Höllenhure den gefallenen Militärgeistlichen, witzelte Knallfrosch. Das war ein Kompliment, ja sogar Bewunderung. Schönheit hatte ihn daraufhin nur über ihre unmodische Brille angefunkelt. Nur keinen Streit. Denn auch sie wollte den Chorwettbewerb gewinnen. Um jeden Preis.
Der Bass wiederholte das ’Komm, Sturm, heule!’. Und er sang es immer wieder. Lauter, zackiger, drohender.
„Ja, das, das ist es, ihr Blödmänner! So, so muss das klingen, verdammt!“ strahlte Knallfrosch.
Die Müllfahrer grinsten sich über soviel Lob verlegen an. Alle Beleidigungen waren vergessen.
Knallfrosch winkte die Sopranstimmen ab. „Aufhören, sofort. Hier ist doch nicht der Straßenstrich der Volksmusik. Noch mal von vorn. Und dieses Mal ohne Süßholzgeschmiere. Schönheit, los, mach’s uns…“ grinste Knallfrosch.
Der Sopran sang schon besser. Also legte er ihn mit den Bassstimmen zusammen. Dazu die Tenöre. Dann noch die Altstimmen. Das ’Halte durch, mein Schiff aus Stahl!’ schnitt wie ein Dampfer durch die musikalischen Wogen. Nein, es war nicht perfekt. Aber es war schon recht gut. So gut, dass sich alle Choristen nur verwundert
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 23.12.2013
ISBN: 978-3-7309-7123-9
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