Cover

Prolog

1983

Er beobachtete die Kleine jetzt schon seit zwei Tagen. Ihr Leben war so kleinstadtmäßig ereignislos, dass zwei Tage locker dafür ausreichten, es kennenzulernen. Nun gut, das würde sich ändern, auch wenn sie niemals jemandem vom aufregendsten Moment ihres Lebens erzählen würde.

Er hielt dies schon immer für den besten Teil der Jagd. Das Aufstöbern, welches stets der faszinierendste Augenblick war, wenn ihm ein besonders verführerischer Geruch oder eine für ihn einladende Geste auf sein nächstes Opfer aufmerksam machte. Er liebte es, seine Delinquenten zu belauern und auszukundschaften. Dabei fühlte er sich meist bereits wie ein Eindringling in private Gemächer, der aber unbemerkt blieb.

Selbst nach Jahrhunderten überraschten ihn die Menschen hin und wieder mit unerwarteten Geheimnissen und versteckten Emotionen. Nun war es so weit. Er wusste, wo sie wohnte, welche Schule sie besuchte und wo sie gerade jobbte und es wurde Zeit seine Erkenntnisse über sie zu überprüfen. Manchmal wurden seine Hoffnungen enttäuscht und es blieb ihm nichts weiter zu tun, als seine Beute zügig zu erlegen.

 

Doch diesmal war es nicht so, er hatte sich nicht in ihr getäuscht. Seine Erwartungen waren nicht zu hoch gewesen. Im Gegenteil; mit jeder Minute erfüllten sie sich mehr. Ihr Leben mochte bürgerliche Langeweile verbreiten, sie selbst tat das jedoch nicht. Wenn er romantisch veranlagt wäre, würde er behaupten, sie wäre von einer pulsierenden Aura umgeben, deren Anziehungskraft er sich einfach nicht widersetzen konnte.

Er sah zu, wie sie das billige Fast-Food-Lädchen verlies und dabei noch schnell fröhlich ihrer Ablösung zuwinkte. Wieder einmal musste er zugeben, dass ihr die pinke Uniform ausgezeichnet stand. Sie betonte ihre leicht gebräunten langen Beine und unterstrich ihre jugendliche, aber bereits sehr weibliche Figur. Gestern noch hatte er kurz darüber nachgedacht, sie einfach so anzusprechen. Ein ganz normales Date klar machen. Heute allerdings schüttelte er bei diesem Gedanken den Kopf über sich selbst.

Das war so unmöglich wie in diesem Schuppen etwas zu essen zu bestellen. Er stand nicht auf Fastfood. Nicht bei Lebensmitteln und erst recht nicht bei seinen eigentlichen Leckerbissen. Nein. Er plante ein ausgiebiges, exquisites Dinner.

 

Er wollte seine Entdeckung in jeder Hinsicht genießen. Den anregenden Duft ihrer Angst, den süßen Geschmack ihres Schmerzes und ihren zuckenden Körper, wenn sie sich unter seinen Stößen wand, bevor er die erfrischende Essenz ihres jungen Lebens aus ihren Adern saugte. Er war sich sicher, dass ihr Blut seine verwöhnte Zunge wie ein erlesener Wein liebkosen würde.

Jetzt zog sie sich gerade das Band aus dem mahagonifarbenen Haar und schüttelte es aus. Der Wind trug ihm sofort ihren vielsprechenden Geruch über die Straße zu. Köstlich! Sie scherzte mit einem der jugendlichen Stammgäste und machte sich dann fröhlich auf den Heimweg.

 

Nun kam der Moment immer näher, auf den er mit steigender Erregung gewartet hatte. Über die Dächer der kleinen Einkaufspassage hinweg überholte er sie mit Leichtigkeit. Es war noch nicht so spät, dass die Straßen völlig leer gewesen wären. Sein scharfes Gehör filterte das Klackern ihrer Absätze zielsicher sofort aus dem wirren Kessel voller abendlicher Geräusche heraus.

Ihr Weg leitete sie zwangsläufig in die schmale Gasse, die zwischen den Geschäften zu den dahinter angrenzenden Wohnvierteln führte. Lautlos sank er von der Dachkante in eine kleine Nische neben einer Regenrinne, wo er in deren Schatten verschwand. Er konnte ihren Herzschlag bereits hören. Der pinkfarbene Rock wippte mit ihren Schritten und schickte seine Phantasie auf eine vergnügliche Reise. Die Vorfreude vertrieb das strahlende Blau aus seinen Augen und verwandelte es in ein tiefes Schwarz.

 

Je weiter sie sich vom Lärm der Hauptstraße entfernte, desto ruhiger wurde es. Sein Erschaffer war ein alter mächtiger Vampir, der in seiner Umgebung die Natur für seine Zwecke beeinflussen konnte, doch er selbst besaß nur einen kleinen Hauch dieser Macht. Er nutzte sie, um sich auf die einzige Laterne in der Gasse zu konzentrieren, und ließ deren Licht flackern. Im diffusen Übergang von der Dämmerung zur Nacht erschien das restliche Licht jetzt wie schleichender Nebel, der bedrohliche Schatten über die Wände wabern ließ. Sie blieb kurz stehen. Das war das Stocken, das er gewollt hatte.

In der plötzlichen Stille trat er geräuschvoll von einem Fuß auf den anderen und fuhr mit den Fingernägeln über die Backsteinmauer hinter ihm. Sofort begann ihr Herz schneller zu schlagen. Sie sah sich gehetzt um, aber noch zeigte er sich nicht. In ihr schwelte eher Misstrauen, statt Angst und genau so hatte er sich das vorgestellt.

Der ständig steigende Adrenalinspiegel verlieh dem Blut eines Menschen seine ganz besondere Note, auf die er so versessen war. Ein plötzlicher Schock nahm ihm hingegen seinen exquisiten Geschmack. Das wäre schade um das Mädchen gewesen, das so köstlich roch.

Deshalb verhielt er sich ruhig, lauschte ihrem Herzschlag und freute sich auf das Finale. Wie erwartet setzte sie ihren Weg scheinbar unbeschwert fort, als nichts weiter geschah. Aber er hörte das Hämmern ihres Pulses und bemerkte die schwache Unregelmäßigkeit ihres Atems. Ihre Schritte waren einen Tick schneller als vorher, was den Rock noch mehr wippen ließ.

Er streifte an der Wand entlang knapp hinter ihr her. Das Atmen wurde zum Keuchen und dann schoss neues Adrenalin in ihre Blutbahn. Sie blieb stehen und sah sich wieder suchend um. Die unnötigste aller Fragen brachte ihn zum Grinsen.

 

»Hallo …, ist da jemand?«

 

Sie spürte die Gefahr, ohne erkennen zu können, woher sie kam. Es bestätigte, was er schon lange wusste. Frauen hatten diesen sechsten Sinn dafür. Wenn er einfach nur Hunger hatte, suchte er sich ein männliches Opfer. Für einen Mann kam er immer aus dem Nichts. Männer waren etwas für den Hunger zwischendurch.

Die Jagd auf Frauen war schwieriger, machte aber dafür umso mehr Spaß. Sie boten dem Vampir ein Mahl, das er mit allen Sinnen genoss. Wie bei der kleinen Kellnerin hier. Sie hatte inzwischen einen Gegenstand aus ihrer Tasche gezogen und hielt ihn fest in ihrer Hand.

»Bist du das, Dan? Das ist nicht komisch!«

Ihre Stimme zitterte zwar ein wenig, aber überkippende Panik klang anders. Jetzt erkannte er auch das Ding in ihrer Hand: Pfefferspray! Beinahe hätte er laut aufgelacht. Zudem war ihm scheinbar doch die eine oder andere Kleinigkeit beim Beobachten entgangen. Wer zur Hölle war Dan?

»Du sollst mich in Ruhe lassen! Ich will nichts mehr mit euch zu tun haben. Meine Entscheidung ist gefallen, also verpiss dich!«

Die Wut jagte einen unerwarteten Schwall Adrenalin in ihren Körper, der seine Sinne berauschte. Das wurde ja immer besser. Als sie weitergehen wollte, löste er sich aus dem Schatten der Hauswand, mit der er bisher verschmolzen war.

Instinktiv hob sie in einem Reflex die Spraydose und hätte ihn auch beinahe erwischt. Er schlug sie ihr erbarmungslos hart aus der Hand. Anscheinend erkannte sie ihren Denkfehler und spürte die fremdartige Gefahr. Sie drehte sich zur Flucht und trieb ihm durch diese rasche Bewegung ihren Geruch noch intensiver entgegen.

Seine Hände ergriffen ihre schmale Taille und ehe sie noch erschrocken zappeln konnte, drehte er sie um und drückte sie mit dem Rücken an die Wand unter der flackernden Laterne. Sie riss überraschend ein Knie hoch und traf ihn genau da, wo es auch ihm wehtat. Doch das stachelte seine Gier nur noch mehr an. Sie wollte kämpfen? Sehr schön!

 

Er packte ihre Handgelenke und zog ihre Arme über ihren Kopf, wo er sie mit einer Hand festhielt. Mit der anderen umfasste er ihr Kinn und zwang sie so, ihn anzusehen.

»Wehr dich nur, meine Kleine. Das gefällt mir!«

Er sah den Schock in ihren weitaufgerissenen Augen. Es waren dunkelbraune Augen, die eine, für ihr Alter, erstaunliche Tiefe besaßen. Sie spuckte ihn mit Verachtung im Blick an. »Lass mich sofort los, du Penner!«

»Nicht doch, Süße! Ich fange doch gerade erst an!«

 

Obwohl er nur flüsterte, richteten sich die feinen Härchen auf ihren Unterarmen auf. Er nahm es mit Genugtuung zur Kenntnis. Genauso wie ihr jetzt keuchendes Atmen. Mühelos schob er ein Bein zwischen ihre und drängte sie noch dichter an die Mauer. Ihr Puls begann zu rasen, als er die Hand von ihrem Kinn nahm und in ihren Ausschnitt gleiten ließ.

Sie fing an zu zittern und ihre schönen Augen überzogen sich mit einem trüben Schleier. Er kannte diesen Moment, hatte ihn schon oft erlebt. Es war der Augenblick, in dem ihr Unterbewusstsein bereits akzeptierte, dass ihr von ihm der Tod drohte, sie es nach außen hin aber noch nicht eingestehen wollte.

»Was soll das? Du bist keiner von Dans Freunden, oder?«

Die Frage war so bescheuert, dass er sich die Mühe sparte, darauf zu antworteten. Seine Sinne waren damit beschäftigt, ihre Haut zu spüren, ihren Geruch aufzunehmen und ihre Angst voll auszukosten. Warm und seidig schmiegten sich ihre Brüste in seine Hand. Das war wirklich besser als alle seine Erwartungen. Ihr Widerstand bröckelte und wich langsam der Angst. Gleich würde sie anfangen zu weinen und zu betteln. Das konnte er gar nicht leiden, es verdarb ihm den Spaß.

 

Seine Zähne gruben sich ohne Vorwarnung in ihre Halsschlagader und schon der erste Tropfen ihres Blutes belohnte ihn für das zweitägige Warten. Süß und erregend lief es über seine feinen Geschmacksnerven. Es berauschte ihn mehr, als jeder Alkohol es je vermocht hätte. Mit einem köstlichen Prickeln rann es ihm die Kehle hinunter und wärmte seinen eigentlich kalten Körper. Er spürte, wie sich die Erregung auch körperlich manifestierte und ihn daran erinnerte, dass er nicht nur ihr Blut begehrte.

 

Doch zu seinem Bedauern glitt sie schneller als gedacht bereits in die tiefe Ohnmacht, die einem Vampirbiss folgt. Als er sie loslassen wollte, sank sie beinahe leblos zu Boden. Er hatte nicht rechtzeitig aufgehört, weil ihr Blut ihn so berauscht hatte, dass er vergaß darauf zu achten. Aus irgendeinem Grund hatte er sie für widerstandsfähiger gehalten, doch nun kam die Einsicht zu spät. Einen Moment sah er auf das Mädchen hinunter, dann fasste er einen Entschluss. Er hob sie hoch und fand sie erstaunlich schwer für ihre knapp 50 Kilo. Eigentlich hatte er mit ihr auf das Dach verschwinden wollen, aber irgendetwas stimmte hier nicht. Er legte sie zurück und im gleichen Augenblick zog es ihm die Beine weg.

 

Was war das? Was war hier los? Er fühlte sich plötzlich schwach und benebelt. Fragend beugte er sich über die Ohnmächtige, die nur flach atmete und dann hörte er es. Ihr Herz schlug zwar leise, schwach und regelmäßig, aber da war noch ein zweites, viel schnelleres Klopfen. Sie war schwanger!

 

Das war's also! Nach fast 500 Jahren sollte er in dieser elenden, kleinen Gasse verrecken, weil er das Wichtigste vergessen hatte. Das, was jeder Vampir bei einer Frau zuerst überprüfte. Das Blut einer schwangeren oder noch stillenden Frau war tödlich für jeden von ihnen. Dafür hatten die Hexen gesorgt. Der Schutz des neuen Lebens!

Doch ganz ehrlich, die Kleine war 17. Sicher war das nicht unmöglich, aber er hatte nicht eine Sekunde darüber nachgedacht. Ein Fehler, der so töricht war, dass er spöttisch über sich selbst lachen musste. Das hast du nun davon, Tony! Du weißt doch, dass stille Wasser oft tief sind. Da warst du wieder mal so arrogant zu glauben, du wärst der einzige Mann im Leben einer Frau.

 

Das Lachen blieb ihm jedoch in seinem Hals stecken. Stattdessen ergoss sich ein Schwall Blut auf seine Brust. Herausgewürgt mit einem schmerzhaften Husten. Er ließ den Kopf gegen die Wand sinken und tastete nach seinem Opfer. Zufälligerweise kam seine Hand auf ihrem Bauch zu liegen, was ihn erneut aufstöhnen ließ.

»Da habt ihr zwei mich ganz schön drangekriegt. Gratuliere!«

Ein neuer Blutschwall brach aus ihm heraus und er spürte schlagartig die Kälte des Bodens und der Wand. Das war seltsam. Seit beinahe fünf Jahrhunderten hatte er nicht mehr gefroren. Komischerweise hatte er sich nie gefragt, wie sein zweites Leben, sein Dasein als Vampir, einmal enden würde.

Verdammt! Er war praktisch unsterblich, oder? Das durfte doch nicht sein. Sein Kampfgeist erwachte und mit letzter Kraft schuf er eine telepathische Verbindung, von der er hoffte, dass sie stark genug war.

»Hilfe! Nathaneal! Ich sterbe!«

Dann umfing ihn Dunkelheit.

 

Ein neues Leben

Kate/Vier Jahre später

 

Ich war so aufgeregt wie lange nicht mehr, weil mein Plan, endgültig von Zuhause zu verschwinden nur funktionierte, wenn mein Vorhaben heute klappte. Ich brauchte dazu diese ausgeschriebene Stelle so notwendig wie die Luft zum Atmen.

Die Aussicht darauf war der Grund, warum ich gestern noch einmal einkaufen gegangen war. Mein begrenztes Budget gestattete mir eine einfache weiße Bluse mit einem schmalen, nicht zu kurzen Rock. Schwarz natürlich! Ich wollte schließlich seriös aussehen.

Ich verschwendete unzählige Nadeln an eine Hochsteckfrisur und schlüpfte in den teuersten Teil meiner neuen Garderobe. Die schwarzen Pumps forderten mein Balancegefühl immens, streckten mich dafür aber um stolze sieben Zentimeter.

 

Eben erwähnte Balance wollte mich allerdings schon in der Eingangshalle von »Baxter Holding Inc.« verlassen. Wieso mussten die ihre sicher sündhaft teuren Fließen auch so ungeheuer glattpolieren? Ein uniformierter Schönling hinter einem gläsernen Tresen bedachte mich mit einem unverschämten Grinsen. Nach meiner Schrecksekunde zeigte ich ihm meine Einladung zum Vorstellungsgespräch bei Mr. Baxter, worauf er mir, immer noch grinsend, den Weg dorthin erklärte. Ich konnte seinen Blick in meinem Rücken fühlen, während ich zu den Aufzügen stöckelte.

 

Expressaufzüge sollten gesetzlich verboten werden. Mein Magen war ohnehin schon nicht gut drauf, und als sich die Türen öffneten, wurde es auch nicht besser, eher das Gegenteil. Du lieber Himmel! Dass ich nicht die einzige Bewerberin um diese Stelle sein würde, war mir klar gewesen. Dafür war das Angebot zu gut. Aber diese Ansammlung von Frauen übertraf meine Erwartungen. Bei genauerem Hinsehen rutschte mir das Herz endgültig in die Hose, oder besser gesagt, den Rock.

Mit ein paar Ausnahmen, wahrscheinlich hochqualifiziert, sah ich nur absolute Schönheiten. Die meisten wirkten wie frisch vom Cover einer Zeitschrift gehüpft. Ich wusste natürlich um den Ruf meines potenziellen neuen Arbeitgebers, kein Kostverächter zu sein. Aber das konnte doch nicht wahr sein. Laut Anzeige suchte er eine Haushälterin, keine Ehefrau. Was wollten die alle hier? Ich zog meine Einladung zu Rate. Doch, ich war richtig. Es wurde eine Hausdame gesucht, Datum stimmte, Uhrzeit und Ort auch. Das konnte ja lustig werden.

Ich entdeckte eine mitten im Raum aufgestellte Tafel mit der Bitte um Anmeldung am Empfangstresen, der wiederum blöderweise am anderen Ende des Raumes stand. Zum Glück gab es hier einen Teppich und so kam ich halbwegs würdevoll am Ziel an.

 

Der kleine Tresen war umlagert von Frauen, die albern kicherten. Als ich mich durch die Menge schob, erkannte ich den Grund. Ein weiterer Schönling saß dort und verteilte Komplimente. Na super! Ich sah meinen Plan in Scherben gehen, denn da konnte ich nicht mithalten. Ich hatte nicht im entferntesten Model-Maße, keinen Sinn für albernes Gekicher und Charme konnte ich nicht mal buchstabieren.

Doch ich hatte Kampfgeist und ein großes Ziel. Also boxte ich mich entschlossen durch und sprach den Schönling an. Widerwillig wandte er sich mir zu, taxierte mich mit einem prüfenden Blick und nahm meine Mappe entgegen. Er schlug sie kurz auf, knurrte etwas Unverständliches vor sich hin, musterte mich nochmal und gab mir dann einen kleinen Zettel mit einer Nummer in die Hand.

»Setzen Sie sich doch dort hin und warten Sie, bis Sie aufgerufen werden.«

Seine Hand wies in Richtung einer doppelten, massiv wirkenden Holztür, an deren Seiten je vier Sessel standen. Ich war dort die Einzige und saß wie auf dem Präsentierteller, jedenfalls kam es mir so vor. War der Platz hier nun ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Nervös zupfte ich an meinen Kleidern und an meinen Haaren. Zu allem Übel warf der Schönling mir immer wieder seltsame Blicke zu. Die Frauen neigten die Köpfe zusammen und flüsterten über mich, das spürte ich ganz deutlich.

Ich wurde zunehmend zappeliger. Als die Tür dann endlich aufging, wusste ich im ersten Moment nicht, ob ich erleichtert war oder eher das Gegenteil. Eine sanfte Stimme nannte meinen Namen. »Miss Kate Bishop?«

 

Ich stand so hastig auf, dass meine Balance erneut in Schwierigkeiten geriet. Doch ich schaffte es ohne zu stolpern in das riesige Büro. Mir war gar nicht richtig bewusst gewesen, dass dieser verflixte Expresslift ins Penthouse fuhr, aber der Aussicht nach hatte er genau das getan. Eine einzige Glasfront war das Erste, was ich sah. Dahinter die Stadt aus einer, mir völlig neuen, Perspektive.

Ich bemerkte den schönen, antiken Schreibtisch direkt davor und wollte einen Schritt darauf zu gehen. Da wurde mir schwindlig und ich knickte doch noch um. Ich wusste bisher gar nicht, dass ich Höhenangst hatte. Okay, ich war ja auch zum ersten Mal so hoch oben. Warme Hände an meinen Oberarmen verhinderten jedoch, dass ich fiel. Oh, nein! Der Schönling vom Empfangstresen!

»Langsam, junge Dame! Alles in Ordnung mit Ihnen?«

Kobaltblaue Augen sahen mich fragend an. Ich nickte nur schnell, weil ich meiner Stimme gerade nicht vertraute, aber dann ließ sie mich doch nicht im Stich. »Mir geht es gut. Danke!«

Er nickte auch und führte mich galant zu einem schwarzen Ledersessel vor dem Schreibtisch. Ich sah ihn meine Mappe auf der polierten Platte ablegen und erst danach fiel mein Blick auf den Chef des Hauses. Mein erster Impuls war Flucht.

Nichts wie weg hier!

Mir wurde schlagartig klar, was all die Frauen da draußen wollten. Und dass ich mich diesbezüglich in nichts von ihnen unterschied.

 

Nathaneal Baxter war die Reinkarnation eines römischen Gottes. Jedenfalls, wie ich mir einen dieser Götter immer vorgestellt hatte. Ein perfekt symmetrisches Gesicht mit den Zügen einer antiken Statue wurde gekrönt von leicht gelocktem, dunklem Haar. Es kräuselte sich am Hemdkragen und erweckte den Eindruck, als käme er gerade aus dem Bett einer frivolen Geliebten. Unsinnigerweise war ich sofort eifersüchtig.

Sein leichtes Lächeln, bei dem wohlgeformte Lippen Sinnlichkeit versprachen, trieb meinen Puls hoch. Doch der absolute Hammer waren seine Augen. Sie glänzten wie flüssiges Silber und es schienen goldene Funken darin zu tanzen. Das war exakt der Moment, in dem ich lernte, albern zu kichern.

Ein dichter Ring aus seidig schimmernden Wimpern gab den vollkommenen Rahmen für diese Juwelen, die eindeutig nicht von dieser Welt stammten. Nur mit Mühe konnte ich mich beruhigen und an den Grund für mein Hiersein erinnern. Ich holte tief Luft, um nicht sinnloses Zeug zu stammeln, aber er machte meine Bemühungen sofort zunichte.

Er streckte eine Hand über den Tisch, um meine zu ergreifen und seine Berührung gab mir den Rest. Hätte er mich jetzt nach meinem Namen gefragt, ich hätte keine Antwort gegeben. Ich wusste nur noch, dass ich diese Hand ganz woanders fühlen wollte. Ich konnte sie direkt auf meinem Körper spüren. Meine Lippen begannen zu spannen, als hätte ich zu lange und zu leidenschaftlich geküsst. Unwillkürlich leckte ich mir mit der Zunge darüber und verstand mich selbst nicht. Was passierte gerade mit mir? Was machte ich da nur? Du meine Güte, Kate. Reiß dich zusammen! Du brauchst diesen Job!

 

Ich schüttelte mich, kniff mir in den Unterarm und schlagartig konnte ich wieder klar denken. Plötzlich befand ich mich in einem zwar eindrucksvollen Büro, aber eben nur einem Büro, mit einem zugegebenermaßen ziemlich attraktiven Besitzer. Ich fand sogar meine Stimme wieder und konnte meinem Gegenüber auf seine Fragen antworten. Erstaunlicherweise in ganzen Sätzen und völlig logisch. Nicht zu fassen, was da kurz vorher mit mir geschehen war.

Ebenso unfassbar war, was gleich darauf geschah. Er stand auf, kam um den riesigen Schreibtisch herum und gab mir die Hand.

»Dann freue ich mich schon auf unsere Zusammenarbeit. Tony wird Ihnen die Einzelheiten erklären und Sie auch zum Haus mitnehmen. Natürlich erst, nachdem Sie alles Notwendige gepackt haben. Wir sehen uns dann heute Abend, Miss Bishop!«

Ich hatte die Stelle!

 

 ***

Nachdem Tony verkündet hatte, dass die Stelle besetzt war, kehrte schnell Ruhe im Büro ein. Ein paar bissige Bemerkungen fielen noch zur offensichtlichen Fehlbesetzung. Diesen Ausdruck benutzte eine aufgedonnerte Blondine, die mitbekommen hatte, dass Kate die Glückliche war. Sie versuchte sich an einem schmachtenden Augenaufschlag in Tonys Richtung.

Doch der eben noch so charmante Sekretär des Firmeninhabers bugsierte sie unnachgiebig zum Ausgang. »Es ist gelaufen, meine Liebe. Vielleicht das nächste Mal!« Er schob sie in die Kabine und drückte den Abwärtsknopf.

 

Tony eilte zurück in das große Büro, wo Nathaneal mit verschränkten Händen am Panoramafenster stand und offensichtlich in Gedanken versunken war. Zielstrebig ging Tony mit langen Schritten zur Bar und schenkte Brandy in zwei bauchige Gläser. »Das ist nicht möglich, oder? War sie das tatsächlich?«

Nathaneal drehte sich zum Schreibtisch um und schlug die Mappe wieder auf.

»Ich bin mir sicher und du doch bestimmt auch. Du solltest dir zumindest sicher sein!«

Er fuhr mit dem Finger über Kates Angaben zur Person. »Hier steht nichts von einem Kind. Entweder lügt sie, was ich nicht glaube, oder es gibt keines. Sie war damals schon zu weit für einen legalen Abbruch. Als ich sie nach Hause brachte, war sie aber definitiv noch schwanger.«

Tony sah ihm über die Schulter, als müsse er das kontrollieren. »Dann lügt sie doch! Wahrscheinlich hat sie es irgendwo untergebracht oder gleich zur Adoption frei gegeben.«

Nathaneal setzte sich und sah grübelnd auf den Sessel vor ihm. Da hatte sie gesessen. »Nein, ich denke nicht, dass sie lügt. Sie erscheint mir nicht wie der Typ Teenie-Mütter, die ihr Kind hergeben, und selbst, wenn doch, glaube ich nicht, dass sie es schlicht verleugnen würde. Da ist etwas passiert.«

Jetzt ließ Tony sich ratlos in diesen Sessel fallen und trank sein Glas leer. Es klirrte verärgert, als er es unsanft auf dem Tisch abstellte. »Und du verlangst von mir, dass ich sie fahre! Ich sollte die Gelegenheit nutzen und zu Ende bringen, was ich damals angefangen habe.«

Sein Chef antwortete ihm mit schneidender Stimme. »Du wirst dich beherrschen, Tony! Wir wissen bis heute nicht, wieso du diese Schwangerschaft damals übersehen konntest. Das ist die Gelegenheit es herauszufinden.«

Als er weitersprach, klang seine Stimme sanft und hatte einen warmen Unterton. »Irgendetwas ist an diesem Mädchen. Ihre Reaktion auf meine Manipulation war stark und intensiv, trotzdem hätte sie mich beinahe alleine abgeschüttelt. Dazu gehört schon ein gehöriges Maß an mentaler Stärke, was wiederum, angesichts ihrer Jugend, ziemlich erstaunlich ist. Meiner Erfahrung nach besitzen nur wesentlich ältere Menschen, die in ihrem Leben viel Schlimmes erleiden mussten, diese Kraft. Schicksalsschläge können Menschen zerbrechen, manche hingegen werden davon zu hartem Stahl geschmiedet. Diese junge Frau hat jedoch etwas von beiden, obwohl ich sie im Zweifelsfall zur Letzteren zählen würde. Sie ist definitiv ein interessantes Persönchen. Ich war in ihrem Bewusstsein und trotzdem ist sie mir ein Rätsel. Ein Rätsel, das ich lösen möchte!«

 

 

 Kate

Ich war schon wieder so unglaublich zappelig und aufgeregt. Vielleicht träumte ich ja nur, und wenn ich aufwachte, würde ich wieder in der Bruchbude sein, die sich Wohnung schimpfte. Also kniff ich mir zur Sicherheit selbst in den Arm. Au! Das tat weh.

Es war tatsächlich geschehen. Nach der Zusage war alles verdammt schnell gegangen, ähnlich wie in einem vorgespulten Film waren die folgenden Ereignisse quasi an mir vorbeigerauscht und ich war kaum zur Besinnung gekommen. Tony, der Schönling vom Tresen, von dem ich nicht wusste, ob er jetzt ein Angestellter oder ein Freund von Mr. Baxter war, hatte mich nach Hause gefahren. Er hatte mir mit meinem armseligen Gepäck geholfen und ehe ich mich versah, war ich hier.

 

Silent Water nannte sich das Anwesen. Den See, der ja der Namensgeber sein musste, konnte ich nicht sehen, dafür war das Haus an sich eine Sensation. Wir fuhren durch ein verschnörkeltes schmiedeeisernes Tor über eine lange geschwungene Auffahrt vor einen Prachtbau aus den alten Südstaatentagen. Schneeweiß stand es im Licht der Nachmittagssonne und protzte mit mehreren schlanken Säulen, die sich komplett über die Vorderseite verteilten. Bunte Blumen lockerten das kühle Weiß auf und der leichte Wind ließ im Obergeschoss eine feine Gardine aus einem großen Fenster wehen, das offen stand. Ein wenig fühlte ich mich wie Scarlett O’Hara. Obwohl ich niemals und unter gar keinen Umständen zugeben würde, dass ich den Film mehr als einmal gesehen hatte.

 

Die beeindruckende doppelflügelige Haustür besaß einen respekteinflößenden Türklopfer, der an ein königliches Wappen erinnerte. Tony hatte meinen schäbigen Koffer getragen und betätigte das Ding, worauf zu meiner Überraschung eine melodische Glocke im Innern des Hauses erklang. Eine rundliche, freundlich lächelnde Frau in den Fünfzigern öffnete und begrüßte mich auf Spanisch, was meine Vermutung bestätigte, sie sei Mexikanerin. Als sie bemerkte, dass ich sie nicht verstand, wechselte sie die Sprache und wiederholte ihren Willkommensgruß für mich. Obwohl ich sonst eher misstrauisch auf fremde Menschen reagierte, schloss ich die mütterlich wirkende Frau sofort in mein Herz.

Sie führte mich eine unendlich erscheinende Treppe hinauf in ein Zimmer, das gleich links davon lag und größer war, als meine alte Wohnung. Der Schönling hatte kein Wort mehr gesagt, stellte meinen Koffer ab und verabschiedete sich von mir mit einem stummen Kopfnicken. Maria, so hatte sich die Frau mir vorgestellt, brummte ihm etwas in ihrer Muttersprache zu und er lächelte.

Dieses ehrliche Lächeln erreichte auch seine strahlend blauen Augen und mit einem Schlag erkannte ich seine ganze Attraktivität. Genau genommen sah er aus, wie der typische Herzensbrecher, der absolut in mein Beuteschema passte, aber es lag etwas Abweisendes in seiner Haltung mir gegenüber. Es kam mir fast vor, als könne er mich nicht leiden und das fand ich mehr als seltsam. Er kannte mich doch überhaupt nicht.

 

Kurz darauf stand ich allein in meinem Reich, ließ mich auf das bequeme, mit geblümten Kissen bestückte Bett fallen und hätte am liebsten laut aufgejauchzt. Das alles erschien mir wie der Himmel auf Erden. Und das Beste daran war, ich befand mich weit weg von Zuhause. Hier würde mich niemand finden. Niemals!

Ein Blick auf die Porzellanuhr auf meiner Kommode verriet mir, dass ich mich dann doch beeilen sollte, wenn ich zum verabredeten Abendessen mit meinem neuen Arbeitgeber nicht zu spät kommen wollte. Das Zimmer war zwar ein wenig altmodisch, aber trotzdem mit dem neuesten Komfort eingerichtet und besaß ein eigenes Bad. Ich ging hinein und machte mich rasch ein bisschen frisch.

 

Dann musste ich mich zwingen, langsam die Treppe hinunter zu gehen. Ich trug immer noch das Gleiche wie heute Vormittag. Das war vielleicht falsch, aber ich hatte einfach nichts anderes. Jedenfalls nichts, was mir für den Anlass passend erschien. Am Fuß der großen Treppe hing ein Spiegel. Ich warf einen Blick hinein, blies mir eine gelöste Locke aus der Stirn und seufzte kurz. War das wirklich ich?

Ich kam mir selbst fremd vor, wie eine zwar leidlich attraktive, aber dennoch biedere Lehrerin. Aber so hatte ich diesen Traumjob bekommen und ich wollte ihn ganz sicher nicht gleich wieder verlieren, weil ich meine geliebten legeren Jeans mit einem simplen Shirt trug.

Also drückte ich das Kreuz durch, wie mir das meine Mutter stundenlang gepredigt hatte, ohne dass ich es je beachtet hätte. Doch jetzt tat ich es ganz automatisch und wappnete mich damit gegen alle möglichen Widerstände. Die Unmöglichen hatte ich dabei nicht miteinkalkuliert, denn als ich um die Ecke bog und meinen Chef sah, schnappte ich doch tatsächlich sofort nach Luft. Er sah noch um einiges schärfer aus, als ich ihn in Erinnerung hatte.

 

Der Anzug von heute Morgen war einem einfachen T-Shirt gewichen. Der hellgraue Stoff traf genau seine Augenfarbe. Dazu trug er eine engsitzende dunkelblaue Jeans. Noch nie zuvor hatte ich einen Mann in Jeans so gutaussehend gefunden. Jetzt fühlte ich mich, angesichts seiner Kleiderwahl, leicht overdressed. Und gleichzeitig wurde ich mir der Abstammung meiner Klamotten schmerzhaft bewusst. Meine kamen von der Stange, seine mit absoluter Sicherheit von einem Designer, wenn nicht sogar von einem persönlichen Schneider.

Er kam mir mit einem offensichtlich erfreuten Lächeln entgegen und ergriff meine Hand, was sofort ein angenehm prickelndes Gefühl in meinen Körper schickte. »Guten Abend, Miss Bishop! Willkommen auf Silent Water! Ich hoffe, Sie fühlen sich wohl hier.«

Ich war viel zu perplex von seinem Anblick, um ihm vernünftig zu antworten, daher nickte ich und stammelte ein schüchternes »Ja danke! Das Zimmer ist wunderschön.«

Dabei sah ich ihm vorsichtig in die Augen, weil ich befürchtete, meine ungewohnt scheue Art könnte sein Missfallen erregen. Doch weit gefehlt. In seinem amüsiert funkelnden Blick erkannte ich, dass er genau wusste, was mich so aus der Fassung brachte. Konnte etwas noch peinlicher sein?

Ich zog mir die Unterlippe hinter die Zähne, versuchte mich zusammenzureißen und folgte ihm in das gemütlich wirkende Zimmer. Es war eine Kombination aus Ess- und Wohnzimmer. Mit einem offenen Kamin, weichen Teppichen und schönen Gemälden an den wenigen Wänden. Denn auch hier erstreckte sich, wie in seinem Büro im Penthouse, eine riesige Glasfront über die ganze Außenwand. Auf dem überdimensionierten Esstisch mit genug Stühlen für eine Großfamilie flackerten Kerzen in einem mehrarmigen Leuchter und spiegelten sich in den silbernen Hauben, die an zwei Plätzen warteten.

 

Mein neuer Chef zog einen der hohen Stühle für mich zurück und ich setzte mich vorsichtig an die Kante. Er nahm mir gegenüber Platz und hob die schützenden Glocken von den Tellern. »Ich wusste ja nicht, was Sie gerne essen würden. Deswegen habe ich eine kleine Auswahl verschiedener Speisen bestellt. Suchen Sie sich etwas aus.«

Ach herjeh! Essen! Wie sollte das funktionieren? Ich bekam ja kaum Luft.

Leicht überfordert musterte ich meinen Teller mit Kartoffeln, buntem Gemüse, einem Steak und einem goldenen Maiskolben. So weit, so gut. Doch in einer abgeteilten Ecke gab es so was wie Krebse, Muscheln und ein kleines Stück Toast mit schwarzen Perlen und einem Klecks Sahne. Theoretisch wusste ich natürlich, dass es Kaviar war. Praktisch jagte er mir eine Höllenangst ein.

Mir sank schon wieder das Herz in die Hose. Das war eindeutig nicht meine Welt. Ich sah ihn hilflos an. Anscheinend hatte er mich genau beobachtet, denn er lächelte wieder leicht und zwinkerte mir zu.

»Nicht Bange machen lassen. Essen Sie einfach, was Sie möchten.«

Dann beugte er sich verschwörerisch ein wenig vor. »Ganz ehrlich, ich halte Kaviar auch für überschätzt und bevorzuge das Steak.«

Es lag etwas in seiner Stimme, das mir Sicherheit gab und ich begann zu essen. Es war köstlich! Ich merkte erst jetzt, dass ich richtig Hunger hatte. Schließlich war das Hörnchen zum schnellen Frühstück das Letzte gewesen, was ich gegessen hatte. Ich verputzte das herrlich zarte Steak, die Kartoffeln und das Gemüse. Den Kaviar ignorierte ich ebenso konsequent wie alles andere von dieser Seite meines Tellers.

Als ich mein Besteck ablegte und mir mit der edlen Stoffserviette den Mund abtupfte, sah ich, dass sein Blick schon wieder amüsiert auf mir ruhte und erschrak. Hatte ich mich mit meinem Appetit blamiert? Scheinbar konnte er Gedanken lesen. »Ich mag Frauen, die gutes Essen nicht verschmähen.«

Er hielt mir sein Glas mit dem dunkelroten Wein einladend entgegen. »Lassen Sie uns auf die Zukunft anstoßen!«

Ein zartes Klingen ertönte von den Kristallgläsern, als ich seiner Aufforderung Folge leistete. Der Wein flutete meine Blutbahn auf der Stelle mit neuem Mut und Vertrauen in mich selbst.

Ich deutete auf den Tisch. »Ich kann nicht mal annähernd so gut kochen. Ich denke, ich habe Ihnen das gesagt.«

Er schob seinen Stuhl zurück und stand lachend auf. »Das haben Sie! Kommen Sie, suchen wir uns ein bequemeres Plätzchen und besprechen Ihre Aufgaben.«

 

Wir gingen zusammen zum Kamin, in dem ein kleines Feuer brannte. Davor gab es eine kleine Sitzecke und auf einem niedrigen Tisch in deren Mitte standen verschiedene Knabbereien und eine weitere Karaffe mit Rotwein. Daneben lag eine beschämend dünne Mappe. Meine Unterlagen erschienen mir jetzt noch dürftiger als im Büro. Ich schob die Frage, wieso ausgerechnet ich diesen Job bekommen hatte, entschlossen beiseite.

Wie am Esstisch hatten wir gegenüber Platz genommen. Und wieder hob er mir sein Glas entgegen. »Zuerst möchte ich fragen, ob wir uns auf ein du einigen und ich also Kate sagen darf? Statt Miss Bishop.«

Das kam jetzt unerwartet und ich überlegte einen Moment, ob er das auch umgekehrt meinte. Wohl eher nicht, und da er nicht weitersprach, sondern auf meine Antwort wartete, nickte ich nur zustimmend. »Sehr schön! Also noch einmal herzlich willkommen in diesem Haus, Kate!«

Das Kaminfeuer spiegelte sich nicht nur in den edlen Gläsern, sondern auch in seinen Augen. Ich rief mir in Erinnerung, bloß nicht zu viel zu trinken. Zu stark war der Wein und viel zu stark die Ausstrahlung meines Chefs. Ich war zwar kein Kind von Traurigkeit, aber dieser Mann spielte ganz eindeutig in einer anderen Liga.

Trotzdem machte mein Herz einen kleinen Satz, als sich unsere Finger berührten. Ein wissendes Lächeln umspielte seine Mundwinkel und beschämte mich erneut zutiefst. Der Mann wusste genau, welche Wirkung er auf mich hatte und das war mehr als peinlich.

Ich raffte den restlichen Stolz in mir zusammen und knüpfte an die Kochfrage an. »Gut, kochen gehört also nicht zu meinen Aufgaben, was dann?«

 

Er schlug meine Bewerbung auf und sah mich dann an. »Es ist ein wenig verwirrend für mich. Du hast Hauswirtschaft gelernt und sehr gut abgeschlossen. Darf ich fragen, wie du das, ohne kochen zu können, geschafft hast?«

Au weia! Er kam ja direkt zur Sache. Ich biss mir auf die Unterlippe und dachte über eine passable Ausrede nach. Doch ein Blick in seine Augen, die mir ins Herz zu sehen schienen, trieb mich schnurstracks zur Wahrheit. »Ich habe mit dem Lehrer geschlafen!«

So, da war es raus. Für eine gefühlte Ewigkeit hielt ich, erschrocken über mich selbst, die Luft an und erwartete gespannt seine Reaktion. Wenn ich Pech hatte, war ich die Stelle los, noch bevor ich eine Ahnung davon hatte, was meine Aufgaben gewesen wären. Er lachte jedoch herzlich und klappte die Mappe zu. »Kate, das ist köstlich! Genau das habe ich mir von dir erhofft.«

Ich spürte alle Farbe aus meinem Gesicht weichen. Wie meinte er das jetzt wieder? Er glaubte doch wohl nicht, dass ich …? Ich weigerte mich, den Gedanken zu Ende zu führen. Bisher hatte nichts darauf hingedeutet, dass dieses Stellenangebot nicht absolut seriös gemeint war.

Die Überzahl der schönen Bewerberinnen vom Vorstellungsgespräch fiel mir wieder ein, bei denen ich genau diesen Verdacht gehegt hatte. Nachdem alles so schön begonnen hatte, traf mich die Enttäuschung umso härter. Ich ignorierte die Stimme in meinem Hinterkopf, die mir zuflüstern wollte, dass er dann ganz bestimmt nicht mich ausgewählt hätte und stand stattdessen hastig auf. Ich drehte mich zur Tür und wollte nur noch weg. Weg von diesem Ort, an dem schon wieder einer meiner Träume geplatzt war.

 

Er versperrte mir blitzartig den Weg und legte mir sanft, aber doch mit Bestimmtheit, die Hände auf die Schultern. »Nicht weglaufen! Du hast mich völlig falsch verstanden. So war das nicht gemeint!«

Seine Stimme war ganz leise und eindringlich. Sie gab mir meine Hoffnung zurück und seine Berührung lief über meinen Körper wie ein warmer Regen, der meine Zuversicht neu belebte. Ich ließ mich von ihm wieder zur Sitzecke führen und auf meinen Platz drücken. Er setzte sich daneben und nahm meine Hände in seine.

»Was ich eigentlich damit sagen wollte, war, dass ich eine ehrliche, offene und direkte Antwort bevorzuge. Ich bin von so vielen Speichelleckern umgeben, deswegen war dein Geständnis für mich so erfrischend. In der Firma muss ich mit ihnen leben, aber hier möchte ich keine weiteren Ja-Sager.«

 

Ich griff nach meinem Weinglas, um einen großen Schluck daraus zu nehmen, dann nickte ich besänftigt. »Gut, dass wir das geklärt haben.«

Zu meiner Beruhigung nahm er seinen alten Platz, mir gegenüber, ein. Er schlug einen geschäftlichen Ton an und ging mit mir meine Bewerbung weiter durch. Doch auch eine Stunde später hatte ich noch keine genaue Vorstellung davon, was ich hier tun sollte. Die erste Flasche Rotwein war leer und ihr Inhalt zeigte nach diesem doch sehr langen Tag endlich Wirkung bei mir. Ich war von einem Moment zum anderen plötzlich schrecklich müde und er bemerkte das augenblicklich. Deshalb fasste er unsere Unterhaltung abschließend zusammen und erklärte mir in prägnanter Kürze mein Aufgabengebiet.

 

»Einfach ausgedrückt hast du die Aufgabe diesen Haushalt am Laufen zu halten. Du kochst nicht, du sagst, was gekocht werden soll. Du musst auch nicht putzen, du lässt putzen. Du bist zuständig für die Aufgabenverteilung. Es gibt für alles Angestellte, die auf deine Anweisungen warten. Sollte jemand fehlen, stellst du ihn ein. Ich will mich hier zu Hause um nichts kümmern müssen. Du organisierst mein komplettes privates Umfeld. Meine Garderobe, meine persönlichen Termine, ob jetzt Schneider, Friseur oder sonst was. Du erhältst dafür Vollmacht über das Haushaltskonto und einen eigenen Wagen.«

 

»Einfach ausgedrückt?«, flüsterte ich entgeistert. Er sprach schließlich nicht von einer Drei-Zimmer-Wohnung, sondern von einem herrschaftlichen Haus. Das würde ich nicht auf die Reihe kriegen. Es blieb mir nichts anderes übrig, als ihn flehend anzusehen. »Das schaffe ich nicht, niemals.«

Zu meiner Überraschung lachte er nur und zog mich an den Händen hoch. »Ich bin mir völlig sicher, dass du das schaffst, Kate! Natürlich nicht gleich morgen. Das erwarte ich gar nicht. Ich, Maria und auch Tony, werden dir helfen. Die nächste Zeit wird immer einer von uns hier sein.«

Huch, den Schönling hatte ich ja ganz vergessen. Wohnte der etwa auch hier? Als hätte er auf sein Stichwort gewartet, betrat er den Raum. »Guten Abend, Kate!«

Da stand ich nun. Zwischen den zwei attraktivsten Männern dieses Planeten und wusste nicht, was ich sagen sollte. Das konnte niemals gut gehen! Das war nicht fair!

 

 

 

 

Erste Tage

Obwohl ich mir den Wecker auf fünf Uhr gestellt hatte, war ich nicht die Erste in der Küche. Ich fand Tony, in die Zeitung vertieft, am Küchentisch. Hinter ihm gluckerte die Kaffeemaschine. Mist! Dabei wollte ich mich in Ruhe umsehen.

Er schenkte mir ein strahlendes Lächeln. »Guten Morgen, Kate! Gut geschlafen?«

»Ja, danke!« Ich sah mich neugierig in meinem neuen Reich um.

Die Küche war auf dem neuesten Stand, soweit ich das beurteilen konnte. Ganz in weiß und Edelstahl wirkte sie allerdings ziemlich kalt und steril auf mich. Ich öffnete ein paar Schränke, aber Tony hielt mich in meinem Arbeitseifer auf.

»Setz dich und trink erst mal einen Kaffee. So früh am Morgen jemanden arbeiten zu sehen, macht mich ganz kribbelig.«

Er drückte mir eine Tasse in die Hand. »Schwarz oder brauchst du was rein?«

Ich schüttelte den Kopf, hatte er gerade du gesagt? Mir war immer noch nicht ganz klar, welche Position er bekleidete, aber seine Anwesenheit hier deutete für mich doch mehr auf einen Freund des Hausherrn, als auf einen Angestellten. Ich wusste nur seinen Vornamen, also wagte ich den Sprung ins kalte Wasser, obwohl ich dabei Gefahr lief, in ein Fettnäpfchen zu treten.

»Ich habe nichts gegen Kate und ein du. Aber ich bin mir nicht sicher, was ich sagen soll. Tony, nicht wahr?«

Er setzte sich wieder und sah mich entschuldigend an. »Sorry, ist mir so rausgerutscht. Wenn ich darf, würde ich gerne beim du bleiben. Ja, ich bin Tony, wie du ja offensichtlich weißt, und ich möchte, dass du es genauso hältst. Wir sind hier nicht so förmlich.«

 

Ich betrachtete ihn zum ersten Mal ganz genau. Er war etwas jünger als unser Chef, so an die dreißig schätzungsweise. Aber ich war schlecht in solchen Dingen. Sein Haar war einen Ton heller, was seine blauen Augen zum Strahlen brachte. Auch er hatte diese gleichmäßigen Gesichtszüge, aber sein Lächeln schien jugendlicher als das von Nathaneal. Er trug ein blaues Hemd, das unter seinem linken kurzen Ärmelrand eine kleine Tätowierung zur Hälfte verbarg. Ich konnte also nicht erkennen, was sie im Ganzen darstellte. Seine Oberarme waren muskulös, aber nicht übertrainiert. Ein Bild von einem Mann. Verdammt!

Er hatte meine Musterung gelassen über sich ergehen lassen und fragte dann mit einem belustigten Augenzwinkern nach. »Und? Kaufst du mich?«

Ich erschrak und zog verlegen die Unterlippe hinter die Zähne. War es so offenkundig gewesen? Aber da er lachte, tat ich es ihm gleich. »Entschuldige! Ich bin immer noch ziemlich verwirrt von dem Allen hier. Es ist sonst nicht meine Art, Leute einfach so anzustarren.«

 

Er stand auf und stellte seine Tasse in die Spüle. Dabei beruhigte er mich. »Da hast du mir auf jeden Fall etwas voraus, denn ich tu das eigentlich ziemlich gern. Mach dir keinen Kopf! Gib einfach zu, dass dir gefällt, was du siehst.«

Sein Lachen war wirklich ansteckend. Er beugte sich zu mir und flüsterte mir ins Ohr. »Warte erst mal, bis Nathaneal hier auftaucht. Niemand sonst sieht frühmorgens so gut aus.«

Ich zuckte alarmiert zusammen. Himmel, ich wollte doch eigentlich Frühstück machen und jetzt schäkerte ich hier mit Tony herum. Ein schlechter Start. Ich erhob mich auch und nahm, nun etwas hektischer, meine Schrankinspektion wieder auf. Verflixt!

Mein Plan war auf Rührei mit Speck ausgerichtet gewesen und jetzt konnte ich nicht mal eine Pfanne auftreiben. Tony war unter der Tür stehen geblieben und sah mir belustigt zu. »Kann ich helfen? Was suchst du denn?«

»Eine Pfanne, was sonst?«

Ich wusste bisher nicht, dass Männer auch kichern können. Er tat es. »Natürlich, was sonst«, amüsierte er sich und zeigte an die Wand über dem Herd, an der wohlgeordnet mehrere Pfannen hingen.

 

Unglaublich, ich hatte sie tatsächlich nicht gesehen. Ich nahm eine herunter und holte eine Schachtel Eier aus dem Kühlschrank. Da er immer noch im Türrahmen lehnte, sah ich fragend wieder zu ihm. »Was mag unser Chef lieber, Spiegel - oder Rühreier?«

Was für mich eine relativ einfache Frage war, löste bei ihm einen Heiterkeitsanfall aus. Völlig perplex von seiner Reaktion stand ich da und musste fassungslos erleben, dass er sich vor Lachen den Bauch hielt.

Was war so komisch? Irritiert drohte ich ihm mit der hocherhobenen Pfanne. »Lachst du mich etwa aus?«

Genau in diesem Moment erschien Nathaneal hinter ihm.

Er deutete sichtlich erheitert auf die Pfanne in meiner Hand. »Guten Morgen Kate! Lass dich nicht aufhalten. Ich bin mir sicher, er hat es verdient. Das tut er meistens und ich freue mich, dass sich endlich eine Frau gefunden hat, die es auch durchzieht.«

Tony tat so, als würde er einen entrüsteten Schmollmund ziehen, wischte sich die Lachtränen aus den Augenwinkeln und widersprach ihm. »Hey, schöner Freund bist du. Ich habe nichts verbrochen. Diesmal bin ich wirklich unschuldig, aber zum Glück muss ich sowieso weg. Amüsiert euch also mal alleine!«

Er winkte mir zu und verschwand durch die Tür. Es war plötzlich auffallend ruhig in der Küche.

 

Ich sah auf die Pfanne in meiner Hand und besann mich auf mein Vorhaben. »Ich wollte eigentlich Frühstück machen, aber Tony hielt das für witzig. Wieso?«

Nathaneal nahm sich ebenfalls einen Kaffee und lehnte sich mit übereinandergeschlagenen Beinen an die Küchentheke. »Weil in diesem Haus niemand frühstückt. Jedenfalls nicht so, wie du dachtest, oder vielleicht gewöhnt bist. Kaffee reicht uns beiden völlig aus. Du kannst dir aber natürlich machen, was du möchtest.«

Ich starrte verlegen auf den inzwischen kalt gewordenen Inhalt meiner Tasse. Obwohl ich dabei den Kopf gesenkt hielt, spürte ich seine Blicke sehr intensiv auf mir. Tony hatte weiß Gott nicht übertrieben. Morgens so gut auszusehen war sicher gesetzlich verboten, sollte es zumindest sein.

Er trug heute ein einfaches weißes Shirt zu seiner Jeans. Seine Haarspitzen glänzten noch feucht vom Duschen und sein Aftershave duftete nach Herbstlaub. Ich ruckte entsetzt hoch. Da, ich tat es ja schon wieder. Hatte ich nicht gerade noch behauptet, normalerweise keine Menschen anzugaffen? Ehrlicherweise musste ich zugeben, dass es in seinem Fall wohl eher ein Anschmachten war, doch im Gegensatz zu Tony sagte er nichts zu meiner ausführlichen Musterung. Er stellte seine Tasse ab, nahm mir meine aus der Hand und zog mich zur Tür. »Komm mit, wir machen einen Rundgang.«

Dann zog er mich mit Schwung nach draußen und damit in eine völlig neue Welt!

 

Zwei Stunden später taten mir die Füße weh und mein Kopf dröhnte. Unzählige Namen von Angestellten und deren Aufgaben schwirrten wie aufgeregte Hornissen hindurch. Wie viele Zimmer hatte dieses Haus nochmal? Eine Garage, größer als mein Elternhaus, mit mehreren Nobelkarossen. Zwei Pools mit Fitnessraum und angeschlossener Sauna. Im Weinkeller kühlte mein erhitztes Gesicht ein wenig ab, nur um gleich darauf kalt und vermutlich deprimierend blass zu werden.

Ich wirkte auf meinen gutgelaunten Chef wahrscheinlich wie ein verwirrtes Chamäleon. Himmel, ich hatte keine Ahnung von teuren Weinen, woher auch? Es gab dort nichts, was ich mir hätte leisten können.

Etwas flau wurde mir im Magen, als wir an einer hohen Hecke vorbeigingen, hinter der die Spitze eines Kirchturms hervorragte. Mein neuer Arbeitgeber erklärte mir dazu nur ziemlich kurz angebunden, dass es sich um einen alten Friedhof mit einer kleinen Kapelle handelte. Ein vergessenes Überbleibsel aus den Südstaatentagen.

Als er was von Stallungen sagte, schaltete mein Verstand vorläufig aus. Und als wir den Tenniscourt erreichten, blieb ich einfach erschöpft stehen. Ich tat so, als würde ich den Haargummi um meinen Zopf festziehen, nur um Zeit zu schinden. Das war zu viel. Zum x-ten Mal dachte ich, dass ich das niemals bewältigen konnte.

»Gefällt mir übrigens!«

Ich hatte nicht gemerkt, dass er mir so nahegekommen war. Er stand direkt vor mir und deutete auf meinen Zopf. »Das passt besser zu dir, als diese strenge Hochsteckfrisur.«

Wieder wurde mir bewusst, dass er mich bereits den ganzen Vormittag lang duzte. Konnte ich Tonys Hinweis heute Morgen, was die Förmlichkeit hier betraf, wörtlich nehmen? Als könne er tatsächlich meine Gedanken lesen, fuhr er fort. »Entschuldige, du siehst aus, als hättest du doch ein Problem mit dem du.«

Ich schüttelte den Kopf. »Wenn ich weiß, wie ich antworten soll, dann nicht.«

Er legte den Kopf ein wenig schief und lächelte. »Am liebsten wäre es mir, wenn du es genauso halten würdest. Mir ist natürlich klar, dass es ein wenig ungewöhnlich ist, nach nur einem Tag, aber Mr. Baxter bin ich in der Firma.«

 

Unter seinem Blick wurde mir ganz anders. Irgendwie schwummrig, als würde man zu lange auf eines dieser Kreiselbilder schauen. In seinen Augen konnte man im wahrsten Sinne des Wortes wirklich versinken. Um mich davon abzulenken, hakte ich einer anderen Frage nach, die sich mir gerade gestellt hatte. »Gibt es eigentlich so eine Art Kleidervorschrift für mich?«

Statt einer Antwort trat er einen Schritt zurück. Er bedeutete mir mit den Fingern, mich um mich selbst zu drehen und legte eine Hand überlegend an sein Kinn. Heilige Scheiße, ich hatte ein paar alte Jeans und ein billiges rotes T-Shirt an. Erleichtert sah ich sein zustimmendes Nicken.

»Nein, so wie es ist, ist es gut. Ich brauche keine Gouvernante oder Geschäftsfrau. Zieh an, worin immer du dich wohl fühlst. Nur wenn du mich zu offiziellen Anlässen begleitest, werde ich dir vorschreiben, was du tragen sollst.«

Begleiten? Ich? Sicher, er hatte gestern etwas in der Richtung erwähnt. Aber richtig darüber nachgedacht hatte ich nicht. Doch ich entschloss mich, erst mal nicht näher nachzufragen. Ich war völlig fertig und nicht bereit, weitere beunruhigende Details zu erfahren. Anscheinend war mir das deutlich anzusehen, denn er nahm mich wieder bei der Hand. »Gehen wir zurück ins Haus. Das war wohl ein bisschen viel auf einmal.«

 

 ***

Tony war so zeitig aufgebrochen, weil er nicht direkt ins Büro fahren wollte. Der kleine amüsante Wortwechsel mit Kate änderte nichts an der Tatsache, dass er sie für eine Lügnerin hielt. Trotzdem konnte er nicht umhin, ihr einen gewissen naiven Charme zuzugestehen, sie begann ihm sympathisch zu werden. Umso wichtiger schien es ihm, hinter ihr Geheimnis zu kommen und dafür machte er einen Umweg über das Rathaus, das zwar so früh für Publikumsverkehr noch geschlossen war, aber er kannte den Wachmann.

Sean hatte um die Leibesmitte etwas zugelegt, dafür über seiner Stirn einiges verloren. Seine ehemals roten Haare, die den Iren in ihm verrieten, waren merklich ausgedünnt und auch mit vielen grauen Strähnen durchsetzt. Manchmal hatte Tony Mitleid mit den Menschen. Nicht wegen ihrer Sterblichkeit, sondern wegen des Alterns, das ihm selbst zum Glück erspart blieb.

Er setzte ein strahlendes Lächeln auf und schüttelte die Hand, die Sean ihm freudig hinstreckte. Der Wachmann begrüßte ihn auch gleich freundlich. »Guten Morgen, Tony! Dich habe ich ja seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen. Brauchst du etwas?«

 

Sean war außerdem einer der wenigen Menschen, die um seine wahre Natur wussten. Als Tony ihn vor einigen Jahren als Opfer erkor, hatte ihn das namenlose Leid angezogen, welches er in ihm spürte. Starke Emotionen ergaben eine spezielle, aufregende Blutmischung, die seine Gier ungemein beflügelte. Beim Biss und dem damit verbundenen Eindringen in das Bewusstsein des Mannes, hatte Tony dessen sterbende Frau gesehen.

Da Mitleid nicht in seinem Vokabular vorkam, machte er sich das sogleich zunutze. Er tötete Sean nicht, sondern machte ihn zum Knecht. Die Manipulation, die er in Seans Bewusstsein pflanzte, versetzte diesen in eine Art Hörigkeit ihm gegenüber, sodass er ihm widerstandslos gehorchte. Zudem konnte er dann jederzeit von ihm trinken, ohne erneute Gegenwehr befürchten zu müssen. Eine ganze Zeitlang benutzte er ihn regelmäßig und je näher die Frau dem Tode

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Carmen Liebing
Cover: Double A - Cover - World
Tag der Veröffentlichung: 25.03.2019
ISBN: 978-3-7487-0612-0

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ich möchte mich bei Agnes bedanken, die mit ihrem wundervollen Cover meiner Geschichte nicht nur ein sensationelles Outfit geschenkt hat, sondern damit auch neuen Auftrieb. Ohne sie hätte ich es wahrscheinlich nie zu Ende geschrieben. Diese Ehre darf sie sich aber mit Elvira teilen, die mich ständig angeschubst hat und immer mit Rat und Tat zur Stelle war. Nicht zuletzt möchte ich meiner Patentochter Ramona danken, die trotz ihrer Abneigung gegen Vampire diese Geschichte gelesen und die schlimmsten Fehler beseitigt hat.

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