»Ich hasse den Winter!«
Mit diesem gestöhnten Statement ließ er sich rücklings in den Schnee fallen, der die morschen Schindeln bedeckte und an der Dachkante nahtlos in spitze Eiszapfen überging. Schon seit vier Monaten sah seine düstere Gruft wie mit einem Zuckerguss überzogen aus. Das widersprach ihm, dem unfreiwilligen Bewohner so gründlich, dass Zervian spontan für einen kurzen Moment die Reißzähne ausfuhr. Doch die kalte Jahreszeit konnte er damit nicht verscheuchen, der Winter biss einfach zurück.
Das gefrorene Weiß durchdrang sein nicht mehr ganz so weißes Hemd, bohrte sich mit jedem einzelnen Kristall in seinen Rücken. So musste sich ein Fakir auf seinem Nagelbett fühlen, dachte sich der uralte Vampir, der ebenfalls keinen Schmerz empfinden konnte. Jeder normale Mensch hätte binnen Minuten Frostbeulen bekommen, doch er spürte nicht einmal die Kälte. Das tat er bereits seit Jahrhunderten nicht mehr, aber dieser Winter nervte ihn trotzdem gehörig. »Wann wird es endlich Frühling?«
Natürlich hörte niemand seine Frage, obwohl er sie mit Inbrunst ziemlich laut aussprach. Schließlich war hier weit und breit kein lebendes Wesen.
Zervian blinzelte in den grau verhangenen Winterhimmel, an dem eine blasse Scheibe jetzt nun wirklich nicht Sonne genannt werden durfte. Er merkte, wie die Flasche in seiner rechten Hand schwerer wurde. Ein sicheres Zeichen dafür, dass der Fusel, den er dem Penner abgenommen hatte, stark verdünnt gewesen war und beileibe nicht genug Alkohol enthielt, um nicht schockgefroren zu werden. Wenn er nicht so gierig gewesen wäre, hätte er das billige, gestreckte Zeug aus dem frischen Blut herausgeschmeckt.
Er setzte sich auf, ließ die Beine über die Kante baumeln und schielte nach dem zusammengesunkenen Mann hinter dem dürren Baum. Der von der Gesellschaft ausgestoßene war ein leichtes Opfer gewesen, denn er trug nicht einmal einen Mantel, geschweige denn einen Schal. Zervian mochte den Winter auch deswegen nicht, weil die Menschen sich gegen die Kälte so dick einmummelten.
Um da an eine Schlagader ranzukommen, musste man die Fussel zwischen den Zähnen in Kauf nehmen. Widerlich! Wolle ging ja noch, aber das ganze synthetische Zeug, das heutzutage in Winterkleidung verarbeitet wurde, das quietschte und war teilweise so scharfkantig, dass er sich daran das Zahnfleisch aufschnitt. Doch was tat man nicht alles, um mit frischem, menschlichen Blut wenigstens etwas Wärme in die steifen Glieder zu bekommen.
Wieder einmal dachte er darüber nach, bei Nathaneal darum zu betteln, er möge ihm erlauben, seine Gruft und diesen Friedhof zu verlassen. Der Bann, den ihm sein Erschaffer auferlegt hatte, traf ihn im Winter besonders hart. Was gäbe er darum, mal wieder durch die Straßen der Stadt zu schlendern. Dort wartete ein herrliches Buffet mit schier unbegrenzter Auswahl an verschiedenen Geschmacksnuancen. Wäre er ein Mensch würde ihm bei der Vorstellung, er könne seine Zähne in frische Beute schlagen, wahrscheinlich der Magen knurren. Dabei wäre er ja schon dankbar, die bunten Farben der Reklametafeln zu sehen, statt dem beinahe einheitlichem Weiß, das wie eine Decke über dem Friedhof lag.
Das wenige Grün einiger Grabbepflanzungen trug eine Schneehaube, genauso wie die vereinzelten Blumengebinde, die in der Kälte ohnehin ihre Farben verloren hatten. Warum manche Leute dann auch noch Schneerosen mitbrachten, würde Zervian nie verstehen. Als müsste man die Tristesse des Friedhofs noch durch blasse Blüten unterstreichen.
Dieser Ort brauchte keinen strengen Winter, um seine Trostlosigkeit zu beweisen. Seit der Eröffnung des neuen Friedhofs auf der anderen Seite der Stadt war hier sowieso längst nicht mehr so viel los, wie in den letzten Dekaden davor. Abgesehen von ein paar alten Familiengräbern, die hin und wieder von schuldbewusst aussehenden Angehörigen besucht wurden, herrschte hier tagsüber auch im Sommer die sprichwörtliche tote Hose. Das traf ihn sogar wörtlich, wie er schmerzlich zugeben musste.
In den wärmeren Nächten des Jahres, vor allem am Wochenende, sah es da schon besser aus. Die Jugendlichen von heute besaßen noch viel weniger Verstand, als diejenigen vergangener Epochen und waren zudem noch um einiges selbstgefälliger. Zervian liebte es, mit ihnen zu spielen. Mit den Jungs, die immer glaubten, sie könnten ihm so einfach standhalten, wie in einem ihrem Computerspiele und den Mädchen, die für die Filmversionen seiner Spezies schwärmten und erwarteten, dass er zu glitzern begann. Dümmer geht es wohl nicht! Doch nicht einmal die wagten sich in Eis und Schnee in seine Nähe.
Neben ihm kam die Schneedecke in Bewegung und Zervians Blick huschte zum First, der doch tatsächlich plötzlich durch das Weiß hindurchschimmerte. Er konnte sogar das erfrorene Moos darauf erkennen. Zur Sicherheit warf er der fahlen Sonne einen forschenden Blick zu, sie schien wirklich einen Tick an Strahlkraft zugelegt zu haben. Das einheitliche Grau um sie herum zeigte hier und da Risse, hinter denen man eine Andeutung von Blau erkennen konnte.
Es war noch früh am Morgen und noch immer schluckte die geschlossene Schneedecke jegliches Geräusch, das von irgendeiner Art von Leben verursacht werden könnte. Trotzdem lauschte er mit seinem feinen, übernatürlichen Gehör in die Stille.
Tatsächlich, es knirschte.
Er hörte den Schnee vom Dach seiner und der danebenstehenden Gruft rutschen. Das leise Rieseln kam von den Pappeln der Allee, die ihre kalte Last abschüttelten. Erfreut, aber noch ungläubig, ließ er die Flasche auf den Kiesweg fallen und sprang ihr geschmeidig hinterher.
Er ging zu dem Mann, dem von einem grausamen Schicksal bis zuletzt höhnisch ins Gesicht gelacht worden war, denn selbst in seinem alkoholumnebelten Gehirn hätte er bestimmt nicht mit dem tödlichen Biss eines hungrigen Vampirs gerechnet. Zervian drückte ihm seine Buddel in die starre Hand und tastete dann die Zweige des vermeintlich dürren Baumes ab, an den er ihn gelehnt hatte. Der Vampir schloss die Augen und konnte das erwachende Leben fühlen. Nicht mehr lange und er würde die ersten Knospen sehen können.
Jetzt, da ihn diese Aussicht erst mal aus seiner depressiven Lethargie gerissen hatte, fielen ihm auch die zarten Blüten der Schneeglöckchen auf, die in einiger Entfernung auf der großen Wiese den Kampf gegen den Winter aufgenommen hatten. Sie spitzten vorsichtig durch den Schnee und ragten nur knapp darüber hinaus.
Zervian war so begeistert, dass er dem Toten die Hand schüttelte.
»Du hast die Antwort auf meine Frage nach dem Frühling mitgebracht. Danke, Mann!«
Er nahm ihm die Flasche wieder aus der Hand, streckte sich, wie nach einem langen Schlaf und schwang sich, neu belebt, zurück auf seinen Platz an der Dachkante. Von dort aus prostete er dem leblosen Körper zu.
»Wenn sie dich hier in ein Armengrab legen, pflanze ich dir sogar ein paar Krokusse aufs Grab. Du hast dir ein wenig Farbe verdient!«
Zervian ließ sich lachend wieder auf den Rücken fallen, breitete die Arme aus und wartete auf den Frühling. Jetzt, wo er wusste, dass er kam, machte ihm das Warten nichts mehr aus. Er hatte ja Zeit.
Texte: Carmen Liebing
Bildmaterialien: Pixa Bay
Cover: Agnes Albrecht
Tag der Veröffentlichung: 07.02.2019
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