Es ist dunkel hier unten und nass. Es riecht auch ziemlich streng. Aber was hatte ich erwartet, an diesem Ort?
Je stärker es draußen regnet, desto unheimlicher werden die Geräusche um mich herum. In der feuchten Luft fällt es gar nicht weiter auf, dass meine Hände vor Aufregung schwitzen.
Tief in verborgenen Synapsen meines Verstandes pocht der Gedanke, dass es keine gute Idee gewesen war, mich auf dieses Interview einzulassen.
Wieso hatte ich auch meinem Chefredakteur so großspurig einen Knaller für die Titelseite angekündigt? Jetzt musste ich es durchziehen und ja, es würde, verdammt noch mal, ein Knaller werden.
... falls ich es jemals zurück in die Redaktion schaffen würde, grummelte es in meinem Hirn.
Da vorne scheint es einen Tick heller zu werden. Zu dumm, dass mein Interviewpartner darauf bestanden hat, dass ich ganz altmodisch mit Block und Bleistift komme. Er mochte offenbar keine elektronischen Errungenschaften, die nebenbei auch dunkle Ecken beleuchten konnten. Naja, was will man machen? Er stammte nun mal aus den Achtzigern, da gab es noch keine Notebooks, oder?
Der unangenehme Geruch steigerte sich zum Gestank, der mich beinahe würgen lässt. Ich halte mir die Nase zu und stapfe entschlossen weiter über den morastigen Boden. Eigentlich ganz gut, dass ich nicht viel sehen kann. Ich will nämlich gar nicht so genau wissen, was mir da an den Sohlen kleben bleibt. Die Stiefel konnte ich auf jeden Fall abschreiben, die waren definitiv ein Fall für die Mülltonne. Mist! Die echten Diavolos hatten mich zwei Monatsgehälter gekostet.
Das dürfte den Grufti, den ich treffen will, jedoch kaum interessieren. Der ist viel zu alt, um etwas von extravaganter Mode zu verstehen. Obwohl er sich selbst auch sehr, na sagen wir mal, außergewöhnlich kleidet. Reichlich bunt und kitschig, wie ich finde. Ich meine, in seinem Alter, da bevorzugt man doch eigentlich was Klassisches. Strickjacken und Bügelfaltenhosen zum Beispiel, in dezenteren Farben. Doch das ist ja nicht mein Problem.
Ich stocke einen Moment, weil mir einfällt, dass ich sein genaues Alter gar nicht kenne. Eine verschwommene Erinnerung weist mich darauf hin, dass die letzten Menschen, die mit ihm gesprochen haben, schon sehr lange nicht mehr lebten. Ich merke, wie ich die Stirn runzle. Das hieße ja, dass mein Gesprächspartner über hundert Jahre alt sein musste. War das möglich?
Das vergilbte Foto, das ich einstecken hatte, zeigte in stichigem Schwarz-Weiß eine Gruppe Kinder. Heute würde man sie wohl eher Teenager nennen und dieses Bild war auch schon, ich weiß nicht genau, 24 Jahre alt.
Wahrscheinlich hatte er zwischenzeitlich nicht in der Stadt gewohnt, vielleicht nicht einmal in diesem Bundesstaat. Ich kann jeden sehr gut verstehen, der mal wo anders als in Maine leben möchte. In diesem Staat sind die Leute doch relativ altmodisch, traditionell und abergläubisch.
Deswegen wage ich ja dieses Interview, um aus dieser schlafenden Ecke unseres großen Landes in eine etwas belebtere Region wechseln zu können. New York zum Beispiel, da war was los, da pulsierte das Leben.
Ich nähere mich bei meinen Gedanken dem hellen Fleck an der Decke, der wie ein Gitter aussieht. Das Rauschen des Wassers unter meinen Füßen wird lauter und ich entscheide mich dafür, sicherheitshalber auf dem schmalen Randstreifen an der Seite der Wasserrinne weiterzugehen. Ich taste mich an der Wand entlang und bekomme glitschige Hände. Das ist eklig, aber ich gehe weiter.
Da vorne muss er sein, obwohl ich längst die Orientierung verloren habe.
Als wir diesen Termin ausgemacht haben, war es auch dunkel gewesen und hatte geregnet. Es regnete ja generell viel in Maine. Es war der pure Zufall gewesen, dass ich ihn traf, nachdem der Jahrmarkt eben wegen des Mistwetters geschlossen hatte. Er hatte auf dem Bordstein unter einer kaputten Laterne gesessen und mich gefragt, ob er einige der bunten Luftballons haben könnte, die ich für meine Nichten und Neffen gekauft hatte.
Der Verkäufer wollte sie ohnehin loswerden und hatte mir die Restlichen geschenkt, da konnte ich gut ein paar abgeben. Wir sind ins Gespräch gekommen und daraus entstand diese Verabredung.
Das war meine große Chance! Schließlich hatte es noch nie zuvor ein gedrucktes Interview mit ihm gegeben. Bisher existierte lediglich ein ziemlich abgedrehter, verrückter Roman, in dem er angeblich die Hauptrolle spielen sollte. Ich glaubte kein Wort von dieser fantastischen Geschichte.
Ich stolpere über etwas, das klappernd in die Wasserrinne fällt. Es zischt und plötzlich riecht es kurz nach Kampfer, dann wird das Ding fortgespült. Jetzt, wo es langsam heller wird, kann ich viele Dinge im abfließenden Regenwasser entdecken. Einmal glaube ich, eine Steinschleuder zu erkennen, aber das Meiste ist einfach nur undefinierbarer Müll. Schon erstaunlich, was eine doch relativ kleine Stadt so an Unrat produziert und bedenkenlos mit dem Regen einfach in den Fluss spült.
Genau unter dem Gitter scheint der Gang eine Biegung zu machen, denn dahinter tanzen nur dunkle Schatten über eine Wand. Tatsächlich kommt gerade ein lustiges, buntes Schiffchen um die Ecke geschwommen. Ein Papierschiffchen, wie es von Kindern gefaltet wird. Zumindest haben die Kinder früherer Zeiten so etwas getan. Heutzutage könnte man mit Basteln kein Kind mehr von der Couch holen. Die sind alle multimedial verkabelt und in ihrer virtuellen Welt gefangen. Kinder von heute gehen nicht mehr in Gummistiefeln nach draußen, um im Regen in die Pfützen zu hüpfen.
Ich sehe dem Schiffchen eine Weile hinterher, bis es im Dunkel verschwindet. Als ich mich wieder umdrehe, ertönt eine Stimme, seltsam lockend, aus der Richtung, aus der das Boot gekommen war.
»Siehst du, hier unten wird noch gespielt! Danke für die Luftballons. Willst du auch mit uns spielen?«
Etwa unheimlich Starkes greift meinen Arm, zerrt daran, und ich spüre, wie die Sehnen und Bänder reißen, die ihn an meiner Schulter halten. Gleichzeitig mit meinem eigenen schmerzerfüllten Schrei höre ich, wie mein Schultergelenk bricht.
Der Anblick meines herunterbaumelnden Armes, der nur noch mit einem schmalen Streifen blutigen Fleisches mit meinem Körper verbunden ist, ersetzt meinen Verstand durch blanken Wahnsinn. Ich stürze auf den schlammigen Boden, verliere natürlich Block und Bleistift, und werde von einer unsichtbaren Kraft um die Ecke gezogen.
»Lass uns spielen und fliegen. Wir fliegen alle hier unten!«, singt die Stimme und das Letzte, was ich halbwegs bewusst denken kann, ist:
»Verdammte Scheiße! Mit wem wolltest du blöde Tussi hier ein Interview führen?«
Texte: Carmen Liebing
Tag der Veröffentlichung: 03.02.2019
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