Die Baustelle neben dem Haus war endlich verschwunden, der Umbau damit abgeschlossen. Die kleine Einliegerwohnung für seine Mutter war bezugsfertig und es wurde Zeit, sie aus ihrem bisherigen Zuhause abzuholen. Tristan fürchtete sich etwas vor dem Moment, in dem sie sich von ihrem Haus verabschieden musste. Er war dort behütet aufgewachsen und wusste um die vielen glücklichen Erinnerungen, die damit verbunden waren.
»Nimm Rike mit!«, riet ihm seine Frau. Gisela würde hier auf ihre Schwiegermutter warten und inzwischen ein schönes Essen vorbereiten.
»Und du bist sicher, dass du nicht nur in Ruhe kochen willst?«, fragte er mit einem Lächeln nach. Er verstand ihren Vorschlag nämlich sofort. Der Umzug würde seiner Mutter erheblich leichter fallen, wenn sie ihrer geliebten Enkeltochter folgen konnte. Rike hieß eigentlich Henriette, nach seinem Vater Henry, der Engländer gewesen war. Seine Tochter hatte ihren Großvater nie kennen gelernt. Er war vor ihrer Geburt gestorben. Mehr als sieben Jahre lebte seine Mutter dann alleine in dem großen Haus, doch nun war sie zu krank und zu zerbrechlich geworden.
»Ja Papa, ich will mit, die Oma holen!« Die Siebenjährige hüpfte begeistert auf und ab. »Na gut, du Wildfang. Gib deiner Mutter einen Kuss und dann ab mit dir ins Auto!«
Tristan holte sich selbst noch ein Küsschen von seiner Frau, die ihm beruhigend eine Hand an die Wange legte. »Elisabeth ist eine starke Frau, unterschätze sie nicht. Sie schafft das, weil sie die Erinnerung an ihren Mann und euer gemeinsames Leben im Herzen trägt und sie darin mitbringt.«
Seine Frau hatte recht und trotzdem machte sich Tristan mit schwerem Herzen auf den Weg.
Der Umzugswagen stand vor dem Haus und sah bereits ziemlich voll beladen aus. Er seufzte wehmütig, denn das Meiste aus dem Besitz seiner Mutter würden sie einlagern müssen. Ein ganzes Haus passte nun mal nicht in eine kleine Seniorenwohnung. Der Makler hatte schon mehrere potentielle Käufer für die Villa aus der Gründerzeit und deswegen mussten sie so schnell wie möglich alles ausräumen.
Seltsamerweise fand er die Haustür geschlossen, obwohl die Möbelpacker doch ständig rein und raus mussten. Seine Tochter lief »Oma« kreischend voraus und Tristan folgte ihr in die Küche, wo er die Männer zusammen mit seiner Mutter beim Kaffeetrinken entdeckte. Er musste grinsen, denn seine Mutter aus Pappbechern trinken zu sehen, war schon ein Ereignis. Doch das Geschirr war schon längst verpackt. Gisela war eine ganze Woche damit beschäftigt gewesen, zusammen mit ihrer Schwiegermutter, deren Haushalt in Kisten zu verstauen. Ein paar letzte, noch offene Kartons standen an der Seite und warteten auf die noch verbliebenen Kleinigkeiten.
Die Möbelpacker bedankten sich für den Kaffee und gingen wieder an ihre Arbeit. Tristan nahm sich einen Becher und schüttelte die Thermoskanne. Eine halbe Tasse war noch übrig. Rike war ihrer Großmutter an den Hals gesprungen und saß nun, mit einem Becher Limonade in den Händen, auf ihrem Schoß und knabberte an einem Stück Schokolade.
»Ich habe dir zwei schöne Bilder für deine neue Wohnung gemalt!«, teilte sie Elisabeth mit und bekam dafür von ihr einen Kuss auf die Stirn. »Das ist aber lieb von dir, mein Schatz!« Er hörte den vagen Unterton von Traurigkeit aus der Stimme seiner Mutter heraus und beschloss, den Abschied so kurz wie möglich zu halten.
»Hast du alles kontrolliert? Alle Lampen ausgeschaltet? Nichts vergessen? Nicht, dass etwas Wichtiges zurückbleibt!«
Sie nickte und schob ihm ihren Schlüsselbund über den Tisch zu. »Ich denke schon, aber es wäre mir lieb, wenn du selbst noch einen Rundgang machen würdest. Nur zur Sicherheit! Führ bitte die Männer auf den Speicher. Dort steht all das Zeug, das dein Vater schon aussortiert hatte. Das kann alles weg.«
Tristan nickte, nahm die Schlüssel und machte sich auf den Weg. Auch für ihn wurde es ein Abschied, obwohl er seit seiner Studienzeit nicht mehr regelmäßig hier gewohnt hatte. Er sah in jeden Raum. Vom Salon, den sie nur zu Feierlichkeiten und Weihnachten benutzt hatten, über das Büro seines Vaters, das ja nun schon länger nicht mehr in Gebrauch war, bis zum sogenannten Studierzimmer. Sein Vater hatte diesen Raum so bezeichnet, weil ihm Bibliothek immer zu erhaben, zu hochgestochen vorgekommen war.
Wie viele Stunden hatte er, Tristan, hinter der geschnitzten Eichentür verbracht? Er hatte die Stille dort immer geliebt, die ihm erlaubte in die Abenteuer einzutauchen, die er in den Büchern fand. Nun wirkte der Raum verlassen und traurig, die leeren Regale, wie klagende Höhlen, die ihren kostbaren Inhalt vermissten.
Sogar die Treppe rief Erinnerungen in ihm hervor. Wie oft war er diese Stufen hinaufgelaufen? Und wie oft auf dem Geländer hinuntergerutscht? »Rabauke«, hatte sein Vater immer geschmunzelt, und seine Mutter hatte ihn liebevoll geschimpft. Doch verboten hatten sie es ihm nie.
Die Tür zum Dachboden knirschte widerstrebend in den Angeln und in ihrer oberen Ecke zerriss ein Spinnennetz, als er sie öffnete. Es war bestimmt zehn Jahre her, dass er oder jemand anderer hier oben gewesen war. Eine einzelne nackte Glühbirne unterstützte das wenige Tageslicht, das durch das winzige Giebelfenster hereinfiel. Das Gebälk war beinahe vollständig zugewoben und die Luft war stickig von Staub, der überall herumlag. Als Kind war ihm der Dachboden immer zu unheimlich vorgekommen, weil der Wind unter die Firstziegel fuhr und das ganze Haus darunter zu ächzen schien.
Er hörte die schweren Tritte der Möbelpacker näherkommen und ließ seinen Blick über die abgestellten Dinge schweifen, die hier noch Erinnerungen bargen. Tristan wusste, dass die große Truhe, die kaum durch die Tür gepasst hatte, seine alten Spielsachen enthielt. Wie erwachsen er sich doch damals gefühlt hatte, als er seine Schätze aus Kindertagen im Beisein seiner Mutter darin verstaute. Er hatte ihr nie erzählt, dass er danach in seinem nicht mehr kindlichen Zimmer doch noch ein paar Tränen vergossen hatte. Aber wahrscheinlich hatte sie das ohnehin gewusst.
Unter dem Kniestock des Daches entdeckte er ein kleines Schränkchen, das vormals als Nachttisch am Ehebett seiner Eltern gestanden hatte. Er duckte sich unter die Balken, wischte die Spinnweben beiseite, aber er konnte das Gegenstück dazu nirgendwo finden. Vielleicht benutzte es seine Mutter noch und hatte nur das Zweite hier oben abgestellt.
Neugierig zog Tristan die Schublade auf, doch darin lag nur die Leselupe, die sein Vater in seinen letzten Jahren gebraucht hatte. Das Türchen darunter klemmte ein wenig, sodass er heftig daran ziehen musste, bis es aufging. Dahinter fand er einige vergilbte Fotos von Menschen, deren Namen er nicht wusste. Erst bei genauerem Hinsehen erkannte er seinen Vater als jungen Mann und die Abzeichen der Universität an den Brusttaschen der Gruppe.
In der hinteren Ecke des Schränkchens stießen seine tastenden Finger auf Papier. Es stellte sich als ein Bündel Briefe heraus, die von einem roten Band umschlungen wurden. Unter einer Schleife in der Mitte steckten die trockenen Überreste einer Blume. Einem Impuls folgend hielt er die Briefe an seine Nase und meinte, den schwachen Duft eines Parfums zu riechen. Liebesbriefe! Eindeutig!
Tristan trat mit seinem Fund ans Fenster und überlegte einen Moment. Das ging ihm eigentlich nichts an. Es waren sehr persönliche Stücke seines Vaters. Dann jedoch siegte die Neugier. Er öffnete den obersten Brief vorsichtig, entfaltete das brüchige Papier und hielt es ins Licht, um die Zeilen zu lesen.
»Geliebter Henry!«
»Ich wünschte, du wärst ein Piratenkapitän, der mich auf seine Schaluppe entführt und mit mir die sieben Weltmeere bereist! Wie glücklich wäre ich, den starren Konventionen zu entkommen. Ich möchte von dir am Strand einer tropischen Insel geliebt werden. Mich mit dir in einer stürmischen Nacht in einer Schatzhöhle verkriechen und zusammen mit dir nackt in einer stillen Lagune schwimmen!«
Tristan ließ das Blatt sinken und schnappte entsetzt nach Luft. Sein Vater hatte eine Geliebte gehabt. Es traf ihn so überraschend, dass er einen Moment schwankte und sich am schmutzigen Fensterbrett abstützen musste. Er hatte die Ehe seiner Eltern stets für außergewöhnlich glücklich gehalten. Erneut hob er den Brief ans Licht. Er war unterschrieben mit einem kaum noch zu erkennenden Abdruck roter Lippen und einem schwungvollen:
»Deine Dich für immer liebende Rose!«
Genau in diesem Moment polterten die Möbelpacker in den Raum und Tristan steckte das Briefbündel hastig in die Innentasche seiner Jacke. Das musste er erst mal in Ruhe verdauen.
Rike plapperte während der Fahrt ununterbrochen aufgeregt und ersparte Tristan damit ein Gespräch mit seiner Mutter. Elisabeth hätte ihm bestimmt angemerkt, dass irgendetwas passiert war. So aber versuchte er, seine Gedanken zu ordnen.
Wusste seine Mutter von der Affäre? Die Briefe waren nicht datiert, aber sie waren eindeutig alt. Sicher stammten sie aus der Zeit, als er noch ein Kind gewesen war. Er kramte in seinem Gedächtnis, konnte aber keine Erinnerung daran finden, dass es je ein Zerwürfnis zwischen seinen Eltern gab. Wenn sie es nicht wusste, was sollte er dann jetzt tun? Machte es Sinn, ihr nach so langer Zeit derart wehzutun? Es musste sie doch wie ein Hammerschlag treffen.
Tristan fühlte Verzweiflung in sich aufsteigen. Das konnte er seiner Mutter gewiss nicht antun! Die Fahrt schien sich endlos lange hinzuziehen, dabei drängte alles in ihm danach, mit Gisela zu reden. Sie würde sicher einen guten Rat für ihn haben. Er kam zu dem Entschluss, den Tag des Einzugs seiner Mutter in ihr Haus nicht mit bösen Nachrichten zu verdunkeln. Es war so lange her, da konnte es auch noch ein bisschen länger warten.
Elisabeth ging mit Rike an der Hand gleich zu seiner Frau in die offene Wohnküche. »Du machst das schon, Tristan! Ich möchte Gisela helfen, die sich bestimmt wieder viel zu viel Arbeit mit meinem Willkommensessen gemacht hat.«
Tristan dirigierte die Arbeiter und fand tatsächlich das zweite Schränkchen bei den Sachen, die von den Männern ins Haus getragen wurden. Wieder stieg die erschreckende Entdeckung in ihm hoch. Würde die Wahrheit seiner Mutter auch im Nachhinein das Herz brechen? Irgendwie fühlte er sich seltsam unruhig. Er wies die Möbelpacker an, die restlichen Kisten einfach im Flur abzustellen und verabschiedete sie mit einem ordentlichen Trinkgeld.
Die Frauen deckten gerade den Tisch, als er sich zu ihnen gesellte und Gisela in einem von Elisabeth unbeobachteten Moment einen verschworenen Blick zuwarf. Sie zog fragend eine Augenbraue hoch und schickte Rike mit ihrer Oma in deren neues Zuhause. »Zeig deiner Großmutter doch deine hübschen Bilder! Deine Oma will sich bestimmt auch ein wenig frisch machen, bevor wir essen. Dein Papa hilft mir so lange hier.«
Das Mädchen fasste Elisabeths Hand und jauchzte fröhlich. »Au ja, Oma! Komm, ich zeig dir alles!« Tristan erntete zwar einen nachdenklichen Blick von seiner Mutter, aber sie ließ sich dann doch von ihrer Enkelin mitziehen. »Ich komme ja schon, Liebes!«
»Was ist los?«, platzte Gisela sofort heraus, als die beiden außer Hörweite waren. Tristan zog seinen Fund aus seiner Jackentasche und gab ihr die Briefe. »Ich habe die hier in einem alten Schränkchen meines Vaters gefunden und weiß jetzt nicht, was ich tun soll.«
Gespannt beobachtete er seine Frau dabei, wie sie den Brief las, den er bereits geöffnet hatte. Komischerweise schien sie nicht halb so entsetzt wie er darüber zu sein. Er glaubte sogar, so etwas wie Rührung aus ihrer Miene ablesen zu können. Sie seufzte ganz leise und steckte den Brief wieder zu den anderen. Ihre Fingerspitzen fuhren zart über die Blume unter dem Band. »Es sind wundervolle Zeilen, die von einer tiefen Liebe und auch von Begehren sprechen. Ich kannte deinen Vater nicht sehr lange, aber ich bin froh, dass er so etwas Schönes lesen durfte.«
»Er ist fremdgegangen! Er hat Mutter betrogen! Wie kannst du froh darüber sein?« Tristan war fassungslos über die unerwartete Reaktion seiner Frau. Sie verteidigte seinen treulosen Vater? Er wurde zornig. »Wie würdest du dich fühlen, wenn die Briefe mir gelten würden?«
Sie klopfte ihm auf die Schulter. »Ich würde dir die Hölle heißmachen, Freundchen!«, drohte sie ihm. »Aber es geht hier nicht um uns. Wie ich Elisabeth einschätze, wäre ihr ein Treuebruch sicher nicht entgangen. Dein Vater war Professor, vielleicht hatte er schwärmende, verliebte Studentinnen? Es gibt bestimmt eine harmlose Erklärung für die Briefe! Oder traust du deinem Vater den Ehebruch wirklich zu?«
Tristan wusste nicht mehr, was er denken sollte. Noch heute Morgen hätte er diese Frage vehement verneint. Doch jetzt nagten diese Zeilen an ihm und an seiner Erinnerung an seinen Vater. Seine Frau legte ihm ihre Arme um seinen Hals und drückte ihm einen Kuss auf die Lippen. »Lass uns wie geplant essen und den Einzug deiner Mutter feiern. Wenn Rike am Abend schlafen geht, setzen wir uns gemütlich zusammen und sehen, ob sich ein Gespräch in diese Richtung entwickeln kann.«
Sie drehte sich weg, um den Braten aus dem Ofen zu nehmen. »Außerdem bin ich der Meinung, dass wir keine schlafenden Hunde wecken sollten!«
»Also soll ich nichts sagen und es einfach vergessen?«
»Nicht unbedingt! Aber bitte nicht heute, nicht an diesem besonderen Tag! Sein nicht so ungeduldig! Wer hinter privaten Türen schnüffelt, sollte mit den Folgen äußerst achtsam umgehen.«
Es klang, als wolle Gisela jetzt nicht weiter darüber sprechen und Tristan gab nach. Wahrscheinlich hatte sie recht. Dieser Tag war der falsche Zeitpunkt für so ein ernstes Thema.
Es wurde dann doch ein fröhliches Festessen, bei dem sie viel lachten. »Du bist eine viel bessere Köchin, als ich es jemals war!«, lobte Elisabeth ihre Schwiegertochter. »Ich fürchte, ich werde in deiner Obhut ein paar Gramm zunehmen!«
»Das schadet dir dann überhaupt nicht und ich sorge gern dafür. Ich vermute, es gibt nicht viele Schwiegermütter, die das so ohne weiteres zugeben würden. Dein Lob freut mich sehr!«
»Man merkt eben, dass du das gelernt hast. Ich habe ja nur in den ersten Jahren unserer Ehe selbst gekocht. Als Henry den Lehrstuhl bekam, stellte er Personal ein. Die Köchin war die Erste, obwohl er es niemals übers Herz gebracht hat, mir zu sagen, wie miserabel ich in der Küche hantierte.«
Elisabeths Augen leuchteten beim Gedanken an ihren verstorbenen Mann und Tristan neigte wieder dazu, sie nicht mit dessen möglicher Verfehlung zu belasten. Die Augen seiner Tochter hingegen wurden zusehends müder. Sie konnte kaum noch aufrecht sitzen. Gisela stand auf und hob das Mädchen auf ihre Arme. »Ich glaube, es wird Zeit für unsere Prinzessin, in ihr Himmelbettchen zu gehen. Es war ein aufregender Tag!«
»Lass mich das machen, Gisela!«, bat Elisabeth und erhob sich ebenfalls. »An meinem ersten Abend hier möchte ich meiner Enkeltochter eine ganz besondere Gutenacht-Geschichte erzählen. Bitte!«
»Na gut, aber ich trage sie in ihr Zimmer!«, gab Gisela dem Wunsch der Oma nach.
Tristan blieb zurück und räumte das Geschirr in die Spülmaschine. Er wunderte sich nach einiger Zeit, warum seine Frau nicht wiederkam, deswegen ging er neugierig auch nach oben. Er fand sie vor der angelehnten Tür des Kinderzimmers. Sie legte beschwörend einen Finger an ihre Lippen und mahnte ihn damit, leise zu sein. Aus dem Raum erklang die sanfte Stimme seiner Mutter, die Rike die versprochene Geschichte erzählte.
Er fühlte sich sofort in seine Kindheit zurückversetzt, als sie an seinem Bett saß und dasselbe tat. Tristan erinnerte sich wieder an ihre tollen Erzählungen von wagemutigen Abenteurern, fremden Welten und vergrabenen Schätzen. Er lauschte mit seiner Frau gebannt der eindringlichen und doch zarten Stimme, die von versunkenen Piratenschiffen sprach und von einer gestohlenen Prinzessin berichtete. Tristans Kopfhaut begann zu kribbeln. Der Brief! Sollte es möglich sein, dass ...? Nein, das war Quatsch, oder?
Gisela nahm seine Hand, als die Geschichte ihr glückliches Ende fand und lächelte geheimnisvoll. Sie gingen gemeinsam zurück ins Wohnzimmer und warteten auf Elisabeth. Tristan legte, aus einem plötzlichen Impuls heraus, das Bündel Briefe auf den Tisch und entkorkte eine Weinflasche.
Seine Mutter erfasste die Situation mit ihrem ersten Blick und lächelte das gleiche wissende Lächeln, wie kurz zuvor seine Frau. Trotzdem drohte sie ihm mit erhobenem Zeigefinger. »Sollte ich dich je dabei erwischen, wie du deine Nase in anderer Leute Angelegenheiten steckst, dann mach dich auf was gefasst. So alt kannst du gar nicht werden, dass ich dir nicht gehörig den Kopf waschen kann, mein lieber Junge!«
Gisela kicherte und Tristan sah verlegen auf seine eigenen Fußspitzen. Seine Mutter kam zu ihm und umarmte ihn. »Mein wissbegieriger, neugieriger Sohn! Sei so gut und schenk uns den Wein ein, während ich schnell etwas aus meinem neuen Schlafzimmer hole.«
Er tat, worum sie gebeten hatte und als sie zurückkam, trug sie ein ähnliches Briefbündel in der Hand. Ihm wurde warm ums Herz, als fiele eine Last davon herunter. Er reichte ihr ein Glas und sah gespannt zu, wie sie das Band löste. »Wie du vielleicht noch weißt, haben dein Vater und ich die Literatur geliebt. Genauso wie das Theater und die Musik. Du trägst deinen Namen schließlich nicht ohne Grund.«
Seine Frau kicherte schon wieder. »Nur leider heiße ich nicht Isolde.«
»Psst, lass die flachen Witze! Ich will hören, was Mama zu sagen hat.« Gisela biss sich auf die Lippen, giggelte aber trotzdem weiter leise vor sich hin. Er wandte sich an seine Mutter. »Die Briefe sind mit Rose unterzeichnet!«, mahnte er, noch ungläubig an. Sie drückte ihm ein Exemplar ihrer Sammlung in die Hand, das er zaghaft öffnete.
»Über alles geliebte Rose!«
»Wir sind bei den Galapagos auf Sand gelaufen. Ich verkürze mir die Zeit, in der meine Mannschaft das Schiff wieder flott macht, mit köstlichen Gedanken an dich. An deinen anbetungswürdigen nackten Körper, wenn er am Strand liegend von der Gischt der See umspielt wird. Ich stelle mir vor, wie die Sonne vor Neid erblasst, weil uns unsere Liebe so viel stärker erhitzt, als es ihre Strahlen je könnten. Bis wir uns wiedersehen, schicke ich dir mehr Küsse, als du Sterne am Firmament zählen kannst. Allein der Gedanke, dass wir denselben Mond betrachten, lässt meine Lenden glühen und mein Innersten vor Sehnsucht nach dir beinahe zerbersten. Möge der Wind uns gewogen sein und mich schnell wieder zu dir bringen.«
Tristan musste sich gewaltsam von den Worten losreißen, die ihm eine völlig unbekannte Seite seines Vaters offenbarten. Er registrierte noch kurz die verschnörkelte Unterschrift.
»Auf ewig dein! Dein einsamer Pirat Henry!«
»Nicht das englisch ausgesprochene Rose ist gemeint, mein Junge. Die gute alte, deutsche Rose hat die Briefe unterzeichnet und natürlich auch verfasst. Henry und ich haben mit diesen Briefen unsere Liebe jung gehalten. Der Pirat erklärt sich aus seinem Namensvetter. Henry Morgan. Angesichts der Zeit, in der wir das taten, waren wir wohl ein ziemlich modernes Ehepaar. Man könnte uns direkt als frivol bezeichnen, wie du sicher herausgelesen hast. Wir liebten unser Rollenspiel. Es hielt unsere Liebe in Schwung.«
Sie nahm einen Schluck Wein und Tristan spürte, wie ihm das Blut in die Wangen stieg. Seine Eltern! Oh nein! Er musste die Augen schließen, weil ihm die Vorstellung so gründlich widerstrebte. Die Frauen lachten ihn aus. »Nun stell dich nicht so an! Was glaubst du, wie du gezeugt wurdest?«, wunderte sich seine Mutter über seine Reaktion.
»Hör auf, Mama!«, stöhnte er, musste dann aber auch lachen. Mit dieser Erklärung kam er so viel besser zurecht, als mit seiner schändlichen Vermutung. Im Stillen leistete er seinem Vater Abbitte.
Elisabeth drehte gedankenverloren ihr Glas in den Händen. »Für deinen Vater war ich immer seine Rose. Das Symbol der ewigen Liebe. Als mein geliebter Piratenkapitän sorgte Henry stets dafür, dass mein Drang nach Freiheit und Abenteuer gestillt wurde. In einer Zeit, in der Frauen erst langsam begannen, sich von den Regeln einer Männerwelt zu befreien, was das ein kostbares Geschenk. Beinahe so wertvoll wie unsere unverbrüchliche Liebe!«
In dieser Nacht kuschelte sich Gisela ganz eng an ihn. »Lass uns an deinen Eltern ein Beispiel nehmen. So eine Liebe möchte ich auch für uns haben!« Er küsste sie. »Das haben wir doch schon! Ich liebe dich bis ans Ende der Welt, und wenn es sein muss, auch darüber hinaus!«
»Genauso, wie ich dich!«, murmelte sie, bevor sie beide engumschlungen einschliefen. Im Traum sah sich Tristan eine Flasche Rum kaufen. Nur für alle Fälle.
Texte: Carmen Liebing
Tag der Veröffentlichung: 11.12.2018
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Meiner neugierigen Tochter, die immer und überall jedes Türchen öffnen musste, sei Dank für die Idee, auf der diese kleine Geschichte basiert!