Cover

Copyright

.

 

Angst, wir müssen reden

Was wirklich hilft, um sich von Ängsten zu befreien

 

 

Copyright © 2020 – Jeannette Hagen

 

Alle Rechte vorbehalten.

 

 

Die Rechte des hier verwendeten Textmaterials liegen ausdrücklich beim Verfasser. Eine Verbreitung oder Verwendung des Materials ist untersagt und bedarf in Ausnahmefällen der eindeutigen Zustimmung des Verfassers.

 

 

Zitat

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Angst verhindert nicht den Tod. Sie verhindert das Leben."
(Nagib Machfus, Humanist/Nobelpreisträger)

Vorwort

Ich habe Jeannette Hagen als Leser kennengelernt. In ihrem Buch Die verletzte Tochter hat sie von der Tragik berichtet, eine vaterlose Tochter zu sein. Ihr individuelles Unglück rührt daher, dass sie von ihrem Vater sogar den Wohnort kennt, dass der aber nichts von der Tochter wissen will. Aus ihrem persönlichen Leid heraus hat sie ein authentisches Buch geschrieben, das nachdrücklich aufzeigt, wie Vaterentbehrung das Leben prägen kann. Beim Mädchen und der Frau, beim Jungen und beim Mann – in jeweils unterschiedlicher Ausformung.

Diese Authentizität und Offenheit finde ich in ihrem Buch über Angst wieder. Es existieren unzählige Bücher über die Angst. Einige kommen mit vollmundigen Versprechen daher: „Dieses Buch bietet Soforthilfe, es ist ein revolutionäres Buch, es zeigt Dir den neuen Weg auf“ und viele andere unhaltbare Ansagen. Jeannette Hagen beeindruckt mit der Bescheidenheit einer erfahrenen Frau: Seit 20 Jahren arbeitet sie als Coach und Autorin, begleitete viele Menschen, in teils problematischen Lebensabschnitten. Sie möchte ihr Erfahrungswissen weitergeben, aber keine Verheißungen machen, die nicht einzuhalten sind.

Alle seelischen Prozesse werden von biologischen Energien erzeugt. Angst ist ein allgemeiner, angeborener Anpassungsmechanismus, den man bereits bei Tieren, wie etwa der Meeresschnecke Aplysia findet. Sowohl bei den Tieren als auch beim Menschen warnt Angst vor Gefahren und ruft zu Gegenmaßnahmen auf, zum Flüchten, zum Standhalten oder zur Erstarrung.

Das ist eigentlich unproblematisch, sollte man meinen – aber Angst hat beim Menschen einen zwiespältigen Charakter. „Angst verhindert nicht den Tod. Sie verhindert das Leben", zitiert Jeannette Hagen den ägyptischen Dichter Nagib Machfus. „Angst ist eine Farbe unseres Lebens“, sagt hingegen der Psychoanalytiker Horst Eberhard Richter in seinem Buch Umgang mit der Angst. Warum funktioniert Angst beim Tier fast reibungslos, kann aber bei Menschen zum quälenden Problem werden? Das Tier reagiert auf äußere Reize ganz selbstverständlich, instinkthaft. Der Mensch hat kaum mehr Instinkte. Und das wesentlichste, was Menschen besitzen, kann störend werden. Es ist seine Fantasie. Darum schreibt Jeannette Hagen, dass gerade ängstliche Menschen äußerst sensibel und achtsam für ihre Umgebung und sich selbst sind.

Zwei Dinge sind also für die Angstentwicklung kritisch. Ich missachte Furcht, also echte Angst. Damit kann ich mein Leben gefährden. Oder ich entwickle in meiner Fantasie Ängste, die sich von der Wirklichkeit entfernen: Ein Kind fürchtet die Schule, obwohl es gerne lernt. In Wirklichkeit will es sich nicht von der Mutter trennen. Eine traumatisierte Jugendliche erlebt jede Nacht in ihren Träumen grauenvolle Todesängste. Ein Mann bekommt Ängste, schon wenn er nur ein wenig in die Höhe gestiegen ist. Er ist unsicher und kann sich nicht auf sein Können verlassen. Eine andere Frau hat Angst vor Spinnen … Warum ausgerechnet vor Spinnen? Irrationale Ängste können aber auch kollektiv auftreten. Die Angst vor dem Coronavirus bewirkte Hamsterkäufe, von Nudeln, Hefe bis hin zum Toilettenpapier. Was da jeweils geschieht, vergleicht Jeannette Hagen mit einer misslungenen Programmierung. Diese ist das Problem und nicht der Mensch. Wir können sie ändern, „so wie man die Software eines Computers auf ein neues Level bringen kann“, ist ihre feste Überzeugung. Denn das Gehirn des Menschen kann sich bis ins hohe Alter umorganisieren. Es ist „neuroplastisch“.

Ich möchte Ihnen darum empfehlen, sich auf die vielfältigen Strategien der erfahrenen Systemischen Coachin Jeannette Hagen einzulassen. Beachten Sie Ihr Inneres Kind mit gleichschwebender Aufmerksamkeit und Offenheit. In jedem Fall werden Sie einen anderen Zugang zu Ihren Ängsten finden.

Dr. Hans Hopf (Kinder- und Jugendpsychotherapeut. Dozent und psychoanalytischer Kontrollanalytiker)

Ein kleiner Hinweis

Bevor wir auf den nächsten Seiten gemeinsam in das Thema „Angst“ eintauchen, möchte ich Ihnen ein wenig über mich erzählen. Gleichzeitig ist es mir wichtig, abzugrenzen, was das Buch leisten kann und was nicht.

Ich arbeite seit rund 20 Jahren als Coach und Autorin, begleite also Menschen in herausfordernden Phasen und schreibe über gesellschaftliche, politische und psychologische Themen. Wenn Sie mich fragen würden, was mich an meiner Arbeit am meisten fasziniert, dann lautet die Antwort: der Mensch. Besser gesagt „die Menschen“, denn die Faszination liegt für mich darin, dass wir so unterschiedlich sind. Kein Mensch nimmt die Welt absolut identisch wahr, wie ein anderer. Während dem einen vor Angst buchstäblich die Knie schlottern und die Zähne klappern, kann der andere es kaum erwarten, in den Wagen einer Achterbahn zu steigen und laut juchzend die Geschwindigkeit und das Auf und Ab zu genießen.

Während die eine am Strand beim Anblick des Sonnenuntergangs dahinschmilzt und mit Tränen der Rührung in den Augen den Blick gar nicht abwenden kann, ist die Freundin vielleicht nur damit beschäftigt, das optimale Foto zu machen und erfasst die Schönheit des Moments überhaupt nicht. Ist das eine nun besser als das andere? Nein, die beiden Frauen nehmen ihre Umgebung nur unterschiedlich wahr, haben offensichtlich auch unterschiedliche Prioritäten und haben andere Erfahrungen gemacht, die sie geprägt haben. Vielleicht verbindet die Romantikerin etwas Besonderes mit Sonnenuntergängen und vielleicht ist die andere nicht in der Lage, die Schönheit auszuhalten, weil sie dadurch an irgendetwas erinnert wird, das unangenehm war. Vielleicht ist es aber auch alles ganz anders. Wir wissen es nicht. Es gibt ein altes indianisches Sprichwort, das da heißt: „Urteile nie über einen Menschen, bevor du nicht einen Monat lang in seinen Mokassins gelaufen bist.“ Für mich ist das ein Leitsatz für viele Situationen, in denen ich versucht bin, Menschen in Schubladen zu stecken. Und vielleicht geht Ihnen das ja auch so, wenn sie mitbekommen, dass jemand ängstlich ist. Möglicherweise denken Sie, dass der- oder diejenige sich nicht so haben soll, weil Sie selbst die „Gefahr“ überhaupt nicht sehen. Für den anderen ist sie aber real.

Glauben Sie mir: Ängste haben immer einen Grund. Sie entstehen nicht aus einer Laune heraus. Niemand hat gern Angst. Wenn es mir mit diesem Buch gelingt, das zu vermitteln, dann bin ich schon mal sehr glücklich, denn ich weiß, wie sehr viele Angstgeplagte nicht nur unter der Angst selbst, sondern auch unter der Beurteilung durch andere leiden. Meist geht die Beurteilung sogar von den Betroffenen selbst aus – sie schimpfen mit sich, werten sich ab, verteufeln das eigene Verhalten. Das ist ein Dilemma, welches das Problem leider nicht löst, sondern es verschärft.

Darum ist es mir ein großes Anliegen, Ihnen zu vermitteln, dass nicht Sie das Problem sind, sondern Ihre Programmierung. Und dass diese sich ändern lässt, so wie man die Software eines Computers auf ein neues Level bringen kann. Unser Gehirn hat eine wunderbare Eigenschaft – es kann sich bis ins hohe Alter umorganisieren. Man nennt das Neuroplastizität. Gemeint ist damit, dass eingefahrene Reaktions- und Denkmuster aufgelöst werden können. So als würden Sie einen Trampelpfad durch eine Wiese nicht mehr benutzen. Nach und nach wächst Gras darüber und irgendwann ist dieser Pfad verschwunden, während sie einen anderen, schöneren oder kürzeren Weg gefunden haben.

Die Strategien, die ich Ihnen in diesem Buch vorstelle, sind eine Mischung aus verschiedenen Techniken, die ich in meiner Ausbildung zum Systemischen Coach erlernt und bei vielen Klienten, teils auch bei mir selbst, erfolgreich angewandt habe. Ich gebe also Erfahrungswissen weiter, das durch wissenschaftliche Untersuchungen untermauert ist, und bin achtsam genug, Ihnen keine Versprechungen zu machen. Ich halte Zusicherungen wie „Angstfrei in zehn Tagen“ oder ähnliches für unseriös. Nicht nur, weil tief greifende Ängste sich nicht einfach so in Wohlgefallen auflösen, sondern weil der Frust, wenn es nicht in zehn Tagen klappt, zusätzlich verunsichert und das Problem damit verschärfen kann. Außerdem gibt es kein angstfreies Leben. Wir sind ja schließlich keine Roboter.

Und noch ein Punkt, bevor wir loslegen. Ein Buch allein kann nichts verändern – sich verändern, das können nur Sie. Und manchmal brauchen Sie noch jemanden, der Ihnen dabei hilft. Sich therapeutisch oder von einem Coach begleiten zu lassen, kann zuweilen eine gute Lösung sein. Ich sage bewusst nicht „immer“, weil ich Ihre Situation natürlich nicht beurteilen kann. Auch hier kann ich wieder nur aus Erfahrung sprechen. Ich habe mir, wenn ich selbst nicht weitergekommen bin, immer professionelle Hilfe gesucht. Mir tat es gut, jemanden an der Seite zu haben, der einen gewissen Abstand hatte. Das war anders, als sich Rat bei engen Freunden zu holen. Aber ich weiß auch, dass es nicht für jede oder für jeden die Lösung ist. Das muss man probieren.

Das Wichtigste bei allem ist: Haben Sie Geduld und seien Sie gut zu sich. Gönnen Sie sich etwas, wenn Sie einen Schritt geschafft haben. Belohnen Sie sich. Unser Gehirn liebt Belohnungen. Wie wir das nutzen können, erläutere ich Ihnen in diesem Buch.

Es gibt keine Grenzen. Weder für Gedanken, noch für Gefühle.
Es ist die Angst, die immer Grenzen setzt.“
(Ingmar Bergman)

Einleitung: Der Schatz hinter dem Drachen

Wenn mich irgendwann mal jemand fragt, welcher Satz der bedeutsamste meines Lebens war, sozusagen die eine Lebensweisheit, die immer gegriffen hat, wenn es um größere Veränderungen ging, vor denen ich Angst hatte, dann habe ich eine Antwort. Der Satz lautet: „Der Schatz liegt stets hinter dem Drachen.“ Gesagt hat ihn Pfarrer und Coach Volker Tepp, als wir uns vor vielen Jahren darüber unterhielten, ob und vor allem, wie ich meine Angst überwinden kann. Es ging damals darum, mit fast 40 Jahren meine zwei Halbbrüder und meine Halbschwester, zu denen ich bis dato keinen Kontakt gehabt hatte, aufzusuchen. Zwei von ihnen wussten nicht einmal, dass es mich gab.

Für mich fühlte sich der Schritt, sie zu kontaktieren, seit Jahren wie ein Drachenkampf an. Ich weiß noch wie heute, wie sehr ich es hinausgezögert habe, wie sehr ich mit mir gerungen habe, und ich kann auch jetzt noch beschreiben, was es für ein Gefühl und für ein Geschenk war, ein paar Monate nach den ersten Gesprächen mit ihnen gemeinsam an einem Tisch zu sitzen. Nie zuvor und nie danach habe ich mich so vollkommen und ganz gefühlt. Es war, als ob jemand mich selbst und den Boden unter meinen Füßen endlich repariert hatte. Plötzlich war nichts mehr wackelig, plötzlich war ich selbst ein Ganzes. Nicht mehr fragmentiert und ewig suchend. Und dazu hatte ich meine Angst überwunden. War einen mutigen Schritt gegangen und konnte diese Erfahrung des „Gelingens“ abspeichern.

Die Angst als Drache, der feuerspeiend vor uns steht und einen Schatz bewacht, der zweifelsfrei uns gehört, ist ein Bild, das in zweierlei Hinsicht bedeutsam ist. Es zeigt uns zunächst, dass Angst etwas sehr Bedrohliches ist, wenn wir in dieser Bildsprache bleiben. Mit so einem Drachen ist schließlich nicht zu spaßen. Er ist schnell, gewandt, verfügt über unglaubliche Kräfte und hat das Zeug, uns den Garaus zu machen. Wenn wir um ihn herumschleichen, uns nicht trauen, immer wieder halbherzig angreifen und zurückweichen, wird uns das irgendwann erschöpfen.

Aus dem Bild ins Leben übertragen, bedeutet das, dass Ängste, die nicht beherrschbar erscheinen, krank machen können. Sie können so stark lähmen, dass ein normales Leben nicht mehr möglich ist. In dem Fall sprechen wir von Angststörungen. Daneben gibt es die kleinen Ängste – wobei klein überhaupt nichts über die Qualität aussagt, sondern lediglich symbolisieren soll, dass es sich um allgemeine, alltägliche Ängste handelt, mit denen sich die meisten Menschen früher oder später auseinandersetzen müssen. Angst vor dem nächsten Schritt, Angst vor Erfolg, Angst vor einer bestimmten Situation zählen beispielsweise dazu.

Manchmal verwechseln wir Angst auch mit Sorgen, die wir uns machen, weil vielleicht ein Anruf nicht kommt, auf den wir warten oder voraussehbar ist, dass sich die Lebensumstände ändern. Es war Sven Hedin, der schwedische Schriftsteller und Entdeckungsreisende, der gesagt haben soll: „Von allen Sorgen, die ich mir gemacht habe, sind die meisten nie eingetreten.“ Und auch wenn da etwas dran ist, so haben auch die Sorgen, genau wie die Angst, ihre Berechtigung.

Aber zurück zum Drachen und damit zum zweiten Aspekt, der in dieser Redensart steckt. Der Drache weist uns trotz seiner Gefährlichkeit den Weg zu etwas Kostbarem. Er verbirgt einen Schatz, der – wenn wir es schaffen, den Drachen der Angst zu besiegen – für immer ein Teil von uns sein wird. Wer Ängste bewältigt, wird daran nicht nur wachsen, sondern buchstäblich einen Transformationsprozess durchlaufen. Er wird seinen Lebenswerkzeugkoffer um mindestens ein Tool erweitern und sich am Ende selbst ein Stück weit nähergekommen und vertrauter sein. Ängste sind wie ein fein justiertes Navigationsgerät. Dort, wo die Angst lauert, liegt auch das Potenzial für Veränderungen.

So betrachtet, sollten wir der Angst sogar dankbar sein, wenn sie sich zeigt. Das ist oft schwierig, weil wir natürlich die Situationen, in denen Ängste auftauchen, meist als höchst unangenehm empfinden. In so einem Moment kommt wohl kaum jemand auf die Idee zu sagen: „Hallo Angst, super, dass du da bist.“ Und trotzdem kann man das immer wieder in diversen Ratgebern lesen.

Bevor ich die Angst begrüße, muss ich sie jedoch erst einmal akzeptieren oder noch einen Schritt weiter zurück: mir eingestehen, dass sie da ist. Denn meist verleugnen wir sie, wollen wir sie nicht wahrhaben. Wir schieben sie beiseite, ignorieren sie, so gut es geht. Manchmal betäuben wir sie auch mit Alkohol, Arbeit, Shoppen oder Drogen. Am Ende bleibt allerdings stets die Erfahrung, dass es wenig bis nichts bringt, die Angst zu verleumden. Angst sucht sich immer einen Weg.

Es gibt übrigens noch einen weiteren Satz, der mir zum Thema Angst einfällt. Er kommt von Professor Dr. Meinhard Miegel. Er hat ihn in einem Vortrag über die Folgen des demografischen Wandels für Wirtschaft und Gesellschaft gesagt: „Die deutsche Bevölkerung ist heute eine fragile, ängstliche und weitgehend erstarrte Bevölkerung (2016).“

Was er hier in einem für uns nebensächlichen Zusammenhang ausdrückt, zeigt uns, dass die Angst auch ein kollektives Phänomen sein kann. Gerade die letzten Jahre stehen fast schon symbolisch dafür, dass Ängste gezielt geschürt werden können. Dass sich das sogar als Taktik einsetzen lässt, um Politik zu machen. Dazu kommt, dass ältere Menschen grundsätzlich ängstlicher sind als jüngere und Deutschland ist nun mal ein Staat, in dem der Anteil der Menschen über 50 deutlich größer ist, als der Anteil derer, die jünger sind. Unabhängig davon trägt der Medienrummel, der um bestimmte Themen gemacht wird, natürlich dazu bei, Grundängste zu verstärken. Reißerische Aufmacher, fette Überschriften, in denen mit dem Untergang gedroht wird, offene, spekulative Fragen befeuern Ängste. Dann bahnt sich ein diffuses Gefühl, nicht mehr sicher zu sein, den Weg in die Köpfe und überlagert hartnäckig alle Fakten. Wir erleben das, während ich dieses Buch schreibe, gerade live. Die Corona Pandemie befeuert derzeit persönliche, sowie kollektive Ängste und holt längst überholt geglaubte Verschwörungsmythen wieder ans Licht.

Unabhängig von diesen Gedanken leiden zwölf Millionen Deutsche unter einer diagnostizierten Angststörung, Frauen häufiger als Männer (2017 DGPPN). Neben den registrierten Fällen gibt es eine hohe Dunkelziffer. Dazu gehören jene diffusen Ängste, die sich schwer in Statistiken einordnen lassen, weil die Menschen, die von diesen Ängsten geplagt werden, selten zum Arzt gehen. Dazu kommt, dass das Angebot an frei zugänglichen Pharmaka oder einer Droge wie Alkohol genug Optionen bietet, der Angst zumindest für einen gewissen Zeitraum Herr zu werden.

Viele Menschen schlagen sich mit Zukunftsangst, Angst vor Arbeitslosigkeit, Angst vor Entscheidungen, Angst vor Veränderung, Angst vor dem Tod, Angst nicht zu genügen, Angst, etwas zu verpassen, Angst zu scheitern oder mit anderen Ängsten herum.

Jede Angst ist ein Signal, jede Angst ist eine Botschaft, die uns mitteilt, dass etwas aus dem Gleichgewicht geraten ist.

Ängste schränken das Leben ein. Sie verhindern, dass wir der Mensch sind, der wir sein könnten. Sie halten uns gefangen in einer Version unserer selbst, die weit unter dem liegt, was möglich wäre, wenn wir relativ angstfrei unser Potenzial entfalten könnten. Ängste hindern uns daran, zu wachsen. Sie boykottieren unsere Ziele, Träume, Wünsche oder manchmal auch einfach nur den Start in einen Tag. Und trotzdem nehmen Ängste einen wichtigen Stellenwert ein. So lästig sie auf der einen Seite sind, so essenziell sind sie auf der anderen Seite als Seismograf für wirkliche Gefahren. Ich wünsche mir, dass ich mit diesem Ratgeber dazu beitragen kann, dass Sie zwischen beiden Formen unterscheiden lernen, dass Sie den Drachen besiegen, ohne die Angst ganz zu töten. Der Schatz, den Sie heben werden, sind Sie selbst. Sie in Ihrer ganzen Größe mit all Ihren wunderbaren Talenten, Eigenschaften und Werten. Dafür lohnt es sich zu kämpfen.

Und noch etwas: Ich habe in meiner Arbeit festgestellt, dass gerade hinter ängstlichen Menschen unglaublich starke Charaktere stecken. Dass sie äußerst sensibel und achtsam sind für ihre Umgebung und für sich selbst. Dass sie eine unglaubliche Phantasie haben und damit einen großen Einfallsreichtum besitzen. Dass sie oft mit der Entwicklung unserer Gesellschaft weg von Humanität zu Rendite nicht klarkommen oder immer weniger einen Sinn in einer sich immer schneller drehenden Wachstumsspirale sehen. Den meisten Betroffenen ist gar nicht bewusst, wie kraftvoll sie sind. Sie sehen meist nur das „Defizit“ – ihre Angst. Dabei ist gerade diese Angst, betrachten wir sie als gesellschaftliches Phänomen, ein Gradmesser dafür, dass wir uns möglicherweise als Gesellschaft in eine falsche Richtung bewegen. Weg von humanitären Werten oder von dem, was uns menschlich macht. Aus dieser Perspektive betrachtet wird deutlich, wie wichtig Ihr Beitrag für die Entwicklung unserer Gesellschaft ist. Ich wünsche und hoffe, dass viele Menschen wieder lernen, Menschen wie Ihnen zuzuhören.

Ein großer Teil der Sorgen besteht aus unbegründeter Furcht.“
(Jean Paul Sartre)

Teil 1 – Der Charakter der Angst

Angst gehört zu unserem Leben. Ich bin sicher, dass sie diesen Satz so oder ähnlich schon viele Male gelesen oder gehört haben. Meist folgt dann die Geschichte mit dem Säbelzahntiger, vor dem wir uns einst schützen mussten, als wir noch in Höhlen lebten oder als Nomaden über den Globus zogen. Es stimmt natürlich – damals konnte es tödlich sein, die Angst zu ignorieren, sich von der Gruppe zu entfernen oder ausgeschlossen zu werden. Darum sind diese Grundängste in uns verankert.

Angst hat also eine wichtige Funktion. Sie weist darauf hin, dass Gefahr drohen könnte. Die Betonung liegt auf „könnte“, denn anders als bei der Furcht, kann Angst auch auftreten, wenn die Gefahr real überhaupt nicht existiert. Wenn wir uns fürchten, dann steht der Säbelzahntiger schon vor uns und fletscht die Zähne. Wenn wir Angst haben, ist er vielleicht noch kilometerweit weg oder streunt auf einem ganz anderen Kontinent herum und das Spektakel spielt sich lediglich in unserem Kopf ab. Wichtig zu wissen ist, dass es für unser Gehirn keinen Unterschied macht, ob wir uns Auge in Auge mit der Gefahr befinden oder ob wir sie nur als Kopfkino wieder und wieder abspulen. Die Symptome sind weitestgehend dieselben.

Zwar ist es in der heutigen Zeit nicht mehr der Säbelzahntiger, der uns den Angstschweiß auf die Stirn treibt, aber das evolutionäre Programm ist nach wie vor aktiv. So können Auslöser von Angst konkrete Objekte wie zum Beispiel Spinnen sein oder die Angst davor, eine bestimmte Handlung auszuführen, wie zum Beispiel mit dem Flugzeug von A nach B zu fliegen. Aber meist beziehen sich die modernen Ängste viel mehr auf uns selbst und auf die Umstände, die unser Leben einrahmen. Das macht sie allerdings nicht weniger real und vor allem nicht weniger kompliziert, denn bei der Bewältigung geht es nicht mehr nur darum, zu schauen, was sich hinter den Ängsten verbirgt, sondern auch, den Blick darauf zu richten, ob diese Ängste überhaupt unsere eigenen sind oder ob wir sie übernommen haben.

Ich bin zum Beispiel zeit meines Lebens ungern Motorrad gefahren. Wenn es sich nicht vermeiden ließ, weil die Clique in den Ferien gemeinsam zum See wollte, stieg ich voller Angst hinten auf und hielt mich restlos verkrampft an meinem Vordermann fest. Ging es in die Kurve, hatte ich stets die Tendenz, mich in die falsche Richtung zu neigen – ein Reflex, den ich auch heute noch habe und der mich zum Beispiel beim Skifahren unglaublich behindert hat, sodass ich es irgendwann frustriert gelassen habe.

Schaue ich mir diese Angst an, dann vermischen sich in ihr zwei Aspekte. Da ist zunächst einmal meine eigene Angst vor Geschwindigkeit, die wir jetzt in diesem Kontext mal ignorieren. Viel interessanter als diese Angst ist nämlich im Zusammenhang mit dem Motorradfahren, dass in dieser Angst die Angst meiner Mutter steckt. Sie ist als Jugendliche bei einer Motorradfahrt gestürzt und hat sich, wenn auch nicht schlimm, doch so verletzt, dass die Angst davor, auf ein Motorrad zu steigen, allgegenwärtig war. Ich kann mich erinnern, dass sie mir einige Male davon erzählt hat und dass ich von diesem Moment an das Bild, wie sie verletzt auf dem Boden lag, nicht mehr aus meinem Kopf bekam. So läuft das hin und wieder mit der Angst – wir übernehmen sie von anderen und geben sie sogar an andere weiter, obwohl wir überhaupt keine eigenen Berührungen mit der Gefahr hatten. So habe ich später auch aufgrund meiner Ängste versucht, meinen Kindern das Motorradfahren mehr oder weniger auszureden.

Dass das so funktioniert, ist auch der Grund, warum sich Angst so gut zur Manipulation eignet, denn: Angst kann man uns glaubhaft einreden.

In meinem Fall war es so, dass ich meiner Mutter gegenüber loyal sein wollte. Es wäre mir nicht in den Sinn gekommen, ihr zu widersprechen. Wenn sie sagt, dass es gefährlich ist, mit dem Motorrad zu fahren, dann war das auch so. Für mich gab es überhaupt keinen Grund, daran zu zweifeln. Der Gehorsam, der hinter diesem Mechanismus steckt, hat wiederum andere Ursachen. Ich will das jetzt nicht tiefer ausführen, sondern Ihnen an diesem Beispiel nur zeigen, wie solche Prozesse ablaufen können. Meine eigenen Kinder haben sich übrigens von meiner Angst nicht anstecken lassen.

Wenn Neugeborene ihre Welt erkunden, dann erleben sie sie zu einem beachtlichen Teil durch die „Augen“ ihrer Bezugspersonen. Das sind in den meisten Fällen die Eltern, die quasi wie ein Spiegel wirken. Das Kind sendet ein Signal aus und erhält eine Reaktion. Zeigt dieser Spiegel ein Bild, das nicht adäquat zu dem ist, was das Kind aussendet, gerät das Kind schnell in Not. Beispielsweise lächelt das Kind, aber der Erwachsene, der vielleicht gerade mit seinen Gedanken ganz woanders ist, erwidert das Lächeln nicht, sondern schaut grimmig. Das wird den Säugling verunsichern, ohne dass er die Zusammenhänge erfassen kann. Trotzdem setzt sich die Erfahrung fest.

Von den Eltern nicht verstanden zu werden, bedeutet eine existenzielle Bedrohung. Und was sich so martialisch anhört, ist auch wirklich so gemeint – es geht im Erfahrungsraum des Kindes nicht selten um Leben und Tod. Darum sind Ratschläge wie: „Lass dein Kind ruhig schreien, das kräftigt die Lungen“ oder Bücher, in denen dazu geraten wird, das Kind schreien zu lassen, damit es lernt durchzuschlafen, so fatal. Es versetzt einen Säugling in äußerste Not, wenn niemand auf sein Schreien reagiert und gleichzeitig entwickelt sich dadurch ein Programm, das dieser Mensch bis zu dem Punkt in sich tragen wird, an dem er sich mit dieser Angst auseinandersetzt und den Hintergrund erkennt.

Die Krux ist, dass sich solche Ängste selten in derselben Form zeigen. Vielleicht sind sie zunächst nicht einmal bewusst als Angst wahrnehmbar, sondern äußern sich zum Beispiel in einem zwanghaften Verhalten. Gefallen zu wollen, ist ein Beispiel dafür. Gefallen zu wollen und die damit verbundene Angst, in Situationen zu geraten, in denen uns das nicht gelingt. Dann stehen wir vielleicht vor einer Gruppe, sollen einen Vortrag halten und können gar nicht anders, als uns wie hypnotisiert auf den einen Menschen zu konzentrieren, der – warum auch immer – gelangweilt oder abfällig schaut. Wir spüren, wie wir beginnen zu schwitzen, wie die Gedanken in unserem Kopf rotieren. Wie wir versuchen, es genau dieser Person recht zu machen, ohne eigentlich genau zu wissen, wo das Problem liegt. Dahinter kann sich die Erfahrung verbergen, dass man so, wie man war, nicht anerkannt wurde. Vielleicht war der oder die Betreffende früher ein besonders lebhaftes Kind und wurde stets ermahnt, sich ruhig zu verhalten. Vielleicht musste er oder sie immer den Satz hören: „Was sollen denn bloß die Nachbarn denken?“ Natürlich wird das kleine Kind sich anpassen. Es wird leiser, „lieber“, in den Augen der Eltern umgänglicher werden, damit es von ihnen geliebt wird. Und schon beginnt das Dilemma, in dem so viele Menschen ein Leben lang feststecken. Aber wir werden dem auf den Grund gehen und uns anschauen, wie diese Automatismen durchbrochen werden können.

Angst und Erfahrung

Angst entsteht überwiegend durch Erfahrung. „Gebranntes Kind scheut das Feuer.“, sagt der Volksmund und drückt damit aus, dass wir um etwas, das uns verletzt hat, gern mehr oder weniger ängstlich einen großen Bogen machen. Manchmal war der Lerneffekt vielleicht so groß, dass wir zu dem Schluss gekommen sind, dass wir die Situation zukünftig einfach meiden. Dann sind wir einen Schritt weiter und brauchen die Angst gar nicht mehr als Warnsignal. Jedenfalls nicht für diese spezielle Situation. Manchmal ist es aber so, dass sich die Konstellationen nicht umgehen lassen, wir also wieder und wieder gezwungen sind, uns ihnen auszusetzen. Bei Prüfungen zum Beispiel oder in der Liebe. Wer kennt nicht das mulmige Gefühl, wenn man sich nach einer verletzenden Erfahrung, auf ein neues Abenteuer einlässt? Und wem schlottern nicht die Knie, wenn der oder die Liebste sich nicht meldet und wir uns – ohne in dem Moment den Zusammenhang mit früheren Erfahrungen zu erkennen – vollkommen verlassen fühlen?

Angst hat viele Gesichter und die meisten von uns sind dem einen oder anderen Gesicht schon begegnet. Manchmal ist es so erschreckend, dass wir uns zurückziehen. Wer Panikattacken kennt, weiß, wovon ich spreche. Mich haben sie eiskalt erwischt, als ich in einem Lebensumbruch steckte. Ich bin in der ehemaligen DDR aufgewachsen, wollte das Land per Ausreiseantrag verlassen und wurde von offizieller Stelle über zweieinhalb Jahre daran gehindert. Ich war damals Anfang 20, meine Mutter hatte die DDR bereits verlassen, meinen Vater kannte ich nicht, mein Stiefvater hatte sich zurückgezogen. Das Gefühl, von allen verlassen zu sein, war unglaublich intensiv und trotzdem konnte ich es mir nicht erlauben. Ich musste funktionieren, denn das war der einzige Weg, den Behörden gegenüber standhaft zu bleiben. Nachdem ich am 9. Februar 1989, also exakt ein Dreivierteljahr vor dem Mauerfall, Ostberlin verlassen hatte, überwog natürlich in den ersten Wochen die Freude. Die posttraumatische Belastungsstörung, die ich zweifelsfrei hatte, äußerte sich erst später und zeigte sich unter anderem darin, dass ich nicht mehr U-Bahn fahren konnte, weil ich das Gefühl hatte, eingesperrt zu sein. Mir wurde regelrecht schlecht und ich hatte Panik davor, mich vor allen Leuten übergeben zu müssen. Wenn es ging, habe ich es vermieden, die Wohnung zu verlassen oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren. Meine Rettung war damals ein Fahrrad, mit dem ich durch die Stadt fuhr, bis sich die Angst beruhigte und schließlich ganz verschwand.

„Angst ist eines der zentralsten Gefühle des Menschen“, sagte Professor Dr. med. Arno Deister, Past President der DGPPN (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde) in einem Interview (2019).

Das leuchtet ein, entsteht sie doch auch dadurch, dass Neues unser Gehirn grundsätzlich erst einmal vor Herausforderungen stellt und uns verunsichert. Und da Leben selten Stillstand bedeutet, sind wir von Geburt an mit

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 27.08.2020
ISBN: 978-3-7487-5523-4

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /