"Na, du?", lächle ich in den Spiegel und mein reflektiertes Abbild strahlt zurück. Jetzt gerade bin ICH es, die vor dem Spiegel steht. Das ist aber nicht immer so... mal ist es genau umgekehrt.
Darf ich mich vorstellen? Bekannt als Lesly könnte man fast schon behaupten, ich sei das perfekte Beispiel eines Menschen, der dringend in die psychatrische Klinik - geschlossene Anstalt - eingeliefert gehört. Zumindest denkt das meine Umwelt.
Wieso sie dieser Meinung sind?
Nun, wenn jemand mein Zimmer betritt, wird er an jedem erdenklichen Flecken meiner vier Wände Spiegel hängen sehen: Große, kleine, runde, eckige... Wände aus reflektierendem, weißen Glas. Ein richtiges Spiegelzimmer. Gäbe es Magie, wäre dort wohl das Zentrum ihrer Macht! Ich bin allerdings die einzige, die die Spiegel magisch findet.
Die einen Besucher, die den Raum das erste mal zu Gesicht bekommen, rufen meistens: Oh mein Gott, wie schräg ist das denn?! Die glauben wahrscheinlich, ich müsse mich zwanghaft aus allen erdenklichen Richtungen ansehen können, damit auch ja jedes Strähnchen meiner rotbraunen Mähne genau dort sitzt, wo ich es will.
Würde es nicht um mich gehen, fände ich das Ganze wahrscheinlich total lustig. Betonung auf würde.
Und dann gibt es da noch den anderen Teil der Besucher, der mich nicht für übertrieben perfektionistisch hält, sondern für psychisch krank. Sie sollten Ihre Tochter ernsthaft untersuchen lassen, hat vor kurzem ein Freund meines Vaters am Esstisch gesagt und mich dabei vollkommen ignoriert - als wäre ich gar nicht im Raum. Nicht, dass das Mädchen noch andere Zwänge entwickelt. Hat der Typ geglaubt, ich würde eines Tages einen Spiegel zertrümmern und mit den Splittern die Nachbarschaft aufschlitzen?
In Wahrheit sind aber beide Vorurteile totaler Bullshit. Ich bin vollkommen normal, ehrlich! Aber ich gebe zu, dass es da etwas gibt, das mich wohl besonders macht: Die Tatsache, dass ich mit meinem Spiegelbild die Rollen tauschen kann, wenn mich das Leben mal dazu zwingt. Denn wer will schon einen Physiktest schreiben? Oder am alljährlichen Sporttest mitmachen und sich bis auf die Knochen blamieren? Also ich nicht.
Jetzt denkst du bestimmt auch, dass ich nicht mehr alle Tassen im Schrank habe, oder? Aber ich bin es nicht. Ich bin nicht verrückt. Ohne mein Spiegelbild wäre ich es vielleicht, aber ich habe das Glück, dass es mir immer hilft, wenn ich kurz davor bin, es zu werden.
Ich meine, erst kürzlich musste mein Abbild für mich die Vorprüfung in Mathe schreiben. Konzentriert saß es an meinem Platz, dort, wo ich hätte sitzen, verzweifeln und am Ende zielsicher durchfallen müssen. Aber dank meines Spiegelbilds musste ich das nicht, es hat mich wortwörtlich gerettet.
Wieso es bereit ist, mit mir in so einer unbehaglichen Situation zu tauschen? Ich meine, es geht um den größten Horror eines jeden Schülers: Mathe!
Die Antwort ist ganz simpel: Es will leben.
Die Spiegelwelt ist an sich ein fantastischer Ort mit endlosen Möglichkeiten. Dein Wunsch ist ihr Befehl! Du brauchst dir nur etwas vorzustellen, und schon ist es da... Doch dieses Paradies hat nicht nur positive Seiten. Jemand anderem dabei zuzusehen, wie er atmet, isst, einfach lebt, während man selbst hinter den Spiegeln hocken und machtlos zusehen muss... ich verstehe den Wunsch meines Spiegelbilds, manchmal meinen Platz einnehmen zu wollen. Ich würde es mir an seiner Stelle auch wünschen.
Und genau deshalb gewähre ich es ihm.
Klingt schizophren, oder? Aber es ist so. Auch dein Spiegelbild langweilt sich und findet es wahrscheinlich total ätzend, dich ständig nachzuahmen, während du vor dem Spiegel herumhampelst, und dir zuzusehen, wie du einen hübschen Mann küsst, während es sich danach verzehrt, ebenfalls begehrt zu werden.
Mein Abbild ist wie gesagt anders. Ich weiß nicht, wann ich herausfand, dass ich mit ihm tauschen kann, aber seitdem tun wir es andauernd. Und ich muss sagen: Etwas Cooleres gibt es nicht! Und wenn ich an den heutigen Tag denke, bin ich direkt doppelt dankbar, dass mein Spiegelbild in so einem Ausmaß für mich da sein kann:
Denn heute findet der alljährliche Sporttest statt und leider bin ich in dem Fach, wie halt auch in Mathe, die absolute Obernull! Und es ist wirklich schrecklich, hautnah mitzuerleben, wie man bei einem Test versagt, um dann hinterher von den Mitschülern ausgelacht und vom Lehrer getriezt zu werden, nur weil die eigenen Leistungen unterdurchschnittlich - bei mir sogar fast schon lächerlich - sind.
Doch zum Glück habe ich ja wie gesagt jemanden, der in dieser Situation am Liebsten in meiner Haut stecken würde!
"Und, Lust, mit mir zu tauschen?", frage ich deshalb mein Spiegelbild mit verschwörerischer Stimme.
"Das fragst du noch? Na, logo! Ich freue mich schon riesig darauf!", antwortet es. "Das wird ein Klacks, glaub mir. Wie lange darf ich dieses mal bleiben?"
"Heute leider nur solange, bis der Sporttest um ist. Dann musst du wieder mit mir wechseln. Direkt danach ist... naja..." Ich kann nicht verhindern, dass mir die Röte ins Gesicht steigt.
"Stopp, kein Wort mehr! Ich habe alles mitbekommen, bin schließlich dein Dauerzuschauer. Der Fernseher ist immer eingeschaltet, damit ich ja nichts von deinem Leben verpasse!" Mein gespiegeltes Gesicht zwinkert mir freundschaftlich zu. "Und klar, ich werde rechtzeitig wieder hier sein, Spiegelbild Ehrenwort!"
Ich fühle tiefe Zufriedenheit und Dankbarkeit in mir aufsteigen. Ich muss den öden Sporttest nicht mitmachen und direkt danach habe ich ein heißes Date! Was gibt es Schöneres?
"Du weißt nicht, wie viel mir deine Unterstützung bedeutet", gestehe ich aus tiefstem Herzen. "Andere Menschen haben nicht so ein Glück, jemanden wie dich zu haben."
"Vielmehr muss ich dir dafür danken, dass du mich manchmal in die Helle Welt lässt", antwortet mein gespiegeltes Ich seelich.
Lächelnd berühre ich den glatten Spiegel und schließe die Augen. Ich spüre geradezu, wie sich etwas verbindet, als würden sich plötzlich zwei Welten berühren.
"Tausch mit mir", flüstere ich.
Etwas Weiches, Kühles umschließt mich und zieht mein Gesicht Richtung Spiegeloberfläche. Das letzte, was ich bemerke, ist das kalte Glas an meiner Wange, dann ändert sich um mich herum die ganze Welt. Der Wechsel ist beinahe so intensiv wie ein Temperaturumsturz. Langsam öffne ich wieder die Augen.
Ich bin auf der anderen Seite - in der Spiegelwelt.
Es ist, als würde man in einem verdunkelten Zimmer aufwachen. Um mich herum ist nichts als die tiefste Tiefe von Schwärze, denn noch habe ich mir nichts gewünscht - und damit noch nicht das Licht eingeschaltet. Und doch ist die Dunkelheit nicht das einzige, was ich sehen kann: Direkt vor mir, vielleicht eine Handbreit, erstrahlt ein Loch aus Licht, in dessen Mitte mir mein eigenes Gesicht entgegen lächelt. Durch den Spiegel. In der Spiegelwelt nenne ich es: Das Loch zur Wirklichkeit. Mein Fenster, von dem aus ich meinen Körper beobachten kann, wann immer ich möchte.
"Viel Spaß!", sage ich und meine es auch so. "So, wie du aussiehst, kannst du es wohl kaum erwarten, in die Höhle des Löwen zu treten, hab ich recht? Ich hoffe wirklich, dass du dir keine Schikane anhören musst... willst du das wirklich machen? Mein Körper ist doch so unsportlich."
"Keine Angst, ich trete nur zu gern direkt in das Maul des Untiers. Und dabei reiße ich ihm sämtliche Zähne aus! Mach dir keine Sorgen um mich. Ehrlich gesagt stecke ich sehr gern in dieser Haut, also... es wird keine Schikane geben. Ich regel das für dich." Ganz schön selbstbewusst. "Dir auch viel Spaß und bis gleich!", blubbert mein Abbild strahlend, wirbelt herum und läuft mit beschwingten Schritten zum Ausgang der Umkleide.
Obwohl ich Sport hasse, liebt mein Abbild die Bewegung. Und das Selbstbewusstsein, was es hat, ist auch nicht unbedingt meines. Eigenartig, oder? Müssten wir nicht gleich sein?
Ich kehre dem Fenster in meine Welt den Rücken zu. Diese zwei Stunden werde ich jetzt nicht darüber nachdenken. Mein obersters Ziel lautet: Entspannung!
Genau in dem Moment, als ich das Wort zu Ende gedacht habe, höre ich ein Rauschen. Sanft. Fast wie ein Ruf. Als hätte die Spiegelwelt meine Sehnsucht nach Ruhe erhört, erstreckt sich vor meinen Augen plötzlich das endlose, weite Meer. Glitzernd bäumen sich die Wellen auf, malen ozeanblaue Berge an den Horizont. Und dann spüre ich unter meinen Füßen Sand, der sich so weich an meine Haut schmiegt, als würde er mich einladen. Langsam lasse ich mich nieder, strecke mich auf den Sand aus, fahre mit den Händen genüsslich durch die weißen, winzig kleinen Körnchen, grabe meine Zehen tief hinein. Irgendwo über mir ruft eine Möwe in den Himmel. Die Wärme der Sonne kribbelt auf meiner Haut.
Jetzt fehlt nur noch... als hätte es die Spiegelwelt von meinen Lippen abgelesen, steht neben mir auf einmal ein Cocktailglas, in dessen roter Flüssigkeit funkelnde Eiswürfel klackernd aneinanderstoßen. Neugierig nippe ich daran und werde direkt überschwemmt von dem unvergleichlichen süß-säuerlichen Geschmack der Blutorange. Kühl prickelt das Getränk auf meiner Zunge.
Seufzend schließe ich die Augen, dann bildet sich in meinem Kopf wieder ein Gedanke. Ganz leise, doch selbst den hört die Spiegelwelt. Ich höre das sanfte Geräusch von Sand, wenn es in Bewegung gerät. Dann beginnen starke Hände über meine Schultern zu streichen und gekonnt meinen Nacken zu massieren.
Was ist, wenn ich die Möglichkeit hätte, ewig so zu leben?
Für einen Moment halte ich diesen Gedanken fest umschlossen, stelle ihn mir vor meinem geistigen Auge vor, fühle das Ausmaß mit jeder Faser meines Körpers. Ein ewig anhaltender Traum. Keine Probleme, keine Sorgen. Alles, was ich brauche, alles, was ich mir je wünschen werde, wäre sofort da. Ich könnte alles tun, alles erleben. Es würde wirklich ewigen Luxus bedeuten.
Und ewigen Verlust, schießt es mir durch den Kopf und sofort stoße ich den Gedanken von mich, als wäre er ein giftiger Skorpion. Ich würde meine Familie zu sehr vermissen...
Nach zwei Stunden erscheint mein verschwitztes Gesicht hinter dem Fenster, dem Loch zur Wirklichkeit. Ich spüre deutlich, dass mein Körper in der Nähe ist - alles in mir kribbelt - und erhebe mich sofort. Es war wundervoll hier, doch ich vermisse meine Welt jetzt schon.
"Alles gut gelaufen?", frage ich lächelnd. Mir ist das Ergebnis eigentlich total schnuppe, ich bin einfach glücklich, es nicht miterlebt haben zu müssen. Trotzdem ist es höflich zu fragen.
"Bestanden!", antwortet mein Spiegelbild strahlend und streckt die Faust triumphierend gen Zimmerdecke. "Ich bin einfach gut! Von wegen, unsportlicher Körper verurteilt zum Scheitern!"
"ICH bin einfach gut", verbessere ich wie aus der Kanone geschossen - und bereue es sofort. Wieso musste ich jetzt so etwas Taktloses sagen? Das waren doch unfaire Worte! Immerhin ist das Bestehen nicht mein Verdienst, also bin nicht ich es, die gut ist - lediglich mein Körper. Aber vor allem das Bewusstsein, das ihn steuert... Und ich dachte, ich sei unsportlich! Eifersucht beginnt in meinem Inneren zu pieksen wie ein wütender Bienenschwarm. Plötzlich wird mir klar, dass mein Spiegelbild meinen Körper viel besser steuern kann als ich, denn es ist in der Lage, sein volles Potential auszuschöpfen.
"Obwohl du ein Teil von mir bist, ist das ja immer noch mein Leben und mein Körper!", stelle ich klar und bemerke sofort den aggressiven Unterton in meiner Stimme. Die Miene meines Spiegelbilds verdüstert sich schlagartig, aber ich gebe noch einen hinterher: "Sorry, aber du weißt, was ich meine. Du bist nun mal in der Spiegelwelt geboren worden und ich in der Wirklichkeit."
"Ich weiß das doch, Lesly... du bist gemein, mir unter die Nase zu reiben, dass ich keinen eigenen Körper habe..."
"Deshalb teile ich ihn ja mit dir. Ich weiß doch, dass dich diese Tatsache ein wenig unglücklich macht", ergänze ich in einem versöhnlicheren Ton. Mein Spiegelbild so zerknirscht zu sehen, lenkt mich von meiner eigenen Eifersucht ab und rückt sie in den Hintergrund. "Jetzt zieh nicht so eine Miene, Süße, ich meinte das nicht böse. Ich war gerade nur ein wenig eifersüchtig, wie toll du das mit dem Sporttest hinbekommen hast und... es tut mir Leid, ich hätte nicht so reagieren sollen. Glückwunsch zum Bestehen! Ich hätte das niemals hinbekommen und danke dir dafür. Aber jetzt ist erst einmal wieder Tauschen angesagt, ja? Morgen wechseln wir erneut, versprochen!" Aufgeregt beginne ich mit den Füßen auf und ab zu wippen. "Weißt du, wie sehr ich mich schon darauf freue, Brian zu sehen? Ich kann es immer noch nicht fassen, dass er mich nach einem Date gefragt hat!"
"Ja", flüstert mein Spiegelbild und ich kann sehen, wie sich die Wangen meines Körpers rötlich färben. Wieso ist es so verlegen? "Er ist wirklich süß...", gesteht es mir schließlich leise.
"Finde ich auch, sonst würde ich ihn nicht daten", antworte ich, zu aufgeregt, um die plötzliche Stimmänderung meines gespiegeltes Ichs wahrzunehmen.
Meine Hände - von mir hinter den Spiegeln und die in der Wirklichkeit - liegen nun an der Barriere der beiden Welten. Mein Spiegelbild holt tief Luft und schließt die Augen. Doch statt den Spruch zu sagen, lässt es plötzlich die Arme meines Körpers wieder sinken.
"Was machst du da?", frage ich verwundert.
"Du hast es immer so gut. Diese Welt ist toll. Hinter den Spiegeln ist es immer so einsam und dunkel und..."
"Quatsch nicht", gebe ich ungeduldig zurück. "Ich bin doch bei dir."
Was soll das?
"Nur, wenn du in den Spiegel siehst und das tust du so selten!"
Ich schüttle den Kopf. "He, Herzchen, wegen dir habe ich all die Spiegel in meinem Zimmer aufgehängt. Nur für dich. Obwohl mich die Leute jetzt für durchgeknallt halten..."
"Dir gehört Brian..."
"Du bist doch ich! Er gehört damit uns beide, oder nicht?" Mir reißt gleich der Geduldsfaden. Mein Spiegelbild scheint nicht zu verstehen, wie wichtig mir das Treffen mit Brian ist, sonst würde es den Tausch nicht absichtlich so lange hinauszögern. Aber es müsste mich doch verstehen, es ist doch ein Teil von mir!
"Also ist es auch mein Körper?", fragt es gerade.
"Nein, es ist MEINER", korrigiere ich schnell und automatisch runzeln wir die Stirn wegen des Widerspruchs. "Tut mir Leid, das ist so verwirrend. Hör zu, reden wir später darüber, ja? Ich will mich nicht verspäten."
Jetzt nickt mein Spiegelbild hinter dem Fenster verständnisvoll. "Ja, Brian... er soll nicht warten. Tut mir Leid, Lesly..." Es holt tief Luft. "Ich kann es einfach nicht."
"Was kannst du nicht...?", frage ich misstrauisch und eine ungute, leise Vorahnung keimt in mir auf wie ein Schimmelpilz, frisst sich ganz langsam an meiner Kehle hoch.
Mein Spiegelbild fixiert mich mit einem eigenartigen Gesichtsausdruck. Fest, unerschütterlich. Dann beginnt es zu erklären:
"Ich habe das Leben hier lieben gelernt, Lesly. Du hast mich zwar oft hierher gelassen... aber immer nur für ein paar Stunden. Die restlichen Jahre konnte ich nur zusehen! Ich habe gesehen, wie du liebst, wie du hasst, wie du weinst! Und wie du mit anderen Menschen lebst. Dich unterhältst, etwas unternimmst... du wirst gesehen! Du wirst beachtet! Du bist ein Teil von vielen Leben! Dich würden so viele vermissen." Verbitterung vermischt sich in die Stimme meines Spiegelbildes. "Aber ich, ich bin allein, Lesly. Ich habe nichts davon... Niemand weiß, dass ich überhaupt existiere. Jeder, der mich sieht, denkt, ich sei nur eine bestimmte Anzahl von irgendwelchen Lichtstrahlen, die in irgendeinem bestimmten Winkel auf eine Spiegeoberfläche treffen!"
"Ich weiß, dass du existierst! Du hast mich!"
"Ja! Und du hast mich!" Plötzlich wird die Miene meines Spiegelbildes undurchdringlich und unbarmherzig wie Stein. "Und weil du sagst, dass es mir genügt, dich zu haben, genügt es also auch dir, mich zu haben. Ganz logischer Umkehrschluss", schlussfolgert es und tritt betont langsam vom Spiegel zurück, immer weiter, unaufhaltsam.
"Warte!", rufe ich, strecke die Hände aus, stoße vor die Barriere. "Was meinst du damit?!" Der Schimmelpilz des Grauens ist mittlerweile so tief in meinen Hals vorgedrungen, dass ich kaum einen Ton herauskriege.
"Es tut mir so Leid, Lesly. Aber jetzt bin ich dran. Von nun an wirst du zusehen."
"Das ist nicht dein Ernst..."
Ich bin fassungslos. Niemals, niemals wäre ich auf den Gedanken gekommen, dass mir mein eigenes Spiegelbild so etwas antun würde. Selbst jetzt nicht! Es kann nur ein Streich sein! Niemals würde es...
"Ich meine es toternst", unterbricht mich mein Abbild und reißt mich aus meiner Gedankenwelt.
"D-du... du würdest mein Vertrauen missbrauchen?", frage ich erschüttert und starre in das Gesicht, das eigentlich mir gehört. "Ich habe dir meinen Körper anvertraut und du stiehlst ihn mir?! Ich habe dich mit mir tauschen lassen, weil ich dachte, wir seien Freunde! Ich kann das nicht glauben! Sag, dass du Scherze mit mir treibst!"
"Es tut mir Leid, Lesly", wiederholt es ruhig. "Aber mein Wunsch nach Freiheit ist größer als mein Gewissen. Du musst es akzeptieren. Es ist nur fair... du hattest die Jahre seit unserer Geburt. Es ist Zeit, das Steuer abzugeben! Wieso sollte ich nicht auch leben dürfen? Nur weil ich auf der falschen Seite des Spiegels geboren worden bin?! Es ist nur fair, dass ich jetzt dran bin!"
"Du bist MEIN Spiegelbild, verdammt nochmal! Ich bin NICHT DEINS!", schreie ich, meine Stimme steigert sich ins Hysterische. "Du würdest mir meine Familie wegnehmen, kapierst du das eigentlich?! Meine Freunde! Meine Liebe! MEIN LEBEN!" Ich schlage einmal kräftig mit der Faust gegen die unsichtbare Mauer, die mir plötzlich wie die Gitter eines Gefängnisses vorkommen.
"Sei mir bitte nicht böse... ich war lang genug Zuschauer. Ich möchte wissen, ob ich es besser machen kann! Du musst nicht unsportlich sein oder schlecht in Mathe. Was könnte ich erreichen? Es ist von nun an mein Körper, Lesly, krieg das in den Schädel!" Es hebt beschwichtigend beide Hände. "Aber keine Angst, in meinem Zimmer hängen viele Spiegel... und wir werden uns oft darin sehen, wenn ich Zuhause bin. Du wirst niemals alleine sein, niemals. Versprochen, Lesly! Ich werde genauso für dich da sein, wie du für mich da gewesen bist, als ich in dieser Dunkelheit gefangen war. Ich werde niemals vergessen, was du für mich getan hast. Du hast mich, okay? Ich werde dich nie im Stich lassen und du wirst immer Teil meines Lebens sein - so, wie ich Teil deines Lebens war. Bloß habe ich jetzt den größeren Part."
"TU MIR DAS NICHT AN!", brülle ich mein Spiegelbild an.
Meine Wünsche in mir erlöschen, um mich herum verschwindet der Strand, der Cocktail, die Musik, der Masseur. Alles. Und zurück bleibt erdrückende Finsternis und die wachsende Verzweiflung in meinem Herzen.
"Bitte", wimmere ich. "Du bist doch mein Spiegelbild... du kannst nicht in meinem Körper bleiben... das geht nicht..."
"Ich bin nicht mehr dein Spiegelbild, Lesly", antwortet mein Gesicht gnadenlos. "Du bist jetzt meines..."
Und damit verschwindet mein Körper vom Spiegel, lässt mich hier zurück. Machtlos - wie ein Spiegelbild. Eingesperrt hinter unzerbrechlichem Glas, verdammt zuzusehen, wie jemand anderes mit meinem Körper liebt, mit EINEM Körper LEBT!
Vielleicht werde ich meine Familie nie wiedersehen ...!
Vielleicht werde ich nie wieder meinen Freunden sagen können, wie viel sie mir bedeuten...
Und mein Spiegelbild wird Brians Freundin sein. Brian wird nicht mich lieben, er wird...!
Ich schlage schreiend gegen das Fenster zur Wirklichkeit, doch es gibt keinen Millimeter nach. Ich brülle, ich trete um mich. Doch es nützt nichts.
Gefangen!
Ich zerbreche beinahe an der Erkenntnis. Schluchzend und zitternd falle ich auf die Knie, vergrabe mein Gesicht in den Handflächen. Tränen kullern über meine Wangen. Wut, Verzweiflung, Panik, Trauer, alles tobt in mir wie ein Sturm. Doch das schlimmste Gefühl ist die Unwissenheit: Wie lange werde ich hinter den Spiegeln gefangen sein? Verdammt als Spiegelbild?
Ich hole tief Luft und brülle, so laut ich kann, so laut, dass meine Lunge sich anfühlt, als würde sie gleich bersten:
"KOMM ZURÜCK!!!"
Totenstill und stockfinster wie ein Keller - das ist mein Gefängnis. Keine Geräusche, keine Farben, kein Licht... nur die alles verschluckende Schwärze. Es gibt nicht einmal einen Boden, der meinen Füßen Halt geben könnte. Selbst Gerüche sind abwesend.
Und ich kann mir nicht einmal etwas wünschen, um diese schwarze Welt zu verändern! Das Grauen, betrogen worden zu sein, sitzt zu tief und lähmt meine Träume, all meine Wünsche...
Ist es kalt hier? Oder warm? Ist das um mich herum wirklich Schwärze oder die vollkommene Abwesenheit von allem?
Existiere ich überhaupt noch?
Zusammengerollt wie ein Embryo schwebe ich inmitten dieser totalen Finsternis. Wenn ich mich so zusammenkauere, meine Arme um die Beine schlinge und meine Stirn fest gegen die Knie presse, habe ich das Gefühl, nicht mehr ganz so schutzlos zu sein. Nicht mehr ganz so einsam...
Das Licht des Fensters zur Wirklichkeit hat sich schon vor einer Weile geschlossen. Ich weiß nicht, wie lange es her ist – eine Stunde vielleicht, eine Woche, ein Jahr... mein gestohlener Körper vermeidet vielleicht bewusst jeden Spiegel, damit sich kein weiteres Fenster mehr öffnet. Und ich nie wieder mein Zuhause sehen kann...
Meine Beklemmung wächst. Angst kriecht über meinen Rücken, vermischt sich mit der Verzweiflung in meinem Herzen. Gefangen! Eingesperrt! Verraten! Immer wieder schäumt Panik hoch. Obwohl ich absolut nichts sehen kann, haben ich das Gefühl, von tausend Augen angestarrt zu werden. Ich mache mich noch kleiner, rolle mich zusammen wie ein Igel. Die Finsternis soll aus meinen Gedanken bleiben!
Doch dann setzen plötzlich die Stimmen ein. Wispernd dringen sie in mich ein, verwehren mir jeden klaren Gedanken und schüren weiter die Verzweiflung, die in mir tobt.
Du bist allein, Lesly...
Unbedeutend!
Du wirst für immer hier gefangen bleiben...
„Hört auf!”, schreie ich, obwohl es meine eigenen Gedanken sind, die mir diese schrecklichen Dinge zuflüstern.
Du bist verraten worden...
Du wurdest bestohlen...
Deine große Liebe ist bereits in den Händen einer anderen!
Und weißt du, was sie gerade miteinander treiben?
„Hört auf, hört auf!”, brülle ich erneut und kämpfe gegen das Gefühl an, gleich in tausend Stücke zu zerbrechen.
Sie wird mit ihm schlafen!
Der erste Kuss deines Körpers gehört nun ihr!
Dein erstes mal wird sie erleben, nicht du!
„Bitte, lasst mich in Ruhe", wimmere ich und halte mir gequält die Ohren zu.
Du wirst hier verrotten...
Deine Familie wird niemals wissen, dass du überhaupt verschwunden bist!
Deine Freunde werden weiterleben und nicht einmal ahnen, dass dein Körper von jemand anderem gesteuert wird...
"Das wisst ihr doch gar nicht", flüstere ich so schwach, dass ich mir nicht einmal selbst glaube.
Und weißt du was, Lesly?
Du wirst nicht vergessen werden.
Du bist bereits vergessen worden!
"NEEIIIN!"
Meine eigene Stimme wird von der Finsternis um mich herum verschluckt, so als würde ich gegen ein Kissen anschreien. Irgendetwas tief in mir zerbricht. Die Erkenntnis, dass niemand je mein Fehlen bemerken wird, bohrt sich so brutal in mein Herz, dass ich es am Liebsten herausreißen würde, nur um nicht mehr diese Verzweiflung und diesen Schmerz spüren zu müssen!
Wie auf ein Stichwort, als hätte die Spiegelwelt meine dunklen Gefühle aufgesogen wie ein Schwamm, verändert sich plötzlich die Schwärze um mich herum. Was vorher substanzlos schien, verdichtet sich zu etwas Greifbarem, bekommt Konturen. Die Finsternis ist nicht länger nur schwarz, sie ist drohend, als hätte sie nur darauf gewartet, dass ich nachgebe, um mich dann gewaltsam zu packen und ...
Was ist das? Ich wage es nicht, meine eingerollte Haltung zu verändern und mich umzusehen. Ein Schauder läuft über meinen Rücken. Da ist doch was!
Ich kneife die Augen fest zusammen und versuche zwanghaft, das Gefühl zu verdrängen, dass sich mir etwas nährt. Noch kleiner kann ich mich nicht machen. Ein Wimmern entkommt meinen Lippen, doch auch dieses Geräusch wird aufgesaugt und verstummt, ehe es überhaupt hörbar werden kann.
Ich bin in Gefahr!
Der Gedanke ist so klar, so deutlich in meinem Kopf, das in mir sämtliche Alarmsirenen anspringen. Die Spiegelwelt erfüllt mir nicht nur meine Wünsche. Sie manifestiert mein gesamtes Sein – seien es gute Gefühle oder...
Meine Angst wird mich umbringen!
Etwas berührt meinen Rücken, so als würde ein dicker Finger meine Wirbelsäule entlang streichen... ich reiße die Augen auf, rolle mich auseinander und schlage entsetzt hinter mich.
"VERSCHWINDE!" Mein Angriffsschrei verliert sich in einem ängstlichen Krächzen.
Etwas berührt mein Bein, schlängelt sich darum wie ein Wurm. Voller Panik trete ich danach. Sofort zuckt das Ding zurück.
Mein Herz hämmert wie verrückt gegen meine Brust und so hart, dass es schmerzt. Bumm, Bumm, Bumm. Was war dieses Ding? Oh Gott, bitte, ich will nicht sterben. Ich will am Liebsten heulen, aber meine Augen bleiben trocken, so als könne diese Spiegelgestalt nicht weinen.
Plötzlich schießen von allen Seiten dicke, glitschige Fäden auf mich zu, schlingen sich um meine Arme, meine Handgelenke, meine Hüfte. Ehe ich erneut schreien kann, legt sich etwas, das einer Hand sehr ähnelt, auf meinen Mund und erstickt jeden Laut. Das Ding packt meine Fußgelenke und tastet dann zu meinem Hals empor. Todesangst greift nach mir, zerquetscht jeden vernünftigen Gedanken. Ich versuche zu treten, zu schlagen – das Ding hält mich eisern fest und bewegt sich keinen Millimeter.
Es wird mich fressen!
Die Frage, ob ich überhaupt in der Spiegelwelt sterben kann, stelle ich mir erst gar nicht. Ich weiß es. Das Wissen ist einfach da, aber so klar, so unerschütterlich wie die physikalischen Gesetze der Erde. Wenn dieses Ding mich in sich einverleibt, wird jeder Funke meiner Seele für immer verschwinden und zurück wird nur eine leblose Hülle eines Spiegelbildes bleiben...
Du wurdest doch bereits vergessen... gib dich mir hin, flüstert eine Stimme in meinem Kopf. Aber sie gehört nicht, wie zuvor, meinen eigenen Gedanken, sondern zu etwas Fremdem. Verzerrt und dunkel dringt es in meinen Kopf und hinterlässt ein schleimiges Gefühl.
Lass mich rein...
Es reinlassen? Was meint es damit?
Meine Fragen werden sofort beantwortet, als sich das Ding über meinem Mund plötzlich in eine zähflüssige, lebendige Masse verwandelt, die mit langsamer Gewalt meine Lippen auseinander schiebt. Erschrocken presse ich sie fest aufeinander, übe so viel Druck auf meinen Kiefer aus, wie ich kann.
Oh Gott, nein! Nein!
Ekel steigt in mir auf. Erneut versuche ich mich aufzubäumen, aber die Stimme in meinem Kopf lacht nur.
Denk an etwas Gutes, denk an etwas Gutes, schreie ich in Gedanken. Wenn die Spiegelwelt auf meine Wünsche reagiert und auf mein Innenleben, dann kann ich die Finsternis sofort vertreiben und dieses grauenerregende Ding wird verschwinden!
Ich wünsche mir, direkt in der Sonne zu stehen, inmitten einer Wüste ohne Schatten, mit Sand und blauem Himmel und warmem Wind! OHNE DIESES DING!
Dieses mal jedoch erfüllt mir die Spiegelwelt meinen Wunsch nicht sofort. Zu viel Angst steckt in meinen Knochen, zu viel Panik in meinen Gedanken. Ich kneife die Augen zu und wünsche es mir nochmal, mit ganzem Herzen, während die zähflüssige Masse langsam durch die kleine Öffnung meiner Lippen drängt und zwischen die winzigen Zahnlücken hindurch kriecht. Alles in mir schreit auf, als ich den pelzigen Geschmack und die wurmartigen Bewegungen auf der Zunge spüre.
Sonne! Gelbe Wüste ohne Schatten! Bitte, mein Wunsch soll erfüllt werden! Bitte! Ich kann nicht mehr, ich will nicht sterben, ich will hier raus! Ich habe solche Angst... Bitte, erfülle mir meinen Wunsch! Gelbe Wüste, Sonne, keine Schatten!
Die Stimme in mir lacht, als der zähflüssige Wurm meine Kehle hinunterrutscht, direkt in mich hinein. Und dann beginnt sich etwas in meinem Bauch zu regen.
Ich öffne den Mund weit und schreie. Dieses mal jedoch verschluckt die Finsternis den Laut nicht. Klar und deutlich schallt er durch die Schwärze, dann explodiert vor meinen Augen helles Licht. Und im nächsten Moment stehe ich in einer Wüste – so weit das Auge reicht, nur Sand. Unter meinen Füßen pikst es und reißt mich aus meiner Starre.
Ich bin entkommen ...?
Ich kann es nicht verhindern - meine Knie geben unter mir nach und ich beginne vor Erleichterung laut zu schluchzen. Ich bin wirklich entkommen! Doch dann tasten meine Hände instinktiv erst zu meinem Hals, dann zu meinem Bauch. Ein kalter Schauder läuft über meinen Rücken.
Es ist in mich eingedrungen...
Die Erleichterung schlägt sofort in helles Entsetzen um.
Es ist in mir drin!
Reflexartig muss ich würgen, beuge mich vor und versuche, mich zu übergeben. Aber es kommt nichts, nur Luft. Eine Weile lang starre ich auf die kleinen, gelben Sandkörnchen – aus der Nähe erkennt man, dass sie nicht nur einfarbig sind. Rote, manchmal sogar blaue Steinchen glitzern in der Sonne.
Meine Arme zittern so stark, dass sie meinen Oberkörper kaum tragen können. Tief atme ich ein, damit nicht noch einmal die Wünsche in mir erlöschen und die Finsternis wiederkehren kann. Ich muss die Panik verdrängen... wieder atme ich tief ein und aus, suche einen ruhigen Rhythmus. Eine ganze Weile sitze ich so da, vornübergebeugt, dann, nach endlosen Minuten, beruhigt sich mein Herz.
Musste mein Spiegelbild auch so etwas Schreckliches durchmachen? War es nicht nur die Eifersucht, die es aus dieser Spiegelwelt trieb, sondern auch die Angst vor dieser schwarzen Kreatur?
Im nächsten Augenblick lausche ich ängstlich in mich hinein, suche nach diesem zähflüssigen Wurm. Aber nicht einmal die dunkle Stimme kann ich spüren. Das schleimige Gefühl ist vollkommen verschwunden.
Und es wird erst wieder auftauchen, wenn die Finsternis wiederkehrt.
Sie sollten Ihre Tochter ernsthaft untersuchen lassen!
Jene erniedrigende Aufforderung, die vor einiger Zeit an unserem Esstisch gefallen ist, wiederholt sich in einer Endlosschleife in meinem Kopf, wie ein Dauerecho. Wieso mir diese Worte gerade jetzt einfallen, mitten unter der stechenden Wüstensonne, während ich im glühend heißen Sand herumkrieche, ist mir ein Rätsel. Nicht, dass sie noch andere Zwänge entwickelt, spult mein Gedächtnis weiter ab. Sie sollten Ihre Tochter ernsthaft untersuchen lassen!
Spiegel ...
Hätte ich gewusst, wie das Ganze endet, hätte ich sie nie in mein Zimmer aufgehangen. Hätte nie in auch nur einmal hineingesehen. Und dann hätte der Mann am Esstisch auch nicht diese erniedrigenden Worte sagen können – während ich dabei saß, von allen ignoriert. Vielleicht wäre dann mein Leben ordentlich verlaufen: Normale Freunde, gute Noten, ein liebevoller Vater ...
Die Hitze des Sandes müsste eigentlich meine Haut verbrennen, aber ich spüre nicht einmal Schmerz. Nur den Umstand, dass er heiß ist. Ob das an der Spiegelwelt liegt? Langsam bewege ich mich auf Händen und Knien weiter durch den Sand. Wohin, weiß ich nicht. Nur weg von dieser gruseligen Stelle, an der das Ding ... Wieder schwappt Übelkeit meinen Hals hinauf, aber ich mache mir nicht einmal mehr die Mühe zu würgen - mein Magen ist bereits leer. Mit einer trägen Bewegung wische ich mir mit dem Handrücken über den Mund, so als könne ich das unangenehme Gefühl dadurch verdrängen.
Wieso habe ich nicht einfach mein Spiegelbild ignoriert, als ich bemerkte, dass es mit mir sprechen kann? Wieso konnte ich mich nicht einfach normal verhalten, wie die meisten anderen Kinder auch?
Die Antwort fällt mir so unmittelbar ein, dass mein Gedächtnis sie mir direkt in Form zweier Gesichter ausspuckt: Hannah, mit ihrer dunklen Haut, den großen Rehaugen und den vielen Zöpfen, ganz nach dem afrikanischen Stil geflochten. Und der treue Sam, mit seinem verträumten Hundeblick und dem blonden Strubbelkopf.
Ein leises, trauriges Lächeln schleicht sich auf meine Lippen, als ich an all die Sommer in meiner Kindheit denke, in denen Hannah, Sam und ich am See saßen und spielten – Gewässer waren unsere liebsten Treffpunkte, da es dort nicht so auffiel, wenn wir uns mit unseren Spiegelbilden unterhielten. Von Weitem sah es so aus, als würden drei Kinder die Wasseroberfläche betrachten, reden und lachen. In Wahrheit waren wir aber zu sechst da, allerdings konnte jeder nur sein eigenes Spiegelbild hören und musste den anderen immer übersetzen.
Damals dachte ich, es würde für immer so sein. Für immer wir drei und niemals ich allein. Aber das war lediglich naives Wunschdenken eines Kindes.
Hannah war die erste, die aufhörte, mit ihrem Spiegelbild zu reden. Ich bin jetzt zehn, hatte sie gesagt. Zu alt für so dumme Spiele! Nach ihrem Abgang fing sie an, mich abgrundtief zu hassen und zu vermeiden – ich verstand nicht, wieso – und machte mich bei den anderen Kindern schlecht, bis ich schließlich als Außenseiter dastand. Nur noch Sam war mir geblieben, aber das sollte sich nach zwei Monaten auch ändern:
Die Wahrheit über ihn traf mich so unvorbereitet, dass ich mich nicht beherrschen konnte.
Du Lügner, schrie ich ihn an, wollte, nein, konnte damit nicht klarkommen, dass ich die Einzige gewesen sein sollte, die wirklich mit ihrem Spiegelbild gesprochen hatte. Erst sagt Hannah, dass sie zu alt ist für so ein SPIEL und jetzt du! Ihr seid beide LÜGNER! Es ist kein Spiel, verdammt nochmal!
Da kapierte Sam wohl, wie sehr er sich bei mir verschätzt hatte und fing an zu heulen – diese Memme.
Ja, ich habe gelogen ... aber Hannah nicht, ich schwöre es! Kurz nachdem sie gegangen ist, bin ihr hinterher und habe nach dem Warum gefragt. Hannah war so traurig, Lesly! Sie sagte, sie könne es nicht ertragen, dass du noch mit deinem Spiegelbild reden kannst und sie nicht mehr. Das verstand ich nicht und da erklärte Hannah, es sei ... Sie sagte, da wäre ein Schatten gewesen und dann, von einer Sekunde auf die andere, war ihr Spiegelbild leblos! Lesly ... jetzt, wo du ihr Geheimnis weißt, könnt ihr doch wieder Freunde sein oder ...?
Wie naiv Sam doch gewesen ist. Und ich konnte nicht anders, als wütend zu reagieren:
Ist dir klar, Sam, dass SIE es war, die mich bei den anderen Kindern schlecht gemacht hat? Wegen HANNAH war gestern meine gesamte Schultasche voller Orangensaft! Oder letzte Woche, da roch meine Sporttasche nach dem Unterricht nach Pisse! Ich funkelte Sam zornig an, der mittlerweile ungläubig zurückstarrte. Und wegen Hannah muss ich nachher beim Nachhauseweg darauf achten, dass mir die anderen nicht wieder auflauern, Sam. Jetzt kapiert? Ist dir klar, dass HANNAH dafür verantwortlich ist?! Die hat den anderen gesagt, dass sie mich fertigmachen sollen!
Lesly, rief er daraufhin aus, halb wütend, halb mitleidig. Lesly, du musst sie verstehen! Sie hat ihr Spiegelbild verloren! Das ist, als würdest du einem Menschen seinen Zwilling wegnehmen! Hannah war ihr Leben lang mit ihrem Spiegelbild befreundet, genau wie du! DU musst ihren Schmerz doch deshalb besser verstehen als ich, Lesly! Sie ist doch nur neidisch auf dich! Bitte, vertragt euch!
An dem Punkt war ich völlig ausgerastet. Ich werde ihr NIE verzeihen, Sam! Die anderen machen mich fertig und alles, was du zu sagen hast, ist, dass ich mich mit Hannah vertragen soll?!
Was hat das denn damit zu tun, Lesly? Ich verteidige dich doch! Ich lasse dich nie allein!
Ich schnaubte verbittert. Ja. Weil du nichts zu befürchten hast. Mir ist schon aufgefallen, dass dich die anderen in Ruhe lassen. Ich bin das einzige Ziel, weil Hannah es genauso will.
Sam rang hilflos mit den Händen, war hin und hergerissen zwischen seiner Verliebtheit und seiner Freundschaft zu mir. Ich will doch nur, dass alles wie früher wird … wieder wir drei, Lesly. Hannah, du und ich. Wieso geht das nicht? Sie soll ihre Eifersucht vergessen und alles wieder in Ordnung bringen und du vergisst einfach diese blöden Streiche … bitte! Du weißt, dass sie nicht böse ist! Sie hat das nur getan, weil sie so traurig ist über den Verlust! Und weil dir nicht das Gleiche passiert ist, sondern du noch das hast, was sie verloren hat!
Ich konnte nicht anders. Ich ballte die Faust und schlug ihm auf die Nase – nicht so fest, dass sie gebrochen wäre, aber doch hart genug, dass sie anfing zu bluten. ICH WERDE IHR NIE VERZEIHEN! Du bist so verdammt naiv! Und jetzt verschwinde, Sam! Geh doch zu deiner Hannah, die du ja so gut verstehst!
Lesly ...
VERPISS DICH!
Er wischte sich über die blutverschmierte Nase und zum ersten mal legte Sam seinen Hundeblick ab. Er würde mir nicht mehr treu folgen. Lesly, flüsterte Sam, als würde mich dieses eine Wort zur Vernunft bringen können. Aber als er bemerkte, dass mein Hass auf Hannah zu groß war, wandte er sich traurig ab und ging.
Kurz nach diesem Streit fing iche an, wie eine Irre ein Loch zu graben. Mein erster Gedanke war: Das ist mein Grab, da werde ich mich reinlegen und verrecken! Aber ich gab schon bald auf, als mein Blick wie hypnotisiert zu dem Berg aus Erde wanderte, der durch mein Loch im Boden entstanden war. Ein kleiner Hügel aus braunem Matsch. Wie betäubt streckte ich die Hand aus und bohrte meine Faust seitlich in den Berg. Dann stand ich auf.
Dieser Hügel sah von oben fast so aus wie eine kleine Hobbithöhle ...
Und da drin sind alle Menschen, dachte ich plötzlich hasserfüllt und sprang mit vollem Gewicht auf den Berg, trampelte darauf herum, bis die Erde vollkommen platt getreten unter meinen Füßen lag. Kalt und leblos.
Wahrscheinlich hatte ich alle Regenwürmer umgebracht. Diese armen Dinger.
Ich schüttle den Kopf, um diese unangenehme Erinnerung zu verdrängen und blicke verwundert auf den aufgewühlten Boden unter meinen verdreckten Händen. Wann habe ich mich ausgesetzt? Dieses mal ist es keiner aus braunem Matsch, sondern aus warmem, rot-blau-gelben Sand. In diesem Moment fange ich an zu lachen - laut, ohne über den Lärm nachzudenken, den ich dabei mache.
Wieso, wieso muss ich schon wieder einen Hügel bauen? Will ich mich darunter verkriechen? Das Lachen bleibt mir im Hals stecken und gedankenverloren blicke ich in das dunkelgelbe Loch, das mitten in diesem kleinen Berg klafft. Ich fühle mich genauso einsam und ängstlich wie damals, als Sam mich verließ, für Hannah, die mich verraten hat. Vielleicht habe ich deswegen diesen Hügel gebaut ...
Wenn ich dort hinunterkrieche, wird mich dann einer platttreten?
Ich zerzause wild mein Haar. „Jetzt ist Schluss”, sage ich energisch zu mir selbst.
Ich muss dringend gegen die Einsamkeit etwas tun, sie macht mich offensichtlich verrückt. Ich hatte mir doch vor wenigen Stunden – Monaten, Jahren? Ja, wann eigentlich? – einen Masseur herbei gewünscht. Ich könnte mir doch Brian wünschen? Nun ... nicht den echten Brian, aber eine Kopie von ihm.
Plötzlich erstarre ich erneut. Ein wichtiger Gedanke lässt mein Herz schneller pochen.
Ich bin hier. Ich, obwohl ich eigentlich jenseits dieser Welt mein Leben führen sollte. Dennoch bin ich hier, in der Spiegelwelt, Heimat aller Spiegelbilder! Was, wenn die Spiegelbilder anderer Menschen auch hier sind? Was, wenn noch mehr richtige Leute hier sind?
Unmöglich, denke ich. Ich hätte doch schon irgendjemanden gesehen, wenn es so wäre. Und seit ich zehn geworden bin, habe ich nie wieder einen Menschen getroffen, der mit seinem Spiegelbild reden kann!
Doch was, wenn diese Leute nur so tun, als ob sie es nicht können? Wie ich? Hoffnung keimt in mir auf, als ich meine beiden Hände fest ineinander verschränke und meinen Wunsch klar in meinen Gedanken zu formulieren versuche. Ich möchte dorthin, wo die anderen Spiegelbilder sind! Aber dort soll es auch hell sein, so hell, dass keine Schatten fallen!
Als ich an die Finsternis denken muss, erschauert mein ganzer Körper und meine Fingerspitzen streichen beinahe ängstlich über meinen Bauch. Reiß dich zusammen! Zeige mir die anderen Spiegelbilder, aber an einem hellen Ort ohne Dunkelheit! Ohne diese Kreatur!
Plötzlich erfasst mich Schwindel und ich wanke kurz. Schwarze Punkte flackern vor meinen Augen und verwirrt streiche ich mir mit den Fingerspitzen über die Lider, wie um sie wegzuwischen. Als ich die Hand wieder herunternehme, ist die Wüste verschwunden.
Über mir erstreckt sich tiefe Schwärze, aber keine Bedrohliche. Keine, die irgendwelche festen Konturen verbirgt. Ich spüre, dass sie vielmehr ein Schutz ist, wie eine Decke, die man sich als Kind über den Kopf zieht, um sich vor dem Monster unter dem Bett zu verstecken. Ich bin in Sicherheit, das weiß ich. Was für ein merkwürdiger Ort …
Als ich zu Boden blicke, wäre ich beinahe erschrocken zurückgesprungen - ein Gesicht starrt mit aufgerissenen Augen zurück -, doch der Schreck lässt genauso schnell nach, wie er gekommen ist. Stattdessen steigt Verblüffung in mir hoch. Vorsichtig lasse ich mich zu dem Gesicht nieder, das nicht länger erschrocken dreinblickt.
Der gesamte Untergrund, auf dem ich nun hocke, besteht aus gespiegeltem Glas – soweit das Auge reicht. Ich berühre die kühle Oberfläche und betrachte fasziniert den bläulichen Schimmer, der vom Spiegelboden ausgeht und mein Gesicht mystisch beleuchtet. Langsam, fast wie hypnotisiert, beuge ich mich vor und berühre den Untergrund mit der Nasenspitze, so als hätte ich geahnt, dass der Boden mehr ist als nur ein normaler Spiegel.
„Brian”, flüstert Lesly leise und unsicher. „Ich weiß nicht, ob wir schon so weit gehen sollten...”
Brian streicht ihr liebevoll eine Strähne hinter die Ohren und küsst sie zärtlich auf den Mund. „Ich gehöre ganz dir, Lesly. Alles an mir, vom großen Zeh bis hin zur Haarspitze! Wir können solange warten, wie du willst”, gibt Brian nachdrücklich hinterher und sieht ihr ernst in die Augen. „Solange, bis du bereit bist.”
Das Mädchen sitzt einen Moment wie erstarrt da, dann beugt sie sich vor und schlingt ihre Arme um seinen Hals. „Wir sind jetzt schon so lange zusammen … und so lange wartest du schon auf meine Antwort ... und du kannst das immer noch sagen? Es tut mir so Leid, Brian ... ich weiß nicht, wieso ich solche Angst davor habe ...”
Brian vergräbt sein Gesicht in ihre Schulter und hält sie lange in seinen Armen, bis er endlich antwortet: „Du bist die Eine, Lesly, da bin ich mir ganz sicher. Wenn das Warten bedeutet, dass ich danach für immer mit dir zusammen aufwachen kann, dann bin ich bereit, ewig zu warten.”
Ich zucke vom Spiegel zurück, so als hätte mir jemand vor den Kopf gestoßen. Wir sind jetzt schon so lange zusammen? Was bedeutet das? Und worauf wartet Brian? Auf Sex? Auf … ihr Jawort … ? Kalter Schmerz erfasst mein Herz. Erstickende Sehnsucht. Und Hass ...
„Hast du was Unschönes gesehen, Kindchen?”, fragt es heiser hinter mir. Die Stimme hört sich an, als würde eine Feder über altes Papier kratzen. Erschrocken wirble ich herum.
„Oh Gott, erschrecken sie mich doch nicht so!”, rufe ich aus und atme tief aus, sofort das vergessend, was ich gerade in dem Spiegel gesehen habe. Der plötzliche Schreck hat meinen Herzschmerz einfach weggewischt.
Die Person, zu der die Stimme gehört, entpuppt sich als eine steinalte Frau mit so tiefen Falten im Gesicht, das man glauben könnte, man würde in einen Krater mit tausenden von Erdrissen blicken. Für einen kurzen Moment schießt mir die absurde Frage durch den Kopf, ob die Falten wohl tief genug sind, um Wasser hineinzufüllen ...
„Du hast mich nicht gespürt?”, fragt die Alte verwundert und mustert mich. „Wie eigenartig. Du solltest deine Sensibilität wieder ein bisschen trainieren, Liebes. Ich bin Manba.”
„Lesly”, antworte ich und könnte mir für diese aberwitzige Frage vor die Stirn hauen. Offensichtlich habe ich bereits eine besorgniserregende Stufe von Verrücktheit erreicht.
In diesem Moment wird mir bewusst, dass sie das erste lebende, menschliche Wesen ist, das ich hier treffe. Wie alarmiert springe ich auf. „Manba!!”, schreie ich.
„Schön, dass du dir meinen Namen so energisch merken willst”, meint Manba und runzelt währenddessen die Stirn. Oh mein Gott, auf ihrer Stirn! Der Grand Canyon!
„Manba, du bist der erste Mensch, dem ich hier begegne!”, rufe ich aus und wäre beinahe dazu bereit, sie zu umarmen, hätte ich nicht Angst, dass sie unter meinen Fingern zu Staub zerfallen könnte. „Du weißt nicht, wie glücklich mich das macht, Manba!”
Der Grand Canyon auf ihrer Stirn wird noch höher, als sie antwortet: „Spiegelbild, Liebes. Ich bin ein Spiegelbild. Und was meinst du denn damit, dass ich die erste bin, der du begegnest? Es sind doch fast alle hier.” Manba breitet die Arme aus, so als würde sie alles um sich herum einfangen wollen. „Deine Sensibilität ist wirklich sehr weit unterentwickelt, Kindchen, dass du deine eigenen Geschwister nicht siehst. Schau dich richtig um!”
Ich gehorche und bemerke mit wachsendem Erstaunen, dass um uns herum die Umrisse von Gestalten auftauchen. Man muss nur in einem bestimmten Winkel auf sie blicken, ein bisschen von der Seite, nicht direkt. Dann sieht man sie. Die meisten hocken auf dem Boden, wie ich vorhin, und starren auf die Spiegeloberfläche zu ihren Füßen. Einige stehen einfach so herum. Und zwei sehen mich direkt an – ein kleines Mädchen und natürlich Manba.
Ich kann es nicht fassen. Tränen steigen mir in die Augen, als mein Gehirn registriert, dass ich nicht mehr allein bin in dieser gottverdammten Spiegelwelt. In meinem Herzen geht die Sonne auf und überflutet mein ganzes Bewusstsein mit goldenen, warmen Strahlen. Mein Körper fühlt sich so wohlig an, als hätte ich gerade heiß gebadet.
„Jetzt wein doch nicht, Kindchen ... alles wird gut. Wieso bist du denn so traurig?”
„Als ich hierher gekommen bin”, schluchze ich hemmungslos, „da dachte ich, ich sei allein! Allein mit dieser unheimlichen Kreatur … aber das bin ich nicht! Ihr seid alle hier! Ich bin nicht traurig, ich heule vor Glück! Ich kann es nicht fassen!” Ich fange an zu lachen, so glücklich bin ich. Und gleichzeitig kullern mir die Tränen über die Wangen und tropfen auf den Spiegel. Nicht mehr allein!
Manbas Mimik verzerrt sich vor Schreck. „Du hast den Morul getroffen? Und hast überlebt? Wie ist das möglich?”
„Ü-überlebt?”, kriege ich unverständlich heraus, denn ein Schluckauf schüttelt jetzt meinen Körper. Lachen und heulen gleichzeitig ist keine gute Kombination.
„Der Morul frisst alle Spiegelbilder, die er finden kann”, erklärt das kleine Mädchen mit piesiger Stimme. „Verschlingt sie, mit einem Haps.”
„Also sind wir alle hier die einzigen, die überlebt haben?”, frage ich, nun ebenfalls erschrocken.
"Wir alle hier? Dabei hast du doch noch Augen in deinem Schädel!" Das kleine Mädchen schüttelt den Kopf. „Wir drei sind die einzigen Überlebenden an diesem Ort, obwohl hier so viele von uns sind. Ich dachte die ganze Zeit, Manba und ich wären die Letzten, aber dann bist du aufgetaucht.”
Langsam kapiere ich gar nichts mehr. Mit gerunzelter Stirn deute ich auf die knienden Gestalten. „Ich verstehe das nicht … wie können wir die einzigen Überlebenden sein, wenn doch so viele ...?”
Als Manba und das Mädchen nicht antworten, gehe ich vorsichtig zu einem der Spiegelbilder und hocke mich daneben, während ich behutsam die Hand ausstrecke. Als meine Finger den Arm der Person berühren, dreht sie leicht den Kopf.
„Oh Scheiße!”, schreie ich und stolpere zurück, ehe ich auf meinem Hintern lande. „Gottverdammte Scheiße! Was … was … ?!”
Ich kann den Blick nicht von dem Gesicht der Gestalt wenden, die teilnahmslos auf dem Spiegelboden sitzt: Es besitzt weder Nase, noch Mund, dafür aber weit aufgerissene schwarze Löcher als Augen, so als hätte jemand einfach die Augäpfel herausgerissen ...
Vor Angst und Ekel krieche ich von der Gestalt weg. Das Gesicht sieht aus wie eine Albtraumfratze.
„Der Morul frisst sie”, wiederholt das Mädchen in einer Stimmlage, als würde es mit einem Kind reden. Dabei war es selbst noch ein Kind! „Niemand hat je eine Begegnung überlebt. Der Morul lauert seinen Opfern auf, hält sie fest und saugt sie leer ... und dann tauchen sie mit dieser gruseligen Visage in unserem Zufluchtsort auf. Sie atmen noch, bewegen sich noch, aber sie sind tot.”
„Was?”, frage ich mit krächzender Stimme. Keine Überlebenden? Meine Hand fährt unbewusst zu meinem Bauch. Saugt das Leben aus ihnen heraus ...
Keine Angst, sie hat Zufluchtsort gesagt. Eine Zuflucht, ich bin hier in Sicherheit. Die schwarze Decke wird mich beschützen, solange ich mich darunter verstecke.
„Ehe du dich fragst, wie sie hierher kommen: Wir wissen nicht, wieso die leblosen Hüllen der Opfer ausgerechnet hier erscheinen, nachdem er sie leer gesaugt hat - herbringen kann das Monster sie auf jeden Fall nicht”, sagt Manba.
„Vielleicht sind sie hier, weil wir ihnen helfen sollen ...?”
„Sie sind tot!”, antwortet das Mädchen. „Bist du so blöd oder tust du nur so? Wie oft soll ich mich noch wiederholen? Sehen die da etwa für dich irgendwie so aus, als könne man sie wieder zum Leben erwecken? Warum, glaubst du, spricht keiner der Menschen mit seinem Spiegelbild, hä? Ganz einfach: Weil der Morul schon die meisten Abbilder erwischt hat! Wir können sie nicht zurückholen!"
Sams Stimme hallt in meinem Kopf wider, wie auf Kommando spult mein Gedächtnis seine Worte ab: Hannah hat wirklich mit ihrem Spiegelbild reden können, doch dann, ganz plötzlich, nicht mehr. Sie sagte, da wäre ein Schatten gewesen und dann, von einer Sekunde auf die andere, war ihr Abbild leblos!
Als Manba mein entsetztes Gesicht bemerkt, sagt mit beruhigender Stimme: „Keine Angst, Liebes. Der Morul kann diesen heiligen Ort unserer Toten nur betreten, wenn er hereingebeten oder hergebracht wird. Unser Leben ist sicher. Er wird uns nichts antun können. Er mag schon seit Jahren hinter den letzten Überlebenden der Spiegelbilder her sein, aber hier kriegt er uns nicht!”
Eine leise, böse Vorahnung keimt in mir auf wie ein Schimmelpilz in einer Brotdose. Meine Hand ruht immer noch auf meinem Bauch, mein Körper beginnt wie Espenlaub zu zittern.
„Wir sind hier in Sicherheit”, verspricht die Alte, als sie meine Panik bemerkt. „Du brauchst keine Angst zu haben, Kindchen, wirklich nicht. Solange wir hier bleiben, wird uns nichts geschehen.”
Dieses mal ist die Angst so allumfassend, dass ich nicht einmal weinen kann, geschweige denn, richtig sprechen. „Manba”, flüstere ich. „Sie sterben wirklich mit einem … Haps?” Er saugt aus allen Spiegelbildern das Leben heraus, sobald er sie erwischt. Er kann diesen Ort nur betreten, wenn er hereingebeten oder hergebracht wird …
Oh Gott, nein, bitte, nein!
Manba zuckt die Schultern. „Ich habe es selbst nie gesehen, aber ich glaube meinem kleinen Mädchen. Und ich glaube auch nicht, dass der Morul seine Opfer entkommen lassen würde, es sei denn, er hätte ...” Plötzlich verengen sich ihre Augen alarmiert, als wäre sie soeben auf einen wichtigen Gedanken gekommen. „Er hätte ... Lesly, wie bist du ihm entkommen?”
„Niemand entkommt dem Morul”, flüstert das kleine Mädchen ängstlich und weicht zurück.
In diesem Moment muss ich würgen. Meine Beine halten mich nicht mehr, ich knalle schmerzhaft auf die Knie und kann mich gerade mit meinen Armen noch auffangen. Mein Magen rebelliert, ich schmecke Galle auf der Zunge.
Galle ... und etwas Schleimiges.
Tag der Veröffentlichung: 28.12.2014
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Dies ist ein Gemeinschaftsprojekt - ein Buch, verfasst von vielen Federn. Mitgeschrieben haben:
Talulah mit dem Anfang (Kapitel 1), Saphirregen mit der "besten Fortsetzung" (Kapitel 2), Talulah mit Kapitel 3, ... , ...