Das Leben spielt anders
Der Lärm um mich herum war das erste was ich nach der langen Dunkelheit und Stille wieder bemerkte. Er störte, ich wollte wieder zurück in das angenehme Schwarz. Es umgab mich wie ein warmer sanfter Nebel, gab mir Halt, Ruhe und Geborgenheit. Nichts brachte mich dort aus der Ruhe, ich war nur bei mir. Manchmal kamen aus dem Nichts Schmerzen, sie waren dumpf in meinem Körper und ich konnte nicht genau sagen was mir weh tat, aber ich spürte sie doch deutlich. Es dauerte nie lange, dann waren sie wieder weg und sie waren immer auszuhalten. Warum hatte ich Schmerzen. Ich konnte mich nicht darauf konzentrieren, meist wurde es schnell wieder schwarz und ich genoss wieder die Ruhe. Ansonsten fehlte es mir in diesem Zustand an nichts, zumindest hatte ich das Gefühl. Manchmal bekam ich Besuch und ich freute mich sehr darüber! Fred besuchte mich und Lucy. Fred war mein Mann, beziehungsweise wollten wir bald heiraten und Lucy war meine kleine Tochter. Sie kamen zu mir, immer in sanftes Licht getaucht. Es war, wie wenn sie von diesem Licht begleitet wurden oder schier aus diesem Licht heraustraten. Fred trug Lucy auf dem Arm , so wie sie es liebte, mit dem Gesicht nach vorne, damit sie alles sehen und beobachten konnte. Meine süße Lucy, ein Sonnenkind wie meine Mutter immer sagte. Sie quengelte nur wenn ihr wirklich etwas fehlte, sobald das Problem behoben war, war sie wieder zufrieden und lächelte jeden mit ihren zwei Mäusezähnchen an. Ich war damals erstaunt wie leicht ihre Geburt war. Man hörte ja genügend Horrorgeschichten über die eine oder andere Geburt, aber Lucy flutschte einfach nur so aus mir heraus. Als sie dann der ganzen Welt klargemacht hatte, dass sie es, wie alle Babys, extrem ungemütlich in diesem kalten, hellen Licht fand, und sie warm und mollig auf meinem Bauch lag, war die Welt wieder okay.
Sie hatte unglaubliche Kulleraugen und wenn wir es nicht besser gewusst hätten, konnte man meinen, sie nimmt auch schon alles auf was sie sah. Auch Fred war begeistert von seiner Tochter. Wo und wann er konnte schleppte er sie mit sich herum. Als ich ihn dabei ertappte, wie er mit Lucy auf dem Arm versuchte zwei Bretter zusammen zu schrauben, musste ich schallend lachen und ihm Lucy vorsichtshalber ab, bevor noch jemand verletzt wurde. Nur murrend gab er sie mir und versicherte ,sie beide hätte es schon irgendwie geschafft. Wir waren eine kleine glückliche Familie. Fred war mein Traummann. Unglaublich das es so etwas gab. Man denk ja immer irgendwann trifft man ihn, den einzigen waren Prinzen auf dem weißen Pferd, aber oft wird man enttäuscht. Bei Fred und mir war das ganz anderes und ich war fasziniert wie gut wir uns verstanden und wie tief unsere Liebe war. Wenn Lucy ein Jahr alt war wollten wir heiraten, vielleicht sogar an ihrem ersten Geburtstag. Leider dauerten die Besuche von Fred und Lucy nie lange und ich war immer sehr traurig wenn sie wieder hinter einer Tür verschwanden. Diese Tür verstand ich sowieso nicht. Ich versuchte ihnen zu folgen, aber immer wenn ich dachte, ich hätte die Tür erreicht, löste sie sich in Nichts auf. Manchmal versucht ich nach Fred zu rufen, ihm zu sagen, dass er auf mich warten sollte, aber er schaute mich nur traurig an und verschwand. Dann war es wieder still und ich war traurig und allein. Warum verließen sie mich immer wieder? Dann umhüllte mich dieses helle weiße Licht und ich bekam ein Gefühl von Geborgenheit und Trost und die Traurigkeit lichtete sich, bis sie ganz verschwand. Jetzt konnte ich wieder gemütlich in meinen dunklen Dämmerzustand hinüber gleiten. Ich verstand das alles nicht, ich hatte aber auch nicht die Kraft den Dingen auf den Grund zu gehen. Es war einfach so und ich akzeptierte es. Dieser Zustand hielt nicht für immer, auch wenn ich es mir gewünscht hätte.
Langsam wechselte die Dunkelheit in ein sanftes Grau über. Ich hatte jetzt eher das Gefühl, dass ich in einem See schwamm und von ganz tief unten immer näher der Wasseroberfläche entgegen kam. Es fühlte sich alles träge und schwer an. Auch konnte ich in dem trüben Wasser nichts sehen, aber irgend etwas zwang mich nach oben, zum Licht.
Ich nahm Geräusche wie durch Watte war. Sie hörten sich an wie Geschirrgeklapper, manchmal ging eine Tür auf und zu. Alles andere konnte ich nicht zuordnen. Ab und zu waren da auch Stimmen, manche flüsternd, manche lauter. Doch ich konnte dem Inhalt der Gespräche nicht folgen. Nach einiger Zeit bemerkte ich, das mich Fred und Lucy weniger besuchten, je öfter ich die Geräusche und Stimmen wahrnahm. Also versuchte ich den Geräuschen keine Beachtung zu schenken, aber es klappte nicht. Ich hatte das Gefühl, der Lärm zog an mir in die eine Richtung und die Dunkelheit und die Besuche von Fred und Lucy zogen mich in die andere Richtung. Ich konnte es nicht verstehen, aber durch irgendetwas entfernten sich Lucy und Fred von mir und ich konnte sie nicht halten. Eines Tages waren Fred und Lucy dann ganz verschwunden und kamen auch nicht wieder. Das letzte mal als sie bei mir waren, brannte sich in meine Erinnerungen ein.Sie standen an dieser verdammten Tür und gingen nicht wie sonst zu mir. Fred sah unglücklich aus, aber ich konnte seine Liebe zu mir förmlich sehen und spüren. Ich wollte ihn in die Arme nehmen und fragen was los sei, kam aber nicht zu ihm. Lucy dagegen sah aufmerksam in meine Richtung, so als wenn sie etwas schönes entdeckt hatte. Dann sah sie ihren Vater fragend an. Er nickte aufmunternd. Als sie mich wieder ansah, huschte kurz ein Schatten über ihr kleines Gesicht, bevor sie mich anlächelte und fest zu Winken begann. Fred winkte nun auch und lächelte. Seine Lippen formten die Worte: „Ich liebe Dich“ . Dann drehte er sich mit Lucy im Arm um und sie gingen wieder durch die Tür. Diesmal für immer.
Ich wollte hinterher, ich hatte genug von diesem Spiel, sie sollten bei mir bleiben. Ich wollte mit Lucy spielen, doch mein Körper fühlte sich an wie Blei. Ich war unfähig mich zu bewegen. Verzweifelt rief ich nach Fred, aber weder er noch Lucy kamen wieder. Nie mehr.
Wieder umhüllte mich das warme Licht und umschloss mich mit Geborgenheit. Aber diesmal blieb eine Traurigkeit in mir, die das Licht nicht wegnehmen konnte, denn ich wusste ich hatte Fred und Lucy verloren, warum konnte ich nicht sagen.
Wochen später:
Ich saß in meinem Rollstuhl und starrte in den Novembermorgen. Der Psychologe der Rehaklinik in die sie mich gebracht hatten, ließ auf sich warten. Die Klinik war okay. Alle waren sehr freundlich und nett. Jeder gab sich sehr Mühe mit mir, einschließlich meiner Eltern die mich oft besuchten. Mein Zimmer hatte einen wunderbaren Blick auf die Berge, das Essen war für Kantinenessen ganz passabel. Nur das ich von dem Ganzen nicht wirklich viel mitbekam. Ich war nicht mehr ich, nur noch eine Hülle von dem was ich eine mal war. Ich existierte nur noch, weil es scheinbar extrem schwer war, einfach zu sterben. Ich hätte es zu gerne getan. Ich wollte nicht mehr hier sein, was hatte das Leben mir noch zu bieten außer Qualen, seelische wie auch körperliche. Manchmal wenn ich abends in meinem Bett lag, betete ich zu Gott er möge mich nicht mehr aufwachen lassen. Mich erlösen aus diesem grausamen, schlechten Theater. Er hat es nicht getan. Nie! Ich fragte mich, ob es überhaupt einen Gott gab.
Die Tür flog auf und herein kam Doktor Berens. „Hallo Frau Schirner!“ Er war immer so verdammt gut gelaunt, sah immer aus, wie aus dem Ei gepellt und schien auf der Sonnenseite des Lebens zu stehen. Ich war echt genervt von so viel Freude und Spaß die er verbreiten wollte. Das Leben hatte keinen Spaß mehr für mich übrig. Der Psychologe wollte mich gerne dazu bringen mich wieder komplett zu fühlen. Aber dazu hätte ich zuviel Schmerz, Verzweiflung und Wut zulassen müssen. Ich hätte es nicht ertragen. Die große Leere kam an dem Tag als Lucy und Fred sich verabschiedeten und ich aus dem Koma, in dem ich seit einigen Wochen gelegen hatte, erwachte. Der Lärm den ich immer als so unangenehm empfunden hatte, wurde mit der Zeit immer lauter. Das lag daran, das sie die Medikamente, die mich im künstlichen Koma hielten, um meinen ledierten Kopf heilen zu lassen, schrittweise herabgesetzt hatten. Je weniger Medikamente ich bekam, umso mehr konnte ich die Umwelt wahrnehmen. Ich konnte auch den Stimmen um mich herum immer besser folgen und sie sogar Personen zuordnen. Es schienen Ärzte und Schwestern zu sein. Ich verstand sogar was sie sagten, konnte mich aber nicht bemerkbar machen.
Als ich das erste mal meine Augen öffnete wurde ich von grellem Licht geblendet. Ich dachte jemand hätte über meinem Kopf eine riesige Lampe angemacht. Ich versuchte dem Licht auszuweichen und machte die Augen wieder zu, doch als ich sie wieder öffnete war es noch schlimmer. Zuerst auf dem einen Auge, dann auf dem anderen. „Hallo Frau Schirner, können sie mich hören.“ Jemand sprach mich mit sehr deutlicher Stimme an. „Wenn sie mich hören können, drücken sie bitte meine Hand!“ Hand ? Welche Hand bitte schön? Da bewegte sich etwas an meiner rechten Seite und ich vermutete das ich das drücken sollte. Aber auch das viel mir schwer, irgendwie hatte ich keine Ahnung mehr wie ich meinen Körper kontrollieren konnte. Ich spürte das ich da war, aber wo meine Füße, meine Arme und Beine anfingen und aufhörten war mir schleierhaft. Geschweige denn, das ich sie bewegen konnte.
Ich war da, ich fühlte mich, aber ich konnte nicht sagen, wo meine Hand war und jemanden damit drücken? Wie bitte! Ich geriet in Panik.
„Ganz ruhig, es ist alles okay, das ist normal im ihrem Zustand.“ Sprach der freundlich Mann, der gerade schon mit mir gesprochen hatte, beruhigend auf mich ein. „Machen sie einfach einmal die Augen auf und zu, wenn sie etwas verstanden haben.“ Ich machte meine Augen einmal auf und zu. Wenigstens das funktionierte und ich versuchte mich zu beruhigen, was mir nur schwer gelang. „ So ist es gut!“ lobte er mich. Langsam kamen meine Augen mit der Helligkeit zurecht und ich erkannte neben meinem Bett auf dem ich lag einen freundlich dreinblickenden Arzt, eine Schwestern und einen Pfleger. „ Sie hatten einen Unfall Frau Schirner, verstehen sie mich?“ Ich sagte wieder mit meinen Augen „Ja“. Was, wie bitte, ich hatte einen Unfall? Wann und wieso? Scheinbar war ich verletzt, sonst würde ich nicht hier liegen. Ich wurde wieder unruhig, zu viele Fragen schwirrten in meinem Kopf herum und ich merkte wie ich dadurch immer schwächer wurde.
„Ganz ruhig“, versuchte mich der Arzt zu beruhigen. „ Ich erkläre ihnen alles. Sie waren lange im Koma, aber nun wollen wir sie wieder bei uns haben, gell!“ der Arzt lachte fröhlich, die Schwester lachte mit.
„Ihr Kopf hat einiges abbekommen, wir mussten sie operieren, deshalb kommen sie mit ihrem Körper noch nicht ganz klar. Aber in einiger Zeit wird das schon besser sein. Jetzt erholen sie sich erst mal und dann sehen wir weiter!“ Er tätschelte mit seiner Hand an mir herum. Ah, da war meine Hand, ich freute mich sie wieder gefunden zu haben. Der Arzt wandte sich der Schwester zu. Sie redeten einiges über Medikamente und Therapie, ich verstand nicht wirklich viel. Wollte ich auch nicht, denn ich war damit beschäftigt, das zu verarbeiten, was ich gerade gehört hatte. Ich hatte einen Unfall? Wieso denn und wann?
Was war mit mir passiert? Und was ist mit Fred und Lucy? Mir schwirrte der Kopf. Ich fühlte mich hilflos und hatte so viele Fragen. Ich wurde müde und nickte ein. Diesmal war es aber anders, ich merkte deutlich den Unterschied zu dem Zustand im Koma. Jetzt schlief ich und wachte wieder auf. Im Koma hatte ich das Gefühl das der Schlaf und das Wachsein, ein und das selbe waren. Als ich wieder aufwachte, konnte ich mich wieder daran erinnern, wo und warum ich hier war. Ich begann meinen Körper zu erkunden. Es war mühsam und anstrengend und ich schlief wieder ein. So vergingen die Tage. In den Phasen in denen ich wach war, versuchte ich wieder Herr über meinen Körper zu werden. Es gelang mir bis auf meine Beine ganz gut. Mit viel Geduld gelang es mir, das ich wenigstens selbständig in den Rollstuhl kam. Essen und Reden kamen schneller wieder in Schwung. Nur meine Beine wollten nicht immer das tun was ich von ihnen wollte. Nach den Stunden bei der Physiotherapie schlief ich immer sehr erschöpft ein. Alleine Essen, mich Waschen und Anziehen, das alles war ein nicht enden wollendes Trainingsprogramm. Und immer die Ungewissheit, was mit Fred und Lucy los war. Ich bekam nur vage Antworten und Ausflüchte.
Als man mir sagte, was wirklich geschehen war, warf mich das in meiner Genesung um Meilen zurück. Auf meine Fragen wo Fred und Lucy waren und warum sie mich nicht besuchten, wichen alle aus. Meistens war die Antwort, ich sei noch nicht fit genug. Das stimmte, ich war wirklich nicht fit genug, aber nicht dafür, das Fred und Lucy mich besuchen konnten. Nein ich war zu schwach um definitiv nach zu haken was mit ihnen los war. Und wenn ich ehrlich bin, tief in meinem Inneren wusste ich was los war, aber ich verdrängte es. Denn es konnte nicht sein, das sie mich wochenlang nicht besuchten, wenn sie okay gewesen wären.
Nach drei oder vier Wochen kam mein Arzt mit meinen Eltern und dem Krankenhauspsychologen in mein Zimmer. Ich hatte gerade gefrühstückt und war froh es alleine geschafft zu haben.
Erwartungsvoll schaute ich von einem zum anderen. Ich war überrascht, was wollten sie alle bei mir und um diese Zeit? Visite war normalerweise am Nachmittag. Bevor sie sich vor meinem Bett aufbauten, begannen sich meine Nackenhaare zu sträuben und mein Frühstück dreht sich in meinem Magen um.. Als hätte ich eine Vorahnung von dem was nun kommen würde. Alle waren sehr ernst und meiner Mutter standen die Tränen in den Augen.
„Was ist los?“ fragte ich. „ Ist was passiert, ist was mit Lucy und Fred?“
„Tja Frau Schirner,“ Begann der Arzt. „ es fällt uns nicht leicht, aber es gibt etwas, was wir noch mit ihnen besprechen müssen.“ Er zögerte, aber auch ihm war klar, das er es mir sagen musste. In mir baute sich eine unglaubliche Spannung auf. Es kribbelte in meinem Magen, wie wenn man beim Zahnarzt sitzt und auf seine Behandlung wartet. Es war mir klar, das er mir nicht `s Gutes zu sagen hatte. Er nahm mitfühlend meine Hand und sprach weiter. „ Es ist so, dass der Unfall, den sie hatten leider nicht nur sie betroffen hat.“ Er redete langsam und man merkte es ihm an, es war eine unangenehme Situation für ihn. Alle anderen schauten betreten, meine Mutter schniefte in ihr Taschentuch. „Es waren leider ihre Tochter und ihr Mann auch in dem Auto.“ Trotzdem das ich es schon innerlich vermutet hatte, traf es mich wie ein Schlag. Jetzt war es raus und Realität. Deshalb kamen sie mich nicht besuchen. Deshalb die Ausflüchte meiner Eltern, wenn ich nach den Beiden fragte. Der Arzt bestätigte mir alles. Fred und Lucy waren tot, gestorben bei dem Umfall, der nur mich alleine überleben ließ. „ Nein, nein !“ ich blickte verzweifelt von einem zum anderen. Mir zog es den Boden unter den Füßen weg, alles drehte sich in einem unheilvollen Strudel. Ich wollte Stopp schreien und das Leben anhalten um es wieder gerade zu rücken. Doch es drehte sich unaufhaltsam und erbarmungslos weiter.
„Es tut mir so leid, Tara!“ meine Mutter nahm mich behutsam in den Arm. In meinem Kopf schien alles zu explodieren, meine Eingeweide begannen sich zu verkrampfen und ich wusste nicht wohin mit mir und meinen Gefühlen. „Das glaub ich nicht, bitte, bitte sagt das, das nicht stimmt. Sie sind noch da, ganz sicher.“ Alle standen betreten vor meinem Bett und keiner sagte etwas. Es schien mir wie eine Ewigkeit, als endlich der Psychologe das Wort ergriff: „Frau Schirner ich möchte ihnen dabei helfen, damit fertig zu werden. Ich komme zweimal am Tag zu ihnen und sehe nach wie es ihnen geht. Wir können über alles reden.“ Der Psychologe meinte es sicher gut, aber ich war nicht fähig auch nur im geringsten zu kapieren was er meinte. „Ich komme morgen wieder zu ihnen.“ Er sah mich mitfühlend an. Tränen rannen über mein Gesicht als ich aufsah. „Über was reden?“ Hörte ich mich fragen. Ich wusste nicht ob ich überhaupt je wieder reden konnte. Ich fühlte mich wie zugeschnürt. „Wir werden sehen.“ Meinte er und schlich sich leise mit dem Arzt raus. Ich weinte verzweifelt vor mich hin. Meine Mutter wiegte mich im Arm. „Wie ist das passiert?“ stammelte ich nach einiger Zeit.
Auch meine Mutter weinte: „ Es war Sonntag und ihr wolltet zu Freds Eltern fahren. Ihr wart fast schon da, da überholte ein Auto aus dem Gegenverkehr und ihr konntet nicht mehr ausweichen. Fred und Lucy waren sofort tot.“ Sie stockte kurz. „ Du hast nur mit Glück überlebt?“
Ich sah sie ungläubig an: „Mit Glück?“ Ich hätte sie am liebsten angeschrieen.
„Tara, ich weiß!“ Mit Tränen in den Augen sah sie mich an und nahm meinen Kopf in ihre Hände. „ Niemand kann dir dieses Leid nehmen, aber dein Vater und ich sind froh dich noch zu haben. Wir lieben dich !“ Ich hatte keine Kraft um etwas zu sagen, und der Schmerz und die Trauer nahmen mir den Atem. Ich weiß nicht wie lange ich in den Armen meiner Mutter geweint habe, irgendwann bin ich eingeschlafen. Als ich aufwachte war sofort alles wieder da. Fred und Lucy gab es nicht mehr. Ich versuchte es zu verstehen, doch alles in mir sträubte sich. Plötzlich traf es mich wie ein Schlag. Fred und Lucy waren im Koma bei mir gewesen und hatten sich verabschiedet. Das konnte nicht sein. Sowas gab es doch nicht. Ich hatte solche Geschichten nie geglaubt, ganz klar die Leute hatten sich sowas nur eingebildet. Wenn man sich etwas so sehr wünscht, dann konnte einem die Phantasie schon mal einen Streich spielen. Aber ich,... Ich konnte mir das nicht gewünscht haben, ich wusste nicht, das Fred und Lucy tot waren. Immer wieder rief ich mir die Momente in denen sie bei mir waren ins Gedächtnis. Ich wollte sie nicht vergessen.
Das volle Ausmaß meines Schmerzes kam aber erst Tage später, als mir immer bewusster wurde, was das alles bedeutete. Fred und Lucy gab es nicht mehr. Mein Leben war von der einen Minute auf die andere ein anderes geworden. Es kam mir vor, wie wenn jemand meine Lebensuhr um Jahre zurückgedreht hatte. Keine kleine Familie, keine Geburt, kein Verlieben und Geborgenheit. Alles auf Anfang und ohne Fred und Lucy. Ich verbrachten Stunden damit mir die letzten Tage mit ihnen noch mal Reveue passieren zu lassen. Was hatte ich zuletzt zu Fred gesagt? Was hab ich zuletzt mit Lucy gespielt? Wann hatte ich sie zuletzt im Arm gehalten, sie gestreichelt? An den Unfalltag konnte ich mich nur vage erinnern. Ich wusste noch, wie wir ins Auto stiegen. Wie ich Lucy anschnallte und wir losfuhren. Fred war immer ein umsichtiger Autofahrer. Selbst wenn er es eilig hatte fühlte man sich sicher wenn er fuhr. Alle bestätigten mir, das er nicht zu schnell gefahren war, wir hatten einfach keine Chance gehabt, als das andere Auto in uns hinein fuhr. Unaufhaltsam begann eine unglaubliche Wut in mir zu kochen. Als meine Eltern mich besuchen kamen saß ich eines Tages wutentbrannt in meinem Bett. Ich funkelte sie aus zusammen gekniffenen Augen an: „Wer war der Fahrer!“ zischte ich. Erschrocken sahen mich meine Eltern an: „Tara Kind was ist denn.“ Meine Mutter setzte sich vorsichtig zu mir und nahm meine Hand. „Wer hat Fred und Lucy umgebracht?“ schrie ich. Meine Eltern sahen sich hilflos an. Bis mein Vater das Wort ergriff: „Es war ein junger Mann, der vor dem Unfall schon mehrere Autos überholt hatte.“ „Und was ist ihm passiert?“ zischte ich zwischen zusammengebissenen Zähnen. „ Er wurde nur leicht verletzt.“ Man hörte meinem Vater an wie sehr ihn das Ganze mitnahm. Doch es erreichte mich nicht. Meine Wut wurde nur noch größer. Dieser Mistkerl hatte überlebt und Fred und Lucy waren tot. Hätte ich gekonnt hätte ich alles was ich erreichen konnte um mich geschmissen. Doch leider wollten mir meine Arme und Hände dabei nicht helfen. Daher schrie ich das ganze Krankenhaus zusammen. Als die Schwestern sich keinen Rat mehr wussten holten sie den dienst habenden Arzt, der mich ausknockte. Sie mussten mich festhalten, damit er mir die Spritze setzten konnte. Von da an bekam ich täglich meinen Cocktail um nicht komplett unter die Räder zu geraten. Ich hasste es auf der einen Seite in dumpfe Lethargie zu versinken. Andererseits war sie mir willkommen. Irgendwann war ich so weit, um in die Rehaklinik verlegt zu werden, doch ich rutschte immer mehr in ein schwarzes Loch. Es hatte nichts mehr einen Sinn. Warum sollte ich mich mit meinem Körper quälen? Ich hatte mir immer vorgestellt, wenn ich wieder laufen konnte, was ich dann mit Lucy alles machen konnte. Auf den Spielplatz gehen, Puppen spielen, Rad fahren, alles mögliche. Das spornte mich an. Ich wollte mit Fred endlich wieder zum Klettern gehen, was er sich schon so lange gewünscht hatte. Das alles war jetzt nicht mehr wichtig, ich hatte keinen Grund mehr mich zu quälen. Dementsprechend machte ich auch kaum noch Fortschritte. Dabei bemühten sich alle sehr um mich, jeder noch so kleine Erfolg meiner Genesung wurde von Ärzten, Schwestern und vor allem von meinen Eltern hoch gelobt. Mir war alles egal. Meine Eltern waren unermüdlich, besuchten mich täglich, erzählten mir Neuigkeiten, machten mit mir Übungen und ließen mich so weit es ging an ihrem Leben teilhaben. Als ich in die Rehaklinik kam ging das natürlich nicht mehr so oft, aber als ich fitter wurde, holten sie mich ein oder zwei Mal für einen Nachmittag zu sich nach Hause. Als ich nur gelangweilt in ihrem Garten saß, brachten sie mich wieder frustriert zurück.
Hätte ich mich gefühlt, dann hätte ich auch Gefühle für sie empfinden können und sie hätten mir leid getan.
Kaum jemand schaffte es mich aus meiner Lethargie heraus zu holen, geschweige denn menschliche Reaktionen zu bekommen. Freunde und Verwandte besuchten mich. Aber auch die Besucher wurden weniger, ich war in dieser Zeit nicht gerade eine lustige Gesellschaft.
Die Stunden die ich beim Psychologen verbrachte, saß ich wie jetzt in meinem Rollstuhl und gab freundlich Antworten. Meine gute Kinderstube hatte ich ja doch nicht vergessen. Natürlich wusste ich was er hören wollte. Ich spielte das Spiel mit, denn irgendwann wollte ich aus dem Krankenhaus wieder raus. Mir war natürlich klar, das sie mich mit Depressionen nicht so schnell aus der Klinik lassen würden. Langsam ging mir der Krankenhausalltag auf den Wecker. Das war wenigsten eine andere Form des Ansporns. „Na wie geht `s uns denn heute?“ fragte mich Doktor Berens erwartungsvoll. Er hoffte das seine Behandlung doch irgendwann Früchte tragen würde. Ich sah ihn ungläubig an, war das sein Ernst? Meine Tage änderten sich nicht, Fred und Lucy kamen nicht wieder. „Na, ja.“ Mehr brachte ich nicht raus. „Ich möchte heute mit ihnen zu dem Tag zurück gehen, an dem der Unfall passierte.
Es ist wichtig, damit sie sich wieder ihrer Gefühle bewusst werden.“ Er sah mich unsicher an, denn ich war nicht eine der Patienten, die mit allem einverstanden waren, was er vorschlug. Und auch heute hatte ich darauf keine wirkliche Lust. „Also ich weiß nicht, ...“ ich ließ den Satz einfach in der Luft hängen. „ Aber wenn sie unbedingt meinen,“ ließ ich mich nach einem kurzen Moment überreden. Da musste ich wohl oder übel mal durch. Ich versuchte mich so gut es ging zu wappnen und baute innerlich eine Mauer auf. Das half mir über unangenehme Sitzungen hinweg. Ich machte zu, vergrub meine Gefühle und begann zu schauspielern. Ich war noch zu labil, den Schmerz, die Verzweiflung und die Wut zuzulassen. Ich konnte es dem Psychologen nicht sagen , wie es ist wenn ich an meine kleine Tochter dachte, denn ich dachte nicht mehr an sie. Ich konnte ihm nicht sagen wie es sich anfühlte, wenn ich Fred nicht mehr an meiner Seite hatte, denn auch an ihn dachte ich nicht mehr. In den ersten Tagen nach dem ich wusste, dass sie tot waren, konnte ich nicht mehr aufhören zu weinen. Bis sie mir Medikamente gaben, damit ich nicht komplett unter die Räder kam. Die Pillen machten mich müde und schläfrig, aber der Schmerz wurde erträglicher. In dieser Zeit beschloss ich nicht mehr an Fred und Lucy zu denken. Ich blendete die Zeit vor dem Unfall komplett aus, was aber zur logischen Folge hatte, das ich in meiner Trauer stecken blieb. Allen anderen war es klar wie es um mich stand, nur ich lebte in meiner Blase aus dumpfer Lethargie, und versuchte so zu überleben.
Eines Tages war es dann doch so weit, dass ich aus dem Krankenhaus und der Reha-Klinik entlassen wurde. Ich war nicht mehr dauernd auf den Rollstuhl angewiesen und man prophezeite mir, wenn ich so weiter machte, dass ich bald selbstständig wieder laufen konnte. Ich melde mich selber bei einem Physiotherapeuten in der Nachbarstadt an, von dem man nur Gutes hörte.
Ich sollte auch weiter Stunden bei einem Psychologen nehmen, oder immer wieder ins Krankenhaus dazu kommen. Das ließ ich aber dann doch bleiben. In dieser Zeit besuchte mich in meinen Träumen oft das helle Licht wie ich es schon aus dem Krankenhaus kannte. Es umhüllte mich wieder und manchmal dachte ich es redete mit mir jemand, ich konnte aber nichts verstehen. Morgens wachte ich dann meistens besser gelaunt auf, als an den Tagen ohne diese Träume.
Da ich noch nicht ganz selbstständig war, zog ich zu meinen Eltern in mein altes Zimmer. Alles auf Anfang. Unser kleines Häuschen blieb leer und keiner traute sich daran was zu ändern, geschweige denn mich zu fragen was mit den Sachen darin passieren sollte. Nur einige wichtige Dinge ließ ich von meinen Eltern holen. Ebenso erledigten sie alle formellen Dinge. Ich wusste lange nicht wo Fred und Lucy beerdigt waren, denn ich lag ja im Koma als die Beerdigung statt fand. Die Tage plätscherten so dahin, ich übte fleißig das Laufen und versuchte meinen Eltern nicht zu sehr Sorgen zu machen, sie hatten mit mir schon genug am Hut.
Nach einigen Wochen machte mein Vater den Vorschlag, einen Ausflug zu machen und den ersten schönen Frühlingssonntag nutzten wir dazu. Bevor wir losfuhren hatten wir eine kleine Diskussion darüber, ob ich meine Krücken nun mitnehmen sollte oder nicht. Den Rollstuhl brauchte ich schon länger nicht mehr und nur ab und zu auf weiten Strecken nahm ich die Krücken mit. Ich fühlte mich gut und kräftig genug um auch ohne die Dinger zurecht zukommen. Die Diskussion endete damit, das wir sie im Kofferraum verstauten und sie dort auch blieben.
Meine Mutter plapperte die ganze Autofahrt lange wie schön das Wetter sei, wie schön die Blumen schon blühten und so weiter und so weiter. Einerseits war ich genervt, wie immer wenn meine Mutter unsicher war, redete sie und redete sie.
Andererseits musste ich auch in mich hineinlachen. Ich glaube sie genoss diesen Ausflug von ganzem Herzen und ich muss zugeben, ich empfand auch so etwas ähnliches wie Freude. “Auf was haben denn meine Damen heute zu Mittag Hunger?“ fragte mein Vater vergnügt. „ Hm ich weiß nicht Tara, was meinst du ?“ meine Mutter grinste mich an. Das war ein Spiel, das wir immer in meiner Kindheit gespielt hatten, wenn wir einen Ausflug machten. Eigentlich war klar, dass meine Mutter und ich beide Schweinebraten mit Knödel liebten, aber wir zierten uns zum Spaß immer ein bisschen. Bis mein Vater übertrieben genervt entschied und streng verkündete. „So, wenn ihr Euch nicht einigen könnt, dann entscheide ich Schweinebraten mit Knödel und basta.“ Unsere Aufgabe war dann, lachend zu protestieren. Wir hatten einige Probleme ein Restaurant zu finden. Es war noch früh im Jahr und viele der Ausflugslokale hatten noch nicht geöffnet. Italiener und Griechen hatten selten Schweinebraten auf der Karte, aber nach einigem Suchen fanden wir ein kleines bäuerliches Lokal. Wir suchten uns ein gemütliches Plätzchen. Am liebsten hätte ich ein ordentliches Bier bestellt, traute mich aber wegen meiner Medikamente nicht so wirklich. Apfelschorle tat `s auch. Der Schweinebraten war ein Gedicht und wir unterhielten uns prächtig. „Wie sieht `s aus Tara hast du nicht Lust wieder ins Berufleben ein zusteigen? So irgendwann, hm?“ fragte mich plötzlich mein Vater.
„Oh!“ ich war überrascht, ich hatte mir eigentlich noch keine konkreten Gedanken darüber gemacht. „Ich weiß noch nicht so recht, aber ich könnte schon wieder was machen, denk ich. Vielleicht in einem Kindergarten oder so.“
„Meinst du, dass das nicht noch zu anstrengend ist für dich.“ Meine Mutter sah besorgt von einem zum anderen. „Also ich finde du solltest dir noch ein bisschen Zeit lassen.“ Sie sah vorwurfsvoll meinen Vater an.
„Ach, sie sollte es einfach irgendwann ausprobieren, wenn es nicht klappt, dann kann sie ja wieder aufhören. Dazu ist doch die Probezeit da oder?“ er lächelte mich aufmunternd an.
„Vielleicht suchst du dir was anderes als mit Kindern zu arbeiten, ich meine ...“ meine Mutter blickte mich unsicher an. Aber ich verstand was sie meinte. Ich lächelte sie beruhigend an und begann zu überlegen. Ich saß wirklich viel herum und beschäftigte mich mit Kleinkram. Wieder einer geregelten Arbeit nach zugehen war vielleicht wirklich kein schlechter Gedanke. Allerdings war ich mir so spontan natürlich nicht im Klaren was ich tun könnte und ob ich überhaupt wieder mit Kindern arbeiten wollte. Sie erinnerten mich doch nur an Lucy. Andererseits war es immer das was mir am meisten Spaß gemacht hatte und was ich am besten konnte. „ Ich glaube, ich such mir was! Das ist vielleicht gar keine so schlechte Idee.“ Ich lächelte. Wenn meine Mutter auch berechtigte Einwände hatte, so wäre es natürlich auch wieder ein Schritt zum normalen Leben. Damit war das Thema erst einmal vom Tisch und nach einem kleinem Nachtisch zahlten wir und machten uns zu einem Spaziergang auf . Richtig wandern wollte ich noch nicht ausprobieren, aber die eineinhalb Stunden spazieren gehen waren kein Problem und taten mir gut.
Als es langsam kühler wurde gingen wir zum Auto und fuhren nach Hause. Da es das erste schöne Wochenende war, war mehr Verkehr auf der Straße als wir vermutet hatten. Ich saß kaputt auf der Rücksitzbank und hing meinen Gedanken nach, als ich abrupt hin und her gerissen wurde. Der Gurt hielt mich fest und unser Auto schlingerte hin und her. Mein Vater fluchte und konnte mit Müh und Not das Auto auf der Straße halten. Es hatte ein Auto aus dem Gegenverkehr überholt und mein Vater konnte gerade noch ausweichen. Ein Schreck für meine Eltern und für mich die Hölle. Es war schlagartig alles wieder da.
Der Unfall als Fred und Lucy starben. Ich sah das fremde Auto auf uns zukommen. Fred rief „Scheiße“, ich dachte nur „Oh Gott“ und spürte Angst in mir aufsteigen, Todesangst. Dann schlug das Auto auch schon dumpf in unseres ein. Um mich wurde es schwarz, oder doch nicht? In meiner Erinnerung überschlugen sich die Ereignisse, aber eines sah und spürte ich deutlich: Das helle Licht war damals auch da und umhüllte mich. Ich konnte Fred stöhnen hören, er hatte vermutlich schreckliche Schmerzen. Manchmal flüsterte er etwas oder fragte mich ob es mir gut ging. Von Lucy hörte ich nichts. Die Ärzte erkärten mir später, sie sei sofort tot gewesen. Der Einschlag war so heftig gewesen, das ihr kleines Genick dem nicht stand halten konnte.
Alles war wieder da, alles was ich durch Schock, Schmerz und Verzweiflung weggeklickt hatte. Ich fragte mich warum ich nicht auch einfach hatte sterben dürfen. Meine Uhr war wohl noch nicht abgelaufen.
Mein Vater schaffte es das Auto unter Kontrolle zu bekommen. Meine Mutter stöhnte erleichtert auf. Und ich? Ich schrie, ich konnte nicht anderes. Ich fühlte wie die Kruste über meiner Wunde aufriss und der Schmerz, die Verzweiflung, die Einsamkeit und Wut alles auf einmal rausfloss. Ich schrie und schrie und schrie.
Meine Eltern sprangen aus dem Auto, zogen mich raus und redeten beruhigend auf mich ein. Ich schrie, Tränen liefen über meine Wangen. Alle Bemühungen mich zu beruhigen scheiterten, teilweise schlug ich um mich und ließ mich nicht berühren. Mein Vater setzte dem Ganzen aus lauter Hilflosigkeit ein hartes Ende. Er knallte mir eine. Ich hatte als Kind selten, aber doch mal die eine oder andere gefangen, doch diese Ohrfeige saß und hatte den Effekt das ich wimmernd im Gras neben dem Auto zusammen sackte. Mein Vater kniete neben mir und entschuldigte sich dauernd. Er hielt mich im Arm und wiegte mich wie ein kleines Kind hin und her.
Meine Mutter umarmte uns beide und weinte still vor sich hin. Wann würde diese Hölle endlich überstanden sein? Nach einigen Anläufen und viel gutem Zureden, ließ ich mich wieder ins Auto verfrachten. Meine Mutter saß mit mir hinten auf der Rücksitzbank und hatte mich im Arm. Wir fuhren nach Hause. Ich schaffte es mich langsam zu beruhigen und schlief ein. Als wir zuhause ankamen ging ich sofort in mein Bett. Der Schmerz in mir war unglaublich, ich hatte das Gefühl in mir sei alles zersprungen, wieder einmal Ich war körperlich wieder fast ganz hergestellt, doch meine Seele war noch immer verletzt. Jetzt wo ich es deutlich spürte wurde mir sehr schnell klar, das ich mir Hilfe holen musste um nicht verrückt zu werden.
Meine Mutter rief bei einem Psychologen an, der mir von der Klinik empfohlen wurde und bekam sofort einen Termin. Ich war froh nicht wieder in eine Klinik zu müssen. Ein paar Tage später wachte ich Nachts auf, weil ich dachte jemand sei in meinem Zimmer. Ich öffnete die Augen und alles im Zimmer schien zu leuchten. Ich hörte eine sanfte Stimme. „Tara, es ist Zeit. Nimm deine Trauer, schau sie an, aber beginne wieder dein Leben zu leben, gehe deinen Weg.“
„Wie bitte welchen Weg denn ?“ ich war einigermaßen irritiert. „Du weißt es ist Zeit, dein Leben ist noch lange und schön, und ich bin bei Dir und helfe dir. Glaub mir du schaffst es.!“ Am nächsten Morgen wachte ich auf und war mir nicht sicher, ob ich geträumt hatte oder das was ich erlebt hatte Wirklichkeit war. Dennoch spürte ich tief in mir, jetzt musste ich, nein ich wollte reden. Ich wollte meiner Wut freien Lauf lassen. Ich kam mir vor wie ein Vulkan, der nicht aufhörte Asche, Steine und Lava zu spucken. Die Lava waren meine Tränen, die Asche meine Depressionen, die langsam verschwand wie zäher Nebel und die Steine waren meine Angst, meine Wut, meine Verzweiflung und Schmerz. Erst wenn ich all das ausgespuckt hatte, das merkte ich jetzt, würde ich weiter leben können. Meinen Eltern wollte ich das weitgehend nicht antun. Sie hatten mit mir schon genug ertragen. Da sie selber um Fred und Lucy trauerten, konnte ich sie nicht auch noch damit belasten, über das was passiert war zu reden. Ich musste selber einen Weg finden um alles los zu werden. Dafür waren Psychologen schließlich da. Als die erste Stunde anstand war ich vor Aufregung kaum ansprechbar. Ich wusste nicht ob ich mit der ganzen Situation klar kommen würde. Wie würde ich reagieren, wenn ich mir noch einmal alles ins Gedächtnis rufen würde und auch spüren würde. Zu meiner Überraschung lief alles anders als ich es erwartet hatte. Der Psychologe erwies sich als sehr einfühlsam und in den ersten Stunde redetet wir nur oberflächlich über das was er wissen musste und warum ich hier war. Er interessierte sich für meine jetzige Situation und was mir momentan am meisten zu schaffen machte. Es fiel mir leicht darüber zu reden. Langsam wurde es allerdings mit der Zeit anstrengender. Wir gingen mit jeder Sitzung einen Schritt weiter in die Vergangenheit. Ich fand es einerseits unglaublich, wie geschickt er mich in die Vergangenheit leitete, anderseits wurde es immer schwieriger für mich, mich darauf ein zulassen. Es war gut, das ich nur zwei Mal die Woche beim Psychologen war. Es war erschöpfend und ich schlief danach jedes mal mehrere Stunden. Danach war ich sehr schweigsam, manchmal auch mürrisch. Nicht weil ich meine Eltern alles spüren lassen wollte. Nein, ich war nur innerlich wund, es fühlte sich an, als wäre jemand mit einem heißen Eisen in mich gedrungen und hätte eine klaffende, verbrannte Wunde hinterlassen. In dieser Zeit konnte ich nur mich sehen. Ich war nicht fähig auch nur ein kleines Stückchen für jemand anderen zu empfinden, denn ich empfand nicht mal für mich etwas anderes als wund sein. Wieder einmal! Ich war die Wunde, die jedes mal wieder aufriss, wenn ich zum Psychologen ging. Es klingt schrecklich, aber es tat auch gut. Es war die Hölle, aber es befreite mich und nach einiger Zeit spürte ich, wie die Wunde langsam weniger aufriss und verheilte. Sie wuchs mit gesundem Narben zu. Narben, die niemals weggingen, aber stabil und elastisch genug waren um mit ihnen zu leben. Ich heilte.
Arbeitssuche
Ein Jahr später war ich wieder soweit hergestellt, dass ich mir nun eine Arbeit suchen konnte. Es hatte wirklich so lange gedauert, bis ich den Tod meiner beiden wichtigsten Menschen in meinem Leben verarbeitet hatte. Ich musste alle Höllentäler erst durchschreiten, um wieder ein normales Leben führen zu können. Dazu gehörte auch unser Häuschen auszuräumen und zu verkaufen. Ich konnte auf keinen Fall wieder dahin zurück. Dinge die mir wichtig waren hob ich auf, andere wanderten in einen Container oder zur Wohlfahrt. Ich beobachtete meine Eltern, wie sie ab und zu etwas raus holten, auch sie brauchten ihre Erinnerungen. Alles in allem war es sehr emotional und mehr als einmal mussten wir abbrechen, weil einer von uns weinend zusammen brach. Vor allem bei Lucys Sachen weinten wir bitterlich.
Ich wohnte weiter bei meinen Eltern, so konnten wir uns gegenseitig Halt geben, den ich ehrlich gesagt nötiger hatte als ich dachte. Außerdem hatte ich Angst, das ich irgendwann alleine in der Wohnung sitze und mir die Decke auf den Kopf fiel. So langsam erholten wir uns alle .
In dieser Zeit lernte ich jemanden kennen, der für mich sehr wichtig war, auch wenn ich das erst viel später erkennen sollte. Ich saß in meinem Zimmer und blätterte in einem Fotoalbum herum. Was ich seit kurzem wieder konnte ohne gleich in Tränen aus zu brechen. Lucy war gerade geboren und wir hatten die ersten Fotos von ihr gemacht. "Sie war ein schönes Baby, nicht war!" sagte eine sanfte Stimme neben mir. Ich erschrak dementsprechend, denn ich dachte , ich wäre alleine im Zimmer. Ich schaute in die Richtung aus der die Stimme kam und viel fast vom Stuhl. Vor mir stand das Licht, das ich von meinem Unfall her kannte. Doch diesmal hatte es die Form eines Mannes, oder war es doch eine Frau? Angst hatte ich nicht wirklich, denn das Licht strahlte die gleiche Ruhe und Geborgenheit aus wie damals. "Wer bist du? " fragte ich.
"Nun, weißt du das nicht?" das Licht schien zu lächeln.
"Eigentlich nicht!" gab ich zurück, wenn sich auch in mir so eine Ahnung regte. "Äh, bist du vielleicht mein Schutzengel?" Ich kam mir dabei echt blöd vor, sollte ich wirklich meinen Schutzengel sehen? Und dann redete ich auch noch mit ihm. Das durfte keiner erfahren, sonst wanderte ich postwendend in die Klapse.
"Natürlich bin ich das!" sagte das Licht.
"Oh!" entfuhr es mir, zu mehr war ich nicht fähig. Ich merkte wie mich ein Gefühl von purer Liebe erfüllte. Ich wusste nun wer mich bei dem Unfall gerettet hat. "Du warst immer da, oder?" fragte ich.
"Ja, sicher, das ist ja meine Aufgabe!" entgegnete er.
"Und jetzt, warum bist du jetzt hier?" fragte ich.
"Nun, ich denke du brauchst mich jetzt nicht mehr so notwendig."
Ich schaute ihn verdutzt an. Wieder begann er leise zu lachen. "Nein, nein, ich lasse dich nicht wirklich allein. Es ist nur so, dass ich nicht nur für dich zuständig bin. Wir haben gern mal zwei oder drei Menschen auf die wir aufpassen. Das vergangene Jahr deiner Lebenszeit hier auf Erden hat einen Großteil meiner Aufmerksamkeit gebraucht, wie du dir vorstellen kannst. Nun aber geht dein Leben wieder in ruhigere Bahnen und ich kann mich jemanden anderen zuwenden. Damit du aber nicht denkst, du bist von mir verlassen, lasse ich dir einen kleinen Teil von mir zurück, der immer mit mir in Verbindung steht. Wenn du mich brauchst bin ich bei dir, das verspreche ich dir. "Aha, und jetzt?" fragte ich ziemlich überwältig.
"Werde ich gehen." und er begann sich langsam aufzulösen. "Halt!" rief ich. "Ja? er sah mich fragend an. Ich wusste nicht wie ich es sagen sollte, aber es brannte mir in wahrsten Sinne des Wortes auf der Seele. "Danke!" flüsterte ich und es kullerten nun doch Tränen über meine Wangen. "Danke, für alles!"
Mein Engel lachte wieder. "Gern geschehen, und vergiss nicht, ich bin immer bei dir!" Weg war er und ich blieb zurück mit einem unglaublich guten Gefühl. Und doch musste ich den Kopf schütteln. War das gerade wirklich alles passiert?
Am ersten richtigen Frühlingsmorgen des Jahres stand ich vor der Eingangstüre einer sehr feinen Agentur für Hauspersonal. Sie war in einem noblen Bürogebäude in Münchens bester Gegend untergebracht. Hierher, das war klar, kamen nur gut betuchte Kunden, um sich Personal für ihre Nobelvilla zu suchen. Lausitz stand auf dem edlen schwarzen Schild in goldenen Lettern. Ich amüsierte mich ein bisschen über mich selber, denn eigentlich hatte ich mit der High Society nicht wirklich etwas am Hut. Aber als ich mir darüber Gedanken machte, wo und was ich nun Arbeiten konnte und wollte, kam mir der Gedanke, es doch einmal hier zu versuchen. Ich wollte mich als Kindermädchen bewerben. Ich war unabhängig und so war es auch kein Problem, wenn ich mit meinen vermeintlichen Arbeitgebern verreisen sollte. Meine Englischkenntnisse, die ich
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 25.08.2015
ISBN: 978-3-7396-1075-7
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