SALIM GÜLER
PETER WALSH
:FALSCH
Teil 2
Impressum
Autor:
Salim Güler
Kontaktmöglichkeit:
Salim.gueler@gmx.de
https://www.facebook.com/salimgueler.autor/
Lektorat:
Christian Albrecht
Korrektorat:
Textschmiede Officina Verbi
Katja Grüner
www.textschmiede-officinaverbi.de
Covergestaltung:
Casandra Krammer
Foto-/ Motivrechte:
© DeviantArt / Frame of Thoughts/ Lostandtaken.com
Der Text aus diesem Buch darf nicht ohne Genehmigung vervielfältigt werden.
Copyright © 2016 by Salim Güler
INHALTSVERZEICHNIS
Das Buch
»Warte, Mami, ich hol sie dir ...", sagt die kleine Nina und rennt aus der Umkleidekabine, um ihrer Mutter die Jeans in einer anderen Größe zu besorgen.
Kurz darauf ist die Sechsjährige verschwunden, am helllichten Tag, inmitten eines gut besuchten Kaufhauses, ohne jegliche Spur.
Das Team um Manfred Wolke von der Kripo Köln geht von einem Sexualdelikt aus, den Täter vermutet man im Kreise der Familie. Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt und jede Sekunde kann über Leben und Tod der kleinen Nina entscheiden.
Doch wie passt der medial veranlagte Ex-Topagent Peter Walsh in dieses Puzzle?
Ist Nina wirklich in den Händen eines kranken Pädophilen oder eines Kinderschänderrings? Oder steckt noch mehr dahinter?
Peter Walsh ist eine mehrteilige Thriller-Reihe, die keine Atempause und keinen Kompromiss zulässt!
Hinweis
Die Thriller-Miniserie: Peter Walsh besteht aus vier Teilen und baut auf dem Prinzip von Fernseh Miniserien auf, das heißt, dass jeder Teil offen endet und der nächste direkt an diesen aufsetzt. Nur so kann eine Dramatik und Spannung erzeugt werden, die dann im vierten Teil im großen Finale aufgelöst wird.
Diese vier Teile sind:
Teil 1: ALBTRAUM
Teil 2: FALSCH
Teil 3: FURCHT
Teil 4: TRUG
Ich wünsche spannende Lesestunden!
Der Autor
Salim Güler, aufgewachsen in Norddeutschland, studierte in Köln Wirtschaftswissenschaften und promovierte an der TU-Chemnitz. Er arbeitete lange Zeit in der freien Wirtschaft, zuletzt als Pressesprecher.
Schon als Schüler begann er mit dem Schreiben von selbsterfundenen Geschichten und diese Leidenschaft ließ ihn bis heute nicht los.
In seinen Romanen finden sich immer wieder gesellschaftlich aktuelle Themen, die er geschickt in eine fiktive und hoch spannende Geschichte einzubetten versteht.
Seine Bücher landen regelmäßig in den Bestsellerlisten der Verkaufs-Charts.
Salim Güler ist sehr am Austausch mit seinen Leserinnen und Lesern interessiert und freut sich daher über jeden Kontakt, entweder über Facebook oder über seine Homepage.
www.salim-gueler.de
https://www.facebook.com/salim.gueler.autor
Danksagung
Einen Mehrteiler zu schreiben, erfordert nicht nur viel Geduld, sondern auch jede Menge Recherche. Schließlich sollen die Annahmen durch Fakten und Hintergrundwissen belegt sein. Daher möchte ich an dieser Stelle einigen Menschen für ihre Hilfe und Unterstützung danken.
Dank gebührt der Polizei Köln für ihre wertvollen Tipps, damit die Polizeiarbeit in diesem Buch so realistisch wie möglich geschildert wird. Ebenso der Lebenshilfe e.V. Köln, die mir wertvolle Tipps über und Eindrücke von ihrer Arbeit gegeben hat. Herrn Jürgen Burkhart, Leiter der Stammzellenabteilung des Bayerischen Roten Kreuzes München sowie Dr. Roland Conradi, Ltd. Oberarzt der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und Dr. Christof Jungbauer vom Österreichischen Roten Kreuz gebührt ebenfalls mein Dank.
Zuletzt möchte ich auch all denen, die nicht namentlich erwähnt wurden, recht herzlich für ihre Hilfe und Unterstützung danken, vor allem aber meinem Lektor Christian Albrecht, der sich mal wieder selbst übertroffen hat, Tina Alexy, meiner kritischen und wunderbaren Testleserin, und Casandra Krammer, die ein wunderbares Cover gezaubert hat.
Zum Schluss möchte ich natürlich auch Ihnen danken, dass Sie sich für meine Bücher entschieden haben. Ohne Sie wäre das alles hier nicht möglich.
Vorwort des Autors
Vor geraumer Zeit kursierte auf Facebook die Meldung, dass in einem Einkaufszentrum ein Kind von rumänischen Frauen entführt worden sei. Bei diesen Frauen habe es sich um internationale Organhändler gehandelt, die Meldung verbreitete sich in Windeseile. Zum Glück stellte sich heraus, dass es nur ein sogenannter Hoax, eine Falschmeldung war. Die Urheber dieser Meldung hatten dennoch etwas Kriminelles im Sinn: In ihrer Nachricht verbarg sich ein Trojaner, der die Computer unwissender Facebook-Nutzer infizieren sollte.
Dennoch ließ mich diese Nachricht nicht los. Wie konnten Menschen mit solch einer Nachricht ihre Spielchen treiben? Wie konnten Menschen so skrupellos sein?
Und so entstand die Idee zu diesem Buch.
Ihr
Salim Güler
Was bisher geschah
Im ersten Teil :ALBTRAUM wird die sechsjährige Nina am helllichten Tag vor den Augen ihrer Mutter in einem Kaufhaus entführt. Die Polizei bildet eine Soko. Kriminalhauptkommissar Manfred Wolke und sein Team sind mit der Suche beauftragt. Sie vermuten den Täter im Bekanntenkreis der Familie. Bei einem Routinebesuch beim geistig behinderten Bruder der Mutter entdeckt die Polizei den Teddybären von Nina. Somit ist für sie der Bruder der Hauptverdächtige.
Gleichzeitig und einige tausend Kilometer weit weg hat der Ex-Top-Agent Peter Walsh seit drei Tagen, den immer gleichen Albtraum. Er glaubt jedoch nicht an Zufälle, da er über mediale Kräfte verfügt. Walsh ist überzeugt, dass ein Mädchen ihn in seinen Träumen um Hilfe bittet. Er beschließt, nach Deutschland zu reisen, um seinen besten Freund Joe um Hilfe zu bitten. Joe ist ein US-Geheimdienstmitarbeiter und hat Zugang zu PRISM. Dank PRISM erfährt Walsh, dass Nina Vogel entführt wurde und dass sie seine Tochter ist, von der er nichts wusste.
Walsh ist bereit über Leichen zu gehen, wenn er seine Tochter damit retten kann.
:FALSCH
O, wie der Falschheit Außenseite glänzt!
Kapitel 1
Tag 4 nach der Entführung, Mannheim, 02:35 Uhr
Walsh konnte noch immer nicht glauben, was Joe versucht hatte, ihm klarzumachen. Nina Vogel war seine Tochter!
Das konnte unmöglich sein. PRISM musste sich irren, die Akten mussten sich irren. Nina konnte nicht seine Tochter sein! Er hätte es gespürt, wenn er ein Kind gehabt hätte. So wie er es gespürt hatte, dass sein Großvater im Sterben lag. Und wie er es gespürt hatte, als er seine Familie verlor – durch eine Autobombe, die eigentlich ihm gegolten hatte. Er hatte es immer gespürt, wenn etwas Außergewöhnliches passierte. Und die Geburt seiner Tochter war etwas Außergewöhnliches. Dass es sie gab, war außergewöhnlich. Und wenn sie seine Tochter war, hätte er es gespürt! Doch er hatte nichts gespürt und er spürte auch jetzt nichts. Er war alleine auf dieser Welt, ohne Familie.
Sie konnte nicht seine Tochter sein! Und doch hatte Joe ihm unmissverständlich deutlich gemacht, dass kein Zweifel vorliegen konnte. Es lagen einfach zu viele Informationen vor, die genau das bestätigten. Die Gesundheitsakten aus den Krankenhäusern waren mehr als eindeutig. Bei Nina war sehr schnell die seltene Blutgruppe Vel-Negativ diagnostiziert worden, sodass ihr Name in einer besonderen Datenbank aufgenommen wurde. Auch ihre DNA-Werte lagen vor. Die Mutter hatte eine komplette Gesundheitsanalyse von Nina in Auftrag gegeben, da sie jegliches Risiko ausschließen wollte. Somit waren auch ihre DNA-Werte aktenkundig. Und Walshs Werte lagen natürlich ebenfalls vor.
Er konnte es drehen und wenden, wie er wollte: Nina Vogel war seine uneheliche Tochter! Sie hatte zu ihm gesprochen – in der Stunde ihrer größten Not. Wenn er schon den Unterlagen keinen Glauben schenken wollte, so sollte er doch wenigstens an Ninas Hilferuf keinen Zweifel haben.
»Bro, alles klar? Hier, nimm.« Joe reichte Walsh ein Glas Wasser und setzte sich neben ihm auf die Couch. Er hatte die ganze Zeit über am PC gesessen und seinem Freund Zeit gegeben, sich von dem Schock zu erholen.
»Danke«, antwortete Walsh und leerte das Glas fast in einem Zug aus. Die Farbe war aus seinem Gesicht gewichen und er sah aus, als hätte er drei Tage und Nächte durchgefeiert.
»Hey, ich bin für dich da.«
»Ich weiß. Danke.«
Joe umarmte Walsh und der erwiderte die Geste. Sie waren die besten Freunde, dessen war sich Walsh in diesem Moment wieder ganz sicher. Auf Joe konnte er sich immer verlassen. Das war ein verdammt gutes Gefühl, gerade jetzt.
»Was wirst du tun?«
»Bist du dir absolut sicher, Joe? Ich muss das wissen. Gibt es wirklich keinen Grund anzunehmen, dass PRISM sich irrt?«
»Hundertprozentig! Ich habe mir das eben noch mal angeschaut. Die Daten sind eindeutig. Ich habe mich direkt ins Netzwerk des Krankenhauses und in das Rechenzentrum, an das der Rechner des Hausarztes angeschlossen ist, gehackt. Die Daten stimmen. Nina ist deine Tochter.«
Walsh antwortete nicht sofort, seine Augen verengten sich zu Schlitzen und für einen Augenblick war es, als würde die Zeit stillstehen. Er musste seine Gedanken sortieren.
»Ich … Ich habe Angst …«, flüsterte Walsh und musste seine Tränen zurückhalten. Unter anderen Umständen wäre er über diese Nachricht vor Glück durch die Decke gesprungen. Er war Vater, hatte eine kleine Tochter und somit wieder eine Familie. Konnte sich ein Mann etwas Besseres wünschen? Nein! Aber das hier, das war ganz anders.
Er hatte eine Tochter, aber sie war entführt worden. Von wem, das wusste er nicht. Wer entführt ein Kind? Irgendein kranker Wichser, wer sonst. Und was das bedeutete, wusste Walsh nur zu gut. Er würde seine Tochter, wenn überhaupt, nur tot finden. Und er wusste auch, dass er das nicht verkraften würde.
Er kannte seine Tochter zwar nicht, aber ihre Stimme, ihre ängstlichen Worte: Finde mich …, hatten sich in sein Herz gebrannt, eine unbändige Liebe zu ihr entfacht. Er war machtlos dagegen, aber eine weitere Beerdigung, das würde er nicht verkraften. Er, der Top-Agent, der große, muskulöse Mann, der vor nichts und niemandem Angst hatte, dem man die aussichtslosesten Missionen übertragen hatte, weil er so diszipliniert und tapfer war, war in seinem Herzen ein sehr sensibler, warmherziger Mensch, dem seine Familie alles bedeutete. Und jetzt, da er wusste, dass er eine Tochter hatte, wünschte er sich nichts sehnlicher, als es nie erfahren zu haben.
Das Leben war grausam. Es gab ihm ein Geschenk, nur um es ihm gleich wieder zu entreißen.
»Wir finden sie, Peter«, antwortete Joe leise. Walsh schaute seinem besten Freund in die Augen und sah in ihnen den gleichen Kummer, den er in seinem Herzen trug. Beide waren Profis. Auch wenn Walsh nie einen Auftrag ausgeführt hatte, bei dem ein Kind entführt worden war, wusste er, wie aussichtslos die Situation war.
»… und wenn sie schon tot ist?« Er würgte diesen Satz geradezu heraus, es war keine echte Frage.
»Sie ist nicht tot. Sie kann nicht tot sein, sonst hättest du nicht ihren Hilferuf wahrgenommen. Du hast doch selbst einmal gesagt, dass du nur von Lebenden Signale empfangen kannst. Sie lebt und sie braucht dich!« Joe schaute ihm tief in die Augen, sein Blick war ernst und entschlossen.
Walsh versuchte aus diesen Worten Kraft zu tanken, atmete tief ein und aus und suchte Halt im Blick seines Freundes. Seine Tränen zogen sich zurück, er wurde ruhiger.
»Du hast recht, sie lebt«, antwortete er mit fester Stimme, während die gesunde Bräune in sein Gesicht zurückkehrte. Sein gesamter Körper schien zu signalisieren: Ja, meine Tochter lebt! Meine Tochter! Er saß nun aufrecht und nicht mehr in sich zusammengefallen auf der Couch. Und er war sich sicher: Wenn einer Nina finden konnte, dann er! Er war der beste Top-Agent, den die USA jemals gehabt hatte, und wer immer seine Tochter entführt hatte, er würde dafür leiden. Furchtbar leiden. Walsh war eine Maschine und er kannte kein Erbarmen! Er durfte sich nicht von seiner Angst unterkriegen lassen.
Das Schicksal hatte ihm eine Tochter geschenkt und er musste sie finden. Vielleicht würde er erneut versuchen, mental zu ihr durchzudringen. Aber wenn Nina ihren Hilfeschrei unbewusst ausgesendet hatte, war es vergebene Mühe. Sein Meister jedenfalls ging davon aus, dass Nina ihre Gabe nicht bewusst einsetzen konnte. Trotzdem musste er irgendwo anfangen. Joe und PRISM würden ihm noch wertvolle Informationen geben können. Joe war wichtig. Und er vertraute ihm.
»Gemeinsam werden wir sie finden«, bestätigte Joe und klopfte Walsh freundschaftlich auf die Schulter.
»Ja. Das werden wir. Aber ich brauche noch die Hilfe von jemand anderem.«
»Von wem?« Joe machte einen überraschten Eindruck.
»Von Ninas Mutter, Melanie.«
»Wieso? Willst du dir das wirklich antun?«
»Ja, ich muss. Ich muss sehen, wo Nina gewohnt hat, in welchem Zimmer sie geschlafen hat, welche Kleidung sie trug und mit welchem Spielzeug sie spielte. Vielleicht werde ich dadurch eine stärkere Verbindung zu ihr aufbauen können.« Walshs Stimme klang mit jedem Wort entschlossener. Er war Profi und bereits mit noch viel aussichtsloseren Missionen betraut gewesen. Wenn es darauf ankam, konnte er seine Emotionen sehr gut unterdrücken.
In diesem Falle war es schwieriger als sonst, denn jetzt ging es um seine Tochter, sein eigen Fleisch und Blut. Und es gab für ihn nun auch keinen Zweifel mehr, dass Nina wirklich seine leibliche Tochter war. Diese Stimme, dieser Albtraum waren ihm so vertraut, viel zu vertraut, als dass die Stimme einer anderen Person gehören konnte. Nur durch seine tiefe Trauer der letzten Jahre hatte er die Stimme nicht bewusst an sich heranlassen können.
Dass Nina Opfer eines Pädophilen geworden war und derzeit unsägliche Qualen erlitt, daran wollte er nicht einmal denken. Er brauchte einen wachen Geist und klaren Verstand. Und er musste fest daran glauben, dass Nina noch lebte. Das war eine der wichtigsten Regeln während seines Trainings zum Geheimdienstagenten gewesen: zu glauben, dass die Geisel noch lebt.
Dass er den Täter töten würde, stand für ihn außer Zweifel. Er würde den Wichser sicherlich nicht der Polizei übergeben. Nein, er sollte nie wieder Gelegenheit haben, einem Kind wehzutun. Walsh würde ihn auf seine Weise zur Strecke bringen.
»Wenn du Melanie wirklich aufsuchen willst, solltest du vielleicht noch etwas lesen.«
»Was meinst du damit?«
»Sie hat dir eine E-Mail geschrieben, als sie Nina zur Welt brachte.«
»Waaas?«, schrie Walsh lauter, als beabsichtigt.
»Sorry, aber als du eben auf der Couch gesessen hast, habe ich ein bisschen Recherche betrieben. Und bin dann auf, nun ja … auf eine Akte gestoßen …«
»Melanie Vogel hat eine Akte beim Geheimdienst?« Walsh war sprachlos.
»Nein, aber du.«
»Du meinst die Potential-Sache?«
»Ja und nein. Seitdem du den Status Potential hast, wird deine Akte auf Level 5 geführt.«
»Du willst mich verarschen!? Level 5?«
»Ja, Level 5. Ich wollte es selbst nicht glauben. Aber es stimmt. Ich habe noch nicht die ganze Akte digital zusammen, aber bestimmte Inhalte schon.«
»Und warum ist meine Akte in Level 5? Ich bin doch kein Top-Terrorist.«
»Das weiß ich noch nicht. Sie wurde letztes Jahr vernichtet mit dem Vermerk, dass du tot bist.«
»Tot?« Walsh konnte sich nicht erklären, warum eine Akte mit dem Vermerk »Level 5« für ihn angelegt worden war. Er war doch keine Bedrohung. Zu gegebener Zeit würde er sich darum kümmern, aber nicht jetzt. Dass er als tot galt, war eigentlich sogar gut für ihn. So konnte er unter dem Namen Ethan Carter unbehelligt nach seiner Tochter suchen. Und danach würde er sich um seine Akte und den Geheimdienst kümmern. Irgendetwas stank hier zum Himmel, das jedenfalls sagte ihm sein Bauch.
»Ja, tot. Du warst zwei Jahre weg. Die dachten, du hättest dich umgebracht.«
»Vielleicht ist das gut so. Aber wenn die Akte vernichtet ist, wie kannst du dann noch Daten finden?«
»Weil die IT-Abteilung stümperhaft gearbeitet hat. Sie haben die Daten nicht effektiv genug von den Servern gelöscht.«
»Was meinst du mit: nicht effektiv genug?«
»Mann, denkst du etwa, wenn du auf deiner Festplatte deine Daten löschst, dass sie wirklich gelöscht sind?«
Walsh schaute ihn irritiert an, erkannte aber eine gewisse Überheblichkeit in Joes Blick und versuchte zu kontern.
»Nein, ich weiß. Aber wir haben doch beim Geheimdienst zum Säubern der Festplatten diese Software benutzt.«
»Peter, Peter, das solltest du doch besser wissen. Diese Software nennt sich Partition-Delete. Damit wird die Festplatte zwar wirklich plattgemacht, aber eben niemals zu hundert Prozent, weil das zu aufwendig wäre. Jedes Bit und Byte hinterlässt Spuren, die selbst mit Partition-Delete nicht gelöscht werden können, es ist wie eine DNA. Mit einer geeigneten Software kann diese DNA wieder sichtbar gemacht werden. Aber das war eh nie Sinn und Zweck von Partition-Delete. An sich sollte damit eine geheime Serververbindung aufgebaut werden, die die DNA der Festplatte an die Server des Geheimdienstes übermittelt. So reichen bereits wenige Megabyte, um eine 1 GB große Festplatte zu kopieren. Aber bei deinen Daten hat die IT gepfuscht, obwohl sie die richtigen Werkzeuge besitzen.«
»Ganz ehrlich – ich bin gerade raus.«
Joe lachte und klopfte ihm auf die Schulter.
»Komm an den PC, dann erkläre ich dir das.«
Beide setzten sich an den Rechner.
»Jede Akte, die gelöscht werden soll, muss eine bestimmte Routine durchlaufen. Am Ende muss der Systemadministrator die Daten unwiderruflich löschen, auch die DNA. Das geht aber nicht mit einem simplen Löschprogramm, da die DNA sich derart tief in den Partitionen versteckt, dass sie nicht so leicht gefunden wird. Theoretisch reicht eine kleine DNA-Spur aus, also wenige Byte, um die ganze Akte wieder sichtbar zu machen. Daher benutzen wir dafür auch DFK.«
»Was ist DFK?«
»Das ist ein DNA-Löschprogramm, welches ich mit entwickelt habe. Nur dieses Programm kann Dateien komplett und für ewig vom Server löschen. Aber dieses Programm ist nicht so einfach zu bedienen. Die meisten in der IT benutzen dafür eine GUI, also eine Benutzeroberfläche, anstatt auf die Programmierebene zu gehen. Und so passiert es, dass 99 Prozent der digitalen DNA gelöscht werden, aber eben nicht 100 Prozent. Bei deiner Akte wurden sogar nur 97 Prozent der digitalen DNA gelöscht.«
»Und das bedeutet?«
»Das bedeutet, dass für eine Level-5-Akte massiv geschlampt wurde. Ich versuche, deine Akte wiederherzustellen. Das kann eine Weile dauern. Der PC wird die nächsten Tage ununterbrochen laufen. Aber ich konnte schon ein paar Daten recovern. Dabei bin ich auf diese E-Mail von Melanie gestoßen. Vielleicht willst du sie lesen?«
»Ja, das möchte ich«, antwortete Walsh, der diesen ganzen IT-Kram nicht wirklich verstand, dabei war er eigentlich auch recht fit in diesen Dingen. Diese Server- und Programmierebenen waren allerdings nicht seine Welt.
»Gut. Hier ist sie.« Joe hatte mit der Maus ein paar Ordner angeklickt, woraufhin ein Link in englischer Sprache erschien mit der Aufschrift:
25.11.2006; E-Mail Melanie Vogel; Betreff: Geburt der Tochter von Agent Peter Walsh (Top Secret / Level 5).
Walsh sah den Betreff und Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. Melanie hatte ihn tatsächlich von der Geburt seiner Tochter unterrichtet. Und keiner hatte ihm das mitgeteilt. Was für ein Arbeitgeber war dieser verfickte Geheimdienst? Er hatte ihn als seine Familie bezeichnet, sein Leben für den Geheimdienst riskiert, und wie hatten sie seine Loyalität gewürdigt? Indem sie ihm seine Tochter vorenthielten. Wer immer dafür verantwortlich war, er würde dafür büßen.
Joe stand auf.
»Ich geh mal kurz auf die Terrasse«, bemerkte er, klopfte Walsh auf die Schulter und verließ den Raum.
»Danke«, kam es schwer über Walshs Lippen. Er wusste diese Geste zu schätzen. Dieser Moment sollte nur ihm gehören. Er schluckte und klickte dann mit Herzklopfen auf den Link.
Kapitel 2
Tag 2 nach der Entführung, Köln-Kalk, 09:35 Uhr
Schmitt war wieder keine ruhige Nacht vergönnt. Erneut hatte er sich die ganze Zeit über hin und her gewälzt und zum ersten Mal seit langem sogar Albträume bekommen.
Der Albtraum war so real gewesen, dass er mitten in der Nacht mit einem lauten Schrei aufgeschreckt war. Sein T-Shirt war schweißnass. Ängstlich blickte er sich um, da er noch nicht zwischen Realität und Traum unterscheiden konnte. In seinem Albtraum hatte er sich in einem Raum, genauer gesagt in einer Lagerhalle befunden. Die Lagerhalle war mindestens zehn Meter hoch.
In der Mitte befand sich ein mit Flüssigkeit gefülltes Becken. Ein Becken voller Säure. An diesem Becken war ein Ständer mit einem Andreaskreuz befestigt, und an diesem Andreaskreuz war Schmitt angebunden. Wie er da hingekommen war, wusste er nicht. Nur, dass er unendliche Schmerzen litt.
Er war nackt. Durch seine Oberschenkel war je ein dreißig Zentimeter langer rostiger Nagel in das Andreaskreuz geschlagen. Die gleichen Nägel befanden sich auch in seiner rechten und linken Brust, damit sein Körper nicht absackte. Er hielt etwas mit seinen Händen fest. Sein Blick wanderte zu seiner rechten Hand, die ein Seil hielt. Am Ende des Seiles war ein Stein befestigt. Seine Hand war klitschnass von Blut und Schweiß. Sein Blick wanderte zur linken Hand, in der er ebenfalls ein Seil hielt. An das Ende des Seiles waren lange Haare geknotet. Er erstarrte. Die Haare gehörten zu Nina, die, ebenfalls nackt, an dem Seil hing und schrie. Panik ergriff Schmitt, denn jetzt erkannte er das perverse Spiel. Er war eine Waage. Der Stein das Gegenstück zu Nina. Wenn er den Stein loslassen würde, würde Nina in das Becken fallen und sich in Säure auflösen.
Aber was steckte dahinter? Würde er überleben, wenn er Nina fallen ließe? Er versuchte mit aller Kraft, die er hatte, den Stein und Nina zu halten. Aber er wusste, dass er das nicht mehr lange durchhalten würde. Seine Wunden bluteten und schwächten ihn zu stark. Sie hinderten ihn daran, sich wirklich zu bewegen.
Wie ein abgehangenes Schwein, dachte er süffisant. Mit jeder Minute fiel es ihm schwerer, die beiden Seile und so das Gleichgewicht zu halten, damit Nina nicht in die Säure fiel. Der Stein und Nina zusammen waren einfach zu schwer. Wenn er eine Hand frei hätte, könnte er versuchen die Nägel aus seinem Körper zu ziehen und sich zu retten, denn rechts von dem Andreaskreuz sah er eine Metallplatte mit einer Leiter.
So haben die Schweine mich also hergebracht, dachte er und fragte sich, wie er überhaupt in diese Lage gekommen war.
Er musste eine Entscheidung treffen! Nina fallen lassen und sein Leben retten oder mit Nina den Tod finden. So oder so, Nina würde sterben. Und dann entschied er sich.
Er ließ beide Seile fallen, schaute aber nicht nach unten. Ein Schrei, den er niemals vergessen würde, war Zeuge seiner unverzeihlichen Tat. Nina war tot!
Seine Hände schmerzten. Er versuchte mit der rechten Hand einen Nagel aus dem Oberschenkel zu ziehen. Der Schmerz war entsetzlich, aber er biss die Zähne zusammen und dank all des Adrenalins in seinem Körper gelang es ihm schließlich. Nun versuchte er den Nagel aus dem anderen Oberschenkel zu entfernen, doch dann hörte er ein Klacken.
Es war ein mechanisches Geräusch, als hätte das Entfernen des Nagels einen Mechanismus ausgelöst. Er fühlte sich auf einmal leicht und dann sah er auch, warum. Das Andreaskreuz hatte sich von seiner Befestigung gelöst und fiel mit Schmitt zusammen in die Säure. Er schrie wie ein ängstliches Tier. In dem Moment, in dem er in das Säurebad fiel, wachte er schreiend und schweißgebadet auf. Er brauchte eine Weile, bis er realisierte, dass es nur ein Albtraum gewesen war. Er tastete sich sicherheitshalber am ganzen Körper ab, fand aber nirgends Anzeichen von Blut und offenen Wunden. Mit wackeligen Beinen stand er auf, ging in die Küche und nahm einen kräftigen Schluck Wasser.
Danach ging er ins Badezimmer und wusch sich das Gesicht. Er schaute in den Spiegel und blickte einem Gespenst entgegen. Sein Gesicht war kreidebleich. Er öffnete den Apothekenschrank und nahm zwei Schlaftabletten.
»Nicht mit mir«, sagte er zu sich selbst und schluckte beide Tabletten mit ein bisschen Leitungswasser hinunter. Danach begab er sich wieder ins Schlafzimmer, wechselte das T-Shirt und legte sich schlafen. Mit der offenen Frage, ob er auch in der Realität Ninas Leben opfern würde, um sein eigenes zu schützen, schlief er irgendwann ein.
Um 9:35 Uhr betrat er sein Büro.
Schmitt machte sich einen Kaffee und setzte sich auf den Balkon. Noch immer zerrte der Albtraum an seinen Nerven. Er konnte sich nicht daran erinnern, jemals einen Traum als so real empfunden zu haben. Er nahm einen Schluck Kaffee und schlug den Kölner Express auf, den er sich auf dem Hinweg gekauft hatte.
Der Morgen war angenehm und die frische Brise wie Balsam für seine angeschlagenen Nerven. Offensichtlich hatte die Presse noch keinen Wind von der Entführung bekommen. Nachdem er seinen Kaffee ausgetrunken und den Express durchgeblättert hatte, ging er an seinen Schreibtisch und schaltete den Rechner ein, um weiter zu recherchieren. Er wusste nicht, was er sonst hätte tun können. Er musste auf eine Antwort von Carlos warten.
Schmitt hasste es, abhängig von anderen zu sein. So hilflos und abhängig wie in diesem Fall hatte er sich noch nie gefühlt. In den meisten anderen Fällen hatte er konkrete Anhaltspunkte gehabt, wie und wo er suchen musste. Aber dieser Fall war mit keinem Fall vergleichbar, den er je übernommen hatte. Auch die Polizei war ihm keine Hilfe. Er schaute zum Telefon und für einen Augenblick erwischte er sich bei dem Gedanken, nochmals Thomas Miehle von der Soko »Nina« anzurufen. Einfach nur, um ihn zu ärgern. Vielleicht würde er in seiner Wut unbeabsichtigt etwas verraten. Miehle war jung und stolz, da konnten ihm schon mal ungewollt Informationen herausrutschen.
Aber Schmitt entschied sich dagegen. Er öffnete Outlook, um zu sehen, ob Carlos ihm irgendeine Benachrichtigung geschickt hatte. Zwölf neue E-Mails. Zwei davon waren neue Aufträge von Bestandskunden, die er gleich damit beantwortete, derzeit keine neuen Aufträge annehmen zu können. Die restlichen E-Mails waren nur Werbemails. Enttäuscht wanderte sein Blick wieder zum Telefon. Auf einmal bekam der Gedanke von eben wieder Gewicht: Miehle anzurufen.
Er suchte die Nummer, wählte die Polizeizentrale an und bat um Weiterleitung zu Miehles Apparat. Es klingelte einmal, zweimal, dreimal. Beim achten Mal wollte Schmitt gerade auflegen, als er ein genervtes »Ja« am anderen Ende der Leitung vernahm.
»Oh, Herr Miehle, schön dass ich sie erreiche. Ich wollte gerade auflegen«, antwortete Schmitt, der selber überrascht war, dass Miehle doch noch an den Apparat gegangen war.
»Wer ist denn dran?«
»Oh, verzeihen Sie. Ich dachte, die Zentrale hätte mich angekündigt. Schmitt, wir hatten ja bereits gestern das Vergnügen.« Schmitt konnte sich ein Kichern nicht verkneifen.
»Was wollen Sie?«, fragte Miehle gereizt.
»Genau das, was Sie auch wollen: Nina zu ihrer Mutter zurückbringen.«
»Herr Schmitt, ich habe keine Zeit für Wortspiele. Wir sind derzeit mit Hochdruck dabei, Nina zu finden, da brauchen wir keine Störfeuer.«
»Wieso Störfeuer? Ich stehe Ihnen nicht im Weg. Ich will doch nur helfen. Lassen Sie mich bitte nicht im Regen stehen. Ein kurzer Satz zu den aktuellen Ergebnissen reicht mir schon.«
»Sie spinnen wohl! Ich darf nichts zu laufenden Ermittlungen sagen! Und nun entschuldigen Sie mich bitte, die Kollegen in der Videoabteilung warten auf mich«, antwortete Miehle sichtlich genervt und legte den Hörer auf, ehe Schmitt etwas sagen konnte.
Das war wohl nix, Schmitti. Aber so erfolglos war der Anruf dann auch wieder nicht. Er wusste jetzt, dass die Polizei noch immer die Aufzeichnungen auswertete. Was mochte das bedeuten?
Hätten die Aufzeichnungen nicht schon längst fertig ausgewertet sein müssen? Eigentlich schon. Was konnte das bedeuten? Entweder war das Ergebnis unbefriedigend und Wolke wollte, dass nochmals geschaut wurde, oder aber die Polizei hatte weitere Hinweise, denen sie anhand der Aufzeichnungen nachgehen wollte. Vielleicht war Wolke genauso hilflos wie er und hoffte, dass die erneute Sichtung der Aufnahmen ihm Aufschluss geben konnte. Vielleicht war noch jemand anderes darauf zu sehen?
Wie gerne hätte Schmitt jetzt Mäuschen im Revier gespielt. Das Gespräch hatte ihm mehr offene Fragen als Antworten geliefert.
Seine Motivation war im Keller und er hatte keine Ahnung, wie er das ändern konnte. Am liebsten hätte er sich ein Kölsch gegönnt, aber er ließ den Gedanken fallen. Sein Blick wanderte wieder zum Telefon.
Dann wählte er eine Nummer.
»Hallo«, sagte eine Stimme am anderen Ende der Leitung.
Kapitel 3
Tag 2 nach der Entführung, Jugendherberge Köln-Deutz, 10:55 Uhr
Bruhns und Kraft schauten sich sprachlos an. Mit dem, was sie hier sahen, hätten sie nie gerechnet. Selbst Bruhns nicht. Sie hatte sich zwar vor Kraft mit ihren Vermutungen weit aus dem Fenster gelehnt, aber dass Marc etwas mit der Entführung zu tun haben könnte, war auch für sie nahezu unvorstellbar gewesen. Schon gar nicht nach dem Gespräch von eben. Der Teddy änderte die Situation schlagartig.
Mein Bauchgefühl, fuck …, dachte Bruhns unentschlossen.
Wenn sie ehrlich war, überforderte die Situation sie ein wenig. Sie war ein Vollprofi. Sie hatte schon Täter überführt, die sich als so liebevolle Väter gezeigt hatten, wie sie sich ein Kind nur wünschen konnte. Aber ein Mensch mit Trisomie 21 wie Marc, das war absolut irreal, es passte so
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 07.08.2017
ISBN: 978-3-7438-2729-5
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