„Zu sein, wer wir sind, und zu werden, dessen wir fähig sind zu werden, das ist das Ziel des Lebens!“
Robert Stevenson
Cornwall, 18.Jahrhundert
Dunkle Wolken zogen bedrohlich und unaufhaltsam näher. Er stand hoch oben auf den Zinnen seiner Burg, getrieben von einer Vorahnung, die ihn bis ins Mark zu erschüttern begann. Schon erhob sich ein starker Wind, zerrte an seinem Umhang und ließ sein schulterlanges blondes Haar wie eine Fahne wehen. Sein Blick glitt über das Land, sein Land, und seine blauen Augen taten es dem Himmel gleich und verdunkelten sich.
Schon seit einigen Wochen suchten ihn erschreckende Träume heim. Normalerweise brachte ihn nichts aus der Ruhe, Unsicherheit war ihm unbekannt und Angst hatten nur die anderen, meistens vor ihm.
Oh ja, einst war er ein Schwächling gewesen, ein Niemand. Doch seit er den Pakt geschlossen hatte, war diese Angst auch mehr als berechtigt. Seine Kräfte waren heute mit nichts zu vergleichen, und er wurde immer mächtiger, je mehr Zeit verging. Zeit!
Während Zeit für die gewöhnlichen Menschen bedeutete, älter zu werden und den Verlust von Kraft und Vitalität, konnte sie ihm nichts anhaben. Ganz im Gegenteil. Zeit war ein Verbündeter an seiner Seite im Kampf um die absolute Macht. Er, Cathbad, war der größte und mächtigste Druide aller Zeiten. Mehr noch, ja, er würde sogar sagen, fast sei er Gott gleich. Doch eines hatte er Gott sogar voraus. Er schränkte sich, seine Handlungen und Entscheidungen nicht durch etwas so Lästiges und Banales wie ein Gewissen oder Moral ein.
Und doch begann seine Welt sich zu verändern. „Niemals“, brüllte er, die Hände zu Fäusten geballt, sodass die Knöchel weiß hervortraten. Seine Stimme grollte donnergleich über das Land und wie zur Antwort fuhr ein greller Blitz aus dem mittlerweile schwarzen Himmel. Regen peitschte ihm ins Gesicht und durchnässte ihn bis auf die Haut. Donner und Blitz kamen jetzt so schnell aufeinander, als lieferten sie sich ein Wettrennen. Doch er stand unbeeindruckt da. Wer oder was wagte, ihm zu drohen, wagte, seine Macht auf die Probe zu stellen?
Gerüchte gingen um. Gerüchte von einem Mädchen, das mit dem Wind und den Tieren sprach. Eine, der die Träume Geheimnisse verrieten, welche sonst kein Sterblicher jemals gehört hatte. Ein Mädchen mit außergewöhnlichen Gaben und Fähigkeiten.
Tief in seinem Inneren wusste er, dass sie eine Bedrohung für ihn war, doch wie sollte das möglich sein? Niemand hatte es je gewagt, sich ihm in den Weg zu stellen oder es überlebt, kein noch so furchterregender Mann.
„Ein Mädchen, ein Wurm“, murmelte Cathbad abfällig. Er würde sich dieses Wunderkind mal ansehen und sollte sie auch nur falsch atmen, so würde er sie aus dem Weg räumen. Jemanden zu beseitigen, ohne dass auch nur der geringste Verdacht auf ihn fallen würde, bedurfte keiner großen Anstrengung. Ein hämisches Lächeln zog sich bei diesem Gedanken über sein Gesicht. Mit dem Gerede über dieses seltsame Mädchen hatten seine Probleme begonnen und mit ihrem Tod würden sie enden, dessen war er sich plötzlich ganz gewiss.
In seiner unendlichen Arroganz und Selbstverliebtheit erkannte weder Cathbad noch sein Verbündeter, um wen es sich hier handeln konnte. Das konnte ihren Untergang bedeuten.
Schottland, 2010
Mortimer hatte eine kurze Nacht hinter sich. Zögerlich kämpfte sich das erste Licht durch die Dunkelheit, da stand er schon mit einer Tasse Tee in der Hand vor seiner Haustür und blickte über den See. Ein Ziehen im Rücken und eine allgemeine Steifheit erinnerten ihn daran, dass es an der Zeit war, die Dinge ins Reine zu bringen.
„Tja, du bist eben keine dreißig mehr, Mortimer Fraser“, murmelte er in seine Tasse. Es war Zeit, sie anzurufen, ja es war Zeit. Wie gerne wäre er noch einmal fünfzig, nicht für ihn, nein, für sie. Damals war sie gerade drei Jahre alt gewesen und er weit entfernt von der Bürde, die er ihr nun auferlegen musste. Doch die Zeichen nahmen zu, waren nicht mehr zu ignorieren. Schon bald würde sich ihr ihre Gabe deutlich zu erkennen geben, denn die Gier des Einen war unersättlich geworden. Wie hieß es doch so schön in einem alten Western: ‚Leichen pflasterten seinen Weg‘. Nun, er war noch nie ein großer Westernfan und auf das, was jetzt kam, hätte er nur allzu gern verzichtet. Aber so war das nun mal: jeder hatte sein Schicksal und das seine war mit dem ihren verknüpft.
„Los, alter Mann, sei nicht so feige!“, sagte er zu sich und gönnte sich einen letzten langen Blick über den See. Mortimer ging hinein, und da es ihn fröstelte, beschloss er, erst einmal Feuer im Kamin zu machen. Während er die Holzscheite im Ofen übereinander schichtete, schweiften seine Gedanken in die Vergangenheit. Was
hatte er nicht alles erlebt in seinen 75 Jahren. Schönes und Trauriges, Liebe aber auch tiefen Hass und Zorn. Und Kim war in sein Leben getreten. Ihre Großmutter war einst seine große Liebe und ihre Mutter für ihn wie eine Tochter gewesen. Nach deren beider Tod hatte er sich um die kleine Kim gekümmert, die sein Leben immer mit Sonne erfüllt hatte. Als ein Autounfall die beiden ihm liebsten Menschen so plötzlich aus seinem Leben riss, breitete sich in ihm eine Taubheit und Leere aus, sodass ihm ein Weiterleben unmöglich erschien. Doch da war dieses kleine Mädchen, einem Wirbelwind gleich, und sie hatte nur noch ihn.
„Mein Gott“, dachte er, „25 Jahre ist das jetzt schon her. Wo ist nur die Zeit geblieben?“ So war er zu einer Enkeltochter gekommen. Durch tragische Umstände, sicherlich, aber dennoch hatte sie sein Leben unendlich bereichert. Ja, man könnte sagen, sie hatte ihn gerettet. Er könnte sie nicht mehr lieben, wäre sie von seinem Blut und nun war es an ihm, sie zu retten. Gut, genug gegrübelt, jetzt mussten Taten folgen. Also anrufen. Mittlerweile war es 7.30 Uhr, noch eine halbe Stunde, dann würde er sie aus den Federn schmeißen.
Deutschland, Nähe von Nürnberg
Die Sonne schien und es roch herrlich nach Frühling. Kim war froh, heute so früh aufgestanden zu sein. Sechs Uhr war normalerweise nicht so ganz ihre Zeit, doch sie hatte nicht gut schlafen können und sich deshalb zu körperlicher Ertüchtigung aufgerafft. Das Laufen durch den Wald tat ihr gut, die frische Frühlingsluft vertrieb Müdigkeit und Abgeschlagenheit im Nu. Der frühe Morgen hatte etwas Magisches, alles war so still und friedlich, als würde nichts Schreckliches existieren. Kim nahm sich vor, jetzt des Öfteren früher aufzustehen, um ein Teil dieses Zaubers zu sein. Als ihr kleines Häuschen am Rand der fränkischen Schweiz in Sichtweite kam, war es bereits halb acht. Sie blieb kurz stehen und betrachtete vom Waldrand aus ihr Reich, welches sie von ihrer Großmutter geerbt hatte. Es lag abgelegen, ohne direkte Nachbarn und sah mit den kleinen Fenstern und dem verwunschenen Garten aus wie ein Hexenhaus. Die Büsche und Bäume bekamen ihre ersten Blüten, Wiesenblumen reckten sich der so lange entbehrten Sonne entgegen, Vögel lärmten umher, kurz, es war wie ein riesiges Erwachen, ein Durchatmen. Diese Zeit des Jahres gab ihr immer das Gefühl: Alles ist möglich. Mit neuer Energie lief sie über die Wiese nach Hause. Dort angekommen, sprang Kim unter die Dusche, zog sich eine Jeans und einen Pulli über, schlüpfte in ihre Ugg-Boots und machte sich einen Tee. Mit der Tasse in der Hand schlenderte sie nach draußen und genoss die Morgensonne. Jetzt, Mitte April, hatte sie schon richtig Kraft und wärmte nach dem langen Winter nicht nur den Körper, sondern auch die Seele. Wie sie so da stand und die Ruhe genoss, machte sich plötzlich in ihrem Kopf ein merkwürdiges Summen breit. Irritiert schüttelte sie selbigen, und fuhr sich mit den Fingern durch ihr kurzes dunkelbraunes Haar. Doch das Summen wollte nicht verschwinden, ganz im Gegenteil, es nahm an Intensität sogar noch zu. Sie drückte die Hände an ihre Schläfen, so als könnte sie das Geräusch aus dem Kopf herauspressen. Dann war es verschwunden. Genauso unvermittelt wie es aufgetaucht war.
„Mann“, murmelte sie, „was war das denn?“ So was konnte sie im Moment gar nicht gebrauchen. Okay, derlei Dinge kamen nie gelegen, aber heute war ungelegen gar kein Ausdruck. Morgen früh ging ihr Flug nach London und zu Ende gepackt hatte sie auch noch nicht. Sechs Wochen London, und das gegen gute Bezahlung, was hatte sie für einen tollen Job. Als Übersetzerin, Kim beherrschte fünf Sprachen fließend, arbeitete sie oft im Ausland, aber England war immer etwas ganz Besonderes. Und sie liebte London. Krank werden ging jetzt einfach nicht, Ende. Mal sehen, keine Schmerzen, nein, auch nicht wenn sie den Kopf schüttelte. Noch einmal angestrengt in sich hineingehorcht, nichts mehr da. Na also, dann hinein und überlegt, was noch alles in den Koffer gehörte, man wollte ja gut vorbereitet sein. Außer ihrem Job nachzugehen, spielte sie an ein paar Abenden Saxofon im Jazz Club, und da musste Frau gut aussehen. Es stand gerade die Entscheidung zwischen roten Samtwedges oder Tiger-Highheels an, als das Telefon schellte.
„Kim Beck“, schnaufte sie in den Hörer, als er nach einem Treppenanstieg mit anschließender Suche nach dem Telefon endlich in ihrer Hand lag.
„Hast du einen Marathonlauf hinter dir, oder nur wieder das Telefon nicht gefunden?“
„Scotty“, rief Kim hocherfreut, „du kennst mich einfach zu gut. Ich weiß, das klingt jetzt blöd, doch ich wollte dich heute auch noch anrufen. Ab morgen bin ich für sechs Wochen in London und dachte, wir könnten uns treffen.“
„Das ist ja ausgezeichnet, deshalb rufe ich nämlich an. Es sind ein paar Dinge geschehen, über die ich gerne mit dir reden würde“, antwortete Mortimer, von ihr ob seiner Herkunft liebevoll Scotty genannt.
„Was ist los, geht’s dir nicht gut? Bist du krank, ich buche um und komme sofort zu dir!“
„Nein, nein, mir geht’s gut, ich wollte einfach nur über das ein oder andere mit dir reden. Ist schon etwas her seit unserem letzten Treffen.“
„Mann, erschrecke mich doch nicht so, sonst kriege ich irgendwann noch einen Herzinfarkt. Heute Morgen war schon was, das mir echt Angst gemacht hat.“
„Was war denn?“ Kim berichtete über das seltsame Summen in ihrem Kopf und Mortimer ahnte, dass die Zeit drängte.
„Schätze, dass ich so in zwei bis drei Wochen zu dir kommen kann. Lass uns die Tage noch mal telefonieren, bin so ’n bisschen in Zeitdruck heute.“
„Gut, Süße, pass auf dich auf!“ Ein ungutes Gefühl beschlich ihn, hatte er zu lange gewartet? Konnte er sie jetzt so schnell auf all das vorbereiten, was auf sie zukommen würde? Nun, er hatte wohl keine Wahl, und sie auch nicht.
Kim wendete sich wieder der Packerei zu, doch das Telefonat hatte eine merkwürdige Schwere hinterlassen. Ihr Bauch meldete sich, um anzuzeigen, dass irgendetwas nicht so ganz passte, und der hatte bisher immer Recht behalten. Bestimmt war das nur ihre vermaledeite Flugangst, denn fliegen war nicht ihre Lieblingsbeschäftigung. Wie auch immer, was auch immer, London wartete, und eine unbändige Vorfreude vertrieb alle unguten Gedanken.
London
Arthur Bramley sah ganz und gar nicht so aus, wie sein altehrwürdiger Name vermuten ließ. Von vornehmer Zurückhaltung bis seriös keine Spur. Er hatte ein markantes Kinn und hohe Wangenknochen. Unter den dunklen, geraden Augenbrauen waren unglaublich grüne Augen zu sehen. Seine leicht lockigen, vollen, schwarzen Haare waren immer ein bisschen zu lang, und seine Klamotten extrem lässig. Es war diese Art von Kleidung, die nicht gleich so aussah, aber alles andere als günstig war. Seine Ausdrucksweise grenzte nach Meinung seines Vaters an verbale Misshandlung, und an den Beruf seines Sohnes mochte dieser gar nicht erst denken. Art, wie sein Umfeld ihn nannte, war mit seinen 32 Jahren bereits leitender Inspektor einer Sondereinheit von Interpol, der ECU. Die "Extraordinary Cases Unit" bearbeitete jene Fälle, welche aus dem Rahmen fielen, und einer ganz besonderen Betrachtungsweise bedurften. Art kam aus so genanntem "guten Hause", doch dementsprechend benommen hatte er sich nie. Dank seiner eigenen Ansichten hatten ihn Stand und Vermögen niemals vom Charakter eines Menschen ablenken können. Klar, es war einfach Geld an zweite Stelle zu setzen, wenn man es im Überfluss besaß, doch da konnte und wollte er nicht aus seiner Haut.
Als Art an diesem Frühlingsmorgen am Fundort der Leiche ankam, war er geneigt, seinem Vater zuzustimmen, was seinen Job betraf. Der Coroner hatte bereits angefangen, die Tote zu untersuchen und Polizisten waren eifrig damit beschäftigt, den Tatort abzusperren.
„Hallo George, kannst du schon irgendwas sagen?“
„Ich kann dir sagen, dass sie zu jung war, um zu sterben. Todeszeitpunkt etwa gegen ein Uhr heute Nacht, Genaueres kann ich erst sagen, wenn ich sie auf meinem Tisch habe.“
„Sieht ganz so aus, als ob unser Freund ‚das Arschloch‘ wieder aufgetaucht ist. Scheiße, wir müssen da endlich weiterkommen.“ Art schaute auf die Leiche der jungen Frau herunter und eine tiefe Traurigkeit legte sich wie ein Tuch über seine Seele. So viele Tatorte, so viele Tote, aber gewöhnen würde er sich an diesen Anblick nie.
„Immer wieder übel, oder?“ George stöhnte während er sich aufrichtete. „Ich bin auch jedes Mal aufs Neue entsetzt, besonders bei diesen Fällen. Die Wievielte ist das jetzt?“
„Die Achte.“ Art rieb sich mit den Händen über die Augen, als könnte er so das Bild vertreiben. Das Mädchen konnte höchstens 21 sein, sah jedoch aus wie eine alte Frau. Einzelne Strähnen in den langen grauen Haaren ließen darauf schließen, dass diese einmal goldblond gewesen waren. Ihre schlanken Finger waren perfekt manikürt und ein dezenter, jedoch teurer Silberring mit einem Rubin zierte den Mittelfinger der linken Hand. Sie trug ein dunkelrotes, sehr geschmackvolles Seidenkleid mit tiefem Ausschnitt und schwarze Pumps. Alles in allem eine sehr gepflegte, schöne Erscheinung. Doch die Haut war runzelig und spannte sich wie Pergamentpapier über die eingefallenen Wangen. Die blauen Augen lagen tief in den Höhlen. Entsetzen und Unverständnis sprachen immer noch aus ihnen, so als könne sie nicht glauben, was da gerade passiert war. Es war immer das Gleiche, dachte Art. Immer junge Frauen und immer sahen sie aus, als wäre ihnen nicht nur das Leben, sondern auch die Seele geraubt worden. Vor ihnen lag eine leere, ausgemergelte Hülle, die einmal eine schöne Frau gewesen war. Doch die Tatorte waren immer unterschiedlich. Dieser war am Themseufer, unterhalb von Tower Hill.
„He, Art, was liegt an?“
„Ian, hast dir ganz schön Zeit gelassen. Er ist wieder da.“ Ian Finnegan war nicht nur Arts Kollege, sondern auch sein bester Freund. Seine roten, immer etwas zerzausten Haare und hellblauen Augen ließen ihn auf den ersten Blick wie einen kleinen Jungen erscheinen. Es waren nicht wenige, die ihn deshalb oft unterschätzten. Der eine oder andere böse Bube wurde da schon schmerzhaft eines Besseren belehrt, denn Ian war ein ausgezeichneter Kämpfer. Was Art jedoch am meisten an ihm schätzte, war seine absolute Loyalität und Zuverlässigkeit. Sie konnten sich beide blind aufeinander verlassen, und das war in ihrem Job die beste Lebensversicherung.
„Ich nehme an, Spuren sind mal wieder in Hülle und Fülle vorhanden“, presste Ian zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, nachdem er sich die Tote angesehen hatte.
„Klar und seine Visitenkarte hat der werte Herr Megaarsch uns auch gleich dagelassen. Mensch Ian, so kann das doch nicht weitergehen, wir treten seit Jahren auf der Stelle. Nie Spuren, kein erkennbarer Rhythmus, immer junge, aber unterschiedlich aussehende Frauen. Mann, ich werd' noch zum Säufer.“
„Wir müssen uns noch mal auf die Todesart stürzen, das ist unsere einzige Konstante. Was sagst du dazu, George?“ George hatte sich etwas bedeckt gehalten, um seine Erschütterung nicht so zu zeigen. Normalerweise konnte er immer einen kühlen Kopf bewahren, machte seine Arbeit, so schlimm sie auch oft war, und hatte kein Problem, den nötigen Abstand zu wahren. Er hatte weiß Gott schon Entsetzliches gesehen, aber diese Fälle hatten etwas an sich, das in ihm den Wunsch aufkommen ließ, sich mit so was Irrationalem zu bewaffnen wie Weihwasser oder Kruzifixen. Die Tote war zum Abtransport bereit und George drehte sich zu Art und Ian um.
„Ich wünschte, ich könnte euch irgendetwas sagen, aber es ist auf den ersten, und ich wette auch auf den zweiten, Blick nichts zu erkennen, das euch weiterhelfen würde.“
„Lasst uns erst mal rausfinden, wer sie war, und dann sehen wir weiter. Hier ist jetzt nichts mehr zu wollen. Wenn die Kollegen der Spurensicherung was finden, werden wir es erfahren. Los komm, Art, fahren wir zur Dienststelle.“
„Fahr schon vor, Ian, ich brauch noch ’n Moment.“
„Ok, wir sehen uns dann da.“
Nachdem Ian gegangen war, stellte sich George neben Art und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Irgendwann wird er einen Fehler machen.“
„Irgendwann ist zu spät. Wie viele Mädchen müssen bis dahin noch sterben, und ich bin dafür verantwortlich?“
„Nein, Art, er ist dafür verantwortlich und nur er. Du hast dich nur dazu entschieden, Monster wie ihn aufzuhalten. Gib nicht auf, sonst hat dieses Schwein auf mehr als nur einer Ebene gewonnen.“ George drückte Arts Schulter und ging.
Art stand da und starrte auf die Themse. Irgendetwas hatten sie bis jetzt übersehen. Er hatte so ein komisches Gefühl, so als wäre es ganz einfach, wenn er nur richtig hinsehen würde. Der Himmel war strahlend blau, die Sonne herrlich warm, und das passte so gar nicht. Weder zu seiner Stimmung, noch zu dem Geschehenen. Ihm musste etwas einfallen, er war doch ein kluges Köpfchen, aber in selbigem herrschte gähnende Leere. Vielleicht sollte er heute Abend in den Jazz-Club bei sich um die Ecke gehen und Ian nötigen, mitzukommen. Es war Freitag und heute spielte eine Band mit einer Saxofonistin aus Deutschland, könnte interessant werden. Außerdem konnte so eine kleine Auszeit oft Wunder bewirken, und sollte er einen Geistesblitz haben, so hatte er ja Ian bei sich, um ihm damit auf die Nerven zu gehen, der wusste nur noch nichts davon. Noch nicht, aber das würde er jetzt ändern.
London
Kims Maschine landete um 7:15 Uhr Ortszeit am Flughafen London-Stansted. Sie war glücklich, den Flug lebend hinter sich gebracht zu haben und in froher Erwartung auf die kommende Zeit. Unruhig stand sie am Gepäckband, ihr geliebtes Saxofon im dem entsprechenden Koffer in der Hand, und hielt nach ihren restlichen Habseligkeiten Ausschau. Paul würde sie abholen, ihr geliebter Paul. Und da kam auch schon ihr Gepäck, bestehend aus einem großen und einem kleineren schwarz-weißen Pünktchen-Koffer. Sie schnappte sich beide, hievte sie auf den Gepäckwagen und steuerte den Ausgang an. Da stand er, Paul Jennings, groß, in einem tadellos sitzenden grauen Anzug mit hellblauem Hemd, passender grauer Weste, glänzenden, sündhaft teuren schwarzen Schuhen, das dunkle Haar exzellent geschnitten und mit diesem charmanten Lächeln im Gesicht. Kim blieb kurz stehen und sah ihn an, wie er da so an der Firmenlimousine, inklusive Chauffeur, lehnte. Paul leitete die IT-Abteilung von der Cathbin Corporation, für die sie die nächsten Wochen als Übersetzerin tätig sein würde. Dort hatten sie sich vor zwei Jahren kennengelernt, und waren seitdem unzertrennlich.
„Ich sehe, die Dame trägt heute mal Schuhe statt, wie üblich, Sneakers. Sehr lobenswert.“
„Charmant wie immer, Mr. Jennings, ich freue mich auch, dich zu sehen.“ Schon war Paul bei Kim und umarmte sie stürmisch. Er gab ihr einen dicken Kuss auf den Mund, um sie dann etwas von sich fortzuschieben und einer genaueren Betrachtung zu unterziehen.
„Schätzchen, du siehst heute einfach fabelhaft aus. Dieser Anzug im Dandy-Stil mit den Plateaupumps ist ja unglaublich! Wohin darf ich diese wunderschöne Dame heute Abend ausführen, um den Neid aller übrigen Männer auf mich zu ziehen?“
„Ach, Paul, ich wünschte so sehr, du würdest auf Frauen stehen, dann würde ich dich zwingen, mich zu heiraten, und mein Leben wäre wesentlich unkomplizierter. Aber lass uns erst mal einsteigen und dann besprechen wir alles Weitere.“ Der Chauffeur hatte inzwischen ihr Gepäck verstaut und die Fahrt konnte losgehen.
„Wir fahren erst zu meiner Wohnung, Edward.“
„Sehr wohl, Sir.“ Paul wohnte in einem äußerst schicken Appartement zwischen Soho und Covent-Garden, glücklicherweise mit großem Gästezimmer, in dem Kim sich einzunisten beliebte, wenn sie in London weilte. Es war für sie immer wie nach Hause kommen, wenn sie in England ankam. Schon mehr als einmal hatte sie überlegt, hierher zu ziehen. Aber irgendwie hatte sie bis jetzt immer das Gefühl gehabt, ihre Großmutter, Mutter, Herkunft oder was auch immer zu verleugnen, wenn sie das täte. Eigentlich völliger Quatsch, doch irgendetwas fehlte da noch, damit es sich richtig anfühlte, diesen Schritt zu unternehmen.
„Was macht die Liebe, Herzensbrecher?“ Paul hatte inzwischen eine Flasche Champagner geöffnet, und ihnen zwei Gläser eingeschenkt.
„Sie kommt und geht in stetigem Rhythmus. Cheers, meine Schöne, auf eine ereignisreiche, wunderbare Zeit.“
„Cheers. Mit dir beginnt dieser Tag wie immer so wundervoll dekadent. Champagner am Morgen, herrlich. Was heute Abend angeht, ich spiele doch im Jazz Club, hatte ich aber bei unserem letzten Telefonat erwähnt.“
„Ich erinnere mich schwach. Wie kannst du nur neben mir noch eine Leidenschaft haben? Brauchst du Unterstützung, oder möchtest du lieber als geheimnisvolle, einsame Fremde die Männerwelt verwirren?“
„Geheimnisvolle Fremde würde eh nicht funktionieren, dafür bin ich da weiß Gott schon zu oft aufgetreten. Aber deine Unterstützung und Gegenwart machen mich doch immer glücklich, mein lieber Paul. Und wer weiß, was für nette Herren sich da heute rumtreiben. Vielleicht begegnest du heute deiner großen Liebe.“
„Bla, bla, bla. Du weißt doch, wie ich zu diesem Thema stehe. Liebe ist toll, wenn sie kommt, und nervig, wenn sie bleibt. Ich bin mehr der ‚a la Carte Typ‘, und das wird sich auch nicht ändern. Aber wie sieht es denn bei dir aus?“
„Willst du mich ärgern, oder gleich wieder loswerden? Die Liebe und ich sind irgendwie nicht kompatibel. Ich habe bei Männern kein glückliches Händchen, das müsste dir aber bekannt sein. Also nerv mich nicht mit unangenehmen Dingen, lass uns lieber die Flasche Champus platt gemacht haben, bevor wir London erreichen, und dann richtig gut frühstücken gehen.“
Da war jemand mal wieder sehr verletzt worden, schloss Paul aus der vorausgegangenen Unterhaltung. Wenn Kim so abblockte, hatte man einen wunden Punkt getroffen. Er würde sich bemühen, ein großes, buntes Pflaster auf die Wunde zu kleben, denn um diese zu heilen, war er nicht der Richtige.
Nach dem Frühstück war Paul in die Firma gefahren, und Kim hatte sich noch einen kleinen Einkaufsbummel gegönnt. Mit einer dreiviertellangen, knallroten, sehr engen Lederhose, die sie auf jeden Fall heute Abend anzuziehen gedachte, fuhr sie im Taxi zurück in Pauls Wohnung. Sie hatte schon seit Längerem einen eigenen Schlüssel, was nicht nur unkomplizierter war, sondern ihr noch mehr das Gefühl von Erwünschtsein und Geborgenheit gab. Sie schloss die Tür auf und genoss für einen Moment die Ruhe nach dem hektischen Treiben auf Londons Straßen. Pauls Wohnung war puristisch und edel in gedeckten Tönen eingerichtet. Ausgefallene Kunstwerke hiesiger Maler und Bildhauer verstärkten noch den Eindruck, man sei in einem ‚Schickimicki‘-Appartement gelandet. Dazu herrschte eine solche Ordnung, dass jeder Fremde erst mal Angst hätte, sich zu bewegen, geschweige denn irgendetwas anzufassen. Das war bei Kim nicht der Fall. Sie schleuderte ihre Einkaufstüten auf das hellgraue Designersofa, und ging in die angrenzende, offene Küche, um sich einen Tee zu machen. Während sie auf ihr Teewasser wartete, schlenderte Kim mit einem Lächeln im Gesicht auf das Gästezimmer zu. Es war so ganz anders als der Rest der Wohnung, mit lasiertem weißem Holz, einem gemütlichen türkisfarbenen Sofa mit pastellfarbenen, bunten Kissen und vielen Kerzen in derben Kerzenständern aus Stein. Sie liebte dieses Zimmer. Und sie liebte Paul für seine Ehrlichkeit, Offenheit, Warmherzigkeit und seinen guten Geschmack. Er selbst rümpfte nur die Nase über den Anflug von Landhausstil in seinem sonst so durchgestylten Appartement. Aber das zeigte ihr nur noch mehr, wie sehr sie ihm am Herzen lag, denn sie wusste, dass Paul für niemanden anderen einen solchen Stilbruch betrieben hätte.
Kim holte sich den Tee und fing an auszupacken. Danach würde sie sich noch ein Stündchen hinlegen, denn es würde sicher eine lange Nacht.
Nach einer ausgiebigen Dusche, das eine Handtuch turbangleich um den Kopf gewickelt, das andere um den Körper geschlungen, stand gerade die Wahl des restlichen Outfits zur Debatte, als sie die Wohnungstür hörte. Dann stand Paul auch schon hinter ihr und drückte ihr einen Kuss auf die Wange.
„Nimm die schwarze durchsichtige Chiffonbluse, da kippen die Kerle glatt um.“
„Na gut, aber du bist für alles verantwortlich, was das gute Stück anrichtet. Was meinst du, Biker Boots oder Sneakers?“
„Ich meine, keins von beidem. Zieh um Gottes Willen was Hohes an, sonst zerstörst du das ganze Bild!“
„Ich kann in hohen Schuhen kein Saxofon spielen, das weißt du doch. Ich nehme die Bikerboots.“
„Und ich einen Drink. Möchtest du auch einen?“
„Nein, ich muss in einer Stunde los und ich stehe nicht gern angesäuselt auf der Bühne. Außerdem singe ich nachher auch noch, und sonst vergesse ich womöglich den Text.“
„Du singst?“ Paul drehte sich mit seinem Martini in der Hand zu ihr um. „Wie kommen wir denn zu der Ehre?“
„Ja, mach dich nur lustig. Meg hat eben angerufen, die Sängerin kommt etwas später. Irgendwas Persönliches, hab’s nicht richtig mitbekommen. Also springe ich die erste Stunde ein. Dein blödes Grinsen kannst du dir sparen, es ist eine Ausnahme. Du weißt genau wie, …“, sie schaffte es nicht, den Satz zu beenden.
„Du wirst beim Singen genauso großartig sein wie beim Saxofonspielen“, Paul nahm sie in den Arm, „obwohl du die falschen Schuhe trägst.“
Kim trat ihm spielerisch vors Schienbein. „Blödmann“, murmelte sie im Weggehen. „Ich muss mich jetzt fertig machen, sonst sind die Schuhe mein geringstes Problem.“ Paul brach in lautes Lachen aus und ging seinerseits davon, um zu duschen.
Es war nicht sehr weit bis zum Jazz-Club, also beschloss Kim, zu Fuß zu gehen. Sie schlenderte durch die Straßen und fühlte sich herrlich, trotz der anstehenden Singerei. In Mayfair am Club angekommen, begrüßte sie den finster dreinblickenden Türsteher mit einer ausgiebigen Umarmung und einem Küsschen, was seine Miene für den Bruchteil einer Sekunde aufzuhellen vermochte. In seinem dunklen Gesicht blitzten strahlend weiße Zähne hervor, und kurzzeitig sah dieser fast zwei Meter große, äußerst kräftige Mann eher wie ein Knuddelbär denn wie ein Raubtier aus. „Schön, dich mal wieder hier zu haben, Kim“, brummte er und drückte sie kurz an sich, „die Band wartet schon sehnsüchtig auf dich.“
„Ich freue mich auch, dich zu sehen, John. Was macht Marie?“
Ein Strahlen erhellte seine Augen. „Das Baby kommt in zwei Monaten.“
„Wie schön“, sie drückte noch kurz Johns Arm und ging hinein. Sofort nahm die ganz besondere Atmosphäre dieses Ortes Kim gefangen. Oben waren die Garderobe und der Empfang, dann ging eine Treppe hinunter in den eigentlichen Clubbereich. Schwarzweißbilder von bekannten, und nicht so bekannten Musikern zierten die Wände. Die größere der beiden Bars war aus dunklem Mahagoni und strahlte etwas Altes, Ehrfürchtiges aus. Die etwas kleinere Bar im anderen Teil des Clubs war moderner, und mehr ausgerichtet für den schnellen Drink zwischendurch, nicht so sehr zum Verweilen gedacht. Die Bühne, nicht sehr groß, aber dennoch der zentrale Punkt und das Herz des Ganzen, gedämpftes Licht, gedeckte Töne beim Mobiliar, der Holzfußboden und unglaublich gutes Essen und ebensolche Drinks, kombiniert mit einem ausgezeichneten Service, komplettierten das Bild und machten diesen Club zu einem der gefragtesten Londons. Kim war vor drei Jahren durch Zufall sowohl in den Club, als auch in die musikalische Gestaltung herein geraten, und trat seitdem regelmäßig dort auf. Das verschaffte ihr nicht nur eine angenehme, wenn auch nicht horrende Auffrischung ihrer Shoppingkasse, sondern gab ihr auch die Gelegenheit, mit tollen Musikern zusammenzuarbeiten, und interessante Leute kennenzulernen. Sie schüttelte Hände, verteilte und empfing Umarmungen, plauderte hier und da, bis sie die Bühne erreicht hatte. Die Band baute noch auf, und so nahm Kim ihr Saxofon heraus, während sie auch hier begrüßt wurde und begrüßte.
Die Band bestand heute aus dem Gitarristen, dem Drummer, dem Bassisten, einer jungen, sexy Dame am E-Piano, einem Trompetenspieler und ihr. Später, wenn sie aus dem Jazz, auch als Begleitmusik zum Essen, in den Motown-Bereich wechseln würden, käme noch ein Sänger hinzu. Dann würde auch kein Essen mehr serviert werden, und der gediegene Jazz-Club entwickelte sich zum Hexenkessel. Was ihr am meisten gefiel, war die Vielfältigkeit des Publikums. Es war alles vertreten im Alter von 20 bis 80. Vorfreude, begleitet von dem ihr so vertrauten Lampenfieber machten sich breit. Kurz hatte sie den unbändigen Drang, schnell zu fliehen, doch da war schon James, der Drummer, an ihrer Seite. „Na, wieder Fluchtgedanken?“
„Du kennst mich schon viel zu gut, mein Lieber. Was haben wir denn heute für ’n hübsches Ding am Piano?“
„Ist mir auch schon aufgefallen. Verspricht ein echt heißer Abend zu werden. Ich werde mir die Dame mal aus der Nähe anschauen, du lässt mich ja immer abblitzen.“ Mit diesen Worten schlenderte er von dannen.
„Armer, schwarzer Kater“, rief sie ihm hinterher und lachte. Er drehte sich noch mal kurz um und erwiderte ihr Lachen. Wenn man James beschreiben müsste, würde man sagen, ein typischer Musiker, nicht unbedingt schön zu nennen, aber mit einem ganz gefährlichen, anziehenden Charme, dem sich eine Frau nur schwer entziehen konnte. Armes Mädel, dachte Kim, denn sie sah, dass der besagte Charme schon Wirkung zeigte. Ja, James war charmant, aber nicht besonders anhänglich. Mehr der Jäger, denn der Sammler. Sie spielten ein bisschen hiervon und davon, um sich aufeinander einzustellen, bis der Club seine Tore öffnete. Die ersten Gäste kamen herunter und wurden mit langsamen, instrumentalen Jazzstücken empfangen.
Art nahm sich gerade ein Bier aus dem Kühlschrank, als die Türglocke mit ohrenbetäubendem Kreischen einen Besucher ankündigte. Er musste dieses Ding reparieren lassen und zwar schnell, es sei denn, er war scharf darauf, sein Gehör einzubüßen. Vor der Tür stand Ian, pünktlich wie immer, in seiner besten Jeans, schwarzem Hemd und grimmiger Miene. Art konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, als sein Blick auf den verzweifelten Versuch der Haarbändigung fiel.
„Schalt dieses Grinsen ab oder ich helfe dir dabei!“
„Vielleicht kommst du vorher erst mal rein, und ich hol dir ’n Bier.“
Mit nicht viel besserer Laune schob sich Ian an Art vorbei und ging in die Küche. Es haute ihn immer noch um, wie groß Arts Wohnung war. Na ja, eigentlich war es mehr ein halbes Haus mit zwei Etagen und das mitten in Mayfair. Man konnte das Geld förmlich riechen, aber Art ließ das nie raushängen oder gab ihm das Gefühl, etwas Besseres zu sein. Ganz im Gegenteil. Seine Bude, wie er sein Domizil zu nennen pflegte, war eher flapsig denn schick eingerichtet, sodass Ian kein Problem damit hatte, sich hier wohlzufühlen oder selbst zu bedienen. Hier und da hing zwar ein Bild, von dem er überzeugt war, es koste mehr als sein Jahreseinkommen, aber ansonsten unterschied sich der Einrichtungsstil nicht sehr von seinem. Das brachte Arts Vater bestimmt jedes Mal wieder auf die Palme, wollte er sein Prinzchen doch am liebsten in Prunk und hohen Würden sehen.
„Wir gehen also heute Abend in deinen Schicki-Micki-Club.“ Ian öffnete sein Bier und lehnte sich gegen den Kühlschrank.
„Warum bist du nur am Anfang jedes Mal so störrisch? Später muss ich dich dann wieder da rausschleifen, weil du nicht gehen willst.“
„Ich weiß auch nicht, gibt mir irgendwie immer so ’n Gefühl von nicht schick genug sein. Ja, das ist Quatsch, weiß ich ja, bin eben mehr der Pub- und Fish’nChips-Typ.“
Art lachte. „Dann wird es dich ja ganz besonders freuen, dass ich dich heute Abend in besagtem Club zum Essen einlade. Ich hab sogar einen Tisch bestellt, von dem aus wir die Bühne sehen können, wie bei einem Rendezvous.“
„Dann hoffe ich doch mal, dass du mir auch die Türen aufhältst, und mir die Jacke abnimmst. Ansonsten könnte ich etwas verstimmt sein.“
„Aber selbstverständlich, mein Liebster, und ich bestelle auch dein Lieblingsgetränk, Champagner.“
Ian rollte mit den Augen, und stöhnte. „Treib’s nicht zu weit, Bramley, sonst schnappe ich dir heute jeden heißen Feger vor der Nase weg.“
„Das kann ich nicht riskieren. Ich geb’s ja nur ungern zu, aber aus mir unerfindlichen Gründen stehen die Frauen auf dich. Werde mich also benehmen, Bier bestellen, und wenn erwünscht, auch rülpsen.“ Sie grinsten sich an, und verließen in trauter Zweisamkeit das Haus. Arts dunkel grünen MG ließen sie vor dem Haus zurück, der Club lag nur zwei Straßen weiter. Ein Fußmarsch von nicht mal zehn Minuten.
Es war kurz nach neun, als die beiden am Jazz-Club ankamen. Art begrüßte John mit Handschlag, und sie wechselten kurz ein paar Worte. Von unten drangen Saxofonklänge zu ihnen herauf, und lockten sie sirenengleich in die Tiefen. Art hatte sich diesem Instrument noch nie entziehen können, war er auch selber zu unmusikalisch, um eine Triangel spielen zu können. Eine adrett gekleidete, junge Frau kam auf sie zu, und führte die beiden zu ihrem Tisch. Art bestellte eine Flasche spanischen Rioja, rot und schwer, so wie er Wein bevorzugte, und ein Bier für Ian.
„Nein, ist schon gut. Ich schließ mich dir heute gerne an. Bin plötzlich in Weinstimmung.“
Ein Kellner brachte die Speisekarte und gerade als Art sich darin vertiefen wollte, fiel sein Blick auf die Saxofonistin. Boom, wie ein Schlag in den Magen. Irritiert kniff er die Augen ein wenig zusammen. Was war das denn, kannte er sie? Hatte er sie schon mal irgendwo gesehen? Sie fesselte ihn augenblicklich so sehr, dass er seinen Blick nicht von ihr wenden konnte. Dabei war sie überhaupt nicht sein Typ. Sie hatte kurze, dunkelbraune Haare, braune Augen und eine schlanke, sportliche Figur. Er stand eher auf den blonden, langhaarigen Typ, schlank, aber mit Kurven an den richtigen Stellen. Art mochte es sehr, wenn Frauen kurze Kleider trugen, dazu hohe Schuhe und lange Beine. Sie dagegen war eher klein, vielleicht 1,60 Meter, trug knallrote Lederhosen und Bikerboots, und hol ihn der Teufel, er fand das ausgesprochen sexy. Wie sie da so stand, diese kleine Person mit dem großen Tenorsaxofon, und ein Solo hinlegte, das sich gewaschen hatte, beschlich ihn so ein komisches Gefühl. Auf einmal empfand er es als lebensnotwendig, diese Frau kennenzulernen. „Was für ’n Bullshit“, dachte er gerade, als Ian ihn aus seinen Gedanken riss.
„He, was ist los? Du bist ja völlig weggetreten.“
„Siehst du die Kleine da auf der Bühne?“
„Du meinst die Saxofonistin, die du die ganze Zeit wie ein hypnotisiertes Kaninchen anstarrst?“
Art warf Ian einen vernichtenden Blick zu. „Ich dachte, ich kenne sie von irgendwoher, sonst nichts. Da brauchst du gar nicht so süffisant zu grinsen.“
„Ist schon klar. Lass uns was zu essen bestellen, bevor du mir hier vom Stuhl fällst.“ Sie bestellten, und Art versuchte sich nicht weiter mit seinen sehr merkwürdigen Gefühlen oder der Person, die diese auslöste, zu beschäftigen.
Gott sei Dank war ihr Solo vorbei, und sie hatte einen Moment Zeit, sich zu sammeln. Kim ließ das Saxofon sinken und versuchte unauffällig, zu dem Mann am Tisch links vor der Bühne zu linsen. Sie hatte seinen Blick gespürt, wie er sie förmlich durchbohrt hatte. Als wollte er direkt in ihre Seele blicken, und sie hatte das Gefühl, dass er kurz davor gewesen war. Gut sah er aus, gefährlich
gut. Sie sollte ihn nicht beachten, so tun, als ob er nicht da sei, aber sie hätte eher fliegen können, als ihn zu ignorieren. Was war nur mit ihr los? Erst diese komische Kopfgeschichte und jetzt war sie kurz davor, einen Fremden anzuschmachten, sich ihm an den Hals zu werfen. Zu allem Überfluss kam jetzt auch noch ihre Gesangseinlage. Sie stellte ihr Saxofon zur Seite in den Ständer, und trat vor das Mikrofon. ‚Moonlight in Vermont‘ war der erste Song, den sie singen würde, einer ihrer liebsten. Sie atmete noch einmal durch, und dann erklang ihre leicht rauchige Stimme.
Fast wäre Art sein Steak im Hals stecken geblieben. Er musste husten, hatte sich aber schnell wieder im Griff. Was war denn nur los? Ja, sie hatte eine gute Stimme, ok, sie hatte eine tolle Stimme, besonders für Jazzsongs, aber das war doch kein Grund, dass sein Blut zu fließen, sein Herz zu schlagen und sein Gehirn zu denken aufhörte. Aber genauso war es, ob er es nun verstand oder nicht, er war von dieser Frau fasziniert, und mehr als das.
„Hältst du es für möglich, dass du es schaffst, mir zu antworten, oder kann ich gleich verschwinden?“
Art blickte verständnislos zu Ian, so als hätte er gesagt, er trage morgen ein rosa Tütü zur Arbeit. „Tut mir leid, ich weiß auch nicht, was hier grade mit mir passiert.“
„Du bist scharf auf die Kleine, das passiert hier gerade.“
„Wenn’s das mal wäre. Ian, halt mich für bescheuert, aber ich hab mich eben verliebt. Nein, das trifft es nicht ganz, es ist irgendwie noch mehr.“
„Mach keine Scherze! Art Bramley verliebt sich doch nicht einfach so. Art legt die Frauen flach, wenn ich das
mal so sagen darf, aber Liebe?“ Ian machte eine Grimasse, die sein Unverständnis ausdrücken sollte.
„Meinst du, ich sei scharf auf so ’n Gefühlsscheiß? Aber ich kann’s nicht ändern. Auf jeden Fall muss ich sie kennenlernen, Ende.“
„Aber sonst stehst du doch auf völlig andere Frauen“, Ians Unverständnis wollte nicht weichen.
„Erzähl mir was, was ich noch nicht weiß!“ Mit diesen Worten griff Art zu seinem Weinglas, und leerte es in einem Zug. Hol ihn der Teufel, aber er würde herausfinden müssen, was es mit dieser Frau auf sich hatte.
Kim sang und sang, ohne richtig mitzukriegen, was sie da sang. Gott sei Dank kannte sie die Texte so gut, dass sie sie auch halb tot hätte singen können. Noch ein Lied und die Band machte eine Pause. Sie ging zur Bar und holte sich einen Gin Tonic.
„Seit wann trinkst du während einer Session?“, James stand neben ihr, und holte sich ein Bier.
„Seit jetzt, frag nicht weiter!“
„Es ist dieser Typ, der dich die ganze Zeit mit seinen Augen auszieht, oder?“ James lehnte sich neben sie an die Bar. „Kennst du ihn?“
„Nein, und ich bin auch nicht scharf darauf, das zu ändern.“
„Ja, nee, ist schon klar.“ James nahm sein Bier und zog von dannen. Kim nippte an ihrem Gin Tonic und versuchte, wieder einen klaren Kopf, und einen nicht ganz so flatternden Magen zu bekommen. „Oh nein“, brummelte sie vor sich hin, „das muss doch nicht sein!“ Sie sah, wie Art zielstrebig in ihre Richtung steuerte. „Beruhige dich“, sagte sie sich immer wieder, ist doch auch nur so ’n Kerl. Aber irgendwie war dem eben nicht so, und ihr wurden bei seinem Anblick die Knie weich.
„Hallo“, stammelte Art, „ich würde Sie gern auf einen Drink einladen.“
„Ich trinke nicht während eines Auftritts“, blaffte Kim ihn an.
„Und was ist das da in Ihrer Hand, Kinderbrause?“
Sie schaute auf, direkt in seine Augen, seine unglaublich grünen, faszinierenden Augen. „Das, Mister, ist eine Ausnahme.“ Kim lächelte und raubte ihm damit nicht nur die Fähigkeit etwas zu sagen, sondern auch den Verstand.
„Ich muss dann mal wieder“, sagte sie und ließ ihn sprachlos und wie einen begossenen Pudel zurück.
„Du kannst den Mund jetzt wieder zu machen. Mann, da hat sich aber jemand ’ne Abfuhr geholt.“ Ian war an Arts Seite getreten, ohne dass dieser es auch nur bemerkt hatte. Langsam, aber sicher dämmerte es Art, wie dämlich er aussehen musste. Er räusperte sich, und drehte sich zu Ian um. „Lass uns was Anständiges trinken, nicht so ’n halbseidenes Zeug!“ Er drehte sich zum Barkeeper um und bestellte zwei doppelte Whiskey. Er glaubte nicht, dass das etwas ändern würde, aber den Versuch war es wert.
In einem Séparée hatte noch jemand Kims Auftritt mit großem Interesse, und wachsendem Unbehagen verfolgt. Der gut aussehende Mann, groß gewachsen mit leicht grauen Strähnen im sonst noch blonden Haar, war entgegen seines normalen Habitus leicht irritiert. So eine Präsenz hatte er schon mal gespürt, aber nein, das war so
lange her, es konnte einfach nicht sein. Seine Begleitung, sie hätte locker seine Tochter sein können, legte ihm eine Hand auf den Arm. „Ist etwas nicht in Ordnung, Darling?“
„Nicht doch, Kleines, alles bestens.“ Er hauchte ihr einen Kuss auf die Hand, der sie wohlig erschauern ließ, und bestellte noch eine Flasche Champagner. Tief in seinem Inneren begann er zu erkennen, dass hier plötzlich gar nichts mehr in Ordnung war. Ganz und gar nicht. Er würde einiges in die Wege leiten müssen, und er musste auf der Hut sein. Aber all das hatte Zeit bis morgen, jetzt hatte er etwas anderes vor. Der Mann drehte sich zu seiner Begleitung um, und fasste mit einer Hand in ihr langes, volles, blondes Haar. Sie schaute ihn mit ihren großen, braunen Augen verliebt und vertrauensselig an. Frauen waren für ihn schon immer nur Mittel zum Zweck gewesen. Aber auch ein so mächtiger Mann wie er hatte Bedürfnisse, auf mehr als einer Ebene. Er grinste teuflisch in sich hinein. Alles dumme Gänse, austauschbar, dachte er und zog sie in seine Arme, wohl wissend, dass es ihr letzter Abend sein würde.
Paul hatte sich die kleine Szene aus gebührender Entfernung angesehen, und hob erstaunt eine Augenbraue. Da hatte seine kleine Kim doch
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Tag der Veröffentlichung: 19.07.2015
ISBN: 978-3-7396-0604-0
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Meiner Familie
Anna, Rolf und Merci,
die mich fördert, fordert, aushält und sein lässt.