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Vor einer Woche war ich noch Angestellter in einem hellen, klimatisierten Büro.
Jetzt sitze ich in einem feuchten Erdloch, einen Helm auf dem Kopf, einen Feldstecher um den Hals und mit einem Plastikrohr, durch das ich kommunizieren soll.
Dieser rasante Wechsel der Daseinsform kam völlig unvorbereitet und Kopf und Seele können das einfach nicht verarbeiten. Ich habe in den letzten Wochen öfter Alpträume gehabt; auch dieses Erleben hier kommt mir wie ein quälender Alptraum vor, aus dem ich erwachen möchte, aber nicht kann.
Ich bin damit nicht allein, hunderttausende oder Millionen sind davon betroffen.
Die Welt schien einen Moment stillzustehen, und dann ist sie explodiert.
Wer will behaupten, das fassen zu können? Manch einer ist wahnsinnig geworden, heißt es, und ich habe oft das Gefühl, ebenfalls kurz davor zu sein.

 

Vorige Woche Dienstag kurz nach zwei Uhr fiel der Strom aus. Ich ärgerte mich; ich hatte viel zu tun und keine Zeit zu versäumen. Nun ja, solche Sachen kommen nicht oft vor und wenn, dann sind sie schnell behoben, dachte ich mir und schlenderte zur Kaffeemaschine, um mir in der Zwischenzeit einen Kaffee zu holen. Das war keine gute Idee, denn natürlich war die Kaffeemaschine auch tot.
Der Strom kam nicht wieder, nicht am Dienstag und auch nicht an den folgenden Tagen. Die Kaffeemaschine sollte sich sehr bald als das kleinste aller Probleme erweisen. Was sich für unbeschreibliche Szenen abspielten! Der gesamte Verkehr brach zusammen, in den Krankenhäusern starben die Patienten, Einkaufen war nicht möglich, auch Lebensmittelgeschäfte öffneten nicht. Die Regierung agierte hilf- und planlos, es gab keinerlei Informationen, kein Radio, kein Fernsehen, kein Internet, kein Telefon. Bereits nach zwei Tagen kam es zu Plündereien, nach einer Woche brach die öffentliche Ordnung zusammen. Schlagartig und vollkommen. Der satte mitteleuropäische Bürger brauchte nicht lange, um sich in ein Raubtier zu verwandeln; Hunger ist stärker als die Zivilisation.

 

Es erwies sich als Glücksfall, dass ich in einer ländlichen Gegend wohnte. Ich ging am hellen Tage auf die Kartoffelfelder der Umgebung. Es war Mai und es waren gerade die Saatkartoffeln gelegt worden. Die wollte ich ausgraben, nur ein paar, Brot gab es ja nicht, von anderen Lebensmitteln ganz zu schweigen. Ich war nicht der einzige, der diese Idee gehabt hatte, das ganze Feld war voll von Menschen und wir wussten, wir vernichten gerade die nächste Ernte. Aber was will man machen? Essen muss man. Doch, ehrlich gesagt, kam mir an diesem Tag auf dem Feld zum ersten Mal der Gedanke, ob man unter diesen Bedingungen wirklich weiterleben muss. Es war schlichtweg ekelhaft anzusehen, wie dort ganze Gruppen von Menschen Kartoffeln ausgruben, die definitiv nicht für den gerade notwendigen unbedingten Bedarf gedacht waren.

 

Dreimal ging ich auf den Acker. Beim dritten Mal wurde ich einkassiert.
Es gibt viele Dinge, die in dieser Zeit unlogisch und unverständlich, einfach nicht zu erklären waren. Dazu gehört, dass mich eine amerikanische Patrouille verhaftete, die mich nicht an ein Gericht überstellte, sondern an die Bundeswehr übergab. Dort wurde ich ohne viel Federlesens dienstverpflichtet. Die Alternative lautete ganz einfach: Bundeswehr oder Lagerhaft wegen Plünderns. Ich wollte mich aufregen, so nicht, demokratische Grundwerte und so und überhaupt, wo sind wir denn. Da wurde mir ein Gesetzblatt unter die Nase gehalten, Notstandsgesetze, es wäre alles rechtens. Zwei Stunden Bedenkzeit. Und man könne auch anders, Plündern könne auch mit standrechtlichem Erschießen enden. Ich solle lieber daran denken, dass bei der Bundeswehr die Verpflegung sichergestellt sei.
"Notstandsgesetze?", wagte ich noch zu fragen. "Wegen Stromausfall?!"
Der Offizier, der mich in der Mangel hatte - ein junger Schnösel - tippte sich an den Kopf.
"Wo leben Sie denn? Wir sind im Krieg!"
"Im Krieg? Wir sind im Krieg? Ja - mit wem denn? Oder gegen wen?"
Da sagte der Mann, und ich werde das nie vergessen: "Mit wem? Das weiß man nicht."

 

Nach zwei Stunden war ich also - in meinem Alter! - noch Bundeswehrsoldat geworden, bekam zu essen, wurde eingekleidet und in mein Erdloch gesteckt. Ein Waffe bekam ich nicht. Meine Wohnung sah ich nicht wieder, das Elend in der Stadt auch nicht. Ich glaube manchmal, dass dies der Hauptzweck solcher Aktionen war: die Leute von der Straße wegzuholen und unter Kontrolle zu bringen. Andererseits hieß es aber auch, das bereits zehntausende junger Soldaten gefallen wären. Das waren nur Gerüchte; es gab keinerlei amtliche oder offizielle Informationen. Gerüchte sollten fortan die hauptsächliche Informationsquelle sein.

 

Mein Erdloch befand sich im Hang eines Hügels, ungefähr fünfzig Meter unterhalb des Gipfels. Es war groß genug für zwei Menschen, aber man hatte wohl schnell eingesehen, dass man nicht zwei Leute Tag um Tag in so einem Loch zusammenpferchen konnte, ohne dass diese sich irgendwann an die Gurgel gehen würden. Denn man musste in diesem Loch ausharren von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Und das waren im Mai vierzehn, fünfzehn Stunden. Zuviel, viel zuviel für Leute, die nicht damit umgehen konnten, von jetzt auf gleich keinerlei Privatsphäre mehr zu haben. Und wer konnte schon damit umgehen? Niemand war auf diese Situation vorbereitet. Wir waren alle mehr oder weniger die typischen mitteleuropäischen Individualisten, die schon als Kind eigene Kinderzimmer gehabt hatten und die zuviel Nähe fremder Menschen nicht ertragen konnten.


Das Erdloch, in dem ich steckte, war nicht das einzige. Ein ganze Reihe dieser Löcher zog sich an den Hängen der Hügelkette entlang. Ich konnte sie sehen, wenn ich durch mein Fernglas blickte. Es war übrigens streng verboten, zu den anderen Löcher zu schauen, und noch strenger, etwa irgendwelche Zeichen auszutauschen. Am Fuß der Hügelkette breitete sich eine Ebene aus, glatt wie ein Tisch, die von hier oben hervorragend zu überblicken war. Felder waren da zu sehen, Wiesen und kleinere Waldstücke, einige Teiche, Wege und Straßen. Und fünf Dörfer. Hier schien eine dichtbesiedelte Gegend zu sein. Wo genau ich mich befand, wusste ich allerdings nicht. Das wusste keiner von uns.


Meine Aufgabe und die der anderen Erdlochbewohner war es, diese Ebene unter uns mit Hilfe unserer Feldstecher zu beobachten. Wir hatten Beobachtungssektoren zugewiesen bekommen und eine Schnelleinweisung erhalten. Wie bitte? Beobachten? Es gab doch Radar, optische Systeme, Luftraumüberwachung, weiß der Teufel, was noch alles! Was sollte da ein paar ältere Leute mit Ferngläsern ausrichten? Ich hatte es gewagt, meine Zweifel über den Sinn dieser Aufgabe zu äußern.
"Es gibt kein Radar! Vergessen Sie's!"
"Aber ..."
"Stellen Sie hier keine Fragen, führen Sie den Befehl aus!"
Und so wurden wir noch vor Anbruch der Dämmerung zu unseren Löchern geführt. Geführt heißt: wir rutschten auf dem Bauch, die Füße voran, den Hügel herunter, bis die Pioniere, die irgendwann diese Löcher gegraben hatten und uns jetzt lotsten, das jeweilige Loch gefunden hatten. Das alles geschah in einem dumpfen Gefühl der absoluten Verwirrtheit und Verlassenheit.


Immerhin, wir hatten Proviant für einen ganzen Tag mitbekommen, und der war gut und reichlich bemessen. In all dem Chaos, das ausgebrochen war, schien die Versorgungsbürokratie der Armee noch zu funktionieren.


So saßen wir denn in unseren Löchern und suchten, so gut es ging, den Horizont und die Ebene unter uns mit unseren Feldstechern ab. Nur, wonach wir suchen sollten, das wusste niemand von uns.
"Wenn Sie etwas Auffälliges entdecken, sofort melden!"
"Darf ich eine Frage stellen?"
"Fragen Sie!"
"Was wäre denn was Auffälliges, zum Beispiel?"
"Das kann ich Ihnen nicht sagen. Sie werden das schon merken."
"Ja, aber ..."
"Es wird so auffällig sein, dass Sie es merken werden! Davon gehen wir jedenfalls aus!"


Wir kämpften hier gegen einen Gegner, den wir nicht kannten, und von dem wir nicht einmal wussten, wie er aussah? Das waren seltsame Aussichten. Aber es war alles, alles so verworren, so irrealistisch, es lief alles ab wie ein Strudel von Irrsinn, dem man, einmal hineingezogen, nicht mehr entrinnen konnte. Ich nahm Dinge hin, die mich noch eine Woche vorher auf's Äußerste empört hatten. Ich nahm sie nicht aus Gelassenheit hin; es war mehr eine arge Überstrapazierung des Verkraftbaren, die die Sinne aus Eigenschutz stumpf machten. Anders wäre es wohl überhaupt nicht zu ertragen gewesen.



Fortsetzung folgt

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Tag der Veröffentlichung: 11.12.2020

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